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Die Dschihad-Subkultur im Westen | Islamismus | bpb.de
Der junge, aber schnellwachsende Bereich der Terrorismusstudien wurde durch mehrere Ereignisse gekennzeichnet, die zu neuen theoretischen und konzeptionellen Entwicklungen und Schwerpunksetzungen geführt haben. Nach 9/11 hat sich die Erforschung des islamistischen Terrorismus deutlicher profiliert; die Anschläge in Madrid (11. März 2004) und London (7. Juli 2005) haben dem Westen die Problematik des "hausgemachten" Terrorismus und der "Radikalisierung" vor Augen geführt. Der Aufstieg des Islamischen Staates und die Ausrufung des Kalifates, aber vor allem die Flut an aus Europa stammender Auslandskämpfer haben schließlich nach neuen Konzepten und neuen Erklärungsansätzen verlangt. So haben nun Subkultur und die Subkulturtheorie die neu entstandene Lücke erstmal gefüllt. Auch andere, "klassischere" Ansätze wurden fortgesetzt, vor allem deshalb, weil noch immer nicht geklärt ist, ob die Radikalisierung der Auslandskämpfer sui generis ist oder lediglich eine Weiterentwicklung der bisher bekannten Arten von Radikalisierungsprozessen. Auch wurden spezifische, historische Ansätze oder solche aus der Perspektive der Islamwissenschaften vorgeschlagen. Wie in diesem Beitrag argumentiert wird, sind Subkultur und Subkulturtheorie besser geeignet, um die neuen Entwicklungen hinsichtlich der Propaganda, aber auch der "Nachfrage" – individuelle Motivationen und Radikalisierungsprozesse – zu erfassen. Der Islamische Staat hat die Nutzung sozialer Medien und Kommunikationstechnologien auf eine neue Ebene gebracht. Gleichzeitig gehen Rekruten auf das Angebot von audio-visuellen Elementen wie Musik, Fotos, Videos, Kleidung und schließlich Lebensstil nur allzu gerne ein; darüber hinaus produzieren sie diese auch selbst und verbreiten sie auf sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Twitter usw. Bemerkenswerterweise sind die IS-Anhänger teilweise nicht nur jung, sondern sehr jung. Eine quantitative Auswertung der persönlichen Hintergründe von 677 Personen, die aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, kommt auf einen Altersmittelwert von 25,9 Jahren, wobei die jüngsten Dschihadisten gerade mal 15 Jahre alt sind. Des Weiteren sei die zahlenmäßig größte Altersgruppe zwischen 22 und 25 Jahre und die nächstgrößte Altersgruppe zwischen 18 und 21 Jahre alt. Das Nachbarland Österreich hat 2015 einen 14-Jährigen zu zwei Jahren Haft verurteilt wegen Unterstützung des Islamischen Staates und Planung eines Anschlags. Verfolgt man die Nachrichten und Selbstdarstellungen in sozialen Medien, ohne den typischen salafistischen Inhalten Aufmerksamkeit zu schenken, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um eine ganz "normale" Jugendkultur handelt. Auch die Diskussionen in Foren drehen sich nicht nur um religiöse Gebote oder logistische Fragen, sondern auch um tagtägliche, jugendspezifische Themen. Liebe spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle und kommt dem heldenhaften männlichen Selbstbild sehr entgegen. Manche junge Frauen verlieben sich tatsächlich in Dschihadisten oder finden sie zumindest attraktiv. Die Mehrheit der europäischen und deutschen Auslandskämpfer scheint eher an "Action", Waffen und daran interessiert zu sein, ihre Männlichkeit auszuleben, als an Ideologie und Islam. Es geht dabei aber nicht nur um die Implementierung der verschiedenen Prinzipien in das tagtägliche Leben oder um wildes Herumschießen, sondern auch um das Erkämpfen einer Sache. Das heißt, der Dschihad der Auslandskämpfer ist zutiefst politisch. Die individuelle Bewegungsgründe sind unterschiedlich: Menschen helfen, die "Imperialisten" bekämpfen, oder das Kalifat aufbauen. Gemeinsam ist der Wunsch, eine radikale politische und soziale Veränderung hervorzurufen. Subkultur ist also nicht gleich Jugendkultur Die stark politische Natur der Dschihad-Subkultur ist eine wichtige Erkenntnis, die dem möglichen Vorwurf entgegnet, das Konzept der Subkultur sei verniedlichend. Das hat auch Konsequenzen für die Art und Weise, wie sich diese Subkultur im individuellen Lebensverlauf entfaltet. Sie kann, muss aber nicht unbedingt "nur" eine Jugenderscheinung sein. Dementsprechend werden für manche Mitglieder die Träume von Ruhm, der Teilnahme am Erschaffen einer Utopie oder von Abenteuer platzen, sobald sie sich gezielt oder zufällig wieder im normalen Leben einfinden. Andere bleiben dabei und bauen ihren Lebensweg, ihre Karriere darauf auf. Wieder andere kommen nicht mehr zurück. Die Realität an der Front überleben nur diejenigen, die den Sprung von Dschihad als Jugendkultur zum Terror als Beruf schaffen. Was sind die Charakteristika der Dschihad Subkultur im Westen? Wir haben es erstens mit einem Lebensstil zu tun, bei dem der Fokus darauf liegt "ein guter Muslim" zu sein, was sich aber in keinerlei Weise darauf bezieht, wie viel Spiritualität man an den Tag legt oder inwiefern man sich in Islam(kunde), Ideologie (siehe hier Interner Link: Islamismus), oder Politik auskennt. Das heißt natürlich nicht, dass man sich mit Pseudokenntnissen keinen Ruf als Prediger oder Anführer aufbauen kann. Allgemein kann man sagen, dass sich für den Großteil der jungen Anhänger Religiosität daran bemisst, inwiefern gewisse Regeln befolgt werden, inwiefern die Liste von Handlungsanweisungen abgehakt werden kann. Diese Regeln sind wiederum relativ klar und einfach: 5 Mal am Tag beten, die Hose über den Knöcheln tragen, natürlich das Kopftuchgebot für Frauen etc. Darunter befindet sich aber auch die Pflicht, Glaubensbrüdern zu helfen und in einem "Islamischen Staat" zu leben. Somit erübrigt sich auch die Frage, ob man nach Syrien gehen soll oder nicht. Darüber hinaus spielen auch andere Subkultur-typische Merkmale bei dieser Entscheidung eine Rolle, wie z.B. die Vorstellung einer Gemeinschaft, eines gemeinschaftlichen Lebens – viele der Männer reisen samt Ehefrauen; das Ausleben von Maskulinität, vom Martialischen und die Möglichkeit, videospielartige Kampfszenarien in Echt zu erleben. Die IS-Propagandamaschinerie ist darauf ausgerichtet, genau diesen Bedürfnissen und Wünschen entgegenzukommen. Ein Nasheed in deutscher Sprache mit englischen Übersetzungen zeigt wie motivierend die Kombination aus Musik, Rhythmus, und Bildern von Heldentum, Gemeinschaft und "gerechtem Kampf" sein kann. Da geht es um das Leiden der Brüder und Schwestern und darum, dass die "Soldaten der Ehre" von überall kommen und unaufhaltbar sind. Die Bilder projizieren Macht und das Lied wird zu einem Ohrwurm. Die Kämpfer werden als "Löwen" gefeiert, ebenso die Hinrichtung von wehrlosen Feinden und Spionen. Sogar die nächste Generation soll in diesen Aktivitäten eingeübt werden. Über die Kampfszenen und die Grausamkeit des Krieges hinaus wird aber auch ein anderes Bild angeboten, eines von menschlicher Wärme, Wohlstand und ökologischer Frische. In dieser Utopie geht es nicht hauptsächlich darum, Ungläubige zu schlachten, sondern darum, eine post-moderne Lösung für die politischen, sozialen und kulturellen Probleme des Westens zu bieten. Wer sich um die Umwelt, Demokratie oder soziale Gerechtigkeit Sorgen macht, scheint hier bestens aufgehoben. Bilder, die entweder vom IS oder von westlichen Jugendlichen selbst verbreitet werden, zeigen Bio-Obst und Gemüse und einen Staat ohne Nationalismus und falsche Demokratie, einen Staat, perfekt errichtet durch die "prophetische Methodologie"; ein Propagandavideo mit dem Titel "Der IS verspottet Amerika und den Westen" endet mit dem Bild eines Afro-Amerikanischen Marines und dem Aufruf: "bring it on!". Nicht zu übersehen bei der Bildsprache dieser Subkultur ist die Mischung aus westlichen und nicht-westlichen Elementen. Die Videos und Bilder, die vom IS produziert werden, beinhalten ganz bewusst diese westlichen Elemente, Strukturen und Bilder, wie sie typisch für Hollywood-Filme sind. Auch nicht zu übersehen ist die Zurschaustellung westlichen Wohlstands, welchen man auch nicht unbedingt hinter sich lassen möchte – siehe z.B. Bilder von Villas mit Pools, an denen westliche Kämpfer ihre Freizeit luxuriös genießen können, oder Bilder von westlichen Produkten wie Nutella oder Gummibärchen. Was uns neben der Frage nach den Charakteristika der Dschihad-Subkultur vielleicht am meisten beschäftigt, ist die Motivation der Ausreisenden, also die Frage: warum sie a) zu Dschihadisten werden und b) sich entscheiden nach Syrien zu fahren. Hier unterscheiden sich zwei Hauptansätze, sowohl in der Forschung, als auch in der "Praxis" – d.h. in der Deradikalisierungsarbeit. Einige Autoren haben den Dschihadismus beschrieben als ein autonomes System von Normen und Werten, das als Reaktion auf Frustration einen radikalen Gegenentwurf zum Mainstream darstellt. Aus dieser Perspektive sind junge Dschihadisten Verlierer der Gesellschaft, Versager, die es nach den geläufigen Erfolgsstandards nicht "geschafft" haben. Beweise für diesen Ansatz sind etwa sozio-demographische Daten von Ausreisenden, die auf ein niedriges Bildungsniveau, nicht-qualifizierte Beschäftigung oder kriminelle Hintergründe hinweisen. Andere betonen den Stellenwert, den Ästhetik und (Lebens-) Stil sowohl für das Selbstverständnis der einzelnen Aktivisten, als auch bei den Rekrutierungsstrategien der verschiedenen Gruppen einnehmen. Auch wird das Konzept Widerstand in diesem Zusammenhang als stark akteursbezogen verstanden. Und zwar nicht notwendigerweise vor dem Hintergrund des Versagens, sondern ausgehend von dem Wunsch, etwas Besonderes haben oder sein zu wollen. Der Fall Deso Dogg könnte z.B. auf verschiedene Weise interpretiert werden: als Rapper oder als ehemaliger Kleinkrimineller. Gemeinsam ist beiden die Betonung subkultureller Elemente, sowohl als Ausdrucksform, aber auch als Rekrutierungsmittel. Ob sie aus der Not heraus oder aus dem Wunsch nach Veränderung entsteht, die Motivation der gegenwärtigen jungen Dschihadisten ist stark subkulturell geprägt. Das hat wiederum Konsequenzen für die Art und Weise, wie man Radikalisierungsprozesse und Radikalisierungsmechanismen versteht und analysiert. Subkultur relativiert das "rationale" an Radikalisierung. Zum einen ist die bewusste Entscheidung einer Gruppe beizutreten, ein Foto zu posten oder bestimmte Kleidung zu tragen, von spezifischen, subkulturellen Merkmalen gekennzeichnet, die nicht immer im engen Sinne bewusst ausgewählt werden – siehe z.B. die Rolle des "Geschmacks" oder der "Mode". Die Rolle der Klicke als Resonanzboden ist größer als je zuvor und der Großteil des Radikalisierungsprozesses kann sich in Online-Gemeinschaften abspielen. Zum anderen bedarf es weniger Kenntnisse, um junge Rekruten zu begeistern. Früher ergab sich die Autorität des Predigers oder des Anwerbers aus besonderen religiösen oder politischen Kenntnissen oder der Kampferfahrung. Heute genügt eine imposante, rambo-artige Erscheinung, die durch Muskeln und provokante Sprüche imponiert: je krasser, desto besser. In welcher Beziehung zum Mainstream steht letztlich die Dschihad-Subkultur? Im Normalfall ist die Beziehung zwischen Subkultur und Mainstream komplex und geht über einfache Konzepte von Distanz, Anderssein und Opposition hinaus. Auf der individuellen Ebene ist Subkultur durch ein Paradox des Individuellen und des Allgemeinen gekennzeichnet: der Nonkonformismus von Kleidung, Musik, Essen und Gewohnheiten in Bezug auf den Mainstream wird zum strikten Konformismus innerhalb der Gemeinschaft. Im ästhetischen Bereich ist diese Beziehung ein Hin und Her zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung. Subkultur ist "Bricolage": eine Mischung aus bereits bestehenden Elementen, die zu etwas Neuem und Spezifischem werden. Dieses Spezifikum bleibt wiederum nur solange bestehen, bis der Mainstream es entdeckt und in sich integriert. Auf den ersten Blick würde das im Fall des Dschihadismus kaum geschehen – zu abstrus und menschenfeindlich sind die Symbole und die Handlungen, die sie inspirieren; die IS-Fahne wird vermutlich nie Platz auf einem Button bzw. größeren Zuspruch finden, wie es die Symbole der Friedens- oder Anti-AKW-Bewegung getan haben. Gleichzeitigt scheinen sich typische dschihadistische Termini in die "normale subkulturelle" Sprache einzuschleichen. So tauchen Zeilen wie "fick Karma ich bin Monotheist" oder "Messer ziehen Richtung Paradies" in den Texten aktueller deutscher Rapsongs auf. Das bedeutet, dass dem Dschihadismus ein langes, aber vielleicht nicht ewiges Leben als Subkultur vorausgesagt werden kann. Hegghammer, T. (2011) "The Rise of Muslim Foreign Fighters: Islam and the Globalization of Jihad". International Security, 35(3), 53-94. Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind Fortschreibung 2015. Gemeinsame Auswertung durch: Bundeskriminalamt (BKA), Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE). Focus.de (2015) Externer Link: Er soll einen Anschlag geplant haben. Österreich verurteilt einen 14-Jährigen zu zwei Jahren Gefängnis, 26. Mai. Siehe z.B. Hinz, L. (2015). Heirat mit IS-Kriegern15-Jährige in Syrien: Was junge Europäerinnen in den Heiligen Krieg lockt, Externer Link: Focus Online, 2 Oktober Pisoiu, D. (2011) Islamist Radicalisation in Europe. An Occupational Change Process. London/New York: Routledge. Siehe z.B. die hier erwähnten Posen der "Lohberger Gruppe" auf Facebook: Externer Link: Flade, F. (2015) Dschihad-Rückkehrer Teil 6 – Der Jäger, 18. August Vgl.das islamistische Magazin des Islamischen Staates: Externer Link: Dabiq Magazine, 8, S. 20 Externer Link: Heil, G., Kabisch, V., Spinrath, A. und Baumholt, B. (2015) Bräute für das Kalifat. Wie der IS deutsche Mädchen anwirbt Externer Link: ISIS taunts America and the West in new propaganda video. Externer Link: Dauber, C. E. and Robinson, M. (2015) ISIS and the Hollywood Visual Style Externer Link: Roussinos, A. (2013) Jihad Selfies: These British Extremists in Syria Love Social Media, Vice Magazine, 3. Dezember; Zöchling, C. 2016. Der gefährlichste Prediger Österreichs, Profil, 47(8), 14-19, S. 16. Cottee, S. (2011) Jihadism as a Subcultural Response to Social Strain: Extending Marc Sageman's ‘Bunch of Guys’ Thesis. Terrorism and Political Violence 23(5), 730-751. Crone, M. (2014) Religion and Violence: Governing Muslim Militancy through Aesthetic Assemblages. Millennium Journal of International Studies, 43(1), 291-307; Hemmingsen, A-S. (2015) Viewing jihadism as a counterculture: potential and limitations. Behavioral Sciences of Terorism and Political Aggression, 7(1), 3-17; Pisoiu, D. (2015). Subcultural theory, jihadi and right-wing radicalization in Germany. Terrorism and Political Violence 27(1), 9-28. Externer Link: Haftbefehl, Soufian, DOE, Enemy, Diar (2016) Kalash, Youtube, 4. März; Externer Link: Zuna, Nimo (2016) Hol mir dein Cousin, Youtube, 4. März
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-02-22T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/221565/die-dschihad-subkultur-im-westen/
Daniela Pisoiu sieht in der "IS-Generation" eine politische Subkultur als Widerstand gegen den politischen Mainstream. Tiefe religiöse oder ideologische Kenntnisse scheinen zweitrangig zu sein. Die Priorität liegt auf sofortigem Handeln.
[ "Islamischer Staat", "Subkultur", "Radikalisierung", "Dschihadismus", "Islamismus", "Salafismus", "Auslandskämpfer" ]
30,200
Wie das BAMF den Umgang mit Rückkehrenden koordiniert | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Infodienst Radikalisierungsprävention: Das BAMF fördert ein Programm zum Umgang mit Rückkehrenden aus den ehemaligen Gebieten des sogenannten Islamischen Staates. Was ist das Ziel dieses Programms? Florian Endres: Bei einer Rückkehr gilt es, den gesamten Prozess möglichst umfassend im Blick zu behalten. Dafür haben wir die Stellen der sogenannten Rückkehrkoordinierenden geschaffen. Wir hatten über Jahre hinweg in der Deradikalisierungslandschaft – sowohl behördlich als auch zivilgesellschaftlich – den Wunsch wahrgenommen, dass es für Rückkehrerinnen und Rückkehrer eine koordinierende Stelle braucht. Und dies haben wir jetzt zusammen mit dem Bundesinnenministerium umgesetzt. Zuerst stimmen die Rückkehrkoordinierenden die Zusammenarbeit der beteiligten Behörden ab, und zwar frühzeitig und umfassend. Kehren Personen zum Beispiel aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland zurück, müssen sie relativ schnell in die entsprechenden kommunalen Strukturen eingebunden werden – von Jugendamt bis hin zu Schulen, Arbeitsagenturen und so weiter. Die Rückkehrkoordinierenden behalten diese Abstimmung zwischen den Behörden auch langfristig im Blick. Insbesondere im Hinblick auf mögliche Reintegrations- und Deradikalisierungsmaßnahmen nehmen sie Kontakt zu staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Strukturen auf, die einen Ausstiegsprozess unterstützen können. Bei diesem Programm werden also auch zivilgesellschaftliche Träger gefördert. Wie genau funktioniert da die Zusammenarbeit? Endres: In erster Linie werden staatliche Strukturen gefördert. Bei der weiteren Betreuung der Rückkehrenden spielen jedoch auch zivilgesellschaftliche Akteure wie Vereine und Beratungsstellen eine Rolle, gerade im Kontext der Deradikalisierung. Für uns war es wichtig, deren Arbeit an staatliche Strukturen anzudocken, um behördenübergreifend möglichst zielgerichtet zu arbeiten. Daher sind die Rückkehrkoordinierenden jeweils in ihren Bundesländern bei der Landeskoordinierungsstelle für Deradikalisierung angesiedelt um sicherzustellen, dass auch mögliche Deradikalisierungsmaßnahmen umfassend mitgedacht und geprüft werden, wenn eine Person nach Deutschland zurückkehrt. Mit welchen konkreten Maßnahmen arbeitet das Programm? Endres: Bei den Koordinierungsstellen laufen alle Fäden zusammen. Sie sind je nach Bundesland die zentrale Ansprechstelle für andere Behörden. Wenn zum Beispiel eine Rückführung ansteht, werden wir über das Generalkonsulat oder das Auswärtige Amt informiert und leiten in Abstimmung mit den jeweiligen Bundes- und Landesbehörden weitere Maßnahmen ein. Der Landeskoordinator bereitet die nächsten Schritte vor Ort vor und bindet die kommunalen Strukturen ein. Wenn beispielsweise eine Familie in ihren Landkreis oder ihre Stadt zurückkehrt, braucht sie in der Regel Hilfe bei Behördengängen, Kontaktaufnahme zu Jugendhilfeeinrichtungen oder Betreuungsangeboten. Die Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden dann auch langfristig betreut und es wird beobachtet, ob und wie sich diese Personen integrieren. Gibt es bei den betroffenen Personen eine Risikobewertung, zum Beispiel in Form einer Akte, in der steht, wie hoch Sie die Gefahr einschätzen, die von einer bestimmten Person ausgeht? Endres: Eine Einschätzung wird durch das Bundeskriminalamt vorgenommen, die Risikobewertung findet im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehr-Zentrum statt. Beim Thema Rückkehr-Koordination sind wir natürlich auch beteiligt. Das war auch ein Grund dafür, auf behördliche Strukturen zu setzen, um bei Fragen der Sicherheit und Terrorismusbekämpfung direkte Kommunikationswege zu haben. Viele unserer Rückkehrkoordinierenden arbeiten ohnehin sehr eng mit den Sicherheitsbehörden zusammen, weil sie selbst beim Landeskriminalamt oder im Innenministerium des Landes angedockt sind. Treten denn auch Familien von zum Beispiel radikalisierten IS-Kämpfern an sie heran und bitten um Hilfe? Endres: Es ist ganz häufig so, dass Personen, die sich im Ausland aufhalten, versuchen, über ihre Angehörigen hier in Deutschland mit unseren Beratungsstellen Kontakt aufzunehmen. Das stellen wir seit Jahren fest – und jetzt, seitdem der sogenannte Islamische Staat nicht mehr existiert, ist das noch öfter der Fall. Die Angehörigen in Deutschland sind in den letzten Monaten vermehrt mit der Bitte um Hilfe an unsere Beratungsstellen herangetreten. Damit haben wir bereits einen Fuß für eine mögliche Deradikalisierung in der Tür. Wenn wir Kontakt zu der Familie haben, ist es durchaus leichter, den Rückkehrenden direkt Deradikalisierungs- und Betreuungsangebote zu machen. Für welchen Zeitraum ist die Förderung für das Programm angesetzt? Endres: Das Programm ist Anfang 2019 angelaufen, im Herbst 2019 waren alle Rückkehrkoordinierenden vor Ort. Es wird auf jeden Fall noch 2020 laufen, über eine Weiterführung 2021 wird noch entschieden. Das Programm wird jetzt in sieben Bundesländern durchgeführt. Warum wurde es nicht in den anderen Bundesländern auf den Weg gebracht? Endres: Es wurde insbesondere darauf geachtet, aus welchen Bundesländern die meisten Menschen ausgereist sind, wo also der Bedarf am größten ist – und das ist in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern, Niedersachsen, Berlin, Hamburg und Bremen der Fall. Es könnten jedoch bei Bedarf noch Koordinierungsstellen in weiteren Bundesländern hinzukommen, wo es entsprechende Ausreisezahlen gibt oder in denen eine salafistische Szene aktiv ist. Um wie viele Personen müssen Sie sich kümmern, und wie sind die Prognosen für die weitere Entwicklung bei der Zahl der Rückkehrenden? Endres: Die Frage, wie viele Personen künftig zurückkehren könnten, wird oft gestellt, lässt sich aber kaum beantworten. Es ist schwer einschätzen, da viele unterschiedliche Faktoren bei einer Rückkehr eine Rolle spielen, wie auch die geopolitischen Entwicklungen. Dem Bundeskriminalamt sind derzeit knapp 120 Personen bekannt, die möglicherweise nach Deutschland zurückkehren könnten. Diese Personen befinden sich zurzeit in Lagern oder in Haft; dazu kommt noch eine gewisse Anzahl an Kindern. Es gibt aber sicherlich auch diejenigen, die völlig desillusioniert sind und nur noch nach Deutschland zurückkehren wollen. Wie viele Personen sind aktuell in dem Programm registriert? Endres: Noch sind es wenige Einzelfälle, die in den vergangenen Wochen angelaufen sind; erste Personen wurden nach Deutschland zurückgeholt. Bei den allermeisten davon sind die Koordinierungsstellen involviert. Bearbeiten die Koordinationsstellen auch Fälle von Personen, die sich in Strafverfahren befinden oder gegen die Haftbefehle vorliegen? Endres: Im Prinzip werden alle Sachverhalte, die die Rückehrenden betreffen, durch die Koordinatoren bearbeitet. Wenn jedoch in Deutschland ein Haftbefehl vollstreckt und die Person inhaftiert wird, sind die Rückkehrkoordinierenden zunächst weniger involviert. Aber natürlich gilt es auch da im Sinne einer ganzheitlichen Terrorismusbekämpfung zu überlegen: Sind Deradikalisierungsansätze möglich, und wenn ja, mit wem und wie? Es gibt entsprechende Programme, die in Haftanstalten laufen und die Arbeit vor Ort aufnehmen. Und wie sieht es mit Minderjährigen aus, mit Kindern, die aus Syrien oder dem Irak zurückkommen? Sind sie auch Teil des Programms? Endres: Genau. Gerade um Personen, die sich nicht im Strafverfahren befinden – und dazu gehören insbesondere Kinder und Jugendliche – kümmern sich aktuell unsere Rückkehrkoordinierenden. Die Abstimmung unter anderem mit Jugendämtern und anderen beteiligten Akteuren wie Schulen ist derzeit ein großer Aufgabenbereich der Koordinierenden. Es gibt auch Fälle, bei denen die Kinder getrennt von den Familien leben und dann von Jugendämtern betreut werden müssen. Endres: Ja, hauptsächlich werden diese Kinder durch Regelstrukturen, wie Jugendämter, Schulen et cetera, betreut. Die Koordinierenden nehmen aber natürlich auch in diesen Fällen Kontakt zu den unterschiedlichen Stellen auf und vernetzen diese untereinander. Dabei geht es beispielsweise darum sicherzustellen, dass ein Jugendamt bei dem jeweiligen Landeskriminalamt einen Ansprechpartner hat. Es ist eine wesentliche Aufgabe, diese Kommunikationswege herzustellen und den gegenseitigen Austausch zu fördern. Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Reintegration muss kontinuierlich analysiert werden: Wie läuft es vor Ort? Wie entwickeln sich die Kinder? Liegen Traumata vor? Braucht das Jugendamt Unterstützung von einer Landesbehörde? Da kann ein Koordinator die eine oder andere Tür öffnen. Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Lewis Gropp am 11. November 2019. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. 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Redaktion Infodienst Radikalisierungsprävention
"2023-02-15T00:00:00"
"2020-01-22T00:00:00"
"2023-02-15T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/303924/wie-das-bamf-den-umgang-mit-rueckkehrenden-koordiniert/
Das BAMF hat in sieben Bundesländern Koordinationsstellen geschaffen, deren Aufgabe es ist, den Umgang mit "IS"-Rückkehrern im Blick zu behalten und die Zusammenarbeit der Behörden abzustimmen.
[ "Rückkehrerinnen und Rückkehrer", "BAMF", "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)", "Rückkehr", "IS-Rückkehrer", "Radikalisierung", "Islamischer Staat", "IS", "Deradikalisierung", "Ausstiegsarbeit", "staatliche Akteure", "zivilgesellschaftliche Akteure", "Prävention", "Zusammenarbeit" ]
30,201
Digitale Inklusion – digitale Exklusion: Teilhabe in einer digitalen Gesellschaft | Digitale Inklusion | bpb.de
16,5 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger sind nicht Teil der digitalen Gesellschaft. Dies betrifft mehr Frauen als Männer, mehr ältere als jüngere Menschen, mehr geringer als höher Gebildete. Doch Frauen holen auf, die Älteren ebenso. Allein der Anteil von Menschen mit niedriger formaler Bildung stagniert, wenn es um die Teilhabe an der digitalen Gesellschaft geht. Aber warum ist Inklusion in die digitale Gesellschaft überhaupt wichtig? Und wie kann sie gelingen? Hiermit befasst sich Dr. Bastian Pelka (TU Dortmund) im ersten Teil seines Vortrages "Digitale Inklusion – digitale Exklusion: Teilhabe in einer digitalen Gesellschaft". Im zweiten Teil geht es um die Frage, wie mithilfe digitaler Medien und Tools Inklusion gelingen kann. Dabei nimmt er verschiedene digitale Werkzeuge und Medien unter die Lupe und stellt vor, was sie können – zum Beispiel: Inklusion thematisieren, Kommunikation ermöglichen, Alltag erleichtern. Für einen schnellen Überblick: Min. 00:11: Externer Link: Vorstellung professioneller Hintergrund, Tätigkeit und Ansatz Min. 04:46: Externer Link: Inklusion IN die digitale Gesellschaft Min. 08:29: Externer Link: Warum Inklusion in eine digitale Gesellschaft? Min. 13:50: Externer Link: Wie können Benachteiligte teilhaben an der digitalen Gesellschaft? Min. 21:45: Externer Link: Inklusion MIT digitalen Medien / digitale Tools Min. 22:08: Externer Link: Wie können digitale Medien Inklusion fördern? Min. 31:12: Externer Link: Vier Schritte, digitale Inklusion zu beginnen Interner Link: Hier finden Sie die Präsentation zum Vortrag als PDF.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-05T00:00:00"
"2015-12-17T00:00:00"
"2022-01-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/217272/digitale-inklusion-digitale-exklusion-teilhabe-in-einer-digitalen-gesellschaft/
Es gibt zwei Perspektiven digitaler Inklusion: Inklusion MIT digitalen Medien auf der einen, Inklusion IN die digitale Gesellschaft auf der anderen Seite. Klar ist bei beiden: Menschen mit digitalem Zugang haben in unserer Gesellschaft viele Vorteile
[ "SpeedLab", "Digitale Inklusion", "Pelka" ]
30,202
Chronologie zur Deutschen Kolonialgeschichte | Afrikanische Diaspora in Deutschland | bpb.de
1847 Vorlage der "Denkschrift über die Erhebung Preußens zu einer See-, Kolonial- und Weltmacht ersten Ranges" vor dem Vereinigten Landtag in Preußen. 1856-1868 Errichtung einer Niederlassung des Bremer Handelshauses Friedrich M. Vietor Söhne in Togo (1856); Errichtung einer Niederlassung des Hamburger Handelshauses Carl Gödelt in Togo (1866); Errichtung einer Niederlassung des Hamburger Handelshauses Carl Woermann in Kamerun (1868). 1871 Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles; Otto von Bismarck wird Reichskanzler (bis 1890); Artikel 4 der Verfassung des Norddeutschen Bundes – die Sicherung der Möglichkeit zu überseeischen Erwerbungen – wird ohne Abänderung in die Reichsverfassung übernommen. 1874-1882 Errichtung einer Niederlassung des Hamburger Handelshauses Jantzen & Thormählen in Kamerun; Gründung des "Zentralvereins für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande" in Berlin (1878); Erster Deutscher Kolonial-Kongress; Gründung des "Verein für Handelsgeographie und Kolonialpolitik" in Leipzig (1879); Errichtung einer Niederlassung des Hamburger Handelshauses Franz Wölber & Walter Brohm in Togo; Gründung des "Deutschen Kolonialvereins" in München(1882). 1884 Februar: Kampf in Togo zwischen deutschen Firmenbesitzern und einer Gruppe um den Togoer Amtsträger Lawson; Entführung von drei seiner Mitstreitern durch die deutsche Marine; Abtransport nach Deutschland, Gefangennahme in der Kaserne des 2. Garderegiments in Berlin-Spandau (bis Juni). März: Ernennung des Afrikaforschers und Diplomaten Gustav Nachtigal zum "Reichskommissar" für die westafrikanische Küste. Juli: Abschluss von Verträgen zur Meistbegünstigung des deutschen Handels mit afrikanischen Amtsträgern in Togo, Errichtung der Kolonie Togo; Abschluss von Verträgen zur Meistbegünstigung des deutschen Handels zwischen Duala Amtsträgern und den Hamburger Handelsfirmen C. Woermann und Jantzen & Thormählen; Errichtung der Kolonie Kamerun; Aufstand in Duala. August: Errichtung der Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika (heutige Republik Namibia). September: Entsendung des neu gegründeten "Geschwaders für die Westküste Afrika" mit sechs Kriegsschiffen und ca. 1.300 Marinesoldaten nach Afrika. Oktober: Wahl in Deutschland. Haupt-Wahlkampfthema: Kolonialpolitik. Ergebnis: Sieg der Bismarck-nahen Parteien; Die Regierung Otto von Bismarcks überreicht eine Mitteilung an die europäischen Kolonialmächte über die Besitzergreifung von bestimmten Orten in Westafrika. November: Eröffnung der Westafrika-Konferenz ("Kongo-Konferenz") in Berlin. 1885 Februar: Beendigung der Westafrika-Konferenz in Berlin; Abkommen über Handelsverträge und über die Aufteilung des afrikanischen Kontinents in europäische Einflusszonen; Errichtung der Kolonie Deutsch-Ost-Afrika (heutige Republik Tansania). 1888-1891 Gründung der "Deutschen Kolonialgesellschaft"/DKG (1888); Einrichtung der Kolonial-Abteilung im Auswärtigen Amt (1890); Aufstände in Deutsch-Ost-Afrika; (1891 bis 1907) Aufstände in Kamerun (1890 bis 1898). 1896-1902 "Erste deutsche Kolonialausstellung" im Treptower Park in Berlin, etwa 100 afrikanische Vertragsarbeiter aus allen deutschen Kolonien sind anwesend (1896); Überreichung einer Petition gegen die deutsche Kolonialpolitik in Kamerun durch die Londoner "African Association" an Kaiser Wilhelm II (1898); Besuch der Duala Könige Manga Bell und Dika Akwa in Berlin (1902); Überreichung von Petitionen an die Kolonial-Abteilung im Auswärtigen Amt (1902). 1904-1905 Gründung der Deutsch-Westafrikanischen Bank in Berlin durch ein Konsortium unter der Leitung der Dresdner Bank. Eröffnung von Zweigstellen in den deutschen Kolonien Kamerun und Togo (1904); Aufstände der Gruppen Khoikhoin und Herero in Deutsch-Südwest-Afrika, Ermordung von etwa 75.000 Herero (1904 bis 1906); "Maji Maji"-Aufstand auf den deutschen Baumwollplantagen in Deutsch-Ost-Afrika, Ermordung von etwa 200.000 Menschen in den Aufstandsgebieten (1905 bis 1908); Überreichung von Petitionen gegen die deutsche Kolonialpolitik durch Könige und Amtsträger aus Togo und Kamerun an die Reichsregierung (1905). 1906-1907 Überreichung einer Petition gegen die deutsche Kolonialpolitik durch den Kameruner Bevollmächtigten Prinz Ludwig Mpundo Akwa an die Reichsregierung (1906); Reichstagswahlen (1907): Sieg der Befürworter der deutschen Kolonialpolitik, Errichtung eines eigenständigen Kolonialministeriums: Reichskolonialamt im Auswärtigen Amt; Hinrichtung von sechs Aufständischen in der Kolonie Kamerun (1907). 1911-1914 Petitionen gegen die deutsche Kolonialpolitik von Togoer Königen, Amtsträgern und Geschäftsleuten an die Reichsregierung (1911); Hinrichtung von etwa 200 aufständischen Amtsträgern – darunter Rudolf Duala Manga Bell, Ludwig Mpundo Akwa, Mandola von Groß Batanga, Martin-Paul Samba – in der deutschen Kolonie Kamerun (1914). 1914-1918 Erster Weltkrieg in Europa und den europäischen Kolonien in Afrika. 1918 Abdankung Wilhelms II, Rücktritt der Regierung des Prinzen Max von Baden, Ausrufung der Republik durch Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann. 1919 Nationalversammlung zu Weimar, Friedrich Ebert wird Reichspräsident; Petition von in Deutschland lebenden Afrikanern an die Nationalversammlung; Unterzeichnung des Friedensvertrages im Schloss zu Versailles, die deutschen Kolonien werden an die Mandatsmächte Frankreich und Großbritannien übertragen. 1920-1924 Auflösung des Reichskolonialamtes, Übertragung der Angelegenheiten an eine Kolonial-Zentralverwaltung im Reichsministerium für Wiederaufbau (1920); Verabschiedung von Gesetzen zur "Entschädigung kolonialer Kriegsschäden", Verwaltung der Auszahlung von Entschädigungen für afrikanische koloniale Soldaten durch die von der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes beauftragte "Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde" (1920 bis 1925); Veranstaltung von Kolonialen Kongressen durch die Deutsche Kolonial Gesellschaft/DKG in Magdeburg, Nürnberg, Berlin, Dresden und Bochum (1920 bis 1927). 1924-1931 Wiedereinrichtung einer Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt (1924); Kolonialausstellungen in Berlin und anderen Städten (1925 bis 1928); Erscheinen des Kolonial-Romans "Volk ohne Raum" des Publizisten Hans Grimm (1926); Koloniale Schulungswoche in Bremen veranstaltet von der "deutschen Studentenschaft" (1927); Gründung der deutschen Sektion der "Liga zur Verteidigung der Negerrasse E.V." ("Liga Universelle pour la Défense de la race noire") mit Hauptsitz in Berlin (1929); New Yorker Börsenkrach – Beginn der Weltwirtschaftskrise (1929); Erste "International Conference of Negro Workers" in Hamburg, Gründung der Zeitschrift "Negro Worker" (1930); Teilnahme von Afrikanern aus Berlin an der "Internationalen Konferenz für das afrikanische Kind" in Genf (1931). 1933 Notverordnung zur Auflösung des Reichstages (1. Februar) und Durchführung von Neuwahlen am 5. März; "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" ("Ermächtigungsgesetz"; 24. März), Ausschaltung des Parlaments, die Weimarer Verfassung wird faktisch außer Kraft gesetzt. 1934 Einrichtung des Kolonialpolitischen Amtes; Kolonialausstellungen in Chemnitz, Köln, Wiesbaden, Nürnberg, Freiburg, Eisenach, Königsberg, Meersburg (1934 bis 1935); Es werden eine Reihe von Kolonialfilmen in Auftrag gegeben, darunter: "Die Reiter von Deutsch-Ostafrika" (1934), "Kongo Expreß" (1936), "Carl Peters" (1941). 1936-1938 "Gleichschaltung" der Kolonialverbände im Reichskolonialbund (1936); Einrichtung eines Kolonialpresseamtes im Kolonialpolitischen Amt (1938). 1939-1940 Überfall deutscher Truppen auf Polen, Beginn des zweiten Weltkrieges (Sept.1939); Besetzung von Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich durch die Deutsche Wehrmacht (1940); Krieg in Nordafrika (1940 bis 1943). 1940-1941 Denkschriften und Memoranden zur Errichtung eines deutschen Kolonialreiches im Süden der Sahara (Sommer/1940) – "Mittelafrikanisches Kolonialreich"; Ausfertigung eines "Reichskolonialgesetzes" durch das Kolonialpolitische Amt; Aufstellung des "deutschen Afrikakorps" (1941). 1943 Auflösung des Kolonialpolitischen Amtes (Jan.); Kapitulation der deutschen Truppen in Nordafrika (Mai). 1945 Kapitulation Berlins (Mai); bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches.
Article
Paulette Reed-Anderson
"2022-02-03T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2022-02-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/afrikanische-diaspora/59376/chronologie-zur-deutschen-kolonialgeschichte/
Hier finden Sie eine ausführliche Chronologie zur Deutschen Kolonialgeschichte. Der Zeitraum reicht von 1874 bis 1945.
[ "Diaspora", "Afrika", "Deutschland", "Geschichte", "Kolonialgeschichte", "Chronologie" ]
30,203
Luxemburg - Kern Europas | Benelux | bpb.de
Einleitung In den vergangenen zehn Jahren gelang es dem Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker, durch zahllose Auftritte im deutschen Fernsehen eine breite Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sich in seiner Person europäischer Geist und Bürgernähe vereinen. Auch in vielen anderen Ländern West- und Mitteleuropas konnte der schlagfertige christlich-soziale Regierungschef Medien und Öffentlichkeit mit europäischen Positionen und durch hemdsärmelige Nähe und sprachliche Originalität für sich gewinnen. Der als "Ausnahme-Europäer" vermarktete Premierminister kann auf den Eigenarten und Erfahrungen seines Herkunftslandes aufbauen: Das Großherzogtum Luxemburg bietet in geradezu idealer Weise den historischen, kulturellen und ökonomischen Humus, aus dem eine europäische Karriere erwachsen kann. Luxemburg wirkt von Deutschland aus betrachtet wie ein glückliches Relikt aus der Zeit vor den napoleonischen Kriegen, bevor im 19. Jahrhundert über die Zwischenstation des Deutschen Bundes der machtvolle deutsche Einheitsstaat seine unglückliche Wirkung entfaltete. Als Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches gehörte Luxemburg fast 900 Jahre lang, zwischen 963 und 1806, zum ersten und bislang dauerhaftesten überstaatlichen Zusammenschluss der europäischen Geschichte. Das Reich mit seinem überweltlichen Anspruch, seinen zahllosen Fürstentümern und machtlosen Königen und Kaisern, zu denen auch vier Luxemburger zählten, bietet bis heute wertvolles Anschauungsmaterial für europäische Föderalisten. Auf unwirkliche Weise ist Luxemburg bis heute mit dieser Zeit verbunden. Der Kleinstaat stellt durch seine monarchische Staatsform, den anachronistischen Namen und die überschaubare territoriale Ausdehnung Kontinuität her mit einer romantisch verklärten Epoche, in der deutsche Fürstentümer zwar die Einheit des Abendlandes reklamierten, dies aber mit größtmöglicher Unabhängigkeit und kleinlichster Eifersucht verbanden. Das heutige Luxemburg ist noch immer in diesem Paradox verfangen: die europäische Einigung als gleichsam missionarisches Projekt vor sich her zu tragen und dabei den eigenen Vorteil und die Privilegien der territorialen Unabhängigkeit im Auge zu behalten. Vom Staatsvolk zur Nation Luxemburg liegt an der Grenze zwischen zwei Reichen. Die Treue der Luxemburger war nicht immer nur den deutschen Kaisern oder Königen gezollt, sondern galt auch - teilweise gleichzeitig - dem französischen König. Die glanzvollste Gestalt der luxemburgischen Nationalgeschichte, Johann der Blinde, Graf von Luxemburg und König von Böhmen, ein aus damaliger Sicht vorbildlicher Ritter, der über unablässige Reisen, Vertragsabschlüsse, Heiratspolitik und Feldzüge eine geradezu gesamteuropäische Politik betrieb, fiel 1346 in der Schlacht von Crécy für einen leichtsinnigen französischen König, dem er den Bündnisdienst versprochen hatte. Im ausgehenden Mittelalter war die Grafschaft Luxemburg in das ehrgeizige Projekt der Burgunder eingebunden, deren Herzöge zwischen 1363 und 1482 den am weitesten entwickelten Hof Europas führten. In einer kurzen Glanzperiode, die 1384 begann, verknüpften sie Flandern, Brabant, Namur und Luxemburg im Norden (in etwa die heutigen Beneluxstaaten) mit den burgundischen Stammlanden um die Hauptstadt Dijon. Nach dem Tod der letzten Erbin aus dem Geschlecht der Valois fiel dieses vielschichtige Gebilde an die Habsburger, die damit zur europäischen Macht aufstiegen. In der Folge gehörte Luxemburg (und das heutige Belgien) zu den (spanischen bzw. österreichischen) Niederlanden. Die eigenständige ökonomische und kulturelle Entwicklung der späteren Beneluxstaaten beginnt mit dieser Blütezeit des burgundischen Staates, und die Region löste sich ansatzweise aus dem deutschen und französischen Einflussbereich. In eine echte Grenzlage geriet Luxemburg ab 1684, als die Truppen des französischen Königs Ludwig XIV. die mittelalterliche Stadt zerstörten und in der Folge zu einer modernen Festung umbauten. Von da an waren die Bürger der Stadt in der wenig beneidenswerten Situation, Garnisonen fremder Soldaten innerhalb der engen Mauern beherbergen zu müssen. Den Franzosen folgten erneut die Habsburger, jenen die französischen Revolutionstruppen und diesen zu guter Letzt eine preußische Garnison des Deutschen Bundes. Um einen Krieg zu verhindern (der dann 1870/71 doch geführt wurde), einigten sich Frankreich und Preußen 1867 in London auf die Zerstörung der gewaltig angewachsenen Festung. Die Deutschen kamen 1914 zurück, besetzten das zur Neutralität verpflichtete Land und errichteten während vier Jahren dort ihr Hauptquartier. In den Wirren der Nachkriegsmonate versuchten die Belgier das Land zu schlucken, und die Franzosen ließen ihre im Land präsenten Truppen auf aufständische, republikanische Arbeiter schießen. Deutsche Truppen kehrten noch einmal 1940 zurück, dieses Mal mit der Absicht, das Land dem "Großdeutschen Reich" einzuverleiben. Als sich sehr bald Widerstand regte, folgte eine Zeit des Terrors. Den Luxemburgern ist vor diesem Hintergrund bis heute ein gesundes Misstrauen gegenüber ihren mächtigen Nachbarn geblieben. Trotz der mittelalterlichen Vorgeschichte ist das heutige Luxemburg als eigenständiger Staat eine Neugründung des Wiener Kongresses. Die europäischen Mächte entschlossen sich zu diesem Schritt, um den niederländischen König für den Verlust privater Ländereien, die an Preußen fielen, zu entschädigen. Nach der belgischen Revolution von 1830, die zur Abspaltung des katholischen Belgiens von den protestantischen Niederlanden führte, wurde das bis dahin zweisprachige Luxemburg 1839 von seinen westlichen, französischsprachigen Distrikten amputiert (der belgischen Province de Luxembourg), was neben der Halbierung des Territoriums auch eine Klärung der Sprachensituation zur Folge hatte. Die Entscheidung der Regierung, das Französische als Amtssprache beizubehalten, erwies sich in der Folge als bedeutender Schritt zur Legitimierung der kulturellen und staatlichen Eigenart. Als 1890 der niederländische König aus dem Hause Nassau-Oranien ohne männliche Nachfahren starb und auf der Grundlage eines privatrechtlichen Erbvertrages die deutschen Verwandten aus dem Hause Nassau-Weilburg den Thron übernahmen, erhielt das Großherzogtum seine eigene Dynastie - ein weiterer Schritt zur Herausbildung eines nationalen Selbstverständnisses. Bis 1912 sollte es dauern, bis eine im Lande geborene Großherzogin, die noch dazu katholisch getauft war, den Thron bestieg. Das enorm rückständige und bitterarme Land, dessen Bevölkerung zu einem Viertel nach Amerika ausgewandert war, erlebte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts durch Eisenbahnbau, fremdes Kapital und den Aufbau einer Eisen- und Stahlindustrie einen ersten wirtschaftlichen Aufstieg. Die Schleifung der Festung hatte ab 1867 den Ausbau der Hauptstadt ermöglicht. Die Einbindung in den Deutschen Zollverein (ab 1842) und privilegierte Handelsbeziehungen zu Frankreich und Belgien schufen Ansätze von bürgerlichem Wohlstand. In Literatur und Kunst sowie im politischen Engagement des Bürgertums lassen sich erste Anzeichen für ein neues Bewusstsein von Partikularität und Eigeninteresse finden. Doch es bedurfte der bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege, um das Staatsvolk zur Nation zu schmieden. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang es der Regierung unter Emile Reuter nur mit äußerster Not, die Existenz des Staates und das Überleben der Monarchie zu retten. Als im Mai 1940 deutsche Truppen erneut ins Land eindrangen, ging Großherzogin Charlotte hingegen mit ihrer Regierung ins Exil, während die Bevölkerung zum Teil offenen Widerstand gegen das Besatzungsregime leistete, das junge Luxemburger, als Volksdeutsche deklariert, in die verhasste Wehrmacht presste. Unterdrückung und Widerstand, Krieg und Konzentrationslager festigten bei den Luxemburgern dieser Generation das Bewusstsein einer eigenständigen Identität. Akteur der europäischen Integration und "internationale Plattform" Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sahen den Verzicht des Großherzogtums auf die seit 1867 geltende "immerwährende Neutralität" und die Einbindung des Landes in die internationalen Organisationen. Schon 1944 gründeten Luxemburg, Belgien und die Niederlande eine Zollunion, die 1958 im Rahmen des Benelux-Vertrages zur Wirtschaftsunion ausgeweitet wurde. Luxemburg ist Gründungsmitglied der Vereinten Nationen (1945), der NATO (1949) und des Europarats (1949). Es ist ferner Gründungsmitglied und wurde Sitz der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) (1952). Fünf Jahre darauf wurde es Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und von Euratom (1957). Das Großherzogtum wurde Sitz der Hohen Behörde, der Vorläuferinstitution der Europäischen Kommission, und langjähriger Versammlungsort des Europäischen Parlaments. Luxemburg unterzeichnete mit fünf weiteren Staaten das Schengener Abkommen, das Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen abschafft (1985), und ist Mitbegründer der Europäischen Währungsunion (1999). Die Politik aller Nachkriegsregierungen zielte auf die Förderung der europäischen Integration, die einen Ausgleich zwischen den Nachbarn Frankreich und Deutschland versprach. Visionär war das Projekt der Montanunion, der Vorläuferorganisation der EWG, welche die Stahlindustrie der sechs Gründerstaaten unter eine gemeinsame Verwaltung stellte. Kriegen und wirtschaftlichen Turbulenzen sollte damit ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden. Ähnlich ehrgeizig war das Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), das 1954 am Veto der französischen Nationalversammlung scheiterte. Als Ersatz wurde 1957 die EWG gegründet, deren Erfolgsgeschichte und Eigendynamik nur wenige vorausgesehen hatten. Luxemburgs Politiker hatten nach dem Krieg schnell erkannt, welche Bedeutung die jungen europäischen Institutionen für das provinzielle und verarmte Land spielen konnten. Die Beherrschung der deutschen und französischen Sprache machte sie bei Verhandlungen zu begehrten Vermittlern, was gerade in der Anfangsphase die Möglichkeit eröffnete, das Land als natürliches Zentrum der europäischen Zusammenarbeit zu etablieren. Luxemburg beherbergt eine Vielzahl europäischer Institutionen oder wichtiger Teile davon (das Sekretariat des EU-Parlaments, Teile der EU-Kommission, den Europäischen Gerichtshof, den Europäischen Rechnungshof, die Europäische Investitionsbank, das Amt für amtliche Veröffentlichungen, das Statistische Amt der EU/Eurostat). Rund 10 000 EU-Beamte und -Bedienstete leben und arbeiten im Großherzogtum. Das Land ist regelmäßig für drei Monate im Jahr Schauplatz sämtlicher Sitzungen des Ministerrates und damit nach Brüssel gewissermaßen die Reservehauptstadt der EU. Die sich in den Anfangsjahren bietenden Gelegenheiten, Luxemburg zur tatsächlichen europäischen Hauptstadt auszubauen, wurden jedoch nicht ergriffen oder verspielt, unter anderem, weil konservative Kräfte in der regierenden Christlich-Sozialen Volkspartei (Chrëschtlech Sozial Vollekspartei, CSV) und der Kirche in den 1950er und 1960er Jahren den Verlust der Identität durch eine allzu große Öffnung des Landes befürchteten. Ab Mitte der 1950er Jahre verkaufte sich Luxemburg wirtschaftlich als "internationale Plattform". Es gelang, eine privilegierte Beziehung zu den USA aufzubauen und die Europazentralen großer amerikanischer Unternehmen im Großherzogtum anzusiedeln. Auch der Aufschwung des Finanzplatzes begann in den 1960er Jahren durch die Aktivitäten amerikanischer Banken, die von Luxemburg aus den so genannten Euromarkt entwickelten. In den 1970er Jahren gewannen skandinavische und schließlich deutsche Banken am jungen Finanzplatz an Bedeutung. Der Schwerpunkt der Aktivitäten verlagerte sich in den 1980er und 1990er Jahren als Reaktion auf die Zinsbesteuerungspolitik der Nachbarländer auf das Privatkundengeschäft. Parallel entwickelte sich der Investmentfondsmarkt, in dem Luxemburg durch die schnelle Umsetzung europäischer Richtlinien eine führende Rolle einnehmen konnte. Heute ist Luxemburg nach den USA weltweit das zweitwichtigste Zentrum für Investmentfonds. Hinzu kommen seit einigen Jahren auch die internationalen Versicherungsgesellschaften, die Luxemburg für sich entdeckt haben. Der Anteil des Finanzplatzes am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag 2006 bei 40 Prozent; auf den Finanzsektor entfallen 32 Prozent der Staatseinnahmen. So entwickelte das Land parallel zum ausdrücklichen europapolitischen Diskurs der offiziellen Politik ein Gespür für Souveränitätsnischen. Bekannteste Beispiele sind die früher in Luxemburg beheimateten kommerziellen Radio- und Fernsehsender von RTL. Aber auch der Satellitenbetreiber SES-Astra oder die mittelmäßig lukrative Hochseeflagge sowie eine Akzisen- und Mehrwertsteuerpolitik, die systematisch Kaufkraft aus den Nachbarregionen nach Luxemburg umleitet, zeugen davon, wie sich mit relativ wenig Aufwand aus der Eigenstaatlichkeit klingende Münze machen lässt. Jährliche Steuereinnahmen in Höhe von einer Milliarde Euro aus "Tank-, Alkohol- und Zigarettentourismus" und jährliche Mehrwertsteuereinnahmen in Höhe von knapp 300 Millionen Euro aus Internetgeschäften belegen dieses Phänomen. (Auf Druck seiner europäischen Partner wird Luxemburg allerdings mittelfristig auf diese Einnahmenquellen verzichten müssen.) Luxemburg stellt ohne Zweifel das Land Europas dar, das mit Irland am spektakulärsten von der Globalisierung und dem Liberalisierungsschub der vergangenen zwanzig Jahre profitiert hat. Sein Wirtschaftswachstum lag im vergangenen Jahrzehnt bei durchschnittlich 5,4 Prozent, und mit einem BIP von 65 900 US-Dollar pro Kopf und pro Jahr (2005) steht das boomende Großherzogtum mit seinem Reichtum an der Spitze der entwickelten Welt. Gesellschaftlicher Autismus als politische Herausforderung 50 Jahre lang hatte das europäische Engagement die Rolle einer Staatsideologie in Luxemburg gespielt. Im Windschatten der europäischen Integration war das Land zu unerhörtem Reichtum gelangt. Das Luxemburger Volk hatte sogar 1986 kollektiv den Karlspreis der Stadt Aachen für seine vorbildliche europäische Gesinnung erhalten. Das Land erreichte international enormes Ansehen und genießt heute eine Stellung, die in keinem Verhältnis zu seiner Größe und zahlenmäßigen Bedeutung steht. Dieses Idyll endete am 10. Juli 2005. An diesem Tag stimmten 43 Prozent der Wahlberechtigten gegen das Projekt einer Europäischen Verfassung. Im europäischen Musterland hatten sich damit mehr als zwei Fünftel der Wähler gegen die Weiterführung der europäischen Integration ausgesprochen - und das trotz einer massiven Kampagne der Regierung und aller im Parlament vertretenen Parteien zugunsten des Vertrages und Jean-Claude Junckers Ankündigung, im Falle eines negativen Votums zurückzutreten. In den Monaten danach gab es zaghafte Versuche der Ursachenforschung. Studien ergaben, dass die Neinstimmen weniger von einem aufgeklärten Bewusstsein und der Forderung nach "einem anderen Europa" als von der enormen Verunsicherung zeugen, welche die Luxemburger Gesellschaft erfasst hat. Eine Kaskade von Umfragen, die sich mit dem Selbstverständnis Luxemburgs beschäftigen (Juli 2005 zum EU-Referendum, April 2007 zur Nationalfahne, Mai 2007 zum Gebrauch der Sprachen und Juni 2007 zur nationalen Identität) zeigt, dass der vordergründige Konsens in der Bevölkerung gegenüber dem Luxemburger Modell zu bröckeln beginnt. Leserbriefe und oftmals unverhüllt ausländerfeindliche Beiträge in Internetforen dokumentieren eine neue Identitätsproblematik in für Luxemburg bislang ungewohnter Schärfe. Die Forderung nach größerer Integrationsbereitschaft der ausländischen Bevölkerung insbesondere im Sprachengebrauch wurde zum Hauptargument. Das starke Interesse am Thema Identität deutet darauf hin, dass der ideelle Kern und die historischen Grundlagen des luxemburgischen Gemeinwesens, wie sie in den vergangenen 50 Jahren festgeschrieben zu sein schienen, verblassen. Die Abwicklung der Nachkriegsidentität hat stattgefunden; die Akteure, die den Krieg noch erlebt haben, verlassen die Bühne. Was sie hinterlassen, ist ein anderes Land. Der tief greifende Wandel wird insbesondere im Zahlenverhältnis zwischen Einheimischen und Zugewanderten deutlich. Bei einer Gesamtzahl von 440 000 Einwohnern ist der Anteil der Ausländer auf über 41 Prozent gewachsen, Tendenz steigend. In der Hauptstadt leben mittlerweile über 62 Prozent Ausländer, während der Bürostunden sinkt der Anteil der Luxemburger wahrscheinlich auf unter 20 Prozent. Bei den Lohnabhängigen stellen heute mit über 136 000 Personen die Grenzgänger aus Frankreich, Belgien und Deutschland die größte Gruppe dar (43 %), gefolgt von den Luxemburgern (31 %) und den im Land ansässigen Nicht-Luxemburgern (26 %). Jedes Jahr nimmt die Zahl der Arbeitsplätze um rund drei Prozent zu (das sind über 8000 neue Arbeitsplätze). Da diese jedoch zum überwiegenden Teil von höher qualifizierten und billigeren Kandidaten aus dem Ausland besetzt werden, steigt die Arbeitslosigkeit der Unqualifizierten im Inland. Luxemburg hat eine einmalig geringe Zahl von Hochschulabsolventen, und die Entscheidung, eine Universität zu gründen, fiel nach jahrzehntelangen Debatten erst im Jahr 2003. Betrachtet man nur die Arbeitskräfte in der Privatwirtschaft, machen die Einheimischen mit Pass nur noch eine Minderheit von 20 Prozent aus. Währenddessen wirkt der öffentliche Dienst (über 90 Prozent Luxemburger) wie ein Rückzugsgebiet für die Sondergruppe der Staatsangehörigen. Eine weltweit einmalige Aufgabenverteilung hat sich etabliert, die als Karikatur folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Die "Einheimischen" sorgen in Luxemburg über die Verteilungsmechanismen und die Regelungskraft des Staates für die Rahmenbedingungen, unter denen die ansässigen bzw. täglich einfahrenden Ausländer den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand erwirtschaften. In atemberaubendem Tempo gewinnt dieses System an Komplexität und überfordert den chronisch unterbesetzten, aber hoch bezahlten Beamtenapparat. Im Schulwesen, in der Landesplanung, in der Verkehrspolitik, bei den öffentlichen Bauten, in der Klima- und Finanzpolitik oder in Zukunftsbereichen wie E-Government sind die Beamten, Lehrer, Buchhalter und Planer des Staates längst überfordert. Das Land, das vor kurzem noch für seine kurzen Wege berühmt war, benötigt heute mehr als zehn Jahre, um ein Konferenzzentrum zu bauen. Das Großherzogtum mag enormen Reichtum erwirtschaften, doch hat es gleichzeitig eine der fragilsten Volkswirtschaften der Welt. Selbst der Budgetminister musste angesichts der Subprime-Krise in den USA im vergangenen Sommer eingestehen, dass die Vorausschau bei den Staatsfinanzen kaum über zwei Jahre hinausreicht. Dabei ist der Staat schon allein wegen der üppigen Pensions- und Besoldungsansprüche seiner Bediensteten auf eine Fortführung der extrem hohen Wachstumsraten angewiesen. Fast schon nebensächlich wirkt da, dass Luxemburg auch beim Landschaftsverbrauch und den CO2-Emissionen pro Einwohner einsame EU-Spitze ist. Alle diese Fragen wurden bisher nicht ernsthaft mit der Bevölkerung diskutiert. Es rächt sich, dass die politische Organisation des Landes immer noch fast mittelalterliche, korporatistische Züge aufweist. Entscheidungen werden nicht im Parlament gefällt, auch nicht auf Regierungsseite, sondern in den Führungsgremien der sich mit dem Staat identifizierenden Regierungspartei CSV und in einem während der Stahlkrise etablierten Kriseninstrument, der so genannten Tripartite. Dort werden hinter verschlossenen Türen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Unternehmervertretern die Hauptorientierungen der Politik ausgehandelt. Eine öffentliche Debatte ist nicht vorgesehen, und die gesellschaftlichen Kräfte (und die weitgehend von den Parteien kontrollierte Presse) verlangen auch nicht ernsthaft danach. Dem traditionell aus der CSV stammenden Premierminister kommt in der Umsetzung und Vermittlung der Politik eine fast monarchische, möglicherweise aber ohnmächtige Rolle zu. Ihm obliegt es, als Pater familiae seinen Nachfolger einzusetzen. Die christlich-soziale Staatspartei, welche die führenden Positionen in den Schlüsselministerien besetzt hält, kann sich ihren Koalitionspartner - die sozialistische Arbeiterpartei (Lëtzebuerger Sozialistesch Aarbechterpartei, LSAP) oder die liberale Demokratische Partei (Demokratesch Partei, DP) - praktisch aussuchen. Die Partei der Grünen (Déi Gréng) demonstriert auf kommunaler Ebene ihre Regierungsfähigkeit und hofft, bei den Parlamentswahlen im Juni 2009 als Koalitionspartner zum Zuge zu kommen. Vom Kern Europas zu Kerneuropa Wenn das Großherzogtum nicht zu einem reinen Flugzeugträger der Globalisierung mutieren will, werden die Akteure Projekte entwickeln müssen, die diesem außergewöhnlichen Gemeinwesen gleichzeitig Dynamik, Identifikation und Kohäsion verschaffen können. Der Zusammenhalt wird sich in Zukunft sicherlich nicht mehr aus der Zugehörigkeit zur luxemburgischen Nation definieren lassen, kann sich aber auch kaum automatisch allein aus der weiteren Steigerung des volkswirtschaftlichen und individuellen Reichtums ergeben. Folgende Pisten bieten sich aus heutiger Perspektive an: Erstens könnte Luxemburg exemplarisch für Europa das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung umsetzen. Die Zeit ist reif dafür, und auf ein kleines und reiches Land wie Luxemburg angewendet, hat das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung enormes Potential. Der Aufbau einer vernünftig definierten Lebensqualität, der Schutz der Artenvielfalt und die Übernahme von Verantwortung für kommende Generationen können verbinden und begeistern, vorausgesetzt, diese Ziele sind ehrlich gemeint und werden offensiv kommuniziert. Zweitens wird Luxemburg exemplarisch für Europa die politische und gesellschaftliche Integration ausländischer Einwohner realisieren. Das Land kann aus dem extrem hohen Ausländeranteil enormes Kapital schlagen und mit relativ wenig Aufwand eine Pionierrolle einnehmen. Dabei geht es nicht darum, "Vorzeige-Ausländer" aufzubauen, sondern die staatlichen Institutionen, Parteien, Verbände, Vereine und Kirchen zu öffnen. Während noch zaghaft über die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft als Instrument der Integration diskutiert wird, sollte schon heute auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Ausländer hingearbeitet werden. Drittens wird Luxemburg versuchen, die umliegenden Regionen zu einer neuen (überstaatlichen) Form der regionalen europäischen Zusammenarbeit hinzubewegen, um auf der Grundlage der gemeinsamen wirtschaftlichen Dynamik auch Verantwortung zu teilen. Ziel könnte es sein, die grenzüberschreitende Transport-, Arbeitsmarkt- und Umweltpolitik sowie Landesplanung und Wohnungsbau übergreifend und parallel zu nationalstaatlichen Strukturen anzugehen. Wirtschaftlich besteht die Großregion Luxemburg aus dem gesamten Norden Lothringens, der belgischen Province de Luxembourg, den deutschsprachigen Gebieten Belgiens, Teilen des Saarlandes und von Rheinland-Pfalz. Viertens könnte sich Luxemburg als Geburtshelfer von "Kerneuropa" positionieren, jener heute noch hypothetischen Föderation europäischer Nationalstaaten, die den Schritt zu einer politischen Union wagen wollen. Zu diesem innersten Zirkel Europas werden sich jene Staaten zusammenschließen, die eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ein weitgehend harmonisiertes Steuerrecht und ein vergleichbares Sozialsystem anstreben. Was heute als Zukunftsmusik erscheint, dürfte innerhalb der kommenden 20 Jahre Realität werden. Die jüngsten außenpolitischen Umwälzungen und der sinkende weltpolitische Einfluss der europäischen Akteure, verbunden mit heute schon absehbaren innenpolitischen Verwerfungen in einigen zentralen Staaten der EU (insbesondere in Frankreich), machen dieses Szenario fast unausweichlich. Luxemburg wird sich hier noch einmal als Kern von Kerneuropa darstellen, seine Geschichte, kulturelle Eigenart und sympathische Machtlosigkeit in die Waagschale werfen, um sich als Hauptstadt eines föderalen Zusammenschlusses ins Gespräch zu bringen. In der europäischen Verfassungsdiskussion vor zwei Jahren setzte Jürgen Habermas auf eine "politische Perspektive", welche "die Menschen wieder von Europa träumen lässt". Habermas sah als Ausweg aus der Krise die "verstärkte Zusammenarbeit" einiger europäischer Staaten auf Grundlage der Artikel 43 und 44 des Vertrages von Nizza, also Kerneuropa: "Entscheidungsreife Situationen brauchen freilich Personen, die eine noch so geringe Chance auch ergreifen. Jean-Claude Juncker hätte das Format und den Willen." Ob der pragmatische luxemburgische Premierminister tatsächlich ein übergeordnetes politisches Ziel verfolgt, ist jenen, die ihn seit Jahrzehnten beobachten, ein Rätsel. Es gibt noch ein Kapitel über die europäische Geschichte Luxemburgs zu schreiben. Zu diesem Beitrag vgl. folgende Literatur: Wolfgang H. Lorig (Hrsg.), Das politische System Luxemburgs. Eine Einführung, Wiesbaden 2008; Gilbert Trausch, Le Luxembourg. Emergence d'un Etat et d'une Nation, Luxemburg 2007; Guy Thewes, Les gouvernements du Grand-Duché de Luxembourg depuis 1848, Luxemburg 2006; Statec, The Luxembourg economy. A kaleidoscope 2006, Luxemburg 2007. Allgemeine Informationen zu gesellschaftspolitischen Themen finden sich unter www.forum.lu. Süddeutsche Zeitung vom 6.6. 2005.
Article
Stoldt, Jürgen
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31394/luxemburg-kern-europas/
Der Zusammenhalt im Großherzogtum lässt sich nicht mehr aus der Zugehörigkeit zur Nation definieren, kann sich aber auch nicht allein aus dem wachsenden volkswirtschaftlichen Reichtum ergeben.
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30,204
Editorial | Vollbeschäftigung? | bpb.de
Mitten in Krisenzeiten staunt die Welt über das German Job Miracle: Die Zahl der Arbeitslosen lag im Februar 2012 bei knapp über drei Millionen, die Arbeitslosenquote bei 7,4 Prozent, die Zahl der Erwerbstätigen ist auf über 41 Millionen gestiegen - ein beneidenswerter Zustand im wiedervereinigten Deutschland nicht nur im Vergleich zur Situation etwa in Griechenland oder Spanien. Befinden wir uns auf dem Weg zur "Vollbeschäftigung", wie sie bisher nur ein einziges Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, im "Goldenen Zeitalter" der 1960er Jahre erreicht wurde? Oder ist das Vollbeschäftigungsziel eine Illusion, ja ein Mythos? Von Arbeitslosenquoten von unter drei Prozent wie in den Jahren 1958 bis 1974 sind wir weit entfernt. Hinter dem Beschäftigungswunder der frühen Bundesrepublik stand eine historische Sondersituation: die Durchsetzung des auf standardisierter Massenproduktion und Massenkonsum beruhenden fordistischen Produktionssystems und der damit verbundenen sozialen Integration der Arbeiter im Wiederaufbauboom nach dem Zweiten Weltkrieg - unter weitgehendem Ausschluss von Frauen aus dem Arbeitsmarkt. Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, das zu jener Zeit institutionalisiert wurde, ist heute für viele Menschen nicht mehr zu haben - das aktuelle "Jobwunder" beruht zu einem erheblichen Teil auf der Ausweitung atypischer, nicht selten prekärer Beschäftigung. Warum halten dennoch viele am Ziel Vollbeschäftigung, wie immer auch definiert, fest? Ein hoher Beschäftigungsstand kann für wirtschaftliche Nachfrage und Wachstum sorgen, und finanzielle Ressourcen wie auch gesellschaftliche Anerkennung sind eng mit der Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben verknüpft, ebenso der Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherungssysteme. Wer diesen Zusammenhang nicht aufbrechen will, etwa durch Einführung eines Grundeinkommens, der muss in Wahlkampfzeiten vor allem immer noch das eine glaubhaft versichern können: eine wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, die bestehende Arbeitsplätze sichert und neue schafft.
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Seibring, Anne
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-03-29T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/125989/editorial/
Mitten in Krisenzeiten hält das deutsche "Jobwunder“ an, Vollbeschäftigung wie in den 1960er Jahren scheint vielen wieder möglich. Ist das Vollbeschäftigungsziel unter veränderten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen realistisch oder ei
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Die Arena des brasilianischen Schicksals | Brasilien | bpb.de
Als die ersten Journalisten und Fans 2013 das frisch umgebaute Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro besichtigen dürfen, reagieren die meisten geschockt. Sie betreten – so die allgemeine Empfindung – nicht das grandiose und legendäre Rund des Maracanã-Stadions, sondern eine Allerweltsarena wie sie auch in Stuttgart, Kapstadt oder Yokohama stehen könnte. An diesen Orten hat in den vergangenen zwölf Jahren eine Fußballweltmeisterschaft stattgefunden. Und an allen hatte der Weltfußballverband Fifa zuvor Umbauten von Stadien angemahnt, um die Sicherheit und den Komfort zu erhöhen. Deswegen wurden beispielsweise Stehplätze verboten – was zur Folge hatte, dass die durchschnittlichen Eintrittspreise stiegen, weil man für einen Sitzplatz mehr verlangen kann. In Rio de Janeiro hat der Umbau eine zusätzliche drastische Wirkung: Das Stadion, dessen majestätisches Rund vielen als Inbegriff für Gleichberechtigung galt, weil es hier keine Barrieren gab, man sich frei bewegen konnte und jeder gleich weit weg vom Spielfeld war, ist hierarchisiert worden. Es ist stark geschrumpft, besitzt nun teure Vorzugszonen und VIP-Logen. Dass das Maracanã in eine Arena ohne Geschichte, ohne Charakter verwandelt worden sei, kritisieren daher die Fans, viele Medien und Wissenschaftler. Früher sei das Maracanã für die einfache Bevölkerung da gewesen, sagen sie. Heute sei es für Fußballkonsumenten. Tatsächlich gab es im Maracanã einst Stehplätze für 50 Centavos und an den Eingängen standen Bettler, die immer genug Münzen zusammenbekamen, um sich den Eintritt leisten zu können. Heute hingegen kosten die billigsten regulären Tickets umgerechnet 26 Euro. Fußball ist Luxus geworden, aus dem Arbeitersport ein Event für Eliten. Das Stadion als soziale Klammer Man hört diese Klage häufig im Rio de Janeiro vor der Fußball-WM: Die Stadt werde für die Profitinteressen einiger weniger zugerichtet. Die Bevölkerung werde nicht in Entscheidungen eingebunden, sondern mit intransparenten Beschlüssen konfrontiert, für deren Folgen sie zu zahlen habe. Stellvertretend für diesen autoritären Regierungsstil steht das Maracanã. Es ist ein Symbol, dem die Bedeutung geraubt wurde. Als das Stadion zur Weltmeisterschaft 1950 eröffnet wurde, lag Europa in Trümmern, und Brasilien fühlte sich als das Land der Zukunft. Das hieß neben technischem Fortschritt auch Demokratie. 10.000 Arbeiter zogen das Maracanã in der Rekordzeit von zwei Jahren hoch: ein perfektes Rund, zu dem jeder Zugang haben sollte. Das Stadion bot 180.000 Menschen auf einem gigantischen Ober- und einem Unterring Platz. Selbst der Standort im Stadtteil Maracanã bedeutete Einbindung. Das Viertel bildet die Schnittstelle zwischen dem reichen, weißen Süden Rios und dem ärmeren, dunkelhäutigen Norden. Ein Stadion als soziale Klammer. Die Franzosen hatten den Eiffelturm, die Amerikaner die Freiheitsstatue und die Brasilianer hatten jetzt das Maracanã: ein modernes Kolosseum, eine Bühne für das Drama des Fußballs. Brasiliens einflussreicher Sportjournalist, Mário Filho kommentierte: "Mit dem Maracanã ist der schlafende Riese in der Seele des Landes aufgestanden." Zum absoluten Glück fehlte damals nur noch die WM-Trophäe. Die Brasilianer glaubten, sie schon in den Händen zu halten – und das Maracanã erlebte seine erste Tragödie. Im letzten Spiel des Turniers hätte den Brasilianern ein Unentschieden gegen Uruguay gereicht, um Weltmeister zu werden. 200.000 Menschen drängten sich am 16. Juli 1950, dem Tag des Spiels, ins Stadion, um zu erleben, wie Brasilien auch sportlich seinen Platz unter den großen Nationen einnehmen würde. Doch dann siegte Uruguay 2:1 und beförderte eine ganze Nation in die Depression. Das Gefühl machte sich breit, eine historische Chance verpasst zu haben. Als "die größte Tragödie der brasilianischen Neuzeit" hat der Anthropologe Roberto da Matta die Niederlage bezeichnet, die als "maracanazo" in den Sprachgebrauch einging. Die Modernisierung zerstört den Mythos 1999 wurde das Stadion dann erstmals umgebaut. Die Klub-Weltmeisterschaft stand an, umgerechnet 62 Millionen Euro kostete die Modernisierung. Fünf Jahre später folgte der nächste Eingriff, diesmal für die Pan-Amerikanischen Spiele. Er kostete umgerechnet 112 Millionen Euro. Als Brasilien dann 2007 als Austragungsort für die Fußball-WM 2014 auserkoren wurde, sollte der Umbau radikal sein. 2010 begann die Demontage, bei der nur das äußere Skelett des Stadions stehen blieb und die charakteristischen Ober- und Unterringe verschwanden. Die Neugestaltung verlangte die Verkleinerung des Spielfelds von 110×75 Metern auf 105×68 Meter. Auch das Betondach trug man ab und ersetzte es durch eine Überspannung aus Fiberglas und Teflon. Statt der Stehplätze konstruierte man 125 VIP-Logen: 50 Quadratmeter groß, klimatisiert, mit Bad und Bar. 78.838 Menschen bietet das Stadion jetzt noch Platz. Laut Fifa-Regularien benötigen Stadien, die 60.000 Zuschauer fassen, 10.000 Parkplätze. Obwohl die Fans früher problemlos mit der Metro ins Maracanã gelangten, wurde deswegen beschlossen, auch alle auf dem Stadiongelände befindlichen Bauten abzureißen: ein öffentliches Athletik- und ein Schwimmstadion, die Arthur-Friedenreich-Schule, sowie das historische Indianermuseum. Nach heftigen Protesten der Bevölkerung wurde diese Entscheidung zum Teil revidiert und die Stadien sowie das Museum blieben erhalten. Mindestens ebenso groß ist bis heute der Streit um die Kosten. Als Rios Regierung ihre Entscheidung zur Modernisierung des Maracanã-Stadions verkündete, versprach sie, dass diese mit privatem Geld finanziert würde. Dann aber flossen fast ausschließlich Steuergelder. Die anfänglich veranschlagten Kosten von 600 Millionen Reais verdoppelten sich auf 1,2 Milliarden Reais (460 Millionen Euro). Nun soll das Stadion von einem Konsortium rund um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht für einige Millionen Reais Jahrespacht betrieben werden. Da liegt die Einschätzung nicht fern, dass ein Bau finanziert wurde, der mehrheitlich nicht gewollt wurde und nun zudem unter Wert privatisiert wird. Aus dieser Sicht erschließt sich eine inzwischen verbreitete Reaktion auf die Entwicklung des Stadions: "Das Maracanã existiert nicht mehr. Sie haben es zerstört." Der Autor Philipp Lichterbeck. (© Philipp Lichterbeck)
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Philipp Lichterbeck
"2022-01-27T00:00:00"
"2014-05-29T00:00:00"
"2022-01-27T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/brasilien/fussball-wm-2014/185264/die-arena-des-brasilianischen-schicksals/
Das Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro ist ein Ort brasilianischer Fußballgeschichte. Nach dem Umbau für die WM erkennt die Bevölkerung es nicht wieder. Früher war das Maracanã für die Fans da, heute steht es nur noch den Fußballkonsumenten offen.
[ "Fußball", "Fußball-WM", "Fußball-Weltmeisterschaft", "Fußball-Weltmeisterschaft 2014", "Stadion", "Maracanã", "Maracanã-Stadion", "Brasilien", "Rio de Janeiro" ]
30,206
Programmübersicht | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
Hier finden Sie das Programm des 14. Bundeskongress politische Bildung "Was uns bewegt! Emotionen in Politik und Gesellschaft". Interner Link: Programm als PDF
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-10-18T00:00:00"
"2018-10-16T00:00:00"
"2022-10-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/277634/programmuebersicht/
Auf dieser Seite stellen wir das Programm zur Verfügung
[ "14. Bundeskongress Politische Bildung", "Bundeskongress politische Bildung" ]
30,207
Internationale Bevölkerungspolitik | Bevölkerungsentwicklung | bpb.de
Einleitung Wenn auf nationaler und internationaler Ebene jegliche Art von Politik stets auf eine sozialverträgliche Weise betrieben werden könnte, bräuchte es keine Sozialpolitik, um die Fehlentwicklungen nachträglich zu korrigieren. Ebenso wenig bedürfte es in diesem Fall wahrscheinlich einer Bevölkerungspolitik. Die Menschen würden sich vielleicht mehrheitlich die von ihnen als ideal angesehene Zahl von durchschnittlich zwei Kindern pro Frau/Mann nicht nur wünschen, sondern sie auch verwirklichen, sodass die Bevölkerungszahl konstant und die Altersstruktur optimal wäre. Die wachstums- oder schrumpfungsbedingten wirtschaftlichen und sozialen Probleme träten dann gar nicht erst auf. Wird die internationale Staatenwelt jedoch nicht von einem idealen, sondern von einem realistischen Standpunkt betrachtet, dann sind zwei Kinder pro Frau nur für die Industrieländer mit niedriger Sterblichkeit optimal, während die bestandserhaltende und die für die Altersstruktur optimale Kinderzahl pro Frau in den Ländern mit hoher Sterblichkeit über zwei liegt. Demografen in den Entwicklungsländern, beispielsweise in Indonesien, lehnen deshalb das von ihrer Regierung und von internationalen Organisationen propagierte Ziel einer Kinderzahl von zwei als zu niedrig ab. Wenn infolge der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit jedes dritte Kind vor Erreichen des Erwachsenenalters stirbt, ist es aus der Sicht der Eltern rational, mindestens drei, vier oder noch mehr Kinder anzustreben, um die erhoffte Unterstützung aus der eigenen Familie als eine Art von sozialem Sicherungssystem von unten erhalten zu können. In den Industrieländern ist die Vorstellung verbreitet, dass Bevölkerungspolitik nur etwas für Entwicklungsländer sei, während in den reichen Ländern sozialpolitische Korrekturmaßnahmen zur Beherrschung der Auswirkungen einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung reichten. Diese Sichtweise ist vordergründig, denn auch die demokratischen Gesellschaften der Wohlfahrtsstaaten können ihre sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Ziele um so eher verwirklichen, je besser sie den demografisch bedingten, von der Alterung hervorgerufenen sozialen Verteilungsstress zwischen den Generationen und zwischen den Bevölkerungsgruppen ohne und mit Kindern beherrschen und gestalten. Deshalb betreiben auch demokratische Gesellschaften eine Art von Bevölkerungspolitik in den Bereichen Familie, Gesundheit, Arbeitsmarkt und Zuwanderung, um ihre Ziele in der Sozial- und Wohlfahrtspolitik zu erreichen. Akteure und Hauptzielsetzungen Zu den Akteuren der Bevölkerungspolitik auf internationaler und globaler Ebene gehören neben den Ländern als den souveränen Trägern der Politik auch die Vereinten Nationen und die nichtstaatlichen Akteure (NGO, engl.: Non-Governemental Organizations). Zu letzteren zählen die großen privaten Stiftungen, vor allem in den USA, die durch ihre Öffentlichkeitsarbeit und durch Hilfsprojekte in einer Vielzahl von Ländern de facto eine kaum mehr überschaubare Parallelbevölkerungspolitik betreiben. Aber auch die Nationalstaaten sind über ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hinaus Träger einer eigenständigen internationalen Bevölkerungspolitik, die sie in der Regel in ihre Entwicklungspolitik integrieren. Alle supranationalen, nationalen und privaten Akteure verfolgen mit ihren Plänen, Programmen und Kampagnen das Ziel, die Geburtenrate und die Wachstumsrate der Bevölkerung in den Entwicklungsländern bzw. in der Welt als Ganzes so rasch wie möglich zu senken. Differenziert nach den Ursachen der hohen Geburten- und Bevölkerungswachstumsraten lassen sich dabei vier Ansätze unterscheiden: Für Länder, in denen die Zahl der ungeplanten Geburten hoch ist, wurde die klassische Familienplanungspolitik konzipiert. Ihre Mittel sind unter anderem Sexualaufklärung, Basis-Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder sowie die flächendeckende Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln. Staaten, in denen die Eltern viele Kinder planen und aktiv anstreben, um die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit zu kompensieren, benötigen eher eine gesundheitsorientierte Entwicklungspolitik, vor allem Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten von Müttern, Säuglingen und Kindern sowie solche zur Verbesserung der allgemeinen Hygiene. Wenn eine hohe Kinderzahl aus ökonomischen und sozialen Gründen angestrebt wird, weil Kinder von den Eltern als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder als familienbasiertes Sozialversicherungssystem benötigt werden, sind die Maßnahmen der klassischen Entwicklungspolitik besonders wichtig, vor allem die Bildungspolitik, insbesondere für Mädchen, die Wirtschaftspolitik und die Politik der Gleichstellung der Geschlechter auf allen Gebieten des Lebens. Wird eine möglichst hohe Kinderzahl von der Bevölkerung aus religiösen, kulturellen oder traditionellen Gründen (Sohnespräferenz) angestrebt, wie in hinduistischen, islamischen und teilweise noch in katholischen Bevölkerungsgruppen, kann die auf eine Verringerung des Bevölkerungswachstums zielende Bevölkerungspolitik mit dem Recht der souveränen Länder und der Menschen auf "demografische Selbstbestimmung", das 1984 auf der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Mexiko proklamiert wurde, in Konflikt geraten. Aktionsprogramme der UN Seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro hat sich das Bewusstsein dafür geschärft, dass Umwelt- und Entwicklungspolitik sowie Bevölkerungspolitik (die in Rio nicht unmittelbar auf der Agenda stand) Querschnittsaufgaben sind. Die Wechselwirkungen zwischen der Bevölkerungsentwicklung, der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Entwicklung und der Umwelt müssen durch aufeinander abgestimmte Maßnahmen gesteuert und gestaltet werden. Dies kann nur gelingen, wenn eine integrierte Gesamtkonzeption unter Einbeziehung der Gesellschaftspolitik erarbeitet wird. Für diese integrierte Gesamtkonzeption wird häufig der Begriff "Weltinnenpolitik" verwendet, so wie zunehmend auch von einer "Weltgesellschaft" gesprochen wird. Das Zusammenwachsen der Welt durch die wirtschaftliche Globalisierung beruht heute noch weniger auf politischen Konzeptionen wie einer "Weltinnenpolitik", sondern auf der Tatsache, dass der Welthandel wesentlich schneller wächst als das Weltsozialprodukt – ein Ausdruck der immer differenzierteren internationalen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, durch die sich die Abhängigkeit zwischen den Nationen erhöht. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich als Folge der dynamischen Weltwirtschaft eine Weltgesellschaft herausbildet, bei der die Populationen, Nationen und Kulturen dieser Welt nicht nur de facto durch den wirtschaftlichen Austausch und durch Abhängigkeiten, sondern durch den Willen zur Gemeinsamkeit miteinander verbunden sind. Wie die Entwicklung auch immer verläuft – die Vereinten Nationen sind ein wichtiger Schrittmacher auf dem Weg zu größerer Gemeinsamkeit und zu einer Weltinnenpolitik, die auf die Interessen der Menschheit als Ganzes zielt. Ein somalisches Kind schläft im Dadaab-Flüchtlingslager in Nordkenia. (© AP) Die Vereinten Nationen haben sich für dieses Ziel durch ihre Weltbevölkerungskonferenzen von Bukarest (1974), Mexiko (1984) und Kairo (1994) auf eine wirkungsvolle, vorbildliche Weise engagiert. Darüber hinaus führen die UN mit mehr als zwei Dutzend Organisationen ständig direkt oder indirekt bevölkerungspolitische Aufgaben durch. Zu den wichtigsten gehören der United Nations Population Fund (UNFPA), der den jährlichen Weltbevölkerungsbericht herausgibt (in deutscher Übersetzung vertrieben durch die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung), die World Health Organization (WHO), das Joint UN Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) und der UN Children's Fund (UNICEF). Hinzu kommen eine Reihe von Organisationen, deren Tätigkeit auf mittelbare Weise mit Aufgaben der Bevölkerungspolitik zusammenhängt, beispielsweise der Economic and Social Council (ECOSOC), das UN Development Programme (UNDP), die UN Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), der UN Development Fund for Women (UNIFEM) sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR). Als besonders Öffentlichkeitswirksam erweist sich das 1994 auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo verabschiedete Aktionsprogramm (International Conference on Population and Development, ICPD), bei dem vielfältige Maßnahmen empfohlen wurden, die die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen, ohne dass sich das ICPD als ein bevölkerungspolitisches Programm versteht. Das Aktionsprogramm der Kairoer Konferenz hat für die Staaten der Welt allerdings keine bindende Wirkung, es soll sie zur Selbstverpflichtung sowie zu eigenen Programmen und Planungen anregen. Dies ist teilweise in erstaunlichem Ausmaß gelungen, wozu auch die nach Kairo durchgeführten 17 Konferenzen der Population Division der UN beitrugen (beispielsweise die Konferenzen Population, Environment and Development 2001, International Migration and Development 2006, Population Distribution, Urbanization, Internal Migration and Development 2008 und Health, Morbidity, Mortality and Development 2010), darüber hinaus auch die Konferenzen, mit denen Bilanz gezogen wird, zum Beispiel im sogenannten "Kairo + 5-Bericht" und "Kairo +10-Bericht". Unter den zahllosen, katalogartig aufgelisteten Zielen und Grundsätzen des Kairoer Aktionsprogramms sind die meisten unstrittig. Propagiert werden das "Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person", das "Recht auf angemessenen Lebensstandard", die "Gewährleistung der Eigenentscheidung der Frau über ihre Geburtenhäufigkeit", die "Beseitigung jeder Form von Diskriminierung auf Grund des Geschlechts", der Grundsatz der "nachhaltigen Entwicklung", der "Grundsatz der Beseitigung der Armut" sowie das "Recht auf den höchsten erreichbaren Standard körperlicher und geistiger Gesundheit". Aufgeführt ist auch die Maxime "Alle Paare und Einzelpersonen haben das Grundrecht, frei und eigenverantwortlich über die Anzahl und den Geburtenabstand ihrer Kinder zu entscheiden und die dafür nötigen Informationen, Aufklärung und Mittel zu haben." Ein weiteres Ziel, das "Recht auf Reproduktive Gesundheit", ist seit der Kairoer Konferenz besonders Öffentlichkeitswirksam geworden. Es wird so definiert: "Reproduktive Rechte umfassen bestimmte Menschenrechte, die in nationalen Gesetzen, internationalen Menschenrechtsdokumenten und in einschlägigen Konventionen der Vereinten Nationen bereits verankert sind. Diese Rechte beruhen auf der Anerkennung des Grundrechts aller Paare und Individuen, frei und eigenverantwortlich über die Anzahl, den Abstand und den Zeitpunkt von Geburten zu entscheiden und die dafür erforderlichen Informationen und Mittel zu erhalten, sowie auf der Anerkennung des Rechts, den höchsten Standard sexueller und reproduktiver Gesundheit zu erlangen. Sie beinhalten auch das Recht aller Menschen, ihre Entscheidung hinsichtlich der Fortpflanzung frei von Diskriminierung, Zwang und Gewalt zu treffen" (UNFPA, Weltbevölkerungsbericht 2000, S. 66). Die "reproduktive Gesundheit" enthält keine unmittelbare demografische Zielsetzung, sie spricht aber die einzelne Frau an und führt deshalb mittelbar zur Geburtenbeschränkung. QuellentextUN-Millenniumsziele im Realitätscheck Im September 2000 verabschiedeten die UN-Mitgliedstaaten die "Millenniumserklärung", in die viele wichtige Ergebnisse der bisherigen Weltkonferenzen einflossen. Im September 2001 wurden auf dieser Grundlage acht Millenniums-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) formuliert, weltweit akzeptierte Vorgaben, die nach damaliger Absichtserklärung bis 2015 verwirklicht sein sollten. Der Zwischenstandsbericht verdeutlicht die Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Armut und Hunger: Die Zahl der extrem armen Menschen, die von weniger als 1,25 Dollar (knapp ein Euro) am Tag leben, soll bis 2015 halbiert werden, ebenso die Zahl der Hungernden. Die Umsetzung dieser Ziele ist zweifelhaft. Etwa 1,4 Milliarden Menschen weltweit sind immer noch extrem arm, [...] 830 Millionen Menschen leiden immer noch Hunger. Kindersterblichkeit: Die Sterberate von Kindern unter fünf Jahren soll bis 2015 um zwei Drittel sinken. Hier sieht die UN Teilerfolge: Starben 1990 noch 100 von 1000 Lebendgeborenen vor dem fünften Lebensjahr, sind es inzwischen nur noch 72 von 1000. Das bedeutet täglich 10 000 weniger Todesfälle von Kleinkindern. Nach derzeitigem Stand könnten aber nur zehn von 67 Ländern mit hoher Kindersterblichkeit bis 2015 das UN-Ziel erreichen. Müttersterblichkeit: Die Zahl der Mütter, die während Schwangerschaft oder Geburt sterben, soll bis 2015 um drei Viertel sinken. Doch noch immer sterben jährlich Hunderttausende Frauen an Komplikationen, die Zahl hat sich seit 2000 kaum verringert. Bildung: Alle Jungen und Mädchen sollen bis 2015 mindestens eine Grundschulausbildung erhalten. Inzwischen gehen 89 Prozent aller Kinder zur Grundschule, im Jahr 2000 waren es 83 Prozent. Angesichts des langsamen Fortschritts halten die Vereinten Nationen ein Erreichen des Ziels für unwahrscheinlich. Derzeit gehen immer noch 69 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter nicht in einen geregelten Unterricht. Krankheitsbekämpfung: Die Ausbreitung von Aids soll gestoppt, Krankheiten wie Malaria sollen ausgerottet werden. Hier gibt es Nachholbedarf: Immer noch stecken sich jeden Tag weltweit etwa 7000 Menschen mit dem HI-Virus an. Die Zahl der HIV-Neuinfektionen sank aber von 3,5 Millionen im Jahr 1996 auf 2,2 Millionen im Jahr 2008. Die Zahl der Infizierten mit Zugang zu HIV-Medikamenten in armen Ländern hat sich binnen fünf Jahren verzehnfacht. Lebensbedingungen: Die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser soll bis 2015 halbiert werden. Seit 1990 haben 2,7 Milliarden Menschen zusätzlich Zugang zu sauberem Trinkwasser bekommen. 884 Millionen haben ihn derzeit nicht. Weniger gut läuft die Entwicklung bei hygienischen Sanitäranlagen: Derzeit haben 2,6 Milliar-den Menschen keinen Zugang dazu, bis 2015 wird diese Zahl nach UN-Schätzungen sogar leicht ansteigen. Gleichberechtigung: Die Benachteiligung von Mädchen in der Schule soll bis 2015 beseitigt werden. Weltweit kommen jedoch auf 100 Grundschüler immer noch nur 96 Grundschülerinnen. Als Erfolg verbucht es die UN, dass der Anteil der weiblichen Parlamentsabgeordneten von 1990 bis 2010 von elf auf 19 Prozent gestiegen ist. Globale Entwicklungspartnerschaft: Die Exporte aus armen Ländern in Industrieländer nehmen laut den Vereinten Nationen stark zu, der Verschuldungsgrad armer Länder sinkt. Allerdings sind die reichen Länder noch weit vom UN-Ziel entfernt, 0,7 Pro-zent ihrer Wirtschaftsleistung für die Entwicklungshilfe zu geben; derzeit liegt die Quote bei 0,31 Prozent. Die Zeit, Nr. 38 vom 16. September 2010, afp Mit Bildung gegen überbevölkerung [...] Man muss vielleicht in einer Stadt wie Lagos leben, um zu verstehen, was eine exponentiell wachsende Bevölkerung bedeutet. Lagos ist die schnellstwachsende Stadt in einem der am schnellsten wachsenden Länder der Welt. Der erst vor wenigen Jahren entstandene Stadtteil Mushin zählt heute zu den am dichtesten besiedelten Orten des Planeten. 34 000 Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer. [...] Nichts von dem, was einem hierzulande als Grundversorgung unverzichtbar erscheinen würde, ist in Mushin gegeben. Niemand lebt freiwillig dort, und doch beherbergt ein Zimmer durchschnittlich sechs Menschen. [...] Laut "Economist" [...] ist Lagos unter den fünf Städten des Planeten, in denen man am schlechtesten lebt. Die Menschen dort leiden unter Abgasen, Wohnungsnot, schlechter Versorgung, unter Müll, geschundener Gesundheit, Kriminalität, verseuchtem Wasser, unter ärztemangel und hoher Kindersterblichkeit. Ohne Zweifel sind das alles multikausale Phänomene. Es steht jedoch fest, dass sie durch die Bevölkerungsexplosion mindestens drastisch verschärft werden – wenn in ihr nicht sogar der maßgebliche Grund gesehen werden sollte. Die Infrastruktur der Stadt kann den Ansturm der Landbevölkerung und den Kinderreichtum ihrer Einwohner nicht tragen. Das katastrophale Wachstum der Welt-bevölkerung kommt uns selbst dann nicht mehr in den Sinn, wenn es uns un-mittelbar vor Augen geführt wird. Dafür ist die Flutkatastrophe in Pakistan ein gutes Beispiel. Sicher ist die Überbevölkerung Pakistans nicht der Grund gewesen für den vielen Regen dort. [...] Wir können uns [...] [aber] vollkommen sicher sein, dass dieselben Regen-fälle – und es hat in der Vergangenheit über Pakistan ähnliche Monsunfälle gegeben – vor wenigen Jahrzehnten nicht ansatzweise so desaströs ausgefallen wären, und zwar schlicht deswegen, weil die Anzahl der möglichen Betroffenen um ein Vielfaches geringer gewesen wäre. 1950 lebten in Pakistan etwa 33 Millionen Menschen, heute sind es etwa 170. Die Bevölkerung hat sich in fünfzig Jahren verfünffacht. Die Flutkatastrophe in Pakistan ist im Übrigen auch deswegen so furchtbar gewesen, weil explodierende Bevölkerungen zu Modifikationen der Natur führen, die die Konsequenzen von Unglücken verschlimmern. In Pakistan wurden Wälder abgeholzt, deren Boden die Wassermassen besser hätte aufnehmen können. Der Indus und seine Neben-flüsse wurden begradigt, um Fläche zu schaffen, bessere Wasserversorgung zu ermöglichen und den Transport von zunehmenden Warenmengen zu be-werkstelligen, was den Fluss leichter über seine Ufer hat treten lassen. [...] Was den Klimawandel angeht, steht zwar außer Zweifel, dass die Emissionen durch eine wachsende Bevölkerung nicht geringer werden können. Es gibt sogar Berechnungen, nach denen der Kohlendioxidausstoß des Planeten auch dann konstant bleiben würde, wenn die Industrienationen ihre Klimaziele weitestgehend erfüllen und ihre Emissionen um vierzig Prozent reduzieren sollten: Die neuen Menschen auf der Erde machen diese Bemühungen zur Makulatur. Umgekehrt sind es nach wie vor die wenigsten, die das meiste Kohlendioxid ausstoßen. Afrika, der Mittlere Osten und Südamerika produzieren zusammen ge-rade einmal zehn Prozent der Treibhausgase. Es braucht keine Masse an Konsumenten, um den Planeten zu ruinieren. [...] Wir erleben allerdings bereits jetzt, wie alle technischen Neuerungen nichts an der Begrenztheit der Erdkapazitäten ändern können. [...] Trost im Angesicht des zukünftigen Katastrophenpotentials findet man ausgerechnet bei den Demographen. [...] In der Demographie herrscht [...] weitestgehend Konsens darüber, dass die Weltbevölkerung gegen Ende des Jahrhunderts ihren Gipfel erreicht haben und danach sinken wird. Die durchschnittliche Bildung der Weltbevölkerung hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte erlebt. In der gleichen Zeit hat die Demographie feststellen können, dass Geburtsraten mit nichts stärker korrelieren als mit dem Faktor Bildung. Je höher der durchschnittliche Bildungsgrad ist, insbesondere jener der Frauen, desto weniger wächst die Bevölkerung. Das lässt sich beispielsweise im indischen Bundesstaat Kerala sehen. Während die Bevölkerung des Subkontinents überall rasant wächst, weist Kerala ein niedrigeres Bevölkerungswachstum auf als die Vereinigten Staaten. Der große Unterschied Keralas zum Rest Indiens liegt in einer Alphabetisierungsrate von fast neunzig Prozent. Dass Bildung hilft, sieht man auch an Zahlen aus Tansania: Dort kriegt eine Frau ohne Bildung im Durchschnitt sechs Kinder, eine Tansanierin mit Universitätsabschluss zwei. [...] Die Tatsache, dass die Quote der Schulbesucher in Afrika in den letzten Jahren rückläufig ist, muss vor diesem Hintergrund aber im höchsten Maße alarmieren. Wenn die Entwicklungshilfe sich ein einziges Ziel setzen sollte, so wäre das eine Reduktion des Bevölkerungswachstums. Für dieses Ziel aber ist die Marschroute eindeutig vorgegeben: Die Kinder müssen in Schulen. [...] Alard von Kittlitz, "Viele Kinder, viele Sorgen", in Faz.Net vom 11. Oktober 2010  Ein somalisches Kind schläft im Dadaab-Flüchtlingslager in Nordkenia. (© AP) Im September 2000 verabschiedeten die UN-Mitgliedstaaten die "Millenniumserklärung", in die viele wichtige Ergebnisse der bisherigen Weltkonferenzen einflossen. Im September 2001 wurden auf dieser Grundlage acht Millenniums-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) formuliert, weltweit akzeptierte Vorgaben, die nach damaliger Absichtserklärung bis 2015 verwirklicht sein sollten. Der Zwischenstandsbericht verdeutlicht die Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Armut und Hunger: Die Zahl der extrem armen Menschen, die von weniger als 1,25 Dollar (knapp ein Euro) am Tag leben, soll bis 2015 halbiert werden, ebenso die Zahl der Hungernden. Die Umsetzung dieser Ziele ist zweifelhaft. Etwa 1,4 Milliarden Menschen weltweit sind immer noch extrem arm, [...] 830 Millionen Menschen leiden immer noch Hunger. Kindersterblichkeit: Die Sterberate von Kindern unter fünf Jahren soll bis 2015 um zwei Drittel sinken. Hier sieht die UN Teilerfolge: Starben 1990 noch 100 von 1000 Lebendgeborenen vor dem fünften Lebensjahr, sind es inzwischen nur noch 72 von 1000. Das bedeutet täglich 10 000 weniger Todesfälle von Kleinkindern. Nach derzeitigem Stand könnten aber nur zehn von 67 Ländern mit hoher Kindersterblichkeit bis 2015 das UN-Ziel erreichen. Müttersterblichkeit: Die Zahl der Mütter, die während Schwangerschaft oder Geburt sterben, soll bis 2015 um drei Viertel sinken. Doch noch immer sterben jährlich Hunderttausende Frauen an Komplikationen, die Zahl hat sich seit 2000 kaum verringert. Bildung: Alle Jungen und Mädchen sollen bis 2015 mindestens eine Grundschulausbildung erhalten. Inzwischen gehen 89 Prozent aller Kinder zur Grundschule, im Jahr 2000 waren es 83 Prozent. Angesichts des langsamen Fortschritts halten die Vereinten Nationen ein Erreichen des Ziels für unwahrscheinlich. Derzeit gehen immer noch 69 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter nicht in einen geregelten Unterricht. Krankheitsbekämpfung: Die Ausbreitung von Aids soll gestoppt, Krankheiten wie Malaria sollen ausgerottet werden. Hier gibt es Nachholbedarf: Immer noch stecken sich jeden Tag weltweit etwa 7000 Menschen mit dem HI-Virus an. Die Zahl der HIV-Neuinfektionen sank aber von 3,5 Millionen im Jahr 1996 auf 2,2 Millionen im Jahr 2008. Die Zahl der Infizierten mit Zugang zu HIV-Medikamenten in armen Ländern hat sich binnen fünf Jahren verzehnfacht. Lebensbedingungen: Die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser soll bis 2015 halbiert werden. Seit 1990 haben 2,7 Milliarden Menschen zusätzlich Zugang zu sauberem Trinkwasser bekommen. 884 Millionen haben ihn derzeit nicht. Weniger gut läuft die Entwicklung bei hygienischen Sanitäranlagen: Derzeit haben 2,6 Milliar-den Menschen keinen Zugang dazu, bis 2015 wird diese Zahl nach UN-Schätzungen sogar leicht ansteigen. Gleichberechtigung: Die Benachteiligung von Mädchen in der Schule soll bis 2015 beseitigt werden. Weltweit kommen jedoch auf 100 Grundschüler immer noch nur 96 Grundschülerinnen. Als Erfolg verbucht es die UN, dass der Anteil der weiblichen Parlamentsabgeordneten von 1990 bis 2010 von elf auf 19 Prozent gestiegen ist. Globale Entwicklungspartnerschaft: Die Exporte aus armen Ländern in Industrieländer nehmen laut den Vereinten Nationen stark zu, der Verschuldungsgrad armer Länder sinkt. Allerdings sind die reichen Länder noch weit vom UN-Ziel entfernt, 0,7 Pro-zent ihrer Wirtschaftsleistung für die Entwicklungshilfe zu geben; derzeit liegt die Quote bei 0,31 Prozent. Die Zeit, Nr. 38 vom 16. September 2010, afp Mit Bildung gegen überbevölkerung [...] Man muss vielleicht in einer Stadt wie Lagos leben, um zu verstehen, was eine exponentiell wachsende Bevölkerung bedeutet. Lagos ist die schnellstwachsende Stadt in einem der am schnellsten wachsenden Länder der Welt. Der erst vor wenigen Jahren entstandene Stadtteil Mushin zählt heute zu den am dichtesten besiedelten Orten des Planeten. 34 000 Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer. [...] Nichts von dem, was einem hierzulande als Grundversorgung unverzichtbar erscheinen würde, ist in Mushin gegeben. Niemand lebt freiwillig dort, und doch beherbergt ein Zimmer durchschnittlich sechs Menschen. [...] Laut "Economist" [...] ist Lagos unter den fünf Städten des Planeten, in denen man am schlechtesten lebt. Die Menschen dort leiden unter Abgasen, Wohnungsnot, schlechter Versorgung, unter Müll, geschundener Gesundheit, Kriminalität, verseuchtem Wasser, unter ärztemangel und hoher Kindersterblichkeit. Ohne Zweifel sind das alles multikausale Phänomene. Es steht jedoch fest, dass sie durch die Bevölkerungsexplosion mindestens drastisch verschärft werden – wenn in ihr nicht sogar der maßgebliche Grund gesehen werden sollte. Die Infrastruktur der Stadt kann den Ansturm der Landbevölkerung und den Kinderreichtum ihrer Einwohner nicht tragen. Das katastrophale Wachstum der Welt-bevölkerung kommt uns selbst dann nicht mehr in den Sinn, wenn es uns un-mittelbar vor Augen geführt wird. Dafür ist die Flutkatastrophe in Pakistan ein gutes Beispiel. Sicher ist die Überbevölkerung Pakistans nicht der Grund gewesen für den vielen Regen dort. [...] Wir können uns [...] [aber] vollkommen sicher sein, dass dieselben Regen-fälle – und es hat in der Vergangenheit über Pakistan ähnliche Monsunfälle gegeben – vor wenigen Jahrzehnten nicht ansatzweise so desaströs ausgefallen wären, und zwar schlicht deswegen, weil die Anzahl der möglichen Betroffenen um ein Vielfaches geringer gewesen wäre. 1950 lebten in Pakistan etwa 33 Millionen Menschen, heute sind es etwa 170. Die Bevölkerung hat sich in fünfzig Jahren verfünffacht. Die Flutkatastrophe in Pakistan ist im Übrigen auch deswegen so furchtbar gewesen, weil explodierende Bevölkerungen zu Modifikationen der Natur führen, die die Konsequenzen von Unglücken verschlimmern. In Pakistan wurden Wälder abgeholzt, deren Boden die Wassermassen besser hätte aufnehmen können. Der Indus und seine Neben-flüsse wurden begradigt, um Fläche zu schaffen, bessere Wasserversorgung zu ermöglichen und den Transport von zunehmenden Warenmengen zu be-werkstelligen, was den Fluss leichter über seine Ufer hat treten lassen. [...] Was den Klimawandel angeht, steht zwar außer Zweifel, dass die Emissionen durch eine wachsende Bevölkerung nicht geringer werden können. Es gibt sogar Berechnungen, nach denen der Kohlendioxidausstoß des Planeten auch dann konstant bleiben würde, wenn die Industrienationen ihre Klimaziele weitestgehend erfüllen und ihre Emissionen um vierzig Prozent reduzieren sollten: Die neuen Menschen auf der Erde machen diese Bemühungen zur Makulatur. Umgekehrt sind es nach wie vor die wenigsten, die das meiste Kohlendioxid ausstoßen. Afrika, der Mittlere Osten und Südamerika produzieren zusammen ge-rade einmal zehn Prozent der Treibhausgase. Es braucht keine Masse an Konsumenten, um den Planeten zu ruinieren. [...] Wir erleben allerdings bereits jetzt, wie alle technischen Neuerungen nichts an der Begrenztheit der Erdkapazitäten ändern können. [...] Trost im Angesicht des zukünftigen Katastrophenpotentials findet man ausgerechnet bei den Demographen. [...] In der Demographie herrscht [...] weitestgehend Konsens darüber, dass die Weltbevölkerung gegen Ende des Jahrhunderts ihren Gipfel erreicht haben und danach sinken wird. Die durchschnittliche Bildung der Weltbevölkerung hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte erlebt. In der gleichen Zeit hat die Demographie feststellen können, dass Geburtsraten mit nichts stärker korrelieren als mit dem Faktor Bildung. Je höher der durchschnittliche Bildungsgrad ist, insbesondere jener der Frauen, desto weniger wächst die Bevölkerung. Das lässt sich beispielsweise im indischen Bundesstaat Kerala sehen. Während die Bevölkerung des Subkontinents überall rasant wächst, weist Kerala ein niedrigeres Bevölkerungswachstum auf als die Vereinigten Staaten. Der große Unterschied Keralas zum Rest Indiens liegt in einer Alphabetisierungsrate von fast neunzig Prozent. Dass Bildung hilft, sieht man auch an Zahlen aus Tansania: Dort kriegt eine Frau ohne Bildung im Durchschnitt sechs Kinder, eine Tansanierin mit Universitätsabschluss zwei. [...] Die Tatsache, dass die Quote der Schulbesucher in Afrika in den letzten Jahren rückläufig ist, muss vor diesem Hintergrund aber im höchsten Maße alarmieren. Wenn die Entwicklungshilfe sich ein einziges Ziel setzen sollte, so wäre das eine Reduktion des Bevölkerungswachstums. Für dieses Ziel aber ist die Marschroute eindeutig vorgegeben: Die Kinder müssen in Schulen. [...] Alard von Kittlitz, "Viele Kinder, viele Sorgen", in Faz.Net vom 11. Oktober 2010 
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Herwig Birg
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-01-21T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/bevoelkerungsentwicklung-282/55932/internationale-bevoelkerungspolitik/
Neben Einzelstaaten engagieren sich auf internationaler Ebene die Vereinten Nationen und eine Vielzahl nichtstaatlicher Akteure. Der Lebensstandard der Dritten Welt soll verbessert werden und das Wachstum der Weltbevölkerung verlangsamt werden. Auch
[ "Informationen zur politischen Bildung Nr. 282", "Bevölkerungsentwicklung", "internationale Bevölkerungspolitik", "UN", "UNICEF", "Milleniumsziele" ]
30,208
Beeinflusst der Kreml die russischen Wähler im Baltikum? | euro|topics-Wahlmonitor | bpb.de
Interner Link: The english version of this article can be found here. Sie sprechen anders, sie schauen anderes Fernsehen und sie wählen anders: Angehörige der russischen Minderheiten in den drei baltischen Staaten unterscheiden sich in ihren politischen Ansichten teilweise erheblich von der estnischen, lettischen und litauischen Bevölkerung. Das schlägt sich auch regelmäßig in den Wahlergebnissen der drei Länder nieder. Die russischstämmigen Wähler in Estland bevorzugen traditionell die Zentrumspartei. Zwischen 70 und 80 Prozent von ihnen gaben der Mitte-links-Partei bei Parlamentswahlen bisher ihre Stimme. Die Partei setzt sich für die Belange der Russen in Estland ein und fordert eine stärkere Anbindung an Russland. Allerdings schafft es die Partei immer weniger, ihre russischen Anhänger zur Wahl zu mobilisieren. Bei der jüngsten Parlamentswahl im März war die Wahlbeteiligung in den Gegenden, in denen besonders viele Russen oder russischsprachige Menschen leben, viel geringer als im Gesamtdurchschnitt, stellt der Politikwissenschaftler Rein Toomla in der Externer Link: Zeitung Pealinn fest. So lag sie etwa im vorwiegend russischsprachigen Nordosten Estlands unter 50 Prozent, landesweit jedoch bei 63 Prozent. Laut Toomla zeige dies, dass sich die russischen Wähler von der Zentrumspartei, die Externer Link: seit 2016 an der Regierung ist, abwenden und nennt als Grund vor allem die Bildungspolitik der Regierung. Die Wähler hätten das Gefühl, dass sich die Zentrumspartei nicht stark genug für russischsprachigen Unterricht einsetze. Bei der Parlamentswahl hätten sie daraus ihre Konsequenzen gezogen, so Toomla: "Da es schon lange keine russische Partei gibt, hatten die Russen auch keine Alternative. Sie sind deshalb einfach nicht zur Wahl gegangen." Zentrumspartei massiv abgestürzt Seit die Zentrumspartei unter Ministerpräsident Jüri Ratas im April 2019 eine Koalition mit der rechtsextremen Ekre Externer Link: eingegangen ist, stürzte die Unterstützung der russischen Wähler in den Umfragen noch weiter ab. Nur noch 47 Prozent von ihnen würden ihr derzeit ihre Stimme geben. Auch bei der Europawahl kann sie sich diesmal wohl nicht auf ihre Traditionswähler verlassen. Doch möglicherweise haben diese immerhin eine Alternative: Raimond Kaljulaid, ein populärer zweisprachiger Politiker, der aus Protest gegen die Koalition mit den Rechtsextremen aus der Zentrumspartei ausgetreten ist, tritt als Einzelkandidat an. Auf dem Onlineportal Delfi bezeichnet er seine Kandidatur als gut für die politische Vielfalt: "Eine Situation, in der 80 Prozent einer Nationalität für eine Partei stimmen, gibt dieser Partei eine Monopolstellung. Dass die russischen Stimmen nun auf dem freien Markt sind, finde ich als Liberaler nur begrüßenswert." Aus den russischen Staatsmedien, die die Russen in Estland vorwiegend konsumieren, lässt sich in diesem Wahlkampf keine massive Beeinflussung feststellen. Doch befeuern sie den Politikverdruss der russischstämmigen Wähler, wie etwa das Onlineportal Externer Link: Sputnik, wenn es schreibt: "Leise in dem bequemen Sessel sitzen, jährlich Freunde nach Brüssel einladen und dafür ein gutes Gehalt nehmen kann der Traum eines Politikers sein, dem Land nützt es aber nichts." Europawahlen im Baltikum 2014 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Europawahlen im Baltikum 2019 (Prognose) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Große Sorge vor russischem Einfluss in Lettland In Lettland haben die russischstämmigen Wähler, anders als in Estland, gleich zwei Parteien, die ihre Interessen repräsentieren. Dabei ist Harmonie (Saskaņa) die stärkere und Lettlands Russische Union (Latvijas krievu savienība) eher klein. Je nach Meinungsforschungsinstitut steht Harmonie an erster oder zweiter Stelle bei den Umfragen zur Europawahl. Dies zeigt einen viel größeren Einfluss der russischstämmigen Bevölkerung in Lettland, als dies in Estland der Fall ist. Dementsprechend groß ist in Lettland auch die Sorge vor Wahlbeeinflussung aus Moskau. Die russische Minderheit konsumiert überwiegend russischsprachige Zeitungen aus Lettland und Russland, russisches Radio und russisches Fernsehen. Der Leiter des Osteuropäischen Instituts, Andis Kudors, schreibt auf seiner Facebookseite: "Seit vielen Jahren greifen uns die Kremlsoldaten im Informationskrieg aktiv an. Sie lügen und polarisieren die Gesellschaft. Sie verbreiten russische Propaganda und falsche Nachrichten, beeinflussen so den politischen Prozess in Lettland und schwächen die nationale Sicherheit. Leider haben die für den Medienraum verantwortlichen Institutionen wenig Gegenmaßnamen durchgeführt.” Harmonie wird ausgegrenzt Lettische Parteien tun recht wenig, um an der schwierigen Beziehung zwischen Letten und Russen etwas zu ändern und beide Seiten einander anzunähern. So stehen zwar zwei bis drei russische Namen auch auf den Listen der überwiegend von Letten gewählten Parteien und umgekehrt. Doch eine wirklich Ansprache der "anderen" Volksgruppe gibt es nicht. So analysiert etwa der Politologe Filips Rajevskis beim Fernsehsender Arte: "Die Harmoniepartei hat immer wieder versucht, sich von einer prorussischen Partei zu einer sozialdemokratischen Partei zu wandeln. Aber das gelingt ihr nicht. Sie geht jedes Mal als linke Partei in den Wahlkampf und landet doch wieder bei einer Wahlkampagne für die russischstämmige Bevölkerung.” Auf der anderen Seite schließen die großen lettischen Parteien eine Zusammenarbeit mit Harmonie stets kategorisch aus. Dies kritisiert der Journalist Māris Krautmanis in der Tagezeitung Externer Link: Neatkarīgā: "Wir können die Wähler von Harmonie nicht ignorieren oder sie von vornherein zu Agenten des Kremls erklären. Im Gegenteil: Es wäre notwendig, diese Menschen nicht Putin zu überlassen, sondern sie in demokratische Prozesse einzubeziehen." Bündnis aus polnischer und russischer Minderheit in Litauen In Litauen ergibt sich ein anderes Bild als in den beiden anderen baltischen Staaten. Der Anteil der russischstämmigen Bevölkerung ist hier weitaus geringer. Darüber hinaus haben die Russen in Litauen mit der größten Minderheit der Polen einen Verbündeten in Sachen Repräsentation. Eine der beiden russischen Parteien in Litauen, die Russische Allianz (Politinė partija "Rusų aljansas"), tritt seit einigen Jahren gemeinsam mit der Wahlaktion der Polen in Litauen (Lietuvos lenkų rinkimų akcija) an. Auch bei der Europawahl ist dies der Fall, wo das Bündnis seinen Sitz voraussichtlich verteidigen kann. Die zweite russische Partei, die Union litauischer Russen (Lietuvos rusų sąjunga), ist hingegen eher unbedeutend. Das Thema russische Wahlbeeinflussung wird auch in Litauen regelmäßig diskutiert. Allerdings spielt diese Debatte ausgerechnet jetzt vor den bevorstehenden Europa- und Präsidentschaftswahlen kaum eine Rolle, was den Politikkommentator Marius Laurinavičius sich auf dem Externer Link: Online-Portal 15min empört: "Man bekommt den Eindruck, dass in Litauen die Bedrohung durch die Einmischung des Kremls gar nicht mehr wichtig ist. Stand das Thema zu Beginn des Wahlkampfs wenigstens noch ein bisschen im Fokus, ist es derzeit so gut wie vergessen. Es wird weder von der möglichen Einmischung gesprochen, noch über Litauens Bemühungen, diese einzudämmen, so wie es Frankreich, Deutschland, Schweden und andere tun." Europawahlen im Baltikum 2014 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Europawahlen im Baltikum 2019 (Prognose) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Auksė Bruverienė
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-05-22T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/et-wahlmonitor-2019/291683/beeinflusst-der-kreml-die-russischen-waehler-im-baltikum/
Die russische Minderheit im Baltikum wählt anders, als die Mehrheit der Esten, Letten und Litauer. Da sie überwiegend Medien aus Russland konsumieren, besteht die Furcht vor Einflussnahme aus Moskau. Doch ausgerechnet vor den Europawahlen vermissen M
[ "eurotopics Wahlmonitor", "Baltikum" ]
30,209
Vereinte Nationen | Deutsche Demokratie | bpb.de
Die Vereinten Nationen (United Nations Organization – UNO) sind 1945 gegründet worden. Gründungsmitglieder waren 51 Staaten, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befunden hatten. 2009 gehörten den Vereinten Nationen 192 Staaten an, das sind fast alle Staaten der Welt, mit Ausnahme beispielsweise Taiwans und der Vatikanstadt. Charta der Vereinten NationenPräambel Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman nach der Unterzeichnung der Gründungscharta der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 in San Francisco. (© AP) Ziel der Vereinten Nationen ist die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit auf der Grundlage der Menschenrechte durch freundschaftliche Zusammenarbeit aller Mitglieder, durch friedliche Schlichtung aller Streitigkeiten, durch Verzicht auf Gewaltanwendung und durch Unterstützung von Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens. Die Vereinten Nationen haben sich verpflichtet, das Prinzip der nationalen Souveränität zu wahren und nicht in Angelegenheiten einzugreifen, die "zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören". Die Grundsätze, die ihre Tätigkeit bestimmen, sind in der UN-Charta vom 26. Juni 1945 sowie in den beiden Menschenrechtspakten "über bürgerliche und politische Rechte" und "über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" festgelegt, die 1966 verabschiedet worden sind. Organe Die Generalversammlung, das zentrale politische Beratungsorgan der Vereinten Nationen, besteht aus den Vertretern aller Mitgliedsstaaten mit je einer Stimme. Sie kann nur Empfehlungen aussprechen. Das System der Vereinten Nationen. (© Quelle: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage.) Das bedeutendste Organ ist der Sicherheitsrat. Er kann für alle Mitglieder verbindliche Beschlüsse fassen, zum Beispiel Sanktionen verhängen oder UN-Friedenstruppen ("Blauhelme") entsenden. Der Sicherheitsrat hat fünf ständige Mitglieder (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Volksrepublik China) und zehn von der Generalversammlung für zwei Jahre gewählte nicht ständige Mitglieder. Beschlüsse bedürfen der Zustimmung von mindestens neun Mitgliedern, darunter die aller ständigen Mitglieder. Jedes ständige Mitglied kann also durch einen Einspruch (Veto) das Zustandekommen eines Beschlusses allein verhindern. Ausführendes Organ ist das Sekretariat mit dem Generalsekretär an der Spitze. Sitz der Vereinten Nationen ist New York. Generalsekretäre der Vereinten Nationen. (© Quelle: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage.) Der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) ist ein Hilfsorgan der Generalversammlung, zuständig für "internationale Angelegenheiten auf den Gebieten der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Kultur, der Erziehung, der Gesundheit". Er kann dazu Untersuchungen durchführen, Konferenzen einberufen, Abkommen entwerfen und "Empfehlungen abgeben, um die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle zu fördern" (Art. 62 UN-Charta). Die Sonderorganisationen der UNO sind Fachorgane auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen, die zum Teil schon vor Gründung der Vereinten Nationen entstanden waren (wie der Weltpostverein oder die Internationale Arbeitsorganisation). Die Sonderorganisationen verfügen über einen eigenen Haushalt, der durch Zahlungen der Mitgliedsstaaten finanziert wird. Deutschland in den Vereinten Nationen Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR traten 1973 den Vereinten Nationen bei. Mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit entfiel die Mitgliedschaft der DDR. Die Bundesrepublik war nach ihrem Beitritt vollgültiges Mitglied der Vereinten Nationen mit allen Rechten und Pflichten. Sie beteiligte sich jedoch mit Rücksicht auf die Teilung Deutschlands und die eingeschränkte Souveränität nicht an "friedenserhaltenden Maßnahmen" der UN, das heißt an Einsätzen von UN-Friedenstruppen ("Blauhelmen"). Vom wiedervereinigten Deutschland erwartet die internationale Staatengemeinschaft auch auf diesem Felde einen angemessenen Beitrag. Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman nach der Unterzeichnung der Gründungscharta der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 in San Francisco. (© AP) Das System der Vereinten Nationen. (© Quelle: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage.) Generalsekretäre der Vereinten Nationen. (© Quelle: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage.) Der Einsatz von deutschen Streitkräften außerhalb des NATO-Bereichs war umstritten. Der Streit ging darum, ob hierzu die Verfassung geändert werden müsse, ob zumindest die Zustimmung des Bundestages erforderlich sei oder ob die Bundesregierung dies allein entscheiden könne. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 entschieden, dass grundsätzlich vorher ein Beschluss des Bundestages erfolgen müsse. Die Regierung könne "bei Gefahr im Verzuge" die Entsendung von Streitkräften anordnen, müsse aber umgehend den Bundestag mit der Angelegenheit befassen. Wenn der Bundestag nicht zustimme, seien die Streitkräfte zurückzurufen. Kritik an den Vereinten Nationen Kritik richtet sich vor allem gegen die Zusammensetzung des Sicherheitsrates. Ständige Mitglieder sind die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Nähme man die Einwohnerzahl als Kriterium für ständige Mitgliedschaft, so haben etwa ein Dutzend Länder mehr Einwohner als Großbritannien und Frankreich, darunter Indien, Brasilien, Japan und Deutschland. Die fünf ständigen Mitglieder tragen seit 2002 37 Prozent zum regulären Haushalt der Vereinten Nationen bei. Auf Japan entfallen 20, auf Deutschland 10 Prozent. Eine Erweiterung des Sicherheitsrates würde natürlich zu einer Machteinbuße der bisher bevorzugten Mitglieder führen. Sie sind daher keineswegs gewillt, dem zuzustimmen. Kritik entzündet sich auch an den Privilegien der ständigen Mitglieder, von denen sie reichlich Gebrauch machen. So nutzen vor allem die USA und die frühere Sowjetunion, jetzt Russland, ihr Vetorecht, um Beschlüsse, die sich gegen ihre Interessen oder die Interessen befreundeter Staaten richten, zu verhindern. Um den Sicherheitsrat an die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen, befürworten und fordern die Mehrheit der Staaten – so auch Deutschland – eine Erweiterung des Rates um ständige und nichtständige Sitze. Denn sowohl wesentliche Regionen, wie Afrika, Asien und Lateinamerika, als auch Staaten wie Japan und Deutschland, die erhebliche Beiträge für die Vereinten Nationen leisten, sind nicht angemessen vertreten. Bisher vorgelegte Reformkonzepte scheiterten an der grundsätzlichen Uneinigkeit unter den Staaten über die Größe und Zusammensetzung des Sicherheitsrates. Auch Deutschland bemüht sich um einen ständigen Sitz im Rat. Eine so große Organisation wie die UN läuft Gefahr, schwerfällig zu werden. So zielten 1997 eingeleitete Reformen vor allem auf ein effizienteres Management und Einsparungen bei Personal und Verwaltungskosten zugunsten von Entwicklungsprogrammen ab. 2005 legte der Generalsekretär Kofi Annan erneut Reformpläne vor, die neben der Erweiterung des Sicherheitsrates auf 25 Mitglieder die Ersetzung der Genfer Menschrechtskommission durch einen neuen Menschenrechtsrat mit erweiterten Befugnissen (verwirklicht) sowie eine Erweiterung der Befugnisse des Generalsekretärs in Personal- und Haushaltsfragen und eine Straffung der UN-Verwaltung vorsahen. 2006 lehnten die Gruppen der Entwicklungs- und Schwellenländer diesen Plan mit 108 gegen 50 Stimmen (der USA, der EU-Länder und Japans) ab, da sie von der Zentralisierung der Organisation einen Verlust ihres Einflusses befürchteten. Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 166-169.
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Horst Pötzsch
"2022-01-28T00:00:00"
"2011-11-06T00:00:00"
"2022-01-28T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/deutsche-demokratie/39409/vereinte-nationen/
Die Vereinten Nationen haben sich die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit auf Grundlage der Menschenrechte zum Ziel gesetzt. Kritik richtet sich vor allem gegen die Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates.
[ "Deutschland", "Demokratie", "Vereinte Nationen", "UN-Sicherheitsrat", "UN-Friedenstruppen" ]
30,210
Die postmigrantische Gesellschaft | Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft | bpb.de
Das Einwanderungsland Deutschland befindet sich in einem Prozess, in welchem Zugehörigkeiten, nationale (kollektive) Identitäten, Partizipation und Chancengerechtigkeit postmigrantisch, also nachdem die Migration erfolgt und nun von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist, nachverhandelt und neu justiert werden. Das Präfix "post" steht dabei nicht für das Ende der Migration, sondern beschreibt gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die in der Phase nach der Migration erfolgen. Als postmigrantisch können jene Gesellschaften bezeichnet werden, in denen: (a) der gesellschaftliche Wandel in eine heterogene Grundstruktur politisch anerkannt worden ist ("Deutschland ist ein Einwanderungsland") – ungeachtet der Tatsache, ob diese Transformation positiv oder negativ bewertet wird, (b) Einwanderung und Auswanderung als Phänomene erkannt werden, die das Land massiv prägen und die diskutiert, reguliert und ausgehandelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können, (c) Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat. Migration ist zum Alltag einer deutschen Gesellschaft geworden, in der jeder dritte Bürger Migrationsgeschichten als familialen Bezugspunkt angibt. Vor allem die deutschen Großstädte sind immer heterogener geworden, was sich in Schulen, Kindertagesstätten oder im Stadtbild widerspiegelt. Städte wie Frankfurt am Main haben bereits einen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund unter sechs Jahren von 75,6 Prozent, Augsburg 61,5 Prozent, München 58,4 Prozent und Stuttgart 56,7 Prozent (vgl. Abb. 1). Vor diesem Hintergrund wandeln sich die nationalen Identitätsbezüge. Immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn ihre Vorfahren nicht immer in Deutschland gelebt haben. Abbildung 1: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund unter sechs Jahren in ausgewählten Städten 2011 (© bpb) Nennen wir sie doch einfach "Neue Deutsche", forderten drei Journalistinnen im Jahr 2012. Derartige Bemühungen um neue Bezeichnungspraxen sind im öffentlichen Bewusstsein jedoch kaum präsent. "Ausländer", "Migranten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" sind weiterhin die gängigsten Bezeichnungen für all jene, die aufgrund ihres Aussehens oder ihres anders klingenden Namens als nicht-deutsch wahrgenommen werden, unabhängig davon, wie lange sie schon in diesem Land leben oder ob sie überhaupt jemals nach Deutschland migriert sind. Die empirische Realität ist also noch nicht in eine narrative Neudeutung übergegangen, in welcher das Deutsche selbstverständlich als heterogen und plural wahrgenommen wird. Allerdings nehmen Eingewanderte und ihre Nachkommen zunehmend für sich in Anspruch, das kollektive Narrativ mitzuprägen. Dementsprechend lautete eine Forderung des ersten Bundekongresses Neuer Deutscher Organisationen Anfang Februar 2015 in Berlin: "Wir sind deutsch und wollen mitentscheiden." Menschen aus Einwandererfamilien partizipieren als Politiker, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene an Gesetzgebungsprozessen, beeinflussen als Journalisten die öffentliche Meinung und lassen sich zu Lehrern ausbilden. In allen Fällen bestehen jedoch weiterhin Repräsentationslücken. Obwohl 20 Prozent der Bevölkerung Deutschlands zu den "Neuen Deutschen" zählen, im Sinne der Definition des Statistischen Bundesamtes also einen Migrationshintergrund aufweisen, haben: gerade einmal zehn Prozent der im öffentlichen Dienst Beschäftigten eine Migrationsgeschichte,geschätzte zwei Prozent der Journalisten,etwa vier Prozent der Räte deutscher Städteund neun Prozent der Beschäftigten in Führungspositionen deutscher Stiftungen (in den 30 größten Stiftungen nur drei Prozent). Obwohl ein Drittel der Kinder zwischen fünf und 15 Jahren aus Einwandererfamilien stammen, haben nur ca. sechs Prozent der Lehrer einen Migrationshintergrund. 37 von 631 Parlamentariern haben nach der Bundestagswahl 2013 eine Migrationsgeschichte, womit der Anteil der Bürgervertreter mit Migrationshintergrund bei weniger als sechs Prozent liegt. Ergebnissen einer OECD-Umfrage zufolge liegt die Beschäftigungsquote bei Migranten mit Universitätsabschluss mehr als zwölf Prozent unter derjenigen von Nicht-Migranten mit Universitätsabschluss. Diese Repräsentationslücken sollten in einer postmigrantischen Gesellschaft behoben werden. Nötig dazu ist auch ein ausgeweiteter Integrationsbegriff, welcher die Repräsentationslücken als Integrationsdefizit der Gesellschaft benennt, an deren Behebung nun gemeinsam gearbeitet werden sollte, wofür strukturelle Veränderungen und Öffnungen notwendig werden. Postmigrantische Gesellschaften sind Aushandlungsgesellschaften. Die etablierten kulturellen, ethnischen, religiösen und nationalen Eliten müssten lernen, dass Positionen, Zugänge, Ressourcen und Normen neu ausgehandelt werden. Alle Seiten sollten sich diesem Aushandlungsprozess öffnen – das heißt auch für die "Etablierten", dass sie sich an diese Aushandlungsgesellschaft gewöhnen und sich in diese postmigrantische Struktur integrieren müssten. Der etablierte Integrationsbegriff Seit den 1970er Jahren wurde Integration in der Migrationsforschung vornehmlich als etwas verstanden, das "Ausländer", "Migranten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" und deren Einbindung in die deutsche Gesellschaft betrifft. Auch damit verbundene Begriffe wie Integrationsverweigerung, Integrationsfortschritte oder Integrationswille sind vor allem an die Vorstellung gekoppelt, es gäbe eine etablierte Kerngesellschaft oder Aufnahmegesellschaft, die Menschen mit Migrationsbiographie einseitig motiviert, sich in sie zu integrieren. Der Verlauf wurde dabei vor allem als einseitige Bewegung verstanden. Diesem Paradigma entsprechend setzt integrationspolitisches Handeln ein defizitäres Anderes voraus, auf welches sich die Integrationspolitik konzentriert. Dagegen fehlen in dieser Vorstellung die Integrationsanpassungen oder -leistungen, die von der Dominanzgesellschaft erbracht werden müssten, einschließlich struktureller und institutioneller Öffnungen. Entsprechend werden als besonderes Hindernis für die Integration nicht die etablierten Barrieren und Schließungsprozesse von gesellschaftlicher Seite thematisiert, sondern bestimmte religiöse oder kulturelle Andersartigkeiten. So wird fehlende Integration zu einem persönlichen und/oder kulturellen Problem der Migranten umdefiniert, statt strukturelle Barrieren zu berücksichtigen. Gleichzeitig – und das zeigen beispielsweise auch die Proteste der PEGIDA – gibt es auch Gruppen in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, die sich in der neuen, durch Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft nicht zurecht finden, desintegriert wirken und damit ebenfalls von der Integrationspolitik angesprochen werden sollten. Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft". Abbildung 1: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund unter sechs Jahren in ausgewählten Städten 2011 (© bpb) Die Berliner Theater-Intendantin Shermin Langhoff hat den Begriff geprägt, indem sie ihrem Theater Ballhaus Naunynstraße den Namen "Postmigrantisches Theater" gab. Sie hat den Begriff immer wieder subversiv neu gesetzt und damit auf die Öffnungs- und Schließungsprozesse in der deutschen Gesellschaft hingewiesen. Zu Langhoffs Begriff vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (2011). Foroutan et al. (2014). Bota/ Pham/ Topçu (2012). Externer Link: www.neuemedienmacher.de/projekte/bundeskongress-ndo (Zugriff: 17.2.2015). Externer Link: www.berliner-zeitung.de/politik/initiativen-schliessen-sich-zusammen-kinder-von-migranten-wollen-mehr-mitsprache,10808018,29794900.html (Zugriff: 17.2.2015). OECD (2012). Kotte (2009). Schönwälder/ Sinanoglu/ Volkert (2011). Migazin (2014). Georgi/ Ackermann/ Karakaş (2011), S. 6. Mediendienst Integration (2013). OECD (2012). Vgl. Kymlicka (1999). Vgl. Brubaker (2001). Sozialstrukturelle Barrieren und Schließungsprozesse finden sich dort, wo Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe der Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Bereichen verwehrt wird, z.B. der Zugang zu Bildung oder bestimmten beruflichen Positionen. Dadurch wird beispielsweise die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs im Sinne der Einnahme besserer sozio-ökonomischer Positionen verhindert. Für detaillierte Informationen zu gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen siehe: Interner Link: www.bpb.de/apuz/130408/gesellschaftliche-ausschlussmechanismen-und-wege-zur-inklusion?p=all (Zugriff: 17.2.2015). Vgl. Böcker/ Goel/ Heft (2010).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-19T00:00:00"
"2015-04-20T00:00:00"
"2021-11-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft/
Deutschland ist nicht nur empirisch, sondern auch narrativ zu einem Einwanderungsland geworden. Die Gesellschaft kann als "postmigrantisch" beschrieben werden. Was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung?
[ "postmigrantische Gesellschaft", "Einwanderungsland", "nationale Identität" ]
30,211
Termin-Rückblick 2021 | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Zu den Termindetails der vergangenen Terminen gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken. Januar Interner Link: Web-Talk: Gemeinsam gegen Extremismus: Herausforderungen für Innen- und Außenpolitik13. Januar 2021, online GIZ-Repräsentanz Berlin Interner Link: Online-Vortrag: Deradikalisierung und Seelsorge im Strafvollzug21. Januar 2021, online Hochschule Esslingen, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Interner Link: Fortbildung: CleaRTeaching – Umgang mit neosalafistischen und rechtsextremen Haltungen im schulischen Kontext27. Januar bis 2. Juni 2021, Hamburg Bundeszentrale für politische Bildung, Aktion Gemeinwesen und Beratung Interner Link: Online-Vortrag: Demokratische Bildung in der Schule28. Januar 2021, online Hochschule Esslingen, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Februar Interner Link: Online-Vortrag: Radicalisation Hubs in the EU17. Februar 2021, online Radicalisation Awareness Network Interner Link: Online-Fachvortrag: Antimuslimischer Rassismus17. Februar 2021, online BAG RelEx Interner Link: Online Fachtag: Was ist neu und was rechts am antimuslimischen Rassismus?23. Februar 2021, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW Interner Link: Webtalk-Reihe: Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?23. Februar 2021 bis 8. Juni 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Talk: Das andere Geschlecht – Täter*innen- und Opfer-Konstruktionen im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus25. Februar 2021, online KN:IX Interner Link: Online-Fachtagung: Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung26. Februar 2021, online MAPEX-Forschungsverbund März Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media3. März 2021, online Streetwork Online Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus10. März 2021, online Streetwork Online Interner Link: Webtalk: Sind wir Charlie? Wie Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus die Wahrnehmung islamistischer Gewalt beeinflussen11. März 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Workshop: "Walking the line" – Chancen, Grenzen und Verantwortung in der Radikalisierungs- und Extremismusforschung12. März 2021, online CoRE-NRW Interner Link: Online-Fachgespräch: Kopf auf, richtiger Islam rein, Kopf zu? Islamische Vereine und Verbände in der Präventionsarbeit15. März 2021, online Akademie der Diözese Rottenburg Stuttgart, Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. Interner Link: Online-Fachgespräch: Ausstieg aus dem Extremismus16. März 2021, online Evangelisches Bildungszentrum Hospitalhof Stuttgart, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft Interner Link: Webtalk: Wie lässt sich ein "inklusives Wir" in der Schule stärken?16. März 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse17. März 2020, online Streetwork Online Interner Link: Online-Seminar: Hate Speech von rechtspopulistischen und islamistischen Akteur*innen18. März 2020, online Wegweiser-Beratungsstellen & Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention24. März 2020, online Streetwork Online Interner Link: Online-Vortrag: #hass – Fake News, Filterblasen und islamistische Online-Propaganda24. März 2021, online Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Interner Link: Webtalk: "Du sollst dir (k)ein Bild machen!” Zum Umgang mit Bilderverbot und Satire im Unterricht25. März 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Webtalk: Kontroversität und Meinungsfreiheit im Unterricht 30. März 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Fachgespräch: Legalistischer Islamismus30. März 2021, online BAG RelEx Interner Link: Online-Vortrag: Islamismus und Salafismus 2021 – Neue Trends und die Lage in Schleswig-Holstein31. März 2021, online Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. April Interner Link: Webtalk: Über Anschläge, Extremismus und Islamfeindlichkeit im Unterricht sprechen – Anregungen und Materialien8. April 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Fachtag: SCHNITT:STELLEN – Erkenntnisse aus Forschung und Beratungspraxis im Phänomenbereich islamistischer Extremismus13. April, online BAG RelEx, FoPraTEx Interner Link: Online-Seminar: Eine Differenzierung von Religion und religiös begründeter Radikalisierung14. April, online Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Präsentation: Broschüre "Misch mit! Erfahrungen und Konzepte des demokratiepädagogischen Unterrichts von Kick-off"14. April, online Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Interner Link: Online-Ringvorlesung: Religion und BildungAb 19. April 2021, online Universität Bremen, Institut für Religionswissenschaft und -pädagogik Interner Link: Online-Fortbildung: Identitätssplitter Religion. Schule in der Migrationsgesellschaft19. und 26. April, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Webtalk: Religiöse Emotionen, säkulare Emotionen – oder: Wer wird hier eigentlich verletzt?20. April 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Seminar: Islam, "Islamismus" und Islamfeindlichkeit - Phänomene und Reaktionsmöglichkeiten22. April 2021, online Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Seminar: Radikalisierungsprävention – Handlungskonzepte für die Praxis27. April 2021, online Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Fachgespräch: Politische Bildung – vernachlässigt, unterschätzt, doch demokratierelevant?27. April 2021, online Evangelische Akademie Thüringen Interner Link: Webtalk: Gewaltdarstellungen des "IS" – Hintergrund, Wirkung und Anregungen zur pädagogischen Nutzung von künstlerischen Aneignungen27. April 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Vortrag: Rechts, Links, Islamistisch – Alles gleich? Die Extremismustheorie in der Präventionsarbeit28. April 2021, online Evangelische Akademie Frankfurt Interner Link: Online-Vortrag: CoRE-NRW Projektvorstellung29. April 2021, online CoRE-NRW Mai Interner Link: Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen4.-5. Mai 2021, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Interner Link: Webtalk: Wer muss wann was tun? – Schulrechtliche Regelungen im Umgang mit gewaltbefürwortenden und extremistischen Aussagen und Verhaltensweisen6. Mai 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Kongress: 26. Deutscher Präventionstag10. und 11. Mai 2021, online Deutscher Präventionstag Interner Link: Webtalk: Welche Informationen brauchen Schulöffentlichkeit und Medien? Herausforderungen der Kommunikation über Radikalisierungen im Kontext Schule18. Mai 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Informationsveranstaltung: CleaRTeaching - Eine Weiterbildung zum Umgang mit Radikalisierungsprozessen im schulischen Kontext20. Mai, online Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V., Bundeszentrale für politische Bildung Juni Interner Link: Online Seminar: The New EU Digital Services Act (DSA) – Will Social Media Users Be Safer in the Future?1. Juni, online Counter Extremism Project, Das NETTZ Interner Link: Online-Fachtag: Islamismusprävention – im Osten was Neues? Perspektiven für die Präventionsarbeit in den Neuen Bundesländern 2. Juni, online ufuq.de, Multikulturelles Zentrum Dessau, Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration Sachsen-Anhalt Interner Link: Online-Vortrag: Antisemitismus im legalistischen Islamismus2. Juni, online Amadeu Antonio Stiftung Interner Link: Online-Fachtagung: Familie extrem – Zugänge schaffen und Kinder stärken7. und 8. Juni, online Fachstelle Liberi, PROvention, beRATen e. V. Niedersachsen Interner Link: Webtalk: Was können Museen als Kulturinstitutionen zu Prävention beitragen?8. Juni 2021, online Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst, ufuq.de Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media9. Juni 2021, online streetwork@online Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus10. Juni 2021, online streetwork@online Interner Link: Online-Fortbildung: Identitätssplitter Religion. Schule in der Migrationsgesellschaft14.,15. und 28. Juni 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse im islamistischen Kontext16. Juni 2021, online streetwork@online Interner Link: Online-Diskussion: Gender und der Ausstieg aus islamistischem Extremismus17. Juni 2021, online Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Interner Link: Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention und Grundlagen der Praxis17. Juni 2021, online streetwork@online Interner Link: Fortbildungsreihe: Kinder in islamistisch geprägten Familien – GrundmodulAb 22. Juni 2021, Berlin, Bochum, Hannover & Mainz Fachstelle Liberi – Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien; Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Interner Link: (Online-)Fachtag: Dimensionen des antimuslimischen Rassismus: Wirkungsweisen verstehen – Handlungsmöglichkeiten aufzeigen23. Juni 2021, Bremen Demokratiezentrum Bremen Interner Link: Online-Fortbildung: Lebenswelten Jugendlicher zwischen Islam und Islamismus24./25. Juni 2021, online Mosaik Deutschland e. V. Interner Link: Online-Fachtag: Verschwörungsideologien und ihre Folgen für Kindeswohl30. Juni 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen30. Juni/1. Juli 2021, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Juli Interner Link: Online-Fachtagung: Heterogenität im Kontext von Prävention, Sozialer Arbeit, Bildung und Gender1. und 2. Juli 2021, online BAG RelEx Interner Link: Online-Fachgespräch: Städtischer Raum und Radikalisierung8. Juli 2021, online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus Interner Link: Online-Fachgespräch: Mediale (Selbst-)Inszenierung in extremistischer Propaganda8. Juli 2021, online Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. Interner Link: Online-Fachtag: Die Rolle der Medien bei Radikalisierung und Prävention9. Juli 2021, online Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. August Interner Link: Online-Seminar: Online-Radikalisierungsprozesse und Prävention6. und 7. August 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online Summer Programme: Preventing, Detecting and Responding to Violent Extremism16.-18. August 2021, online Centre for Professional Learning of Leiden University; International Centre for Counter-Terrorism – The Hague (ICCT) Interner Link: Online-Veranstaltung: Zwischen Hölle und Paradies – Kind sein in radikalisierten Lebenswelten17. August 2021, online TRIAS Berlin Interner Link: Online-Seminar: Mehr Prävention kann nie schaden!?27.-28. August 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Es hat Klick gemacht – Islamistische Akteur:innen und Propaganda auf Instagram31. August 2021, online Violence Prevention Network September Interner Link: Online-Veranstaltung: "Wir hören und wir gehorchen." – Über Spiritualität und religiöse Dogmen im Salafismus7. September 2021, online TRIAS Berlin Interner Link: Weiterbildung: Multiplikator:in in Jugend(sozial)arbeit und Erwachsenenbildung im Bereich Verschwörungserzählungen9. September 2021 bis 7. Mai 2022, Berlin sowie online Veranstalter: cultures interactive e. V. Interner Link: Online-Podiumsdiskussion: 20 Jahre 9/119. September 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Fortbildung: Train-the-Trainer 202113.-15. September 2021, online ufuq.de/KN:IX Interner Link: Online-Fortbildung: Train-the-Trainer 2021 für Fachkräfte aus Berlin13. und 14., 27. und 28. September 2021, online ufuq.de Fachstelle in Berlin Interner Link: Workshop: Framing und Radikalisierungsprävention. Wie Sprache unser Denken und Handeln beeinflussen kann15. September 2021, Berlin Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Seminar: Wie spreche ich über Islamismus, ohne antimuslimische Ressentiments zu bedienen?15. September 2021, online Evangelische Akademie Frankfurt Interner Link: Online-Seminar: Demokratiegefährdung durch religiösen Fanatismus. Was zieht (junge) Menschen in den religiös begründeten Extremismus?16. September 2021, online Bildungsreihe Fight for Democracy, Falken Bildungs- und Freizeitwerk (FBF) Bergisch Land e. V. Interner Link: Fortbildungsreihe: Kinder in islamistisch geprägten Familien – Aufbaumodul21. September 2021, Berlin Fachstelle Liberi – Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien; Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Interner Link: Workshop: Beratung in der Radikalisierungsprävention. Wie sich pädagogische Gespräche förderlich gestalten lassen22. September 2021, Berlin Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Fortbildung: Train-the-Trainer 2021 für Fachkräfte aus Bayern24. und 25. September 2021, online ufuq.de Fachstelle in Bayern Interner Link: Online-Seminar: 20 Jahre 9/11. Einfluss von Terrorismus- und Sicherheitsdiskursen auf Heranwachsende24. und 25. September 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Gender und Online-Radikalisierung – Frauen als extreme Akteurinnen auf Social Media24. September 2021, online Violence Prevention Network Interner Link: Fortbildungsreihe: Kinder in islamistisch geprägten Familien – Aufbaumodul28. September 2021, Mainz Fachstelle Liberi – Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien; Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Interner Link: Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen28.-29. September 2021, online Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. Oktober Interner Link: Fachtagung: Von Empowerment und Abwertung, Emanzipation und Kommerz4. und 5. Oktober 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Workshop: Kein Zugang!? Wie kann Vermittlung von jungen Menschen in radikalisierungspräventive Programme gelingen?6. Oktober 2021, online Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention Interner Link: Online-Fortbildung: Train-the-Trainer für Fachkräfte aus Psychologie, Therapie und Pädagogik21. und 22., 28. und 29. Oktober, 4. November 2021, online Violence Prevention Network Interner Link: Seminar: Ausprägungen des türkischen Ultranationalismus als Herausforderung für die (politische) Jugendbildung22. und 23. Oktober 2021, Georgsmarienhütte Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Veranstaltung: "Bruder, sei ein Löwe!" – Über Gender-Konstruktionen in der salafistischen Szene26. Oktober 2021, online TRIAS Berlin Interner Link: Online-Fortbildung: Identitätsfacette Religion. Islam und Schule in der Migrationsgesellschaft26. Oktober 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Seminar: Die Corona-Pandemie in Wahrnehmung und Strategien demokratiefeindlicher Gruppierungen29. und 30. Oktober 2021, Bad Nauheim Bundeszentrale für politische Bildung November Interner Link: Online-Weiterbildung: CleaRTeaching – Eine Weiterbildung zum Umgang mit Radikalisierungsprozessen im schulischen Kontext3. November 2021 bis 20. Mai 2022, online oder Bremen Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V., Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Fachaustausch: Macht von Sprache im Kontext der Präventionsarbeit3. und 4. November 2021, online Deutscher Volkshochschul-Verband Interner Link: Online-Fachaustausch: Internationale Trends in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus4. November 2021, online Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Interner Link: Online-Fachtagung: Evaluation von Programmen der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention4. November 2021, online Deutsches Jugendinstitut Interner Link: Online-Seminar: Legalistischer oder gewaltablehnender Islamismus als Herausforderung für die Prävention5. und 6. November 2021, online Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Fachgespräch: Call of Prev. Digitale Spielkultur und phänomenübergreifende Präventionsarbeit9. November 2021, online Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX), cultures interactive e. V. Interner Link: Fachaustausch: Sprechen über Anschläge und Hasstaten im pädagogischen Raum9. November 2021, Dortmund Multikulturelles Forum e. V. Interner Link: Online-Fachtag: Auswirkungen des Sicherheitsdiskurses auf die Präventionsarbeit von religiös begründetem Extremismus10. und 11. November 2021, online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus Interner Link: Online-Fachkonferenz: "Let‘s play: Jihad and Reconquista" –Gamification als Strategie des politischen Extremismus10. und 11. November 2021, online Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (KORA) des Demokratie-Zentrums Sachsen Interner Link: Weiterbildung: Vermittlung von juristischen Grundkenntnissen im Bereich Familienrecht11. November 2021, Berlin und 16. November 2021, Hannover Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Interner Link: Weiterbildung: Arbeit mit psychosozial auffälligen jungen MenschenOktober 2021 bis März 2022, online und Berlin Denkzeit–Gesellschaft Interner Link: Fachtagung: Radikal, fundamentalistisch, anders – Fachkräfte im Kontakt16. November 2021, Fulda SOCLES, Deutsches Jugendinstitut, cultures interactive e. V. Interner Link: Online-Fachgespräch: Kamil 2.0. Ganzheitliche Präventionsarbeit gegen islamistische Ansprachen16. November 2021, online Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX), BIG e. V. Interner Link: Online Politik- und Pressegespräch: Umgang mit Rückkehrer:innen17. November 2021, online BAG RelEx Interner Link: Online-Informationsveranstaltung: Weiterbildung CleaRTeaching – Umgang mit Radikalisierungsprozessen im schulischen Kontext18. November 2021, online Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. Interner Link: Online-Fachgespräch: „Mehr als zwei Seiten“. Eine Schulreise von Neukölln nach Israel und in die palästinensischen Gebiete23. November 2021, online Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX) Interner Link: Online-Fachgespräch: Kindeswohl als extremismusübergreifende Herausforderung25. November 2021, online Fachstelle LiberiInterner Link: Online-Fakultätstag: Der Islam gehört zu Deutschland – und wie!?25. November 2021, online Hochschule EsslingenInterner Link: Online-Fachtag: PrEval – Evaluation von Präventionsmaßnahmen26. November 2021, online Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Interner Link: Fortbildung: Der Nahostkonflikt – (k)ein Problem für pädagogische Arbeit?26. November 2021, Berlin Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-StiftungInterner Link: Online-Fachkonferenz: Radikalisierungsprävention in NRW30. November 2021, online Bonn International Centre for Conflict Studie Dezember 2021 Interner Link: Online-Fachgespräch: Nachspielzeit. Fußball im Fokus politischer Bildung8. Dezember 2021, online Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX), Sozialberatung Stuttgart e. V., VfB-Fanprojekt Stuttgart e. V. Interner Link: Online-Fachgespräch: „Einmal brainwash und zurück“. Verschwörungsmythen erleben14. Dezember 2021, online Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX), Türkische Gemeinde Baden-Württemberg e. V. Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Januar 13. Januar 2021, online Web-Talk: Gemeinsam gegen Extremismus: Herausforderungen für Innen- und Außenpolitik Wo liegen die wesentlichen Ursachen für die zunehmende Radikalisierung weltweit? Wie können wir ihnen mit zivilen Mitteln und dem staatlichen Sicherheitsmonopol begegnen? Wie wirken sich internationale Konflikte auf die Radikalisierung in Deutschland aus? Welche Mittel hat die deutsche Bundesregierung zur Extremismusbekämpfung gewählt und welche Wege der Prävention beschritten? Wie kann eine erfolgreiche Präventionsarbeit in Deutschland auch Hilfe für die internationale Zusammenarbeit bereitstellen? Über diese Fragen diskutieren: Stephan Mayer, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Sibylle Katharina Sorg, Leiterin der Abteilung “Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und Humanitäre Hilfe” im Auswärtigen Amt Maral Jekta, “RISE - Jugendkulturelle Antworten auf islamischen Extremismus”, Ufuq e.V. Es gibt einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Peter Neumann, Leiter des “International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence” am King’s College London. Termin: 13. Januar 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der GIZ-Repräsentanz Berlin. 21. Januar 2021, online Online-Vortrag: Deradikalisierung und Seelsorge im Strafvollzug Wie sieht die Zukunft der Demokratie aus? Diese Frage wird in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft mit Blick auf extremistische und antidemokratische Haltungen, aber auch mit Blick auf erstarkende neue Bewegungen der jungen Generation kontrovers diskutiert. Die Hochschule Esslingen und die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg gehen mit ihrer Online-Ringvorlesung "Demokratie gestalten! Herausforderungen für zentrale Handlungsfelder demokratischer Bildung" dieser Frage und den zentralen Herausforderungen in verschiedenen Handlungsfeldern nach. Im Online-Vortag "Deradikalisierung und Seelsorge im Strafvollzug" diskutieren Cuma Ülger und Hakan Çelik, beide vom Violence Prevention Network Hessen, sowie der muslimische Seelsorger Husamuddin Meyer die pädagogische Arbeit mit religiös motivierten, gewaltbereiten und delinquenten Inhaftierten. Termin: 21. Januar 2021, 17:30-19:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; Die Vorträge sind digital zugänglich über das Videokonferenzsystem von Cisco WebEx, das die Hochschule Esslingen nutzt. Weitere Informationen auf den Seiten der Externer Link: lpb Baden-Württemberg 27. Januar bis 2. Juni 2021, Hamburg Fortbildung: CleaRTeaching – Umgang mit neosalafistischen und rechtsextremen Haltungen im schulischen Kontext Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. bietet eine Weiterbildung zum/zur Clearingbeauftragten an. Das Angebot richtet sich an Lehrkräfte und Sozialarbeitende an Schulen in Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die sich im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Jugendlichen fortbilden möchten. Die Weiterbildung ist gefördert und zertifiziert von der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie findet von Januar bis Juli 2021 statt. Termin: 27. Januar bis 2. Juni 2021 Ort: Hamburg Kosten: 450 Euro (inkl. Übernachtung und Vollpension) Anmeldung: bis zum 15. November per E-Mail an lisa.kiefer@die-agb.de Weitere Informationen auf den Seiten der bpb 28. Januar 2021, online Online-Vortrag: Demokratische Bildung in der Schule Wie sieht die Zukunft der Demokratie aus? Diese Frage wird in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft mit Blick auf extremistische und antidemoraktische Haltungen, aber auch mit Blick auf erstarkende neue Bewegungen der jungen Generation kontrovers diskutiert. Die Hochschule Esslingen und die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg gehen mit ihrer Online-Ringvorlesung "Demokratie gestalten! Herausforderungen für zentrale Handlungsfelder demokratischer Bildung" dieser Frage und den zentralen Herausforderungen in verschiedenen Handlungsfeldern nach. Im Online-Vortag "Demokratische Bildung in der Schule" diskutieren Sybille Hoffmann und Dejan Mihajlovic, beide vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung, Konzepte, Ansätze und normative Grundlagen in der Lehrkräftebildung. Termin: 28. Januar 2021, 17:30-19:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; Die Vorträge sind digital zugänglich über das Videokonferenzsystem von Cisco WebEx, das die Hochschule Esslingen nutzt. Weitere Informationen auf den Seiten der Externer Link: lpb Baden-Württemberg Februar 17. Februar, online Online-Vortrag: Radicalisation Hubs in the EU Im Online-Vortrag geht es um sogenannte "radicalisation hubs"; Orte, an denen eine vergleichsweise hohe Anzahl radikalisierter Individuen lebt. Ziel dieses Vortrags ist es, anhand der Ergebnisse des RAN-Abschlusspapiers "Die Rolle der Brutstätten der Radikalisierung" Fachwissen zu diesem Thema zu erarbeiten und zu verbreiten. Darüber hinaus werden islamistische und rechtsextremistische "radicalisation hubs" vorgestellt sowie Empfehlungen zu deren Verhinderung oder Bekämpfung diskutiert. Termin: 17. Februar, 16:00-17:45 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von RAN 17. Februar 2021, online Online-Fachvortrag: Antimuslimischer Rassismus In der Veranstaltung wird das Phänomen des antimuslimischen Rassismus sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Perspektive betrachtet. Dabei soll Antimuslimischer Rassismus unter anderem in Bezug auf die zivilgesellschaftliche Prävention von religiös begründetem Extremismus diskutiert werden. Saba-Nur Cheema (Bildungsstätte Anne Frank) wird in ihrem Kurzvortrag eine theoretische Ausführung und Herleitung zum Phänomen geben. Anschließend richtet Zakariyya Meißner (Yallah! Fach- und Präventionsstelle Islamismus und antimuslimischer Rassismus) den Blick auf die pädagogische Praxis. Termin: 17. Februar, 14:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; Die Zugangsdaten für das Fachgespräch werden vor der Veranstaltung zugeschickt Weitere Informationen auf den Seiten der Externer Link: BAG RelEx 23. Februar 2021, online Online Fachtag: Was ist neu und was rechts am antimuslimischen Rassismus? Der Fachtag mit Vorträgen und Workshops fragt nach dem Spezifischen und dem Neuen der aktuellen Entwicklungen im antimuslimischen Rassismus. Neben den Mechanismen von antimuslimischem Rassismus im Alltag soll thematisiert werden, inwiefern die Argumentationen der extremen Rechten und die der Mitte anschlussfähig sind. Außerdem wird ein Blick auf die Vielfalt muslimischer Lebenswelten und Identitäten in Deutschland gerichtet und Empowermentperspektiven für Betroffene werden betrachtet. Die Veranstaltung richtet sich an Praktikerinnen und Praktikern aus der Jugendbildungs-, -sozial- und -verbandsarbeit, dem Jugendschutz, der politischen Bildungsarbeit und der Schule. Termin: 23. Februar 2021, 10:00-15:00 Uhr Ort: online Kosten: 15 Euro Anmeldung: ab 18. Januar möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW. 23. Februar bis 8. Juni 2021, online Webtalk-Reihe: Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht? Die Webtalk-Reihe beleuchtet pädagogische und schulrechtliche Aspekte im Umgang mit islamistischen und rassistischen Gewalttaten im pädagogischen Raum. Dabei geht es insbesondere darum, erfolgversprechende Ansätze vorzustellen und Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Fachwissenschaftler/-innen zu schaffen. Die Reihe ist eine Kooperation des Infodienst Radikalisierungsprävention, der Bildungsstätte Anne Frank, des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, dem Museum für Islamische Kunst und ufuq.de. Der Beitrag von ufuq.de erfolgt im Rahmen des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus – KN:IX. Die Webtalk-Reihe umfasst 13 Beiträge. Der letzte Termin findet am 8. Juni statt. Termin: ab 23. Februar 2021, 16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich; die Anmeldelinks zu den einzelnen Webtalks können im unteren Bereich der Seite angewählt werden Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de. 25. Februar 2021, online Online-Talk: Das andere Geschlecht – Täter*innen- und Opfer-Konstruktionen im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus Das Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) veranstaltet einen Online-Talk zu diskriminierungskritischen und genderreflektierten Ansätzen in der Extremismusprävention. Dabei werden Erfahrungsberichte von Aussteiger/-innen diskutiert, in deren Biografie Genderfragen eine zentrale Rolle gespielt haben – unter anderem vor dem Hintergrund von Otheringprozessen und Gendernarrativen. Termin: 25. Februar 2021, 17:00 - 19:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: sophie.scheuble@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von KN:IX. 26. Februar 2021, online Online-Fachtagung: Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung Auf der Tagung werden die Ergebnisse des Forschungsprojekts MAPEX diskutiert – "Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung". Außerdem werden ein Sammelband und eine digitale Landkarte vorgestellt, die aus dem Projekt entstanden sind. Es soll zudem darüber diskutiert werden, welche Themen stärker in Forschung und Praxis bedacht werden müssen, um die Präventions- und Interventionslandschaft weiterzuentwickeln. Termin: 26. Februar 2021, Zeit wird noch bekanntgegeben Ort: online Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu genauer Zeit, Anmeldung und Programm folgen. März 3. März 2021, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im ersten von vier Modulen geht es um den "Sozialraum Social Media". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Nutzungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Was macht Social Media für Jugendliche und Extremist/-innen so interessant? Wie kommunizieren junge Menschen in den sozialen Netzwerken? Lebenswelt: Was passiert in virtuellen Communities? Termin: 3. März 2021, 15:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 10. März 2021, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im zweiten von vier Modulen geht es um den "Phänomenbereich Islamismus". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Begriffsklärung: Islam, Islamismus, (Neo)Salafismus und religiös begründeter Extremismus Basics und Facts zum Islam Muslimisches Leben in Deutschland Islamistische Strömungen in Deutschland und ihre Inhalte Termin: 10. März 2021, 15:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 11. März 2021, online Webtalk: Sind wir Charlie? Wie Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus die Wahrnehmung islamistischer Gewalt beeinflussen Gewalttaten machen betroffen, aber nicht unbedingt in gleicher Weise. Persönliche und biografische Erfahrungen haben einen Einfluss darauf, welche Bedeutung wir Gewalttaten zumessen und wie wir sie – auch mit Blick auf den eigenen Alltag und das persönliche Sicherheitsgefühl – interpretieren. Im globalisierten Klassenzimmer verbinden sich damit besondere Herausforderungen, aber auch Chancen, um unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen und zu Perspektivwechseln anzuregen. Dieser Webtalk wird von Dr. Jochen Müller, ufuq.de, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 11. März 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 12. März 2021, online Online-Workshop: "Walking the line" – Chancen, Grenzen und Verantwortung in der Radikalisierungs- und Extremismusforschung Mit welchen Risiken und ethischen Implikationen müssen sich Forschende auseinandersetzen? Welche Erwartungen haben Sicherheitsbehörden an die Forschung? Wie kann die Forschung ihre Unabhängigkeit bewahren? Der Online-Workshop richtet sich an Forschende aus allen Disziplinen sowie Vertreter/-innen aus Behörden, speziell aus Sicherheitsbehörden. Ziel ist es, forschungspraktische und forschungsethische Implikationen der Radikalisierungsforschung unter Forschenden auf Basis der Inputs und der eigenen Erfahrung kritisch zu reflektieren und darüber mit Vertreter/-innen aus den Sicherheitsbehörden in einen konstruktiven, vertrauensbildenden Austausch zu gehen. Termin: 12. März 2021, 9:30-16:15 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: doering@core-nrw.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CoRE-NRW 15. März 2021, online Online-Fachgespräch: Kopf auf, richtiger Islam rein, Kopf zu? Islamische Vereine und Verbände in der Präventionsarbeit Moscheevereine und islamische Verbände nehmen eine wichtige gesellschaftliche Rolle in der Religionsausübung ein. Wegen der Herausforderungen durch den sogenannten Islamischen Staat und der Radikalisierung in Deutschland wurden sie dazu aufgefordert, Präventionsprojekte anzubieten. Mittlerweile existieren einige Projekte, doch es ist weiterhin unklar, welche Rolle sie in der Präventionsarbeit einnehmen können und welche Kompetenzen sie mitbringen. Darüber hinaus bleibt die Frage, ob Präventionsarbeit tatsächlich die Arbeit ist, die islamische Vereine und Verbände leisten sollten. Jens Ostwaldt hat zu dieser Thematik promoviert und wird seine Ergebnisse nach einem Impulsvortrag im Gespräch mit Dr. Hussein Hamdan diskutieren. Termin: 15. März 2021, 18:00-20:00 Uhr Ort: online Kosten: 5 Euro Anmeldung: Bis zum 10. März entweder Externer Link: online oder unter Angabe von Namen, Adresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse an E-Mail Link: rebmann@akademie-rs.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. 16. März 2021, online Online-Fachgespräch: Ausstieg aus dem Extremismus Welche Kriterien legt man an einen Ausstieg an? Wie können in Ausstiegsprogrammen Risiken für das Begehen von Straftaten kalkuliert werden? Geht es bei der Ausstiegsarbeit um Straffreiheit oder um eine demokratisch orientierte Lebensweise? Muss man unterschiedliche extremistische Phänomenbereiche unterschiedlich behandeln oder wirken gleiche Mechanismen, die man gleich behandeln kann? Über diese und weitere Fragen diskutieren PD Dr. Astrid Rosseger von der Universität Konstanz, Dr. Daniel Köhler vom Kompetenzzentrum gegen Extremismus Baden-Württemberg und Dr. Benno Köpfer vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Die Online-Veranstaltung ist Teil der "Stuttgarter Präventionsgespräche". Termin: 16. März 2021, 19:00-20:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Evangelischen Bildungszentrums 16. März 2021, online Webtalk: Wie lässt sich ein "inklusives Wir" in der Schule stärken? Jugendliche habe einen Anspruch auf diskriminierungsfreie Bildung. Dennoch fühlen sich Jugendliche mit Migrationsbiografien nur selten repräsentiert: Die Migrationsgesellschaft ist Alltag, findet aber in Unterricht und Schule häufig nur dann statt, wenn es um Spannungen und Konflikte geht. Umso wichtiger sind Erfahrungen von Zugehörigkeit und Anerkennung, die im Schulalltag vermittelt werden. In diesem Webtalk werden Möglichkeiten aufgezeigt, die Repräsentation und Anerkennung aller Schüler/-innen im Rahmen der Schulentwicklung zu fördern und damit auch der Attraktivität von ausschließenden Gemeinschaftsvorstellungen entgegenzuwirken. Dieser Webtalk wird von Ramses Michael Ouelasti, Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 16. März 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 17. März 2020, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im dritten von vier Modulen geht es um "Online-Radikalisierungsprozesse im islamistischen Kontext". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Wie Algorithmen, Filterblasen und der Echokammer-Effekt Radikalisierungsprozesse begünstigen können Islamismus Digital: Akteure, Themen, Dynamiken und Gefahren Fake News und Propaganda: Wie werden islamistische Inhalte aufbereitet, damit sie für Jugendliche attraktiv sind? Termin: 17. März 2021, 15:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 18. März 2020, online Online-Seminar: Hate Speech von rechtspopulistischen und islamistischen Akteur*innen Die Einen rufen "Allahu Akbar", die Anderen "Ausländer raus". Islamistische und deutschnationalistische Akteur*innen stehen auf verschiedenen Seiten, bekämpfen sich wechselseitig und sind komplett verschieden. Auf den ersten Blick. Doch bei genauerem Hinsehen zeigen sich auch Parallelen. Beide Milieus sind in aller Regel intolerant, gewaltbereit, patriarchal – und damit zutiefst demokratiefeindlich. Aber nicht nur das: die Einen schlagen Kapital aus dem radikalen Auftreten der jeweils Anderen. Denn so können sie scheinbar die eigene, nicht weniger radikale Position legitimieren. Dies und mehr soll im Online-Seminar beleuchtet und diskutiert werden. Dazu bringen die Präventionsprogramme Wegweiser der AWO und des Multikulturellen Forums, das AWO-Projekt Zukunft mit Herz gestalten! sowie die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus ihre Expertise ein. Termin: 18. März 2021, 17:00-19:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Anmeldungen bis zum 5. März an E-Mail Link: lena.berentzen@awo-dortmund.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Multikulturellen Forum 24. März 2020, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im vierten von vier Modulen geht es um "Online-Prävention und Grundlagen der Praxis". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Online-Prävention: ein Überblick über verschiedene Ansätze Einführung in das Projekt streetwork@online Ansatz, Haltung und Methoden Fallbeispiele mit praktischen Übungen in Kleingruppen Termin: 24. März 2021, 15:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 24. März 2021, online Online-Vortrag: #hass – Fake News, Filterblasen und islamistische Online-Propaganda Der Online-Vortrag ist Teil der Online-Vortragsreihe "Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus. Hintergrundinformationen und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte" der Fachstelle PROvention. PROvention möchte mit dieser Veranstaltungsreihe Fachkräften aus den Bereichen Schule, Soziale Arbeit, Migrationsberatung, Kinder- und Jugendhilfe sowie anderen Sozialraumakteuren Hintergrundwissen mit an die Hand geben und Unsicherheiten in der beruflichen Praxis abbauen. Termin: 24. März 2021, 14:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der TGS-H 25. März 2021, online Webtalk: "Du sollst dir (k)ein Bild machen!” Zum Umgang mit Bilderverbot und Satire im Unterricht Gibt es tatsächlich ein Bilderverbot im Islam? Welche Rolle spiel(t)en bildliche Darstellungen in der islamisch geprägten Welt? Wie können Karikaturen und das Thema Bilderverbot im Unterricht besprochen werden? Ein Blick auf die Kunst-, Kultur- und Architekturgeschichte islamisch geprägter Regionen zeigt ein vielfältiges Bild. Im Webtalk werden zudem verschiedene Unterrichtsmaterialien zu diesem Thema diskutiert. Dieser Webtalk wird von Prof. Dr. Tarek Badawia, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 25. März 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 30. März 2021, online Webtalk: Kontroversität und Meinungsfreiheit im Unterricht Ein Grundsatz der politischen Bildung ist das Kontroversitätsgebot: Was in der Wissenschaft und Politik beziehungsweise in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird, soll auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden. Wie lässt sich diese Kontroversität im Schulalltag ermöglichen? Wie weit geht die Meinungsfreiheit, wenn Schülerinnen und Schüler oder Teilnehmende von Bildungsangeboten sich provokant bis radikal äußern – zum Beispiel rechtspopulistisch oder religiös begründet? Wo liegen die Grenzen? Wie sollen Lehrende sich verhalten? Und warum ist Kontroversität wichtig? Dieser Webtalk wird von Prof. Dr. Anja Besand, TU Dresden, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 30. März 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 30. März 2021, online Online-Fachgespräch: Legalistischer Islamismus Was bedeuten eigentlich die oftmals synonym verwendeten Begriffe "legalistischer Islamismus", "politischer Islam" und "Islamismus"? Gemeinsam diskutieren die Teilnehmenden und die geladenen Fachleute die politische Bedeutung der Begriffe und die möglichen Folgen der Verwendung. Dazu wird der Blick zunächst auf Österreich und die Entwicklungen rund um die Einrichtung der Dokumentationsstelle Politischer Islam gerichtet. Anschließend wird Deutschland betrachtet und die Auswirkungen der Begriffsdiskussion auf Muslim/-innen sowie der Arbeit muslimischer Verbände und Vereine. Termin: 30. März 2021, 14:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: event@bag-relex.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 31. März 2021, online Online-Vortrag: Islamismus und Salafismus 2021 – Neue Trends und die Lage in Schleswig-Holstein Der Online-Vortrag ist Teil der Online-Vortragsreihe "Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus. Hintergrundinformationen und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte" der Fachstelle PROvention. PROvention möchte mit dieser Veranstaltungsreihe Fachkräften aus den Bereichen Schule, Soziale Arbeit, Migrationsberatung, Kinder- und Jugendhilfe sowie anderen Sozialraumakteuren Hintergrundwissen mit an die Hand geben und Unsicherheiten in der beruflichen Praxis abbauen. Termin: 31. März 2021, 14:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: veranstaltung.provention@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der TGS-H April 8. April 2021, online Webtalk: Über Anschläge, Extremismus und Islamfeindlichkeit im Unterricht sprechen – Anregungen und Materialien Lehrkräfte und Autor/-innen stellen verschiedene Lehr- und Lernmaterialien aus den Themenfeldern Extremismus, Gewaltdarstellungen im Internet sowie die Neuauflage der bpb-Handreichung "Schule und religiös begründeter Extremismus” vor. Anschließend finden ein Erfahrungsaustausch und eine offene Fragestunde statt: Welche Materialien eignen sich wofür? Welche Bedarfe gibt es in der Schulpraxis? Dieser Webtalk wird Vertreter/-innen des Infodienst Radikalisierungsprävention und zwischentoene.info sowie von Elif Kapukiran, Hamburger Lehrerin, und Bernd Ridwan Bauknecht, Bonner Religionspädagoge, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 8. April 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 13. April, online Online-Fachtag: SCHNITT:STELLEN – Erkenntnisse aus Forschung und Beratungspraxis im Phänomenbereich islamistischer Extremismus "FoPraTEx – Forschungs-Praxis-Transfer-Islamistischer Extremismus" ist das Netzwerk der wissenschaftlichen Mitarbeitenden des BAMF. Im Rahmen des Online-Fachtags stellen sie erste Ergebnisse aus ihrer Arbeit vor. Die Mitarbeitenden begleiten die verschiedenen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Beratungsstellen im Kontext (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen. Außerdem unterstützen sie die Arbeit der lokalen Partner der Beratungsstelle "Radikalisierung" des BAMF. Während des Fachtags gibt es unter anderem zwei jeweils einstündige Infoshop-Sequenzen. Die BAG RelEx veranstaltet den Online-Fachtag im Rahmen des KN:IX. Termin: 13. April, 10:00-15:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx Ab 14. April, online Online-Seminar: Eine Differenzierung von Religion und religiös begründeter Radikalisierung Was ist der Unterschied zwischen islamistischer, salafistischer und religiös-begründeter Radikalisierung? Was ist der Zusammenhang zwischen einer strikten, mitunter auch konfrontativen, Religionsausübung und Radikalisierung? In diesem Online-Seminar soll der Themenkomplex religiös-begründete Radikalisierung und sein Verhältnis zur Religion betrachtet werden. Neben einer Begriffsdifferenzierung wird es auch um grundsätzliche Fallstricke in diesem Themenfeld gehen. Ein besonderer Schwerpunkt wird ein eher jüngeres Phänomen sein, die sogenannte "gewaltfreie Radikalisierung". Die Veranstaltung ist Teil der Online-Seminarreihe „Religiös begründete Radikalisierung – theoretische Grundlagen und Handlungsmöglichkeiten“ Termin: 14. April, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Interdisziplinären Kompetenznetzwerks Radikalisierungsprävention 14. April, online Online-Präsentation: Broschüre "Misch mit! Erfahrungen und Konzepte des demokratiepädagogischen Unterrichts von Kick-off" In der Online-Präsentation stellt das Team von Kick-off der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein die Broschüre zu ihrem demokratiepädagogischen Unterricht "Misch mit!" im Jugendstrafvollzug vor. Zunächst werden die dabei gesammelten Erfahrungen und Konzepte vorgestellt. Anschließend gibt es eine Diskussion über die Ergebnisse und die und Erfahrungen der Teilnehmenden mit politischer Bildungsarbeit, insbesondere im Jugendstrafvollzug. Termin: 14. April, 15:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 30. März per E-Mail an E-Mail Link: kick-off@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der TGS-H Ab 19. April, online Online-Ringvorlesung: Religion und Bildung Die zunehmende religiöse Diversität macht einen gemeinsamen, überkonfessionellen Religionsunterricht plausibel. In Bremen hat sie im Jahr 2014 zur Einrichtung des interreligiösen Schulfachs „Religion“ geführt. Die Online-Ringvorlesung befasst sich mit wichtigen Problemstellungen überkonfessionellen Religionsunterrichts, zu denen Nachwuchswissenschaftler/-innen fachdidaktische Forschungsfelder vorstellen. Die Veranstaltung findet jeden Montag bis einschließlich 5. Juli statt, außer am 17. und 24. Mai. Termin: ab 19. April immer montags, 18:00-19:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: tomma@uni-bremen.de; Der Zugang zu der Veranstaltung erfordert eine einmalige Anmeldung per Mail. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Universität Bremen 19. und 26. April, online Online-Fortbildung: Identitätssplitter Religion. Schule in der Migrationsgesellschaft Wie können Lehrkräfte dazu beitragen, dass Menschen nicht auf ihr "Muslimisch-sein" reduziert werden? Die zweiteilige Online-Fortbildung vermittelt Wissen über die vielfältigen Lebensrealitäten von Musliminnen und Muslimen. Sie regt Lehrkräfte zur Reflexion der eigenen Wahrnehmung an und vermittelt ihnen, wie sie auf Positionen und Verhaltensformen reagieren können, die ihnen problematisch erscheinen. Termin: 19. und 26. April, jeweils 14:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 12. April Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der bpb 20. April 2021, online Webtalk: Religiöse Emotionen, säkulare Emotionen – oder: Wer wird hier eigentlich verletzt? Gibt es religiöse und säkulare Emotionen? Werden religiöse Emotionen schneller verletzt als säkulare Emotionen? Oder haben säkulare Menschen keine Emotionen, die verletzt werden können? Was müssen wir aushalten und was nicht? Gelten hier dieselben Erwartungen an religiöse Menschen verschiedener Konfessionen und nicht-religiöse Menschen, oder sind ungleiche Erwartungen im Spiel? Dieser Webtalk wird von Dr. Nur Yasemin Ura, Universität Leipzig, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 20. April 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 22. April, online Online-Seminar: Islam, "Islamismus" und Islamfeindlichkeit - Phänomene und Reaktionsmöglichkeiten Was hat Islam mit Islamismus oder Islamfeindlichkeit zu tun? Im Online-Seminar werden die hinter diesen Begriffen stehenden Aspekte mit Blick auf die Schule erläutert und abgegrenzt. Dabei wird einerseits der Blick auf Kinder und deren Erziehung im sogenannten Islamismus gelegt und andererseits werden die Radikalisierung und die Radikalisierungsprävention von Jugendlichen im Schulkontext betrachtet. Die Veranstaltung ist Teil der Online-Seminarreihe "Religiös begründete Radikalisierung – theoretische Grundlagen und Handlungsmöglichkeiten" Termin: 22. April, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Interdisziplinären Kompetenznetzwerks Radikalisierungsprävention 27. April, online Online-Seminar: Radikalisierungsprävention – Handlungskonzepte für die Praxis Im Umgang mit jungen Menschen, die sich (vermeintlich) religiös-begründet radikalisieren, sind Fachkräfte oft vor besondere Herausforderungen gestellt. Diese zeigen sich unter anderem bei der Einschätzung und Bewertung der individuellen Entwicklung und bei der Kontaktaufnahme mit Jugendlichen. Es stellen sich Fragen wie: Wie "ernst" ist die Lage, und wie kann man mit dem Jugendlichen darüber ins Gespräch kommen? Wen sollte man einbeziehen? An welche Fachkräfte kann man sich wenden, um Unterstützung zu bekommen? Wo gibt es passende Angebote? Ziel dieses Online-Seminars ist es, erste Antworten auf diese Fragen und damit mehr Handlungssicherheit zu finden. Die Veranstaltung ist Teil der Online-Seminarreihe „Religiös begründete Radikalisierung – theoretische Grundlagen und Handlungsmöglichkeiten“ Termin: 27. April, 16:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Interdisziplinären Kompetenznetzwerks Radikalisierungsprävention 27. April, online Online-Fachgespräch: Politische Bildung – vernachlässigt, unterschätzt, doch demokratierelevant? Wie, in welchen sozialen Räumen und in welcher Qualität wird politische Bildung junger Menschen umgesetzt? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigt sich der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Die Ergebnisse werden im Rahmen der Online-Veranstaltung mit Blick auf Thüringen diskutiert. Dabei werden die insgesamt schwache Stellung der politischen Bildung sowie ungenutzte Potenziale besprochen. Darüber hinaus sollen Veränderungsbedarfe für den Kinder-und Jugendbereich, aber auch für den Bereich der schulischen Bildung und der Erwachsenenbildung formuliert werden. Termin: 27. April, ab 14:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: gerhardt@ev-akademie-thueringen.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Evangelischen Akademie Thüringen 27. April 2021, online Webtalk: Gewaltdarstellungen des "IS" – Hintergrund, Wirkung und Anregungen zur pädagogischen Nutzung von künstlerischen Aneignungen Gewaltdarstellungen sind in sozialen Medien weit verbreitet. Dazu gehören neben Bildern von zivilen Opfern in Konfliktregionen auch Darstellungen von rassistischer Gewalt in Deutschland und Europa. Schule und Jugendarbeit können Räume schaffen, um über solche Wahrnehmungen und Emotionen zu sprechen und Kinder und Jugendliche im Umgang mit Gewaltdarstellungen zu stärken. Der Webtalk gibt Anregungen zur pädagogischen Nutzung von künstlerischen Aneignungen von Gewalterfahrungen. Dieser Webtalk wird von Dr. Christoph Günther und Larissa-Diana Fuhrmann, Universität Mainz, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 27. April 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 28. April 2021, online Online-Vortrag: Rechts, Links, Islamistisch – Alles gleich? Die Extremismustheorie in der Präventionsarbeit Extremismusprävention ist Ziel und Auftrag zahlreicher Projekte. Vielfach wird dabei auf das Bild des Hufeisens zurückgegriffen: Die "gute" Mitte der Gesellschaft wird von ihren extremen Rändern bedroht. Dabei stehen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus scheinbar deckungsgleich als Bedrohungen nebeneinander. Tom Uhlig, Bildungsreferent der Bildungsstätte Anne Frank, kritisiert diese Nebeneinanderstellung und warnt vor einer Gleichsetzung der "-ismen". Nach einem Impulsvortrag kann mit ihm über Nutzen und Gefahr der Extremismustheorie für die pädagogische Arbeit diskutiert werden. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Netzwerkprojekts "Alles Glaubenssache? Prävention und politische Bildung in einer Gesellschaft der Diversität" der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung statt. Termin: 28. April 2021, 14:30-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Evangelischen Akademie 29. April, online Online-Vortrag: CoRE-NRW Projektvorstellung Sieben neue Forschungsprojekte sind Ende 2020 im Rahmen von CoRE-NRW gestartet. Die vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW (MKW) geförderten Projekte werden etablierte CoRE-NRW-Forschungsthemen vertiefen und neue Schwerpunkte und Perspektiven erschließen. Alle neuen CoRE-NRW Forschungsprojekte stellen sich zwischen März und Juni 2021 online vor. Beim Termin am 29. April werden folgende Projekte vorgestellt: Prof. Johannes Drerup (TU Dortmund): "Bildung und Diskurs zur Islamismusprävention. Pädagogische Ambitionen und kontra-intentionale Effekte" Prof.'in Sabine Damir-Geilsdorf (Uni Köln): "Salafiyya leben. Religiöse Ideale und muslimische Praxis in der postmigrantischen Gesellschaft" Termin: 29. April, 14:00-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: doering@core-nrw.de Mai 4.-5. Mai 2021, online Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 4.-5. Mai 2021, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 6. Mai 2021, online Webtalk: Wer muss wann was tun? – Schulrechtliche Regelungen im Umgang mit gewaltbefürwortenden und extremistischen Aussagen und Verhaltensweisen Lehrkräfte sind oft die ersten, die die Hinwendung von Jugendlichen zu extremistischen Szenen bemerken. Dabei befinden sie sich in einem Zwiespalt zwischen Fürsorge und Bildungsauftrag gegenüber dem/r Schüler/-in und der Verpflichtung, die Mitschüler/-innen zu schützen und die Gefahr von Straftaten abzuwenden. Die Erfahrungen des Projektes "CleaRTeaching – Umgang mit neosalafistischen und rechtsextremen Haltungen im schulischen Kontext" bieten Anregungen, um im Kollegium für das Thema und die damit verbundenen Herausforderungen zu sensibilisieren. Dieser Webtalk wird von Dr. Michael Kiefer, Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. in Düsseldorf, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 6. Mai 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 10. und 11. Mai, online Online-Kongress: 26. Deutscher Präventionstag Das Schwerpunktthema des 26. Deutschen Präventionstags lautet "Prävention orientiert! …planen …schulen …austauschen …" Der Präventionstag findet als Online-Kongress und ohne Publikum vor Ort statt. Die zentrale Plattform „DPT-Foyer“ ist Ausgangspunkt, um auf sämtliche Bereiche des Online-Kongresses zuzugreifen. Das Eröffnungsplenum am ersten Kongresstag wird live übertragen. Danach können die digitalen Tagungsräume besucht werden, in denen man an Plenen, Vorträgen, Projektspots, Begleitveranstaltungen, Theater und der Ausstellungsbühne "DPT-OpenSpace" teilnehmen kann. Kongressteilnehmende können sich per Chat und teilweise per Videocall austauschen und an Diskussionen teilnehmen. Das Foyer ist bis einschließlich 30. September zugänglich. Termin: 10. und 11. Mai, jeweils ab 14:00 Uhr Ort: online Kosten: 145€ (regulärer Tarif), 75€ (ermäßigter Tarif für Arbeitsuchende, Auszubildende, Schwerbehinderte, Rentner/-innen, Schüler/-innen, Studierende sowie Teilnehmende am Bundesfreiwilligendienst) Anmeldung: bis 26. April Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Deutschen Präventionstags 18. Mai 2021, online Webtalk: Welche Informationen brauchen Schulöffentlichkeit und Medien? Herausforderungen der Kommunikation über Radikalisierungen im Kontext Schule "Elfjähriger droht Lehrerin mit Enthauptung” – Gewaltbefürwortende und demokratiefeindliche Äußerungen von Schüler/-innen sorgen für Schlagzeilen. Für die Arbeit mit Schüler/-innen und die Präventionsarbeit in der Schule ist eine solche Aufmerksamkeit allerdings kontraproduktiv. Am Beispiel von konkreten Erfahrungen mit Radikalisierungen von Schüler/-innen geht es in diesem Webtalk darum, Lehrkräfte und Schulleitungen in der Kommunikation mit Schüler/-innen, Eltern und der weiteren Öffentlichkeit zu unterstützen. Dieser Webtalk wird von Christoph Berens, Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 18. Mai 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 20. Mai, online Online-Informationsveranstaltung: CleaRTeaching - Eine Weiterbildung zum Umgang mit Radikalisierungsprozessen im schulischen Kontext Wie erkenne ich Radikalisierungsprozesse an der Schule? Und wie reagiere ich pädagogisch angemessen darauf? Diese Fragen stehen im Zentrum des Weiterbildungsprojektes CleaRTeaching, das von September 2021 bis April 2022 stattfindet und Lehrkräften sowie Schulsozialarbeiter/-innen aus den Bundesländern Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Bayern offensteht. Im Rahmen der Online-Informationsveranstaltung wird das Projekt CleaRTeaching vorgestellt und es gibt Raum für Fragen und Austausch. Termin: 20. Mai Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 18. Mai Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von der bpb Juni 1. Juni, online Online Seminar: The New EU Digital Services Act (DSA) – Will Social Media Users Be Safer in the Future? The draft Digital Services Act (DSA), published by the EU Commission in December 2020, seeks to build a safer and better Internet for all EU citizens. At the online seminar, participants will examine the positive and negative aspects of the DSA. The discussion will focus on the question of whether or not this legislation will be capable of protecting EU citizens better from online harm. Participants will have the opportunity to discuss the issues with the speakers following their respective presentations in Q&A segments. The online seminar will be held in English. Date: 1st June 2021; at 3:00 pm Location: online Price: free Sign Up: no need to sign up; you can access the webinar Externer Link: via zoom For further information, please visit Externer Link: the website of Counter Extremism Project 2. Juni, online Online-Fachtag: Islamismusprävention – im Osten was Neues? Perspektiven für die Präventionsarbeit in den Neuen Bundesländern Worin unterscheiden sich die lebensweltlichen Erfahrungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen Ost und West – und wie lassen sich diese Unterschiede in der praktischen Arbeit aufgreifen? Im Mittelpunkt des Online-Fachtags steht die Frage nach den besonderen Merkmalen der universellen Islamismusprävention in Sachsen-Anhalt und anderen ostdeutschen Bundesländern. Fachkräfte aus Schule, Jugendhilfe, Polizei und Verwaltung sind eingeladen, Erfahrungen aus Ost- und Westdeutschland auszutauschen und Impulse für die eigene Arbeit mitzunehmen. Der Beitrag von ufuq.de erfolgt im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Islamistischer Extremismus / KN:IX. Termin: 2. Juni 9:00-15:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 2. Juni, online Online-Vortrag: Antisemitismus im legalistischen Islamismus Welche Rolle spielt Antisemitismus in islamistischen Organisationen? Im Online-Vortrag wird zunächst geklärt, warum historisch von einem islamischen Antisemitismus gesprochen werden kann. Im Anschluss wird anhand mehrerer Beispiele erläutert, welche Formen von Antisemitismus im Milieu des legalistischen Islamismus in Deutschland auftreten und welchen Stellenwert diese einnehmen. Termin: 2. Juni 2021, ab 18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: es ist keine Anmeldung notwendig; der Zugang erfolgt über einen Zoom-Link Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Amadeu Antonio Stiftung 7. und 8. Juni, online Online-Fachtagung: Familie extrem – Zugänge schaffen und Kinder stärken Wie kann man mit Eltern und Kindern aus radikalisierten Familien umgehen? Die Fachstelle Liberi stellt die Ergebnisse ihrer bundesweiten Untersuchung zum Thema "Kinder in islamistisch und salafistisch geprägten Familien" vor. Neben dem Bereich des religiös begründeten Extremismus gibt es Einblicke in Erfahrungen und Arbeitsansätze aus verwandten Themenfeldern wie Rechtsextremismus und Sekten. Die Teilnehmenden erhalten Handlungsmöglichkeiten zur konkreten Einschätzung von Kindeswohlgefährdung. In Fachvorträgen, Panels und Workshops können sie unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu entsprechenden Kindern und Familien sowie Arbeitsansätze mit diesen kennenlernen. Termin: 7. Juni: 10:30-15:15 Uhr, 8. Juni: 9:00-13:45 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: fachstelle.liberi@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PROvention 8. Juni 2021, online Webtalk: Was können Museen als Kulturinstitutionen zu Prävention beitragen? In der Sitzung stellen die Referenten Inhalte, Methoden und Erfahrungen der Präventionsarbeit aus zwei Projekten zur Diskussion, die am Museum für Islamische Kunst beziehungsweise am Haus Bastian – Zentrum für kulturelle Bildung angesiedelt sind. Anhand von Praxisbeispielen und konzeptionellen Überlegungen erörtern sie die Zusammenhänge (trans-)kultureller und politischer Bildung sowie die Rolle von Kulturinstitutionen im Handlungsfeld der Extremismusprävention. Dieser Webtalk wird von Christopher Förch und Dr. Leonard Schmieding, Haus Bastian – Zentrum für kulturelle Bildung und Roman Singendonk, Museum für Islamische Kunst, gehalten. Der Webtalk ist Teil der Reihe "Islamistische und rassistische Anschläge – ein Thema für Schule und Unterricht?" In der Reihe werden erfolgversprechende Ansätze vorgestellt und es wird Raum für den Austausch zwischen Lehrkräften, außerschulischen Bildungsakteuren sowie Wissenschaftler/-innen geschaffen. Die Reihe ist eine Kooperation folgender Akteure: Infodienst Radikalisierungsprävention, Bildungsstätte Anne Frank, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Museum für islamische Kunst und ufuq.de. Termin: 8. Juni 2021, 16:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 9. Juni 2021, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 1: Sozialraum Social Media In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im ersten von vier Modulen geht es um den "Sozialraum Social Media". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Nutzungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Attraktivität von Social Media: Wirkung und Funktion Cyber-Mobbing und Hate Speech: Definitionen und Umgang Wie Algorithmen, Filterblasen und der Echokammer-Effekt Radikalisierungsprozesse begünstigen können. Die Module können auch einzeln gebucht werden. Termin: 9. Juni 2021, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 10. Juni 2021, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 2: Phänomenbereich Islamismus In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im zweiten von vier Modulen geht es um den "Phänomenbereich Islamismus". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Grundlagen zur islamischen Theologie und Geschichte Islam und Muslim:innen in Deutschland: Wahrnehmung und Stigma Begriffsklärung: Islamismus und Salafismus Islamistische Narrative mit Beispielen aus der Praxis Die Module können auch einzeln gebucht werden. Termin: 10. Juni 2021, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 14., 15. und 28. Juni 2021, online Online-Fortbildung: Identitätssplitter Religion. Schule in der Migrationsgesellschaft Wie können Lehrkräfte dazu beitragen, dass Menschen nicht auf ihr "Muslimisch-sein" reduziert werden? Die Online-Fortbildung vermittelt Wissen über die vielfältigen Lebensrealitäten von Musliminnen und Muslimen. Sie regt Lehrkräfte zur Reflexion der eigenen Wahrnehmung an und vermittelt ihnen, wie sie auf Positionen und Verhaltensformen reagieren können, die ihnen problematisch erscheinen. Die Online-Fortbildung findet an drei verschiedenen Terminen mit demselben Programm statt. Termin: 14. Juni 2021 von 9:00-15:00 Uhr; 15. und 28. Juni 2021 von 10:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: jeweils bis eine Woche vor dem Termin Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der bpb: zum 14. Juni, zum 15. Juni, zum 28. Juni 16. Juni 2021, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 3: Online-Radikalisierungsprozesse im islamistischen Kontext In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im dritten von vier Modulen geht es um "Online-Radikalisierungsprozesse im islamistischen Kontext". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Radikalisierungsprozesse: Faktoren und Katalysatoren Notwendigkeit von Online-Prävention im Phänomenbereich Islamismus Wie sind islamistische Inhalte aufbereitet, damit sie für Jugendliche attraktiv sind? Islamismus online: Akteur:innen, Formate und Anwerbepraxis Die Module können auch einzeln gebucht werden. Termin: 16. Juni 2021, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online 17. Juni 2021, online Online-Diskussion: Gender und der Ausstieg aus islamistischem Extremismus Welche Bedeutung hat das Geschlecht in Radikalisierungs- und Distanzierungsprozessen? Wie geht die Strafverfolgung mit männlichen und weiblichen extremistischen Straftätern um? Teilnehmende diskutieren bei dieser Online-Veranstaltung mit Experten und Expertinnen aus der zivilgesellschaftlichen Praxis, Strafverfolgung und Forschung die Chancen und Grenzen von gendersensibler Ausstiegsarbeit aus dem islamistischen Extremismus. Die Veranstaltung findet im Rahmen des "International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism" (InFoEx) statt und wird von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) organisiert. Die Veranstaltung findet auf Deutsch mit englischer Übersetzung statt. Die Teilnahme ist per Zoom möglich. Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der DGAP Termin: 17. Juni 2021, 16:30-18:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich (per Zoom) 17. Juni 2021, online Online-Workshop-Reihe: Islamismus in Social Media – Teil 4: Online-Prävention und Grundlagen der Praxis In der vierteiligen Workshopreihe von streetwork@online geht es um islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit in virtuellen Communities. Die teilnehmenden Fachkräfte sollen mittels theoretischer Grundlagen, praktischer Ansätze und anschaulicher Beispiele für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sensibilisiert und geschult werden. Im vierten von vier Modulen geht es um "Online-Prävention und Grundlagen der Praxis". Die Teilnehmenden sprechen über folgende Themen: Online-Prävention: ein Überblick Einführung in das Projekt streetwork@online Online-Streetwork: Ansatz und Methodik Fallbeispiele mit praktischer Übung in Kleingruppen Die Module können auch einzeln gebucht werden. Termin: 17. Juni 2021, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von streetwork@online Ab 22. Juni 2021, Berlin, Bochum, Hannover & Mainz Fortbildungsreihe: Kinder in islamistisch geprägten Familien – Grundmodul Die Fortbildung setzt sich aus einem zweitägigen Grundmodul und einem eintägigen Aufbaumodul zusammen. Im Grundmodul liegt der inhaltliche Fokus auf Themen wie Sozialisationsbedingungen, Kindeswohlgefährdung und Resilienzförderung. Die Fortbildungsreihe wird in verschiedenen Städten angeboten. Die Termine für das zweitägige Grundmodul sind: Mainz: 22. und 23. Juni Hannover: 20. und 21. Juli Berlin: 10. und 11. August Bochum: 31. August und 1. September Sollte es Corona-bedingt nicht möglich sein, die Fortbildung als Präsenzveranstaltung durchzuführen, wird es zum selben Termin eine Online-Veranstaltung geben. Termin: ab 22. Juni 2021; dienstags von 10:00-16:00 Uhr, mittwochs von 9:00-15:00 Uhr Ort: Mainz, Hannover, Berlin, Bochum Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 28. Mai per E-Mail an E-Mail Link: fachstelle.liberi@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der TGSH Juni 23. Juni 2021, Bremen (Online-)Fachtag: Dimensionen des antimuslimischen Rassismus: Wirkungsweisen verstehen – Handlungsmöglichkeiten aufzeigen Wie tritt antimuslimischer Rassismus in Erscheinung? Wie unterscheidet er sich von Islamkritik? Wie beeinflusst Rassismus das Bild der muslimischen Frau? Im Rahmen des Fachtages setzen sich die Teilnehmenden mit deutschen Islamdebatten auseinander und beleuchten die Auswirkungen von Rassismus gegen Musliminnen und Muslime. Weiterhin geht es um die Frage, wie Diskriminierungserfahrungen adäquat aufgefangen werden können – insbesondere mit Blick auf junge muslimische Menschen. Die Teilnahme ist vor Ort und online möglich. Termin: 23. Juni 2021, 8:45-16:00 Uhr Ort: Martinsclub Bremen, Buntentorsteinweg 24/26, 28201 Bremen, online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail bis zum 15. Juni an E-Mail Link: demokratiezentrum-isl@soziales.bremen.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Demokratiezentrum Bremen 24./25. Juni 2021, online Online-Fortbildung: Lebenswelten Jugendlicher zwischen Islam und Islamismus Die zweitägige Online-Fortbildung richtet sich an Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen. Bei der Online-Fortbildung geht es darum, wie sich extremistische Gruppen Krisensituation zu Nutze machen und versuchen, Jugendliche anzuwerben. Termin: 24. und 25. Juni 2021, 14:00-17:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: praevention@mosaik-deutschland.de (bis zum 19. Juni 2021) Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von Mosaik Deutschland e. V. 30. Juni 2021, online Online-Fachtag: Verschwörungsideologien und ihre Folgen für Kindeswohl In Vorträgen und Podiumsdiskussionen geht es bei diesem Online-Fachtag um Verschwörungsideologien und ihre Folgen für Kinder und Jugendliche. Mitarbeitende von Jugend- und Sozialämtern und -einrichtungen bekommen einen Überblick über die Thematik, bestehende Problemfelder und notwendige Verhaltensweisen. Außerdem sollen konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis ausgearbeitet werden. Termin: 30. Juni 2021, 10:00-14:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 30. Juni/1. Juli 2021, online Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 30. Juni/1. Juli 2021, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de Juli 1. und 2. Juli 2021, online Online-Fachtagung: Heterogenität im Kontext von Prävention, Sozialer Arbeit, Bildung und Gender In der zweitägigen Online-Fachtagung geht es um die Themen Migration und Extremismusprävention vor dem Hintergrund von Geschlecht, Alter, Religion, Bildung und Kultur. Das Forschungs- und Förderprojekt „Fem4Dem“ erforscht seit 2019 die heterogene muslimische deutsche Zivilgesellschaft. Auf der Fachtagung werden die Ergebnisse dieser Forschung vorgestellt. "Fem4Dem" ist eine Kooperation der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Osnabrück. Die Teilnahme an der Online-Fachtagung ist per Livestream möglich. Die Zugangsdaten werden vor Tagungsbeginn zugeschickt. Termin: 1. Juli 2021, 16:00-20:00 Uhr und 2. Juli 2021, 9:00-16:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 25. Juni Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von Fem4Dem 8. Juli 2021, online Online-Fachgespräch: Städtischer Raum und Radikalisierung In welchem Verhältnis stehen städtischer Raum und Radikalisierung? Wie beziehen Akteur/-innen aus der Prävention räumliche Gegebenheiten in ihre Projektarbeit ein? In Vorträgen wird sowohl die wissenschaftliche Perspektive als auch die Perspektive der praktischen Arbeit auf das Thema beleuchtet. Anschließend besteht die Möglichkeit, sich mit den Referent/-innen und anderen Teilnehmenden auszutauschen. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX) statt. Die Teilnahme ist per Zoom möglich. Die Login-Daten werden kurz vor dem Fachgespräch zugeschickt. Termin: 8. Juli 2021, 14:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 6. Juli Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx 8. Juli 2021, online Online-Fachgespräch: Mediale (Selbst-)Inszenierung in extremistischer Propaganda Im Online-Fachgespräch mit Medienwissenschaftler Dr. Bernd Zywietz von jugendschutz.net geht es darum, wie extremistische Personen und Gruppen Bilder und Videos einsetzen, um unterschiedliche Gruppen zu erreichen und ihre politischen oder ideologischen Botschaften zu vermitteln. Die Veranstaltung findet im Rahmen der Reihe "Macht der Sprache – Kommunikation und Gesellschaft" der Akademie der Diözese Rottenburg Stuttgart statt. Die Veranstaltung ist eine Kooperation des Landeskriminalamt Baden-Württemberg, der Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg und der Fachstelle Extremismusdistanzierung des Demokratiezentrums Baden-Württemberg. Termin: 8. Juli 2021, 19:00-21:00 Uhr Ort: online Kosten: 5 Euro Anmeldung: Externer Link: online möglich (bis zum 5. Juli 2021) Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. 9. Juli 2021, online Online-Fachtag: Die Rolle der Medien bei Radikalisierung und Prävention Sind Medien für die Verbreitung und Verfestigung extremistischer Einstellungen verantwortlich? Können sie auch zur Prävention von Rechtsextremismus, Salafismus und anderen Strömungen beitragen? Beim Online-Fachtag geht es darum, zu verstehen, welche Rolle Medien bei der Radikalisierung spielen und wie extremistische Akteure Medien für ihre Anliegen benutzen. Außerdem geht es um den Umgang junger Menschen mit Medien und Möglichkeiten zur Stärkung ihrer Medienkompetenz. Die Veranstaltung ist eine Kooperation der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, des Landeskriminalamt Baden-Württemberg, der Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg und der Fachstelle Extremismusdistanzierung des Demokratiezentrums Baden-Württemberg. Termin: 9. Juli 2021, 9:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: 30 Euro bzw. 20 Euro (ermäßigt) Anmeldung: Externer Link: online möglich (bis zum 5. Juli 2021) Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. August 6. und 7. August 2021, online Online-Seminar: Online-Radikalisierungsprozesse und Prävention Was sind Algorithmen, wie entstehen Echokammern und Filterblasen und inwiefern begünstigen diese Radikalisierungsprozesse? Das Online-Seminar bietet einen umfassenden und interaktiven Einblick in das Feld der Online-Radikalisierungsprävention im Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus. Es hat zum Ziel, Fachkräfte zu sensibilisieren und Online-Streetwork als Beispiel für einen praktischen Ansatz zu vermitteln. Dazu werden die Begriffe Islamismus und Salafismus geklärt, einige verbreitete Narrative und Anspracheformen islamistischer Akteure vorgestellt sowie Funktionen sozialer Netzwerke als Leitmedien für Kinder und Jugendliche diskutiert. Außerdem wird der systemische Ansatz aufsuchender Jugendarbeit praxisnah vorgestellt und in Gruppenarbeit gemeinsam erprobt. Termin: 6. August, 14:00 Uhr bis 7. August 2021, 16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 16.-18. August 2021, online Online Summer Programme: Preventing, Detecting and Responding to Violent Extremism How is violent extremism perceived? How is detection and prevention approached and shaped in policies and practice? During the three-day online summer programme, practitioners and researchers will discuss the different academic views on these questions, including critical perspectives. Furthermore, participants of this summer programme will explore the roles and limitations of different stakeholders and approaches and how these relate to each other in their joint efforts to prevent violent extremism. Date: 16th-18th August 2021 Location: online Price: 495 € Sign Up: you can Externer Link: sign up online For further information, please visit Externer Link: the website of Universiteit Leiden 17. August 2021, online Online-Veranstaltung: Zwischen Hölle und Paradies – Kind sein in radikalisierten Lebenswelten Welche Problemstellungen sind bei Kindern aus extremistischen Umfeldern zu beobachten? Wie kann man sich ihren Realitäten annähern? Welche Möglichkeiten gibt es, Kindern aus radikalisierten Kontexten zu helfen? Die Online-Veranstaltung setzt sich mit der spezifischen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in ideologisch geprägten Umfeldern auseinander. Die Veranstaltung findet im Rahmen der dreiteiligen Online-Veranstaltungsreihe "Wachsen – Glauben – Kämpfen: Islamistische Radikalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und Familien" statt. Die Veranstaltungen können unabhängig voneinander besucht werden. Termin: 17. August 2021, 20:00-21:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: heinrich.vogel@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von TRIAS Berlin 27. und 28. August 2021, online Online-Seminar: Mehr Prävention kann nie schaden!? Wie lassen sich Arbeitsroutinen und Strukturen anpassen an ein sich rasch veränderndes Themenfeld wie der Islamismusprävention? In diesem Online-Seminar steht die kritische Reflexion der eigenen Praxis und des eigenen Wissens im Vordergrund. Zu diesem Zweck stellen die Wissenschaftler Sindyan Qasem und Philippe A. Marquardt ihre kritischen Analysen zur gemeinsamen Diskussion. In angeleiteten interaktiven Arbeitsphasen können die Teilnehmenden Kritikpunkte in die jeweils eigenen konkreten Praxiskontexte übertragen. Die Veranstaltung richtet sich an Beschäftigte und Aktive in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit sowie in Wissenschaft und Verwaltung. Termin: 27. August, 14:00 Uhr bis 28. August 2021, 16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei; die bpb übernimmt nach bestätigter Anmeldung die Kosten für Übernachtung und Verpflegung Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 31. August 2021, online Online-Workshop: Es hat Klick gemacht – Islamistische Akteur:innen und Propaganda auf Instagram Der Online-Workshop beleuchtet grundlegende Funktionsweisen der Plattform Instagram sowie deren Attraktivität für Jugendliche und erklärt, wie islamistische Akteur:innen Instagram für sich nutzen. Am Beispiel aktuell relevanter Profile wird gemeinsam analysiert, wie Islamist:innen versuchen, die Plattform für sich zu nutzen und auf welche Narrative sie dabei zurückgreifen. Der Workshop richtet sich an Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen aus der Präventions- und Interventionsarbeit (on-/offline), Fachkräfte und Interessierte. Förderungsbedingt richtet sich das Angebot vorrangig an Personen aus dem Raum Hessen und Berlin. Termin: 31. August 2021, 10:00-12:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 27. August per E-Mail an E-Mail Link: meike.kraemer@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: Violence Prevention Network September 7. September 2021, online Online-Veranstaltung: "Wir hören und wir gehorchen." – Über Spiritualität und religiöse Dogmen im Salafismus Wie geht man damit um, wenn Patient/-innen versuchen, Probleme religiös zu deuten? Welche Narrative sind dabei häufig anzutreffen? Welche Rollen können Psychotherapeut/-innen gegenüber betroffenen Patient/-innen einnehmen? In der Online-Veranstaltung geht es um die Rolle von Spiritualität und religiösen Dogmen in der salafistischen Szene und den daraus resultierenden Herausforderungen, mit denen Psychotherapeut/-innen konfrontiert werden. Die Veranstaltung findet im Rahmen der dreiteiligen Online-Veranstaltungsreihe "Wachsen – Glauben – Kämpfen: Islamistische Radikalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und Familien" statt. Die Veranstaltungen können unabhängig voneinander besucht werden. Termin: 7. September 2021, 20:00-21:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: heinrich.vogel@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von TRIAS Berlin 9. September 2021 bis 7. Mai 2022 Weiterbildung: Multiplikator:in in Jugend(sozial)arbeit und Erwachsenenbildung im Bereich Verschwörungserzählungen Die zertifizierte Weiterbildung widmet sich in sechs Modulen der Geschichte von Verschwörungen, ihren psychologischen Wirkungsweisen und Verknüpfungen mit Gender, Antisemitismus, Gewalt und Gesundheit. Die Teilnehmenden lernen pädagogisches Handwerkszeug und Methoden kennen sowie Herangehensweisen in der Beratung von und im Umgang mit Anhänger:innen oder deren Angehörigen. Die Module finden an folgenden Terminen statt: 1. Modul: 9. bis 11. September 2021 (Berlin) 2. Modul: 8. und 9. Oktober 2021 (Zoom) 3. Modul: 16. bis 18. November 2021 (Zoom) 4. Modul: 14. und 15. Januar 2022 (Zoom) 5. Modul: 11. und 12. März 2022 (Berlin) 6. Modul: 6. und 7. Mai 2022 (Berlin) Sollten Termine vor Ort pandemiebedingt nicht möglich sein, finden die Präsenzmodule ebenfalls per Zoom statt. Termin: 9. September 2021 bis 7. Mai 2022 Ort: Berlin, der genaue Ort wird noch nach Anmeldung bekannt gegeben Kosten: 150,00 Euro; anfallende Reise- und Übernachtungskosten zu den Präsenzmodulen in Berlin werden gemäß dem Bundesreisekostengesetz übernommen Anmeldung: bis zum 10. August per Einreichen des Externer Link: Bewerbungsformulars möglich an E-Mail Link: bildung@veritasberatung.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von Veritas Beratung 9. September 2021, online Online-Podiumsdiskussion: 20 Jahre 9/11 Gespräch anlässlich des 20. Jahrestages der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA und der gegenwärtigen politischen Lage in Afghanistan Podiumsgäste: Dr. Hendrik Hegemann, Politikwissenschaftler und Autor, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg Rolf Tophoven, Terrorismusexperte, Journalist und Autor Dr. Katja Mielke, Sozialwissenschaftlerin am Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC) Dr. Anja Seiffert, Projektbereichsleitung Einsatzbegleitung und -dokumentation, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften Potsdam Termin: 15. September 2021, 18:00-19:00 Uhr Ort: online, Livestream der bpb Kosten: kostenlos Anmeldung: nicht erforderlich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 13.-15. September 2021, Berlin Online-Fortbildung: Train-the-Trainer 2021 Ziel der Fortbildung ist es, pädagogisch und thematisch bereits "vorgebildete" Teilnehmer:innen in die Lage zu versetzen, selbst Fortbildungen oder vergleichbare Formate zu konzipieren und durchzuführen, die sich auseinandersetzen mit Fragen und Konflikten in Jugend(sozial)arbeit, Pädagogik, politischer Bildung und (universeller) Prävention im Themenfeld Islam, antimuslimischer Rassismus und Islamismusprävention. Die Fortbildung richtet sich unter anderem an Multiplikator:innen aus Verwaltung und Zivilgesellschaft, Betreuer:innen von Referendar:innen oder Mitarbeitende von Präventionsprojekten. Die Fortbildung wird von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus (KN:IX) angeboten. Termin: 13. bis 15. September 2021 Ort: online Kosten: Die Teilnahme am Seminar ist kostenlos. Das bundesweite Train-the-Trainer wird vor dem Hintergrund der Unsicherheit aufgrund der Corona-Lage nicht wie angekündigt in Präsenz, sondern online stattfinden. Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: jochen.mueller@ufuq.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 13. und 14., 27. und 28. September 2021, online Online-Fortbildung: Train-the-Trainer 2021 für Fachkräfte aus Berlin Ziel der fünftägigen Fortbildung ist es, pädagogischen Fachkräften Einblicke in die Lebenswelten und Perspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kontext von Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus zu geben. Außerdem bietet die Fortbildung Raum für (Selbst-)Reflektion, Fachaustausch und Vernetzung. Die Fortbildung richtet sich an pädagogische Fach- und Lehrkräfte, Multiplikator:innen, Referendar:innen, Schulpsycholog:innen und Mitarbeitende von Präventionsprojekten sowie zivilgesellschaftlichen Trägern aus Berlin. Im Oktober gibt es einen Evaluationstag zur Fortbildung, der mit den Teilnehmenden noch abgestimmt wird. Die Veranstaltung wird gefördert von der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, Berlin und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!". Termin: 13. und 14., 27. und 28. September 2021, jeweils 10:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: 40 Euro Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: fachstelle-in-berlin@ufuq.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 15. September 2021, Berlin Workshop: Framing und Radikalisierungsprävention. Wie Sprache unser Denken und Handeln beeinflussen kann Welche Botschaften und Narrative haben sich im Bereich der religiös begründeten Radikalisierung innerhalb der letzten Jahre implizit und explizit herausgebildet? Welche "geframten" Bilder erzeugen Konfliktpotentiale und können sich unterschiedliche Akteure auf eine gemeinsame Sprache einigen? Wie kann der Austausch darüber strukturiert und übergreifend funktionieren und wo beginnt die praktische Veränderung? Prof. Dr. Sabine Schiffer führt in das Thema ein, stellt eine Framing-Analyse vor und begleitet die Arbeitsgruppen durch den praxisrelevanten Austausch. Termin: 15. September 2021, 9:30-14:30 Uhr Ort: Medical School Berlin, Rüdesheimerstr. 50, 14197 Berlin Kosten: kostenlos Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Interdisziplinären Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention 15. September 2021, online Online-Seminar: Wie spreche ich über Islamismus, ohne antimuslimische Ressentiments zu bedienen? Antimuslimische Ressentiments sind in breiten Gesellschaftsschichten verankert. Auch pädagogische Settings sind nicht frei von antimuslimischen Fremdzuschreibungen. Unter diesen Voraussetzungen scheint ein Sprechen über Islamismus kaum möglich, ohne antimuslimischen Rassismus zu reproduzieren. Wie können Fachkräfte dennoch den pädagogischen Raum schützen vor einem Weltbild, das Andersdenkende, Frauen und LGBTQ diskriminiert und Antisemitismus befördert? Referentin: Canan Korucu, ufuq.de. Termin: 15. September 2021, 14:30-16:00 Uhr Ort: online, per Zoom Kosten: kostenlos Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Evangelischen Akademie Frankfurt 16. September 2021, online Online-Seminar: Demokratiegefährdung durch religiösen Fanatismus. Was zieht (junge) Menschen in den religiös begründeten Extremismus? Was unterscheidet Religiosität von religiösem Radikalismus/Extremismus? Wer sind die Akteure? Was sind Radikalisierungsmerkmale und welche Menschen werden wie und warum radikal? Wie umgehen mit Antisemitismus? Und wie kann eine sinnvolle Prävention aussehen? Referentin Sevdanur Özcan ist Religionspädagogin und Mitarbeiterin der Stadt Wuppertal im Projekt "Wegweiser" gegen gewaltbereiten Islamismus im Bergischen Land. Termin: 16. September 2021, 19:00 Uhr Ort: online, per Zoom Kosten: kostenlos Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bildungsreihe Fight for Democracy 21. September 2021, Berlin Fortbildungsreihe: Kinder in islamistisch geprägten Familien – Aufbaumodul Die Fortbildung setzt sich aus einem zweitägigen Grundmodul und einem eintägigen Aufbaumodul zusammen. Im Fokus des Aufbaumoduls stehen der Erfahrungsaustausch zu Fällen, in denen Kinder und Jugendliche involviert sind, sowie die Erarbeitung von Ansätzen zur Arbeit mit Kindern. Das Aufbaumodul richtet sich vor allem an Akteur:innen aus der Tertiärprävention und der Rückkehrkoordination. Die Fortbildungsreihe wird in verschiedenen Städten angeboten. Sollte es Corona-bedingt nicht möglich sein, die Fortbildung als Präsenzveranstaltung durchzuführen, wird es zum selben Termin eine Online-Veranstaltung geben. Termin: 21. September 2021, 9:00-16:00 Uhr Ort: Berlin Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 9. Juli per E-Mail an E-Mail Link: fachstelle.liberi@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der TGSH 22. September 2021, Berlin Workshop: Beratung in der Radikalisierungsprävention. Wie sich pädagogische Gespräche förderlich gestalten lassen Welche Ansätze der pädagogischen Beratungsarbeit haben sich in der Praxis als besonders erfolgversprechend gezeigt? Welche Rolle spielt das soziale System in der Einschätzung und weiterführenden Arbeit mit Klient/-innen? Wie kann eine Eingliederung in förderliche soziale Umfelder gelingen? Im Workshop stellen verschiedene Akteure aus der Praxis ihre Ansätze der Beratungsarbeit und ihre Arbeitsweise vor und diskutieren mit den Teilnehmenden. Termin: 22. September 2021, 9:30-14:30 Uhr Ort: Medical School Berlin, Rüdesheimerstr. 50, 14197 Berlin Kosten: kostenlos Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Interdisziplinären Kompetenznetzwerks Radikalisierungsprävention 24. und 25. September 2021, online Online-Fortbildung: Train-the-Trainer 2021 für Fachkräfte aus Bayern Ziel der zweitägigen Fortbildung ist es, pädagogischen Fachkräften Einblicke in die Lebenswelten und Perspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kontext von Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus zu geben. Außerdem bietet die Fortbildung Raum für (Selbst-)Reflektion, Fachaustausch und Vernetzung. Die Fortbildung richtet sich an pädagogische Fachkräfte der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit sowie an Multiplikator:innen aus Verwaltung und Zivilgesellschaft in Bayern im Themenfeld Islam, Rassismus und Islamismusprävention. Die Veranstaltung wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" sowie vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales. Termin: 24. und 25. September 2021, jeweils 9:00-18:00 Uhr Ort: online Kosten: 25 Euro Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: m.ayanoglu@ufuq.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq.de 24. und 25. September 2021, online Online-Seminar: 20 Jahre 9/11. Einfluss von Terrorismus- und Sicherheitsdiskursen auf Heranwachsende Wie sehr prägt der Sicherheitsdiskurs die öffentlichen Bilder von "dem" Islam und "den" Musliminnen und Muslimen? Welche Wirkung haben diese Diskurse auf muslimische (oder muslimisch gelesene) Heranwachsende? Wie können diskriminierungssensible Jugendprojekte aussehen, in denen Jugendliche eigene Ängste artikulieren, mediale Bilder verarbeiten sowie ihre politischen Haltung stärken können? Diesen und weiteren Fragen widmet sich das Seminar mit einer Mischung aus Inputs und interaktiven Gruppenphasen. Termin: 24. September 2021, 14:00-18:00 Uhr und 25. September 2021, 9:30-14:00 Uhr Ort: online, per Zoom Kosten: kostenlos Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 24. September 2021, online Online-Workshop: Gender und Online-Radikalisierung – Frauen als extreme Akteurinnen auf Social Media Der Online-Workshop setzt sich mit der Rolle von Frauen als Online-Akteurinnen im Bereich des islamistischen Extremismus auseinander. In der Vergangenheit wurden Frauen häufig lediglich als unwissende Opfer von Propaganda wahrgenommen und dargestellt. Dabei werden zum einen veraltete Geschlechterbilder reproduziert und zum anderen werden aktive Rollen ignoriert, die Frauen als Trägerinnen und Vermittlerinnen islamistischer Ideologien spielen. Die Frage, wie Frauen im Kontext von islamistischem Extremismus auf Social-Media-Plattformen agieren, steht daher im Mittelpunkt des Workshops. Der Workshop richtet sich an Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen aus der Präventions- und Interventionsarbeit (on-/offline), Fachkräfte und Interessierte. Förderungsbedingt richtet sich das Angebot vorrangig an Personen aus dem Raum Hessen und Berlin. Termin: 24. September 2021, 10:00-12:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 22. September per E-Mail an E-Mail Link: meike.kraemer@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: Violence Prevention Network 28. September 2021, Mainz Fortbildungsreihe: Kinder in islamistisch geprägten Familien – Aufbaumodul Die Fortbildung setzt sich aus einem zweitägigen Grundmodul und einem eintägigen Aufbaumodul zusammen. Im Fokus des Aufbaumoduls stehen der Erfahrungsaustausch zu Fällen, in denen Kinder und Jugendliche involviert sind, sowie die Erarbeitung von Ansätzen zur Arbeit mit Kindern. Das Aufbaumodul richtet sich vor allem an Akteur:innen aus der Tertiärprävention und der Rückkehrkoordination. Die Fortbildungsreihe wird in verschiedenen Städten angeboten. Sollte es Corona-bedingt nicht möglich sein, die Fortbildung als Präsenzveranstaltung durchzuführen, wird es zum selben Termin eine Online-Veranstaltung geben. Termin: 28. September 2021, 9:00-16:00 Uhr Ort: Mainz Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 9. Juli per E-Mail an E-Mail Link: fachstelle.liberi@tgsh.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der TGSH 28.-29. September 2021, online Online-Basisschulung: Radikalisierungsprävention für Jugendliche und junge Erwachsene – Kurskonzepte erfolgreich umsetzen Die Veranstaltung wird vom Projekt "Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt" des Deutschen Volkshochschul-Verband e. V. organisiert. Themen der Veranstaltung sind unter anderem Extremismus und seine Erscheinungsformen in Deutschland, Radikalisierungsmotive und -prozesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Praktische Ansätze der Präventionsarbeit. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Termin: 28.-29. September 2021, 9:30-14:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de Oktober 4. und 5. Oktober 2021, online Fachtagung: Von Empowerment und Abwertung, Emanzipation und Kommerz Bei der Fachtagung geht es um HipHop-Kultur in der jugendkulturellen politischen Bildung sowie Radikalisierungsprävention. Außerdem werden folgende Themen besprochen: das Verhältnis von Gewaltdarstellungen und Gewaltausübung, anti-demokratische und anti-emanzipatorische Strömungen im Rap, Geschichte und gegenwärtige Potenziale von Antirassismus, Emanzipation und Empowerment im Hip-Hop und Anknüpfungspunkte für politische (Jugend-)Bildung. Die Tagung findet im Rahmen der Aktivitäten des Verstärker-Netzwerks im Bereich der Islamismusprävention statt. Termin: 4. und 5. Oktober 2021 Ort: pentahotel Leipzig, Großer Brockhaus 3, 04103 Leipzig Kosten: Teilnahme und Übernachtung sind kostenfrei. Die Anreisekosten werden nicht übernommen. Anmeldung: bis zum 18. August Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 6. Oktober 2021, Berlin Workshop: Kein Zugang!? Wie kann Vermittlung von jungen Menschen in radikalisierungspräventive Programme gelingen? Wie kann religiös begründete Radikalisierung bei jungen Menschen erkannt werden, und wie können sie erfolgreich in ambulante Programme der Radikalisierungsprävention vermittelt werden? Der Workshop bietet die Möglichkeit, über die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Arbeit in der offenen Kinder- und Jugendhilfe und im Jugendamt ins Gespräch zu kommen. Dabei geht es vor allem um die Frage, in welchem Kontext die Teilnehmer/-innen mit religiös begründeter Radikalisierung in Berührung gekommen sind. Außerdem werden Erfahrungswerte aus einem Forschungsprojekt zu dem Thema vorgestellt, um Handlungsmöglichkeiten für zuweisende Stellen zu formulieren. Termin: 6. Oktober 2021, 9:30-14:30 Uhr Ort: Medical School Berlin, Rüdesheimerstr. 50, 14197 Berlin Kosten: kostenlos Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Interdisziplinären Kompetenznetzwerks Radikalisierungsprävention 21. und 22., 28. und 29. Oktober, 4. November 2021, online Online-Fortbildung: Train-the-Trainer für Fachkräfte aus Psychologie, Therapie und Pädagogik Was kann die Psychotherapie in der selektiven und indizierten Prävention leisten? Wie können pädagogische Fachkräfte selbst Problemlagen erkennen und von Methoden der Psychotherapie praktisch profitieren? Welche Hilfsmittel stehen ihnen dabei zur Verfügung? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die digitale Train-the-Trainer-Qualifizierung des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus (KN:IX). Erörtert werden verschiedene Aspekte von (De-)Radikalisierungsprozessen sowie praxisrelevanten Methoden, um pädagogische Präventionsarbeit und Psychotherapie zu vernetzen. Dazu sind eine Reihe von Expert:innen aus psychologischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Fachgebieten eingeladen. Die Fortbildung richtet sich an angehende wie erfahrene Fachkräfte aus den Bereichen Extremismusprävention und Deradikalisierung. Sie findet in drei separaten Modulen statt. Termin: 21. und 22., 28. und 29. Oktober, 4. November 2021 Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten des Externer Link: Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus (KN:IX) 22. und 23. Oktober 2021, Georgsmarienhütte Seminar: Ausprägungen des türkischen Ultranationalismus als Herausforderung für die (politische) Jugendbildung Im Seminar werden verschiedene Ausprägungen des türkischen Ultranationalismus in den Blick genommen – beispielsweise die sogenannten Grauen Wölfe. Dabei werden Geschichte und Ideologie des türkischen Ultranationalismus eine Rolle spielen; der Fokus wird jedoch auf den pädagogischen und gesellschaftlichen Herausforderungen liegen, die in diesem Zusammenhang auftreten. Termin: 22. und 23. Oktober 2021 Ort: Bildungsstätte Haus Ohrbeck, Am Boberg 10, 49124 Georgsmarienhütte Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 26. Oktober 2021, online Online-Veranstaltung: "Bruder, sei ein Löwe!" – Über Gender-Konstruktionen in der salafistischen Szene Wie ist die Rückbesinnung auf tradierte Rollenbilder zu deuten? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die psychotherapeutische Praxis? In der Online-Veranstaltung geht es um traditionelle Rollenbilder im Salafismus wie das religiös begründete Verständnis der Rollen von Männern und Frauen, das sich gegen moderne Geschlechtervorstellungen richtet. Die Veranstaltung findet im Rahmen der dreiteiligen Online-Veranstaltungsreihe "Wachsen – Glauben – Kämpfen: Islamistische Radikalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und Familien" statt. Die Veranstaltungen können unabhängig voneinander besucht werden. Termin: 26. Oktober 2021, 20:00-21:30 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: heinrich.vogel@violence-prevention-network.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von TRIAS Berlin 26. Oktober 2021, online Online-Fortbildung: Identitätsfacette Religion. Islam und Schule in der Migrationsgesellschaft Wie beeinflussen aktuelle öffentliche Diskussionen über den Islam die eigene Wahrnehmung und damit auch die pädagogische Praxis? Wie können Lehrerinnen und Lehrer dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler nicht auf ihr "Muslimisch-sein" reduziert werden? Wie kann man als Lehrkraft unterschiedliche Perspektiven einbeziehen und gleichzeitg darauf achten, dass Religionszugehörigkeit nicht als einzig prägendes Identitätsmerkmal herangezogen wird? Die Fortbildung greift Fragen von Lehrerinnen und Lehrern auf und zeigt ihnen, wie sie auf problematische Positionen und Verhaltensweisen reagieren können. Sie ermöglicht die Auseinandersetzung mit schulischen Konflikten und Aushandlungsprozessen in der Migrationsgesellschaft. Durch ein praxisorientiertes Programm regt sie zu Austausch und Selbstreflexion an. Termin: 26. Oktober 2021 Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich bis zum 20. Oktober Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 29. und 30. Oktober 2021, Bad Nauheim Seminar: Die Corona-Pandemie in Wahrnehmung und Strategien demokratiefeindlicher Gruppierungen Welche Rolle spielt die Pandemie für ideologisch gefestigte Demokratiefeinde? Lassen sich Strategien von islamistischen und rechtsradikalen Gruppen mit Blick auf Corona identifizieren? Und wie kann Verschwörungsdenken sinnvoll und mit pädagogischer Haltung entgegengetreten werden? Diesen Fragen widmet sich das Seminar in interaktiver Form. Termin: 29. und 30. Oktober 2021 Ort: Bildungshaus Bad Nauheim, Parkstraße 17, 61231 Bad Nauheim Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung November 3. November 2021 bis 20. Mai 2022, online oder Bremen Online-Weiterbildung: CleaRTeaching – Eine Weiterbildung zum Umgang mit Radikalisierungsprozessen im schulischen Kontext Die Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. bietet zweimal eine Weiterbildung zum/zur Clearingbeauftragten an. Das Angebot richtet sich an Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter/-innen an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen, die sich im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Jugendlichen fortbilden möchten. Die Weiterbildung ist gefördert und zertifiziert von der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie findet von November 2021 bis Mai 2022 online und voraussichtlich in Bremen sowie von März bis Dezember 2022 in Bonn statt. Die Inhalte der beiden Weiterbildungsdurchgänge sind identisch. Termin: 3. November 2021 bis 13. Dezember 2022 Ort: Online oder Bremen Kosten: 450 Euro (inkl. Übernachtung und Vollpension) Anmeldung: bis zum 8. Oktober Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Interner Link: Seiten von der bpb 3. und 4. November 2021, online Online-Fachaustausch: Macht von Sprache im Kontext der Präventionsarbeit Das Projekt Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt (PGZ) veranstaltet am 3. und 4. November 2021 den digitalen DVV-Fachaustausch. Was sind die gesellschaftlichen Auswirkungen von Sprache? Welche gesellschaftlichen Gruppen werden durch Sprache repräsentiert und welche Haltung vermittle ich als Pädagoge und Pädagogin mit meiner Sprache? Diese Fragestellungen werden in unterschiedlichen Vorträgen und Workshops thematisiert und diskutiert. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Zielgruppe der Veranstaltung sind vhs-Mitarbeitende, Respekt Coaches und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Der Fachaustausch wird von Gebärdensprachdolmetscher:innen begleitet. Termin: 3. und 4. November 2021, 09:45-14:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: volkshochschule.de 4. November 2021, online Online-Fachaustausch: Internationale Trends in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus Was sind die Herausforderungen in der Deradikalisierung und Distanzierung von islamistischem Extremismus? Welche Praktiken haben sich in der Tertiärprävention bewährt? Im Rahmen des Fachaustauschs soll über diese Fragen diskutiert werden. Anlass und Impulsgeber ist das Projekt „International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism“ (InFoEx). Internationale Akteure aus Praxis, Forschung und Behörden haben dabei Deradikalisierungs- und Distanzierungsmaßnahmen untersucht. Während des Fachaustausches stellen sie ihre wichtigsten Ergebnisse vor. Im Anschluss können sich die Teilnehmenden in kleinen Gruppen mit den Expertinnen und Experten des InFoEx-Netzwerks austauschen. Abschließend wird sich ein internationales Panel mit den zukünftigen Herausforderungen der Tertiärprävention befassen. Die Veranstaltung findet auf Englisch mit deutscher Simultanübersetzung statt. Die Kommunikation in den Kleingruppen erfolgt auf Englisch bzw. Deutsch. Termin: 4. November 2021, 9:00-14:30 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der DGAP 4. November 2021, online Online-Fachtagung: Evaluation von Programmen der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention Ziel der Tagung des Deutschen Jugendinstituts ist es, Einblicke in Herausforderungen, Bedarfe sowie Potenziale von Evaluationsansätzen und Methoden zu geben und diese zu diskutieren. In drei parallelen Foren werden Expertinnen und Experten zu den Themen Wirkung, Bewertung und Zusammenarbeit vortragen. In einer anschließenden Podiumsdiskussion wird die Thematik durch Vertreterinnen und Vertreter aus Fachpraxis, Wissenschaft und Politik diskutiert. Termin: 4. November 2021, 9:30-15:15 Uhr Ort: online, die Veranstaltung findet als Online-Konferenz mit "Cisco Webex" statt Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf Externer Link: dji.de 5. und 6. November 2021, online Online-Seminar: Legalistischer oder gewaltablehnender Islamismus als Herausforderung für die Prävention Europaweit können gewaltverzichtende islamistische Gruppierungen und Bewegungen Zulauf verzeichnen und gelangen durch medienwirksame Aktionen in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Als problematisch erweist sich ihre langfristige gesellschaftliche und politische Wirkung. Die meisten vertreten Ziele und Ideologien, die demokratische Strukturen zu überwinden versuchen, sich gegen ein offenes pluralistisches Gesellschaftsbild richten und damit bestimmte Menschengruppen grundlegend abwerten. Das Online-Seminar nähert sich dem Thema mithilfe von zwei Referierenden aus der Islamwissenschaft, die auch selbst in der Präventionsarbeit tätig sind. Termin: 5. und 6. November 2021 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 9. November 2021, online Online-Fachgespräch: Call of Prev. Digitale Spielkultur und phänomenübergreifende Präventionsarbeit Die Veranstaltung beschäftigt sich mit einem interaktiven Mobile Game als Türöffner der politischen Bildung mit Jugendlichen. Der Termin findet statt im Rahmen der „Online-Fachgespräche: Innovative Ansätze der politischen Bildung und universellen Islamismusprävention“, einer Veranstaltungsreihe mit Modellprojekten des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus (KN:IX). Die Fachgespräche bieten Gelegenheit, mit Mitarbeiter:innen von innovativen Modellprojekten ins Gespräch zu kommen und sich über Methoden und Herausforderungen auszutauschen. Sie wenden sich an Fachkräfte, die im Arbeitsfeld der Universalprävention mit ähnlichen Fragen konfrontiert sind, und bieten Raum, eigene Angebote zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Termin: 9. November 2021, 14:30-15:45 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: ufuq.de 9. November 2001, Dortmund Fachaustausch: Sprechen über Anschläge und Hasstaten im pädagogischen Raum Wie können tagesaktuelle Geschehnisse im Kontext von Extremismus und Hassideologien aufgearbeitet und dabei die Lebenswelt und Erfahrungen von Schüler:innen berücksichtigt werden? Welche Ansätze haben sich bewährt? Wie kann mit menschenverachtenden oder demokratiefeindlichen Positionen umgegangen werden? Welche Unterstützungsangebote gibt es für Lehrkräfte? Bei der Veranstaltung können sich die Teilnehmenden mit Dr. Jochen Müller, Islamwissenschaftler und Co-Geschäftsführer des Vereins Ufuq.de sowie mit Ansprechpersonen der Wegweiser-Beratungsstelle Dortmund zu diesen Fragen austauschen. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projekts "Muslime im Dialog" statt. Termin: 9. November 2021, 17:00-19:30 Uhr Ort: Multikulturelles Forum e. V., Friedensplatz 7, 44135 Dortmund Veranstalter: Multikulturelles Forum e.V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: kleinitz@multikulti-forum.de oder E-Mail Link: goemleksiz@multikulti-forum.de Weitere Informationen auf den Seiten des Externer Link: Multikulturellen Forum e. V. 10. und 11. November 2021, online Online-Fachtag: Auswirkungen des Sicherheitsdiskurses auf die Präventionsarbeit von religiös begründetem Extremismus Versicherheitlichung ist ein Thema, das in diversen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und der Politischen Bildung seit Jahren diskutiert und kritisch hinterfragt wird. Speziell in der Präventionsarbeit von religiös begründetem Extremismus erhöhen die gesellschaftliche Wahrnehmung und die mediale Berichterstattung den Druck auf die beteiligten Akteure aus Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Politik noch zusätzlich. Welche Auswirkungen hat der Sicherheitsdiskurs auf die beteiligten Organisationen und Institutionen? Wie kann die Zusammenarbeit in diesem Spannungsfeld gestaltet werden? Und wie ist sie unter Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen überhaupt realisierbar? Diesen Fragen soll sich im Verlauf des Online-Fachtags aus unterschiedlichen Perspektiven genähert werden. Termin: 10. November 2021, 14:00-17:30 Uhr; 11. November 2021, 10:00-14:45 Uhr Ort: online, über Zoom Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Ablauf und Programm auf den Seiten der Externer Link: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus 10. und 11. November 2021, online Online-Fachkonferenz: "Let‘s play: Jihad and Reconquista" –Gamification als Strategie des politischen Extremismus Unter dem Stichwort Gamification liegt der Fokus der Fachkonferenz von KORA auf der Integration von Spielelementen, kulturellen Codes bestimmter Gaming Communities sowie Spielen an sich in Propagandastrategien von Extremist/-innen. Die Fachkonferenz ermöglicht einen Dialog zwischen Menschen aus Politik und Wissenschaft der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit sowie Gamer/-innen. Ansätze zur Prävention sowie Resilienzstärkung in Gaming Communitys werden deutlich gemacht. Termin: 10. November 2021, 19:00-20:30 Uhr; 11. November 2021, 9:00-15:45 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf dem Externer Link: Beteiligungsportal des Landes Sachsen 11. November 2021, Berlin und 16. November 2021, Hannover Weiterbildung: Vermittlung von juristischen Grundkenntnissen im Bereich Familienrecht Die Fachstelle "Liberi – Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien" der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V. organisiert im November eintägige Weiterbildungen. Thema ist die Vermittlung von juristischen Grundkenntnissen in Sachen Familienrecht. Das Weiterbildungsangebot richtet sich an Akteure und Berater/-innen im Bereich religiös begründeter Extremismus. Im Rahmen der Veranstaltung vermittelt eine Rechtsanwältin allgemeine Inhalte des Familienrechts, zum Beispiel zu Trennungs- und Scheidungsfällen, Vormundschaft und Sorgerecht. Termin: 11. November 2021 und 16. November 2021 Ort: Berlin und Hannover Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 27. Oktober 2021 per E-Mail an E-Mail Link: fachstelle.liberi@tgsh.de Weitere Informationen bei der Externer Link: Fachstelle Liberi Oktober 2021 bis März 2022, online und Berlin Weiterbildung: Arbeit mit psychosozial auffälligen jungen Menschen Die Denkzeit-Gesellschaft entwickelt wissenschaftlich fundierte Programme gegen Gewalt, Delinquenz und Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen und bildet interessierte Kolleginnen und Kollegen aus. Im Rahmen einer modular aufgebauten Weiterbildung ab Oktober 2021 lassen sich unterschiedliche Weiterbildungsziele erreichen, unter anderem die Ausbildung zum/zur "Denkzeit-Trainer/-in" oder "Blickwechsel-Trainer/-in". Die Teilnehmenden lernen Theorien zu psychologischen Grundlagen, diagnostischen Methoden und Strategien für den Umgang mit Trauma, Moral und Radikalisierung in der Jugendarbeit und erproben diese in der Praxis. Die Weiterbildung findet in einem Hybridformat statt. Theoretische Inhalte werden in Form kurzer Online-Seminare vermittelt, die Praxisteile finden als Präsenzveranstaltungen in Berlin statt. Termine: Oktober 2021 bis März 2022 Ort: online und Berlin Kosten: je nach Modul zwischen 875 und 1.975 Euro Anmeldung: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Denkzeit-Gesellschafft 16. November 2021, Fulda Fachtagung: Radikal, fundamentalistisch, anders – Fachkräfte im Kontakt Die Fachtagung gibt Fach- und Leitungskräften Hinweise zur Bewältigung praktischer und ethischer Dilemmata im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und Eltern, die radikalisierten Überzeugungen anhängen oder gewaltbereit extremistisch sind. Fachkräfte aus Jugendämtern und den verschiedenen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe sowie Fachkräfte aus der Radikalisierungsprävention und Deradikalisierung können bei der Fachtagung miteinander und mit Expert:innen aus beiden Feldern ins Gespräch kommen. Termin: 16. November 2021, 10:00-17:00 Uhr Ort: ParkHotel Kolpinghaus Fulda, Goethestraße 13, 36043 Fulda (wenn Präsenzveranstaltungen nicht möglich sein sollten, findet die Fachtagung online statt) Kosten: Kostenfrei. Im ParkHotel Fulda wurde ein Zimmerkontingent für Vorübernachtungen am 15.11. eingerichtet. Unter dem Stichwort "RaFiK-Tagung" können Zimmer zum Preis von 75 Euro (inkl. Frühstück) gebucht werden. Anmeldung: per E-Mail an E-Mail Link: wrede@socles.de Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von Cultures Interactive 16. November 2021, online Online-Fachgespräch: Kamil 2.0. Ganzheitliche Präventionsarbeit gegen islamistische Ansprachen Die Veranstaltung beschäftigt sich mit politischer Bildung in der Gemeindearbeit. Konkret geht es um Bildungs- und Bindungsarbeit zur Stärkung eigener Standpunkte in religiösen Fragen. Der Termin findet statt im Rahmen der „Online-Fachgespräche: Innovative Ansätze der politischen Bildung und universellen Islamismusprävention“, einer Veranstaltungsreihe mit Modellprojekten des Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX). Die Fachgespräche bieten Gelegenheit, mit Mitarbeiter:innen von innovativen Modellprojekten ins Gespräch zu kommen und sich über Methoden und Herausforderungen auszutauschen. Sie wenden sich an Fachkräfte, die im Arbeitsfeld der Universalprävention mit ähnlichen Fragen konfrontiert sind, und bieten Raum, eigene Angebote zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Termin: 16. November 2021, 14:30-15:45 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: ufuq.de 17. November 2021, online Online Politik- und Pressegespräch: Umgang mit Rückkehrer:innen Rückkehrer:innen und die (ausbleibende) Rückführung deutscher Staatsangehöriger aus den Camps in den kurdischen Gebieten sind auf politischer, zivil- und gesamtgesellschaftlicher Ebene relevante Themen. Dazu gibt es bei dieser Online-Veranstaltung Vorträge von Prof. Peter Neumann (King's College London) und Sofia Koller (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V.). Mit Claudia Dantschke (Grüner Vogel e. V.), Lamya Kaddor (Bündnis 90/Die Grünen), Helge Lindh (SPD) und Rüdiger José Hamm (BAG RelEx) wird über den Umgang mit Rückkehrer:innen aus dem so genannten Islamischen Staat diskutiert. Termin: 17. November 2021, 17:00-19:30 Ort: online Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Externer Link: BAG RelEx 18. November 2021, online Online-Informationsveranstaltung: Weiterbildung CleaRTeaching – Umgang mit Radikalisierungsprozessen im schulischen Kontext Wie erkenne ich Radikalisierungsprozesse an der Schule? Und wie reagiere ich pädagogisch angemessen darauf? Darum geht es bei CleaRTeaching, einem bundesweiten Weiterbildungsprojekt für Lehrkräfte und Fachkräfte der Schulsozialarbeit. Im Rahmen der vorbereitenden Informationsveranstaltung wird CleaRTeaching von dem Projektteam selbst vorgestellt. Anschließend gibt es Raum für Fragen und Austausch der Teilnehmenden. Termin: 18. November 2021, 14:00-16:00 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: bis zum 17. November 2021 Interner Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung 23. November 2021, Berlin Online-Fachgespräch: „Mehr als zwei Seiten“. Eine Schulreise von Neukölln nach Israel und in die palästinensischen Gebiete Die Veranstaltung beschäftigt sich mit rassismus- und antisemitismuskritischen Ansätzen in der Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt. Der Termin findet statt im Rahmen der „Online-Fachgespräche: Innovative Ansätze der politischen Bildung und universellen Islamismusprävention“, einer Veranstaltungsreihe mit Modellprojekten des Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX). Die Fachgespräche bieten Gelegenheit, mit Mitarbeiter:innen von innovativen Modellprojekten ins Gespräch zu kommen und sich über Methoden und Herausforderungen auszutauschen. Sie wenden sich an Fachkräfte, die im Arbeitsfeld der Universalprävention mit ähnlichen Fragen konfrontiert sind, und bieten Raum, eigene Angebote zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Termin: 23. November 2021, 17:00-18:15 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: ufuq.de 25. November 2021, online Online-Fachgespräch: Kindeswohl als extremismusübergreifende Herausforderung In Impulsvorträgen wird das Thema Kindeswohl in den Bereichen Islamismus und Salafismus, Rechtsextremismus, Verschwörungstheorien sowie sogenannten Sekten beleuchtet. Anschließend findet eine Diskussion zu den folgenden Fragestellungen statt: Welche Chancen und Risiken bergen extremistisch geprägte Familiensysteme für Kinder und Jugendliche? Welche Ansätze gibt es, um mit ihnen umzugehen? Termin: 25. November 2021, 14:00-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmmeldung: keine Anmeldung erforderlich; Teilnahme am Online-Fachgespräch über die Externer Link: Plattform GoToMeeting Weitere Informationen auf den Seiten von der Externer Link: Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein 25. November 2021, online Online-Fakultätstag: Der Islam gehört zu Deutschland – und wie!? Wie müssen relevante Arbeitsfelder angelegt werden, um der wachsenden Bedeutung des Islam fachlich angemessen Rechnung zu tragen? Zu dieser und weiteren Fragen diskutieren Studierende und Vertreter:innen von Wissenschaft und Praxis gemeinsam bei Plenarvorträgen und in anwendungsbezogenen Workshops. Außerdem werden die öffentlichen Debatten um unterschiedliche muslimische Glaubensauslegungen sowie ihre sozialen und politischen Implikationen aufgegriffen. Termin: 25. November 2021, 09:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Esslingen 26. November 2021, online Online-Fachtag: PrEval – Evaluation von Präventionsmaßnahmen PrEval beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Evaluation und Begleitung von Maßnahmen der Extremismusprävention, politischen Bildung und Gewaltprävention. Ziel des Projektes ist es, im Dialog mit verschiedenen Akteuren aus Fachpraxis, Sicherheitsbehörden, Verwaltung und Wissenschaft den aktuellen Wissensstand zu erheben und gemeinsam Methoden der Evaluation zu diskutieren. Auf dem PrEval-Fachtag 2021 werden die bisherigen Ergebnisse des Projekts vorgestellt und reflektiert. Termin: 26. November 2021, 9:45-16:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmmeldung: bis zum 18. November 2021 Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von PrEVal 26. November 2021, Berlin Fortbildung: Der Nahostkonflikt – (k)ein Problem für pädagogische Arbeit? Ziel der Fortbildung ist es, Unsicherheiten bei der pädagogischen Bearbeitung des Themas Nahostkonflikt abzubauen und Fachkräften Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dazu werden die eigenen Erfahrungen und Fragen der Teilnehmenden als Ausgangspunkt genommen. Mittels unterschiedlicher Methoden (interaktiven Übungen, Filmmaterial, Theater) wird im Workshop an der eigenen Einstellung im Umgang mit möglichen Konfliktlagen gearbeitet. Im Fokus stehen dabei Rassismus, Diskriminierung sowie politisch-gesellschaftliche Machtverhältnisse. Der Workshop richtet sich hauptsächlich an Multiplikator:innen, Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen. Termin: 26. November 2021, 15:00-19:30 Uhr Ort: Berlin Kosten: 20 Euro Anmmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung 30. November 2021, online Online-Fachkonferenz: Radikalisierungsprävention in NRW Wie können die Kapazitäten von Multiplikator:innen und Fachkräften gestärkt werden? Darum geht es auf der Online-Fachkonferenz des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC). Dafür diskutiert das BICC seine Erkenntnisse zu lokalen Herausforderungen und Bedarfen der Radikalisierungsprävention in Nordrhein-Westfalen aus dem Forschungszeitraum 2018 bis 2021. Einerseits werden Tätigkeiten der primären und sekundären Prävention betrachtet, die in lokalen Gemeinden sowie auch in Haftanstalten NRWs anzutreffen sind. Andererseits geht es um die Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung. Eine besondere Herausforderung stellt dabei der Umgang mit Rückkehrenden aus dem sogenannten "Islamischen Staat" dar. Termin: 30. November 2021, 14:00-17:00 Uhr Ort: online Kosten: kostenfrei Anmmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten des BICC Dezember 8. Dezember 2021, online Online-Fachgespräch: Nachspielzeit. Fußball im Fokus politischer Bildung Die Veranstaltung beschäftigt sich mit Chancen und Grenzen von politischer Bildung im Haftkontext. Der Termin findet statt im Rahmen der „Online-Fachgespräche: Innovative Ansätze der politischen Bildung und universellen Islamismusprävention“, einer Veranstaltungsreihe mit Modellprojekten des Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX). Die Fachgespräche bieten Gelegenheit, mit Mitarbeiter:innen von innovativen Modellprojekten ins Gespräch zu kommen und sich über Methoden und Herausforderungen auszutauschen. Sie wenden sich an Fachkräfte, die im Arbeitsfeld der Universalprävention mit ähnlichen Fragen konfrontiert sind, und bieten Raum, eigene Angebote zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Termin: 08. Dezember 2021, 14:30-15:45 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: ufuq.de 14. Dezember 2021, online Online-Fachgespräch: „Einmal brainwash und zurück“. Verschwörungsmythen erleben Die Veranstaltung beschäftigt sich mit einer realen und virtuellen Erlebniswelt für Kinder und Jugendliche zur Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen und verwandten Themen. Der Termin findet statt im Rahmen der „Online-Fachgespräche: Innovative Ansätze der politischen Bildung und universellen Islamismusprävention“, einer Veranstaltungsreihe mit Modellprojekten des Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX). Die Fachgespräche bieten Gelegenheit, mit Mitarbeiter:innen von innovativen Modellprojekten ins Gespräch zu kommen und sich über Methoden und Herausforderungen auszutauschen. Sie wenden sich an Fachkräfte, die im Arbeitsfeld der Universalprävention mit ähnlichen Fragen konfrontiert sind, und bieten Raum, eigene Angebote zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Termin: 14. Dezember 2021, 14:30-15:45 Uhr Ort: online, über Zoom Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Seiten von Externer Link: ufuq.de Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-02-06T00:00:00"
"2021-01-04T00:00:00"
"2023-02-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/325084/termin-rueckblick-2021/
Termine aus dem Arbeitsfeld "Radikalisierungsprävention" aus dem Jahr 2021.
[ "Termine", "Islamismus", "Prävention", "Deradikalisierung", "Veranstaltungshinweise und Fortbildungen", "religiös begründeter Extremismus" ]
30,212
DOPPEL: Contributions of Participatory Budgeting to Climate Change Adaptation and Mitigation | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
On the basis our 2020 thematic priorities, the Externer Link: IOPD requested a study on climate change adaptation and citizen participation, which was charged to Yves Cabannes, Urban Planner and activist specializing in urban and municipal governance, Emeritus Professor of Development Planning (UCL / DPU). The study is co-published in September 2020 by OIDP-UCLG together with Externer Link: Enda ECOPOP, Externer Link: FMDV Global Fund for Cities Development, Externer Link: Kota Kita Foundation and University College London under the title Contributions of Participatory Budgeting to Climate Change Adaptation and Mitigation: Current Local Practices Around the World & Lessons from the Field. The study builds on the abstracts, exchanges and contributions from two international sessions on contributions of participatory budgeting (PB) to climate change adaptation and mitigation: IOPD Conference in Mexico, December 2019 and World Urban Forum in Abu Dhabi, February 2020. It also draws on climate sensitive PB initiatives in 15 participating cities and regions from different continents that willingly documented their ongoing experience. For more information and the download of the study please visit Externer Link: OIDP.
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Network PB Germany
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-09-13T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/513012/doppel-contributions-of-participatory-budgeting-to-climate-change-adaptation-and-mitigation/
Read a study initiated by various organisations on climate change adaptation and citizen participation with examples from countries around the world like France, Ecuador or Indonesia.
[ "Participatory Budgeting - PB", "Bürgerhaushalt – Bürgerbudget", "participation", "climate change" ]
30,213
„Da kommt was“ | Presse | bpb.de
Die neue Ausgabe des Jugendmagazins fluter der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb widmet sich dem Thema „Klimawandel“. Auf 50 Seiten beleuchtet das Heft die weltweite Debatte um den Klimawandel aus unterschiedlichen Perspektiven. Kritische Befunde zu Luftverschmutzung, Artensterben und die Abholzung der Regenwälder, die Erosion der Böden oder der Anstieg des Meeresspiegels verweisen auf einen brisanten Zusammenhang: Das Verhältnis der Menschen zu ihren natürlichen Lebensgrundlagen muss neu gestaltet werden. Es geht um viel mehr als Wetterumschwünge oder aussterbende Tierarten in von Europa weit entfernten Gebieten der Erde. Es geht um weltweite Abstimmungen zu Fragen der Klimapolitik, mühsame Prozesse mit Rückschlägen und Widersprüchen. Der Klimawandel bedroht Menschen auf der ganzen Welt unterschiedlich. Er wird neue Gewinner und Verlierer erzeugen. Und: Klimaschutz birgt sozialen Sprengstoff. Ob es ausreicht, nur die Preise für klimaschädliche Produkte zu verteuern oder diese ganz zu verbieten, ohne erschwingliche Alternativen zu schaffen, ist umstritten – weil es Arme umso härter träfe. Der neue fluter Klimawandel widmet sich verschiedenen Regionen und den Geschichten der Menschen, die dort mit dem Klimawandel, seinen Vorboten und seinen Folgen leben - zum Beispiel in Vietnam oder auf Kiribati. Das Heft ist ab sofort unter Interner Link: www.bpb.de/fluter bestellbar. fluter ist das Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Printmagazin erscheint in einer Auflage von 400.000 Exemplaren viermal im Jahr und kann unter Externer Link: www.fluter.de/heft-abo oder per E-Mail an Externer Link: abo@heft.fluter.de kostenfrei bestellt werden. Darüber hinaus bietet die Online-Plattform Externer Link: fluter.de Jugendlichen zwischen 16 und 22 Jahren täglich neue Inhalte aus den Bereichen Politik und Kultur und möchte zum Demokratieverständnis junger Menschen beitragen – mit Diskussionen, Film- und Buchbesprechungen, Aktuellem und monatlichen Themenschwerpunkten. Das fluter-Cover als Download zur Verwendung bei der Berichterstattung gibt es unter Externer Link: presse@bpb.de Cover als Interner Link: PDF< Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-26T00:00:00"
"2019-03-29T00:00:00"
"2021-08-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/288464/da-kommt-was/
Die neue Ausgabe des Jugendmagazins fluter der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb widmet sich dem Thema „Klimawandel“. Auf 50 Seiten beleuchtet das Heft die weltweite Debatte um den Klimawandel aus unterschiedlichen Perspektiven.
[ "fluter", "Klimawandel", "Klima", "fridaysforfuture" ]
30,214
Info 01.01 Brainstorming und Umfragen im Unterricht | Digitalisierung - Meine Daten, meine Entscheidung! | bpb.de
Auch im Unterricht können Umfrage- und Feedbacktools vielfältig eingesetzt werden, sei es für ein schnelles Feedback, ein digitales Brainstorming, kurze Wissensabfragen oder sonstige Onlineumfragen zu Meinungen, Abstimmungen u.v.m. Neben einigen speziell für den Unterricht konzipierten Anwendungen eignen sich dazu auch Feedbacktools, die ursprünglich aus dem Bereich der Event Management Software kommen. Es gibt verschiedene Angebote mit unterschiedlich umfangreichem Funktionsspektrum. Die angebotenen Funktionen umfassen in der Regel ein übersichtliches Feedback- oder Abstimmungstool, welches genutzt werden kann, um recht schnell Stimmungen, Meinungen oder Vorwissen abzufragen und darzustellen. Die Ergebnisse werden in unterschiedlichen Formen wie Säulen-/ Balkendiagrammen oder Wortwolken direkt - also als eine Echtzeit-Umfrage (Live-Poll) - rückgemeldet. Einige Tools bieten auch die Möglichkeit, Fragen durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu notieren und diese bewerten zu lassen, um sie später - entsprechend ihres Rankings – gemeinsam diskutieren zu können. Feedbacktools Übersicht einiger Beispiele - mit kurzen Hinweisen zu deren Datenschutz, Domains, Kosten Answer Garden - Externer Link: https://answergarden.ch (engl.): Wortwolken aus den Beiträgen der Teilnehmenden, mit Admin-Verwaltung; Produkt von Creative Heroes (https://creativehero.es) bzw. deren in Amsterdam sitzenden Creativ-Studio, Domain in der Schweiz, Hinweise zu AGB, Cookies und Datenschutz s. Externer Link: https://answergarden.ch/terms/ Feedbackr - Externer Link: https://www.feedbackr.io (engl.): Abstimmungen, Quizze und Meinungsumfragen; Basis-Version „feedbackr education basic“ für den öffentlichen Bildungsbereich kostenlos, Firma mit Sitz in Österreich, Verbindung zu Drittanbietern (Amazon WEb Services, Stripe, Intercom, Google und Soziale Netzwerke), keine Erhebung personenbezogener Daten der Umfrage-Teilnehmer/innen, jedoch für registrierte Nutzer/innen (Name, Email-Adresse etc.), für weitere Hinweise zu AGB und Datenschutzhinweisen s. Externer Link: https://www.feedbackr.io/de/feedbackr/privacy-policy/ und Externer Link: https://www.feedbackr.io/feedbackr/terms-of-service/ Mentimeter - Externer Link: https://www.mentimeter.com (engl.): Umfragen, Quizze, Abstimmungen und Brainstorming, Wortwolken, Unterstützung von Präsentationen; schwedische Firma, Liste zu verbundenen Diensten und Drittanbietern (Externer Link: https://www.mentimeter.com/processors), Erhebung von Kontaktinformationen der Nutzer/innen also Umfragedurchführenden, für weitere Hinweise zu AGB und Datenschutzhinweisen s. Externer Link: https://www.mentimeter.com/privacy und Externer Link: https://www.mentimeter.com/terms PINGO - https://pingo.coactum.de/: kostenloses webbasiertes Live-Feedback-System, entwickelt von der Universität Paderborn. Detaillierte Hinweise zur Nutzung, Datenschutz etc. finden Sie im Werkstattbereich der bpb im Artikel "Interner Link: Mit dem Umfrage-Tool PINGO den Unterricht interaktiv gestalten" Umfragetools für größere Umfragen (z. B. im Rahmen von Evaluation oder Umfrageprojekten im Unterricht) GrafStat: Software (Installation auf Geräten mit Windowsbetriebssystem, keine reine Webanwendung), Umfragesoftware für Umfragen und Evaluation, Musterfragebögen, keine Live-Polls, dafür vielfältige Möglichkeiten insbesondere in der Datenauswertung und Präsentation; Basisversion kostenlos für den öffentlichen Bildungsbereich, erweiterte Vollversion mit Bildungsrabatt, weitere Infos s. Externer Link: https://www.grafstat.de/ bzw. Externer Link: https://www.grafstat.com/de/; der Datenschutz der erhobenen Daten hängt - wie bei allen Umfragen - zum einen von den Umfragedurchführenden und deren Sorgfalt ab, auf der technischen Seite bei Onlineumfragen mit GrafStat zusätzlich auch von der gewählten Form der Datensammlung (Datensammelpunkt auf eigenem Server, Mietdatensammelpunkt oder Datensammelpunkt bei Kooperationspartnern etc.) ab. Weitere Hinweise s. Externer Link: https://www.grafstat.com/de/datenschutzerklärung.html bzw. in der Externer Link: Datenschutzerklärung von GrafStat als PDF Edkimo (Externer Link: https://edkimo.com/de/): Feedback für Umfragen und Evaluation, Musterfragebögen, keine Live-Polls; deutsche Firma mit Sitz in Bayern, i.d.R. keine Übermittlung von Daten an Dritte, nimmt an Partnerprogramm von Amazon teil, Erhebung von personenbezogenen Daten der Nutzerinnen und Nutzer bei Registrierung, aber keine der Umfrage-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer, für weitere Hinweise zu AGB und Datenschutzhinweisen s.Externer Link: https://edkimo.com/de/datenschutz/ und Externer Link: https://edkimo.com/fr/impressum/ Feedbackschule (Externer Link: http://wp.feedbackschule.de/): umfangreiches Umfragetool für Schulevaluationen, inkl. Beispielfragen und erweiterten Auswertungsmöglichkeiten, kostenlose Starterversion; FeedbackSchule ist ein Service der softwarea GmbH mit Servern in Deutschland, werbefrei, Webseite und App sind laut eigener Aussage DSGVO-konform, ausführliche Hinweise zur Datenverarbeitung und Datenschutz von Feedbackschule in Externer Link: PDF (15 Seiten), Hinweis: Webseite mit Infos zur Umfrage-App nur "http" und kein "https"! Bei den meisten dieser Produkte handelt es sich um Freemiumprodukten, d. h. es wird eine kostenlose Basisversion mit eingeschränktem Funktionsumfang angeboten, die Premiumversionen kosten hingegen, wobei es hier häufig auch kostenpflichtige Versionen mit einem Bildungsrabatt für Schulen oder Hochschulen gibt. Unterschiede zwischen den kostenfreien und kostenpflichtigen Versionen bestehen häufig beispielsweise bei der Anzahl an möglichen Umfragen oder in einer Begrenzung der Teilnehmerzahl, Unterschiede im Funktionsumfang, aber auch hinsichtlich der Verwaltungsmöglichkeiten der Umfragedaten. So bietet bei einigen Anbietern z. B. nur die kostenpflichtige Version die Möglichkeit, nicht-öffentliche Umfragen zu erstellen, bei denen die Umfragedaten passwortgeschützt und nicht für alle einsehbar sind. Der Ablauf ist bei den meisten Tools ähnlich: Die Lehrkraft erstellt mit dem Tool – möglichst schon bei der Unterrichtsvorbereitung - eine Umfrage. Die Schülerinnen und Schüler müssen auf ihrem Endgerät (Smartphone, Tablet etc.) dann nur noch die entsprechende Seite des Anbieters im Browser aufrufen, den entsprechenden Zugangs-Code für die Umfrage eingeben und dann ihre Antworten eintippen oder anklicken. Beispiel einer Wortwolke zum Thema Das Ergebnis wird in der Regel sofort live angezeigt und kann – je nach gewählter Vorlage - in der gewünschten Form, z. B. einer Wortwolke oder einem Säulendiagramm dargestellt und über Beamer oder Smartboard der Klasse präsentiert werden. Beispiel einer Wortwolke zum Thema
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-06-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/digitalisierung-grafstat/312183/info-01-01-brainstorming-und-umfragen-im-unterricht/
Dieses Infomaterial bietet ein Übersicht über verschiedene Umfrage- und Feedbacktools und wie man diese im Unterricht nutzen kann.
[ "Digitalisierung", "Word Cloud", "Brainstorming" ]
30,215
"Tempel des Antifaschismus"? | Deutschland Archiv | bpb.de
Die Frage nach dem Umgang der beiden deutschen Staaten mit ihrer Vergangenheit ist bereits seit geraumer Zeit eine in der zeitgeschichtlichen Literatur viel diskutierte. Neben Fragen nach dem Umgang mit Tätern und Opfern des Nationalsozialismus aber auch der SED-Diktatur, stehen insbesondere Gedenkstätten und -orte sowie Museen und der Umgang mit ihnen im Zentrum der Diskussionen. So geschehen, unmittelbar nach der Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 in den Diskussionen um die Konzeption der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR an den Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Der vorliegende Beitrag skizziert die Entstehung und Entwicklung dieser Nationalen Mahn- und Gedenkstätten zu DDR-Zeiten, ihre Entwicklung nach 1990 und ihre Rolle im Gedenkstättenwesen. Entstehung und Entwicklung Insbesondere die Gedenkstätte am ehemaligen KZ Buchenwald nahm eine besondere Stellung in der Erinnerungskultur der DDR ein. Einen Vorläufer hatte diese bereits seit dem 11. April 1946, dem Jahrestag der Befreiung des Lagers, in Gestalt eines auf dem Goethe-Platz in Weimar aufgestellten provisorischen Denkmals. "Der Anstoß zum musealen Ausbau des ehemaligen KZ Buchenwald nach dem Muster der Gedenkstätten in Auschwitz in Polen und Theresienstadt in der Tschechoslowakei ging bereits im Juli 1949 von der sowjetischen Besatzungsmacht aus. Schon im Juli 1945 hatte der ehemalige jüdische Häftling Werner A. Beckert im Namen seiner Mithäftlinge gefordert, das Lager als Mahnmal zu erhalten. [...] Erst nach dem Juniaufstand 1953, der das Bedürfnis der SED nach Selbstlegitimation verstärkt herausforderte, entschloss diese sich dann allerdings zum planmäßigen Aufbau der Gedenkstätte." Die Einweihung der Gedenkstätte in Buchenwald fand im September 1958 statt, 1959 folgte die Eröffnung der Gedenkstätte in Ravensbrück und 1961 in Sachsenhausen. 1961 wurden alle per Statut in den Rang Nationaler Mahn- und Gedenkstätten (NMG) erhoben. Neben formellen Vorgaben enthielt das Statut auch Regelungen über die inhaltliche Konzeption der Gedenkstätten. Diese sollten neben der Darstellung des - vor allem kommunistischen - Widerstandes auch das "Wiedererstehen von Faschismus und Militarismus in Westdeutschland" darstellen und verdeutlichen, dass die DDR der Staat sei, in dem "die Wurzen des Faschismus ausgerottet" seien und sie, die DDR, letztlich der bessere deutsche Staat sei. Mit diesen Regelungen waren die NMG von Beginn an untrennbar mit dem in der DDR propagierten Antifaschismus verbunden. Günter Morsch weist in diesem Kontext daraufhin, dass die drei Gedenkstätten in der offiziellen Politik der DDR eine derart herausgehobene Rolle spielten, dass es daher nicht "grundsätzlich falsch [sei], sie als eine Art "Tempel des Antifaschismus" zu bezeichnen." Das "Buchenwald-Kollektiv" „Das Zentralkomitee der SED, sonstige Parteiinstanzen sowie parteinahe und einseitig auf den kommunistischen Widerstand ausgerichtete Organisationen wie das ‚Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer’ (KdAW) hatten entscheidenden Einfluss auf Aufbau, Gestaltung und Personalkonzept der Gedenkstätten." Das KdAW war bereits 1953 an die Stelle der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) getreten. Bis dahin war die VVN die größte Vereinigung der NS-Opfer in der DDR und hatte, auch in Kontakt mit der westdeutschen VVN, Anspruch auf Überparteilichkeit und Pluralismus erhoben. Bereits kurz nach ihrer Gründung 1946/1947 wurde sie jedoch bereits von SED-Kadern dominiert und löste sich 1953 auf Druck der SED auf. Die Zusammensetzung der am Aufbau der NMG beteiligten Gremien und deren Einflussmöglichkeiten wurden in Publikationen, beispielsweise für den Kunstunterricht an Schulen, ausführlich erläutert. So heißt es in einem Leseheft zur Kunstbetrachtung: "Bald nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik wurde ein Kuratorium, ein gesellschaftlicher Rat also, für den Aufbau Nationaler Gedenkstätten gebildet. Dort, wo von den Faschisten die Menschlichkeit am übelsten geschändet worden war, dort aber auch, wo sich antifaschistisches Kämpfertum unüberwindbar bewährt hatte, dort sollten die Stätten der Mahnung und des Gedenkens errichtet werden: Buchenwald - Ravensbrück - Sachsenhausen. Die besten Bildhauer und ein Kollektiv junger Architekten vollbrachten es, in ständigem Kontakt mit dem gesellschaftlichen Auftraggeber, der Partei der Arbeiterklasse, ehemaligen Häftlingen, Arbeitern und Künstlern, Werke von herausragender Bedeutung zu schaffen." Das hier angesprochene Kollektiv, bekannt als "Buchenwald-Kollektiv", war mit dem Aufbau der drei Gedenkstätten beauftragt worden. Mitglieder des Kollektivs waren freischaffende Architekten und Landschaftsarchitekten. Trotz der unterschiedlichen Standorte und historischen Begebenheiten verwirklichten sie zentrale Aspekte eines übergreifenden Konzepts an allen drei Orten: "1. Beschränkung des Gedenkstättengeländes auf Kernbereiche, insbesondere das ehemalige Häftlingslager. 2. Errichtung mehr oder weniger monumentaler Gedenkanlagen, in deren Zentrum ein möglichst großer "Feierplatz" (Buchenwald-Kollektiv) eingeschlossen werden sollte. 3. Abriss und Überformung der original erhaltenen Bausubstanz innerhalb des Gedenkstättengeländes bei gleichzeitiger, weitgehend geschichtsvergessener Umnutzung der erhaltenen Gebäude außerhalb der Gedenkstätte. 4. Pädagogisch-didaktisches Ziel der Gestaltung war es nicht, die Funktionszusammenhänge der Konzentrationslager, wie sie sich in ihrer Anlage darstellen, für den Besucher lesbar zu machen und zu erklären, sondern die Überwindung der SS-Herrschaft und den Sieg des Antifaschismus in der Dominanz der Gedenkanlage gegenüber den Relikten zum Ausdruck zu bringen. 5. Auch bei der Gestaltung der Denkmalsanlagen dominierte das an den politischen Häftlingen orientierte Bild des antifaschistischen Widerstandskämpfers über die Pluralität der Opfergruppen. Das Gedenken an die wegen ihres Glaubens Verfolgten (beispielsweise Zeugen Jehovas) oder aufgrund nationalsozialistischer Rassepolitik Inhaftierten fand entweder in der Gestaltung keinerlei Ausdrucksform oder wurde marginalisiert." Diese Umnutzung erfolgte in erster Linie durch die sowjetische Armee sowie die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR. So wurden beispielsweise Teile der späteren Gedenkstätte Sachsenhausen 1950 durch die Kasernierte Volkspolizei (KVP) der DDR übernommen. Teile des Areals wurden zerstört, 1952/1953 sprengte die KVP das Krematorium. Die Baracken dienten der Bevölkerung als Bau- und Brennmaterial. Zudem verschwieg man in den Publikationen und Ausstellungen die von 1945-1950 in Buchenwald und Sachsenhausen existierenden sowjetischen Speziallager. "Die führenden Kräfte der Arbeiterklasse" Der Bildhauer Fritz Cremer mit Jugendlichen in seinem Atelier im März 1955. Vor dem Modell der Buchenwald-Gedenkstätte erklärte er, wie eine Plastik entsteht (© Bundesarchiv Bild 183-29675-0004, Foto: Horst Sturm, Heinz Junge) Am 14. September 1958, dem Tag der Opfer des Faschismus, wurde in Buchenwald mit der Gedenkstätte zugleich das dortige "Buchenwalddenkmal" eingeweiht. Der Künstler, Fritz Cremer, wird im oben zitierten Schulleseheft wie folgt beschrieben: "Fritz Cremer war 1950 aus Wien nach Berlin in die Deutsche Demokratische Republik gekommen. Hier sah er die Arbeiter und Bauern unter Führung ihrer Partei mit allen Kräften am Werke, dem deutschen Name Ehre zu machen und den Faschismus mit seinen imperialistischen Wurzeln mit Stumpf und Stiel auszurotten und neue, sozialistische Fundamente zu legen. Selbst Mitglied der KPD seit 1929, kam er zu uns, weil er mit in dieser Kampffront stehen wollte." In einem anschließenden ausführlichen Bericht über die verschiedenen Entstehungsetappen des Denkmals und die grundsätzliche Einigkeit im Streben der Auftraggeber und des Künstlers wird die Kritik an den ersten Entwürfen Cremers thematisiert: "Die [frühe] Fassung zeige richtig den Widerstand, aber nicht den Sieg, nicht die Selbstbefreiung mit Waffen in den Händen. Es fehle damit also der [Skulpturen-]Gruppe die letzte historische Wahrheit. [...] Nicht gezeigt sei das Vorangehen der Kommunisten und bewußten Antifaschisten, nicht das es Führende gab, Geführte, Ausweichende, Zurückbleibende und Versagende, Verzagte." Über die vollendete Skulptur wurden die Schülerinnen und Schüler dann informiert: "Die unvergeßlichen Gestalten des Buchenwalddenkmals sind nicht nur Zeugen einer durch sie überwundenen Vergangenheit, die uns die volle Wahrheit über den harten und opferreichen Kampf der Besten gegen Faschismus und Krieg ins Gedächtnis prägen. In ihnen sind die führenden Kräfte der Arbeiterklasse sichtbar gemacht. Unerschütterlich überzeugt von den revolutionären Ideen des Marxismus-Leninismus, zum Handeln geführt durch die lenkende und organisierende Kraft der Partei, sind sie die Sieger der Geschichte. In ihrem Geiste vollenden wir den Bau des Sozialismus, den wir in ihrem Geiste auch gegen alle Anschläge des Imperialismus und Neofaschismus zu schützen wissen." Sowohl aus den übergreifenden Konzeptionsgedanken des Buchenwald-Kollektivs als auch aus den Texten des Schulleseheftes ist ersichtlich, dass die NMG als ein zentrales Instrument des staatlich propagierten Antifaschismus gedacht waren. Die Bedeutung der Plastik für die verschiedenen Opfergruppen Buchenwalds aus zahlreichen Ländern der Welt wurde nicht thematisiert, deren eigene Leidenserfahrungen und Interpretationen spielten keine Rolle. Wie die Gedenkstätten, sollten auch die Denkmäler stets das Bild der DDR als eines demokratischen, antifaschistischen Staates untermauern. "Nationale Mahn- und Gedenkstätten als Reiseziel" "Pfingsttreffen der Jugend" in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen am 30. Mai 1982 (© Bundesarchiv, Bild 183-1982-0530-007) An staatlichen Gedenktagen wurden die NMG zu Aufmarschplätzen für die Massenorganisationen, die NVA oder das MfS. Hier wurden Truppenvereidigungen, Fahnenapelle oder Jugendweihefeiern abgehalten. Daneben sah man in den NMG auch mögliche Reiseziele für Urlauber und Touristen. "In 4 Wochen setzt der Urlauberstrom der Ferienzeit ein, und die Nachfrage nach ansprechenden Souvenirs ist groß.", schrieb der damalige Direktor der NMG Ravensbrück in Sorge um die rechtzeitige Auslieferung von weißen Wimpeln. Durch solche Veranstaltungen und eine enge Zusammenarbeit mit Schulen, Universitäten, Betriebskollektiven und FDJ-Gliederungen wurde die Gedenkstättenarbeit zu einem zentralen Bestandteil politischer Bildungsarbeit. Die Gedenkstätten erfuhren sehr früh offizielle Anerkennung, insbesondere im Vergleich zu Gedenkstätten der Bundesrepublik. Wie Sabine Moller zutreffend resümiert und auch das eingangs erwähnte Statut der NMG deutlich erkennen lässt, orientierte sich die Darstellung in den Ausstellungen der Gedenkstätten nicht primär an den tatsächlichen Ereignissen in den Konzentrationslagern, sondern nutzte diese vielmehr als "historische Versatzstücke" in einer "viel weiter greifenden antifaschistischen Legitimationsideologie"."Dabei wurde der Begriff 'Antifaschist' nicht historisch verstanden, sondern er war 'im Blickfeld der herrschenden Kommunisten eine Charakteristik, zu deren integralem, ja beherrschenden Bestandteil der Kampf gegen den ‚Imperialismus', gegen das 'Bonner Regime', gegen die 'klerikale Gruppe' und das Engagement für den SED-Sozialismus zählte.'." "Museen des antifaschistischen Widerstandskampfes" In Sachsenhausen existierte bereits seit der Eröffnung 1961 ein "Museum über den antifaschistischen Freiheitskampf der europäischen Völker". In Buchenwald und Ravensbrück hingegen entstanden erst 1984 und 1985 "Museen des antifaschistischen Widerstandskampfes", die für alle Besucher auf dem direkten Besucherweg lagen und so - zumindest nach dem Willen der Planer - zwingend Bestandteile eines jeden Gedenkstättenbesuches darstellten. Die Ausstellungen in den Gedenkstätten wurden mehrfach überarbeitet und ergänzt. Die Geschichte der Standorte Sachsenhausen und Buchenwald als sowjetische Speziallager in der Besatzungszeit zwischen 1945 und 1950 wurde in den Ausstellungen nicht thematisiert. Auch die Verfolgung anderer Personengruppen als der Kommunisten, insbesondere die jüdischer Menschen, wurde nur in seltenen Fällen aufgegriffen. "In den KZ-Gedenkstätten der DDR blieb der Massenmord an den Juden damit ein Randthema. Jüdische Opfer wurden nicht als solche benannt, sondern als polnische, französische usw. Opfer deklariert." Selbst internationaler Protest gegen eine solche Form der "Geschichtsfälschung" bewog die SED nicht zu einer Änderung dieser Praxis. Die zu diesem Thema vorhandenen wenigen Anteile in den Ausstellungen "dienten dabei [jedoch] lediglich als besonders grausamer Beleg des faschistischen Terrors, dem keine eigenständige Bedeutung beigemessen wurde." Eine museale Darstellung, orientiert an den tatsächlichen Geschehnissen des historischen Ortes, die um übergeordnete neutrale Sichtweisen bemüht ist, suchte man vergebens. Gedenken an Orten "doppelter Vergangenheit" Daher rückten die NMG bereits kurz nach der Wiedervereinigung in den Fokus öffentlicher Debatten. "Die Notwendigkeit einer Veränderung wurde von kaum jemandem grundsätzlich bestritten, nicht einmal von Seiten der PDS. Die außerordentlich starken Konflikte über die Prinzipien der Neugestaltung erwuchsen hauptsächlich aus der unterschiedlichen Bewertung und Einordnung der Geschichte der sowjetischen Speziallager." Die Geschehnisse in diesen Lagern waren den Menschen in Westdeutschland größtenteils unbekannt und warfen nun neue Fragen nach dem Umgang mit der Geschichte, vor allem an Gedenkstätten mit "doppelter Vergangenheit" auf. In Buchenwald und Sachsenhausen war zu Beginn der 1990er Jahre insbesondere die Frage nach dem richtigen Gedenken an die Opfer der Speziallager umstritten. "Mit vielen sehr emotional vorgetragenen Behauptungen und unsensiblen Aktivitäten wurden die Konflikte ausgetragen. Es bestand einerseits die Forderung eines Großteils der Speziallagerhäftlinge, in der Erinnerungsarbeit auf der gleichen Stufe wie die KZ-Häftlinge angesehen und behandelt zu werden, und auf der anderen Seite die kategorische Ablehnung vieler Verbände der KZ-Überlebenden, sich mit den in den ehemals in Speziallagern einsitzenden vermeintlichen Tätern eine gemeinsame Erinnerungsstätte zu teilen." Darüber hinaus kamen prinzipielle Diskussionen über Formen und Möglichkeiten des Erinnerns an beide Diktaturen und ihre jeweiligen Opfer auf. Zunächst entstanden Anfang der 1990er Jahre kleinere Ausstellungen über die Zeit der sowjetischen Speziallager. Sie beriefen sich vor allem auf Zeitzeugenberichte und wenige Exponate, die von Überlebenden zur Verfügung gestellt worden waren. Die Landesregierungen in Thüringen und Brandenburg beriefen Historikerkommissionen ein, die Empfehlungen zur künftigen Konzeption der Gedenkstätten abgeben sollten. Die Notwendigkeit zur Neukonzeption der ehemaligen NMG und die Neueinrichtung von Gedenkstätten für die Opfer des SED-Unrechts schufen "das Bewusstsein dafür, dass es auch eine bundespolitische Verantwortung für [...] Gedenkstätten gibt und dass es deshalb bei den Erinnerungsorten von gesamtstaatlicher Bedeutung auch eine Förderung aus Mitteln des Bundes geben müsse." Trotz dieser Erkenntnis, blieb die Förderung in den folgenden Jahren auf ostdeutsche Gedenkstätten beschränkt. Gedenkstätten im Westen Deutschlands wurden nicht gefördert. Gedenkstättenpolitik des Bundes 1992 entstand im Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Die Ergebnisse der Kommission fanden trotz etlicher Publikationen und öffentlicher Anhörungen laut dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie wenig Interesse in der Bevölkerung. Die Kommission regte an, die bisher provisorische Gedenkstättenförderung einer intensiven Prüfung zu unterziehen, auf ganz Deutschland auszudehnen und eine bundesweite Gesamtkonzeption zur Aufgabe einer weiteren Kommission zu machen. Damit war der Grundstein für eine Gedenkstättenförderung des Bundes gelegt. Diese wurde jedoch zunächst auf einige Gedenkstätten begrenzt, zeitlich befristet und an Auflagen gekoppelt. In einer ersten Runde erhielten acht Einrichtungen mit insgesamt elf Gedenkstätten Fördergelder: die Gedenkstätte Buchenwald, die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten mit den Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück sowie die Gedenkstätten Haus der Wannseekonferenz, Topographie des Terrors und Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin mit der Gedenkstätte Plötzensee. Daneben die Stiftung Sächsische Gedenkstätten mit dem Dokumentations- und Informationszentrum Torgau sowie der Gedenkstätte Bautzen, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sowie das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth e.V. Damit wurden alle ehemaligen NMG von Beginn an in der Bundesförderung berücksichtigt. Mit dem Regierungsbeschluss aus dem Jahr 1993 erhielten diese Gedenkstätten nun eine Förderung in Höhe von 50 Prozent der Gesamtkosten, befristet auf zehn Jahre. Vor allem mit Blick auf die außen vorgelassenen Gedenkstätten im Westen Deutschlands sowie das Nebeneinander mehrerer Empfehlungen (unter anderem aus dem Bundesinnenministerium sowie der Enquete-Kommission selbst) war abzusehen, dass dies nur eine vorläufige Förderkonzeption sein konnte. So beauftragte der Bundestag von 1994 bis 1998 die Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" mit der Entwicklung einer umfassenden Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes nach 1994 Im Zentrum der Überarbeitungen in den beiden ehemaligen NMG Buchenwald und Sachsenhausen stand in den darauffolgenden Jahren die Frage nach Verhältnis und Berücksichtigung aller drei Kapitel der jeweiligen historischen Orte: Konzentrationslager im Nationalsozialismus, sowjetisches Speziallager zwischen 1945 und 1950 sowie die Funktion als NMG in der DDR. Am Ende verständigte man sich darauf, dass die historischen Abschnitte in getrennten Räumlichkeiten gezeigt werden sollen. In Buchenwald wurde 1997 nach jahrelangen Diskussionen in einem gesonderten Gebäude außerhalb des Geländes der beiden Lager eine Dauerausstellung zur Geschichte des Sowjetischen Speziallagers Nr. 2 eröffnet. In Sachsenhausen zeigt heute eine Ausstellung in einem Neubau sowie in zwei erhaltenen Originalbaracken die Geschichte des Speziallagers Nr. 7, welches mit zeitweise 60.000 Häftlingen das größte sowjetische Internierungslager war. So wirkten die Diskussionen um die Neugestaltung der NMG als Antrieb für eine gesamtdeutsche Diskussion im Gedenkstättenwesen. Bernd Faulenbach, 1992 Vorsitzender der Historikerkommission im Bundesland Brandenburg, formulierte im Jahr 2003: "Die Frage des Umgangs mit den großen Gedenkstätten in den neuen Bundesländern - mit Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück - gehört zu den Schlüsselfragen der Gedenkstättenentwicklung seit dem Sturz des SED-Systems und der deutschen Vereinigung. [...] Die Diskussions- und Entscheidungsprozesse gingen über die konkreten Gedenkstätten hinaus und wirkten geradezu als Katalysator für die Entwicklung des gesamten Gedenkstättenwesens." Fazit Die ausführlichen Diskussionen um die Entfristung der Förderung sowie der formalen wie finanziellen Gleichstellung der Gedenkstätten können hier in der gebotenen Kürze nicht dargestellt werden. Für vertiefende Informationen sei auf einige Publikationen verwiesen. Für die Rolle der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR und im Gedenkstättenwesen nach 1990 kann jedoch folgendes resümiert werden: Zu DDR-Zeiten stellten die NMG ein wichtiges Instrument des staatlichen Antifaschismus dar, in bewusster Abgrenzung zur Bundesrepublik. Die Ausstellungen spiegelten nicht die historischen Fakten wider, Überreste der vormaligen Lageranlagen wurden größtenteils zerstört, unkenntlich gemacht oder nicht in die museale Darstellung integriert. Kleinere Überarbeitungen im Laufe der Zeit brachten keine wesentlichen qualitativen Verbesserungen der Ausstellungen. Nach der Wiedervereinigung stellten sich konzeptionell zwei Hauptprobleme: Zum einen, die zu Gunsten von kommunistischen Häftlingen fehlende, respektive unzureichende Berücksichtigung anderer Opfergruppen in den Ausstellungen, zum anderen die nicht vorhandene Darstellung der sowjetischen Speziallager, die zugleich die Frage beinhaltete, wie eine künftige Konzeption an solchen Gedenkstätten mit "doppelter Vergangenheit" aussehen konnte. Mit Blick auf die gesamte Entwicklung des Gedenkstättenwesens ist hinzuzufügen: Ohne die notwendig gewordene Überarbeitung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten nach der Wiedervereinigung hätte eine umfassende, bundesweite, insbesondere auch finanzielle, Beschäftigung mit den Gedenkstätten, auch auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik, aller Voraussicht nach nicht so zügig stattgefunden. Zwar hatten sich auch in der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren zahlreiche Initiativen entwickelt und Gedenkorte Unterstützung erhalten, sie blieben jedoch regionale, lokale Institutionen. Durch die zunächst auf die neuen Bundesländer begrenzte Förderung des Bundes gerieten westdeutsche Gedenkstätten unter Druck, sich gleichsam modern und besucherorientiert aufzustellen. Daraus folgte zwingend, dass die Gedenkstättenförderung auf die gesamte Bundesrepublik ausgedehnt wurde und institutionelle Förderungen zeitlich nicht mehr befristet werden. Die ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR haben somit maßgeblichen Anteil daran, dass wir heute im Jahr 2015 von einer Gedenkstättenkonzeption des Bundes sprechen können, die seit 1998 fortgeschrieben wird und durch die Förderung von Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, an das SED-Unrecht, sowie die Förderung von Gedenkstätten mit "doppelter Vergangenheit", zunehmend ausbalanciert gerecht wird. Zitierweise: Julia Reuschenbach, "Tempel des Antifaschismus"? - Die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR, in: Deutschland Archiv, 26.1.2015, Link: http://www.bpb.de/199442 Der Bildhauer Fritz Cremer mit Jugendlichen in seinem Atelier im März 1955. Vor dem Modell der Buchenwald-Gedenkstätte erklärte er, wie eine Plastik entsteht (© Bundesarchiv Bild 183-29675-0004, Foto: Horst Sturm, Heinz Junge) "Pfingsttreffen der Jugend" in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen am 30. Mai 1982 (© Bundesarchiv, Bild 183-1982-0530-007) Siehe dazu beispielhaft Klaus-Dietmar Henke, "Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen". Grundsätzliche Bemerkungen zum Gedenken an deutsche Diktaturen, in: Deutschland Archiv 40 (2007) 6, S. 1052-1055; Claus Leggewie, Erik Meyer, Ein Ort an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik seit 1989, München 2005; Wolfgang Bergem (Hg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003; Norbert Haase, Bert Pampel (Hg.), Doppelte Last - doppelte Herausforderung: Gedenkstättenarbeit und Diktaturenvergleich an Orten mit doppelter Vergangenheit, Frankfurt a. M. u.a. 1998; Thomas Schaarschmidt (Hg.), Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2008. Manfred Agethen, Gedenkstätten und antifaschistische Erinnerungskultur in der DDR, in: Manfred Agethen, Eckhard Jesse und Erhart Neubert (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Freiburg i. Breisgau 2002, S. 128 - 144, hier, S.131. Zudem beschloss die SED bereits am 9. Oktober 1950 unter der Zustimmung führender Buchenwaldkommunisten, nur einen Bruchteil der ehemaligen Anlagen des KZ Buchenwald zu erhalten und dem dort ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann ein Mahnmal zu errichten. Thomas Heimann, Bilder von Buchenwald. Die Visualisierung des Antifaschismus in der DDR (1945-1990), Zeithistorische Studien (28), Köln 2005, S. 43. Statut vom 28. Juli 1961, ausführlich hier: Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S.131 f. Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S.132. Günter Morsch, Der Umgang mit dem Erbe der DDR in den früheren Mahn- und Gedenkstätten: Das Beispiel Sachsenhausen, in: Bernd Faulenbach und Franz-Josef Jelich (Hg.), "Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?" Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Geschichte und Erwachsenenbildung, Band 19, Essen 2005, S.124 f. Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S.133. Ebd., S.137. Klaus Wegmann, Mahn- und Gedenkstätten in der Deutschen Demokratischen Republik, Leseheft für die Kunstbetrachtung, Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1976, S. 6. Morsch, Das Beispiel Sachsenhausen (Anm. 5.), S.124 f., anders hingegen: Hans Maur, Antifaschistische Mahn- und Gedenkstätten. 55 Jahre im Rückblick, Berlin 2000, S.16. Auszug aus dem historischen Überblick der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, abrufbar unter: Externer Link: http://www.stiftung-bg.de/gums/de/, letzter Zugriff am 11.1.2015. Wegmann, Mahn- und Gedenkstätten (Anm. 8), S. 12. Ebd., S. 14. Ebd., S. 21. Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S.132f. Dazu sowie ausführlich zur Bedeutung von Souvenirs und Tourismus für die Gedenkstätten: Ulrike Dittrich, "Wir wollen mit diesem Angebot helfen, das antifaschistische Erbe zu vermitteln" – Verkaufsmaterialien der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR, in: Ulrike Dittrich, Sigrid Jacobeit (Hg.), KZ-Souvenirs. Erinnerungsobjekte der Alltagskultur im Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen, Berlin 2005, S.75, Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S.133 und Sabine Moller, Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland, Studien zum Nationalsozialismus, edition diskord, Band 8, Tübingen 2003, S.50 f. Moller, Vielfache Vergangenheit (Anm. 16), S.50 f. Deutscher Bundestag, Drs. 14/1569, Unterrichtung der Bundesregierung. Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes, 27.7.1999, Anhang 1, Empfehlungen der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit", hier Auszug aus dem Schlussbericht der Kommission, S. 7. Gretchen Schafft und Gerhard Zeidler, Die KZ-Mahn- und Gedenkstätten in Deutschland, Berlin 1996, hier S. 63, 232 und 250, sowie Günter Morsch, Das Beispiel Sachsenhausen, in: Faulenbach und Jelich, (Anm. 5), S.136. So auch Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S. 141 f. Klaus Schroeder in Bezug auf Mario Keßlers "Die SED und die Juden" in: Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 2009, S. 552. Sabine Moller, Vielfache Vergangenheit (Anm. 16), S. 50, siehe auch ausführlich: Günter Morsch, Das Beispiel Sachsenhausen, in: Faulenbach und Jelich, (Anm. 5), S.124. Günter Morsch, Das Beispiel Sachsenhausen, in: Faulenbach und Jelich (Anm. 5), S.125. Siehe hierzu auch: Norbert Haase, Gedenkstätten in den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit, in: Gedenkstättenrundbrief 96, S.11 und hier erneut anders: Hans Maur, Antifaschistische Mahn- und Gedenkstätten (Anm. 9), S. 25. Thomas Lutz, Gedenken und Dokumentieren an Orten von NS- und NKWD-Lagern in Deutschland, in: Peter Reif-Spirek und Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit«, Berlin 1999, S. 252. Lutz, Gedenken (Anm. 25), S. 252. Entgegen zahlreicher Meinungen, hier erneut Hans Maur, der in den Kommissionen Gremien zum Missbrauch der DDR-Gedenkstättenkultur sieht, die die Gedenkstätten in ihren dokumentarischen Aussagen demontiert hätte, vgl. Hans Maur, Antifaschistische Mahn- und Gedenkstätten (Anm. 9), S. 42. Detlef Garbe, Von der Peripherie in das Zentrum der Geschichtskultur. Tendenzen der Gedenkstättenentwicklung, in: Bernd Faulenbach und Franz-Josef Jelich (Hg.), "Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?" Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Geschichte und Erwachsenenbildung, Band 19, Essen 2005, S.76. Vgl. Leggewie und Meyer, Ein Ort (Anm. 1), S.73. Vgl. Carola Rudnik, Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S.82 sowie Siegfried Vergin, Wende durch die "Wende" in: Gedenkstättenrundbrief 100, S. 93. Die Einrichtung muss eine herausgehobene, bedeutsame sein, die im öffentlichen Bewusstsein exemplarisch für einen bestimmten Verfolgungskomplex steht. Zusätzlich musste sich das Sitzland zu 50 v.H. beteiligen und ein positives Fachvotum beauftragter Wissenschaftler vorliegen. Vgl. dazu: BMI-Vorlage Nr. 173/92 (Neufassung), zitiert nach Darius Zifonun, Gedenken & Identität: Der deutsche Erinnerungsdiskurs, Frankfurt am Main 2004, S.74f. BT-Drs. 14/1569, S.5 f. So auch: Garbe, in: Faulenbach/Jelich (Anm. 27), S.76. Agethen, Gedenkstätten (Anm. 2), S.141f. Bernd Faulenbach, Entwicklungstendenzen der Gedenkstättenarbeit seit der Wiedervereinigung, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Gedenkstätten und Besucherforschung. Wissenschaftliches Symposium am 2. und 3. Dezember 2003, S. 112. Siehe u.a. Klaus Christoph, “Aufarbeitung der SED-Diktatur” – heute so wie gestern?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42-43 (2013), S. 27-33 sowie Erik Meyer, Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes als Instrument geschichtspolitischer Steuerung, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2009, Band 9, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Bonn/Essen 2009, S. 101-108; Marc-Dietrich Ohse, Aufarbeitung und Gedenken. Das Gedenkstättenkonzept des Bundes muss zügig zum Abschluss gebracht werden, in: Deutschland Archiv 40 (2007) 6, S. 956-967. Siehe hierzu auch Deutscher Bundestag, Drs. 14/1569, S. 4.
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Julia Reuschenbach
"2022-02-07T00:00:00"
"2015-01-22T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/199442/tempel-des-antifaschismus/
Die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR stellten ein wichtiges Instrument des staatlichen Antifaschismus dar. Nach der Wiedervereinigung standen zwei Herausforderungen im Vordergrund: die differenzierte Darstellung aller Opfergruppen in den Au
[ "Gedenkstätte", "DDR", "Erinnerungsort", "Erinnerungskultur", "Aufarbeitung" ]
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Kommentar: Andrzej Friszke zerschlägt die 14 Mythen von Sławomir Cenckiewicz über Lech Wałęsa: Verleumdungen, Unterstellungen und Manipulationen | bpb.de
Anmerkung der Redaktion: Der Historiker Andrzej Friszke äußert sich für das Internetportal OKO.press zu einem 14 Punkte umfassenden Artikel des Historikers Sławomir Cenckiewicz über die Rolle Lech Wałęsas für die jüngste polnische Geschichte. 8. Februar 2017 Wir haben den herausragenden Historiker Prof. Andrzej Friszke um eine Antwort auf den Text von Dr. habil. Sławomir Cenckiewicz "14 mitów" [Externer Link: 14 Mythen] gebeten, der in suggestiver Weise Lech Wałęsa als Spielball in den Händen der kommunistischen Machthaber und des Geheimdienstes darstellt. So sollen ihre Anordnungen und Erwartungen darüber entschieden haben, was Wałęsa in der Phase des "August 1980" sagte und tat, als er die Solidarność 1980–81 führte, sowie im Kriegszustand bis zur Entlassung aus Arłamowo, wo er bis zum November 1982 festgesetzt war. Prof. Friszke, ein herausragender Historiker der neuesten Geschichte Polens, Autor der Monografie "Rewolucja Solidarności" (Kraków: Znak 2014), hat eine mitreißende Polemik verfasst, engagiert und sachlich zugleich, mit Bezug zu den Fakten und den Regeln der Werkstatt des Historikers. Andrzej Friszke: Der Artikel von Cenckiewicz, de facto eine Anklageschrift, stützt sich auf Dokumente, die zielgerichtet ausgewählt und aus dem Zusammenhang gerissen wurden, mit dem Ziel, dass es für den Leser, der unter dem Eindruck zahlreicher Zitate und Einzelheiten steht, glaubwürdig erscheint. Im Wesentlichen wiederholt Herr Cenckiewicz jedoch seit Jahren das gleiche, nimmt nicht zur Kenntnis, dass es Dokumente gibt, die seinen Thesen widersprechen, und ignoriert die Forschung anderer Historiker. Er spricht mit der ihm eigenen Dreistigkeit und wirft unter anderem dem Verfasser dieses Textes vor, dass er zu den "ideologisierten Historikern" gehöre und dass sich die Verteidigung Wałęsas auf die "Verweigerung gegenüber dem Quellenwissen", auf den "Versuch, eine verpflichtende Interpretation aufzuzwingen", und auf eine "eigentümliche "Immunität" gegenüber den noch zu entdeckenden Archivdokumenten" stütze. Herr Cenckiewicz schreibt eindeutig über sich selbst, genau so geht er vor und hält sich manches Mal auch nicht von Beleidigungen fern. Cenckiewicz liest nicht gern Zu diesen Eigenschaften von Cenckiewicz sind noch weitere hinzuzufügen: die mangelnde Fähigkeit, die Untersuchungsergebnisse anderer Historiker zu nutzen, Ergebnisse, die sich auf solide Quellenuntersuchungen stützen. Herr Cenckiewicz liest ganz offensichtlich nicht gern, wenn er die Arbeit von Grzegorz Majchrzak "Solidarność na celowniku. Wybrane operacje SB przeciwko związkowi i jego działaczom" (Poznań: Zysk i S-ka 2016) oder meine Monografie "Rewolucja Solidarności 1980–1981" (Kraków: Znak 2014) nicht zur Kenntnis genommen hat. Herrn Cenckiewicz steht es frei, uns nicht zu mögen, was er viele Male zum Ausdruck gebracht hat, aber beide Publikationen basieren auf Archivmaterial des Instituts für Nationales Gedenken [Instytut Pamięci Narodowej – IPN, d.Übers.], und auch wenn er nicht an unsere Ehrlichkeit glaubt, sollte er in die Akten schauen, deren Signaturen angegeben sind. Er zieht es jedoch vor, dies nicht zu tun, es ist bequemer, nicht zu wissen, vorzugeben, dass es das nicht gibt, was nicht zur These passt. Er leitet seine Fantasien aus ausgewählten Dokumenten ab, vernachlässigt andere und sucht Zeugen, die die von ihm fabrizierten Vorwürfe unterstützen. Eine Antwort auf alle 14 Punkte von Cenckiewicz würde einen ganzen Traktat erfordern, den zu schreiben keine Notwendigkeit besteht, es reicht, auf die betreffenden Abschnitte angeführter Publikationen und die dahinter stehenden Akten des IPN zu verweisen. Jedoch ist es sinnvoll, sich mit einigen Beispielen der Manipulation zu befassen, um Herrn Cenckiewicz’s Schreibmethode zu demonstrieren. Der Sprung über den Zaun Der Beginn des Auguststreiks 1980 – Cenckiewicz behauptet, dass Lech Wałęsa von den Machthabern geschickt worden sei (transportiert mit einem Motorboot), um die Ereignisse zu kontrollieren. Er kommt auf Wałęsas Sprung über den Zaun (es gab ihn nicht) und seine mutmaßliche Geheimdiensttätigkeit zurück, wofür die viele Jahre später verfassten Erinnerungen des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei [Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – PZPR, d.Übers.], Edward Gierek, und Paweł Bożyks [seines langjährigen Beraters] ein indirekter Beweis sein sollen. Zeugen auf dieser Machtebene machen auf den Leser Eindruck. Es ist also bequem, die Zeitdokumente zu meiden, insbesondere die Aufzeichnungen der Sitzungen des Politbüros, das heißt der obersten Leitung von Partei und Staat. Als der Streik am 14. August 1980 ausbrach, teilte der Sekretär des Zentralkomitees, Stanisław Kania, den Genossen nach dem Gespräch mit der Leitung der PZPR in Danzig indessen mit: "Das Streikkomitee spricht mit dem Direktor. Sie versuchen, Wałęsa von den Gesprächen auszuschließen." Auszuschließen, nicht einzubeziehen. Am folgenden Tag bekennt Kania seine Unwissenheit: "Es gab keine Anzeichen für Streikvorbereitungen. Sie wurden überrascht." Gierek sagte zusammenfassend, die Situation könne zur "Anwendung von Gewalt zwingen. Heute werden wir darüber nicht mehr diskutieren, aber morgen müssen wir darauf zurückkommen." Am 16. August sagte Józef Pińkowski (bald darauf Ministerpräsident): "Ein neues Element ist die Einberufung einer "freien Gewerkschaft", das ist ein Erfolg des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter [Komitet Obrony Robotników – KOR, d.Übers.]." Solcherlei Erwähnungen lassen sich fortsetzen, aber es reicht, den Leser an mein Buch "Rewolucja Solidarności" zu verweisen oder an den vom IPN neu aufgelegten Band der Sitzungsprotokolle des Politbüros "PZPR a Solidarność 1980–1981" [Warszawa: IPN 2013, Anm.d.Übers]. Es bestehen keine Zweifel, dass die Führung der PZPR, das heißt des Staates, von dem Streik überrascht war. In keinem Dokument gibt es die Andeutungen, dass Wałęsa "unser Mann" sei. Als Beweis die Bekenntnisse eines der stellvertretenden Ministerpräsidenten, Aleksander Kopeć, anzuführen, die erst nach 1989 geschrieben wurden, ist amüsant. Cenckiewicz sollte wissen, dass ein Vize-Ministerpräsident für Maschinenindustrie nicht über ein Geheimwissen wie operative Dokumente des Geheimdienstes verfügen konnte. Verhandlungen führte er mit Streikenden in Schlesien (was S.C. nicht bemerkt), so dass umso weniger der Grund bestand, dass er solcherart Geheimnisse über Danzig wüsste. Cenckiewicz’s ganze Argumentation stützt sich also auf nichts. Hinzuzufügen wäre: Edward Gierek hatte, ähnlich wie Aleksander Kopeć, das Gefühl einer politischen Niederlage, deren Ursache der Auguststreik, die Entstehung der Solidarność und auch Lech Wałęsa waren. Gern spannen sie eine Verschwörungstheorie, dass sie aus ihren Machtpositionen gedrängt werden sollten, sie suchten eine Rationalisierung ihrer Niederlage. Mit Sicherheit wären sie erstaunt gewesen, dass sie für den Antikommunisten Cenckiewicz zur Inspiration gereichten. Was Cenckiewicz nicht bemerkt Das wichtigste Dokument zum Verlauf des Auguststreiks und Wałęsas Rolle dabei ist die Mitschrift der Verhandlungen mit dem Direktor der Werft, die von Andrzej Drzycimski und Tadeusz Skutnik in dem Buch "Gdańsk. Sierpień ’80. Rozmowy" (Paris: Editions Spotkania 1986; Gdańsk: Aida 1990) veröffentlicht wurde. Auf über 400 Seiten kann man Punkt für Punkt Wałęsas Art zu verhandeln verfolgen. Zweifellos verhandelt Wałęsa unnachgiebig, geschickt und stur. Unbequem? Somit existiert diese Mitschrift in der Argumentation von Herrn Cenckiewicz nicht, sie wird nicht berücksichtigt. Der Leser dieser zusammengepressten Vorstellung soll keine Zweifel hegen, es ist besser, ihn nicht darüber informieren. Aus dem Gesamtkontext herausgerissen wird Wałęsas Erklärung, den Streik am 16. August zu beenden – als weiterer Beweis für die Umsetzung der Anweisungen der Machthaber. Warum hat Wałęsa den Streik für beendet erklärt? Weil er eine Vereinbarung in allen Punkten ausgehandelt hatte. Erst dann erfuhr er, dass auch andere Betriebe eine Fortsetzung des Streiks in der Dreistadt [Danzig, Zoppot, Gdingen, Anm.d.Übers.] fordern, und schloss sich diesen an. Dies erforderte den Mut, sich einem gewaltigen Teil der bis dato Streikenden entgegen zu stellen, die nach dem Zugeständnis von Lohnerhöhungen und Sicherheitsgarantien so schnell wie möglich nach Hause gehen wollten. Die Zeugnisse dieser Zeit und die Aufzeichnungen des Geheimdienstes, die diesen sicherlich dramatischen Moment betreffen, interessieren Cenckiewicz nicht. Sie würden die Eindeutigkeit des Bildes stören. Er bevorzugt, spätere Erinnerungen von Menschen zu zitieren, die in den folgenden Monaten eine Abneigung, manchmal Feindseligkeit gegenüber Wałęsa entwickelten. Der weitere Verlauf des Streiks, in dem es ebenfalls zu dramatischen Wendungen kam, interessiert Herrn Cenckiewicz nicht mehr. Daher schreibt er nicht über den Versuch, das Überbetriebliche Streikkomitee [Międzyzakładowy Komitet Strajkowy – MKS, d.Übers.] zu zerschlagen, und über die eindeutige Haltung Wałęsas, auch nicht über seine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Streikmoral der Beteiligten (worauf die Leute vom Geheimdienst hingewiesen hatten) noch über die Verhandlungen mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczysław Jagielski noch über die Unterzeichnung der Vereinbarung in einer Situation, die bis zum Schluss dramatisch war. Aber all dieses baute Wałęsas Position auf, seine Legende als Anführer, leader, Stimme des Volkes. Cenckiewicz nimmt also nicht von der Charakterisierung Wałęsas Notiz, die der Geheimdienst am 23. August angefertigt hat, und in der es heißt: "Er erfreut sich großer Anerkennung und Autorität unter den streikenden Werftarbeitern. Er besitzt die Fähigkeit, sich seine Mitarbeiter unterzuordnen. […] Ein Befürworter harter Disziplin und Ordnung im Handeln. […] Er setzt die Bestrebungen der antisozialistischen Gruppen, außerhalb der Partei eine sogenannte unabhängige Gruppenvertretung zu schaffen, aktiv um" (In: "Rewolucja Solidarności", S. 83). Spricht das gegen das Bekenntnis Wałęsas, das von Cenckiewicz zitiert wird, dass "ein Geheimdienstler zu mir kam und ein Treffen mit Gierek in Pruszcz vorschlug"? Es spricht nicht dagegen. Der ungeheure Streik dauerte an und griff auf weitere Industriebetriebe über. Die Machthaber versuchten auf verschiedene Weise, den Streik zu brechen oder seine Anführer zu neutralisieren. Daraus ist nichts geworden, wie die Protokolle des Politbüros und die vom Innenministerium verfassten Aufzeichnungen zeigen, in denen noch am 30. August ein Schlag gegen die Werft in Erwägung gezogen wurde. Es entschieden jedoch Gespräche und Verhandlungen, bei denen Wałęsa sehr aktiv war. Aufzeichnungen dieser Verhandlungen sind im genannten Buch von Drzycimski und Skutnik enthalten, Auszüge in dem berühmten Film "Robotnicy `80". Unbequeme Quellen für die Version von Cenckiewicz. Der Streit Wałęsa-Kuron. Wyszkowskis "Sensationen" dienen Cenckiewicz Sławomir Cenckiewicz erzählt den Lesern als Sensation von dem Konflikt Wałęsas mit Jacek Kuroń und anderen KOR-Angehörigen im Herbst 1980. Er wiederholt die These, dass Kuroń nach Danzig fuhr, "mit einem fertigen politischen Projekt, das die Unterordnung der Gewerkschaften unter die Betriebsräte vorsah…". Er vergisst nur hinzuzufügen, dass der Autor dieses Projektes, das bereits in Danzig ausgearbeitet worden war, Lech Kaczyński war [Hervorhebung im Original, Anm. d. Übers.], was ich in meinem Buch ausführlich darlege. Er behauptet auch, dass Kuroń Wałęsa habe anklagen wollen, dass er Mitarbeiter des Geheimdienstes sei, und ihn vom Posten des Vorsitzenden der entstehenden Gewerkschaft habe wegdrängen wollen. Diese Sensationen stammen von Krzysztof Wyszkowski, der über die schändlichen Absichten Kurońs einen Agenten des Geheimdienstes mit dem Pseudonym "Ronson" informierte, das heißt den Journalisten Jerzy Brodzki, der formal für die Amerikaner, tatsächlich aber für den [polnischen, d.Übers] Geheimdienst arbeitete. Berichte über diese Gespräche befinden sich im Archiv des IPN; ich zitiere sie in meinem Buch und gebe die Archivsignaturen an (S. 97). Wyszkowski ertrug schon damals Kuroń nicht, sondern setzte auf Wałęsa. Mit seinen Ansichten und Obsessionen fütterte er Brodzki. Kuroń kann man nicht vorwerfen, dass er ein Dummkopf ohne Vorstellungskraft gewesen sei, und das hätte er gewesen sein müssen, wenn er den Arbeiter Wałęsa herausdrängen und auf seinem Stuhl hätte Platz nehmen wollen. Man muss verstehen, dass es sich um eine Arbeiterbewegung handelte und nur ein Arbeiter ihr Anführer sein konnte. Keiner aus der Intelligenz, kein Berufsoppositioneller. Herr Cenckiewicz will das nicht verstehen, denn er versteht wenig von der Geschichte und dem Geist der Solidarność. Er sieht Einzelpersonen, einzelne Bäume, aber er sieht nicht den Wald. Er sieht ausgewählte Dokumente, weiß sie aber nicht im Kontext anderer zu lesen, seien es Mitschriften von Kundgebungen, Auftritten, Beratungen, Inhalte der Bulletins, die die Atmosphäre in der Solidarność wiedergeben. Dass Kuroń mit Wałęsa einen Streit ausfocht, war von Anfang an, ab Herbst 1980 klar. Kuroń selbst hat es in seinen Erinnerungen beschrieben (in solche Erinnerungen schaut Herr C. allerdings nicht hinein). Es ist wahr, dass "der Geheimdienst fast jede Diskussion der Gegner Wałęsas notierte", aber es ist nichts darüber bekannt, ob Wałęsa darüber informiert war, wie es Cenckiewicz gern hätte. Die Drehung in Richtung Kirche, das heißt der übergangene Hintergrund des Konfliktes mit Kuroń Es ist hier nicht der Ort, über die Geschichte des Streits Kuroń – Wałęsa zu sprechen; ich habe dies ausführlich in meinem Buch getan. Man kann allerdings nicht umhin zu bemerken – doch Cenckiewicz sieht dies überhaupt nicht –, dass Wałęsa ab September 1980 die Unterstützung der Kirche suchte; er wurde von Kardinal Wyszyński empfangen und in allen wesentlichen Fragen beriet er sich mit der Kirche. Im gesamten Gedankengang von Herrn Cenckiewicz ist Wałęsas Konflikt mit Kuroń das Ergebnis des Drucks der Machthaber und des Geheimdienstes, die verlangten, dass sich Wałęsa die "Extremisten" vom Halse schafft. Die Kirche gibt es im Text von Cenckiewicz ganz einfach nicht, obgleich seit Jahren Dokumente dazu zugänglich sind, herausgegeben von Peter Raina (darunter Auszüge aus den Tagebüchern von Primas Stefan Wyszyński) und Bischof Orszulik. So drängte die Kirche Wałęsa dazu, dass er die KOR-Anhänger wegschieben möge, sie vertraute Kuroń nicht und das entsprach den Erwartungen der Machthaber der Volksrepublik. In der Bewertung sowohl der Machthaber als auch der Kirche sollte die Solidarność nur eine Gewerkschaft sein, politische Akzente vermeiden, nicht anstacheln, nicht radikalisieren. Ein Opfer dieses Drucks wurde Anna Walentynowicz, die abgedrängt wurde, aber auch das bemerkt Cenckiewicz konsequenterweise nicht, trotz veröffentlichter Quellen; die Schuld schiebt er ausschließlich auf den schlechten Charakter Wałęsas. Die Machthaber fürchteten sich erheblich vor dem Sturz Wałęsas, denn sie glaubten, dass an seine Stelle ein Radikaler treten würde, höchstwahrscheinlich von Kuroń gesandt, zum Beispiel Andrzej Gwiazda. Und das wollten weder die Machthaber noch die Kirche. Wałęsa manövrierte also, hielt sich dicht an die Kirche, hielt Kuroń lange auf Distanz, beklagte sich über die KOR-Mitglieder, täuschte die Partei, dass die Solidarność keine neuen Konflikte beginnen würde, dass sie die Radikalen zähmen würde, aber er gab den Machthabern nicht das, was sie wollten: die Zustimmung für die Inhaftierung von Kuroń und Michnik. Das ist der Kontext, der Wald, den Cenckiewicz nicht sieht. Und in dieser Blindheit ist er konsequent. Die Bydgoszcz-Krise. Cenckiewicz klagt Wałęsa an, weil er den Kontext nicht sieht Ein weiterer Punkt der Anklageschrift ist das Verhalten Wałęsas während der Krise von Bydgoszcz (März 1981), das heißt die Abneigung, einen Generalstreik zu beginnen, und das Bemühen um die Aushandlung von Vereinbarungen, was zur Folge hätte, dass es nicht zu einem Streik käme. Und wieder, wie das bei Cenckiewicz so ist, fehlt hier der Kontext, der jedoch gut aufbereitet ist. Das "Archiv der Solidarność" [Archiwum Solidarności, d.Übers.] hat die Mitschriften aller Sitzungen der Landesverständigungskommission [Krajowa Komisja Porozumiewawcza, d.Übers.] herausgegeben, in denen man alle Argumente finden kann, sowie auch die Mitschrift der Verhandlungen mit der Regierungskommission. Bekannt und veröffentlicht sind die Protokolle der Beratungen des Politbüros, wir kennen auch die Aufzeichnungen der Gespräche von Juri Andropow [damals Chef des KGB, anschließend Erster Sekretär des ZK der KPdSU] und Dimitri Ustinow [damals sowjetischer Verteidigungsminister] mit Stanisław Kania [Erster Sekretär des ZK der PZPR] und Wojciech Jaruzelski, Aufzeichnungen, die in Moskau aufgesetzt wurden. Cenckiewicz sieht dies alles nicht oder hat er vielleicht überhaupt nicht gelesen? Er stellt Wałęsa als Kapitulierer dar, der sich obendrein auf den Kampf mit seinem Konkurrenten Gwiazda konzentriert. Der Autor von Anti-Wałęsa-Pamphleten will sich nicht mit dem so wichtigen Dokument vertraut machen, das Tomasz Mianowicz in den Archiven der ehemaligen DDR gefunden hat, die Aufzeichnung der Beratung der ostdeutschen Generäle mit dem Oberkommandierenden des Warschauer Paktes, Wiktor Kulikow, Anfang April 1981. Der sowjetische Marschall verbarg nicht seine Irritation darüber, dass es in Polen nicht zum gewünschten Zusammenstoß und der Einführung des Kriegsrechts kam. Fordert Cenckiewicz heute von Wałęsa die Eskalation jenes Konfliktes? Natürlich, Wałęsa zahlte damals einen hohen Preis für die Eigensinnigkeit und Entschlossenheit, für den Konflikt mit vielen Aktivisten, die den Kampf nach dem Muster des August entscheiden wollten. Nun wurde begonnen, ihn mit Hilfe von Anschuldigungen über Machenschaften mit dem Geheimdienst zu bekämpfen; Cenckiewicz zieht entsprechende Aussagen heran. Zusammen mit seinen Beratern rettete Wałęsa jedoch den Fortbestand der Solidarność für weitere neun Monate. Und wieder sieht Cenckiewicz nicht den Wald, sondern nur einzelne Bäume. Er zitiert Geheimdienstdokumente zum Beweis dafür, dass die Machthaber wollten, dass Wałęsa nicht verliert, um gleichzeitig die Radikalen zu schwächen. Ja, es ist wahr, die Machthaber hatten den Kriegszustand noch nicht beschlossen, auch wenn die Vorbereitungen liefen. Sie wollten mit der Solidarność spielen, sie zählten auf ihr Zerbersten, erkannten Wałęsa als Anführer an, mit dem sie verhandeln, sich reiben, aber auch Kompromisse schließen konnten. Und so war es bis zum Spätherbst 1981. Hat sich Wałęsa (ein Mal?, zwei Mal?) mit General Adam Krzysztoporski, dem stellvertretenden Innenminister, Chef des Geheimdienstes, getroffen? Dies hat Grzegorz Majchrzak untersucht. Vielleicht hat er sich getroffen, aber beweist das etwas Unwürdiges, dass der Vorsitzende der zehn Millionen starken Gewerkschaft ein Gespräch mit dem Vize-Innenminister hat? Man könnte sich sogar den Gesprächsverlauf auf der Grundlage des früheren Gesprächs von Wałęsa mit Ministerpräsident Jaruzelski vorstellen, das der General beschrieben hat. Aber halten wir uns an die Fakten. Die Wahl des Vorsitzenden der "S". Cenckiewicz lauscht den Aufzeichnungen des Geheimdienstes Cenckiewicz versucht seit Jahren, eine Sensation aus den Aufzeichnungen des Geheimdienstes zu den Wahlen des Solidarność-Vorsitzenden auf dem Kongress der Gewerkschaft im September und Oktober 1981 zu machen. Es besteht nicht die Notwendigkeit, die Echtheit der zitierten Dokumente in Frage zu stellen; die Ehrlichkeit gebietet jedoch, auch die Namen der Gegenkandidaten für die Funktion des Vorsitzenden in Erinnerung zu bringen: Marian Jurczyk, Andrzej Gwiazda, Jan Rulewski. Keiner von ihnen wäre imstande gewesen, die große Solidarność zu beherrschen, in der bereits ernstzunehmende Konflikte entstanden. Wenn Herr Cenckiewicz die vom IPN herausgegebenen Stenogrammbände des Kongresses gelesen hätte, würde er mehr verstehen. In seinen Ausführungen ist keine Spur von Lektüre zu sehen. Das Interesse der Machthaber, die noch zwischen dem Willen zur Konfrontation (der von Moskau unterstützte Beton mit Tadeusz Grabski, Stanisław Kociołek, aber auch zu einem gewissen Grad Kiszczak und Jaruzelski) einerseits und der Möglichkeit der Absorption der Solidarność vom System (Kania) schwankten, veranlasste Kania dazu, auf Wałęsa zu setzen, und nicht auf die Radikalen, auf Massenauftritte und die Gefahr der Destabilisierung des Landes. Auch die Kirche war bestrebt, einen Zusammenstoß zu vermeiden, was ebenfalls der Westen nicht wollte. Diese alle drückten Wałęsa die Daumen und dass er an der Spitze der Solidarność bleiben möge. Der Wahlsieg Wałęsas auf dem Kongress war also der Sieg aller dieser Kräfte und nicht das Ergebnis der "Bemühungen des Geheimdienstes". Cenckiewicz versteht dies nicht, weil er überhaupt wenig von Politik versteht, die in seiner Vorstellung durch laute Deklarationen von Feindseligkeiten und Manifestationen ideologischer Prinzipien, drohende Fäuste und hingeschleuderte Beleidigungen ersetzt werden sollte. Solche Erwartungen hat Wałęsa offensichtlich nicht erfüllt, es gab auch keinen großen Bedarf danach in einem Land, wo man für ein Stück Fleisch auf Lebensmittelkarte stundenlang anstand, manchmal von 6 Uhr morgens an. Und oft gab es dann das Stück Fleisch nicht mehr. Aus den Augen vieler Familien blickte der Hunger. So war es im Herbst 1981 – und darum gingen die ernstesten Auseinandersetzungen mit den Machthabern. Wałęsa bremste so sehr er konnte den Radikalismus, der von unten erwuchs, und zusammen mit seiner Mannschaft suchte er bis zum Schluss nach Möglichkeiten für einen Kompromiss, damit Polen nicht in Anarchie oder großen Aufruhr verfalle, dabei unvermeidlich von einer sowjetischen Invasion bedroht. Gleichzeitig versuchte er, die Einheit der Gewerkschaft aufrecht zu erhalten, daher seine Wende zu den Radikalen Anfang Dezember 1981. Das ist der Wald, den Cenckiewicz nicht sieht. Er will sich lieber mit Wałęsas Privatleben befassen, seiner angeblichen Liebschaft. Wałęsa und der Kriegszustand. Cenckiewicz’s Verleumdungen Eine Verleumdung ist der Satz: "Wałęsa kannte nicht den genauen [Hervorhebung im Orig., d. Übers.] Termin der Einführung des Kriegsrechts." Dieser Satz suggeriert, dass er wusste, dass das Kriegsrecht eingeführt wird, er wusste nur nicht – was? den Tag? die Stunde? Hinter dieser Unterstellung verbirgt sich eine Anschuldigung – er wusste, hat es aber den anderen nicht gesagt. Cenckiewicz’s Verleumdung stützt sich auf nichts, auf keine Quellen. Alle von Seiten der Solidarność und der Kirche am politischen Leben Beteiligten wussten, dass es gefährlich ist, dass es zu einer Konfrontation kommen kann, dass dem Sejm ein Projekt über außerordentliche Vollmachten vorliegt. Die Anführer der Gewerkschaft versuchten, es im Sejm zu blockieren, gleichzeitig wappneten sie sich für eine Konfrontation. Die Mitschriften der Beratungen sind veröffentlicht, aber Cenckiewicz interessieren sie nicht. Eine Verleumdung ist ebenfalls der Satz, dass Wałęsa "bereit für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten war, trotz des bewaffneten Angriffs auf die Solidarność." Angeblich ließ er sich deswegen widerstandslos nach Warschau bringen. Sicherlich hätte es Herrn Cenckiewicz mehr gepasst, wenn er mit einem Messer auf die Milizionäre losgegangen wäre, die kamen, um ihn von zu Hause abzuholen. Am 13. Dezember war Wałęsa immer noch eine Schlüsselfigur, von der es abhing, was weiter geschehen würde. Er hätte kapitulieren und im Fernsehen mit einem Appell auftreten können, die Verordnungen des Kriegszustands zu respektieren. Das wäre das Ende der Solidarność gewesen. Er tat es nicht. Er hätte den Versuch starten können, die Solidarność ohne Extremisten zu erneuern, was ihm Stanisław Ciosek nahelegte (ich stelle das Gespräch in einem Artikel für "Ale Historia" vom 14. März 2016 dar, den Cenckiewicz natürlich nicht gelesen hat). Er weigerte sich und forderte ein Treffen mit der Landeskommission [Komisja Krajowa, d.Übers.] – er wusste noch nicht, dass sie interniert sind, – und den Beratern, insbesondere Bronisław Geremek. Er wollte die Verhandlungen wieder aufnehmen, aber die Machthaber wollten, dass er kapituliere und sich als Schild für eine Pseudo-Solidarność, kontrolliert vom Geheimdienst, einsetzen ließe. (Offensichtlicher Unsinn ist die Feststellung, dass die Operation "Renesans", das heißt die Schaffung einer neuen Solidarność unter der Kontrolle des Geheimdienstes, auf Danzig beschränkt sein sollte. Cenckiewicz, das ist hier eindeutig zu sehen, kennt die Protokolle und Niederschriften der Sitzungen der Führung des Innenministeriums nicht.) Von einem Tag auf den anderen orientierte sich Wałęsa über die Situation. Er lehnte Zugeständnisse und sogar die Aufnahme von Gesprächen in der Isolationshaft ab. Cenckiewicz sieht dies nicht, er erregt sich über verschiedene Meinungen auf Seiten der Machthaber, bemerkt aber nicht einmal, um was es diesen ging. Er führt die Tatsache an, dass Wałęsa von Oberst Władysław Iwaniec [seinem Chef aus der Armee in den 1960er Jahren] besucht wird, aber er kümmert sich nicht um die Berichte dieser Gespräche, die an Jaruzelski gerichtet waren. Sie wurden aber von mir und von Majchrzak analysiert. Cenckiewicz’s verblüffende Abneigung zu lesen ist wahrhaftig irritierend. Er stellt fest, dass Wałęsa von einem Geheimdienstler besucht wurde, der mit ihm vor 1976 auf der Werft in Verbindung getreten war, was zweifellos der Versuch einer Erpressung mit Hilfe der Enthüllung dieser Kontakte war, aber er fügt nicht hinzu, dass Wałęsa auch in dieser Situation nicht nachgab. Cenckiewicz hat natürlich auch nicht bemerkt, dass bei der Beratung des engen Führungszirkels des Innenministeriums am 27. Dezember 1981 der stellvertretende Innenminister General Bogusław Stachura über die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung referierte und sagte, "es müssen Branchengewerkschaften sein, aber an ihrer Spitze darf nicht Wałęsa stehen" (das Dokument befindet sich im IPN). Wenn er die Internierung Wałęsas darstellt, verwundert sich Cenckiewicz über die Anzahl der Wein- und Wodkaflaschen, sieht aber nicht das Wesentliche. Alles dient dazu, Wałęsa zu erniedrigen, ihn lächerlich zu machen, zu zeigen, was für ein vermeintlich kleiner Mensch er war. Er sieht jedoch nicht, dass Wałęsa, isoliert von Kollegen und Beratern, trotz des Zuredens der Kirchenleute, einen Kompromiss zu suchen, nicht unterlag, dass er keinen Kompromiss einging. Das wissen wir aus den Akten der Offiziere des Büros für Personenschutz der Regierung (Biuro Ochrony Rządu – BOR), die Wałęsa beaufsichtigten und Aufzeichnungen an die Vorgesetzten schickten, die Grzegorz Majchrzak und Tomasz Kozłowski veröffentlichten ("Kryptonim 333", Chorzów: Videograf 2012.) Cenckiewicz ist zu empfehlen, dieses Buch zu lesen und nicht nur die Anzahl von Flaschen zusammenzustellen. Er sollte sich auch mit den Aufsätzen der letzten Nummer der Halbjahresschrift "Wolność i Solidarność" vertraut machen, in der Tomasz Kozłowski diese Angelegenheiten darstellt und der Verfasser dieses Textes die Umstände der Entlassung Wałęsas referiert sowie dass es nicht zu einem Prozess kam, worauf die Generalmilitärstaatsanwaltschaft drängte. Um die Umstände des Gespräches der Brüder kennenzulernen bzw. des Fälschens von Dokumenten mit dem Ziel, Wałęsa zu kompromittieren, sollte Cenckiewicz das bereits empfohlene Werk von Majchrzak lesen. Ohne zu lesen lässt sich der Beruf des Historikers nicht ausüben! Emotionen und Vorstellungen reichen nicht aus. Cenckiewicz unterscheidet das Spiel mit Worten nicht von tatsächlichem Verhalten Mit Sławomir Cenckiewicz zu polemisieren ist eine schwierige Aufgabe, nicht nur mit Blick auf seine Aggressivität, seine Dreistigkeit und seine Hartnäckigkeit, nicht zu lesen. Allzu oft muss man den Kontext grundlegender Fakten erläutern, was einem Versuch gleichkommt, ein Handbuch zu schreiben. Cenckiewicz versteht die simpelsten Spiele von Wałęsa nicht – die halben Versprechungen, die er machte, um den Gegner zu sondieren, von denen er sich aber sogleich zurückzog. So sprach er mit Oberst Władysław Kuca [Chef des Büros für Studien im Innenministerium, das die Solidarność ausspionierte], Kiszczak, Oberst Bolesław Klis von der Militärstaatsanwaltschaft und Oberst Hipolit Starszak vom Geheimdienst. Er täuschte, zündete Nebelkerzen, aber sonst nichts. Cenckiewicz unterscheidet das Spiel mit Worten nicht von tatsächlichem Verhalten und Handeln. Was ergibt sich denn daraus, dass Wałęsa sagte, er "ist gewillt" in der PRON [Patriotyczny Ruch Odrodzenia Narodowego – Patriotische Bewegung zur Nationalen Wiedergeburt, eine Pseudoorganisation, die von der Obrigkeit des Kriegszustands berufen worden war] aktiv zu werden, wenn er keinen einzigen Schritt unternahm, um das zu verwirklichen? Lech Wałęsa sagte immer und unter allen Umständen, dass sich die polnischen Angelegenheiten nicht anders als auf dem Weg des Kompromisses lösen lassen. Und dieser Kompromiss muss sich auf die Anerkennung der Partnerschaft und der Unabhängigkeit der Solidarność stützen. Darin stimmte er mit der Position der Kirche und des Papstes Johannes Paul II. überein, der – daran sei erinnert – die Zustimmung der Machthaber zu einem Treffen mit Wałęsa während der Pilgerreise nach Polen im Juni 1983 erzwang. Wałęsa kämpfte ohne Aufruf zu Gewalt und Blutvergießen. Das war das Handlungsprinzip der gesamten Solidarność, auch im Kriegszustand. Er rief nicht zum Hass auf, sondern unterstrich – trotz Schikanen und Repressionen – beständig die Notwendigkeit des Dialogs und des Kompromisses. Dank dessen war die Solidarność das, was sie war, und spielte in der Geschichte Polens und der Welt die Rolle, die sie spielte. Herr Cenckiewicz versteht dies nicht, er ist aus anderem Lehm geformt, statt auf Dialog und Kompromiss setzt er auf einen ideologischen Kreuzzug und die Vernichtung der Gegner. Er versteht nicht viel von jener Zeit. Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate Quelle: Fundacja Ośrodek Kontroli Obywatelskiej OKO Externer Link: https://oko.press/friszke-o-cenckiewiczu/ (abgerufen am 3.03.2017) mit freundlicher Genehmigung
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"2017-04-10T00:00:00"
"2017-04-05T00:00:00"
"2017-04-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/245951/kommentar-andrzej-friszke-zerschlaegt-die-14-mythen-von-slawomir-cenckiewicz-ueber-lech-walesa-verleumdungen-unterstellungen-und-manipulationen/
Das in Polen für die Aufarbeitung des Kommunismus zuständige Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) fand eine angeblich 1970 von Walesa unterzeichnete Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst. In diesem Kontext setzt sich Andrzej Friszk
[ "Kommunismus", "Historiographie", "Polen", "Polen" ]
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Die Geschichte der "afro look" | Afrikanische Diaspora in Deutschland | bpb.de
Die erste Ausgabe der "afro look" (1988) (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Die Idee Für die Berliner Afros war 1987 ein besonders heißer Sommer. Inspiriert von den ersten Treffen und der anschließenden Gründung der "Initiative Schwarze Deutsche" (ISD), beschlossen einige aus der Berliner Community, einen Kulturkalender für Schwarze Menschen zu kreieren und in der Stadt zu verteilen. Es ging darum, so viele Schwarze Menschen wie möglich über kulturelle, aber auch politisch interessante Veranstaltungen in der Hauptstadt zu informieren. Die Idee entwickelte sich jedoch schnell zu einem größeren Projekt und man beschloss, eine vierteljährliche Zeitschrift herauszubringen. Die erste Ausgabe von "Onkel Tom's Faust" erschien im Februar 1988. Die Redaktion diskutierte die Namensgebung recht kontrovers. Für die einen symbolisierte die Faust, dass Onkel Tom sich wehren konnte. Die Gegner argumentierten, man könne das Sprachrohr der Schwarzen Gemeinschaft keinesfalls nach einer traurigen Romanfigur benennen, die der Fantasie einer weißen Autorin entsprungen ist. Ein Alternativvorschlag lautete "afro look". In der Abstimmung setzte sich "Onkel Tom's Faust" durch. Nach dem Erscheinen der Zeitschrift gab es viel Lob für die Inhalte und massenhaft Protest hinsichtlich des Namens. Daher wurde das Blatt ab der zweiten Ausgabe in "afro look" umbenannt. Ausgabe Nr. 10 (1993). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Fast alle Gründungsmitglieder waren Schüler oder Studenten mit viel Zeit und noch viel mehr Enthusiasmus. Gedruckt wurde das Blatt beim Asta der FU Berlin, per Hand zusammengeheftet und anschließend in verschiedenen Berliner Läden, Cafés, Bibliotheken etc. gegen Kommission verteilt bzw. bei Veranstaltungen verkauft. Mit den daraus resultierenden Anzeigen konnten die nächsten Ausgaben finanziert werden. Über den ISD-Verteiler gelangte die Zeitschrift auch in andere Bundesländer und ins Ausland. Inhalte Ursprünglich als Kulturzeitschrift geplant, entwickelte sich "afro look" schnell zum politischen Sprachrohr der ISD. Das Feedback war unglaublich. Viele Leser schickten eigene Beiträge in Form von Geschichten, Aufsätzen und Gedichten. "afro look" berichtete ebenso über historische Fakten, z.B. Schwarze Menschen in der NS-Zeit wie über Sichelzellenanämie, eine spezifische Krankheit, von der fast ausschließlich Schwarze Menschen betroffen sind. Sie prangerte rassistische Sprache in deutschen Medien an und stellte Schwarze Gruppen im In- und Ausland vor. Nachrufe auf Audre Lourde, Fasia Jansen und May Ayim gehörten ebenso zum Inhalt der "afro look" wie Glückwünsche zu Geburten, Beförderungen und Eheschließungen innerhalb der Schwarzen Community. Ausgabe Nr. 11 (1993). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser; Coverfoto: Alexander Schirrmann-Ayeni) Ein wichtiger Bestandteil der "afro look" waren vor allem Gedichte und Geschichten, die oft sehr persönlich und z.T. anonym veröffentlicht wurden. Hierin spiegelte sich das ganze Repertoire Schwarzer künstlerischer Begabung, aber auch persönlicher Verletzungen wider. Für viele Autoren bedeutete die Veröffentlichung der Texte einen wichtigen Schritt bei der Identitätsfindung. "afro look" nahm sie ernst. Der Fall der Berliner Mauer eröffnete der "afro look" eine neue Leserschaft. Aber auch vor 1989 fuhren Mitglieder der Redaktion in den Ostteil der Stadt, um sich mit Afro-Deutschen in der DDR auszutauschen, die wiederum interessante neue Perspektiven der afro-deutschen Identität einbrachten. Über die Jahre wuchs auch im Ausland das Interesse an der Zeitschrift, vor allem in den USA. "afro look" schaffte es sogar, einen Verteiler in den Vereinigten Staaten aufzubauen. Zahlreiche amerikanische Universitäten und Professoren verwendeten "afro look" für ihren Deutsch- oder Geschichtsunterricht. Mindestens eine Magisterarbeit hatte die Zeitschrift zum Thema. Ausgabe Nr. 24/25 (1997). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Entwicklung Leider profitierte die Zeitschrift von allen diesen Verbindungen recht wenig – weder finanziell noch ideell. Obwohl unzählige Artikel, Diplomarbeiten und Aufsätze über Schwarze Deutsche Auszüge aus dem Blatt zitierten, wurden die ursprünglichen Verfasser kaum dafür entlohnt. Die finanziellen Kapazitäten der Redaktion reichten nicht aus, um die Urheberschaft zu schützen. Allerdings wurde der Titel "afro look" beim Patentamt als Marke eingetragen. 1997 veranstaltete die ISD eine Jubiliäumsparty für "afro look". Zehn Jahre erfolgreicher Arbeit wollten gefeiert werden. Die Jubiläumsausgabe erschien viersprachig. Trotzdem steckte die Zeitschrift zu diesem Zeitpunkt bereits in finanziellen Schwierigkeiten. Die Anzeigen gingen zurück, der Vertrieb gestaltete sich schwierig und die Druckkosten mussten inzwischen selbst finanziert werden. Das Redaktionsteam wechselte häufig über die Jahre. Die ehemaligen Studierenden sowie Schülerinnen und Schüler, die ehrenamtlich das Blatt herausgegeben hatten, gingen ins Berufsleben oder ins Ausland. Man hatte andere Prioritäten, als unentgeltlich eine Zeitschrift herauszugeben. Vor allem jedoch fehlte der Nachwuchs, der mit demselben Enthusiasmus an die Arbeit ging. Zum Schluss gab es nur noch zwei Herausgeberinnen, die versuchten, die Zeitschrift im Alleingang zu veröffentlichen. Zwei Jahre konnte das Blatt noch durchzuhalten. 1999 erschien die vorerst letzte Ausgabe der "afro look", obwohl das Magazin offiziell niemals eingestellt worden ist. Ausgabe Nr. 31-32 (1999). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Perspektiven Zurzeit existieren kaum Möglichkeiten, das Projekt weiterzuführen. Viele unveröffentlichte Texte liegen für den Abdruck bereit, doch ohne ausreichende Finanzierung und Teamstärke kann man keine Zeitschrift machen. Darüber hinaus müsste das Konzept der "afro look" neu überdacht werden. Die Zeitschrift war ursprünglich als Vereinsblatt konzipiert. Über die Jahre entwickelte sie sich jedoch zu einem viel größeren Projekt, das zwar Bindungen an die ISD hatte, aber völlig unabhängig vom Verein wirtschaftete. Auch die Lebenssituationen Schwarzer Menschen in Deutschland haben sich verändert. Die Erfordernisse an eine Berichterstattung von Schwarzen Menschen über Schwarze Menschen sind heute andere als vor sechzehn Jahren. Ein Schwarzes Magazin muss dieser Entwicklung Rechnung tragen. Es fehlen neue Impulse, die zwar in der Community vorhanden sind, momentan aber nicht publizistisch umgesetzt werden. Neue Versuche wie beispielsweise die Jugendzeitschrift "Blite", ein Projekt der Berliner ISD für Schwarze Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren, leiden unter denselben Problemen. Dennoch gibt es auch Initiativen, Schwarze Medien neu zu beleben, beispielsweise das Schwarze Fernsehen oder Afro-TV in Berlin. Es gibt Überlegungen, "afro look" als Netzzeitung zu publizieren. "afro look" ist eine Community-Zeitung, die die Entwicklung des Schwarzen Selbstverständnisses in Deutschland von Beginn an begleitet hat. Das macht sie einmalig und revolutionär. Sie ist und bleibt ein wichtiger Teil afro-deutscher Geschichte. Die erste Ausgabe der "afro look" (1988) (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Ausgabe Nr. 10 (1993). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Ausgabe Nr. 11 (1993). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser; Coverfoto: Alexander Schirrmann-Ayeni) Ausgabe Nr. 24/25 (1997). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser) Ausgabe Nr. 31-32 (1999). (© Jeannine Kantara/Ricky Reiser)
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Jeannine Kantara
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/afrikanische-diaspora/59493/die-geschichte-der-afro-look/
In den zwölf Jahren ihres Erscheinens hat die Zeitung "afro look" Schwarze Geschichte beschrieben und mitbestimmt. Sehr persönliche Gedichte und Erzählungen spiegelten das ganze Repertoire künstlerischer Begabung, aber auch persönlicher Verletzungen
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M 03.01 Spot: Stop Cybermobbing | Mobbing – bei uns nicht?! | bpb.de
"Dieser Spot ist Teil einer EU-weiten Kampagne zur Bewusstseinsbildung von Kindern und Jugendlichen zum Thema Cyber-Mobbing. Der Spot wurde im Auftrag der EU-Kommission von LDV United erstellt und bringt in 60 Sekunden zum Ausdruck, was beim Cyber-Mobbing passiert: Über das World Wide Web greifen die Täter in die geschützte Privatsphäre des Opfers ein, stellen eine Beleidigung nach der nächsten ins Netz. Das Gelächter ist groß, das Opfer den Beschimpfungen scheinbar hilflos ausgesetzt. Der Spot ermutigt, solche Fälle zu melden und sich gegen Cyber-Mobbing zu wehren." Quelle: Externer Link: Weitere Quelle : Externer Link: https://www.klicksafe.de/ueber-klicksafe/downloads/weitere-spots/eu-spot-cyber-mobbing.html
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-21T00:00:00"
"2011-12-06T00:00:00"
"2021-09-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/mobbing/46572/m-03-01-spot-stop-cybermobbing/
Dieser Spot ist Teil einer EU-weiten Kampagne zur Bewusstseinsbildung von Kindern und Jugendlichen zum Thema Cyber-Mobbing
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Didaktische Konzeptionierung | Gesundheitspolitik | bpb.de
Überblick über die Inhalte des Moduls und die Lerntour Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung unterlag in den letzten Jahren vielfältigen Änderungen. Im Zentrum dieses Wandels steht die Schaffung eines Gesundheitsfonds im Jahr 2009 und dessen Reform im Jahr 2011. Im Ergebnis dieses Wandels hat sich ein Mischsystem bei der GKV-Finanzierung herausgebildet, das aus unterschiedlichen Komponenten besteht. Zweck dieses Moduls ist es, den Nutzern die Grundmerkmale des Finanzierungssystems zu vermittelnsie mit der Funktionsweise des Gesundheitsfonds und des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs vertraut zu machen,die Nutzer in die Lage zu versetzen, sich dazu ein eigenes Urteil zu bilden. Das Modul geht zunächst auf die Grundmerkmale der GKV-Finanzierung ein. Anschließend erläutert es die Funktionsweise des Gesundheitsfonds sowie des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs. Schließlich folgt eine Darlegung der Wahltarife in der GKV. Auf Steuerungsprobleme und Fehlsteuerungen des Finanzierungssystems geht dieses Modul nur ansatzweise ein. Hinweise auf diese Thematik finden sich vor allem im Modul "Reformbedarf in der GKV-Finanzierung". Das Programm dieser Lerntour Die Titel der einzelnen Lernobjekte können Sie der folgenden Übersicht entnehmen. Interner Link: Grundmerkmale der GKV-Finanzierung Interner Link: Bruttolohnbezogene Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern Interner Link: Steuerfinanzierter Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung Interner Link: Zusatzbeiträge für die Versicherten Interner Link: Die Funktionsweise des Gesundheitsfonds Interner Link: Der Gesundheitsfonds 2009-2010 Interner Link: Der Gesundheitsfonds 2011-2014 Interner Link: Die Funktionsweise des Gesundheitsfonds (seit 2015) Interner Link: Wahltarife in der gesetzlichen Krankenversicherung Interner Link: Monetäre Wahltarife: Selbstbehalt und Beitragsrückerstattung Interner Link: Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen Lernziele Dieses Modul verfolgt folgende Lernziele: Die Nutzer dieses Moduls sollen mit den Grundmerkmalen der GKV-Finanzierung vertraut gemacht werden.Sie sollen Informationen über die Funktionsweise des Gesundheitsfonds und des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs erhalten.Das Modul soll den Nutzern helfen, sich zu den Diskussionen über die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung eine eigene Meinung zu bilden. Zusammenfassung Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung unterlag in den vergangenen Jahren erheblichen Veränderungen. Sie beruht gegenwärtig auf einem Mischsystem, das sich aus bruttolohnbezogenen Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, einem steuerfinanzierten Zuschuss des Bundes und einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen der Versicherten zusammensetzt. Den bei weitem größten Teil machen die einkommensabhängigen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge aus. Die Mittelzuweisung an die Krankenkassen erfolgt durch den 2009 eingeführten und 2011 reformierten Gesundheitsfonds. Das zentrale Verteilungsinstrument ist der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich. Er soll solche ausgabenrelevanten Unterschiede zwischen den Krankenkassen verringern, die aus der unterschiedlichen Zusammensetzung der jeweiligen Versichertengemeinschaften erwachsen. Zugleich verfügen die Krankenkassen mittlerweile über eine Reihe von Möglichkeiten, durch die Gestaltung von Wahltarifen die Beitragslast für die Versicherten zu modifizieren. Die Titel der einzelnen Lernobjekte können Sie der folgenden Übersicht entnehmen. Interner Link: Grundmerkmale der GKV-Finanzierung Interner Link: Bruttolohnbezogene Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern Interner Link: Steuerfinanzierter Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung Interner Link: Zusatzbeiträge für die Versicherten Interner Link: Die Funktionsweise des Gesundheitsfonds Interner Link: Der Gesundheitsfonds 2009-2010 Interner Link: Der Gesundheitsfonds 2011-2014 Interner Link: Die Funktionsweise des Gesundheitsfonds (seit 2015) Interner Link: Wahltarife in der gesetzlichen Krankenversicherung Interner Link: Monetäre Wahltarife: Selbstbehalt und Beitragsrückerstattung Interner Link: Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2017-09-05T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/255526/didaktische-konzeptionierung/
Ein Überblick über die Lernziele des Moduls, in dem auf Grundmerkmale der Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen eingegangen wird und auf Gesundheitsfonds und Risikostrukturausgleich.
[ "Gesundheitspolitik", "Finanzierung", "Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)" ]
30,220
Ein Gesetz entsteht | Deutsche Demokratie | bpb.de
Das Verfahren der Gesetzgebung ist kompliziert und auf den ersten Blick schwer durchschaubar. Wenn ein Gesetz zahlreiche Stufen in verschiedenen Instanzen durchläuft, so soll damit gesichert werden, dass möglichst alle Gesichtspunkte und alle Interessen berücksichtigt werden. Zugleich dienen die vielfältigen Mitwirkungsrechte der Machtverteilung und Machtkontrolle. Was ist ein Gesetz? In den ersten 16 Legislaturperioden (1949–2009) hat der Bundestag mehr als 6.600 Gesetze beschlossen. In dieser Gesetzesfülle spiegelt sich ein Wandel der Gesetzgebungsfunktion in den letzten Jahrzehnten. Gesetze sind nicht mehr wie im 19. Jahrhundert allgemeingültige Vorschriften, die die vorgegebene Ordnung dauerhaft sichern sollen. Der moderne Sozialstaat greift in alle Lebensbereiche ein. Gesetze dienen dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gestalten und zu steuern. Gesetze regeln das Wirtschaftsleben, die soziale Sicherheit, den Arbeitsmarkt, die Berufsausbildung, das Gesundheitswesen, die Erhaltung der Umwelt, den Datenschutz und vieles andere mehr. Damit werden Gesetze zu einem Mittel der Politik und zur Gestaltung der Lebensverhältnisse. Die Parteien verkünden ihre politischen Absichten in Wahlprogrammen, Regierung und Koalitionsfraktionen formulieren sie im Regierungsprogramm und setzen sie auf dem Wege der Gesetzgebung um. Gesetze sind aber nicht nur Umsetzungen politischer Programme. Anstöße für neue Gesetze können von einzelnen Bürgern, Interessenverbänden, Bürgerinitiativen und Petitionen ausgehen. Sachverständigenkommissionen, Untersuchungsausschüsse, wissenschaftliche Beiräte geben Empfehlungen für gesetzliche Regelungen. Aktuelle soziale und wirtschaftliche Entwicklungen können neue Gesetze erfordern. Länder- und Gemeindebehörden melden Änderungswünsche an, wenn bei der Ausführung von Gesetzen Schwierigkeiten auftreten. Wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, ist eine neue Regelung erforderlich. Viele internationale Verträge bedürfen eines Gesetzes (Ratifizierung), um in Kraft zu treten. Immer häufiger sind Gesetze erforderlich, die sich aus der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union ergeben und europäisches in deutsches Recht umsetzen. Als "Gesetz" wird bezeichnet, was nach dem vorgeschriebenen Verfahren vom Gesetzgeber beschlossen wird. Wichtige Gesetze, umfassende Neuregelungen, die oft politisch umstritten sind, werden in den Ausschüssen intensiv beraten und im Plenum debattiert. Die meisten Gesetze sind Änderungen oder Ergänzungen bestehender Gesetze, so genannte Novellierungen, die der Bundestag als Gesetz beschließen muss. 90 Prozent aller Gesetze "passieren" das Bundestagsplenum nur, sie werden ohne Beratung oder nach kurzer Debatte beschlossen. Gesetzesinitiative Nach dem Grundgesetz (Art. 76 Abs. 1) kann ein Gesetzesentwurf: durch die Bundesregierung,aus der Mitte des Bundestages,durch den Bundesrat eingebracht werden (Gesetzesinitiative). In den ersten 14 Legislaturperioden (1949–2002) sind drei Fünftel aller Gesetzesentwürfe von der Bundesregierung eingebracht worden. Von den verabschiedeten Gesetzen gingen 57 Prozent auf Initiativen der Bundesregierung zurück, 35 Prozent hatten Bundestagsabgeordnete, 8 Prozent hatte der Bundesrat eingebracht. In der 16. Legislaturperiode waren von den insgesamt 972 eingebrachten Gesetzesvorhaben 55 Prozent Vorlagen der Regierung. Vom Bundestag verabschiedet wurden 488 Regierungsvorlagen, 89 Gesetze auf Initiativen des Bundestages, 19 auf solche des Bundesrates. Das Übergewicht der Gesetzesvorlagen der Regierung erklärt sich daraus, dass nur die Regierung über einen umfangreichen bürokratischen Apparat verfügt, der in der Lage ist, komplizierte Gesetzgebungsmaterien in entscheidungsreife Gesetzesvorlagen umzusetzen. Davon profitieren die Mehrheitsfraktionen. Wenn die Mehrheit und die von ihr getragene Regierung ihr Programm in Gesetze umsetzen wollen, so liegt es nahe, dass die Entwürfe von den Ministerien erarbeitet und von der Regierung eingebracht werden. Gesetzesinitiativen des Bundestages können nur von den Fraktionen oder von 5 Prozent der Abgeordneten, der Mindeststärke einer Fraktion, ausgehen. Solche Initiativen ergreift in den meisten Fällen die Opposition, die damit aber naturgemäß wenig Erfolg hat. Die Regierungsfraktionen werden häufig bei eiligen Gesetzen aktiv. Der Bundesrat kann mit der Mehrheit seiner Mitglieder Gesetzesentwürfe einbringen. Davon wird verhältnismäßig selten Gebrauch gemacht. Gang der Gesetzgebung Ein Regierungsentwurf durchläuft bis zur Verabschiedung folgende Stationen: Referentenentwurf Der zuständige Fachreferent eines Ministeriums macht sich den Sachverstand und die Praxiserfahrung der von der geplanten Regelung betroffenen Verbände und Organisationen zunutze. Er fordert von ihnen Informationen und Stellungnahmen an und lädt sie zu Besprechungen ein. Er hört Fachleute aus der Wissenschaft an und setzt sich mit den Behörden der Länder und Gemeinden in Verbindung. Der Entwurf wird innerhalb des Ministeriums und mit anderen beteiligten Ministerien abgestimmt. Auch die Länderbürokratien werden schon sehr früh eingeschaltet, um deren Sachverstand zu nutzen, aber auch, um später einen reibungslosen Durchgang im Bundesrat zu sichern. Kabinettsvorlage Der Gesetzesentwurf wird vom Kabinett, dem Kollegium der Bundesregierung, als Regierungsentwurf beschlossen. Erster Durchgang im Bundesrat Der Regierungsentwurf wird dem Bundesrat zugeleitet, der innerhalb von sechs Wochen dazu Stellung nehmen kann. Der Bundesrat prüft die Vorlage sehr genau und macht häufig konkrete Änderungsvorschläge. Der Bundestag, dem der Entwurf mit den Vorschlägen des Bundesrates und der Stellungnahme der Bundesregierung dazu nun zugeleitet wird, ersieht daraus schon zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens, wo Interessen der Länder berührt sind, welche Einwände der Bundesrat geltend machen könnte und wie die Bundesregierung diese Einwände beurteilt. Erste Lesung im Bundestag Jeder Gesetzesentwurf durchläuft im Plenum des Bundestages drei Beratungen (Lesungen). In der ersten Lesung findet nur bei politisch wichtigen Gesetzesentwürfen eine Aussprache statt, wenn Regierung und Fraktionen der Öffentlichkeit ihre grundsätzlichen Auffassungen zu dem Vorhaben darlegen wollen. In jedem Fall wird der Entwurf am Ende der ersten Lesung an einen oder mehrere Ausschüsse überwiesen. Ein Ausschuss ist "federführend", er ist verantwortlich für den Fortgang des Verfahrens. Ausschussberatung Dies ist die wichtigste Stufe im Gesetzgebungsverfahren. Hier wird die Vorlage in Anwesenheit von Mitgliedern der Regierung oder deren Vertretern, des Bundesrates und der zuständigen Ministerialbeamten unter allen denkbaren Gesichtspunkten geprüft. Bei politisch bedeutsamen Vorhaben findet fast immer eine öffentliche Anhörung (Hearing) von sachverständigen Wissenschaftlern und Verbandsvertretern statt. Während der Ausschussberatungen befassen sich Arbeitskreise und Arbeitsgruppen der Fraktionen mit dem Entwurf, um ihre Positionen festzulegen. Fast alle Gesetzesentwürfe werden im Laufe der Ausschussberatungen mehr oder minder stark verändert. Nach Abschluss der Beratungen gibt der Ausschuss dem Bundestagsplenum eine Beschlussempfehlung. Zweite Lesung im Bundestag In der zweiten Beratung wird jede Bestimmung des Entwurfs einzeln diskutiert und zur Abstimmung aufgerufen, ebenso Änderungsanträge, die häufig von der Opposition gestellt werden. Sie sind selten aussichtsreich und sollen vor allem der Öffentlichkeit die abweichenden Standpunkte der Opposition verdeutlichen. Dritte Lesung im Bundestag An die zweite schließt sich zumeist sofort die dritte Lesung an, in der nochmals die grundsätzlichen Probleme erörtert werden, bei herausragenden Gesetzesvorhaben in Reden von Spitzenpolitikern, deren Adressat die Öffentlichkeit ist. Die dritte Lesung endet mit der Schlussabstimmung. Zweiter Durchgang im Bundesrat Jedes vom Bundestag beschlossene Gesetz wird nochmals vom Bundesrat geprüft. Gesetze, die die Rechte und Interessen der Länder berühren, bedürfen seiner ausdrücklichen Zustimmung. Zustimmungsgesetze Zustimmungsgesetze sind Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Das sind: Gesetze, die die Verfassung ändern: Sie erfordern die Zustimmung nicht nur von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, sondern auch von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.Gesetze, die Auswirkungen auf die Finanzen der Länder haben: Das sind vor allem Gesetze über Steuern, an deren Aufkommen die Länder oder Gemeinden beteiligt sind, etwa die Lohn- und Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Mehrwert- und die Kraftfahrzeugsteuer.Gesetze, die von den Ländern auszuführen sind: Die meisten wichtigen Bundesgesetze werden von den Ländern ausgeführt. Die Föderalismusreform von 2006 hat die bis dahin bestehende Regelung abgeschafft, dass ein Bundesgesetz zustimmungspflichtig ist, wenn es irgendwelche Verwaltungsvorschriften, etwa Gebührenregelungen, enthält. Damit soll die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze deutlich reduziert und Blockaden von Gesetzesinitiativen der Regierung erschwert werden. Einfache Gesetze (Einspruchsgesetze) Einfache Gesetze sind alle übrigen Gesetze, für die im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Zustimmung des Bundesrates vorgesehen ist. Gegen sie kann der Bundesrat Einspruch einlegen. Sie werden deshalb auch Einspruchsgesetze genannt. Der Bundestag kann diesen Einspruch in einer erneuten Abstimmung mit der Mehrheit seiner Mitglieder zurückweisen. Vermittlungsausschuss Kommt es wegen eines Gesetzentwurfes zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat, kann der Vermittlungsausschuss angerufen werden (vgl. Art. 77 Abs. 2 GG und die Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates). Er besteht aus 16 Mitgliedern des Bundestages, zusammengesetzt nach der Stärke der Fraktionen, und 16 Vertretern des Bundesrates. Jedes Land entsendet ein Mitglied. Den Vorsitz führt je ein Mitglied aus Bundestag und Bundesrat, die einander vierteljährlich ablösen. Traditionell wird der eine Vorsitzende von der stärksten Bundestagsfraktion gestellt, der andere ist ein Mitglied des Bundesrates aus der Partei mit der zweitstärksten Bundestagsfraktion. Die Aufgabe des Vermittlungsausschusses ist es, einen Kompromissvorschlag auszuarbeiten. Seine Mitglieder sind in ihren Entscheidungen frei. Die Bundestagsabgeordneten sind nach Art. 38 GG ohnehin nicht an Weisungen gebunden, und die Bundesratsvertreter sind in diesem Falle nicht von ihrer Landesregierung abhängig. Sie sind für die gesamte Legislaturperiode bestellt und aufeinander eingespielt. Ihre Verhandlungen sind streng vertraulich. Alle diese Voraussetzungen haben dazu geführt, dass nach oft langen Verhandlungen meist eine Einigung gelingt. Von 1949 bis Anfang 2008 wurde der Vermittlungsausschuss bei 836 Gesetzesvorlagen angerufen, davon scheiterten gerade einmal 11 Prozent. Der Vermittlungsausschuss kann vorschlagen, das umstrittene Gesetz unverändert zu verabschieden, es zu ändern oder aufzuheben. Im ersten Fall muss der Bundesrat zustimmen. In den beiden letzteren Fällen muss der Bundestag noch einmal einen Beschluss fassen, bei Änderungen stimmt er nur über diese ab, nicht noch einmal über den ursprünglichen Gesetzesbeschluss. Ausfertigung und Verkündung Ist das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen, wird das beschlossene Gesetz "ausgefertigt": Zunächst unterzeichnen es der oder die zuständigen Fachminister, anschließend der Bundeskanzler, danach der Bundespräsident. Damit kann es im Bundesgesetzblatt "verkündet" werden und in Kraft treten. Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 88-92.
Article
Horst Pötzsch
"2022-01-28T00:00:00"
"2011-11-06T00:00:00"
"2022-01-28T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/deutsche-demokratie/39351/ein-gesetz-entsteht/
Gesetze dienen dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gestalten. Mit ihnen greift der Staat in alle Lebensbereiche ein und reagiert auf aktuelle soziale und wirtschaftliche Entwicklungen.
[ "Deutschland", "Demokratie", "Parlament", "Gesetzgebung", "Gesetzesinitiative", "Lesung", "Vermittlungsausschuss" ]
30,221
Panzerkreuzer Potemkin | Der Filmkanon | bpb.de
Vielleicht ist "Panzerkreuzer Potemkin" (Bronenosets Potyomkin, R: Sergei M. Eisenstein, 1925) der berühmteste Film überhaupt. Jedenfalls ist sein Ruf unvergleichlich, und das nicht nur, weil er auf keiner der vielen Listen mit den so genannten besten Filmen der Welt je gefehlt hat und dabei häufig auf dem ersten Platz landet. Er besitzt diesen besonderen Ruf auch nicht allein deswegen, weil er Regisseure, Kameraleute und Cutter auf der ganzen Welt nachhaltig beeinflusste. Sondern "Panzerkreuzer Potemkin" gewann diese herausragende Stellung in der Filmgeschichte vor allem, weil er 1925 wahrhaft neu war und tatsächlich eine ästhetische Revolution des Films bedeutete. Mit wenig anderen Filmen verknüpft sich so sehr die Vorstellung des Beginns einer neuen Epoche der Filmkunst. Der Stummfilm vor Eisensteins Werk und der Stummfilm nach ihm stehen sozusagen für zwei verschiedene Kapitel der frühen Filmgeschichte. Das realisierten schon die Zeitgenossen, gerade in Deutschland. Ja man kann sagen, dass der internationale Siegeszug des Films erst durch die enthusiastische Reaktion insbesondere der linksgerichteten Intellektuellen in der Weimarer Republik seinen besonderen Schub bekam. Walter Benjamin schrieb damals, dass "der große Erfolg des 'Potemkin' in Deutschland entschieden wurde, ist ja bekannt". Ihn hat Eisensteins Film zu weit reichenden Thesen über die neuen Möglichkeiten des Films inspiriert – "wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewusstseins. Er ist – um es mit einem Wort zu sagen – das einzige Prisma, in welchem dem heutigen Menschen die unmittelbare Umwelt, die Räume, in denen er lebt, seinen Geschäften nachgeht und sich vergnügt, sich fasslich, sinnvoll, passionierend auseinander legen." Der Film, ein Produkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wurde also mit Eisenstein, mit dem damals so genannten "Russenfilm", und auch dem amerikanischen Slapstick, mehr als das Massenmedium des 20. Jahrhunderts: Er wurde die Kunstform, die der Moderne entsprach. Als Eisenstein Ende der 20er Jahre in die USA reiste, begrüßten ihn dort die weltberühmten Stars wie ihren Lehrmeister – Douglas Fairbanks ebenso wie Charles Spencer Chaplin. Mit "Panzerkreuzer Potemkin", so war damals international die Überzeugung, hatte die noch junge Kunst einen entscheidenden Schritt getan, ja war sie vielleicht erst wirklich zur Kunstform geworden. Dies bestimmt auch heute den Ruf des Films, nämlich den eines Exempels, mit dem ein anderes Verständnis der filmischen Grundlagen offenbar geworden sei. "Panzerkreuzer Potemkin" ist dabei das Beispiel der in den 20er Jahren in der jungen Sowjetunion aufblühenden Filmkunst, die als russischer Revolutionsfilm berühmt wurde. Die Oktoberrevolution von 1917 wurde zwar erst mit den Zehnjahresfeiern zum Zentrum der filmischen Bemühungen um historische Stoffe. Doch die Vorgeschichte der russischen Revolution, auch andere Episoden der revolutionären Bewegungen, wie sie sich vom bolschewistischen Standpunkt aus darboten, gerieten in den Blick der jungen Regisseure, die einer neuen Gesellschaft mit filmischen Mitteln eine historische Perspektive geben wollten. Eisenstein hatte mit "Streik" (Statchka, 1925) den Anfang gemacht, Pudowkins "Mutter" (Mat, 1926), Dowshenkos "Arsenal" (1928) und Kosinzew/Traubergs "Das neue Babylon" (Nowy Wawylon, 1929) folgten. Der russische Revolutionsfilm, eindeutig "Tendenzfilm", war so gesehen stark von historischen Themen dominiert. Gerade sie schienen eine Rechtfertigung der Revolution und der neuen Sowjetordnung zu ermöglichen – in der Kritik an der Zarenherrschaft, an Unterdrückung und Ausbeutung hatten die Regisseure die Folie gefunden, vor welcher der gewaltsame Umsturz und die Etablierung eines neuen Systems gerechtfertigt erschien. Demgegenüber blieben die Versuche vor allem Dsiga Vertovs, die Realität der jungen Sowjetunion in filmischen Werken zu feiern, international vergleichsweise weniger bekannt und entfalteten auch keine vergleichbar nachhaltige Wirkung, wie sie mit "Panzerkreuzer Potemkin" untrennbar verbunden ist. Vor allem das "Dynamit der Zehntelsekunden" (Walter Benjamin) bestimmte den Eindruck des russischen Revolutionsfilms. Die Möglichkeiten der Montage praktisch und theoretisch zu erkunden, stand für alle Vertreter der russischen Avantgarde im Mittelpunkt ihrer Bemühungen um eine neue Filmsprache. Sergej Eisenstein, der zeitlebens großes Interesse an theoretischen Fragestellungen hatte und sie sowohl als Publizist wie als Lehrender immer wieder behandelte, konzipierte "Panzerkreuzer Potemkin" konsequent von der Montage der Einzelbilder her. Nicht der Fluss der Erzählung, wie sie sich gleichzeitig im anderen großen kinematografischen Modell, dem klassischen Hollywood-Kino, entwickelte, stand daher im Vordergrund, sondern die nach rhythmischen Prinzipien, auf Kontrast, Konflikt, Steigerung oder Verlangsamung zielende Montage selbst. Mit der Dynamik, die Eisenstein in den Kulminationspunkten der Handlung entwickelte, war daher damals kein anderer Filmtyp vergleichbar. Entsprechend dem Credo, dass die Geschichte nicht von Einzelpersonen, sondern von den Massen gestaltet werde, verließ Eisenstein die eingeführten Wege der Filmerzählung. "Panzerkreuzer Potemkin" besteht aus fünf "Akten", die durch Zwischentitel voneinander abgehoben sind und Stationen der dramatischen Handlung kondensieren. In jedem der Akte gibt es die Steigerung hin zu einem Höhepunkt, jedoch vermittelt zwischen ihnen keine Hauptfigur. Auf ein Zitat von Trotzki, das nach Stalins Sieg über alle Konkurrenten in der Partei schon bald darauf durch eines von Lenin ersetzt werden musste, folgt in weiteren Zwischentiteln eine knappe Beschreibung der Ausgangssituation im Jahr 1905. Die Niederlage im Krieg gegen Japan hatte das Zarenreich geschwächt, die gewaltsame Niederschlagung eines Protestmarsches Unruhen im ganzen Reich zur Folge. Hier setzt die Filmhandlung auf dem Panzerkreuzer ein. Der erste Akt zeigt das Aufkeimen der Unzufriedenheit. Die Matrosen Wakulintschuk und Matjuschenko, die beiden Figuren, die noch am ehesten individuelle Züge tragen, sprechen über die Unruhen in ganz Russland. Der Protest gegen verdorbenes Fleisch, vom Schiffsarzt trotz sichtbaren Madenbefalls als genießbar erklärt, eskaliert. Alle Matrosen weigern sich, die Suppe zu essen. Im zweiten Akt befiehlt der Kapitän die Mannschaft auf Deck und lässt die bewaffnete Wache aufmarschieren. Die Matrosen ziehen sich daraufhin zum Geschützturm zurück, eine Gruppe aber wird am Bug festgehalten und soll exekutiert werden. Dies wird das Signal zum Aufstand. Wakulintschuk wird vom Ersten Offizier erschossen, aber seine Kameraden überwältigen die Offiziere und werfen sie ins Wasser. Wakulintschuks Leichnam wird in einem Beiboot an Land gebracht. Der dritte Akt zeigt die Anteilnahme der Bevölkerung Odessas. In einer endlos scheinenden Prozession ziehen die Menschen am aufgebahrten Wakulintschuk vorbei. Bevölkerung und Aufständische solidarisieren sich, die Menschen winken der am Mast aufgezogenen roten Fahne zu. Der vierte Akt bringt den unbestrittenen Höhepunkt des Films. Eine Flotte von verschiedensten Booten läuft aus und bringt den Matrosen Lebensmittel. Von der Treppe Odessas aus winkt die Menge zum Schiff herüber. Diese Menschenmenge wird von Kosaken, die im Gleichschritt drohend die Stufen herabkommen, niedergeschossen. Hier hebt die Montage einzelne Opfer hervor: die Mutter, die den Kosaken ihren erschossenen Sohn entgegenträgt und ebenfalls von einer Salve niedergestreckt wird; die Lehrerin, die den Soldaten mit der Bitte um Einhalt begegnet und ebenso getötet wird wie die Mutter, die sich schützend vor ihr Baby stellt, das dann hilflos im Kinderwagen die Treppenstufen herunterstürzt. Ein Schuss des Panzerkreuzers setzt dem Morden ein Ende. Der letzte Akt scheint auf die unausweichliche Konfrontation der Potemkin mit der Flotte zuzusteuern. Doch weigern sich die Matrosen auf den anderen Schiffen, das Feuer aus den Bordgeschützen zu eröffnen; die Potemkin entkommt. Eisensteins Film beruhte zwar auf einem historischen Ereignis, doch wirkte der Film vor allem durch die symbolische Fassung, die er diesem gab. Anhand des Aufstands der Matrosen entwickelt Eisenstein sozusagen eine Revolutionsgeschichte, in der die Solidarität der Massen trotz blutiger Gewalt triumphiert. Das offene Ende ist weniger ein Ausweichen vor historischer Korrektheit als eine Folge der Symbolik selbst: Der Aufstand der Matrosen und der Menschen von Odessa soll ein Exempel sein, kein historisches Datum. Obwohl vor allem und zu Recht die Montage gerühmt wurde, und bei ihr wiederum die dynamische Zuspitzung, tragen die stillen Episoden zur Wirksamkeit des Films entscheidend bei. Der dritte Akt beginnt mit wunderschönen Aufnahmen des Hafens im Nebel. Aus dieser Einleitung entwickelt sich allmählich der Vorbeimarsch der Bevölkerung am Märtyrer Wakulintschuk. Gerade dieser Spannungsaufbau gibt den imposanten Schlussbildern ihre Kraft. Ganz ähnlich sind auch in den anderen Akten jeweils ruhigere Szenen zu Beginn zu beobachten. Die Aufnahmen, die in den dynamischen Abschnitten gelegentlich nur noch knapp aufblitzen, sind hier auch in ihrer fotografischen Schönheit bemerkenswert. Mit "Panzerkreuzer Potemkin" erreichte der russische Revolutionsfilm seinen Höhepunkt. Die Experimentierlust und das Interesse an formalen Fragen, kennzeichnend für Eisenstein und allgemein die russische Avantgarde der 20er Jahre, galten bald darauf, unter der stabilisierten stalinistischen Herrschaft, als verpönter, wenn nicht gefährlicher Formalismus. Ein letztes Mal konnte Eisenstein seinen Film als typischen Ausdruck der russischen Revolution behaupten, als Goebbels 1933 – in seiner ersten Rede als Propagandaminister vor den Spitzen der deutschen Filmwirtschaft – den "Panzerkreuzer Potemkin" als einen zwar politisch feindlichen, aber in seiner Wirkung nachgerade vorbildlichen Film nannte. Der Forderung nach einem deutschen (nämlich nationalsozialistischen) Potemkin begegnete Eisenstein mit Sarkasmus, wohl wissend, dass zu diesem Zeitpunkt auch in der Sowjetunion ein neuer "Panzerkreuzer Potemkin" bereits nicht mehr realisierbar gewesen wäre. Interner Link: Filmkanon kompakt: Panzerkreuzer Potemkin Interner Link: DVD Panzerkreuzer Potemkin Interner Link: DVD mit V+Ö-Lizenz: Panzerkreuzer Potemkin
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Rainer Rother
"2021-12-14T00:00:00"
"2011-11-29T00:00:00"
"2021-12-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/filmkanon/43535/panzerkreuzer-potemkin/
Kaum ein Werk hat den Film als Kunstform so nachhaltig beeinflusst wie "Panzerkreuzer Potemkin". Die parabelhafte Geschichte der sozialistischen Revolution begründete einen Umbruch der Erzählweise.
[ "Panzerkreuzer Potemkin", "Sergej Eisenstein", "Sowjetunion", "Sowjetunion/Russland", "Russland", "Filmgeschichte", "Filmbildung" ]
30,222
Eigene Geräte in der Schule nutzen – BYOD als Konzept für die Lehre der Zukunft | Lehrende der Zukunft | bpb.de
„Bring Your Own Device (BYOD) ist die Bezeichnung dafür, private mobile Endgeräte wie Laptops, Tablets oder Smartphones in die Netzwerke von Unternehmen oder Schulen, Universitäten, Bibliotheken und anderen (Bildungs-)Institutionen zu integrieren.“ Diese Definition aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia eröffnet für den schulischen Bereich mehrere Möglichkeiten, die jeweils unterschiedliche Chancen und Risiken enthalten. Am Bischöflichen Clara-Fey-Gymnasium in Schleiden (Eifel) läuft ein auf zwei Jahre (Jahrgangsstufe 8 und 9) angelegtes Pilotprojekt Tablet-Klasse, dessen Ziel es ist, schuleigene Erfahrungen in möglichst vielen Fächern zu sammeln, um auf deren Grundlage den weiteren Ausbau digitaler Schule zu prüfen. Eine tragende Säule des Konzepts ist BYOD: Alle Schülerinnen und Schüler beziehungsweise deren Eltern haben dem Projekt sowie dem Kauf eines Tablets (2-in-1-Gerät: Display und Tastatur, freie Geräteauswahl) zugestimmt und es erworben (einheitliches Betriebssystem ist Windows 10). Somit besitzen alle Lernenden ein eigenes Tablet, mit dem sowohl in der Schule als auch zu Hause gearbeitet werden kann. Unsere bisherige Erfahrung zeigt, dass das Gerät fast ausschließlich zum schulischen Arbeiten verwendet wird – alles andere (Kommunizieren, Spielen) erfolgt weiterhin über das Handy. Hier unterscheiden die Schülerinnen und Schüler nach eigenen Angaben und auf meine Nachfrage hin zwischen Arbeit und Freizeit. Die Verantwortung fürs Gerät (Pflege, Wartung, Einhaltung der Nutzungsvereinbarung) liegt in Händen der Schülerinnen und Schüler. Eine weitere Säule des Konzepts stellt die weitgehende wirtschaftliche Unabhängigkeit durch schulinterne Eigenregie dar. Das bedeutet, dass wir bei der Bereitstellung der technischen Rahmenbedingungen im Hause nur soweit wie unbedingt erforderlich (z.B. bei der Verlegung von Kabeln in den Klassenräumen) auf Fremdfirmen angewiesen sind. Ansonsten werden wir durch unsere Netzwerk-AG unterstützt, die die schulinterne Wartung aller Netzwerk-Ressourcen übernimmt und aus zwölf Schülerinnen und Schülern sowie einem Leiter besteht. Ebenso schließen wir über das Betriebssystem und das Office-Paket hinaus keine Verträge mit großen IT-Unternehmen ab. Dies ermöglicht die notwendige Freiheit schulischer Bildung von mächtigen ökonomischen und damit auch zusammenhängenden didaktischen Interessen, etwa dem Einsatz vorgefertigter Lerninhalte, die den vor Ort bestehenden Realitäten nicht gerecht werden können. Die Entscheidung für das meistgenutzte Betriebssystem Windows ermöglicht die reibungslose Kompatibilität mit bestehenden Netzwerk-Ressourcen der Schule (schuleigene Cloud und Server), ebenso mit den heimischen PCs der meisten Schülerinnen und Schüler. WLAN im Klassenraum wird vom Lehrenden durch einen Accesspoint hergestellt. Wie BYOD die Lehre verändert BYOD verändert meiner Meinung nach Lernen und Lehren unter anderem in folgenden Bereichen: Binnendifferenzierung realisieren: Digitale Technik ermöglicht, wozu die „analoge Schule“ nie in der Lage war: Im Idealfall arbeiten alle Schülerinnen und Schüler mit ihrem Gerät auf ihrem individuellen Lernweg (Tempo, Qualität, Quantität) Eigenverantwortung stärken: Individuelle Lernwege ermöglichen mehr selbstgesteuertes Lernen Sprachaufnahmegerät, Fotoapparat und Videokamera sind stets griffbereit: Standbilder, Audios und Videos, z.B. von Bewegungsabläufen im Sport-oder von Experimenten im Chemieunterricht, können erstellt werden Arbeiten mit digitalen Schulbüchern, Audios, Videos, Podcasts, Online-Lexika Inhalte kollaborativ orts- und zeitunabhängig produzieren und teilen Projizieren von Texten, Bildern, usw. über den Beamer auf die Leinwand in der Klasse z.B. bei der Besprechung von Hausaufgaben An einem Beispiel möchte ich veranschaulichen, dass digitale Schule (hier verstanden als Unterricht, der die Arbeit der Schülerinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten ins Zentrum stellt) mehr und etwas anderes ist, als die digitale Abbildung analoger Schule. Wir arbeiten unter anderem auf einem Externer Link: Schulwiki, einer kollaborativen Lernplattform, die für alle jederzeit und von überall aus erreichbar ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass die eigenen Hausaufgaben für andere Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer jederzeit öffentlich sichtbar sind. Alle können voneinander profitieren, indem sie sich gegenseitig inspirieren. Die Öffentlichkeit nennen die Schülerinnen und Schüler als Grund dafür, dass sie nicht einfach nach dem Prinzip Copy-and-Paste verfahren. Dieses kollaborative Arbeiten und Lernen ist ein besonderes Kennzeichen digitaler Schule mit entsprechenden fachlichen und gruppendynamischen Konsequenzen. Es steht im Kontrast zum Einzelkämpfertum, das besonders an Gymnasien noch immer im Vordergrund steht und mit der Team- und Projektarbeit im anschließenden Beruf und Studium nichts gemeinsam hat. Peer-Feedback der Lernenden untereinander – wobei die Kriterien von mir vorgegeben werden – ermöglicht die Überarbeitung und Verbesserung, zum Beispiel von eigenen Texten. Was früher auf die Präsenzzeiten der Unterrichtsstunde begrenzt war, weitet sich durch den Einsatz digitaler Geräte deutlich aus. Als Lehrer kann ich ständig Feedback geben, nicht erst in der Unterrichtsstunde und lediglich punktuell. Hier bedarf es einer grundsätzlichen Entscheidung jeder und jedes Lehrenden, wie weit sie oder er Beruf und Privates trennen oder miteinander verbinden möchte. Für mich ist es offensichtlich, dass diese neue Arbeitsweise es mir erlaubt, detailliertere Blicke auf die Arbeiten der Lernenden zu werfen, die letztlich zu einer sachgerechten Bewertung ihrer Leistungen führen – ich beurteile diese Möglichkeit daher positiv. Die Arbeit auf dem Wiki erfordert außerdem, Persönlichkeits- und Urheberrechte sowie Datenschutzrichtlinien zu beachten und geltendes Recht im Internet anzuwenden. Der Freiraum des Einzelnen in der digitalen Schule, der sich unter anderem in Möglichkeiten der Binnendifferenzierung, individuellen Lernwegen und kreativen Lösungen äußert, erfordert auf der anderen Seite ein deutliches Mehr an Eigenverantwortung. Effiziente Techniken zur Organisation der eigenen Arbeit zu entwickeln, ist für viele Schülerinnen und Schüler eine Herausforderung und wesentliches Ziel digitaler Schule. Für mich als Lehrer bedeutet das darüber hinaus, den äußeren Rahmen (etwa grundlegende Kenntnisse in Recherchetechniken, Erstellen von Erklärvideos, Zeitvorgaben, Aufgabenstellungen) präzise, eindeutig und konsequent zu setzen. Anforderungen für Lehrende Lehrende, die die erweiterten Möglichkeiten digitaler Schule erkennen und ihren Schülerinnen und Schülern zugänglich machen möchten, müssen zunächst selbst umfassende Kenntnisse zur medienpädagogischen Arbeit erwerben. Bestenfalls sind sie täglich im Netz unterwegs, bloggen, beteiligen sich an einschlägigen Diskussionen, vernetzen sich mit Lehrenden, etwa über Social Media, die denselben Weg gehen und teilen ihre Erfahrungen mit ihnen. Sie sind – soweit sie das möchten – mit ihren Schülerinnen und Schülern auch außerhalb der Unterrichtszeiten in Kontakt und stets auf der Suche nach sinnvollen Tools für den Unterricht. Weiterführende Literatur: Aßmann, Sandra; Meister, Dorothee M., Pielsticker, Anja (Hg.) (2014): School's out?: Informelle und formelle Medienbildung, München: kopaed. Blatter, Martin, Hartwagner Fabia (2015): Digitale Lehr- und Lernbegleiter, Bern: hep-Verlag. Bos, Wilfried; Lorenz, Ramona; Endberg, Manuela; Schaumburg, Heike; Schulz-Zander, Renate; Senkbeil, Martin (Hg.) (2015): Schule digital – der Länderindikator 2015, Münster: Waxmann. Brüggemann, Marion; Knaus, Thomas; Meister, Dorothee M. (2016): Kommunikationskulturen in digitalen Welten, München: kopaed. Burow, Olaf-Axel (2014): Digitale Dividende: Ein pädagogisches Update für mehr Lernfreude und Kreativität in der Schule, Weinheim/Basel: Beltz. Giesecke, Michael (2002): Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft: Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hartmann, Werner; Hundertpfund, Alois (2015): Digitale Kompetenz: Was die Schule dazu beitragen kann, Bern: hep-Verlag. Larbig, Torsten; Spang, André; Bieler, Ines; Henning, Urs (2017): Digitale Medien für Unterricht, Lehrerjob und Schule: Die besten Ideen und Tipps aus dem Twitterchat #EDchatDE. Berlin: Cornelsen. Mittelstädt, Holger und Rainer (2015): 99 Tipps - Praxis-Ratgeber Schule für die Sekundarstufe I und II: Digitale Medien im Unterricht, Berlin: Cornelsen. Möbius, Thomas; Steinmetz, Michael; Lang, Verena (2015): Tablets im Deutschunterricht, München: kopaed. Notari, Michele; Döbeli Honegger, Beat (2013): Der Wiki-Weg des Lernens, Bern: hep-Verlag. Wampfler, Philippe (2017): Digitaler Deutschunterricht: Neue Medien produktiv einsetzen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Bring_your_own_device (Aufruf vom 14/05/17).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-10T00:00:00"
"2017-06-15T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/249359/eigene-geraete-in-der-schule-nutzen-byod-als-konzept-fuer-die-lehre-der-zukunft/
Arbeiten nach dem Prinzip "Bring your own device" oder "Bring dein eigenes Gerät mit“ – wie funktioniert das? Lehrer und Gastautor Jürgen Drewes mit einem Erfahrungsbericht zu seiner Tablet-Klasse.
[ "BYOD (Bring Your Own Device)", "Digitale Bildung" ]
30,223
The End of the World as We Know It | 10. Festival // Reich – München 2018 | bpb.de
in deutscher Sprache Jacob Burckhardt, ein renommierter Basler Kulturhistoriker, dessen Konterfei den 1000-Franken-Schein in der Schweiz ziert, feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag. Corinne Maier und ihre Performer/innen haben die Herausforderung angenommen und eine Auftragsarbeit akzeptiert, die sich kritisch mit seinem Leben und Werk auseinandersetzen soll. Mit großer Eloquenz und viel Sprachwitz debattieren sie nun über Sinn und Unsinn ihres Auftrags. Welche Annäherungen lassen sich in Zeiten von Gender- und Diversity-Debatten an einen Wissenschaftler finden, der trotz bedeutungsvoller Werke nachweislich Antisemit war und menschenverachtende, kriegstreiberische Thesen vertrat? Während die Performer/innen mit sprachlicher Schärfe und beißender Ironie der widersprüchlichen Persönlichkeit Burckhardts gekonnt zu Leibe rücken, entspinnt sich eine ebenso humorvolle wie kluge Reflexion über das Theatermachen selbst. Eine Reflexion über den Systemunterschied zwischen Freiem und Stadttheater und die Sachzwänge, denen freie Theatermacher/innen unterliegen, wenn es darum geht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und Drittmittel für die nächste Produktion aufzutreiben – selbst wenn sie das Thema nur wenig interessiert. Wie ist es möglich, dennoch eine Produktion auf die Bühne zu bringen, die relevant und bedeutsam ist? Die mit viel Scharfsinn geführte Konversation dreht immer absurdere Schleifen. Fast unmerklich entfaltet sich das eigentliche Thema des Abends: die angesichts der komplex gewordenen Gegenwart weit verbreitete Ratlosigkeit im Kulturbetrieb (und nicht nur dort). In der zweiten Hälfte des Stücks verdichtet die Regisseurin die Gemengelage zum Bild einer gigantischen, transparenten, mit Luft gefüllten Plastikblase, auf der die Akteur/innen und jeder für sich einen persönlichen Zugang zu dem umstrittenen Wissenschaftler finden. Die virtuos gebaute und ästhetisch beeindruckende Performance kommt sprachlich mit großer Leichtigkeit daher, ist präzise und von genauer Beobachtungsgabe geprägt. Was bleibt in der krisengeschüttelten Gegenwart vom angeeigneten Wissen übrig, wenn man sich körperlich vollkommen erschöpft im Hamsterrad des Kulturbetriebs bewegt? Von und mit:  Katharina Bill, Anne Haug, Oriana Schrage, Lajos Talamonti Konzept, Regie:  Corinne Maier Konzept, Dramaturgie: Kris Merken Szenografie: Martina Ehleiter Sounddesign, Komposition: Bernhard la Dous Choreografie: Berit Jentsch Lichtdesign, Technische Leitung: Thomas Kohler Produktion: Elena Conradt & Franziska Schmidt, produktionsDOCK Basel Mit Dank an:  Fachausschuss Tanz und Theater BS / BL, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Hauptstadtkulturfonds – Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Migros-Kulturprozent, Wilhelm und Ida Hertner-Strasser Stiftung, Stiftung Edith Maryon sowie alle weiteren Förderer Die Münchner Aufführungen von „The End of the World as We Know It“ wurden unterstützt von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung. Spielstätte: Schwere Reiter Vorstellungstermine: Fr., 9. November 2018, 21.30 Uhr Sa., 10. November 2018, 17 Uhr Publikumsgespräch am 10. November 2018: Mit: Prof. Dr. Harald Lesch (Astrophysiker, LMU München) und Corinne Maier (Regisseurin) Moderation: Stefanie Beckmann (Dramaturgin) Kuratiert von: Dramaturgische Gesellschaft
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-01-30T00:00:00"
"2019-04-05T00:00:00"
"2023-01-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/pift2022/288900/the-end-of-the-world-as-we-know-it/
Die Performance reibt sich anlässlich des 200. Geburtstags von Jacob Burckhardt an seiner widersprüchlichen Persönlichkeit: Welche Annäherungen lassen sich in Zeiten von Gender- und Diversity-Debatten an einen antisemitischen Wissenschaftler finden?
[ "Reich – Politik im Freien Theater" ]
30,224
SGV – Solidarität, Gerechtigkeit, Veränderung – | Landtagswahl Saarland 2022 | bpb.de
SGV – Solidarität, Gerechtigkeit, Veränderung – Die "SGV – Solidarität, Gerechtigkeit, Veränderung –" (SGV) wurde 2020 gegründet. Als bestimmende Werte bezeichnet sie Solidarität, Gerechtigkeit und soziale Verantwortung. Als größte Probleme sieht sie Alters- und Kinderarmut, Obdachlosigkeit, hohe Mieten in Ballungszentren, den Niedriglohnsektor und eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" im Gesundheits- und Bildungssystem. Die Rentenpolitik bezeichnet SGV als entwürdigend. Sie wirft der Politik mangelnde Ethik vor und kritisiert Lobbyismus. Die Forderungen in ihrem Parteiprogramm z.B. nach einem Ausbau des Sozialstaats, mehr Umverteilung und einer stärkeren Regulierung des Arbeitsmarkts lassen sich im linken Spektrum verorten. Dennoch nimmt die SGV für sich in Anspruch "weder Links, Mitte oder Rechts" positioniert zu sein und nimmt im Wahlkampf auch Positionen ein, die vom linken Spektrum abweichen. Die Partei nimmt erstmals an einer Wahl teil. Fakten zur Partei Gründungsjahr Landesverband: 2021* Landesvorsitz: Dieter Jakobs* Mitgliederzahl im Saarland: >100* Wahlergebnis 2017: keine Teilnahme * nach Angaben der Partei Die SGV hat kein landespolitisches Wahlprogramm vorgelegt. Ihre Forderungen erstrecken sich in erster Linie auf den Regelungsbereich der Bundespolitik. So fordert die Partei eine einheitliche Krankenversicherung, in die auch Beamte, Politiker und Selbstständige einzahlen müssen. Für jeden Arbeitnehmer werden eine Grundrente und ein Zuschlag für jedes Lebensarbeitsjahr vorgeschlagen. Der Mindestlohn soll auf 15 Euro steigen, Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") abgeschafft und die Leiharbeit stärker reguliert werden. Internationale Konzerne sollen stärker besteuert und die Verschwendung von Steuermitteln gesetzlich unterbunden werden. In der Agrarpolitik sollen Anreize zur Steigerung des Tierwohls gesetzt werden. Die Bundeswehr soll zu einer medizinischen Hilfstruppe umgewandelt werden, die auch im eigenen Land eingesetzt werden darf. SGV – Solidarität, Gerechtigkeit, Veränderung – Gründungsjahr Landesverband: 2021* Landesvorsitz: Dieter Jakobs* Mitgliederzahl im Saarland: >100* Wahlergebnis 2017: keine Teilnahme * nach Angaben der Partei
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-23T00:00:00"
"2022-02-18T00:00:00"
"2022-02-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/saarland-2022/505366/sgv-solidaritaet-gerechtigkeit-veraenderung/
Die SGV wurde 2020 gegründet und tritt das erste Mal zu einer Wahl an. In ihrem Programm verbindet sie sozialpolitische Forderungen mit Eliten- und Lobbyismus-Kritik.
[ "SGV – Solidarität", " Gerechtigkeit", " Veränderung –", "Landtagswahl Saarland 2022" ]
30,225
Den Perspektivenreichtum Europas entdecken | Presse | bpb.de
1. Die Kulturhoheit der Länder hat sich als allgemeines Strukturprinzip der Kulturpolitik in einem halben Jahrhundert bundesrepublikanischer Geschichte bewährt. Die Länderhoheit in Sachen Bildung und Kultur steht für eine große Erfolgsgeschichte. Die Pflege und Förderung der Vielfalt im Kulturellen hat die Republik bereichert, regionale Identität gefördert. Zugleich besteht doch auch hier die Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen, und vor lauter Betonung des Föderalismus Gemeinsames zu vergessen. Denn der Kulturföderalismus ist kein Selbstzweck, der zum dogmatisch gehandhabten Gebot versteinern darf – das Ziel, die gesamte Republik zu bereichern und die Einsicht, das Pluralität immer Vielfalt innerhalb eines Ganzen darstellt, sollte nicht aus den Augen verloren werden. Es war sicher kein befriedigender Zustand, dass der Bund vor 1998 zuletzt kulturpolitisch kaum noch in Erscheinung getreten ist. Selbst die Aufgaben, die ihm zukamen – ich nenne als Stichwort nur beispielhaft die Filmförderung – schienen zu verkümmern. Und dort, wo die Bundesregierung kulturpolitisch tätig war, etwa in der wertvollen auswärtigen Kulturarbeit der Goethe-Institute, blieb es zu wenig sichtbar. Glücklicherweise wurde dies 1998 durch die Ernennung eines "Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien" anders. Erstmals in der Geschichte der Republik wurden die kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes in einem Amt gebündelt. So wurde deutlich, dass auch der Bund seinen Teil der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Kulturförderung in Zukunft in aktiver Verantwortung übernehmen will. Nach wie vor ist der Bund dabei auf die Länder angewiesen. Deren Interessen sollten aber schneller als bisher artikuliert werden. Auch ein stärkerer Konsens unter den Ländern würde der Sache dienen. Im Sinne einer komplementären Kulturpolitik wären handlungsfähige und handlungsorientierte Bund-Länder-Arbeitsebenen wünschenswert. Im Zuge neuer globaler Entwicklungen –digitale Revolution, kulturelle Globalisierung - ist heute eine neue Flexibilität in der staatlichen Verantwortung für Kunst und Kultur angezeigt. Insbesondere könnte ich mir ein stärkeres Engagement des Bundes in der Pflege der Kulturgüter und in der Förderung zeitgenössischer Kunst, sowie in der Berlinförderung im Kulturbereich vorstellen. Die Gefahr einer Entmachtung der Länder, gar eines neuen Zentralismus, sehe ich nicht, solange die Länder ihre Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Wohl aber gibt es gerade in der Kultur Angelegenheiten und Themen, denen durch eine stärkere Zentralisierung gedient würde. In vielen Bereichen beteiligt sich der Bund schon lange sehr aktiv. Zwar hat das Verfassungsgericht in den 60er Jahren die Medienangelegenheiten in die Länderhoheit verwiesen, die Zuständigkeit für die Stiftung Preussischer Kulturbesitz jedoch bereits 1959 ausdrücklich in eine Bund-Länder-Zuständigkeit. Insofern ist der Bund schon seit langem kulturell mit dabei. Verfassungsrechtler sprechen hierbei von einer Annexkompetenz, also einer Situation, die durch eine Art Interpretation und Gewohnheit entstanden ist. Eine weitere Klarstellung dieser wachsenden Bundeskompetenz würde aus meiner Sicht der Faktenlage, aber auch dem öffentlichen Ansehen und der Verantwortung einer vom Bund unterstützten Kunst und Kultur zuträglich sein. Bei unserer Arbeit in der Bundeszentrale für politische Bildung haben wir in den letzten Jahren erkannt, dass politische Bildung von kultureller Bildung nicht zu trennen ist. Der Einzelne wird auch geprägt durch kulturelle Sozialisation und seine unmittelbare kulturelle Umwelt, durch Architektur, Städtebau und Kunstwerke im öffentlichen Raum. Dynamisch und ohne Berührungsverbote überschreitet die Kultur ihrem Charakter nach alle Grenzen – gerade da, wo sie nicht museal erstarrt ist. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat diese Einsicht mit der Einrichtung einer Projektgruppe für "Kulturelle politische Bildung" berücksichtigt und ergänzt die einseitige, in vielem gesellschaftlich überholte Fixierung auf Institutionen und Parteien um neue Handlungsfelder. Politische Aufklärung und Erziehung zu demokratischer Praxis muss sich auf die neuen Lebenswelten, auf die von ihnen erzeugten veränderten Kultur- und Politikbegriffe einlassen. Gerade unter sich zunehmend ausdifferenzierenden Lebensverhältnissen wächst ein neues Bedürfnis nach Identifizierbarkeit. Die von Staatsminister Nida-Rümelin in die Wege geleitete Gründung einer Bundeskulturstiftung ist aus meiner Sicht daher sehr zu begrüßen. Sowohl die zentralen Kulturinstitutionen in anderen Staaten, als auch Künstler im In- und Ausland brauchen und erwarten klar erkennbare kulturelle Ansprechpartner und Repräsentanten gesamtstaatlicher Interessen. Die "Bundeskulturstiftung" wird ein Meilenstein sein, weil sie der Mobilität zeitgenössischer Kunst und der Überregionalität des Kulturgutes Rechnung tragen kann. Doch wahrscheinlich gehört auch dieses gegenwärtig noch zeitgemäß scheinende Denken in Zuständigkeiten von Bund und Ländern schon der zukünftigen Vergangenheit an, Verhältnissen, die letztlich am Ideal des föderal organisierten Nationalstaats orientiert sind, und in einem regional und kulturell ausdifferenzierten und zugleich vereinten Europa durch neue Strukturen ersetzt werden, in denen die alten Grenzziehungen ihre Bedeutung verlieren. 2. Mit der zunehmenden Entgrenzung des Kulturlebens auf europäischer und bundesstaatlicher Ebene einher geht auch eine Ausdifferenzierung auf regionaler Ebene. Trotz des Zuwachses an politischer Eigenständigkeit der Städte ist hiermit nicht gleichermaßen auch eine Zunahme an kultureller Eigenständigkeit verbunden. Im Gegenteil: Die kommunale Kulturförderung hingegen hat stark abgenommen oder sie stagniert. Und das, obwohl von einer schrumpfenden kulturellen Potenz der Städte überhaupt keine Rede sein kann. Vielmehr entdeckt man allerorten lokale Initiativen, die von einer bemerkenswerten Freude an Experiment und Innovation geprägt sind. Einmal mehr zeigt sich hier die Kraft der kleinen Einheiten, und die grundlegende Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für ein lebendiges Kulturleben. Dezentralität sollte daher auch in Zukunft einer der wichtigsten Leitmaßstäbe für Kulturpolitik sein. Freilich ereignet sich die vielfach von Sozialwissenschaftlern und Philosophen beschriebene Entgrenzung nicht allein horizontal – zwischen Regionen, Städten, nationalen Grenzen - sie geschieht auch zwischen den Milieus und den Generationen. In einer kulturell ausdifferenzierten Gesellschaft, macht es wenig Sinn, eine bayerische von einer westfälischen "Kultur" zu unterscheiden. Und Jugendkulturen und die Lebenswelten der Erwachsenen, urbane, mittelstädtische und ländliche Lebensweisen kann man nur im Plural noch unterscheiden. Gerade in den Städten besteht zudem die Chance, Neues auszuprobieren und der grassierenden Tendenz zur Arsenalisierung der Kultur, zu Reduzierung von Kulturpolitik auf die konservative Pflege der Bestände entgegenzuhalten. Die zentralen Probleme städtischer Kulturpolitik liegen heute in den engen finanziellen Rahmenbedingungen. Steigende Kosten stehen schrumpfenden öffentlichen Etats und dem Zwang zur Haushaltskürzung gegenüber. Hierunter leiden vor allem die Kommunen. Und leider scheint nach wie vor die traurige Erfahrung zu gelten, dass die Kultur zu den schwächsten Gliedern der Finanzkette gehört, dass man hier als erstes Einsparpotentiale entdeckt. Eigenständige Programme und die insgesamt stärkere Länderverantwortung können hier manches auffangen, die eine oder andere Lücke füllen. Aus ihr kann jedoch nicht ein Rückzug der Kommunen oder eine Zurückhaltung des Bundes abgeleitet werden. So begrüßenswert diese Initiativen sind, können sie doch ein eigenständiges kulturelles Profil der Kommunen nicht ersetzen. Nur dort, wo es sowohl eine hohe Motivation und engagierte, durchsetzungsfähige Kulturpolitiker gibt, hat sich die kommunale Kulturförderung verstärken können. Heute ist eine solche komplementäre Wahrnehmung der Verantwortung die zeitgemässe Form von Kulturförderung. Hinzu kommt ein anderer Aspekt: Nicht nur aufgrund schwindender öffentlicher Mittel nimmt die Bedeutung privater Förderungen und des ehrenamtlichen Engagements einzelner Bürger stark zu. So wurde der partielle Rückzug der Kommunen mitunter durch engagierte Freiwillige und bürgerschaftliches Engagement aufgefangen – eine Entwicklung, die einerseits erfreut, zugleich aber traurig stimmt, denn wünschenswert wäre, dass solcher Einsatz die kommunale Aktivität ergänzen, nicht – wie oft geschehen - ersetzen würde. Politische Öffentlichkeit bedeutet schon im Verständnis der antiken Politiktheorie in erster Linie Partizipation, Teilhabe und Engagement des einzelnen Bürgers für die "res publica", die "öffentliche Sache". Neuere Theorien – die, oft von Hannah Arendts Schriften inspiriert, in den USA entwickelt werden - artikulieren die Notwendigkeit solchen Engagements in der Forderung nach einem neuen "Bürgersinn". Ein solcher Bürgersinn – der sich im eigenen Interesse immer als individueller versteht, und von der emphatischen Feier neuer "Gemeinschaften" abgrenzt – entsteht jedoch nicht von selbst. Er muss vielmehr nicht zuletzt durch kulturelle politische Bildung geschaffen und sorgfältig gepflegt werden. Die Bundeszentrale für politische Bildung betrachtet es als eine ihrer vorrangigen Aufgaben, solchen Bürgersinn zu fördern. Neue Bildungskonzepte haben das gemeinsame Ziel, politisch-kulturelle Kreativität und Visionen freizusetzen sowie persönliches Engagement zu fördern. Jedes Individuum soll mit einem möglichst hohen Maß an Kompetenzen ausgestattet sein, um bei den unterschiedlichsten Problemstellungen "mitreden" zu können. Das Engagement öffentlicher Institutionen sollte durch Bürgersinn aber vor allem verstärkt und komplementär ergänzt werden. Bürgersinn darf nicht zur billigen Ausrede für eigenes Nichtstun oder ein verfehlte Finanzpolitik werden. 3. "Wenn ich nochmal mit Europa beginnen könnte, würde ich mit Kultur (wohl auch Bildung) anfangen!" – von Jean Monnet, einem der Gründerväter des vereinten Europa, stammt diese Einsicht in die elementare Bedeutung kultureller Prozesse. Politik, Wirtschaft und Kultur sind voneinander abhängig. Darum bezeichnet die Agenda 21 Bildung als Schlüssel für die gemeinsame Lösung der Zukunftsprobleme. Bildung, nicht Information, auch nicht Wissen ist der Oberbegriff für verschiedene Qualitäten und Kompetenzen erfasst. Die bisherigen Diskussionen um die Ausgestaltung der Integration, institutionellen Vertiefung und der politischen Erweiterung der EU haben eines sehr deutlich werden lassen: Europa leidet nach wie vor unter Demokratie-Defiziten. Dieser Mangel ist eng mit dem Fehlen einer kritischen, aufgeklärten, europäischen Öffentlichkeit verbunden. Erfolgreiche europäische Integration braucht den Rückhalt in Gesellschaft und Öffentlichkeit – diese Interdependenz stellt eine unverzichtbare Bedingung für die Entstehung einer postnationalen europäischen Bürgergesellschaft dar. Sie gehört zu den Kernaufgaben der politischen Bildung in und für Europa. Politische und kulturelle Integration sind ohne eine gewisse Harmonisierung nicht denkbar. Selbstverständlich bedeutet dies, dass auch Traditionen und manche nationalen Errungenschaften preisgegeben werden müssen, oder zumindest nur in veränderter Form fortgesetzt werden können. Auch diese Erfahrung verbindet uns mit unseren europäischen Mitbürgern in anderen Ländern. Wichtig ist hierbei jedoch die Perspektive der jeweiligen Wahrnehmung. Anstelle der "Verlust- und Gefahrendiskussion", den Klagen über das, was vermeintlich verloren geht oder aufgeben werden muss, tritt in der deutschen Europadebatte die "Chancendiskussion", das Bewusstsein für Gewinne und neue Errungenschaften infolge der europäischen Integration, leider allzu oft in den Hintergrund. Europäisch zu denken hieße aber gerade, sich nicht in kleinlichen Eitelkeiten zu verstricken, sondern selbstbewusst auch manche nationale Tradition zugunsten der gemeinsamen res publica Europa verabschieden zu können. Dies muss freilich nicht heißen, dass es nicht, gerade auch im Feld der Kulturpolitik, Traditionen gäbe, um deren Erhaltung sich einzutreten lohnte. Das deutsche Modell der Buchpreisbindung hat sich bewährt. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Bundesregierung und andere Institutionen dafür einsetzten, dieses Modell in das vereinte Europa zu überführen. Wir sollten allerdings keine noch so wichtige Einzelfrage als einen nationalen Fetisch behandeln. Bei allen ihren guten Seiten kann die deutsche Subventions- und Kulturförderungspolitik doch auch manches von unseren Nachbarländern lernen. Gerade an einer Kulturpolitik, die sich auch ordnungspolitisch und normativ begreift, besteht im Vergleich zu vielen Nachbarländern eher ein Nachholbedarf. Kulturelle Ordnungspolitik ist aber die vornehmste und wichtigste Aufgabe der Bundeskulturpolitik. Sie kann Tendenzen zu einer "Refeudalisierung der Kulturpolitik" (Günter Gaus) gegensteuern, und den Gedanken des "Bürgerrechts Kultur" (Hermann Glaser) auch in Europa aktiv vertreten. In allen diesen Fragen sollten wir uns freilich vor der selbstgerechten Haltung hüten, die glaubt, dass am deutschen kulturpolitischen Wesen die Nachbarländer genesen müssten. Gerade als ein Vertreter der Politischen Bildung möchte ich dafür plädieren, die europäische Integration auch als einen wechselseitigen Lernprozeß zu verstehen, und auf diesen Prozeß vorurteilsfrei und ohne Hochmut einzugehen. Nur, wenn wir die Bereitschaft mitbringen, auf die Erfahrungen anderer offen und veränderungsbereit einzugehen, können wir gleiches auch umgekehrt erwarten. Zur wünschenswerten und von der Bundesregierung gewünschten Dekonstruktion nationaler Identitäten im Gefolge der Vertiefung der Europäischen Union gehört auch, die Pluralität und den Perspektivenreichtum Europas zu entdecken, Europa als Wissens- und Kulturgesellschaft zu begreifen. Gerade die Besinnung auf die gemeinsamen kulturellen Wurzeln, auf das längst existierende vereinte Europa der Kulturen kann dazu beitragen, auch den politischen und ökonomischen Vereinigungsprozeß "vom Staatenbund zur Föderation" (Bundesaußenminister Joschka Fischer) und die Herausbildung einer gemeinsamen, von allen Bürgern Europas geteilten, europäischen Identität zu befördern. Dies bedeutet auch für die Bundeszentrale für politische Bildung neue Herausforderungen. Zunehmend sind wir vor die Aufgabe einer Zusammenarbeit mit den jeweiligen Institutionen in unseren Partnerländern gestellt. Wir wollen eine solche Zusammenarbeit, wo immer sie möglich ist, aktiv anstreben. Hierzu gehört selbstverständlich auch der Austausch mit Institutionen der Politischen Bildung außerhalb Europas – mit anderen Worten: die Transnationalisierung – nicht Internationalisierung, nicht Globalisierung - der Politischen Bildung. Unter den Bedingungen der Gegenwart kann und darf der Nationalstaat nicht länger das einzige Bezugssystem für politische Bildung sein. Ein nationalstaatlich verengter Blick sollte ebenso verabschiedet werden, wie die antiquierte Vorstellung einer wie immer gearteten "Leitkultur". Nicht nur in der inhaltlichen Arbeit, auch institutionell muss dieser Einsicht entsprochen werden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51227/den-perspektivenreichtum-europas-entdecken/
Die Kulturhoheit der Länder hat sich als allgemeines Strukturprinzip der Kulturpolitik bewährt. Die Länderhoheit in Sachen Bildung und Kultur steht für eine große Erfolgsgeschichte. Zugleich besteht doch auch hier die Gefahr, ins andere Extrem zu ver
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Im Internet herrscht das Mittelalter. Und wir sind die Knechte. | Überwachung, Tracking, Datenschutz | bpb.de
Facebook missbraucht regelmäßig die Privatssphäreregelungen seiner Nutzer_innen. Google hat seinen beliebten RSS Feed eingestellt. Apple verbietet alle iPhone-Apps mit politischem oder sexuellem Inhalt. Microsoft wird nachgesagt, dass sie mit Regierungen kooperieren, die Skype Anrufe ausspionieren - allerdings weiß man nicht, welche. Sowohl Twitter als auch LinkedIn mussten kürzlich Sicherheitslücken aufdecken, welche sensible Daten vieler tausend Nutzer betrafen. Wenn man sich selbst als einen der glücklosen Bauern im Machtkampf der Serie Externer Link: Game of Thrones zu sehen beginnt, hat man damit vermutlich gar nicht so unrecht. Die oben genannten sind keine traditionellen Unternehmen und wir sind keine Kunden im traditionellen Sinn. Diese Unternehmen sind Externer Link: Lehnsherren und wir sind ihre Knechte, Bauern und Leibeignen. Die Machtlage in der IT hat sich verschoben, jeweils zugunsten von Anbietern von Cloud-Diensten und Verkäufern von in sich geschlossenen Plattformen. Diese Machtverschiebung beeinflusst viele Dinge, vor allem jedoch die Sicherheit im Netz. Früher lag die Verantwortung für die Sicherheit eines Computers bei den Nutzer_innen. Diese haben eigenverantwortlich ein Antivirenprogramm erworben und eine Firewall installiert; Sicherheitslücken in diesen Systemen schob man auf die Nachlässigkeit des Nutzers. Dieses Geschäftsmodell hat durchaus einen Aspekt, der an Wahnsinn grenzt. Normalerweise erwarten wir von den Produkten und Dienstleistungen, die wir kaufen, dass sie sicher und zuverlässig sind – lediglich in der IT haben wir miserable Qualität toleriert und einen riesigen Verbrauchermarkt für Sicherheitsprodukte unterstützt. Mit dem Erwachsenwerden der IT-Industrie erwarten wir nun größere und sofortige Sicherheit. Dies wurde hauptsächlich durch zwei Technologietrends ermöglicht: Cloud Computing und verkaufsgesteuerte Plattformen. Ersteres besagt, dass die meisten unserer Daten in externen Netzwerken gespeichert sind: Google Docs, Salesforce.com, Facebook oder Gmail zum Beispiel. Letzteres heißt, dass unsere neuen internetfähigen Geräte überwiegend geschlossene Plattformen sind, die auch durch den Verkäufer kontrolliert werden und uns dadurch wenig Spielraum zur Konfiguration geben, wie zum Beispiel iPhones, ChromeBooks, Kindles oder Blackberries. Unsere Beziehung mit der IT hat sich verändert. Wir haben unsere Computer einst genutzt, um Dinge zu erledigen. Heute nutzen wir unsere verkaufsgesteuerten Computergeräte, um andere Orte zu besuchen. Und alle diese Orte gehören jemandem. Wir delegieren unsere Sicherheit. Und verlieren sie dadurch. Das neue Sicherheitsmodell besteht darin, die Sicherheit an jemand Anderen zu delegieren - und dieser Jemand sagt uns nichts über die Details. Ich habe keine Kontrolle über die Sicherheit meines Gmail oder Flickr-Fotoaccounts. Ich kann keine größere Sicherheit für meine Prezi-Präsentationen oder meine Aufgabenlisten bei Trello verlangen – egal, wie vertraulich sie sind. Ich kann keinen dieser Cloud-Dienste prüfen. Ich kann auf meinem iPad keine Cookies löschen oder sicher gehen, dass Dokumente vorschriftsmäßig gelöscht sind. Updates auf meinem Kindle werden automatisch gemacht – ohne mein Wissen oder mein Einverständnis. Ich habe so wenig Einsicht in die Sicherheitsstandards bei Facebook, dass ich nicht einmal weiß, welches Betriebssystem sie benutzen. Es gibt eine Menge guter Gründe, die uns alle in die Arme dieser Cloud-Dienste und verkaufsgesteuerten Plattformen treiben. Die Vorteile sind enorm: Sie sind meist kostenfrei, komfortabel und verlässlich. Aber es ist von Natur aus eine Lehnsbeziehung. Wir übergeben die Kontrolle über unsere Daten und Computerplattformen an diese Unternehmen und glauben ihnen, dass sie uns gut behandeln werden und uns vor Missbrauch schützen werden. Und wenn wir ihnen unsere absolute Loyalität aussprechen – wenn wir sie unsere E-Mails und unseren Kalender und unser Adressbuch und unsere Fotos und überhaupt alles kontrollieren lassen–bringt uns das noch mehr Vorteile. Wir werden ihre Knechte, oder – an einem schlechten Tag – ihre Leibeignen. Und es gibt eine Menge Lehnsherren da draußen. Die Welt des Internets ist voll mit Lehnsherren. Google und Apple gehören ganz offensichtlich dazu, aber auch Microsoft versucht Nutzerdaten und die Endnutzerplattform zu kontrollieren. Facebook ist ein Lehnsherr, der einen Großteil unseres Soziallebens im Internet überwacht. Andere Lehnsherren sind kleiner und spezialisierter – Amazon, Yahoo, Verizon und dergleichen – aber das Geschäftsmodell ist das gleiche. Natürlich hat diese lehnhafte Sicherheit auch ihre Vorteile. Diese Unternehmen sind in puncto Sicherheit viel versierter als der durchschnittliche User. Automatische Backups haben bereits millionenfach Daten nach Zusammenbrüchen von Hardware, Userfehlern und Virenbefall gerettet. Lehnartige Sicherheit birgt aber auch unglaublich viele Risiken. Verkäufer können – und tun es auch! – Sicherheitsfehler begehen, die hunderttausende Menschen betreffen. Verkäufer können Menschen in Geschäftsbeziehungen quasi einschließen, so dass es schwer wird, seine Daten mit sich zu nehmen und sich aus diesen Geschäftsbeziehungen zu lösen. Verkäufer können sich willkürlich gegen unsere Interessen wenden – Facebook tut dies ständig, zum Beispiel wenn sie die Nutzereinstellungen ändern, neue Features einrichten oder die Einstellungen zur Privatsphäre überraschend anpassen. Viele dieser Verkäufer geben unsere Daten an die Regierung, ohne uns davon in Kenntnis zu setzen, unser Einverständnis einzuholen oder dies irgendwie zu rechtfertigen – alle von ihnen verkaufen die Daten quasi für den schieren Profit. Das überrascht wenig, zumal von Unternehmen erwartet werden muss, dass sie unternehmerisch handeln und nicht zugunsten der Interessen ihrer Nutzer. Als Knechte bearbeiten wir das Land von Google & Co. Die Lehnsbeziehung basiert von Natur aus auf Macht. Im Europa des Mittelalters erwies das Volk dem Lehnsherren uneingeschränkte Loyalität im Austausch für den von ihm angebotenen Schutz des Volkes. Dieses Arrangement veränderte sich erst, als den Lehnsherren klar wurde, dass alle Menschen Macht entwickeln konnten und tun konnten, was sie wollten. Knechte wurden benutzt und missbraucht, Bauern wurden an ihr Land gebunden und zu Leibeignen gemacht. Bei den Lehnsherren des Internets ist es ihre Beliebtheit und Allgegenwart, die ihren Profit ermöglichen – Gesetze und Verbindungen zur Regierung machen es ihnen noch leichter, an der Macht festzuhalten. Diese Lehnsherren wetteifern miteinander um Profit und Macht. Verbringt man viel Zeit auf ihren Seiten und gibt ihnen persönliche Informationen, z.B. per E-Mail, per eingegebenem Suchbegriff, per Status-Update, „Gefällt mir“-Klick oder einfach über ein personalisiertes Surfverhalten, liefert man ihnen zusätzliches Rohmaterial für ihren Machtkampf. Auf diese Art werden wir zu Leibeignen, die im Schweiße ihres Angesichts das Land ihres Lehnsherren bearbeiten. Wenn Sie mir nicht glauben, versuchen Sie einmal, Ihre Daten mitzunehmen, wenn Sie Ihren Facebook-Account kündigen. Und wenn der Krieg zwischen den Internetgiganten erst einmal ausbricht, wird daraus ein Kollateralschaden für uns alle. Wir brauchen einen Aufstand gegen die Lehnsherren. Sofort. Wie überleben wir also? Wir haben zunehmend nur eine Möglichkeit: Wir müssen irgendjemanden vertrauen. Also müssen wir entscheiden, wem wir unser Vertrauen schenken – und wem nicht – und uns dann entsprechend verhalten. Das ist alles Andere als leicht – unsere Lehnsherren geben ihr Bestes, keine Klarheit im Bezug auf ihre Handlungen, ihre Sicherheit oder irgendetwas zu schaffen. Wir müssen also alle Macht, die wir als Individuum noch haben, nutzen, um mit unseren Lehnsherren zu verhandeln. Im Endeffekt sollten wir versuchen, auf keinen Fall in Extreme zu verfallen, weder auf politischem, noch sozialem oder kulturellem Parkett. Natürlich kann es passieren, dass wir ohne Ansprüche einfach mundtot gemacht werden, aber das betrifft meist nur diejenigen, die sich an den Rändern des Gefüges befinden. Das bietet zugegebenermaßen nicht viel Trost, aber es ist wenigstens etwas. Strategisch gesehen haben wir bereits einen Maßnahmenplan entwickelt. Kurzfristig gesehen müssen Nischen auf legalem Weg aufrecht erhalten bleiben, d.h. die Möglichkeit, unsere Hardware, Software und Daten modifizieren zu können. Diese Dinge beschränken den Spielraum der Lehnsherren, Profit aus uns zu schlagen, und sie erhöhen die Chancen, dass der Markt sie dazu zwingen wird, gütiger zu sein. Das Letzte, was wir wollen, ist, dass die Regierung – also auch wir – Gelder darauf verschwendet, ein bestimmtes Geschäftsmodell einem anderen vorzuziehen und damit den Wettbewerb unterdrückt. Langfristig gesehen müssen wir alle daran arbeiten, das Machtungleichgewicht wieder auszubalancieren. Das mittelalterliche Lehnswesen entwickelte sich zu einer ausgeglicheneren Beziehung, in der Lehnsherren sowohl Verantwortung als auch Rechte hatten. Das Lehnswesen, welches wir heutzutage mit Bezug auf das Internet vorfinden, ist einseitig. Wir haben gar keine andere Wahl, als den Lehnsherren zu vertrauen, aber wir bekommen im Gegenzug wenig Sicherheiten zugesprochen. Die Lehnsherren haben viele Rechte, aber wenig Verantwortung oder Grenzen. Wir müssen für ein Gleichgewicht in dieser Beziehung sorgen und dafür ist das Eingreifen der Regierungen der einzige Weg, wie wir dies erreichen können. Im Europa des Mittelalters garantierte der Aufstieg des Einheitsstaates und die gesetzmäßige Regelung von Angelegenheiten die Stabilität, die dem Lehnssystem fehlte. Als Erste verordnete die Magna Carta den Regierungen Verantwortung und brachte Menschen auf den langen Weg in Richtung Regierung durch das Volk und für das Volk. Wir brauchen einen ähnlichen Prozess, um unsere heutigen Lehnsherren zu zügeln – leider ist das nichts, was uns die bloße Marktkraft geben kann. Die schiere Definition von Macht ist in Veränderung begriffen und das Problem betrifft weit mehr als das Internet und unsere Beziehungen zu unseren IT Dienstleistern. Aus dem amerikanischen Englisch von Cosima Bredereck. Zuerst erschienen in der Externer Link: Harvard Business Review am 6. Juni 2013. Autor: Bruce Schneier Bruce Schneier ist einer der bekanntesten US-amerikanischen Experten für Computersicherheit und Kryptographie. Als Autor machte er sich mit Büchern über Computersicherheit einen Namen. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Buch "Die Kunst des Vertrauen: Liars and Outliers". Bruce Schneier ist einer der bekanntesten US-amerikanischen Experten für Computersicherheit und Kryptographie. Als Autor machte er sich mit Büchern über Computersicherheit einen Namen. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Buch "Die Kunst des Vertrauen: Liars and Outliers".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2013-09-24T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/169183/im-internet-herrscht-das-mittelalter-und-wir-sind-die-knechte/
Als Internetnutzer sind wir die Untertanen der großen Internetunternehmen. Für das Versprechen von Komfort nehmen wir Einschränkungen unserer Freiheit und Sicherheit hin. Zeit, gegen unsere Lehnsherren aufzubegehren! Ein Essay des Internet- und Siche
[ "Internet", "Globalisierung", "Freiheit", "Mittelalter", "Datenschutz", "Tracking" ]
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Opposition und Zivilgesellschaft in Belarus | Belarus | bpb.de
Einleitung Als die Republik Belarus am 25. August 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, schien das Land gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Transformation zu besitzen: Eine entwickelte Infrastruktur, der hohe Industrialisierungsgrad, eine gut ausgebildete Bevölkerung und die Nachbarschaft zu Polen, das später zum Motor des europäischen Erweiterungsprozesses werden sollte, bedeuteten nach dem Zerfall der Sowjetunion vielleicht sogar bessere Startbedingungen als für die baltischen Nachbarn im Norden. Dennoch wurde die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Belarus in den darauf folgenden zwei Jahrzehnten durch die autoritäre Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka bestimmt, der das Land von den Transformationsprozessen in den später neuen EU-Mitgliedstaaten abkoppelte. Eine der Hauptursachen dafür, dass sich Belarus nach 1991 politisch und gesellschaftlich nicht demokratisch, sondern autoritär entwickelte, liegt in einer schwach ausgebildeten nationalen Identität. Ähnlich wie die Nachbarn Polen (mit seinen östlichen Gebieten) und Litauen war Belarus das gesamte 19. Jahrhundert über Teil des russischen Zarenreichs, bekam in den Wirren des ausgehenden Ersten Weltkriegs nur für wenige Monate eine Chance auf staatliche Selbstständigkeit und war während der sowjetischen Periode einer besonders brutalen Russifizierungspolitik zunächst Josef Stalins, dann auch Nikita Chruschtschows ausgesetzt. Die belarussische Sprache wurde aus dem öffentlichen Gebrauch verdrängt, das Bildungssystem russifiziert, und ethnische Russen erhielten Schlüsselpositionen in der Republikregierung in Minsk. Zwar gab es Ende der 1980er Jahre wie in den baltischen Sowjetrepubliken auch in Belarus eine Unabhängigkeitsbewegung, doch gelang es den nationalen Kräften in den frühen 1990er Jahren nicht, mit ihren Plädoyers für Demokratie und marktwirtschaftliche Reformen Rückhalt in der Bevölkerung zu finden. Und so setzte sich 1994 in der ersten (und bislang einzigen) freien Präsidentschaftswahl Lukaschenka mit überwältigender Mehrheit sowohl gegen Wjatschaslau Kebitsch, den Kandidaten der sowjetischen Nomenklatura, als auch gegen den nationalkonservativen Sjanon Pasnjak durch. 17 Jahre später ist Lukaschenka noch immer Präsident eines autoritär geführten Landes: Zivilgesellschaft und Opposition sind marginalisiert, die bürgerlichen Freiheiten massiv eingeschränkt, die elektronischen Medien unter rigider staatlicher Kontrolle. Der Geheimdienst (hier immer noch KGB) wird als Instrument zur Bekämpfung der Opposition eingesetzt, eine unabhängige Justiz existiert nicht, und nach der Präsidentschaftswahl 2010 wird die Bevölkerung durch Repressionen (Verhaftungen, Verhöre, Hausdurchsuchungen) eingeschüchtert und gesellschaftliche Aktivität im Keim erstickt. 1991-1996: Dynamisches Wachstum Die Entwicklung von Opposition und Zivilgesellschaft in den ersten zwanzig Jahren der Unabhängigkeit verlief in drei größeren Phasen. Die ersten fünf Jahre waren in Belarus wie in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch ein dynamisches Wachstum politischer und gesellschaftlicher Aktivität gekennzeichnet. Am Anfang waren die autonomen gesellschaftlichen Akteure - allen voran die Nichtregierungsorganisationen (engl.: NGOs) -, die für gewöhnlich "Zivilgesellschaft" genannt werden, eingebettet in eine breitere Bewegung für Demokratie und Unabhängigkeit. Die meisten Organisationen waren lokale Verbände der Belarussischen Volksfront Adradzennie (Wiedergeburt), die 1988 nach dem Vorbild von Sajdis in Litauen oder der Volksfronten in Estland und Lettland entstanden war. Schnell begann sich die Zivilgesellschaft in Belarus jedoch zu entpolitisieren und aufzufächern wie in den klassisch pluralistischen Gesellschaften Westeuropas. Es entstanden lokale Umweltgruppen, Jugendorganisationen, historische Vereine oder soziale Initiativen. Diese Entwicklung förderte das 1994 verabschiedete Gesetz "Über gesellschaftliche Organisationen", das für die Registrierung einer NGO das "Anmeldeprinzip" vorsah: Für die Gründung einer Vereinigung musste demnach kein staatliches Genehmigungsverfahren durchlaufen werden, was ein rapides institutionelles Wachstum des Dritten Sektors zur Folge hatte. Während es im Jahr 1990 in Belarus lediglich 24 offiziell registrierte NGOs gab, waren es 1995 bereits fast tausend. Gleichzeitig bildete sich ein klassisches Parteienspektrum heraus, das in fünf größeren politisch-ideologischen Formierungen bis heute Bestand hat: der nationalkonservativen Belarussischen Volksfront ( /BNF), der liberalen Vereinigten Bürgerpartei, den Christdemokraten, den Sozialdemokraten und den (Post-)Kommunisten. Die gesellschaftlich aktivste Partei war in den Anfangsjahren die BNF. Sie fungierte als politisches Sammelbecken für all diejenigen, die sich für ein unabhängiges und demokratisches Belarus einsetzen wollten. Bei der Wahl zum 12. Obersten Sowjet (dem damaligen Parlament) im Jahr 1990 errang sie zehn Prozent der Sitze. 1993 wurde aus der politischen Bewegung eine Partei. Als erste parteipolitische Formierung jenseits der Kommunisten wurde im November 1990 die Vereinigte Demokratische Partei gegründet, aus der 1995 die Vereinigte Bürgerpartei hervorging. Sie fand anfangs vor allem bei der technischen Intelligenz, bei Wirtschaftsfachleuten und gut ausgebildeten Arbeitern Unterstützung. Sie ist bis heute die führende liberalkonservative Kraft und hat das schärfste wirtschaftspolitische Profil aller Parteien. Eine sozialdemokratische Vereinigung Hramada (Gemeinschaft) entstand im März 1991. Mitglieder waren anfangs vor allem Arbeiter, Bauern, Studenten, Militärangehörige sowie Vertreter der städtischen Intelligenz. Auch die Parlamentssprecher Stanislau Schuschkewitsch und Premierminister Metschyslau Hryb, der spätere Präsidentschaftskandidat Aljaksandr Kasulin und selbst Aljaksandr Lukaschenka waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit den Sozialdemokraten assoziiert. Die Partei verstand sich als Teil der weltweiten sozialdemokratischen Bewegung, spaltete sich aber in den folgenden Jahren wiederholt, so dass es heute mehrere winzige sozialdemokratische Gruppierungen gibt. Eine christdemokratische Tradition gibt es in Belarus seit den 1930er Jahren. Die 1991 gegründete Christlich-Demokratische Union versuchte daran anzuknüpfen, aber sie hatte nicht lange Bestand. Erfolgreicher entwickelt sich seit 2005 die Belarussische Christdemokratische Partei, die zu den aktivsten Gruppierungen innerhalb der Opposition zählt. Ihr Mitgliederkern stammt vorwiegend aus den orthodoxen, protestantischen und katholischen Kirchengemeinden. Wie in allen ehemaligen Ostblockstaaten entstanden auch in Belarus Nachfolgeformationen zur kommunistischen Partei. Seit Anfang der 1990er Jahre existiert eine "demokratische" kommunistische Partei, die seit dem Verfassungskonflikt von 1996 in Opposition zu Lukaschenka steht. Bei der Parlamentswahl 1995 erhielt sie 22 Prozent der Stimmen und stellte 45 Abgeordnete. 2008 benannte sie sich in "Gerechte Welt" um. Ein besonderes Merkmal des autoritären Systems besteht darin, dass es anders etwa als in Russland keine einflussreiche Regierungs- oder Lukaschenka-Partei gibt. Die Parlamentsabgeordneten werden seit der Wahl 2000 eher ernannt als gewählt und zeichnen sich durch Loyalität zum Präsidenten aus. Gruppierungen wie die Liberaldemokratische Partei mit ihrem notorischen Vorsitzenden Sjarhej Hajdukewitsch (einer politischen Marionette des Regimes) oder die Lukaschenka-treue kommunistische Partei sollten zwar anfänglich der Legitimierung eines parlamentarischen Systems dienen. Sie besaßen aber in Parlament oder Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt Bedeutung, so dass ihre statistische Funktion offensichtlich ist. Bei der Parlamentswahl 2008 waren von 110 ernannten Abgeordneten 103 parteilos, sechs gehörten der kommunistischen Partei an, einer wurde von der Agrarpartei gestellt. 1996-2002: Politisierung Zwei von Lukaschenka initiierte Referenden markierten die grundlegende politische und gesellschaftliche Wende: 1995 wurde Russisch zur zweiten Amtssprache erklärt, und die alten sowjetischen Staatssymbole (Flagge, Wappen) wurden leicht verändert wieder eingeführt. Damit sollte der beginnende Prozess der Stärkung einer nationalen Identität an der Wurzel gekappt werden. In einem zweiten Referendum ließ Lukaschenka im Herbst 1996 seine Amtszeit um zwei Jahre verlängern, erweiterte die Vollmachten des Präsidenten und schwächte das Parlament, indem er ein Zweikammernsystem einführte. Es gelang ihm, innerhalb von nur zwei Jahren - außenpolitisch gedeckt durch Russland - den durch die Verfassung von 1994 ursprünglich demokratisch organisierten Staat zu beseitigen und seine autoritäre Macht zu institutionalisieren. Die Oppositionsparteien wurden von diesen Ereignissen überrumpelt. Wiederholte Versuche, sich auf Koalitionen oder eine gemeinsame Strategie zu einigen, blieben erfolglos. Zudem mangelte es an Führungspersönlichkeiten, welche die politischen Kräfte hätten bündeln können und die eine glaubwürdige personelle Alternative zu Lukaschenka darstellten. Potentiell ernsthafte Konkurrenten wurden ein Jahr vor der Parlaments- und zwei Jahre vor der Präsidentschaftswahl aus dem Weg geräumt: Wiktar Karpenka, ehemaliger stellvertretender Parlamentssprecher, starb überraschend und unter ungeklärten Umständen im April 1999, Juri Sacharenka, erster Innenminister unter Lukaschenka, verschwand im Mai 1999, Wiktar Hantschar, ehemaliger Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission, verschwand im September 1999. Der gesellschaftliche Einfluss der Opposition begann sich zu verringern. Bei der massiv manipulierten Parlamentswahl im Oktober 2000 wurden keine demokratischen Vertreter ins Repräsentantenhaus gewählt. Es waren vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen, die bei der Präsidentschaftswahl 2001, als mit Uladzimir Hantscharyk ein blasser Kompromisskandidat aus dem Gewerkschaftslager gegen Lukaschenka antrat, durch aktive Wahlbeobachtung und die Kampagne "Wähle!" (gegen die vom Regime propagierte Praxis der vorzeitigen Stimmabgabe) den Protest der Bevölkerung gegen den gefälschten Urnengang zu organisieren versuchten. Spätestens mit dieser Wahl wurde die Zivilgesellschaft ein Teil der politischen Opposition. Kennzeichnend für die zweite Hälfte der 1990er Jahre war außerdem eine Professionalisierung, bei der Beratungszentren und Netzwerkorganisationen entstanden, die bis heute die Visitenkarte des Dritten Sektors in Belarus sind: der "Verband pro-demokratischer NGOs", das analytische Zentrum "Strategie", die "Lew Sapieha-Stiftung", das "Unabhängige Institut für sozioökonomische und politische Studien", das Menschenrechtszentrum "Wiasna" (Frühling) oder das Zentrum "Supolnasc" (Zusammengehörigkeit). Vielen NGOs gelang es, nachhaltige Strukturen aufzubauen, sie arbeiteten dabei zunehmend mit westlichen Akteuren zusammen, welche die in die Defensive geratene Demokratiebewegung in Belarus systematisch zu unterstützen begannen. Die Regierung betrachtete die Aktivitäten unabhängiger Organisationen mit Argwohn und versuchte, Kontrolle über ihre Tätigkeit zu erlangen. Eine Methode war, NGOs per Erlass dazu zu zwingen, sich neu zu registrieren. Während der zweiten verordneten Neu-Registrierungs-Welle verloren 1999 beinahe die Hälfte aller unabhängigen Organisationen ihren legalen Status. Ebenfalls eingeschränkt oder zumindest streng kontrolliert werden sollten die externen Finanzströme zur Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft: Durch Präsidentenerlass von 2001 war für jede ausländische Zuwendung eine staatliche Genehmigung zu beantragen. Außerdem wurde damit begonnen, sogenannte GoNGOs aufzubauen, welche die authentischen unabhängigen Organisationen ersetzen sollten. Ein gutes Beispiel ist der 2002 gegründete Belarussische Jugendrat (BJR; besser bekannt unter der russischen Abkürzung BRSM), der als nationaler Verband von Kinder- und Jugendorganisationen auftritt, gleichzeitig aber wie ein an den Komsomol erinnernder Jugendverband des Regimes organisiert ist. Der BRSM erhält 50 Prozent aller Mittel, die im Staatshaushalt für Jugendpolitik vorgesehen sind, seine Mitglieder haben Vergünstigungen und werden privilegiert zum Studium zugelassen. Der unabhängige Jugendverband RADA wurde 2006 vom Obersten Gericht aufgelöst und agiert seitdem im Untergrund. 2003-2010: Gewaltsame Marginalisierung Etwas mehr als ein Jahr nach seiner Wiederwahl waren Lukaschenkas Umfragewerte auf ein bis dahin nicht gekanntes Tief von 26 Prozent gerutscht. Zudem musste er mit ansehen, wie - beginnend in Serbien 2001 und sich fortsetzend mit den farbigen Revolutionen in der Ukraine, Georgien und Kirgisien - eine Reihe von repressiven, autoritären Regimes in der Region gestürzt wurde. Die Präsidentschaftswahl 2001 hatte gezeigt, dass die Zivilgesellschaft in der Lage war, landesweite Kampagnen zu initiieren, zudem hatte es auch im Apparat - etwa um den ehemaligen Außenhandelsminister Michail Marinytsch - Absetzbewegungen gegeben. Deshalb begann Lukaschenka ab 2003, in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen die seit 1996 institutionell angelegte präsidiale Machtvertikale auszubauen. Hunderte von unabhängigen Organisationen wurden zur Selbstauflösung gezwungen, gleichzeitig war es praktisch unmöglich, neue oppositionelle Vereinigungen oder Parteien zu gründen. 2005 wurde Artikel 193 (1) ins Strafgesetzbuch aufgenommen, der die Tätigkeit im Namen von nichtregistrierten Organisationen unter Strafe stellt. Unabhängige Zeitungen erhielten Verwarnungen, wenn sie über die Tätigkeit nichtregistrierter Organisationen berichteten, und konnten nach drei Verwarnungen geschlossen werden. Im Bildungsbereich reglementierten Erlasse des Präsidenten die Auslandskontakte von Studierenden und Lehrenden. 2003 wurde das Belarussische Humanistische Lyzeum und 2004 die Europäische Humanistische Universität in Minsk geschlossen, letztgenannte ging ins litauische Exil. Seit 2004 existiert eine schwarze Liste von Musikern, deren Lieder in den staatlichen Medien nicht mehr gespielt werden dürfen. Eines der wirksamsten Kontrollinstrumente war die Aufhebung der unbefristeten Beschäftigung von Staatsbediensteten und die Einführung von - in der Regel einjährigen - Zeitverträgen. Damit ließ sich jeder soziale Protest im Keim ersticken: Weigerte sich etwa ein Lehrer, an der Fälschung von Wahlergebnissen teilzunehmen - Wahllokale befinden sich in der Regel in Schulen, die Wahlkommissionen bestehen vielerorts überwiegend aus Lehrern -, kann das mit dem unmittelbaren Verlust des Arbeitsplatzes geahndet werden. Parteien und Organisationen waren gezwungen, ihre Tätigkeit in den Untergrund zu verlegen, sie verloren den Kontakt mit der Bevölkerung und wurden gesellschaftlich marginalisiert. Oppositionspolitiker und in der Öffentlichkeit aktive Menschen entwickelten sich zu Dissidenten im ursprünglichen Sinne des Wortes, sie übten Kritik am herrschenden System, befanden sich damit aber abseits vom gesellschaftlichen Mainstream. Parteien wurden zu politischen Klubs mit kaum mehr als 2000 Mitgliedern, von denen nicht einmal ein Zehntel aktiv war. Mitte des Jahrzehnts war der autoritäre Staat durchorganisiert. Die außerhalb des staatlich-gesellschaftlichen Rahmens bestehenden Parteien und Vereinigungen wurden "zu Staatsfeinden erklärt oder aber als Sektierer ohne öffentliche Unterstützung diffamiert". Die Repressionen waren intelligent angelegt, denn sie betrafen gezielt eine sozial aktive Minderheit der Bevölkerung. Die physischen Freiheiten (vor allem Reisefreiheit) der unpolitischen Mehrheit wurden nicht angetastet; wer sich politisch nicht exponierte, hatte nichts zu befürchten. Formal gesehen existierte eine pluralistische Fassade, die von der staatlichen Medienpropaganda schöngefärbt wurde: Regelmäßig fanden Wahlen auf allen Ebenen statt, die "Volksvertretungen" tagten, und es gab sogar eine unbedeutende Opposition. Durch kontrollierte Freiheit im vorpolitischen Raum, vor allem aber durch wirtschaftliche Stabilität auf niedrigem Niveau gelang es dem Regime in dieser Phase, wesentliche Bevölkerungsschichten mit sozialen Verträgen (oder impliziten Gesellschaftsverträgen ) an sich zu binden und das Protestpotential zu minimieren. Während der Präsidentschaftswahl 2006 manifestierte sich diese Entwicklung. Die demokratischen Kräfte nominierten einheitlich mit Aljaksandr Milinkiewitsch einen Kandidaten mit einem vor allem zivilgesellschaftlichen Hintergrund. Wahlkampf, Wahlen und Stimmauszählung wurden umfassend von Lukaschenka kontrolliert, die Wahlkampfauftritte von Milinkiewitsch durch die Behörden massiv behindert, es gab Dutzende präventiver Festnahmen, und eine unabhängige Wahlbeobachtung, koordiniert von der Organisation Partnerstwa, wurde gewaltsam unterbunden. Dennoch vermochte eine marginalisierte Opposition, ein politisches Momentum zu kreieren: Die Proteste in der Wahlnacht und in den Tagen danach waren die größten Demonstrationen seit Jahren, und für wenige Tage gab es eine Zeltstadt auf dem Oktoberplatz im Zentrum von Minsk, die schließlich brutal aufgelöst wurde. Letztendlich gelang es der Opposition wie 2001 nicht, mit den Wahlen eine demokratische Wende einzuleiten, auch weil Lukaschenka bei den Wahlfälschungen und den Repressionen von Russland gedeckt wurde. Die Konfrontation einer demokratischen, proeuropäischen und nationalbewussten Opposition mit einem von Russland gestützten autoritären Regime war zu keinem Zeitpunkt deutlicher als im Frühjahr 2006. Präsidentschaftswahl 2010: "Hauptsache nicht wieder Lukaschenka" Bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 wiederholten sich für Zivilgesellschaft und Opposition die Entwicklungsschritte der vergangenen zwanzig Jahren in kondensierter Form: eine Kandidatenvielfalt wie Anfang der 1990er Jahre, die Unfähigkeit der Opposition, sich auf eine gemeinsame Strategie zu einigen, ein mit Abstrichen freier Wahlkampf wie 1994 und ein manipuliertes Wahlergebnis wie bei allen Abstimmungen seit 1996. Nach der Wahl dann: Repressionen, die in ihrer Brutalität und Willkür selbst die aggressive Unterdrückung der Opposition in den Jahren 2003 bis 2006 weit übertrafen. Die beiden ernsthaftesten Herausforderer von Lukaschenka waren der Dichter Uladzimir Nekljajeu und der ehemalige stellvertretende Außenminister Andrej Sannikau. Beide führten einen weitestgehend aus dem Ausland finanzierten Wahlkampf und verfügten als Kandidaten über keinen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Obwohl sie erklärten, für ein freies, demokratisches und unabhängiges Belarus anzutreten, kokettierten sie unverhohlen mit Russland. Das war ihr größter Fehler. Dennoch spielten sie, wie auch die fünf Kandidaten der Oppositionsparteien, eine wichtige Rolle: Sie füllten den öffentlichen Raum, den ein unerwartet liberaler Wahlkampf bot, denn das Regime hatte beschlossen, drei Monate lang politischen Pluralismus zu inszenieren, der zumindest einen öffentlichen Wettstreit unterschiedlicher Meinungen zuließ. Während dieser drei Monate war die Stimmung "Hauptsache nicht wieder Lukaschenka" in weiten Teilen der Bevölkerung so stark, dass die alternativen Kandidaten Gehör fanden und vielen erstmals klar wurde, dass es neben bat'ka (Vater) Lukaschenka noch andere, interessante und ernstzunehmende Politikangebote für das Land gab. Die zentrale Forderung "Neuwahlen ohne Lukaschenka" zeigte, dass die belarussische Gesellschaft reif für politische Alternativen ist. Lukaschenka hatte das Protestpotential unterschätzt, deshalb fiel seine Reaktion militant aus: Die Demonstration ließ er gewaltsam auflösen, weit über sechshundert Personen inhaftieren und die Kandidaten Nekljajeu und Sannikau brutal zusammenschlagen. Der eigentliche Gewinner aus dieser unerwarteten Wende in der Wahlnacht aber war Russland, das sich trotz eines monatelangen bizarren Streites mit Lukaschenka im letzten Moment offensichtlich doch hinter ihn stellte. Und so wiederholte sich auch in dieser Hinsicht die Situation von 1996, 2001 und 2006, als Opposition und Zivilgesellschaft Wahlen und Referenden nutzen wollten, um - unterstützt vom Westen - einen demokratischen Wandel einzuleiten, letztlich aber gegen Lukaschenka, den Autokraten von Russlands Gnaden, auf verlorenem Posten standen. Die vielleicht wichtigste Lektion aus der Präsidentschaftswahl 2010 lautet, dass sich die jahrelang vor allem von westlichen Realpolitikern und Wirtschaftskreisen vertretene Meinung, angesichts der Schwäche und Zerstrittenheit der Opposition könnten demokratische Veränderungen nur durch einen Dialog mit dem Regime eingeleitet werden, als falsch und naiv erwiesen hat. Wer die Demokratie in Belarus und nicht das autoritäre Lukaschenka-Regime stärken will, hat keinen anderen Partner als die Opposition und die autonomen Akteure der Gesellschaft. Unter Stalin wurde die Politik der Korenisazija ("Einwurzelung"), mit der die Einbindung der nichtrussischen Völker in den sowjetischen Staat bei gleichzeitiger Förderung ihrer Sprache und Kultur erreicht werden sollte, zurückgefahren. Die Repressionen gegen die belarussische Intelligenz erreichten 1937/38 ihren Höhepunkt, als in Kuropaty, einem Waldstück bei Minsk, zehntausende Vertreter der belarussischen Elite vom Geheimdienst NKWD ermordet wurden. Vgl. hier und im Folgenden zur Entwicklung der Zivilgesellschaft in Belarus nach 1991: Yury avusau, Belarus' Civic Sector, in: Marta Pejda (ed.), Hopes, Illusions, Perspectives. Belarusian Society 2007, Warschau-Minsk 2007, S. 6-15. Vgl. Wiktor Tschernow, Dritter Sektor in Belarus: Evolution, gegenwärtiger Zustand und Entwicklungsperspektiven, in: Wider Europe, 14 (2007) 4 (russ.), online: http://review.w-europe.org/14/2.html (9.5.2011). Vgl. hier und im Folgenden zur Entwicklung der politischen Parteien von 1991 bis 2006: David R. Marples/Uladzimir Padhol, The Democratic Political Opposition, in: Joerg Forbrig/David R. Marples/Pavol Deme (eds.), Prospects for Democracy in Belarus, Washington, DC 2006, S. 47-56. Zu den Referenden sowie zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in den Jahren 1995 bis 2003 vgl. Vitali Silitski, Preempting Democracy: The Case of Belarus, in: Journal of Democracy, 16 (2005) 4, S. 83-97, online: http://muse.jhu.edu/journals/jod/summary/v016/16.4silitski.html (9.5.2011). Zu den Verschwundenen vgl. die Dokumentation des Vereins "Menschenrechte in Belarus", online: www.human-rights-belarus.org/deutsch/Dokumentation-Verschwundene-Belarus-Lukaschenka.html (9.5.2011). Zur Parlamentswahl 2000 und zur Präsidentschaftswahl 2001 vgl. den Beitrag des damaligen Leiters der OSZE-Beobachtermission Hans-Georg Wieck, Die demokratische Zivilgesellschaft - Alternative zum autokratischen Lukaschenka-Regime in Belarus, in: OSZE-Jahrbuch 2002, Baden-Baden 2002, S. 243-261. Vgl. Tatiana Kusmenkova, Third sector in Belarus: Problems of Formation and Development, Mozyr 2004, S. 10, online: www.ngo.by/files/UNITED%20WAY.pdf (9.5.2011). Wortspiel im Englischen: GoNGO = Governmental Non-Governmental Organisation. Vgl. www.dija.de/belarus/rahmenbedingungen-fuer-die-jugendarbeit-by/finanzierung (9.5.2011). Der Fall BRSM steht pars pro toto: In vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es zwei Strukturen, eine Lukaschenka-treue, staatlich kontrollierte, und eine unabhängige, so etwa zwei Schriftstellerverbände, zwei Journalistenverbände, zwei Seniorenverbände, zwei Gewerkschaftsverbände, zwei kommunistische Parteien. Vgl. V. Silitski (Anm. 5), S. 92f. H.-G. Wieck (Anm. 7), S. 255. Siehe dazu auch den Beitrag von Jerzy Makow in diesem Heft. Vgl. Kirill Gajduk/Elena Rakowa/Vital Silitskij (Hrsg.), Soziale Verträge im gegenwärtigen Belarus, St. Petersburg 2009 (russ.). Zur Präsidentschaftswahl 2010 vgl. Stephan Malerius, Der lange Schatten der Präsidentschaftswahlen in Weißrussland. Verlauf, Ergebnisse und politische Folgen, in: Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung, (2011) 3, S. 118-123.
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, Stephan Malerius
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-06T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33263/opposition-und-zivilgesellschaft-in-belarus/
Obwohl Opposition und Zivilgesellschaft in Belarus im vergangenen Jahrzehnt durch das Regime gesellschaftlich marginalisiert wurden, sind sie potentiell Träger eines demokratischen Wandels.
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Analyse: Die geschwächte Immunität des Staates: Die Masernepidemie in der Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de
Einleitung Laut Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Ukraine seit 2018 die weltweit zweithöchste Zahl an Masernvirusinfektionen. Ein starker Anstieg der Verbreitung des Masernvirus wurde erstmals 2017 registriert, als 4.782 Infektionen nachgewiesen wurden – 2016 lag die Zahl der Masernfälle noch bei 90. 2018 gab es bereits 54.000 Masernfälle in der Ukraine, was mehr als 64 Prozent aller Masernfälle in Europa ausmacht. Im vorigen Jahr verschlechterte sich die Situation noch einmal leicht und das Gesundheitsministerium der Ukraine schätzte die Zahl der zwischen Januar und November 2019 an Masern erkrankten Personen auf mehr als 57.000. Somit haben sich zwischen 2017–2019 insgesamt mehr als 115.000 Menschen mit Masern infiziert, wobei die Krankheit bei 41 Personen tödlich verlief, darunter 25 Kinder. Die Hauptursache für die schnelle Ausbreitung der Masern ist die niedrige Impfrate, die wiederum eine Folge der Krise des ukrainischen Gesundheitssektors ist, sowie die Verbreitung von Desinformationen über die angeblich schädlichen Auswirkungen von Impfstoffen oder ihre Unwirksamkeit. Dies hat dazu geführt, dass der Anteil der Kleinkinder, die gegen Masern geimpft sind, bis 2016 auf 42 Prozent fiel. Mit einer Impfrate von weniger als 31 Prozent bei Kindern unter 6 Jahren lag die Ukraine in dieser Altersgruppe im weltweiten Vergleich in der Schlussgruppe. Ein großes Problem ist außerdem der illegale Handel mit gefälschten Impfpässen, der das Ergebnis einer einflussreichen Anti-Impfkampagne im Internet und des Misstrauens der Bürger gegenüber staatlichen Gesundheitseinrichtungen ist. Folglich sind Masern nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die Gesundheitspolitik des Staates. Obwohl der Anstieg der Masernfälle einhergeht mit einer weltweit steigenden Verbreitung der Masern, hängt der rasche Anstieg in der Ukraine mit lokalen Umständen zusammen, die jedoch nicht einzigartig für die Ukraine sind: Vernachlässigung im Gesundheitssektor sowie die Anfälligkeit der Gesellschaft für Desinformation können überall auftreten – in jedem Land und in jeder sozialen Gruppe. Das macht den Anstieg der Masernfälle in der Ukraine zu einer interessanten Fallstudie, die im Detail analysiert werden muss. Reorganisation in Krisenzeiten Der Hauptgrund für den rapiden Anstieg der Zahl der Masernfälle ist der schlechte Zustand des ukrainischen Gesundheitssektors. Dieser ist wiederum eine Folge der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes sowie einer Reihe politischer Fehlentscheidungen. 2014 gelang es der Regierung aufgrund der damals herrschenden politischen Krise nicht, eine ausreichende Menge an Masernimpfstoffen zu beschaffen, was sich negativ auf die Impfrate in der ukrainischen Gesellschaft auswirkte und in den Folgejahren zu einem Anstieg der an Masern erkrankten Personen beitrug. Ein Konflikt im Gesundheitsministerium führte zu Verzögerungen bei der Versorgung von Gesundheitseinrichtungen mit einer ausreichenden Menge an Impfstoffen. Auslöser war ein Vorwurf von Gesundheitsminister Oleh Musyj gegen seinen Stellvertreter, absichtlich öffentliche Ausschreibungen zum Erwerb von Impfstoffen sabotiert zu haben. Der Rücktritt des Ministers und seines Stellvertreters im Herbst 2014 wegen dieser Kontroverse führte zum Erliegen des staatlichen Impfstoffbeschaffungsprogramms. Ein weiterer wichtiger Grund war die starke Abwertung der Landeswährung Hrywnja. Das führte dazu, dass die zuvor veranschlagten Mittel für den Kauf von Impfstoffen bei Weitem nicht für die Anschaffung der erforderlichen Menge an Impfstoffen reichten. Als Folge wurden die Impfstoffe, die ursprünglich 2014 verwendet werden sollten, erst 2015 erworben. 2014 wurde aufgrund von Korruptionsskandalen die Entscheidung getroffen, den Staatlichen Dienst für Hygiene und Epidemiologie aufzulösen und Aufgaben zur Überwachung, Kontrolle und Prävention von Krankheiten an eine neu zu schaffende Institution zu übertragen. Wegen rechtlicher Zweifel an der Gültigkeit dieser Entscheidung dauerte der Reorganisationsprozess bis März 2017. Das löste ein Verwaltungschaos aus und führte zu einer unklaren Aufgabenteilung zwischen der alten und der neuen Institution, die im Mai 2016 gegründet worden war. Die schwierige Situation wurde noch verschärft durch die Tatsache, dass zwischen 2016 und 2019 der Ministerposten im Gesundheitsministerium vakant blieb – in dieser Zeit war Ulana Suprun amtierende Gesundheitsministerin. Desinformation und Politik Der Anstieg der Masernerkrankungen hängt ebenfalls zusammen mit zunehmenden Anti-Impfkampagnen, vor allem über das Internet. Informationen in sozialen Medien zweifeln die Wirksamkeit und den Nutzen der Immunisierung an und haben viele Eltern davon überzeugt, ihre Kinder nicht impfen zu lassen. Politiker hatten an der Verbreitung der Falschinformationen ihren Anteil und haben Fälle von verstorbenen Kindern genutzt, um sich selbst in Szene zu setzen und ihre politischen Gegner anzugreifen. In diesem Kontext sind insbesondere die Sitzungen und Ergebnisse eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der bereits 2008 zur Untersuchung der Todesursachen eines Jugendlichen in Kramatorsk gebildet wurde, zu erwähnen. Der Fall sorgte für landesweite Aufmerksamkeit und löste in der Ukraine eine große Debatte über die Sicherheit und Effektivität von Impfungen aus: Der Tod des 17-jährigen einen Tag nach einer Masern-Impfung wird als Beginn der Anti-Impfkampagne in der Ukraine gesehen. Die Ergebnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses und die Entscheidung der Regierung, das Impfprogramm an Schulen bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse für mehrere Monate auszusetzen, beförderte die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Der Untersuchungsausschuss kam letztlich zu dem Ergebnis, dass der Tod des Jungen eine direkte Folge der mangelhaften Qualität des aus Indien importierten Impfstoffs war. Dieses Ergebnis wurde jedoch angezweifelt von einer Untersuchung durch WHO-Experten, der zufolge die Todesursache ein septischer Schock war, ausgelöst durch eine Infektion – und nicht der Impfstoff. Obwohl das Gesundheitsministerium die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses zurückwies, entschied es 2010 unter großem öffentlichen Druck, den gesamten Bestand des indischen Impfstoffs, rund acht Millionen Einheiten, zu zerstören. Ein anderes Beispiel ist ein Bericht über einen Pharmakonzern aus Charkiw, der potenziell lebensgefährliche Impfstoffe hergestellt haben soll. Obwohl in diesem wie auch im zuvor beschriebenen Fall letztlich keine Verbindung zwischen Impfung und Tod festgestellt werden konnte, lösten beide Fälle eine Welle von Spekulationen über die negativen Effekte von Impfstoffen aus und trugen zur Verunsicherung und zu Bedenken gegenüber Impfungen in der ukrainischen Gesellschaft bei. Der Kampf gegen die Impfgegner wurde erschwert durch die inkonsistente Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen. Trotz der Tatsache, dass nach ukrainischem Recht alle Kinder an einem staatlichen Impfprogramm teilnehmen müssen und Bildungseinrichtungen nur besuchen dürfen, wenn ein Impfschutz nachgewiesen wird, wurde diese Bestimmung häufig nicht vollständig umgesetzt. 2016 entschied das Bezirksgericht in Slawuta in einem prominenten Fall, dass auch nicht geimpfte Kinder Kindergärten und Schulen besuchen dürfen. Eine Mutter hatte gegen einen Kindergarten geklagt, der wegen des fehlenden Impfschutzes ihres Kindes dessen Annahme verweigert hatte. Das Gericht entschied mit Verweis auf das Grundrecht auf Bildung als einem fundamentalen, von der ukrainischen Verfassung geschütztem Menschenrecht, dass die Ablehnung durch den Kindergarten nicht rechtens gewesen sei. Im April 2019 hob das Oberste Gericht der Ukraine die Entscheidung des Bezirksgerichts jedoch auf und erklärte, dass die von der Klägerin vorgebrachten Argumente bezüglich der Schädlichkeit von Impfstoffen nicht ausreichend belegt seien und die Verpflichtung zur Immunisierung in öffentlichem Interesse und damit rechtens sei. Die Tatsache, dass die Zahl der Masernfälle im Verhältnis zur rückläufigen Impfrate der ukrainischen Gesellschaft zunimmt, lässt den Schluss zu, dass sich die zurückhaltende Haltung gegenüber Impfungen in den letzten Jahren direkt auf die steigenden Masernzahlen ausgewirkt hat: 2017 wurden die Masern in 86 Prozent der Fälle bei nicht geimpften Personen diagnostiziert. Der Handel mit gefälschten Impfpässen ist eine weitere Folge der Verbreitung von Fehlinformationen über Impfungen. Es gibt Schätzungen, denen zufolge in der Ukraine bis zu 30 Prozent der ärztlichen Impfbescheinigungen gefälscht sind. Laut ukrainischen Journalisten beträgt der Preis für solche Zertifikate etwa 350 Hrywnja, umgerechnet 11 Euro. Das ukrainische Ministerium für Bildung und Wissenschaft kündigte an, dass die Leitungen von Bildungseinrichtungen dafür verantwortlich gemacht werden sollen, wenn nicht geimpfte Kinder an ihre Einrichtungen zugelassen werden. Gegenwärtig arbeitet das Bildungsministerium zusammen mit dem Gesundheitsausschuss der Werchowna Rada an einem gesetzlichen Rahmen zur Regelung des Problems. Folgen der Versäumnisse In den Jahren 2014–2016 führten politische Fehlentscheidungen sowie die zunehmende Ablehnung gegenüber Impfungen zu einem Rückgang der Zahl der Impfungen bei Kindern, insbesondere bei Säuglingen. Lag die Impfrate bei Säuglingen 2007 noch bei 97 Prozent, sank sie bis 2016 auf 42 Prozent und zählt damit zu den weltweit niedrigsten Raten. Infolgedessen stieg 2017 die Zahl der diagnostizierten Masernfälle im Vergleich zu 2016 um das 46-Fache. Es sei darauf hingewiesen, dass die Personen, die an Masern erkrankten, hauptsächlich Kinder waren: 2017 betrafen 75 Prozent aller Masernfälle Kinder, 2018 lag der Anteil bei 63 Prozent. Die höchste Rate an Masernfällen gibt es in den westlichen Oblasten der Ukraine, insbesondere in den Gebieten Lwiw, Winnyzja, Riwne und Chmelnyzkyj sowie in Kiew. Der Masernausbruch in der Ukraine hat auch Folgen für andere Länder. Im April 2019 wurde im Stadtbezirk Brooklyn von New York eine erhöhte Masernrate in orthodox-jüdischen Gemeinden verzeichnet und es wurde der Notstand im Bereich der öffentlichen Gesundheit ausgerufen. Das Virus war von chassidischen Juden, die jährlich zu Tausenden in die Ukraine pilgern, über Israel in die Vereinigten Staaten getragen worden. 2019 wurde die erhöhte Masern-Inzidenzrate in Europa hauptsächlich in Ländern der ehemaligen Sowjetrepubliken verzeichnet. Abgesehen von der Ukraine, die seit zwei Jahren an der Spitze dieser negativen Entwicklung steht, wurden die meisten Masernfälle in Georgien (4.389) und der Russischen Föderation (4.054) verzeichnet, gefolgt von der Türkei (2.811), Frankreich (2.657), Nord-Mazedonien (1.897) und Rumänien (1.746). In jedem dieser Länder ist die Ausbreitung des Masernvirus mit einem Rückgang der Impfrate in der Bevölkerung verbunden. Eine Datenanalyse zeigt, dass, obwohl in der Mehrheit der europäischen Länder die meisten Einwohner geimpft sind, die hohe Mobilität die Ausbreitung der Krankheit und die Entstehung von lokal isolierten Gebieten mit erhöhter Masern-Inzidenz erleichtert. Die Reaktion der Behörden Die erste Maßnahme, die von den ukrainischen Behörden als Reaktion auf die Verzögerung bei der Lieferung der Impfstoffe im Jahr 2014 ergriffen wurde, bestand in einer Änderung des Systems der Arzneimittelbeschaffung, einschließlich von Impfstoffen. Im März 2015 wurde ein Gesetz erlassen, das vorschrieb, dass bis Ende März 2020 der Erwerb von Arzneimitteln vollständig über internationale Organisationen wie UNICEF und UNDP sowie über die britische Firma Crown Agents abgewickelt werden sollte. Laut dem Gesundheitsministerium führte die Einführung des neuen Beschaffungssystems zu einer Senkung der Beschaffungskosten von Arzneimitteln um 40 Prozent und trug dazu bei, dass 2018 eine ausreichende Menge an Impfstoffen beschafft werden konnte. Im Januar 2019 führte die Regierung einen Drei-Jahres-Plan für den Einkauf von Impfstoffen ein, der zudem eine Beschaffung von 25 Prozent Reserve-Impfstoffen vorsah, die im Notfall eingesetzt werden können. Trotz der alarmierenden Statistiken über den Anstieg der Masernfälle rief das Gesundheitsministerium keine Epidemie aus. Stattdessen entschied es sich für vorläufige Maßnahmen (vorübergehende Schließung von Schulen, Durchführung von Impfkampagnen, Einführung mobiler Impfstationen). Im Mai 2019 gab das Ministerium bekannt, von nun an allen Bürgern kostenlose Impfungen zur Verfügung zu stellen, unabhängig von Alter und Beruf (zuvor wurden nur Beschäftigte im Gesundheitswesen, Lehrkräfte, Soldaten, Studierende und Menschen unter 30 kostenlos geimpft). Auch wurde die Altersgrenze für die erste Masernimpfung bei Kleinkindern auf sechs Monate gesenkt. Darüber hinaus wurde eine Sensibilisierungskampagne gestartet, an der auch Premierminister Olexij Hontscharuk und das Kirchenoberhaupt der autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine, Metropolit Epiphanius, teilnahmen. Diese Maßnahmen haben zu einer wesentlichen Verbesserung der Impfrate in der ukrainischen Bevölkerung beigetragen. 2017 lag die Impfrate bei Säuglingen bei 88 Prozent, 2019 stieg sie auf 91 Prozent und Ende November 2019 waren 85 Prozent aller Kleinkinder unter einem Jahr geimpft. Laut dem amtierenden Direktor des Staatlichen Zentrums für öffentliche Gesundheit ist die Masernepidemie dank der Bemühungen des ukrainischen Gesundheitssektors sowie internationaler Organisationen auf dem Rückzug. Die Erfahrungen mit der raschen Ausbreitung der Krankheit resultierten Ende November 2019 in einer von der ukrainischen Regierung verabschiedeten Strategie für die Entwicklung der immunologischen Prävention und zum Schutz der Bevölkerung vor Infektionskrankheiten bis 2022. Diese verpflichtet die Behörden beispielsweise dazu, eine ausreichende Finanzierung für Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten bereitzustellen; ein Programm umzusetzen, das den Bürgern Zugang zu verlässlichen und wissenschaftlich fundierten Informationen über die Bedeutung von Impfungen verschafft, sowie einen Krisenreaktionsplan auszuarbeiten für den Fall eines plötzlichen Anstiegs von Infektionskrankheiten. Die Glaubwürdigkeitskrise des Staates Trotz der erfolgreichen staatlichen Maßnahmen zur Steigerung der Impfrate in der Bevölkerung stehen viele Menschen im Land dieser Art der Krankheitsprävention nach wie vor skeptisch gegenüber. Meinungsumfragen zeigen, dass in der Ukraine die Wirksamkeit der Argumente der Impfgegner eng mit dem gesellschaftlichen Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen verbunden ist. 2018 gaben in einer repräsentativen Umfrage mehr als ein Drittel der Befragten an, dass die Aktivitäten des Gesundheitsministeriums keine Auswirkungen auf ihre Gesundheit hätten, und mehr als die Hälfte von ihnen äußerte Zweifel an der Kompetenz der Mitarbeitenden öffentlicher Gesundheitseinrichtungen. 29 Prozent sahen Impfungen als gesundheitsschädlich, während etwa die Hälfte sie für effektiv hält (zum Vergleich dazu halten im benachbarten Polen 84 Prozent der Bevölkerung Impfungen für effektiv). Nur zwei Drittel der Befragten sind der Auffassung, dass Impfprogramme für Kinder obligatorisch sein sollten, während 27 Prozent dies ablehnen. Die große Mehrheit (73 Prozent) ist dafür, dass es hauptsächlich den Eltern überlassen werden sollte, ob ihr Kind geimpft wird – und nicht dem Staat. Diese Zahlen zeigen die immense Herausforderung, vor der die Behörden stehen, wenn es um die Sensibilisierungspolitik im Bereich der Krankheitsprävention geht. Die ukrainische Gesellschaft ist nach wie vor anfällig für Fake News und Fehlinformationen über die Sicherheit und Effektivität von Impfungen. In dieser Situation besteht die einzige Möglichkeit, die Auswirkungen von Falschnachrichten zu begrenzen, in gezielten staatlichen Gegenmaßnahmen. Dies ist umso wichtiger vor dem Hintergrund des Medienrummels und der unklaren Verantwortung für die Veröffentlichung von Fake News im Internet und in den sozialen Medien. Dies macht Verschwörungstheorien zum größten Problem für die Verhinderung neuer Krankheitsausbrüche. Dieser Text erschien ursprünglich als OSW Commentary 318 des Zentrums für Osteuropastudien in Warschau (OSW). Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt dem Autor und dem OSW für die Erlaubnis zum Nachdruck einer deutschsprachigen Übersetzung. Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Eduard Klein Eine Analyse von Posts in sozialen Netzwerken, die von der George-Washington-Universität durchgeführt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass der Anstieg von Masernfällen 2014–17 mit der gestiegenen Aktivität von aus Russland stammenden Fake-Accounts korreliert. Der Inhalt der russischen Internet-Bots wurde auf verschiedenen Seiten gepostet und enthielt ähnliche Nachrichten über negative Folgen von Impfungen, mangelnde Qualität von Impfstoffen sowie über das Recht der Eltern, Impfungen ihrer Kinder zu verweigern, siehe D.A. Broniatowski et al., "Weaponized Health Communication: Twitter Bots and Russian Trolls Amplify the Vaccine Debate", American Journal of Public Health, October 2018, no. 108, Externer Link: https://ajph.aphapublications.org/doi/10.2105/AJPH.2018.304567.
Article
Von Krzysztof Nieczypor, Zentrum für Osteuropastudien (Warschau)
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-07-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/312660/analyse-die-geschwaechte-immunitaet-des-staates-die-masernepidemie-in-der-ukraine/
Seit 2017 stieg die Zahl der Masernerkrankungen in der Ukraine als Folge einer sinkenden Impfrate rapide an. Für die gesunkene Impfrate gab es mehrere Gründe, wobei neben Versäumnissen in der Gesundheitspolitik auch gezielte Desinformationenskampagne
[ "Masern", "Gesundheitssystem", "Krankheit", "Infektion", "Epidemie", "Ukraine", "Ukraine Analysen" ]
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Profiteure, Helfer, Handlungsspielräume | NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews | bpb.de
Die "Fremdvölkischen" waren auf ihren langen täglichen Arbeitswegen ebenso unübersehbar wie in den Fabriken und Lagern. Die allgegenwärtige und überall sichtbare Ausbeutung und Diskriminierung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurde von der deutschen Bevölkerung weithin hingenommen oder – wie die hohe Zahl von Denunziationen bei der Gestapo zeigt – gar begrüßt und unterstützt. Nicht nur die Rüstungsindustriellen, auch einfache Deutsche profitierten von der Zwangsarbeit, die ihnen die Lebensmittelversorgung sicherte und einen gewissen sozialen Aufstieg ermöglichte. Persönliche Kontakte waren verboten, durch Misstrauen und Sprachbarrieren aber ohnehin selten. Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter berichten gleichwohl von kleinen Anzeichen von Solidarität oder konkreten Hilfsleistungen wie dem Zustecken von Nahrungsmitteln. Zwangsarbeit für Industrie, Staat und Handwerk Der Großindustrielle Günther Quandt besaß viele Rüstungsfirmen, die Zwangsarbeiter einsetzten, 1941. (Bundesarchiv, Bild 183-B03534) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Die meisten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter waren in den großen Fabriken der Rüstungsindustrie tätig. Ab 1942 bemühten sich die Firmen aktiv um die Zuweisung von immer mehr ausländischen Arbeitskräften, um damit Rüstungsaufträge übernehmen zu können und so an dem von Externer Link: Albert Speer organisierten Wirtschaftsboom teilzuhaben. Ohne Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hätten die meisten Fabriken schließen müssen, mit ihnen konnten sie ihre Produktionskapazitäten erheblich ausbauen. Zu Kriegsende produzierte etwa die zum Flick-Konzern gehörende Spandauer Stahlindustrie mit einem Anteil von über 80 Prozent Ausländern an der Belegschaft. Millionen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in ganz Europa arbeiteten für große Baufirmen, oft in Verbindung mit der Externer Link: Organisation Todt. Auch der Bergbau setzte massenhaft Zwangsarbeiter ein; der Sinto Interner Link: Reinhard Florian etwa musste als Häftling in einer oberschlesischen Kohlengrube arbeiten. Besonders schlecht waren die Bedingungen in den Untertage-Projekten, mit denen die Rüstungsfirmen unterirdische, vor Luftangriffen geschützte Produktionsstätten einrichteten. Ohne Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wäre nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern auch die Versorgung der Deutschen rasch zusammengebrochen. Bahn und Post, Krankenhäuser und Friedhöfe sowie die meisten städtischen Werke bedienten sich der Zwangsarbeit: Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, bei der deutschen Arbeitsverwaltung in Marseille, 1943. (© Bundesarchiv) Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) etwa berichteten dem Arbeitsamt über die "vielen Ostarbeiterkinder bei uns". Der 19-jährige Pole Roman Melnyk musste ab 1940 bei der Berliner Stadtreinigung arbeiten, ehe er 1942 – vermutlich weil er sich über die schlechten Bedingungen beschwerte – ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen wurde. Allein für die Reichsbahndirektion Berlin schufteten 20.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Franzose Interner Link: Victor Laville arbeitete erst für eine Eisengießerei, dann auf einer Baustelle der Reichsbahn. Viele der Verschleppten waren auch bei kleinen Handels- und Handwerksbetrieben beschäftigt. Die Kreuzberger Weinhandlung Robert Boos beschäftigte ein Dutzend Ostarbeiter. Der Ukrainer Roman F. arbeitete als Heizergehilfe im Hotel Adlon. Zwangsarbeit auf Bauernhöfen und in Privathaushalten Viele deutsche Bauernhöfe setzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein, die die zur Wehrmacht eingezogenen Knechte, Mägde und Landarbeiter ersetzten. Auf dem Land waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter meist besser verpflegt und weniger von Bombenangriffen betroffen als in der Stadt; doch mussten sie hart arbeiten, waren isoliert von ihren Landsleuten und der Willkür ihrer Bauernfamilien ausgesetzt. Besonders viele sowjetische Zwangsarbeiterinnen wurden als Dienstmädchen in bürgerlichen Haushalten beschäftigt. Viele leitende Angestellte von Unternehmen und NS-Bürokratie nutzten ihre Beziehungen, um ihren Ehefrauen eine Haushaltshilfe zu besorgen. Für die "Ostarbeiterinnen“ bedeutete das eine bessere Versorgung, aber auch lange Arbeitszeiten, persönliche Willkür und eine höhere Gefahr sexueller Ausbeutung. Die aus Charkow nach Berlin verschleppte Ingenieurin Interner Link: Sinaida Baschlai wurde zunächst bei der Kosmetikfirma Schwarzkopf eingesetzt, kam dann aber als Haushaltshilfe in eine Villa am Stadtpark in Steglitz. Ihre Herrin behandelte sie klassenbewusst, aber nicht schlecht: "Sie war die Herrin, ich ihr Dienstmädchen. Ich arbeitete den ganzen Tag, und sie konnte sich ans Klavier setzen; sie dachte, wenn sie spielte und ich arbeitete, würde ich eine bessere Laune bekommen." Nachbarschaft Die Zwangsarbeit fand direkt vor der Haustür der Bevölkerung statt; fast jeder Deutsche hatte ein Zwangsarbeiterlager in der Nachbarschaft. In Münster sind 180 solcher Unterkünfte nachgewiesen, in Hamburg 1300, in Berlin über 3000. Mancher Volksgenosse protestierte gegen die Einrichtung eines Ausländerlagers in seinem Wohngebiet und die – so ein Berliner in einer Beschwerde – damit drohende "Überflutung der Gegend durch herumlungernde Ausländer". Josef Kroupa erinnert sich Familienfest in einem Garten in Berlin-Lichtenrade, 1942. Hinter dem Zaun ein Zwangsarbeiterlager der Reichspost. (© Thomas Quilitzsch / Geschichtswerkstatt Lichtenrade ) Auf einem Privatfoto aus dem Jahr 1942 feiert Familie K. im Garten hinter dem Haus eine Einschulung; im Hintergrund sieht man eine Baracke. In diesen Baracken in der Steinstraße lebten Zwangsarbeiter der Reichspostdirektion Berlin. Der Tscheche Josef Kroupa erinnerte sich 1997: „Wir schliefen auch bei strengsten Frösten nur unter einer Decke. Wir haben uns einen Ofen organisiert, Zweige und Kohle am Bahnhof gesammelt, um uns wenigstens Tee zu kochen. […] Es war ein Hundeleben.“* Im Nachbargarten jedoch lief das bürgerliche Familienleben unberührt weiter. Was der Familie K. über das benachbarte Zwangsarbeiterlager bekannt war, ist unbekannt – die auf dem Foto vorne abgebildete Zeitzeugin erinnert sich kaum noch daran. * Erinnerungsbericht von Josef Kroupa, 1997, Sammlung Berliner Geschichtswerkstatt Auch auf ihren langen täglichen Arbeitswegen waren die "Fremdvölkischen" unübersehbar. Viele Deutsche erinnerten sich noch lange nach dem Krieg an das typische Klappern der Holzpantinen auf dem Pflaster, wenn die Lagerinsassinnen und -insassen zur Arbeit geführt wurden. Mit einem Sonderfahrplan regelte die Reichsbahndirektion Berlin im Juli 1944 den S-Bahn-Transport von russischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen durch Berlin. Danach passierte beispielsweise jeden Werktag um 6:16 Uhr ein Sonderzug mit Ostarbeitern den Bahnhof Bornholmer Straße. Die Direktion merkte an: "Die Sonderzüge sind auf allen Bahnhöfen mit dem Richtungsschild 'Nicht einsteigen' anzukündigen." Misstrauen Die von der NS-Sondergesetzgebung vorgegebene Abschottung der "Fremdvölkischen" beschränkte die Kontakte zwischen Deutschen und Ausländern. Der "verbotene Umgang" wurde teilweise streng verfolgt. Die Sprachbarriere und das gegenseitige Misstrauen taten ein Übriges, um – in der Großstadt ohnehin seltenere – persönliche Beziehungen zu verhindern. In die anfangs oft siegesgewiss überhebliche Wahrnehmung der Ausländer mischte sich gegen Ende des Krieges nun häufiger Angst vor den Fremden. Die Journalistin Ursula von Kardorff notierte Ende 1944 in ihrem Tagebuch: "Die Fremdarbeiter sollen vorzüglich organisiert sein. Es heißt, daß Agenten unter ihnen sind, Offiziere, Abgesandte der verschiedenen Untergrundbewegungen, die gut mit Waffen ausgerüstet seien, auch mit Sendegeräten. […] Zwölf Millionen Fremdarbeiter gibt es in Deutschland. Eine Armee für sich. Manche nennen sie das Trojanische Pferd des heutigen Krieges." Hilfsleistungen Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter berichten gleichwohl von konkreten Hilfsleistungen wie dem Zustecken von Nahrungsmitteln. Dieses zwischenmenschliche Mitgefühl war von großer Bedeutung für das Überleben der Ausländer, aber auch für die moralische Integrität der Helfenden. In Berlin ist eine ganze Reihe von Hilfsaktionen aus Reihen des deutschen, vor allem des Arbeiterwiderstands dokumentiert. Die Zwangsarbeiter registrierten aufmerksam jedes Anzeichen von Solidarität. Jerzy Bukowiecki aus Polen etwa erinnerte sich 1998: "Es arbeitete dort auch ein alter Mann […]. Dieser sehr sympathische alte Mann fing jede Unterredung mit 'Hitler kaputt' an. Er hasste, nicht weniger als wir, Hitler und alle Nazileute. Sein Gruß war: 'Hitler kaputt.' Allen Ausländern war er sehr sympathisch." Der Großindustrielle Günther Quandt besaß viele Rüstungsfirmen, die Zwangsarbeiter einsetzten, 1941. (Bundesarchiv, Bild 183-B03534) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, bei der deutschen Arbeitsverwaltung in Marseille, 1943. (© Bundesarchiv) Familienfest in einem Garten in Berlin-Lichtenrade, 1942. Hinter dem Zaun ein Zwangsarbeiterlager der Reichspost. (© Thomas Quilitzsch / Geschichtswerkstatt Lichtenrade ) Auf einem Privatfoto aus dem Jahr 1942 feiert Familie K. im Garten hinter dem Haus eine Einschulung; im Hintergrund sieht man eine Baracke. In diesen Baracken in der Steinstraße lebten Zwangsarbeiter der Reichspostdirektion Berlin. Der Tscheche Josef Kroupa erinnerte sich 1997: „Wir schliefen auch bei strengsten Frösten nur unter einer Decke. Wir haben uns einen Ofen organisiert, Zweige und Kohle am Bahnhof gesammelt, um uns wenigstens Tee zu kochen. […] Es war ein Hundeleben.“* Im Nachbargarten jedoch lief das bürgerliche Familienleben unberührt weiter. Was der Familie K. über das benachbarte Zwangsarbeiterlager bekannt war, ist unbekannt – die auf dem Foto vorne abgebildete Zeitzeugin erinnert sich kaum noch daran. * Erinnerungsbericht von Josef Kroupa, 1997, Sammlung Berliner Geschichtswerkstatt Familienfest in einem Garten in Berlin-Lichtenrade, 1942. Hinter dem Zaun ein Zwangsarbeiterlager der Reichspost. (© Thomas Quilitzsch / Geschichtswerkstatt Lichtenrade ) Zustimmungsdiktatur Überwiegend wurde die "Apartheid nebenan" von den Deutschen aber akzeptiert, wenn sie nicht gar die nationalsozialistische Herrenmenschen-Ideologie fanatisch unterstützten. Die meisten Verhaftungen und Bestrafungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern gingen auf Anzeigen von Meistern und Lagerführern, aber auch auf Denunziationen von unbeteiligten Nachbarn oder Passanten zurück. Gerade im Kontext der Zwangsarbeit erscheint Götz Alys Wort von der "Zustimmungsdiktatur" zutreffend. Auch die deutschen Arbeiter profitierten schließlich von dem massenhaften Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Zwar trug Zwangsarbeit dazu bei, dass auch immer mehr Facharbeitern die Einberufung an die Front drohte, da Ausländerinnen und Ausländer ihre Arbeit übernahmen. Andererseits erlaubte die Zwangsarbeit einfachen Arbeitern einen sozialen Aufstieg, etwa durch Aufrücken in Vorarbeiter-Stellen, und bewahrte viele, vor allem allerdings bürgerliche, Frauen vor einer Dienstverpflichtung in der Rüstungsindustrie. Zusammen mit der durch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gesicherten Versorgung der deutschen Bevölkerung stärkte dies den Zusammenhalt unter den "Volksgenossen". Lagerführer Die meisten Deutschen hatten freilich nur begrenzte Handlungsspielräume, sofern sie nicht in ihrer beruflichen Position mit den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zu tun hatten, etwa als Abwehrbeauftragter, Werkschutzmann oder Lagerführer. Besondere Verantwortung trug der Abwehrbeauftragte, in kleineren Betrieben meist identisch mit dem Betriebsführer. Ihm unterstanden die Werkschutzmänner, die die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter oft in gewalttätiger Weise – beaufsichtigten. Die Lagerführer der betriebseigenen Lager unterstanden ebenfalls dem Abwehrbeauftragten. Vor Ort hatten die Lagerführer einen großen Handlungsspielraum gegenüber ihren Insassen, waren aber auch mit einer Vielzahl organisatorischer Aufgaben beschäftigt. In einem Lager der Evangelischen Kirche Berlin verhielt sich etwas ein Lagerführer ruhig und verständnisvoll, während der andere häufig schlug und mit der Gestapo drohte. Weiterführende Links und Literatur Hintergrundfilm Zwangsarbeit und Entschädigung mit Zusatzmaterialien in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945" (Registrierung notwendig) Externer Link: Zwangsarbeit. Die Zeitzeugen-App der Berliner Geschichtswerkstatt Buggeln, Marc/Pagenstecher, Cord: Zwangsarbeit, in: Berlin 1933-1945, hg. v. Michael Wildt und Christoph Kreutzmüller, München: Siedler 2013, 127–142 Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945, München 1962 Bericht Jerzy Bukowiecki, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.br.pl 599. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-23T00:00:00"
"2016-05-04T00:00:00"
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https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/ns-zwangsarbeit/227271/profiteure-helfer-handlungsspielraeume/
Neben der Rüstungsindustrie profitierten auch öffentliche Dienststellen, Handwerker und Bauern sowie private Haushalte von der Zwangsarbeit. Mehr noch als andere nationalsozialistische Massenverbrechen fand die Zwangsarbeit direkt vor der Haustür sta
[ "Zwangsarbeit", "Nationalsozialismus", "Rüstungsindustrie", "Albert Speer", "Todt Lager", " Fritz Sauckel", "Günther Quandt" ]
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"2021-06-23T00:00:00"
"2011-11-12T00:00:00"
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Online-Beteiligungsverfahren – zahnlose Tiger oder Mitsprache 2.0? | Politische Teilhabe im Netz | bpb.de
"You Decide Europe“: mit diesem Slogan sind soeben die Online-Primaries der Europäischen Grünen Partei angelaufen. Bis Januar 2014 dürfen europäische Bürger, seien sie Parteimitglieder oder nicht, online die beiden grünen Spitzenkandidaten für die Europawahl im Mai 2014 wählen. Dies ist ein Novum. Denn die meisten Beteiligungsverfahren übers Internet sind rein konsultativ. Das heißt, es gibt keine Garantie dafür, dass das Anliegen der Teilnehmer tatsächlich umgesetzt wird – egal, wie viele Bürger sich beteiligen und wie viel Zustimmung ein Vorschlag, Aufruf oder eine Petition erhält. Dies gilt weitgehend unabhängig davon, wer das Beteiligungsverfahren initiiert hat. Ob top-down oder bottom-up: bindende Ergebnisse sind selten So gibt es zahlreiche top-down-Verfahren, die von politischen Institutionen oder Entscheidungsgremien initiiert werden. Dazu zählen beispielsweise die e-Petitionen am Deutschen Bundestag und an drei deutschen Landtagen, online-basierte Bürgerhaushalte oder der online-geführte Bürgerdialog der Kanzlerin Angela Merkel. Keines dieser Verfahren sieht eine bindende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger vor. Bottom-up-Verfahren sind direkt von Bürgern oder Interessengruppen initiiert und damit nicht direkt an eine politische Institution oder einen politischen Akteur angebunden. Als Beispiele lassen sich nicht-offizielle Petitionen (OpenPetition, Change.org, Avaaz, Campact u.a.) nennen. Zudem gibt es Online-Kommunikationsforen zur Wählerkommunikation beispielsweise über abgeordnetenwatch oder soziale Netzwerke. Online-Verfahren, die tatsächlich bindende Ergebnisse hervorbringen, wie die eingangs erwähnten grünen Online-Primaries oder das Liquid Feedback der Piratenpartei, sind selten. Unklare Kommunikation macht wenig Lust auf mehr Oft ist den Teilnehmern gar nicht bewusst, dass die Ergebnisse ihrer Online-Teilnahme nicht bindend sind und, wenn es schlecht läuft, ungelesen und ohne politischen Einfluss bleiben. Dies liegt unter anderem daran, dass die Namen der Verfahren direkte Mitsprache suggerieren (wie etwa der "Bürgerhaushalt“). Zudem sind viele Verfahren so aufgebaut, dass Vorschläge oder Petitionen zur Abstimmung gestellt werden. Dies weckt bei vielen Teilnehmern die Erwartung, dass ein von ihnen favorisierter Vorschlag bei entsprechend hohen Zustimmungsraten von anderen Teilnehmern schlussendlich politisches Gehör findet. Die direktdemokratische Logik des Abstimmens für und gegen Vorschläge (oder Petitionen) erweckt den Eindruck, auch der Einfluss der Vorschläge sei direktdemokratisch. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie die Teilnehmer feststellen, wenn auf der Beteiligungsseite wie etwa beim Externer Link: Bürgerdialog der Kanzlerin als einzige Rückmeldung zu lesen ist: "Herzlichen Dank für Ihre Anregungen! Alle Vorschläge werden nun auf ihre Umsetzbarkeit geprüft". Mehr als eineinhalb Jahre nach Ende der Beteiligungsphase werden die Vorschläge immer noch geprüft: Ein solches Feedback muss ernüchternd wirken. Neben der klaren Kommunikation darüber, was das jeweilige Online-Verfahren leisten kann (meistens: Austausch und Diskussion) und was nicht (meistens: bindende politische Mitentscheidung), ist es vonnöten, nach Ablauf eines Verfahrens deutlich und detailliert zu kommunizieren, inwiefern die Bürgervorschläge aufgegriffen bzw. in welche politischen Gremien sie weiter kommuniziert wurden. Unklare Kommunikation führt zu Missverständnissen und stößt die Teilnehmer vor den Kopf, die Zeit und Mühe in ein Verfahren investiert haben. Unausgereifte Verfahren, aber eine ernst zu nehmende Perspektive Alternativ bliebe die Option, die zahnlosen Tiger mit einem neuen Gebiss auszustatten und die bloß konsultativen Verfahren in bindende umzugestalten. Diesem Ansatz stehen jedoch zahlreiche Bedenken entgegen, die von der Schwierigkeit der Authentifizierung von Teilnahmeberechtigten über den nicht für alle Bürger vorhandenen Internetzugang bis hin zu demokratietheoretischen Fragen reichen, die etwa die Interner Link: soziodemographische Verzerrung bei den Teilnehmern von Online-Verfahren berühren. Als Fazit lässt sich also vorläufig festhalten: Die bisherigen Online-Verfahren können mit Fug und Recht mehrheitlich als zahnlose Tiger gelten. Dennoch bieten sie eine Chance zum Austausch zwischen Bürgerschaft und Politik, die nicht ungenutzt bleiben sollte. Ob man langfristig die Entwicklung hin zu "echten Tigern" wünscht oder nicht, bleibt eine offene Frage. Alma Kolleck Alma Kolleck studierte Politikwissenschaft und spanische Philologie in Berlin. Fragen der technisch mediatisierten Kommunikation und Partizipation interessieren sie seit dieser Zeit. Nach Forschungsprojekten an den Universitäten Tübingen und Frankfurt untersucht sie derzeit in ihrer Doktorarbeit zu Online Meinungsbildungsprozessen die Erfolgsbedingungen verschiedener deutscher Beteiligungsverfahren. Alma Kolleck studierte Politikwissenschaft und spanische Philologie in Berlin. Fragen der technisch mediatisierten Kommunikation und Partizipation interessieren sie seit dieser Zeit. Nach Forschungsprojekten an den Universitäten Tübingen und Frankfurt untersucht sie derzeit in ihrer Doktorarbeit zu Online Meinungsbildungsprozessen die Erfolgsbedingungen verschiedener deutscher Beteiligungsverfahren.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2013-12-17T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/174755/online-beteiligungsverfahren-zahnlose-tiger-oder-mitsprache-2-0/
Partizipationsverfahren die nicht deutlich kommunizieren ob ihre Ergebnisse verbindlich sind, stoßen denen, die Zeit und Mühe in sie investiert haben vor den Kopf. Alma Kolleck von der Goethe Universität in Frankfurt über konsultative Verfahren und z
[ "Politische Teilhabe im Netz", "Beteiligung", "Partizipation" ]
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Kurze Geschichte des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch | Abtreibung | bpb.de
Das in §218 Strafgesetzbuch (StGB) normierte Abtreibungsverbot war und ist seit seiner Aufnahme in das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches von 1871 Gegenstand oft erbitterter gesellschaftlicher und politischer Diskussionen. Die fortbestehende Brisanz der Abtreibungsproblematik erklärt sich daraus, dass es bei den Auseinandersetzungen um die Liberalisierung des Abtreibungsrechts auch immer um die alte Frage ging und geht, ob den Rechten des (ungeborenen) Kindes oder den Rechten der Frau der Vorzug einzuräumen sei. Auch bevölkerungspolitische Interessen des Staates spielten eine gewichtige Rolle. In diesem Beitrag skizziere ich die Entwicklung des seit 1871 in den §§218ff. normierten Abtreibungsstrafrechts bis hin zu den aktuellen Auseinandersetzungen um das sogenannte Werbeverbot in §219a. Einführung der Abtreibungsparagrafen im Kaiserreich Die Aufnahme der §§218 bis 220 in das StGB des Deutschen Reiches von 1871 war das Ergebnis der seit Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Diskussion zu diesem Themenkomplex. Aufgrund neuer wissenschaftlich-rationaler Rechtstheorien im Zeichen der Aufklärung erschienen die alten Gesetze mit ihren zum Teil drakonischen Strafmaßen nicht mehr tragbar und zeitgemäß. Im Fall der Abtreibungsgesetzgebung kam hinzu, dass die alten gemeinrechtlichen, vom Kirchenrecht beeinflussten Bestimmungen von physiologischen Voraussetzungen ausgingen, die mit neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen unvereinbar waren. So beurteilte die katholische Kirche bis ins 19. Jahrhundert die Abtreibung bis zum 40. (beim männlichen Feten) beziehungsweise 80. (beim weiblichen Feten) Tag infolge der auf Aristoteles zurückgehenden Lehre der "sukzessiven Beseelung" als minderschwer. Wurde der Fötus demzufolge zunächst nur als ein Teil der mütterlichen Eingeweide angesehen, markierte der Zeitpunkt der "Beseelung" spätestens am 80. Tag die eigentliche Menschwerdung, womit der Grundstein für die prinzipielle Behandlung der Abtreibung als Tötungsdelikt gelegt und zudem ein generelles Abtreibungsverbot statuiert war. Die sich im 18. Jahrhundert durchsetzende medizinische Erkenntnis, dass bereits mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle eine Vorstufe zum Menschsein erreicht ist, musste die bis dahin praktizierten Strafbarkeitsunterschiede (beispielsweise im bayerischen Kriminalkodex von 1751, Straflosigkeit in der ersten Schwangerschaftshälfte) überflüssig machen. Fortan wurde das ungeborene Leben als Vorstufe oder Fiktion eines Menschen gewertet, zu dessen Schutz der Staat nicht verpflichtet, aber berechtigt sei, um sich "in ihm einen zukünftigen Bürger zu erhalten". Aus dieser schon deutlichen bevölkerungspolitischen Motivation, die bis in die 1960er Jahre hinein dominierte, folgte einerseits eine Privilegierung des Schwangerschaftsabbruchs in Form einer Minderbestrafung gegenüber der Tötung eines Menschen, andererseits die ausnahmslose Strafbarkeit der Abtreibung bereits seit der Empfängnis. Der Umstand, dass die Partikulargesetze des 19. Jahrhunderts viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, bildete bei der Reichsgründung eine günstige Voraussetzung, ein einheitliches deutsches Strafgesetzbuch zu schaffen. Die systematische Zuordnung der Abtreibung zu den Tötungsdelikten wurde daher auch im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 beibehalten, obwohl es sich nach einhelliger Auffassung der Rechtslehre aufgrund des Sonderstatus des ungeborenen Lebens nicht um ein Tötungsdelikt handelte. Mit der Bildung einer Allianz staatlicher und medizinischer Instanzen auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik, dem Beginn der Debatte über Indikationen (also besonderen medizinischen, sozialen oder sonstigen Umständen, unter denen Abtreibungen straflos sein sollten) und der Verfolgung der privaten Abtreibung durch sogenannte Kurpfuscher ging zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Formierung der Frauenbewegung einher. Der Konflikt zwischen Staat, Medizin und Frauen, der im Abtreibungsverbot seit jeher angelegt war, trat nun erstmals in der "Gebärstreikdebatte" von 1913 offen zutage und sollte auch die spätere Reformdiskussion zur Zeit der Weimarer Republik und zu Beginn der 1970er Jahre bestimmen. Der Kriegsbeginn verhinderte zwar eine Reform der entsprechenden Paragrafen, verstärkte aber aufgrund der hohen Menschenverluste und des Bedarfs an Soldaten und Arbeitern die politische Brisanz der Geburtenentwicklung. Der nicht mehr zur Verabschiedung gekommene Entwurf eines Gesetzes gegen Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung vom Juli 1918 sollte auf lange Sicht die einzige ernsthafte Chance bleiben, die überfällige Einführung einer medizinischen Indikation, also einer Abtreibungsstraflosigkeit bei Gefahr für Leib oder Leben der Schwangeren, gesetzlich zu regeln. Gleichwohl wurden die Grundlagen für die moderne Bevölkerungspolitik einschließlich der zugehörigen Fragen der Geburtenregelung und Schwangerschaftsunterbrechung im Kaiserreich gelegt, wobei sich die Gespaltenheit der Gesellschaft mit der konservativen politischen Führungselite, Ärzten und Kirchen gegenüber der Frauenbewegung sowie Vertretern des linken Spektrums dort bereits andeutete. Geprägt wurde dort auch ein Reichenprivileg und der Begriff des "Klassenparagrafen" 218, da bis in die 1970er Jahre nahezu ausschließlich unterprivilegierte Schwangere auf Selbsthilfe oder Kurpfuscher angewiesen waren und die damit verbundenen gesundheitlichen und strafrechtlichen Risiken auf sich nehmen mussten. Reformbestrebungen in der Weimarer Republik Bedingt durch die wirtschaftliche Nachkriegskrise mit Lebensmittelknappheit und Wohnungsnot fanden sich die konservativen Kräfte – mit Ausnahme der katholischen Kirche – nun mit der Verbreitung von Verhütungsmitteln ab. Dafür rückte die Abtreibung in den Mittelpunkt der bevölkerungspolitischen Debatte. Die Befürworter des Abtreibungsverbots trafen jetzt auf eine breite Gegenbewegung gegen den "Gebärzwang", die sich aufgrund der gewandelten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse konstituieren konnte. Eine im Vergleich zum Kaiserreich wesentlich breitere und engagiertere Diskussion zu Fragen der Beibehaltung oder Änderung des Abtreibungsstrafrechts war die Folge. So entwickelte sich bis 1931 eine außerparlamentarische Massenbewegung gegen den §218, deren Zustandekommen durch die sich nach 1918 entwickelnde Sexualreformbewegung und die im Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BfMS) verkörperte radikale Frauenbewegung gefördert wurde. Diese Kräfte bauten ein Netz von Sexualberatungsstellen auf, in denen Hilfe suchende Frauen über Empfängnisverhütung und das strenge Abtreibungsstrafrecht aufgeklärt und vereinzelt auch an hilfswillige Ärzte vermittelt wurden. Allerdings stand die Vielfalt der in der Bewegung zusammengefassten unterschiedlichen Gruppierungen, die sich mit verschiedenen Interessen und Argumentationsansätzen für eine Abschaffung des §218 einsetzten, einer dauerhaften Allianz entgegen. Die politische Führungsrolle der KPD in dieser Bewegung hatte zudem zur Folge, dass die ebenfalls reformwillige und im Reichstag ungleich stärker vertretene SPD die Massenbewegung aus ideologischen Gründen nicht unterstützte, wobei sich die Fraktion allerdings auch intern uneinig war. Die uneinheitlichen politischen Verhältnisse der Weimarer Republik gestatteten am Ende mit der Gesetzesnovelle vom 18. Mai 1926 nur einen – auch von den Liberalen und einem Teil der bürgerlichen Parteien unterstützten – Minimalkonsens, der eine uneingeschränkte Beibehaltung des Abtreibungsverbots und lediglich eine Strafmilderung und eine Herabstufung vom Verbrechen zum Vergehen vorsah. Selbst das seit Langem überfällige Minimalziel der gesetzlichen Einführung einer medizinischen Indikation wurde nicht erreicht. Die Untätigkeit beziehungsweise Unfähigkeit des Gesetzgebers glich das Reichsgericht teilweise aus, indem es in einem Urteil vom 11. März 1927 die Zulässigkeit einer der Ärzteschaft vorbehaltenen Abtreibung aus medizinischen Gründen unter Heranziehung des Güterabwägungsprinzips höchstrichterlich bestätigte. Dieses Urteil sollte noch bis zur Gesetzesreform Mitte der 1970er Jahre als legislativer Ersatz dienen und war insofern ein richtungsweisender Vorläufer dieser Entwicklung. Extreme Entwicklung im Nationalsozialismus Mit der Zerschlagung der von ihnen als "liberal" und "individualistisch" abgelehnten Sexualreformbewegung unmittelbar nach der Machtübernahme war schnell klar, dass die Nationalsozialisten die Reformierung des Abtreibungsstrafrechts nur unter gänzlich anderen Vorzeichen zulassen würden. Das ungeborene Leben trat als bislang unbestrittenes Schutzgut des Abtreibungsstrafrechts hinter nun übergeordnete Ziele der Rassen- und Bevölkerungspolitik zurück. Zum Rechtsgut des §218 wurde nun ausschließlich die "Lebenskraft des Volkes" erklärt, was mit der Einführung der Todessstrafe für diejenigen, die fortgesetzt gewerbliche Abtreibung betrieben, in der Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft von 1943, aber auch in der geplanten Herausnahme der Abtreibung aus den Tötungsdelikten und Einordnung in einen neuen Abschnitt "Angriffe auf Rasse und Erbgut" in den Entwürfen für ein neues nationalsozialistisches Strafgesetzbuch von 1936 zum Ausdruck kam. Auch die bezeichnenden Einschränkungen des Abtreibungsverbotes, die mit der erstmaligen gesetzlichen Regelung einer medizinischen und eugenischen (beziehungsweise rassischen) Indikation im Änderungsgesetz zum Erbgesundheitsgesetz von 1935 erfolgten, betrafen ausschließlich "unwertes Leben" im Sinne der NS-Doktrin. Sie dienten der Umsetzung einer zweigleisigen Bevölkerungspolitik der "Auslese" und "Ausmerze" und waren nur eine Scheinliberalisierung. Bei der Umsetzung der NS-Rassen- und Bevölkerungspolitik wurde den Ärzten die wichtige Rolle des "Erbarztes" eingeräumt, und sie erwiesen sich in den ihnen hierfür zugewiesenen Funktionen innerhalb der Erbgesundheitsgerichte und Gutachterstellen als willige Erfüllungsgehilfen. Gleiches gilt für die gleichgeschaltete Rechtsprechung, die sich bei der Bewertung der Abtreibungsstrafbarkeit ausschließlich an den Zielen der Rassen- und Bevölkerungspolitik orientierte. Reformierung in der Bundesrepublik In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1949 war der §218 weder Gegenstand politischer Reformbestrebungen, noch bestand ein öffentliches Interesse an dieser Thematik. Denn unter den von wirtschaftlicher und sozialer Not gekennzeichneten Lebensbedingungen hatten elementare Bedürfnisse wie Wohnraum, Kleidung und Nahrung größere Bedeutung für die Bevölkerung als eine Diskussion um die Reformierung des Abtreibungsstrafrechts. Allerdings hatte sich in der Ärzteschaft unter diesen besonderen Verhältnissen ein grundlegender und nachhaltiger Einstellungswandel in der Abtreibungsfrage eingestellt. Hatten diese seit 1900 mehrheitlich lediglich eine enge medizinische Indikationsstellung bei akuter Leib- oder Lebensgefahr für die Schwangere befürwortet, waren die Ärzte nunmehr bereit, sich mit den Problemen der Frauen, ihrem Not und ihrem Elend ernsthaft auseinanderzusetzen. Mit ihrer fortan großzügigen Handhabung einer "sozial-medizinischen" Indikation und einer liberalen Abtreibungspraxis sollte die Ärzteschaft eine Vorreiterrolle für die erst eingangs der 1970er Jahre wieder aufgenommene breite Reformdiskussion übernehmen, wenngleich sie eine völlige Abtreibungsfreigabe im Interesse des Schutzes des ungeborenen Lebens auch weiterhin ablehnte. Mit der rapiden Verbesserung der Lebensverhältnisse seit 1949 ging die Zahl der zumeist sozial begründeten Schwangerschaftsabbrüche zurück. Zudem behielten die Ärzte ihre in der Nachkriegszeit ausgebildete liberale Abtreibungspraxis selbst im reformfeindlichen politischen Klima der 1950er und 1960er Jahre bei, das von konservativen sexual- und familienpolitischen Vorstellungen gekennzeichnet war. Die damalige Familienpolitik schrieb das Leitbild der Hausfrau und Mutter fort und verknüpfte mit den Abtreibungsbestimmungen erneut bevölkerungspolitische Ziele, galt es doch, angesichts des beginnenden "Kalten Krieges" die Mehrkinderfamilie als "Kraftquelle des Staates" zu erhalten und vor Gefährdungen in Form einer Liberalisierung des Abtreibungsstrafrechts zu schützen. Vor diesem Hintergrund beschränkte sich die Reform im dritten Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 vornehmlich auf eine verfassungskonforme Anpassung des §218 in Form der Aufhebung der 1943 eingeführten Todesstrafe. Auch im Rahmen der Beratungen der Entwürfe eines neuen Strafgesetzbuchs Anfang der 1960er Jahre bestand nur Einigkeit über die Notwendigkeit der seit Langem überfälligen Regelung einer medizinischen Indikation, um den bestehenden pragmatischen Rechtszustand – Fortgeltung des allgemeinen Abtreibungsverbots bei Zulässigkeit medizinisch begründeter Schwangerschaftsabbrüche aufgrund der Reichsgerichtsentscheidung von 1927 – endlich gesetzlich festzuschreiben. Die vorgelegten Entwürfe von 1960 und 1962 beschränkten sich auf Randkorrekturen in Form von Strafmilderungen und der Aufnahme einer medizinischen Indikation, während eine ebenfalls diskutierte kriminologische Indikation für Vergewaltigungsaborte aufgrund der hohen Missbrauchsgefahr, die man ihr aufgrund der in der Nachkriegszeit gemachten Erfahrungen zuschrieb, abgelehnt wurde. Wenngleich es in der 4. Legislaturperiode (1961–1965) nicht mehr zu einer parlamentarischen Beratung und Verabschiedung des Entwurfes von 1962 kam, hatte zumindest die vorangegangene Diskussion vor allem der kriminologischen Indikation vorübergehend auch das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit gefunden. In der Folgezeit war eine Reform des §218 zunächst kein Thema mehr. Lediglich anlässlich der Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe wurde durch die Reform vom 25. Juni 1969 mit der Herabstufung des Schwangerschaftsabbruchs zum Vergehen der Rechtszustand von 1926 im Wesentlichen wiederhergestellt. Gleichwohl wurde das allgemeine Abtreibungsverbot beibehalten, wenngleich das gesamte politische Spektrum nun einhellig bekundete, auf lange Sicht seien weitere Reformen, insbesondere die gesetzliche Regelung von Indikationen, erforderlich. Durch den Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingangs der 1970er Jahre wurde der Reformdruck auf die an der Gesetzgebung beteiligten politischen Parteien erhöht. Im Zuge der sogenannten sexuellen Revolution ab Ende der 1960er Jahre, der Infragestellung des traditionellen Familienleitbildes durch die damals propagierte "freie Liebe" und durch den weitverbreiteten Gebrauch der "Pille" geriet auch der Schwangerschaftsabbruch als "nachsteuernde" Maßnahme der Geburtenregelung wieder in die öffentliche Diskussion. Die Studentenbewegung führte zugleich zur Bildung der "neuen Frauenbewegung", die sich eine Veränderung des Gesellschaftssystems zur Verwirklichung ihrer emanzipatorischen Vorstellungen zum Ziel gesetzt hatte. Mit der Einforderung des Selbstbestimmungsrechts der Frauen stand für sie der Kampf gegen den als eine Hauptstütze frauenspezifischer Unterdrückung angeprangerten §218 von Beginn an in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Zudem kam angesichts des zunehmenden "Abtreibungstourismus" deutscher Frauen in das benachbarte Ausland die Realitätsferne der Abtreibungsbestimmungen verstärkt zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang wurde, wie schon in früheren Zeiten, ein Reichenprivileg konstatiert und kritisiert, dass unterprivilegierte Frauen, die sich eine Auslandsabtreibung nicht leisten konnten, unter Eingehung erheblicher gesundheitlicher Risiken zur Selbsthilfe greifen müssten. Den Durchbruch in das Zentrum des öffentlichen Interesses bewirkte eine bundesweite Selbstbezichtigungskampagne, die mit einer von Alice Schwarzer initiierten und an ein Vorbild aus Frankreich angelehnten Veröffentlichung im Magazin "Stern" am 6. Juni 1971 begann. Unter einer gemeinsamen Erklärung "Wir haben abgetrieben" bekannten sich dort 374 Frauen, darunter viele Prominente. In den Folgemonaten wurden die Selbstbezichtigungen systematisch koordiniert fortgeführt, und in vielen Städten traten Gegner des Abtreibungsverbots in einer "Aktion 218" zu Massendemonstrationen zusammen. Die Position der neuen Frauenbewegung, die eine völlige Abtreibungsfreigabe forderte und diese ausschließlich emanzipatorisch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau begründete, war ähnlich radikal wie diejenige der Massenbewegung zur Zeit der Weimarer Republik. Der Schutz des ungeborenen Lebens, den alle dominierenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte als Rechtsgut des §218 anerkannten, blieb dabei unberücksichtigt und wurde, wie die damals gebräuchliche Parole "Mein Bauch gehört mir" verdeutlicht, als nachrangig eingestuft. Das konsequente Festhalten an diesen Extrempositionen führte ähnlich wie schon zur Weimarer Zeit dazu, dass die außerparlamentarische Protestbewegung ihre Forderungen nur sehr eingeschränkt auf die parlamentarischen Reformkräfte übertragen konnte. Diese sahen sich jedoch gehalten, ihre anlässlich der Reform von 1969 angekündigten Bemühungen zu beschleunigen. Die Rechtslehre hatte diesbezüglich bereits 1970 Stellung bezogen und mit der Vorlage eines von 16 liberalen Strafrechtslehrern erarbeiteten "Alternativ-Entwurfs" für eine Reform des Abtreibungsrechts einen wichtigen Impuls für die spätere Gesetzgebung gesetzt. Es ist bezeichnend für die besondere Problematik der Materie, dass sich auch dieser kleine qualifizierte Personenkreis nicht auf eine einheitliche Regelung einigen konnte und zwei Vorschläge erarbeitete, wobei der Mehrheitsvorschlag eine Dreimonatsfristenregelung und der Minderheitsvorschlag eine weite Indikationenregelung zum Gegenstand hatte. Richtungsweisend für den späteren Koalitionsentwurf sollten auch die Beschlüsse des 76. Deutschen Ärztetages von 1973 werden, auf dem die Ärzteschaft ihre bereits seit der Nachkriegszeit praktizierte weite sozial-medizinische Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch festschrieb. Die Ärzte hatten sich mehrheitlich gegen eine Fristenlösung ausgesprochen, traten jedoch für eine weite medizinische Indikationsstellung ein, die auf Grundlage des ganzheitlichen Gesundheitsbegriffs der Weltgesundheitsorganisation soziale, psychische und sonstige Aspekte unter einer medizinischen Oberindikation zusammenfasste. Die Ärzte, die diese Voraussetzungen im Einzelfall zu prüfen hatten, behielten sich so weiterhin ihre standesrechtlich bedeutsame Kontrollfunktion vor, die ihnen bei einer reinen Fristenlösung versagt geblieben wäre und sie gewissermaßen zu reinen Erfüllungsgehilfen der betroffenen Frauen degradiert hätte. Zu einer weiteren Polarisierung und Anfachung der öffentlichen Reformdiskussion trug die katholische Kirche bei, die in der Papst-Enzyklika "Humanae vitae" von 1968 und späteren, gleichlautenden Erklärungen der deutschen Bischöfe ihre frühere Position zur Abtreibung bekräftigt hatte. Danach hatte der Staat das ungeborene Leben unter allen Umständen zu schützen, lediglich eine enge medizinische Indikation erschien vertretbar. Deutlich liberalere Züge hatte die Position der nicht durch Dogmen oder päpstliche Weisungen gebundenen evangelischen Kirche. Diese vertrat ein Modell, das eine medizinische Indikation unter Berücksichtigung der Lebensumstände der Schwangeren sowie unter bestimmten Beratungs- und Feststellungsvoraussetzungen auch eine eugenische (also embryopathische) und eine kriminologische Indikation zuließ. Schon zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens und auch im weiteren Verlauf der 6. und 7. Legislaturperiode (1969–1972/1972–1976) wurde das gemeinsame Ziel deutlich, das ungeborene Leben besser als bisher zu schützen und auch den Konfliktsituationen Schwangerer Rechnung zu tragen. Eine völlige Abtreibungsfreigabe, wie von der außerparlamentarischen Protestbewegung gefordert, stieß daher als im Widerspruch zum Lebensschutz stehend auf einhellige Ablehnung. Gleichwohl kam ein Konsens darüber, ob einer Fristenregelung oder einer Indikationenregelung der Vorzug zu geben sei, nicht zustande. Der Hauptstreitpunkt zwischen den Koalitionsparteien SPD/FDP und den oppositionellen Unionsparteien bildete die Frage, wie weit der dem ungeborenen Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährte Schutz zu gehen habe, insbesondere wann dieser Rechtsschutz beginne und welcher Art er zu sein habe. Ausgangspunkt der CDU/CSU-Fraktion war, dass der grundgesetzliche Lebensschutz keine Differenzierung kenne, weshalb der Schutz des ungeborenen Lebens grundsätzlich umfassend sein müsse und daher die besonderen Belange der Schwangeren nur in Form einer Indikationenlösung berücksichtigt werden könnten. Innerhalb der SPD-Fraktion konnte dagegen bis kurz vor der Schlussabstimmung im Bundestag keine Einigung erzielt werden, ob dem Fristen- oder dem Indikationenmodell der Vorzug zu geben sei. Die Partei war bis Juni 1971 mehrheitlich auf ein Indikationenmodell ausgerichtet. Einen Stimmungsumschwung der Parteibasis bewirkte erst die im Juni 1971 initiierte öffentliche Selbstbezichtigungskampagne, worauf der SPD-Parteitag im November 1971 mit einem klaren Votum zur Fristenregelung abschloss. Mit dem schließlich am 18. Juni 1974 verabschiedeten fünften Strafrechtsreformgesetz sollte die Fristenlösung eingeführt werden. Sie sah Straflosigkeit in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft vor, wenn der Abbruch mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt durchgeführt wurde. Die kriminalpolitische Begründung, die Fristenregelung wolle den Frauen kein Recht auf Abtreibung einräumen, sondern diene vielmehr der Eindämmung der Abbrüche im Interesse des Lebens- und Gesundheitsschutzes, unterschied sich grundlegend von den rein emanzipatorischen Motiven der außerparlamentarischen Massenbewegung gegen §218. Die Fristenregelung konnte jedoch nicht in Kraft treten, weil das Bundesverfassungsgericht den ihr zugrundeliegenden §218a StGB mit den schon im Vorfeld von Gegnern der Fristenregelung angeführten Argumenten in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 für verfassungswidrig erklärte. Danach bezog sich das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für "jeden" verbürgte Recht auf Leben auf jedes menschliche Individuum einschließlich des noch ungeborenen menschlichen Wesens und durfte daher nicht für eine bestimmte Frist infrage gestellt werden. Eine vertretbare Ausnahme sollte nur für bestimmte Indikationsstellungen gelten. Um den gerichtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen, brachten die Koalitionsfraktionen und die Unionsfraktion neue Gesetzesentwürfe ein, die in ihren letzten Fassungen von 1975 eine weite sozial-medizinische Indikationsstellung vorsahen, wie sie von der Ärzteschaft bereits seit der Nachkriegszeit aufgrund der Reichsgerichtsentscheidung von 1927 praktiziert und auf dem 7. Deutschen Ärztetag 1973 festgeschrieben worden war. Folgerichtig fand das am 18. Juni 1976 in Kraft getretene 15. Strafrechtsänderungsgesetz die Zustimmung der Ärzteschaft. Kern der Regelung war ein in §218a normiertes Indikationenmodell, wonach der Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt nicht nach §218 strafbar war, wenn die Schwangere einwilligte, alternativ eine medizinisch-soziale, eugenische, kriminologische oder eine Notlagenindikation vorlag und der Abbruch innerhalb der für die jeweilige Indikation geltenden Frist erfolgte. Mit dieser Regelung blieb den Ärzten die Kontroll- und Filterfunktion, die sie seit der Kaiserzeit für sich beansprucht hatten, erhalten. Abtreibungsstrafrecht der DDR Das Mutterschutzgesetz vom 27. Februar 1950, das bis zum Beginn der 1970er Jahre in Kraft blieb, sah lediglich eine enge medizinische sowie eine auf Erbkrankheiten beschränkte Indikation zum Schwangerschaftsabbruch vor. Insoweit hatte sich die DDR mit einer weitgehenden Legalisierung zurückgehalten und stattdessen auf die Zunahme der Empfängnisverhütung vor allem durch die "Pille" gesetzt. Dies änderte sich erst, als die Frauen den Druck auf eine Freigabe der Abtreibung verstärkten, wobei sie auf die in vielen sozialistischen Nachbarländern bereits ergangenen entsprechenden Gesetze verweisen konnten. Dies führte schließlich zu der Verabschiedung des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft am 9. März 1972. Nach den §§153 bis 155 DDR-StGB hatte jede Frau das Recht, bis zur zwölften Woche der Schwangerschaft diese durch einen ärztlichen Eingriff unterbrechen zu lassen, wofür weder eine förmliche Antragstellung noch eine Offenlegung der Motive erforderlich war. Nach Ablauf dieser Frist griff eine weit gefasste medizinische oder sich auf "schwerwiegende Umstände" erstreckende Indikationsstellung. Diese Regelung bezweckte in Verfolgung überindividueller politisch-ideologischer Ziele ausschließlich, den Frauen zur Verwirklichung der in der sozialistischen Gesellschaft proklamierten Gleichberechtigung ein Recht auf Abtreibung im Sinne einer Dispositionsfreiheit über ihren Körper zu gewähren. Entstehung des geltenden Abtreibungsstrafrechts Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes 1990 geriet der Gesetzgeber in Zugzwang, da der Einigungsvertrag die im Beitrittsgebiet geltenden verfassungswidrigen Abtreibungsbestimmungen für eine Übergangszeit in Geltung ließ, jedoch dem gesamtdeutschen Gesetzgeber die Aufgabe zuwies, bis zum 31. Dezember 1992 eine dem Lebensschutz angemessene Neuregelung zu erarbeiten. Das heute geltende Abtreibungsstrafrecht wurde durch die Reform im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 1995 geschaffen und ist letztlich ein Kompromiss in Form einer Kombination aus einem durch eine Beratungspflicht ergänzten Fristenmodell bis zur zwölften Schwangerschaftswoche (§218a Abs. 1 StGB) und einer erweiterten medizinischen und kriminologischen Indikationenlösung (§218a Abs. 2 u. 3 StGB). Das vorangegangene zweite Fristenregelungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 schrieb die Grundsätze des ersten Urteils von 1976 fort, erklärte aber darüber hinaus eine "nicht rechtfertigende Fristenregelung mit Beratungspflicht" als mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar. Danach ist nunmehr im geltenden Recht der Abbruch aufgrund einer medizinischen und kriminologischen Indikationsstellung nicht rechtswidrig und straffrei, während er aufgrund der angekoppelten reinen Fristenlösung zwar rechtswidrig bleibt, aber straffrei ist. Insofern bleibt festzustellen, dass in der jüngeren deutschen Rechtstradition der Schutz des ungeborenen Lebens in jedem Schwangerschaftsstadium zwar weiterhin mit althergebrachten ethischen, christlich-konfessionellen und medizinisch-biologischen Aspekten begründet wird. Allerdings haben mit gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem Rückgang des Einflusses der Amtskirchen in der modernen pluralistischen Gesellschaft effektivitätsorientierte kriminalpolitische Erwägungen in den rechtspolitischen Entscheidungsprozess Eingang gefunden, den Einfluss weltanschaulicher Grundpositionen reduziert und so eine grundlegende Reform und Liberalisierung des Abtreibungsstrafrechts ermöglicht. Unverkennbar ist aber auch, dass das derzeit geltende liberale Abtreibungsrecht von dem Bestreben gekennzeichnet ist, einer "willkürlichen" Dispositionsfreiheit der Schwangeren über das ungeborene Leben im gesetzlich verbliebenen Rahmen entgegenzuwirken und ihr die grundsätzliche rechtliche und gesellschaftliche Missbilligung ihres Verhaltens zu verdeutlichen. Ob es damit gelungen ist, eine dauerhaft tragfähige Lösung zu finden, bleibt abzuwarten. Angesichts der Reformgeschichte des §218 sind zumindest Zweifel angebracht, ob beziehungsweise inwieweit sich differenzierte strafrechtliche Regelungen auf diesem Gebiet langfristig bewähren können. Als gesicherte Erkenntnis verbleibt vorerst, dass ein gesellschaftlicher Konsens in der Abtreibungsfrage angesichts der unterschiedlichen und weltanschaulichen Grundpositionen von Abtreibungsgegnern und -befürwortern auch durch ein reformiertes Abtreibungsrecht nicht zu erreichen ist. Schluss Wie unvereinbar sich die unterschiedlichen Positionen auch weiterhin gegenüberstehen, verdeutlicht die aktuelle Debatte um das in §219a StGB normierte sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, die durch den Prozess der Gießener Ärztin Kristina Hänel in Gang gesetzt wurde. Sie wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil die Informationen auf ihrer Homepage als Werbung für Abtreibung eingestuft wurden. Der Paragraf stammt aus einer Zeit, in der es die Beratungspflicht für Schwangere noch nicht gab. Heute ist es so, dass zwischen der Beratung durch eine unabhängige Stelle und dem Eingriff mindestens drei Tage liegen müssen. Zudem unterscheidet die Berufsordnung für Ärzte klar zwischen (verbotener) Werbung und sachlicher Information, weshalb das strafrechtliche Werbeverbot im Prinzip veraltet ist. Tatsächlich scheint es in der Debatte auf Seiten der Gesetzesbefürworter weniger um Werbung zu gehen, sondern um die Klarstellung, dass Abtreibungen in diesem Land immer noch illegal und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei sind. Dass eine Dispositionsfreiheit der Frauen über ihren Körper nicht gewünscht ist, zeigt beispielhaft auch die mündliche Urteilsbegründung im ersten Prozess gegen Hänel, wonach schwangere Frauen durch ihre hormonelle Situation nicht in der Lage seien, frei zu entscheiden – sie also gewissermaßen vor sich selbst geschützt werden müssen. Andererseits kann man feststellen, dass sich die reformierten §§218ff. StGB in der Praxis durchaus bewähren. Es gibt ein gut ausgebautes Beratungsnetz – ob sich dieses weiterhin finanzieren ließe, wenn es eine freiwillige Leistung wäre und nicht vom Gesetz vorgesehen, ist fraglich. Die Zusammenarbeit von Beratungsstellen und Ärzten funktioniert, und es gibt eine flächendeckende medizinische Versorgung auf solidem Niveau. Zudem sind Abtreibungen seit Jahren rückläufig. Insofern erscheint es in Bezug auf §219a lebensfremd, den betroffenen Frauen zu unterstellen, sich leichtfertig zu entscheiden oder gar von "Werbung" in dieser existenziellen Frage beeinflussen zu lassen. Auch wenn es zeitweise so aussah, als könne wegen des Streits um §219a die Regierungskoalition zerbrechen – die SPD trat für eine komplette Abschaffung des Werbeverbots ein, die Unionsseite wollte dies nicht – wurde nun nach zähem Ringen ein Kompromiss in Form der Lockerung des Verbots gefunden. Ärzte und Kliniken sollen nunmehr sachlich und neutral darüber informieren dürfen, dass sie Abtreibungen vornehmen. Ob es ein guter Kompromiss nicht nur für die politisch Verantwortlichen, sondern vor allem für die betroffenen Frauen geworden ist, muss die Zukunft zeigen. Und das letzte Wort wird wahrscheinlich ohnehin wieder in Karlsruhe gesprochen. Vgl. ausführlich zur historischen Entwicklung Dirk von Behren, Die Geschichte des §218 StGB, Gießen 20192 (i.E.). Vgl. Günter Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn. Die Geschichte des Abtreibungsverbots, Tübingen 2002, S. 66f. Die durch diese Lehre begründete Rechtstradition kommt prinzipiell in den späteren Fristenlösungsmodellen noch zum Ausdruck. Paul Johann Anselm Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, Gießen 1820, S. 350. Mit dieser Rechtstradition wurde erst – unter erheblichen Argumentationsschwierigkeiten – durch das erste Fristenregelungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 gebrochen. Vgl. Anna A. Bergmann, Die rationalisierten Triebe. Rassenhygiene, Eugenik und Geburtenkontrolle im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1988, S. 144ff. Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Stenografischer Bericht, Drucksache Nr. 1717, S. 2504–2509. Eduard R v. Liszt, Die kriminelle Fruchtabtreibung, Bd. 1, Zürich 1910, S. 110. Vgl. nur Ursula Saatz, §218. Das Recht der Frauen ist unteilbar, Münster 1991, S. 40. Ausführliche Darstellung bei Kristine von Soden, Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik, 1919–1933, Berlin 1988, S. 58ff. Reichsgesetzblatt (RGBl.) I 1926, S. 239. Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen 61, S. 242ff. RGBl. I 1943, S. 140f. Franz Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Besonderer Teil, Berlin 19362, S. 113. RGBl. I 1935, S. 773. Vgl. Till Bastian, Furchtbare Ärzte. Medizinische Verbrechen im Dritten Reich, München 1995, S. 45. Vgl. Michael Gante, §218 in der Diskussion. Meinungs- und Willensbildung 1945 bis 1976, Düsseldorf 1991, S. 34ff. Vgl. ebd., S. 66 mit weiteren Nachweisen. Christian de Nuys-Henkelmann, "Wenn die rote Sonne abends im Meer versinkt …" Die Sexualmoral der fünfziger Jahre, in: Anja Bagel- Bohlan/Michael Salewski (Hrsg.), Sexualmoral und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1990, S. 107ff. Bundesgesetzblatt (BGBl.) I 1953, S. 735ff. E 1960 (Bundesrats-Drucksache Nr. 270/60); E 1962 (Bundestags-Drucksache (BT-Drs.) IV/650). BGBl. I 1969, S. 645f. Vgl. Christin Freise, Die Abtreibungsproblematik im Spannungsfeld zwischen Moral, Recht und Politik. Schriften zur politischen Ethik, Bd. 2, Saarbrücken 1993, S. 27. Siehe grundlegend Pro Familia Bremen (Hrsg.), Wir wollen nicht mehr nach Holland fahren. Nach der Reform des §218 – Betroffene Frauen ziehen Bilanz, Hamburg 1978. Vgl. Marion Meier, Wie hat sich das Verhältnis der Frauen zur Abtreibungsfrage geändert? in: Pro Familia Magazin 1/1986, S. 6f. Vgl. ebd., S. 7. Der Entwurf ist abgedruckt bei Friedrich-Christian Schroeder, Abtreibung. Reform des §218 (Dokumentation), Berlin–New York 1972, S. 46ff. Vgl. Der 76. Deutsche Ärztetag: In den Grundsätzen der Fortentwicklung überzeugend einig, in: Deutsches Ärzteblatt 1973, S. 2965. Abgedruckt bei Schroeder (Anm. 27), S. 78. Vgl. nur die kirchliche "Denkschrift zu Fragen der Sozialethik" von 1971, abgedruckt ebd., S. 99ff. Zum hier sehr gestrafft dargestellten parlamentarischen Verfahren vgl. ausführlich Gante (Anm. 17), S. 137f., S. 129ff. Vgl. Hermann Tallen, Die Auseinandersetzung über §218 StGB. Zu einem Konflikt zwischen SPD und katholischer Kirche, Paderborn 1977, S. 56ff. BT-Drs. 7/375. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 39, 1ff. BGBl. I 1976, S. 1213ff.; zur Haltung der Ärzte vgl. Meier (Anm. 25), S. 7. Vgl. Lykke Aresin, Schwangerschaftsabbruch in der DDR, in: Gisela Staupe/Lisa Vieth (Hrsg.), Unter anderen Umständen. Zur Geschichte der Abtreibung, Dresden 1993, S. 86–95, hier S. 91. Gesetzblatt DDR I 1972, Nr. 5, S. 82; siehe auch Aresin (Anm. 36), S. 92, mit dem Hinweis, dass es sich hier um das erste und einzige mit Gegenstimmen verabschiedete Gesetz der Volkskammer handelte. Vgl. ebd., S. 92. Einigungsvertrag Art. 31 Abs. 4. BGBl. I 1995, S. 1055ff. BVerfGE 39, 1ff. Amtsgericht Gießen, Urteil vom 25. November 2017 und Landgericht Gießen, Urteil vom 12. Oktober 2018 (Az. 507 Ds- bzw. 3 Ns- 406 Js 15031/15). Vgl. Das ist ein demütigendes Frauenbild, in: Stern, 8.11.2018, S. 46.
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, Dirk von Behren
"2022-02-16T00:00:00"
"2019-05-09T00:00:00"
"2022-02-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/290795/kurze-geschichte-des-paragrafen-218-strafgesetzbuch/
Das Abtreibungsverbot war seit seiner Aufnahme in das Strafgesetzbuch 1871 Gegenstand oft erbitterter gesellschaftlicher und politischer Diskussionen. Die fortbestehende Brisanz zeigt sich aktuell in der Diskussion um das sogenannte Werbeverbot in §
[ "Schwangerschaftsabbruch", "Abtreibung", "Strafrecht", "Deutsches Kaiserreich", "Weimarer Republik", "Nationalsozialismus", "DDR", "Bundesrepublik" ]
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Arbeitsblätter für die Sekundarstufen I und II | Die Berliner Mauer im Unterricht | bpb.de
Die Webseite Externer Link: Chronik der Mauer stellt das derzeit umfangreichste multimediale Informationsangebot zur Berliner Mauer dar. Um die Inhalte der Seite auch im Unterricht an den Schulen nutzbar zu machen, wurden in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Bettina Alavi und Holger Meeh von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg 13 Arbeitsblätter mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden für die Sekundarstufen I und II entwickelt. Die Arbeitsblätter stehen als PDF-Dokumente zum Download zur Verfügung. Die Arbeitsblätter sind zur zweckgerichteten Verwendung freigegeben und dürfen unter Nennung der Quelle vervielfältigt, verteilt oder auf einer anderen Internetseite publiziert werden. Arbeitsblätter für die Sekundarstufen I und II Arbeitsblätter als PDF zum Download Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 1: Die deutsch-deutsche Grenze Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 2: Das geteilte Berlin Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 3: Fluchtmotive vor dem Mauerbau 1961 Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 4: Die Fluchtbewegung aus der DDR vor 1961 und ihre Folgen Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 5: Kalter Krieg vor dem Mauerbau Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 6: Die Begründung des Mauerbaus in der DDR-Propaganda Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 7: Westliche Reaktionen auf den Mauerbau Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 8: Flucht aus der DDR in den 1970er und 1980er Jahren Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 9: Gab es einen offiziellen Schießbefehl? Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 10: Die Grenzsperranlagen: der Todesstreifen in Berlin Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 11: Ausreise aus der DDR Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 12: Die Ausreisebewegung aus der DDR im Jahr 1989 Interner Link: Arbeitsblatt Nr. 13: Die Opposition in der DDR wächst
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-02-17T00:00:00"
"2022-09-25T00:00:00"
"2023-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/historisch-politische-bildung/513460/arbeitsblaetter-fuer-die-sekundarstufen-i-und-ii/
13 Arbeitsblätter mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden für die Sekundarstufen I und II. Dadurch können die Inhalte der Website auch im Schulunterricht genutzt werden.
[ "Chronik der Mauer", "Mauer", "Berliner Mauer", "Sekundarstufe", "Unterricht" ]
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Das auswärtige Handeln der EU | Europäische Union | bpb.de
Die EU als globale Akteurin: Bei einer Pressekonferenz am 8. Januar 2020 treten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vize-Präsident der Europäischen Kommission Josep Borrell für ein stärkeres Europa in der Welt ein. (© European Union, 2020) Welt aus den Fugen In den vergangenen zehn Jahren hat sich das außen- und sicherheitspolitische Umfeld Europas grundlegend verändert und die EU sah und sieht sich großen Herausforderungen gegenüber. Schon 2014 konstatierte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die Welt sei aus den Fugen geraten. Gemeint waren damit sowohl der Zerfall der staatlichen und regionalen Ordnung in Nordafrika als auch der von Russland geschürte Konflikt um die Ukraine. Seitdem hat sich die Weltlage keineswegs gebessert: Der Krieg in Syrien dauert ebenso an wie die Flucht und die Vertreibung von Menschen aus den Kriegs- und Konfliktregionen Afrikas oder Afghanistans nach Europa. Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie Ende 2019 hat noch nicht abschätzbare kurz- und mittelfristige Folgen für die internationale und europäische Politik. Gleichzeitig verlieren multilaterale Vereinbarungen und internationale Organisationen – wie die Vereinten Nationen VN, im folgenden, weil geläufiger: UN, ihre Unterorganisationen, die Welthandelsorganisation (engl.: World Trade Organization, WTO) oder informelle Formate wie die G7 und G20 – an Akzeptanz und Wirksamkeit. Deutlich wurde das zuletzt etwa in der globalen Gesundheits-, der internationalen Handels- oder der Rüstungskontrollpolitik. Stattdessen erleben wir die Rückkehr großer Mächte, die um die Vormacht kämpfen. Die Rivalität zwischen den USA und China, ihr Ringen um Hegemonie im internationalen System schaffen neue und schwierige Rahmenbedingungen für Europa. Es muss sich zunehmend aus eigener Kraft behaupten und "sein Schicksal ein stückweit selbst in die Hand nehmen", so Bundeskanzlerin Merkel am 29. Mai 2017 in einer Rede im bayerischen Trudering. Vor diesem Hintergrund sprachen EU-Spitzenpolitikerinnen und -politiker bei ihrem Amtsantritt im Herbst 2019 von einer "geopolitischen Kommission" (so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) und einer "Union, die die Sprache der Macht" versteht und spricht (so der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell). Damit unterstrichen sie den Anspruch der EU, die Weltordnung mitzugestalten, um Werte, Frieden und Wohlfahrt für die Bevölkerung zu sichern. Die Europäische Union in der Welt. Quelle: Eurostat, EU-Kommission, OECD, WTO (© picture-alliance, dpa-infografik 14 000; ) Es geht in der nächsten Dekade gegebenenfalls jedoch weniger um die Kraft der EU, Länder bei deren Transformation und Demokratisierung zu unterstützen – wie nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ordnung in Eurasien –, als vielmehr um die eigene Widerstandsfähigkeit und Selbstbehauptung. Allerdings ist die EU kein Staat, der legitimiert ist, alle seine politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mittel einzusetzen, um "Weltmachtfähigkeit" (so der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker) oder "europäische Souveränität" (so der französische Präsident Emmanuel Macron) zu erreichen. Das liegt nicht nur daran, dass die EU keine Armee hat oder befehligen kann, sondern dass es ihr auch an anderen Voraussetzungen mangelt, um schnell Entscheidungen zu treffen, einheitlich aufzutreten ("mit einer Stimme zu sprechen") und beschlossene Maßnahmen wirksam umzusetzen. Somit existiert eine erhebliche Kluft zwischen den Erwartungen an die EU und ihren Fähigkeiten, diesen gerecht zu werden. Erwartungen: normativer Rahmen und Programmatik In den europäischen Verträgen ist eine spezifische außenpolitische Programmatik festgelegt worden, die einen normativen Rahmen vorgibt. Demnach lässt sich die Union "[...] bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten [...]" (Art. 21 (1) EUV). Die Prinzipien, die im Innern der Union gelten, sollten idealerweise auch der Kompass für die Außenbeziehungen sein. Kritische Stimmen werten das Streben der EU aber oftmals als reine Rhetorik, der die EU in der Wirklichkeit nicht gerecht wird, und halten ihren Anspruch, als Vorbild und Modell für andere Länder zu gelten, für anmaßend. Schwellenländer wie Brasilien oder Südafrika stellen die Selbstwahrnehmung der EU als eine Kraft des Guten in der internationalen Politik infrage. Die EU vertritt den Anspruch, "eine Weltordnung zu fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht" (Art. 21 (2 h) EUV). Entsprechend bevorzugt sie regelgebundenes Vorgehen, an dem stets mehrere Akteure oder Organisationen beteiligt sind, um gemeinsame Lösungen für internationale Probleme zu finden. Die Vereinten Nationen, die ähnlich agieren, sind deshalb für die EU ein zentraler Bezugs- und Handlungsrahmen (Art. 21 (1) EUV). Diese Grundsätze bestimmen den Umgang mit Schlüsselthemen europäischer Außenpolitik. Zu diesen zählen vor allem Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Konfliktprävention, Krisenmanagement und Peacebuilding (Friedenssicherung) sowie Nichtverbreitung von ABC-Waffen (atomare, biologische und chemische Waffen), Rüstungskontrolle und Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Die vertragsbasierte Programmatik hat die EU in Schlüsseldokumenten zur Strategie und in Deklarationen zu großen Themen internationaler Politik fortentwickelt. Zu nennen sind die 2003 veröffentlichte Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) und deren Aktualisierung 2016, die globale Strategie "Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa" (EUGS) sowie Strategiedokumente zu ihren regionalen Schwerpunkten wie die zur Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), zu Zentralasien oder zum Sahel. Neben vielen kurzlebigen Erklärungen gibt es historisch bedeutsame wie die "Erklärung von Venedig" von 1980. Darin anerkannten die damals neun EG-Regierungschefs erstmals das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser und forderten die Beteiligung der Palästinensischen Befreiungsorganisation an einer Lösung des Nahostkonflikts – eine Grundsatzposition, an der sich die EU seither orientiert. Die EU hat auch in der Außen- und Sicherheitspolitik über die Jahrzehnte einen politischen Besitzstand (frz.: acquis politique) entwickelt. Er stellt zwar keinen rechtsverbindlichen Korpus an Sekundärrecht dar, bildet jedoch ein außenpolitisches Fundament und Profil, das auch für alle neuen Mitglieder politisch verbindlich ist. Ein solches gemeinsames Verständnis beispielsweise in Bezug auf das transatlantische Verhältnis, den Nahostkonflikt oder Russland ist in einer heterogenen Gemeinschaft von inzwischen 27 Staaten allerdings schwierig zu entwickeln. Der neue EU-Chefdiplomat Josep Borrell beklagt, dass die EU keine gemeinsame strategische Kultur besitze, was sie hindere, auf der internationalen Bühne kollektiv zu agieren. Denn wo die Geschlossenheit fehlt, liegt es nicht immer nur an handfesten wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Interessen. Oft bestimmen nationale oder andere kollektive Identitäten – Lage und Geschichte – die Sicht der Mitgliedsländer auf außenpolitische Entwicklungen und Probleme. Die Interessendefinition und Legitimierung von außenpolitischem Handeln lässt sich demnach nicht immer auf materielle Kalküle reduzieren. Aktuelle Konfliktlinien zwischen Mitgliedstaaten sind häufig festzumachen an den Beziehungen zu Russland, Israel oder den USA. Dies erwies sich, als die USA 2003 Gefolgschaft für ihren Krieg gegen den Irak und den damaligen irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein erwarteten. Während Großbritannien sich dem Vorhaben anschloss, blieb Deutschland fern. Polen wiederum war aufgeschlossen. Es pflegt Sonderbeziehungen zu den USA, unter anderem, weil es dort seine Sicherheitsinteressen – vor allem gegenüber Russland – besser oder sogar allein aufgehoben sieht. Teils sind auch besondere nationale, innenpolitische Interessen ausschlaggebend, wenn sich ein Mitgliedstaat gegen die Mehrheit in der EU positioniert. Aus diesen Beweggründen erkennen fünf Mitgliedstaaten der EU das Kosovo nicht an. Spanien beispielsweise verweigert die Anerkennung wegen der innerspanischen Sezessionsbewegungen – das Baskenland und Katalonien streben seit Jahrzehnten nach Unabhängigkeit –, Zypern verweigert sie wegen des eigenen Anspruchs auf eine Vereinigung mit dem Inselnorden, der sich 1974 von der Republik Zypern abspaltete und sich seit 1983 Türkische Republik Nordzypern nennt. Deutschland wird vorgeworfen, eine von den eigenen wirtschaftlichen Interessen dominierte Politik zu verfolgen (Deutschland als geoökonomische Macht) und sich nicht loyal zu Positionen der EU – etwa in Menschenrechtsfragen – zu verhalten. So stößt es auf Kritik, dass die Bundesregierung den chinesischen Staatskonzern Huawei nicht von vornherein vom Ausbau der 5G-Infrastruktur ausschließt und die Beteiligung deutscher Unternehmen am Bau der Pipeline Nord Stream 2 billigt, obwohl dieses Projekt Moskau rein geopolitisch betrachtet in die Hände spielt, weil es die Ukraine damit schwächen kann. Kompetenzen für die EU Die europäische Außenpolitik ist gekennzeichnet von einem komplizierten Nebeneinander von supranationalem und intergouvernementalem Handeln, von politikfeldspezifischen Kompetenzen mit entsprechender Beteiligung von Organen und Institutionen und vielfältigen Handlungsformen. Daraus ergibt sich ein hybrider Rechtsrahmen. Im Vertrag von Lissabon finden sich an mehreren Stellen Bestimmungen zu den Außenbeziehungen der EU: im EUV der Titel V mit den Allgemeinen Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union und besonderen Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sowie im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) der Fünfte Teil, der das auswärtige Handeln von der Gemeinsamen Handelspolitik bis zur Solidaritätsklausel regelt. Ferner ließen sich Artikel 8 EUV zu den Nachbarn der Union und Artikel 49 EUV zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten im Sinn der Erweiterungspolitik hinzuzählen. Die Liste ist erweiterbar, wenn die externe Dimension anderer Handlungsfelder mitberücksichtigt wird, wie bei der Energiepolitik oder der Migrations- und Asylpolitik im "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Allein den Gegenstandsbereich europäischer Außenbeziehungen abzustecken, ist also ein schwieriges Unterfangen. Das hängt auch mit seiner Entstehungsgeschichte zusammen. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 715 200) Das außenpolitische Profil der Europäischen Gemeinschaften entwickelte sich erst allmählich und ging von unterschiedlichen Interessen und Konstellationen aus. Aus dem Einigungsmotiv der Friedenssicherung und Selbstbehauptung Westeuropas heraus wäre zu erwarten gewesen, dass zur europäischen Gemeinschaftsbildung auch eine eigene sicherheitspolitische Komponente gehörte. Jedoch scheiterte die geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft 1954 an der Absage Frankreichs, sodass die NATO und die ihr gegenüber vergleichsweise unbedeutende Westeuropäische Union (WEU) die zentralen sicherheitspolitischen Organisationen für Westeuropa und die EG-Staaten wurden. Erst im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) seit den 1970er-Jahren bzw. der GASP (im Maastrichter Vertrag 1993) und dann ab 1999 bzw. 2008 in der Europäischen bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelte(n) die EG/EU allmählich eine ausdrücklich sicherheitspolitische und militärische Dimension. Heute verfolgt die EU die "[…] schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik", die nach einem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rats zu einer "gemeinsamen Verteidigung" (Art. 42 (2) EUV) führen soll. Die GASP nimmt weiterhin eine Sonderstellung im Handeln der EU ein. Das verdeutlichen die besonderen Bestimmungen in den Artikeln 23 bis 46 EUV, die die Zuständigkeiten, Verfahren und Instrumente regeln. Die GASP ist umfassend angelegt und schließt die GSVP ein. Dazu gehören: Abrüstungsmaßnahmen, Konfliktverhütung und friedenserhaltende Aufgaben; Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen; Bekämpfung des internationalen Terrorismus; Beistandsverpflichtung; gemeinsame Verteidigung, sofern der Europäische Rat dies einstimmig beschließt. Die EU ist zwar kein kollektives Verteidigungsbündnis, aber ihre Mitglieder sind verpflichtet, sich bei bewaffneten Angriffen beizustehen und alles in ihrer Macht Stehende zur Hilfe und Unterstützung zu tun (Art. 42 (7) EUV). Eine andere Klausel (Art. 222 AEUV) verlangt Solidarität bei terroristischer Bedrohung und Naturkatastrophen, sofern ein Mitgliedstaat darum ersucht. Anlässlich der koordinierten Terroranschläge von Paris im Stade de France und in der Konzerthalle Bataclan im Herbst 2015 ersuchte Frankreich im November 2015 im EU-Rat der Verteidigungsminister nach Artikel 42 Absatz 7 EUV um Beistand im Kampf gegen den "Islamischen Staat", der ihm umgehend und einstimmig zugesagt wurde. Frankreich wünschte sich einen demonstrativen Akt seitens der EU als internationaler Akteurin, wollte aber danach freie Hand behalten. Es wäre zwar naheliegender gewesen, die auf die innere Sicherheit bezogene Solidaritätsklausel nach Artikel 222 AEUV anzurufen, das hätte Frankreich jedoch bei seinem weiteren Vorgehen den Gemeinschaftsregeln unterworfen. Unbestritten ist, dass die EU durch ihre Bevölkerungsgröße, ihre Wirtschafts- und Finanzkraft sowie ihre Handelsmacht ein gewichtiger Faktor in der internationalen Politik ist. 2019 entfielen auf die EU 30 Prozent des Welthandels (Ex- und Importe).Umstritten ist jedoch, in welchem Maß sie als globale Akteurin gelten kann oder dies überhaupt anstreben sollte. Skeptische Stimmen führen zum einen die strukturellen Beschränkungen der EU als nichtstaatliche Akteurin an und erheben zum anderen normative Einwände gegen ihre Rolle als Supermacht. In der Öffentlichkeit wird demgegenüber, häufig reflexhaft, gefordert, "Europa" müsse handeln – so bei den Flüchtlingsdramen im Mittelmeer, dem Bürgerkrieg in Libyen oder dem Krieg in der Ostukraine. Die Forderungen reichen von humanitärer Hilfe bis zu militärischer Intervention. Alle EU-Staaten eint das Interesse, Einfluss auf die internationale Politik zu nehmen, sie mitzugestalten und dafür die EU als Handlungsrahmen zu nutzen. Das gilt nicht nur für die kleineren Länder, die so ihren nationalen Einfluss im Verbund vergrößern wollen, sondern auch für die nach Bevölkerungsgröße, Wirtschaftskraft, militärischer Stärke und außenpolitischer Positionierung größeren Staaten der EU. So relativiert sich selbst die Position des Sicherheitsratsmitglieds und der Atommacht Frankreich (und früher Großbritanniens) im globalen Maßstab und im Vergleich zu anderen Regionen und Mächten. Hinzu kommt, dass das Konzept des nationalen Interesses in den sozial und ethnisch-kulturell heterogener werdenden EU-Staaten auch empirisch schwieriger zu fassen sein wird. Fähigkeiten: Akteure, Instrumente und Ressourcen Wie stark der Auftritt der EU auf internationaler Bühne ist, wie erfolgreich sie ihre operativen Ziele – Werte, grundlegende Interessen, ihre Sicherheit, Wahrung ihrer Unabhängigkeit und ihrer Unversehrtheit (Art. 21 (2a) EUV) – umsetzen kann, hängt nicht zuletzt von ihren internen Voraussetzungen ab. Blickt man auf den Rechtsrahmen für die GASP, die Akteure, Instrumente und Ressourcen, so wird verständlich, weshalb die Lücke zwischen Erwartungen und Fähigkeiten so schwer zu schließen ist. Die Binnenorganisation der GASP und der Außenbeziehungen im weiteren Sinn ist zwar nicht abgeschlossen, hat sich aber doch konsolidiert. Der Europäische Rat (ER) ist als das zentrale Beratungs- und Beschlussorgan in Angelegenheiten der GASP fest etabliert. Dort bestimmen die Staats- und Regierungschefs die strategischen Interessen der Union und legen die Ziele und Leitlinien der GASP fest (Art. 22 EUV). So hat der ER beispielsweise ab 2014 die Richtung in der Sanktionspolitik gegenüber Russland vorgegeben und die Kommission mit deren Ausarbeitung beauftragt. Der Präsident des ER [zur sprachlichen Formulierung in diesem Abschnitt siehe Interner Link: Kasten zu geschlechtergerechter Sprache im Impressum] kann eine außerordentliche Sitzung einberufen, wenn die internationale Lage das erfordert, und hat wie auch der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Kommission (HV/VP) ein Initiativrecht. So handelte etwa der erste ER-Präsident, Herman Van Rompuy, im März 2014, als die Staats- und Regierungschefs die Lage in der Ukraine erörterten und sich auf eine Aktionslinie gegenüber Russland verständigten. Ebenso rief der nachfolgende Präsident Donald Tusk angesichts der Migrationskrise 2015 bis 2017 die Staats- und Regierungschefs mehrfach zu Sondersitzungen zusammen. Tatsächlich handelt der Präsident des ER – ob Van Rompuy, Tusk oder der jetzige, Charles Michel – auch auf Drängen von Regierungschefs, die die Agenda mitbestimmen und die Leitlinie vorzeichnen wollen. Sie setzen zugleich weitere Akzente, indem sie Handlungsoptionen und Maßnahmen ankündigen und den Zeitrahmen festlegen. Der Präsident des ER vertritt die EU gegenüber Drittstaaten auf seiner Ebene, zumeist zusammen mit dem Kommissionspräsidenten und/oder dem HV/VP. Beim 21. Gipfeltreffen EU-Ukraine im Juli 2019 traf der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erstmalig mit den damals amtierenden ER-Präsidenten Tusk und Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zusammen. Außerdem nahmen Federica Mogherini, bis November 2019 Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, und Johannes Hahn, 2014 bis 2019 EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen, heute Kommissar für Haushalt und Verwaltung, daran teil. Mittlerweile ist die Rolle des HV im Ensemble der außenpolitischen Top-Positionen klarer profiliert. Über die Stellenbeschreibung dieses Amtes war lange politisch gestritten worden, die Bezeichnung und Machtfülle eines Außenministers bzw. einer Außenministerin wurde dem Amt mit Bedacht vorenthalten. Der HV führt den Vorsitz im Rat "Auswärtige Angelegenheiten" (RAA), der sich aus den Außenministern und Außenministerinnen der 27 EU-Länder zusammensetzt und für das laufende Geschäft verantwortlich ist. Je nach Agenda können außerdem die für Verteidigung, Handel oder Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Mitglieder den RAA bilden. Dem HV ist der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) unterstellt, was zumindest operativ eine Führungsposition bedeutet. Dass der HV durch die Vizepräsidentschaft der EU-Kommission einen Doppelhut aufhat, ist ein politischer Kompromiss. Er führt die beiden Handlungs- und Legitimitätsstränge der Mitgliedstaaten über den Rat und die supranationale Kommission mit ihren operativen Zuständigkeiten in einem Amt und einer Person zusammen. Entscheidungsmacht und Ressourcen sollen auf diese Weise schnell und abgestimmt zusammenkommen, um Effizienz und Kohärenz des Handelns zu verbessern. Für die Durchführung der GASP sind der HV und die Mitgliedstaaten zuständig. Die Zusammensetzung des EAD mit Personal aus den Außenministerien aller Mitgliedstaaten, aus der Kommission und dem Rat spiegelt diese Hybridität wider. Der EAD hat eine eigene Rechtsbasis, ist also weder Teil der Kommission noch des Rats. 2018 arbeiteten 4169 Personen im EAD, davon knapp die Hälfte in Brüssel, die andere in den 141 Delegationen (2019) der EU im Ausland. Chefdiplomat Josep Borrell leitet in der Kommission als Vizepräsident die Gruppe für "Ein stärkeres Europa in der Welt", in der sich die Kommissare bzw. Kommissarinnen/Generaldirektionen für Nachbarschaft und Erweiterung, Handel, Internationale Partnerschaften und Krisenmanagement treffen. Durch frühzeitige Abstimmung über Ziele und Mittel sollen die Schlagkraft der EU erhöht und Reibungen innerhalb oder zwischen den Institutionen gemildert werden. Außerdem soll der HV die Instrumente und Expertise aus den internen Politiken mit starker internationaler Dimension für die GASP nutzbar machen, so auf den Feldern Klima und Energie, Verkehr und Weltraum, Migration und Inneres. Der EAD ist in fünf geografische Abteilungen – Asien-Pazifik, Afrika, Europa und Zentralasien, Naher und Mittlerer Osten sowie Süd-, Mittel- und Nordamerika und zwei horizontale Abteilungen zu globalen und multilateralen Fragen wie Menschenrechte, Demokratiehilfe, Migration, Krisenreaktion und Entwicklung organisiert. Im EAD sind auch die sicherheitspolitischen und GSVP-Strukturen, darunter verschiedene Gremien sowie Krisenreaktionseinheiten, untergebracht. Organisationsfragen sind wichtig. Denn angesichts der politikfeldübergreifenden Zielsetzungen (siehe Art. 21 EUV) müssen die Handlungsinstrumente, die der EU insgesamt zur Verfügung stehen, auch wirkungsvoll miteinander verknüpft werden. Zudem bilden sich in der Praxis oft Ländergruppen heraus, die die Führung bei einem bestimmten Dossier oder in einer spezifischen Situation übernehmen. Wichtig ist in jedem Fall die Rückbindung an Richtungsentscheidungen des ER oder Beschlüsse und Schlussfolgerungen des Rats der EU. Im Konflikt mit dem Iran über ein Verbot der Entwicklung von Nuklearwaffen hatte die EU über die beiden ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder Großbritannien und Frankreich sowie Deutschland (EU-3) eigene Gesprächskanäle mit Teheran gesucht. Für die Gespräche konnte sie später auch die USA gewinnen. Das Verhandlungsformat der Permanent Five/P5 im Sicherheitsrat (USA, China, Russland, Frankreich und Großbritannien) plus Deutschland mit Iran wurde 2004 um das Amt HV (Catherine Ashton, dann Mogherini) ergänzt. Die HV übernahm oft auch die Rolle der Sprecherin der EU-3 in Kontakten mit Iran oder gar für die EU-3 plus 3. So traten Federica Mogherini und der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif im April 2015 gemeinsam vor die Presse, um das Ergebnis der Verhandlungen über Irans Nuklearprogramm zu verkünden. Ein anderes krisengeborenes Format entwickelte sich im Konflikt mit Russland um die Kämpfe in der Ostukraine. An den Gesprächen mit den Präsidenten Wladimir Putin und Petro Poroschenko, die zu den beiden Vereinbarungen von Minsk im September 2014 und Februar 2015 führten, nahmen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige französische Staatspräsident François Hollande teil – quasi, aber nicht offiziell, für die EU. Das Format war am Rande der D-Day-Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie kreiert worden und galt fortan als effektiver als beispielsweise das Weimarer Dreieck. In diesem Format hatten sich im Februar 2014 die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs zusammengefunden, um im Zenit der ukrainischen Maidan-Proteste die nächtlichen Verhandlungen zwischen dem damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und einer Vertretung der Opposition zu unterstützen. Zwar gingen die Ereignisse schnell über die dort getroffene Vereinbarung hinweg, aber die drei EU-Außenminister spielten kurzzeitig eine diplomatische Schlüsselrolle. Ein Vorgehen wie im Normandie-Format, das sich zuvorderst am Ergebnis orientiert – nach dem Motto everything that works –, bedarf umso mehr der Rückkoppelung an den Europäischen Rat und den Rat für Auswärtige Angelegenheiten, um es im EU-Kreis breiter zu legitimieren. Das Europäische Parlament (EP) spielt wie viele nationale Parlamente in der Außenpolitik nur eine untergeordnete Rolle. Es führt Aussprachen, wird von Rat und Kommission angehört und kann mitentscheiden, wenn es um den Einsatz von Mitteln aus dem EU-Haushalt geht. Das EP muss den EU-Handelsabkommen mit Drittstaaten zustimmen. Es weitet seinen Einfluss aus, indem es über seine Haushalts- und Bestellungsrechte indirekt Einfluss auf die GASP und die Außenbeziehungen insgesamt nimmt. Dem Gerichtshof der Europäischen Union ist die GASP weiterhin nicht unterworfen. Rat der EU und ER fassen ihre Beschlüsse zur GASP einstimmig, wobei der Konsenszwang durch die Möglichkeit der konstruktiven Enthaltung (Art. 31 (1) EUV) gelockert wird. Beschlüsse können in Form von Aktionen, Standpunkten, Strategien oder Durchführungsbeschlüssen gefasst werden. Eine Brückenklausel (Art. 31 (3) EUV) schafft die Möglichkeit, mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, wenn dies zuvor einstimmig vom Rat beschlossen worden ist. Beschlüsse mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen sind davon ausgenommen. Außerdem kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, wenn er eine/n Sonderbeauftragte/n ernennt, wenn er auf der Grundlage eines Beschlusses des ER über strategische Interessen und Ziele der Union eine Aktion oder einen Standpunkt beschließt oder wenn der HV auf Ersuchen des ER einen Vorschlag für eine Aktion oder einen Standpunkt unterbreitet. Diese Möglichkeiten werden allerdings so gut wie nicht genutzt. So sprach sich Josep Borrell zu Beginn seiner Amtszeit ungewöhnlich offen gegen die Einstimmigkeit und für die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit in der GASP aus. Die Mitgliedstaaten beteiligen sich an der Umsetzung der GSVP-Beschlüsse gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem politischen Willen, was in der Praxis eine starke Differenzierung zur Folge hat. So bindet Deutschland seine Teilnahme an allen militärischen Aktionen an eine Zustimmung des Bundestages. Der Rat kann eine Gruppe direkt beauftragen oder einige Länder können im Zuge der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) bei sogenannten anspruchsvollen Kriterien in Bezug auf militärische Fähigkeiten eine Avantgardegruppe bilden, die untereinander höhere Verpflichtungen eingeht. Inzwischen beteiligen sich nahezu alle Mitgliedstaaten an der SSZ, in deren Rahmen 47 Projekte verabredet sind. Diese wurden allerdings bislang selten tatsächlich in Angriff genommen und von kritischen Stimmen zudem als wenig substanziell angesehen. Um die militärischen Fähigkeiten zu stärken, wurde ein Europäischer Verteidigungsfonds (EVF) geschaffen, dessen Mittel dazu dienen sollen, Forschung und Entwicklung zu fördern und gemeinsam militärische Verteidigungsgüter und -technologien zu beschaffen. Außerdem wurde eine jährliche Übersicht über die nationalen Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten (engl.: Coordinated Annual Review on Defence, CARD) eingeführt. Größere Transparenz bei den Ausgaben und Projekten soll zu verbesserten europäischen Industriestrukturen im Rüstungssektor führen, um schneller, kostengünstiger und abgestimmter zu produzieren. Deshalb ist in der Kommission von der Leyen der Binnenmarktkommissar zugleich für den EVF zuständig. Von gemeinsamen Regeln für die nationalen Rüstungsexportpolitiken ist die EU jedoch noch weit entfernt. Die EU verfügt im Rahmen der GASP über viele traditionelle diplomatische Instrumente, etwa die Besuchsdiplomatie und die Mediation zwischen Streitparteien. Zudem hat sie seit 1999 16 Sonderbeauftragte ernannt, die das Langzeitengagement der EU für ein Land oder eine Region wie den Südkaukasus (seit 2003), den Sahel (seit 2013) oder Zentralasien (seit 2005) unterstreichen. Der geografische Schwerpunkt liegt eindeutig bei der südlichen und östlichen Nachbarschaft, im Balkan und in Afrika. Der Rat fasst Beschlüsse zu Aktionen (zivil, zivil-militärisch und militärisch) und Standpunkten, in denen die EU ihre Position zu internationalen Entwicklungen darlegt. Als Standpunkte verkündet die EU auch Sanktionen. Sie betreffen beispielsweise Einreiseverbote, das Einfrieren von Auslandsvermögen, ein Waffenembargo oder Handelsbeschränkungen. Sanktionen sind die schärfsten nicht militärischen Instrumente, deren Erfolg jedoch umstritten ist. Umfangreiche Sanktionen hat die EU gegenüber Iran, Russland und Syrien erlassen. Sie betreffen den Energie- und Finanzsektor. Im Januar 2020 liefen EU-Sanktionen gegen 33 Staaten, deren Reichweite global ist, wobei der Schwerpunkt auf der Subsahara, dem Nahen und Mittleren Osten, auf Osteuropa und dem Westbalkan liegt. Für die EU ist es während der US-Präsidentschaft Donald Trumps seit 2017 immer schwieriger geworden, ihre Sanktionspolitik mit den USA zu koordinieren. Solche restriktiven Maßnahmen unterliegen der Gemeinschaftsmethode. Gleiches gilt für Handelsvereinbarungen und die unterschiedlichen Abkommen mit Drittstaaten über Kooperation und Assoziierung. Mit dem neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden könnte eine Zusammenarbeit wieder etwas leichter werden. Der Rat, der HV oder der Europäische Rat geben Erklärungen zu internationalen Entwicklungen ab. Diplomatische Demarchen (Protestnoten), etwa bei Menschenrechtsverletzungen, werden oft von lokalen EU-Vertretungen gegenüber Regierungen vorgebracht. Der HV, die Außenminister bzw. Außenministerinnen und hohe Beamte bzw. Beamtinnen führen mit Drittstaaten und anderen internationalen Organisationen oder Gruppierungen einen sogenannten politischen Dialog. Diese Dialoge werden oft in Abkommen geregelt und sichern einen regelmäßigen und intensiven Austausch über internationale Fragen. Die Vertreter und Vertreterinnen der EU-Staaten stimmen nach Möglichkeit in internationalen Organisationen wie der Generalversammlung der UN oder der OSZE geschlossen ab und bringen dort und bei internationalen Konferenzen gemeinsame Vorschläge ein. Die EU verfügte unter dem Titel "Europa in der Welt" über ein Budget in Höhe von 58,7 Milliarden Euro für die Jahre 2014 bis 2020. Im neuen siebenjährigen Haushalt (2021–2027) sollen die Mittel dafür erheblich (um ein Drittel) aufgestockt werden. Bei der Krise um die Ukraine kamen alle aufgeführten Instrumente zum Einsatz. Unerwartet brachte das Assoziierungsabkommen im November 2013 den Stein ins Rollen. Die Weigerung von Präsident Janukowitsch, dieses Abkommen zu unterzeichnen, löste die Protestwelle auf dem Maidan in Kiew aus und setzte die Krise in Gang. Als Russland die ukrainische Halbinsel Krim im März 2014 annektierte und kaum verdeckt in der Ostukraine intervenierte, verhängte die EU nach Artikel 215 AEUV Sanktionen gegen Russland. Sie umfassten das Einfrieren von Vermögenswerten und Einreiseverbote für Einzelpersonen, Wirtschaftssanktionen und ein Waffenembargo. Die EU verabschiedete darüber hinaus eine Fülle von Erklärungen, in denen sie ihre politischen Positionen darlegt und Forderungen an Russland und beispielsweise die Separatisten in der Ostukraine richtet. Die Mittel für die Ukraine, die im EU-Budget unter dem Titel Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) vorgesehen gewesen waren, wurden im März 2014 durch sofortige Hilfsprogramme um 11 Milliarden Euro aufgestockt. Außerdem setzte die EU im Juli 2014 eine kleine zivile Mission (engl.: European Union Advisory Mission, EUAM) ein, in deren Rahmen sie die Reform des zivilen Sicherheitssektors mit dem Ziel einer rechtsstaatlichen Entwicklung in der Ukraine beratend begleiten will. Alle 28 EU-Mitgliedstaaten stimmten am 27. März 2014 in der Generalversammlung der UN für die unter anderem von ihnen und der EU-Delegation eingebrachte Resolution zur "Territorialen Integrität der Ukraine". Fragen wie der vorübergehende Ausschluss Russlands aus den G8, die Nichtteilnahme der EU-Staaten am G8-Treffen im russischen Sotschi wurden nicht nur im ER, sondern auch bei bilateralen Gipfeltreffen behandelt, so mit den USA im März 2014. Die regelmäßigen Treffen mit Drittstaaten im Rahmen von Gipfeln oder politischen Dialogen der Außenminister und Außenministerinnen haben sich in der Krisendiplomatie als Abstimmungsforen bewährt und demonstrieren Geschlossenheit und Entschlossenheit der EU. Die Union unterstützt die Aktivitäten der OSZE und stimmt sich mit deren Kontaktgruppe ab. Die Beschlüsse der NATO verlaufen unabhängig davon, jedoch ist seit dem NATO-Gipfel in Wales im September 2014 eine stärkere wechselseitige Ergänzung zu erkennen. Besonders sichtbar ist die Fähigkeit der EU, wichtige Akteurinnen und Akteure für ein Projekt oder eine Problemlösung an einem Tisch zu versammeln. Dafür setzt sie ihr politisches und soziales Kapital ein. Ein Beispiel für die convening power der EU war die Corona-Geberveranstaltung am 4. Mai 2020, die von der Europäischen Union, Deutschland, Frankreich, Italien (das den G20-Vorsitz übernehmen wird), Japan, Kanada, dem Königreich Saudi-Arabien (das derzeit den G20-Vorsitz innehat), Norwegen, Spanien und dem Vereinigten Königreich gemeinsam einberufen worden war und 7,4 Milliarden Euro für die Entwicklung eines für alle zugänglichen Impfstoffes gegen Covid-19 mobilisierte. Drei außenpolitische Handlungsfelder Handels-, Kooperations- und Assoziierungspolitik Vielfach gilt die weltweit vernetzte Handelspolitik als harter Kern des auswärtigen Handelns der EU. Auf diesem Feld ist die Union eine globale Akteurin und spricht tatsächlich "mit einer Stimme", denn die Kommission handelt die Abkommen mit Drittstatten für die Union aus. Unterdessen ist daraus ein weltumspannendes Netz von Abkommen geworden. Allerdings ist die Handelspolitik in einigen EU-Ländern teils massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt, so im Fall des gescheiterten Handels- und Investitionsschutzabkommens mit den USA TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) oder des schließlich in Kraft getretenen Abkommens CETA (engl.: Comprehensive Economic and Trade Agreement) mit Kanada. Die wichtigsten Handelspartner der Europäischen Union, Quelle: Eurostat (© picture-alliance, dpa-infografik 14 071) Die EU regelt ihre Beziehungen zu Drittstaaten vorzugsweise über Verträge, mit denen zwischen den Parteien ein bi- oder auch multilaterales Kooperations- oder Assoziierungsverhältnis (Art. 217 AEUV) vereinbart wird. Praktisch existiert eine Vielfalt von Assoziierungen, die sich nach Ambitionsniveau, Umfang, Intensität und Zielen unterscheiden. Hauptelemente der Vereinbarungen sind: (1) die Herstellung von Freizügigkeitsrechten (vor allem für Güter), (2) die Übernahme oder gegenseitige Anerkennung von Produkt- und Herstellungsstandards, (3) die Einbindung von Assoziierten in Programme und Agenturen der EU sowie in gemeinschaftliche Politiken und andere Formen des Zusammenwirkens (wie den politischen Dialog zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik oder die finanzielle und technische Unterstützung). Assoziierungen besitzen eine politische Substanz, sie sind dauerhaft und können von den Parteien ausgebaut werden. Ausgeschlossen ist, dass assoziierte Drittstaaten Sitz und Stimme in den EU-Organen erhalten. Möglich ist hingegen eine beratende Beteiligung, um EU-Entscheidungen bzw. Rechtsakte vorzubereiten und umzusetzen. Abkommen mit europäischen Staaten und südlichen Nachbarländern: Die Assoziierungen mit Ländern, die als europäische Staaten eine Mitgliedschaft beantragen könnten (Art. 49 EUV), stellen unter den verschiedenen Varianten – etikettiert als Freihandels-, Entwicklungs- oder Beitrittsassoziierung bis hin zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – die EU stets vor besondere Fragen. Sie betreffen das Verhältnis zwischen Assoziierung und Aufnahme bzw. Beitritt zur EU: Ist die Assoziierung als Durchgangsstadium oder als Endstation gedacht, als Prozess oder als Status? Für die Beziehungen zu europäischen Drittstaaten lassen sich folgende Typen unterscheiden: die bilateralen Freihandelsassoziierungen mit den EFTA-Staaten Schweiz, Andorra, Norwegen, Liechtenstein und Island. Zusammen mit den drei letztgenannten EFTA-Ländern bildet die EU den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), der den gesamten Binnenmarkt-Acquis umfasst. Der EWR ist ein Beispiel für einen hohen Integrationsgrad unterhalb der Mitgliedschaft und attraktiv für Länder mit einem überwiegend wirtschaftlichen Interesse an intensiven Beziehungen zur EU. Die Türkei nimmt eine Sonderstellung ein. Zusätzlich zu einem Assoziierungsabkommen von 1963, in dem ein künftiger Beitritt angesprochen wird, unterhält sie eine Zollunion mit der EU, hat also denselben Außenzoll wie die EU-Staaten. Die Beitrittsverhandlungen liegen aktuell auf Eis, weil sich die Türkei immer weiter von demokratischen Werten und Rechtsstaatlichkeit – zwei der Voraussetzungen für einen EU-Beitritt – entfernt. Die EU kritisiert die Entwicklung der Türkei in Richtung einer Präsidialdiktatur sowie die Militarisierung der türkischen Außenpolitik. Mit den ostmitteleuropäischen Ländern, die 2004 und 2007 der EU beigetreten sind, hatte die EU einen besonderen Typus von Abkommen abgeschlossen, die Europa-Abkommen (EA). Mit den Ländern des westlichen Balkans einigte sich die Union auf eine Variante des EA, die sogenannten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen. In beiden Fällen sind die Abkommen als Vorstufen zur späteren Mitgliedschaft angelegt (so ist Kroatien 2013 beigetreten) und werden von einer politisch und finanziell unterfütterten Strategie begleitet, die dazu dient, an die Anforderungen des Beitritts heranzuführen. Der Zeitraum kann deutlich mehr als zehn Jahre umfassen. Nun tritt als neuer Typus das jeweils mit der Ukraine, Georgien und Moldau geschlossene Assoziierungsabkommen (AA) inklusive der Bestimmungen über eine umfassende und vertiefte Freihandelszone (engl.: Deep and Comprehensive Free Trade Area, DCFTA) hinzu. Wegen Protesten im eigenen Land hatten die Niederlande dem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine nur zugestimmt, nachdem die EU in einer politischen Erklärung festgehalten hatte, dass die politische Assoziierung und wirtschaftliche Integration keine Vorstufe für eine spätere Mitgliedschaft seien. Mit Armenien hat die EU ein abgespecktes AA vereinbart. Mit Aserbaidschan sind sektorale Partnerschaftsprioritäten vereinbart. Nach den Massenprotesten der Bevölkerung in Belarus gegen das Lukaschenko-Regime verschärfte die EU das bestehende Sanktionsregime gegen die politische Führung und entschied im Oktober 2020, die Beziehungen zu gesellschaftlichen Akteuren zu intensivieren, zu staatlichen runterzufahren. Mit diesen sechs Ländern der sogenannten Östlichen Partnerschaft wurde eine multilaterale Plattform für den politischen Dialog auf verschiedenen Ebenen und die praktische Kooperation in vielen Feldern der Infrastruktur und anderen Bereichen geschaffen. Mit Russland finden absehbar keine Gespräche über ein neues Abkommen statt. Die Russlandpolitik wird von den sogenannten fünf Mogherini-Prinzipien (benannt nach Federica Mogherini) bestimmt: die vollständige Umsetzung des Abkommens von Minsk als Grundlage für die künftigen EU-Russland-Beziehungen, die Stärkung der Beziehungen zu den östlichen Partnern und anderen Nachbarstaaten, insbesondere in Zentralasien, die Stärkung der Widerstandkraft der EU im Hinblick auf Energieversorgungssicherheit, hybride Bedrohungen und strategische Kommunikation, die selektive Zusammenarbeit mit Russland sowohl in außenpolitischen Angelegenheiten als auch in Bereichen, in denen es klare Interessen der EU gibt, die Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft und zwischenmenschlicher Kontakte. Für 16 Länder der südlichen Nachbarschaft und der Östlichen Partnerschaft hat die EU 2004 einen einheitlichen Politikrahmen, die ENP, geschaffen. Jedoch sind die Verhältnisse und Perspektiven zu unterschiedlich, als dass sich eine einheitliche Strategie verfolgen ließe. Bürgerkriege, Gewalt, Autoritarismus, Migrationsdruck und militärische Interventionen von außen kennzeichnen die Szene, sodass die EU nur mit wenigen Ländern (Tunesien, Marokko, Israel) breiter angelegte Beziehungen vereinbaren oder ausbauen kann. Die von der EU initiierten multilateralen Formate, so der Barcelona-Prozess (1995 gestartet) oder die nachfolgende Union für das Mittelmeer (2008 gegründet), waren zu keiner Zeit politisch oder wirtschaftlich erfolgreich. Im Licht der eingesetzten Instrumente und Ressourcen bilden die südliche und östliche Nachbarschaft einschließlich des Westbalkans den Schwerpunkt der EU-Außenpolitik. Abkommen zur Entwicklungszusammenarbeit: Historische und aktuelle Beziehungen zu ehemals kolonisierten Staaten und überseeischen Gebieten der EU-Mitgliedstaaten (dies betrifft vor allem Frankreich, Italien, Belgien und die Niederlande) hatten schon in der Gründerzeit die Kooperations- und Assoziierungspolitik der EWG/EG bestimmt. Diese wurde mit der gemeinsamen Handelspolitik eng verzahnt und schließt die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks ein. Seit einigen Jahren hat die EU die Entwicklungszusammenarbeit auf Länder Lateinamerikas und Asiens ausgeweitet. Die EU ist die größte Geberin in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit einer kumulierten Summe von etwa 14 Milliarden Euro jährlich für 2014 bis 2020. Pro Kopf gehen die meisten Gelder in das Westjordanland und nach Gaza, ins Kosovo, nach Montenegro, Nordmazedonien und Georgien. Die EU will auch ihre neue Afrikastrategie mit EZ-Mitteln untermauern. Insoweit verschränken die EU und ihre Mitgliedstaaten originär entwicklungspolitische Ziele mit ihren außen- und geopolitischen Interessen. Zielkonflikte können entstehen, wenn die EU zugleich die Bekämpfung der Armut (Art. 21 (2d) EUV) und die Förderung von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in den Ländern des globalen Südens sowie die Zurückdrängung irregulärer Migration oder die Bekämpfung des internationalen Terrorismus verfolgt. Zwar gibt es spezifische entwicklungspolitische Konzepte, Instrumente und Ziele, aber sie sind eingebettet in den normativen Rahmen des auswärtigen Handelns (siehe oben), also etwa die Verteidigung der Menschenrechte und die Förderung der Demokratie sowie die Orientierung an den Nachhaltigkeitszielen der UN. Die EU-Staaten sollen ihre Hilfsprogramme und generell ihre Politik auf dem Gebiet der EZ koordinieren, auch mit Blick auf internationale Organisationen. Aber die Zuständigkeiten liegen in erster Linie bei den Mitgliedstaaten und ergänzend bei der EU (Art. 214 (4) AEUV, 208-211 AEUV). Innerhalb der EU gibt es große Unterschiede, was den Stellenwert, die Ressourcenausstattung und die Erfahrungen in der Entwicklungszusammenarbeit angeht. Insgesamt wandelt sich das Verhältnis zwischen Nord und Süd in dem Maße, wie die Länder des globalen Südens in die Weltwirtschaft integriert werden, wirtschaftlich aufholen und für den Norden wichtige Partner bei der Bekämpfung des Klimawandels und anderer transnationaler Risiken, der Steuerung von Migration und der Sicherheit werden. Abkommen – global: Über Europa hinaus verfolgt die EU global und auch im Rahmen der WTO eine Liberalisierungsagenda, um alle Länder in die Weltwirtschaft zu integrieren. Dabei soll der freie Handel zugleich auch gerecht (Art. 3 (5) EUV) und an Prinzipien der Nachhaltigkeit orientiert sein, was in der Praxis schwer zu erreichen ist. Von globalisierungskritischen Stimmen und Organisationen wie Attac werden Schieflagen angeprangert oder von wissenschaftlicher Seite als neoliberale Dogmatik kritisiert. Die Coronavirus-Pandemie hat das inzwischen zunehmende Über- und Umdenken in Bezug auf Globalisierungsformen und die weltumspannenden Liefer- und Wertschöpfungsketten noch einmal verstärkt. In der Handelspolitik ist die EU ist eine bedeutsame und aktive Größe. Mit ihrer Marktmacht kann sie weltweit Standards für Waren und Dienstleistungen setzen – beispielsweise bei Arbeits-, Gesundheits-, Klima- oder Datenschutz. Die Juncker-Kommission (2014–2019) schloss Handelsabkommen mit Kanada, Japan, Mexiko, Singapur, zehn südafrikanischen Ländern und Vietnam und brachte weitere auf den Weg. 2021 sollen Handelsabkommen mit Indonesien, Australien und Neuseeland unterschriftsreif sein. Die EU schließt auch Abkommen mit Staatengruppen, wie etwa mit dem Gemeinsamen Markt Südamerikas, dem Mercosur (span.: Mercado Común del Sur; Assoziierungsabkommen 1995, Einigung über ein Freihandelsabkommen 2019), oder im Rahmen der Entwicklungsassoziierung das Cotonou-Abkommen, das das Lomé IV-Abkommen mit 79 Staaten Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raums (AKP-Staaten) ablöste. Das Cotonou-Abkommen umfasst auch Fragen der regionalen Integration und des Klimawandels. Die Zusammenarbeit mit den Staaten erfolgt über den Europäischen Entwicklungsfonds (EEF). Das Ende 2020 auslaufende Cotonou-Abkommen soll durch eine zeitgemäße Vereinbarung abgelöst werden. Freihandelsabkommen der EU (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 725 621) Die Handels-, Kooperations- und Partnerschaftsabkommen enthalten zumeist Bestimmungen über den Handel mit Waren und Dienstleistungen, Investitionsschutz und Produktstandards. Zudem werden Zölle und nicht tarifäre Hemmnisse abgebaut. Gerade in der deutschen Öffentlichkeit stießen die Handelsabkommen allerdings auf teils massive Kritik. Befürchtet wurde eine mögliche Verwässerung von Produktsicherheitsstandards, es gab Widerstände gegen die Einbeziehung von Kulturgütern sowie gegen nicht staatliche Schiedsgerichte, die in Streitfällen zwischen Unternehmen und Staaten entscheiden sollen. In Reaktion darauf sah sich Kommissionspräsident Juncker veranlasst, die Wahrung "europäischer Standards" bei Sicherheit, Gesundheit, Sozialem, Datenschutz und kultureller Vielfalt als Verhandlungsleitlinie gegenüber Washington einzufordern. So konnte der Eindruck entstehen, dass sich die kontroversen Standpunkte zu den Handelsabkommen in der EU teilweise ideologisch verhärteten. Dabei geriet anscheinend stellenweise aus dem Blick, dass es sich weniger um objektive Qualitätsstandards, sondern um unterschiedliche Regulierungs- und Rechtskulturen beispielsweise zwischen den USA und der EU handelt. Die Handelspolitik der EU ist im Wesentlichen supranational unter Beteiligung aller EU-Organe ausgestaltet. Die Kommission, in Person des für den Handel zuständigen Kommissionsmitglieds, führt die Verhandlungen. Bevollmächtigt wird er/sie dabei vom Rat, der die Kommission über den Ausschuss für Handelspolitik gemäß Artikel 207 AEUV überwacht. Dort wird auch das gemeinsame Handeln in der WTO koordiniert. Das EP muss Handelsabkommen zustimmen. Der Umfang der Gemeinsamen Handelspolitik nach Artikel 206 und 207 AEUV ist zu Lasten der mitgliedstaatlichen Außenwirtschaftskompetenzen schrittweise ausgedehnt worden. Dies stieß teils auf erhebliche Vorbehalte – etwa bei der Einbeziehung von Dienstleistungen, handelsbezogenen Aspekten des geistigen Eigentums oder ausländischen Direktinvestitionen. Deshalb müssen im Rat Beschlüsse in einigen Bereichen – wie beim Handel mit kulturellen und audiovisuellen Dienstleistungen – weiterhin einstimmig getroffen werden (Art. 207 (4) AEUV). Besonders kontrovers war das inzwischen gescheiterte Handels- und Investitionsabkommen TTIP mit den USA. Daran waren ursprünglich weit über die (außen-)wirtschaftlichen Aspekte hinausgehende Erwartungen geknüpft. Es sollte Symbol und zugleich Motor der transatlantischen Beziehungen sein. Deren Substanz und Bedeutung schwanden bereits unter der Obama-Administration, als die USA ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr in die Region Asien-Pazifik richteten, wo heute China der mächtigste Gegenspieler der USA ist. Die transatlantischen Beziehungen haben sich über Handelsfragen hinaus seit dem Regierungsantritt von Donald Trump erheblich verschlechtert und sind verschiedenen Irritationen ausgesetzt. Diese betreffen alle Dimensionen des Beziehungsgefüges – Wertebasis, Wirtschaft und Sicherheit. Allgemein wird erwartet, dass sich diese Beziehungen mit dem Amtsantritt Joe Bidens wieder verbessern. Global Governance und Weltordnungsfragen Die Coronavirus-Pandemie hat der ohnehin wachsenden Kritik an Formen und Folgen der Globalisierung und Denationalisierung (also Verringerung nationalstaatlicher Macht) Auftrieb gegeben. Der unter Präsident Donald Trump erfolgte, und ggf. von Präsident Biden widerrufene Rückzug der USA aus multilateralen Vereinbarungen und Organisationen wie der Welthandelsorganisation und der Weltgesundheitsorganisation (engl.: World Health Organization, WHO) unterminierte die von der EU angestrebte effektive multilaterale Kooperation. Die EU bleibt ein aktives Mitglied in der WTO, wo sie durch die Kommission vertreten wird. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell fordert, die Globalisierung neu zu gestalten, um die durch die Pandemie verschärften wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ungleichgewichte zu überwinden. Dazu sei, trotz aller Differenzen, eine enge Koordinierung zwischen den USA, China und der EU nötig. Ein Beispiel par excellence ist die internationale Klima- und Nachhaltigkeitspolitik der EU, deren Kernprojekt der Green Deal und die Umsetzung der Agenda 2030 der UN mit den 17 Nachhaltigkeitszielen (engl.: Sustainable Development Goals, SDGs) sind. Die klassische Adresse für das globale Regieren sind die Vereinten Nationen. Die EU (damals EWG) ist seit 1974 als Beobachterin in den UN akzeptiert, da dort nur Staaten Mitglied werden können. UN-Sonderorganisationen haben dagegen spezielle Öffnungsklauseln. So ist die EU Mitglied der Food and Agriculture Organization und nimmt heute als Beobachterin an der Arbeit vieler UN-Organe und Sonderorganisationen teil. Sie hat mittlerweile zwar in der Generalversammlung, der Vollversammlung aller UN-Mitgliedstaaten, Rederecht und kann Vorschläge einbringen, besitzt aber kein Stimmrecht und kann keine Kandidatinnen bzw. Kandidaten aufstellen. Im Sicherheitsrat ist nach dem Brexit von Seiten der EU nur noch Frankreich als ständiges Mitglied vertreten. Das internationale Gewicht der EU wird also durch den Brexit geschwächt, auch wenn die EU eine intensive Abstimmung zwischen Brüssel bzw. den EU-Hauptstädten und London anstrebt. Ein gemeinsamer EU-Sitz bleibt in weiter Ferne und wird von Paris gar nicht in Erwägung gezogen. Somit geht es einstweilen um abgestimmte Positionen der Mitgliedstaaten in der UN. Gibt es einen gemeinsamen Standpunkt der EU, so haben die im Sicherheitsrat (SR) vertretenen EU-Mitglieder die Pflicht, eine Einladung des HV in den SR zu beantragen, damit die EU-Position vorgetragen werden kann. Das Europäische Parlament legt seine eigenen Empfehlungen für die EU-Prioritäten und die Präsenz in den UN vor. Auch der Rat beschließt "Prioritäten der EU und/oder ihrer Mitgliedstaaten" sowie Standpunkte und Strategien in den Vereinten Nationen. Die Union ist einerseits wegen ihrer Programmatik des effektiven Multilateralismus der UN geistesverwandt und eine verlässliche Partnerin. Andererseits beteiligen sich Deutschland und andere EU-Länder nur am Rande mit Truppenkontingenten an Peacekeeping-Missionen der Vereinten Nationen, beispielsweise in Mali oder dem Sudan. Dieses selektive Engagement reduziert aus Sicht der Vereinten Nationen die Erwartungssicherheit innerhalb der Partnerschaft UN-EU. Neben den UN haben sich zahlreiche informelle Gruppierungen herausgebildet, vor allem die G7/8 und die G20. Überall ist die EU auf die eine oder andere Weise beteiligt. Der hybride Grundzug der EU-Außenbeziehungen kommt in der vielköpfigen Außenvertretung der EU besonders gut zum Vorschein; so in den G7, einem informellen Zusammenschluss führender OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), in der, außer den USA, Kanada und Japan, mit Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien vier EU-Mitgliedstaaten vertreten sind. Außerdem nehmen die Kommissionspräsidentin und der Präsident des Europäischen Rats regelmäßig teil. Abgesehen von den Gipfelbegegnungen der Staats- und Regierungschefs unter dem rotierenden Vorsitz eines Präsidentschaftslandes treffen sich zusätzlich, wie während der deutschen Präsidentschaft 2015, die Minister bzw. Ministerinnen für Außen-, Finanz- oder Energiepolitik. Die Treffen dienen dazu, Grundsatzthemen auf die Agenda der Weltpolitik zu setzen und Positionen sowie mögliche Beiträge und Selbstverpflichtungen der G7 zu skizzieren. Die Ergebnisse dieser Treffen sind zwar nicht rechtsbindend, sondern betonen bereits bestehendes Recht. Dennoch können sie als Referenzpunkte politische Bindungswirkung entfalten. Der Anspruch, globale Steuerungsleistungen zu übernehmen, wirft die Frage nach der Legitimität und Repräsentativität dieser selbsternannten Führungsnationen auf. Im Vergleich zur G7/8 spiegelt die erstmals 2008 von US-Präsident George W. Bush einberufene G20, ein gleichfalls informelles Forum, die globalen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse besser wider. Denn zu ihr gehören auch aufsteigende Wirtschaftsnationen wie China und Indien, Brasilien, die Türkei und Südafrika. Neben den vier europäischen G7-Ländern gehören Spanien und die Niederlande zur G20, außerdem die EU-Kommission. Die G20 haben bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers 2008 eine herausgehobene politische Rolle in einem Feld gespielt, das ohnehin von informellen Gremien dominiert wird. Allerdings können auch die G20 nur Leitlinien empfehlen und weder Staaten noch andere Regulierungsgremien auf Handlungen verpflichten. Krisendiplomatie und Krisenmanagement Seit 2002 hat die EU 35 zivile oder militärische Missionen durchgeführt. Der Schwerpunkt liegt eindeutig in der EU-Nachbarschaft und in Afrika. Etwa zwei Drittel sind Polizei- und Rechtsstaatsmissionen, die entsprechend nicht militärisches Personal einbeziehen. Militärmissionen dienen der Friedenserhaltung (so in Bosnien-Herzegowina und der Zentralafrikanischen Republik), dem Training von Soldaten (Somalia, Mali) und der Bekämpfung von Seepiraterie (Horn von Afrika). Die MED Operation SOPHIA, die am 31. März 2020 endete, sollte Schleuser bekämpfen, die Geflüchtete übers Mittelmeer illegal in die EU bringen. Auf sie folgte die Operation IRINI, die das Waffenembargo gegenüber Libyen überwachen soll. Die europäische Flüchtlingspolitik ist erheblicher Kritik ausgesetzt, gerade weil sie für einige Kritikerinnen und Kritiker dem Selbstbild der EU als "Kraft des Guten" widerspricht. Die Empörung drückt sich auch in der Forderung aus, der EU den Friedensnobelpreis abzuerkennen (so die Vizepräsidentin des Bundestages, Claudia Roth), den sie 2012 für ihren "über sechs Jahrzehnte lang geleisteten Beitrag zu Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa" erhalten hatte. Im Januar 2020 liefen 18 Missionen, bei denen rund 5000 Personen eingesetzt wurden. Elf der Missionen waren rein zivile, vornehmlich Polizei- und Rechtsstaatsoperationen, sechs militärisch. Die Antwort auf den Konflikt um die Ukraine ist ein gutes Beispiel für die Krisendiplomatie der EU. Bislang hat sie dort von militärischen Instrumenten abgesehen. Die Unterstützung bei der Reform des Sicherheitssektors ist ausschließlich zivil, die Entsendung einer Überwachungstruppe für die Grenze zwischen der Ostukraine und Russland würde den Einsatz von Soldaten und Soldatinnen erfordern. Auch die EU-Mission zur Sicherung des Grenzübergangs Rafah zum Gazastreifen ist eine zivile unbewaffnete Mission, in der Polizei, Zollbeamte und Grenzpolizei eingesetzt werden. Einsätze der EU im Ausland, Quelle: EEAS (aktualisiert auf Stand 2020; Externer Link: https://eeas.europa.eu/topics/common-security-and-defence-policy-csdp/430/military-and-civilian-missions-and-operations_en) (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 715 215) Als Gegengewicht zu den nationalen Hauptstädten sollen, wie auch auf anderen Handlungsfeldern, die Institutionen in Brüssel gestärkt werden. So wurden etwa in das zentrale Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK), das die Entscheidungen vorbereitet und durchführt, nationale Spitzenbotschafterinnen und -botschafter mit ständigem Sitz in Brüssel entsandt. Diese "Brüsselisierung" mit stationärem Personal soll neben der raschen Verfügbarkeit auch den Informations- und Abstimmungsfluss fördern und einen gemeinsamen Geist von Zusammenarbeit und Verständnis fördern. Ausblick Bei der Beurteilung von Legitimität und Wirksamkeit der EU-Außenpolitik wird schnell die Lücke deutlich, die zwischen eigenen und fremden Erwartungen sowie den eigenen Fähigkeiten der EU besteht. Beim Blick auf andere Staaten, die auf sich allein gestellt oder im Verbund mit anderen versuchen, den internationalen Herausforderungen zu begegnen und wirksam für Sicherheit, Wohlstand und ihre Werte einzutreten, zeigt sich, dass sie auch nicht eindeutig erfolgreicher sind. Über die Balance zwischen der Ebene der Mitgliedstaaten und "Brüssel" wird gerade in der GASP weiter gestritten. Bestimmend dafür sind unterschiedliche Leitbilder der europäischen Integration und unterschiedliche strategische Kulturen. Bei den Verhandlungen über den Zuschnitt des Amts der Hohen Vertretung der Union für Außen- und Sicherheitspolitik lebten kontroverse Integrationsvorstellungen wieder auf. Diejenigen, die eine schrittweise Vergemeinschaftung der GASP befürworten, favorisierten nicht nur den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, sondern auch die Einrichtung eines EU-Außenministeriums zulasten der nationalen Außenministerien. Eine jüngere Idee ist die Einrichtung eines europäischen Sicherheitsrats, der nach deutschen Vorstellungen aber nicht als Direktorium großer Staaten, sondern als Task Force für die Vorbereitung von strategischen Diskussionen im Europäischen Rat dienen soll. Auch künftig dürften Mitgliedstaaten Souveränitätseinbußen nur dosiert akzeptieren. Der Einfluss der EU beruhte lange Zeit auf ihrer Attraktivität als Zusammenschluss wirtschaftlich erfolgreicher Wohlfahrtsstaaten und als globale Handelsmacht, die Normen und Standards in bilateralen Beziehungen und Wirtschaftsräumen setzt. Jedoch kann die Union als Regulierungsmacht nicht allein den Anspruch einlösen, die Weltordnung in ihrem Sinn mitzugestalten und Sicherheit für ihre Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft hat sie Züge einer Regionalmacht entwickelt, die Stabilität und Ordnung gewährleisten will. Sie tat dies durch Aufnahme von ostmitteleuropäischen Staaten in die Union. Gegenüber dem Westbalkan engagiert sie sich mit einer Kombination aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich militärischer. Inzwischen verfügt die EU über den gesamten Instrumentenkasten, der für einen umfassenden Ansatz in der Außen- und Sicherheitspolitik (comprehensive approach) nötig ist. Auf dem Weg zu einer immer stärker koordinierten Sicherheitspolitik könnte die Gründung einer europäischen Armee liegen. Wie andere Integrationsprojekte dürfte sie zunächst nur einen Teil von interessierten und qualifizierten Mitgliedstaaten umfassen, die militärische Fähigkeiten von Gewicht einbringen. Die Debatte über den Stellenwert des Militärischen in der GASP ist längst nicht abgeschlossen. Diese alte Diskussion wird heute im rauen weltpolitischen Klima geführt, in dem sich Europa selbst behaupten will. Widerstandsfähigkeit und strategische Autonomie sind die Schlüsselwörter der Debatte über eine geopolitische Union im 21. Jahrhundert. QuellentextEuropas neue Rolle in der Welt […] Macht, Souveränität, Geopolitik – die EU, dieser seltsame Club, ist dabei, sich von Grund auf zu verändern. Die Gemeinschaft, die gegründet wurde, um (West-)Europa Frieden und Wohlstand zu bescheren, und als Wirtschaftsmacht reüssierte, galt bis vor Kurzem noch als Role-Model für eine bessere, liberale Welt. Nun muss sie sich neu positionieren in einer Welt, die autoritärer geworden ist. Die EU muss Härte lernen. […] Bereits in den vergangenen Jahren hat sich das Selbstverständnis der EU dramatisch verändert. An zwei Orten konnte man diese Veränderung besonders deutlich sehen: Kiew und Kastanies. In der ukrainischen Hauptstadt endete die naive Annahme, die EU habe keine Gegner mehr. Und in dem griechischen Grenzort, am Übergang zur Türkei, zeigte die Union, wie sie klingen könnte, die Sprache der Macht. […] Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat die EU einmal ein "antiimperiales Imperium" genannt und damit den merkwürdigen Umstand beschrieben, dass die Union seit ihren Anfängen in den 1950er-Jahren zwar immer größer geworden ist, aber keine Vorstellung von ihrer eigenen Größe hat. Die EU hat sich mit jeder Erweiterungsrunde geografisch ausgedehnt, neue Länder im Norden, Süden, Westen und schließlich, nach 1989, im Osten kamen hinzu. Grenzen wurden aufgehoben, die EU wuchs, scheinbar ohne anzustoßen. Aber sie hat den Raum nicht gesehen, den sie so besetzte. Geopolitik schien ein Restposten aus dem vergangenen Jahrhundert. Die Union wollte Handel treiben, für die Sicherheit war die Nato zuständig. Das geläuterte Europa als Vorgriff auf den ewigen Frieden – vor allem in Deutschland hat man das gern so gesehen. Im Rückblick staunt man über so viel Selbstvergessenheit. Schließlich war die Europäische Gemeinschaft, der Vorläufer der EU, selbst ein durch und durch geopolitisches Projekt: ein Teil des freiheitlichen Westens, nicht vorstellbar ohne den Kalten Krieg und ohne die schützende Hand der USA. Die EU hat diesen Teil ihrer Geschichte gern verdrängt, geblieben ist allein die Erinnerung an das "Friedensprojekt". Die Ukraine sollte nicht der einzige Schauplatz bleiben, an dem andere der EU ihre Grenzen vorgeführt haben. In Syrien verfolgt sie ohnmächtig einen Bürgerkrieg, der nicht endet. In Libyen laufen alle Vermittlungsversuche ins Leere. Im Iran muss die EU zusehen, wie Donald Trump ein Abkommen, auf das die Union zu Recht stolz war, mutwillig zerstört. Und in der Türkei hat sie es mit einem autoritären und unberechenbaren Herrscher zu tun. Mal ist Erdog˘an Partner, mal Provokateur. […] Am 3. März reiste Ursula von der Leyen nach Kastanies, dem kleinen Grenzort auf der griechischen Seite. Statt Mitgefühl für die Flüchtlinge formulierte sie eine Warnung an Erdog˘an: "Wer versucht, die Einheit Europas auf die Probe zu stellen, wird enttäuscht sein. Wir werden die Linie halten." Ausdrücklich dankte sie der griechischen Regierung für den Polizeieinsatz an der Grenze: Die Griechen seien "Europas Schild". Eine Kommissionspräsidentin, die spricht wie eine Oberbefehlshaberin, das war neu. In Brüssel hatte man entschieden, die Situation an der Grenze als geopolitische Herausforderung zu betrachten, weniger als humanitäre Frage. […] Die EU galt stets als sanfte Macht, nun reagierte sie hart und entschieden. Selten hat sie so kühl und metallisch geklungen wie Ursula von der Leyen in Kastanies. Die Botschaft richtete sich nach innen wie nach außen: Die Union wollte sich auf keinen Fall erpressbar zeigen und verdeutlichen, dass sie selber bestimmt, wen sie hereinlässt. Die EU hat keine Armee, nur eine sogenannte battle group, die ständig wechselt und noch nie im Einsatz war. Auch die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung der 27 nationalen Armeen kommen nur langsam voran. Militärisch ist Europa keine Großmacht, das ist ein Handicap in einer Zeit, in der rund um die EU Kriege geführt werden, Russland und die Türkei dort bombardieren, erobern und aufrüsten und die USA sich immer mehr zurückziehen. Wer Geopolitik vor allem als militärische Disziplin versteht, muss den Anspruch der EU, nun geopolitisch zu agieren, als verwegen ansehen. In der Welt der starken und halbstarken Männer fehlt es nicht an Verachtung für die Union. […] Die Schwächen der EU sind offensichtlich, ihre Stärken hingegen muss sie sich stets neu vor Augen führen. Auch ohne Großbritannien ist der Europäische Binnenmarkt der größte einheitliche Wirtschaftsraum der Welt. Mit mehr als 70 Ländern unterhält die Union Handelsabkommen. Verbunden mit dem Binnenmarkt ist ein Regelwerk, das weit über Europa hinaus Standards setzt: für den weltweiten Handel, den Wettbewerb, den Umweltschutz oder den Umgang mit digitalen Daten. Google, Facebook und andere Internetriesen haben lange dagegen gekämpft, dass Verbraucher das Recht auf ihre eigenen Daten behalten. Die EU hat sich dank ihrer Marktmacht durchgesetzt und ausgerechnet mit der in Deutschland heftig bekämpften Datenschutz-Grundverordnung weltweit neue Standards etabliert. Wer mit Europa Geschäfte machen will, muss sich an dessen Regeln halten. […] Weder China noch die USA können diese Macht ignorieren – keine schlechte Voraussetzung in einer Zeit zunehmender Handelskonflikte. Umgekehrt bedeutet dies für die EU, dass sie nur dann global bestehen kann, wenn sie wirtschaftlich und technologisch stark bleibt. […] [Auch] könnte es sich noch erweisen, dass die Corona-Krise die EU eher zusammenführt als spaltet. Das Virus lässt sich kaum ideologisieren, das ist ein wesentlicher Unterschied etwa zum Streit über den Umgang mit Flüchtlingen und Migration. Die wirtschaftliche Erholung liegt im Interesse aller Mitgliedsstaaten […]. Auch bestreitet niemand mehr, dass man sich auf künftige Pandemien durch gemeinsame Forschung und die Bevorratung von medizinischem Gerät besser vorbereiten kann. Die Corona-Krise hat das geopolitische Feld, auf dem die EU agiert, grell ausgeleuchtet. Die USA, ohnehin auf dem Rückzug, sind mit sich selbst […] beschäftigt, dafür tritt China mit einer bislang ungeahnten Aggressivität auf. Je mehr die Spannungen zwischen diesen beiden Mächten wachsen, desto wichtiger wird es für die EU, eine eigene, unabhängige Position zu finden. Vor ein paar Tagen hat die Kommission angekündigt, künftig härter gegen Desinformation im Netz vorgehen zu wollen. Ausdrücklich werden China und Russland als Urheber für zersetzende Kampagnen in den sozialen Medien genannt. Naming and shaming, auch das ist ein Novum. Die EU lernt gerade schneller, als ihre Gegner es ihr zugetraut haben. Matthias Krupa, "Vorsichtig, doch bissig", in: DIE ZEIT Nr. 26 vom 18. Juni 2020 Die EU als globale Akteurin: Bei einer Pressekonferenz am 8. Januar 2020 treten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vize-Präsident der Europäischen Kommission Josep Borrell für ein stärkeres Europa in der Welt ein. (© European Union, 2020) Die Europäische Union in der Welt. Quelle: Eurostat, EU-Kommission, OECD, WTO (© picture-alliance, dpa-infografik 14 000; ) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 715 200) Die wichtigsten Handelspartner der Europäischen Union, Quelle: Eurostat (© picture-alliance, dpa-infografik 14 071) Freihandelsabkommen der EU (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 725 621) Einsätze der EU im Ausland, Quelle: EEAS (aktualisiert auf Stand 2020; Externer Link: https://eeas.europa.eu/topics/common-security-and-defence-policy-csdp/430/military-and-civilian-missions-and-operations_en) (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 715 215) […] Macht, Souveränität, Geopolitik – die EU, dieser seltsame Club, ist dabei, sich von Grund auf zu verändern. Die Gemeinschaft, die gegründet wurde, um (West-)Europa Frieden und Wohlstand zu bescheren, und als Wirtschaftsmacht reüssierte, galt bis vor Kurzem noch als Role-Model für eine bessere, liberale Welt. Nun muss sie sich neu positionieren in einer Welt, die autoritärer geworden ist. Die EU muss Härte lernen. […] Bereits in den vergangenen Jahren hat sich das Selbstverständnis der EU dramatisch verändert. An zwei Orten konnte man diese Veränderung besonders deutlich sehen: Kiew und Kastanies. In der ukrainischen Hauptstadt endete die naive Annahme, die EU habe keine Gegner mehr. Und in dem griechischen Grenzort, am Übergang zur Türkei, zeigte die Union, wie sie klingen könnte, die Sprache der Macht. […] Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat die EU einmal ein "antiimperiales Imperium" genannt und damit den merkwürdigen Umstand beschrieben, dass die Union seit ihren Anfängen in den 1950er-Jahren zwar immer größer geworden ist, aber keine Vorstellung von ihrer eigenen Größe hat. Die EU hat sich mit jeder Erweiterungsrunde geografisch ausgedehnt, neue Länder im Norden, Süden, Westen und schließlich, nach 1989, im Osten kamen hinzu. Grenzen wurden aufgehoben, die EU wuchs, scheinbar ohne anzustoßen. Aber sie hat den Raum nicht gesehen, den sie so besetzte. Geopolitik schien ein Restposten aus dem vergangenen Jahrhundert. Die Union wollte Handel treiben, für die Sicherheit war die Nato zuständig. Das geläuterte Europa als Vorgriff auf den ewigen Frieden – vor allem in Deutschland hat man das gern so gesehen. Im Rückblick staunt man über so viel Selbstvergessenheit. Schließlich war die Europäische Gemeinschaft, der Vorläufer der EU, selbst ein durch und durch geopolitisches Projekt: ein Teil des freiheitlichen Westens, nicht vorstellbar ohne den Kalten Krieg und ohne die schützende Hand der USA. Die EU hat diesen Teil ihrer Geschichte gern verdrängt, geblieben ist allein die Erinnerung an das "Friedensprojekt". Die Ukraine sollte nicht der einzige Schauplatz bleiben, an dem andere der EU ihre Grenzen vorgeführt haben. In Syrien verfolgt sie ohnmächtig einen Bürgerkrieg, der nicht endet. In Libyen laufen alle Vermittlungsversuche ins Leere. Im Iran muss die EU zusehen, wie Donald Trump ein Abkommen, auf das die Union zu Recht stolz war, mutwillig zerstört. Und in der Türkei hat sie es mit einem autoritären und unberechenbaren Herrscher zu tun. Mal ist Erdog˘an Partner, mal Provokateur. […] Am 3. März reiste Ursula von der Leyen nach Kastanies, dem kleinen Grenzort auf der griechischen Seite. Statt Mitgefühl für die Flüchtlinge formulierte sie eine Warnung an Erdog˘an: "Wer versucht, die Einheit Europas auf die Probe zu stellen, wird enttäuscht sein. Wir werden die Linie halten." Ausdrücklich dankte sie der griechischen Regierung für den Polizeieinsatz an der Grenze: Die Griechen seien "Europas Schild". Eine Kommissionspräsidentin, die spricht wie eine Oberbefehlshaberin, das war neu. In Brüssel hatte man entschieden, die Situation an der Grenze als geopolitische Herausforderung zu betrachten, weniger als humanitäre Frage. […] Die EU galt stets als sanfte Macht, nun reagierte sie hart und entschieden. Selten hat sie so kühl und metallisch geklungen wie Ursula von der Leyen in Kastanies. Die Botschaft richtete sich nach innen wie nach außen: Die Union wollte sich auf keinen Fall erpressbar zeigen und verdeutlichen, dass sie selber bestimmt, wen sie hereinlässt. Die EU hat keine Armee, nur eine sogenannte battle group, die ständig wechselt und noch nie im Einsatz war. Auch die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung der 27 nationalen Armeen kommen nur langsam voran. Militärisch ist Europa keine Großmacht, das ist ein Handicap in einer Zeit, in der rund um die EU Kriege geführt werden, Russland und die Türkei dort bombardieren, erobern und aufrüsten und die USA sich immer mehr zurückziehen. Wer Geopolitik vor allem als militärische Disziplin versteht, muss den Anspruch der EU, nun geopolitisch zu agieren, als verwegen ansehen. In der Welt der starken und halbstarken Männer fehlt es nicht an Verachtung für die Union. […] Die Schwächen der EU sind offensichtlich, ihre Stärken hingegen muss sie sich stets neu vor Augen führen. Auch ohne Großbritannien ist der Europäische Binnenmarkt der größte einheitliche Wirtschaftsraum der Welt. Mit mehr als 70 Ländern unterhält die Union Handelsabkommen. Verbunden mit dem Binnenmarkt ist ein Regelwerk, das weit über Europa hinaus Standards setzt: für den weltweiten Handel, den Wettbewerb, den Umweltschutz oder den Umgang mit digitalen Daten. Google, Facebook und andere Internetriesen haben lange dagegen gekämpft, dass Verbraucher das Recht auf ihre eigenen Daten behalten. Die EU hat sich dank ihrer Marktmacht durchgesetzt und ausgerechnet mit der in Deutschland heftig bekämpften Datenschutz-Grundverordnung weltweit neue Standards etabliert. Wer mit Europa Geschäfte machen will, muss sich an dessen Regeln halten. […] Weder China noch die USA können diese Macht ignorieren – keine schlechte Voraussetzung in einer Zeit zunehmender Handelskonflikte. Umgekehrt bedeutet dies für die EU, dass sie nur dann global bestehen kann, wenn sie wirtschaftlich und technologisch stark bleibt. […] [Auch] könnte es sich noch erweisen, dass die Corona-Krise die EU eher zusammenführt als spaltet. Das Virus lässt sich kaum ideologisieren, das ist ein wesentlicher Unterschied etwa zum Streit über den Umgang mit Flüchtlingen und Migration. Die wirtschaftliche Erholung liegt im Interesse aller Mitgliedsstaaten […]. Auch bestreitet niemand mehr, dass man sich auf künftige Pandemien durch gemeinsame Forschung und die Bevorratung von medizinischem Gerät besser vorbereiten kann. Die Corona-Krise hat das geopolitische Feld, auf dem die EU agiert, grell ausgeleuchtet. Die USA, ohnehin auf dem Rückzug, sind mit sich selbst […] beschäftigt, dafür tritt China mit einer bislang ungeahnten Aggressivität auf. Je mehr die Spannungen zwischen diesen beiden Mächten wachsen, desto wichtiger wird es für die EU, eine eigene, unabhängige Position zu finden. Vor ein paar Tagen hat die Kommission angekündigt, künftig härter gegen Desinformation im Netz vorgehen zu wollen. Ausdrücklich werden China und Russland als Urheber für zersetzende Kampagnen in den sozialen Medien genannt. Naming and shaming, auch das ist ein Novum. Die EU lernt gerade schneller, als ihre Gegner es ihr zugetraut haben. Matthias Krupa, "Vorsichtig, doch bissig", in: DIE ZEIT Nr. 26 vom 18. Juni 2020
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2020-12-17T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/europaeische-union-345/324611/das-auswaertige-handeln-der-eu/
Nachdem die EU außenpolitisch lange Zeit eine eher nachgeordnete Rolle einnahm, tritt sie mittlerweile durch ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als globale Akteurin auf. Wichtige Pfeiler ihres internationalen Profils sind die Handel
[ "EU", "europäische Union", "Außenministerium", "Internationale Politik" ]
30,235
Der Deutsche Bundestag und seine Akteure | Parlamentarische Demokratie | bpb.de
Seit 1999 ist das Reichstagsgebäude am Berliner Spreeufer Sitz des Deutschen Bundestages. Dafür wurde das Bauwerk aus dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend umgestaltet und modernisiert. Im Plenarsaal unter der Glaskuppel erinnern im Januar 2018 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Französischen Nationalversammlung an die Unterzeichnung des Elyséevertrages. (© Bundesregierung, B145 Bild-00398130, Foto: Sandra Steins) Die Ausgestaltung des Bundestages nach dem Grundgesetz Der Parlamentarische Rat, der 1948/49 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entwarf, schuf damit auch die Basis für ein parlamentarisches Regierungssystem. Die Ratsmitglieder, 61 Verfassungsväter und vier Verfassungsmütter, hatten das Scheitern der Weimarer Republik vor Augen und suchten nun daraus Lehren für die Ausgestaltung des neuen politischen Systems zu ziehen. Dies galt besonders für das Verhältnis von Legislative und Exekutive sowie für die Ausgestaltung ihrer Kompetenzen. QuellentextVerfassungspolitische Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik Der Parlamentarische Rat suchte […] verfassungspolitische Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen. Dies wird sichtbar, wenn man die Konkretisierung der zentralen Prinzipien des Grundgesetzes – Demokratie, Föderalismus, Rechts- und Sozialstaat – betrachtet. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 vollzog zwar den Übergang zur parlamentarischen Regierung, blieb hierbei jedoch inkonsequent: Sie stellte neben den Reichstag einen direkt gewählten Reichspräsidenten, führte darüber hinaus den Volksentscheid ein und schuf damit drei konkurrierende demokratische Legitimationen. Auch wurde dem Reichstage (infolge des nur negativen Misstrauensvotums, der präsidialen Kanzlerernennung und der präsidialen Notstandsrechte nach Art. 48 WRV) die Flucht aus der Verantwortung ermöglicht – Regelungen, die 1930 die Selbstabdankung des Parlaments und einen scheinbar "legalen" Übergang in die Diktatur erleichtern sollten. Im Sinne moderner Staatsformenlehre war die Weimarer Republik eine semipräsidentielle Demokratie – wie heute Frankreich oder Russland –, nicht eine parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz hat demgegenüber drei Folgerungen gezogen: 1) "Zuweisung des Legitimationsmonopols an das Parlament": Das Grundgesetz sieht nur eine einzige unmittelbar demokratische Legitimation vor: die der Wahl des Parlaments. Alle anderen Staatsorgane leiten sich vom Bundestag bzw. den Landtagen ab und sind entsprechend minder legitimiert. Auch kennt das Grundgesetz – außer bei der Revision von Ländergrenzen – keine plebiszitären Entscheidungen. Diese antiplebiszitäre Haltung wurde mit emotionalisierenden Kampagnen bei Volksentscheiden bzw. -begehren der Weimarer Zeit und mit der Wahl des ehemaligen Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten begründet. […] Die Tatsache, dass die Landesverfassungen überwiegend durch Volksentscheide bestätigt wurden und die Möglichkeit von Volksentscheiden enthalten, zeigt jedoch, dass diese Folgerung des Grundgesetzes aus den Erfahrungen der Vergangenheit keineswegs allgemein als zwingend betrachtet worden ist. 2) "Konsequente Einführung des parlamentarischen Regierungssystems": Das Grundgesetz sucht allein von parlamentarischen Mehrheiten getragene Regierungen zu ermöglichen und diese zu stabilisieren. Dem dient, dass der Bundeskanzler sein Amt einer Wahl durch das Parlament verdankt; er es nur durch ein "konstruktives Misstrauensvotum", d. h. Wahl eines neuen Amtsinhabers verlieren kann; ein Verordnungsrecht des Präsidenten gänzlich entfallen und das der Bundesregierung eng begrenzt worden ist; selbst im Notstandsfalle parlamentarische Entscheidungsrechte und Kontrollen bestehen bleiben. 3) "Anerkennung der verfassungspolitischen Funktion der Parteien": Während die Weimarer Verfassung die Parteien ignorierte, sie lediglich einmal abwehrend mit der Formulierung, die Beamten seien "Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" (Art. 130 WRV), erwähnte und darin anderen älteren demokratischen Verfassungen ähnelte, hat das Grundgesetz der zentralen Rolle politischer Parteien durch ihre Einbeziehung in die Verfassung (Art. 21 GG) Rechnung getragen. Zusammenfassend ist daher das heutige Deutschland als föderale, parlamentarische Demokratie mit parteienstaatlichen Zügen zu bezeichnen. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 33 f. Besonders hervorzuheben ist die Entscheidung, den Bundestag zum einzigen direkt vom Volk gewählten Verfassungsorgan zu machen und ihm damit die zentrale Stellung im demokratischen Verfassungsgefüge zu geben. Zwar war auch schon die Weimarer Republik "parlamentarisiert", da die Regierung dem Reichstag gegenüber verantwortlich war und von ihm abgewählt werden konnte – eine Abhängigkeit, die es im Kaiserreich unter Geltung der Bismarck-Verfassung von 1871 noch nicht gegeben hatte. Doch dem auf sieben Jahre vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten hatte die Verfassung erhebliche Machtbefugnisse eingeräumt. So konnte er in faktischer Konkurrenz zum Parlament den Reichskanzler ernennen und entlassen sowie den Reichstag jederzeit auflösen. Auch auf eine starke Exekutive war das Interesse des Parlamentarischen Rates gerichtet, denn die Erfahrungen der 1920er-Jahre hatten gezeigt, wie verheerend sich der häufige Wechsel der Regierungen zunächst auf die Handlungsfähigkeit der Politik und schließlich auf den Fortbestand der Republik ausgewirkt hatte. Gleichzeitig sollten aber die Parteien in die Verantwortung genommen werden, für stabile Mehrheiten im Parlament zu sorgen. So wurde mit Artikel 63 des neuen Grundgesetzes (GG) die Kanzlerwahl durch den Deutschen Bundestag mit dem Erfordernis der absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang verankert; und Art. 67 GG sieht vor, dass der Kanzler nur abgesetzt werden kann, indem ein neuer gewählt wird. Dieses sogenannte Konstruktive Misstrauensvotum soll verhindern, dass es ausreicht, im Parlament Einigkeit über die Ablehnung eines Amtsinhabers herzustellen, ohne dass es mehrheitliche Unterstützung für einen Nachfolger gibt. Damit haben es der Bundestag und die in ihm wirkenden Parteien allein in der Hand, welcher Kanzler wie lange im Amt bleibt. Bei ihnen liegen die Verantwortung und die tatsächliche Handlungsmacht, eine effiziente Regierung zu garantieren. Der Bundespräsident hat dagegen nur noch Reserverechte für den Fall eines dritten Wahlgangs nach Art. 63 Abs. 4 GG und kann auch nur auf Vorschlag des Kanzlers nach einer gescheiterten Vertrauensfrage den Bundestag auflösen (Art. 68 GG). Den ersten Rang des Bundestages unter den Verfassungsorganen verdeutlicht des Weiteren sein Recht auf Selbstorganisation. Dies schließt die eigenständige Einberufung der Sitzungen und die Geschäftsordnungsautonomie ebenso ein, wie die Möglichkeit, Zahl und Art seiner Ausschüsse sowie anderer Gremien weitestgehend selbst zu bestimmen. Nur die Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Angelegenheiten der Europäischen Union sowie der Petitionsausschuss, an den sich die Bürgerinnen und Bürger direkt mit ihren Bitten oder Beschwerden richten können, sind im Grundgesetz vorgeschrieben (Art. 45, 45a und 45c GG). Ansonsten entscheidet der Bundestag allein über Organisation und Ablauf seines Alltags. QuellentextDer Bundestag im Grundgesetz Art 38 [Wahl] (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. […] Art 39 [Zusammentritt und Wahlperiode] (1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. […] Art 40 [Präsident; Geschäftsordnung] (1) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. […] Art 41 [Wahlprüfung] (1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat. […] Art 42 [Öffentlichkeit der Sitzungen; Mehrheitsprinzip] (1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. […] (2) Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. […] Art 43 [Anwesenheit der Bundesregierung] (1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. […] Art 44 [Untersuchungsausschüsse] (1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. […] Art 45 und Art. 45a bis 45d [Ausschüsse; Wehrbeauftragter; Kontrollgremium] […] Art 46 [Indemnität und Immunität der Abgeordneten] […] Art 47 [Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten] […] Art 48 [Ansprüche der Abgeordneten] (1) Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub. (2) Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig. (3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. […]. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wie sich am Beispiel zweier anderer großer Parlamente in Europa zeigt: So begrenzt die französische Verfassung die Zahl der ständigen Ausschüsse der Assemblée nationale auf acht, und im britischen Parlamentarismus liegt die Gestaltung der Tagesordnung im Unterhaus faktisch bei der Regierung – ein Zeichen dafür, wie konsequent dort die Vorstellung verwirklicht ist, dass Mehrheit und Regierung eine Handlungseinheit bilden und wie konsequent auch das Prinzip der Handlungsfähigkeit beachtet ist. Wahl der Abgeordneten Der Bundestag wird in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl auf vier Jahre gewählt. Seit der 15. Wahlperiode (2002 bis 2005) besteht er nach BWahlG. aus 598 Mitgliedern. Auf diese Anzahl wurde das Parlament verkleinert, nachdem die deutsche Einheit – und damit das Anwachsen der zu repräsentierenden Bevölkerung um etwa ein Viertel – es vorübergehend erfordert hatte, den Bundestag von 518 (inklusive 22 Abgeordneten aus West-Berlin) auf 656 Sitze zu vergrößern. Die seit 2002 geltende Regelgröße von 598 wurde jedoch stets überschritten – bis 2009 durch Überhangmandate und seit 2013 durch Ausgleichsmandate (siehe unten). Nach dem aktuellen Bundeswahlgesetz werden die 598 Abgeordneten wie bisher in 299 Wahlkreisen sowie über Landeslisten gewählt. In der Bundesrepublik gilt das personalisierte Verhältniswahlrecht. Jede Wählerin bzw. jeder Wähler hat zwei Stimmen: Die erste ist für eine Kandidatin bzw. Kandidaten im eigenen Wahlkreis bestimmt, die zweite geht an die Landesliste einer zur Wahl stehenden Partei. Die Zusammensetzung des Bundestages ist das Ergebnis des Stärkeverhältnisses der Parteien zueinander, das sich aus den Zweitstimmen ergibt. Vereinfacht gesagt: Erzielt eine Partei 30 Prozent der Zweitstimmen, hat sie Anspruch auf 30 Prozent der Sitze im Bundestag. Dies wird nach einem speziellen mathematischen Verfahren (dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren) für jedes Bundesland einzeln errechnet auf der Basis eines Kontingents von doppelt so vielen Sitzen, wie das jeweilige Land Wahlkreise hat. Von der Wählerstimme zum Mandat: Sitzberechnung nach Sainte-Laguë / Schepers (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbilder 086 131) An diesem Verrechnungsverfahren nehmen nur jene Parteien teil, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bundesweit oder drei Direktmandate errungen haben. Mit der seit 1953 geltenden, nicht mehr nur auf die einzelnen Bundesländer bezogenen Sperrklausel, auch Fünf-Prozent-Hürde genannt, sollte der Einzug von Splitterparteien ins Parlament verhindert und damit einer erheblichen Erschwerung der Mehrheitsbildung vorgebeugt werden. Das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate Von dem mit dem Saint-Laguë/Schepers-Verfahren ermittelten Mandatsanteil für jede Partei wird die Zahl der Sitze abgezogen, die Kandidaten der Partei bereits über die Wahlkreise errungen haben. Die verbleibenden Sitze werden aus den Landeslisten nach Reihenfolge der dort aufgestellten Kandidaten aufgefüllt. Hat eine Partei mit ihren Wahlkreiskandidaten mehr Sitze gewonnen, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, werden sogenannte Überhangmandate verteilt. Bis 2013 wurde der Bundestag dann in der fraglichen Wahlperiode – und nur in dieser – um die entsprechende Sitzzahl vergrößert. So kam es, dass in der Regel nicht nur die gesetzlich festgelegte Anzahl von Abgeordneten in den Bundestag einzog: Nach der Bundestagswahl 2005 waren 16 Überhangmandate, 2009 waren 24, in früheren Bundestagen meist zwischen zwei und sechs zu verzeichnen (Ausnahmen bilden die Jahre 1994 und 1998 mit 16 bzw. 13 Überhangmandaten). Das Auftreten sogenannter negativer Stimmengewichte und die wachsende Zahl der Überhangmandate bewogen das Bundesverfassungsgericht 2009, das geltende Wahlrecht für verfassungswidrig zu erklären, weil es die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien gefährdet sah. Um den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen, sieht das neue Wahlgesetz nun vor, dass für die Überhangmandate Ausgleichsmandate an die anderen Parteien verteilt werden. Dazu werden die in den Ländern gewonnenen Sitze jeder Partei bundesweit addiert und überproportionale Direktmandatsgewinne ausgeglichen, indem die Sitzzahl des Bundestages erhöht und den übrigen Parteien ihr proportionaler Anteil an dieser vergrößerten Anzahl zugewiesen wird. Zuteilung der Mandate (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 086 140) Durch diese Ausgestaltung des Wahlrechts wuchs der Bundestag 2013 trotz lediglich vier Überhangmandaten um 33 Sitze, und 2017 entstanden 46 Überhangmandate, die 65 Ausgleichsmandate und damit insgesamt 709 Sitze zur Folge hatten. So ist der Deutsche Bundestag – wie schon in den 1990ern – das bei Weitem größte demokratisch gewählte Nationalparlament der Welt. So verwundert es nicht, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dieser Entwicklung zugrunde liegt, umgehend auf heftige Kritik stieß. Versuche, insbesondere der Bundestagspräsidenten, das Wahlrecht erneut zu reformieren, um eine Vereinfachung des Verfahrens und eine Verkleinerung des Bundestages zu erreichen, haben bislang zu keinem Erfolg geführt – zu unterschiedlich sind die Interessen der Parteien, und es ist guter demokratischer Brauch, das Wahlrecht im Einvernehmen zu reformieren. Hinzu kommt, dass die Auffassung, der Bundestag sei zu groß, bisher eher einem Gefühl entspringt als sachlichen Kriterien. So wird sich wohl in absehbarer Zeit nichts am Grundcharakter des deutschen Wahlsystems als "personalisiertes Verhältniswahlrecht" ändern. Allerdings ist diese gängige Bezeichnung eher irreführend. Die Kandidaten in den Wahlkreisen werden nämlich nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – als Personen gewählt, sondern als Mitglieder ihrer Partei. An dieser Zugehörigkeit orientiert sich, wie Studien ergeben, die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler bei ihrer Entscheidung. Auch die gängige Annahme, es sei vor allem der Sperrklausel zu verdanken, dass der Bundestag schon nach der zweiten Bundestagswahl nur noch aus fünf gegenüber zuvor neun Fraktionen bzw. Gruppen und von 1961 bis 1983 aus lediglich drei Fraktionen bestand, greift zu kurz. Vielmehr konnten die Parteien schon in den 1950er-Jahren ihrer Wählerschaft politische Erfolge bzw. überzeugende Angebote vorweisen, die dem Bundestag das Schicksal des Weimarer Reichstages mit Abgeordneten aus bis zu 14 Parteien ersparten. Die im 19. Bundestag vertretenen Parteien Seit der Wahl 2017 besteht der Bundestag aus sechs Fraktionen (CDU/CSU, SPD, FPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, AfD). Bundestagswahlen 1949-2017 (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 088 500) Ende der 1970er-Jahre verbreiterten zunächst die Grünen das Parteienspektrum, das bis dahin aus CDU/CSU, SPD und FDP bestanden hatte. 1983 schafften sie erstmals den Einzug in den Bundestag, 1990 scheitern sie an der Sperrklausel. Nach dem Zusammenschluss 1993 mit Bündnis 90, das 1990 in den neuen Bundesländern noch separat kandidiert hatte, konnte Bündnis 90/Die Grünen 1994 in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen und sich seither mit einer stabilen Stammwählerschaft als dauerhafter Bestandteil des deutschen Parteiensystems etablieren. Dies gilt ebenso für die nach zeitlicher Reihenfolge sechste Partei, die im aktuellen Bundestag vertreten ist, die Partei Die Linke, die sich im Juni 2007 gründete. Sie war Ergebnis eines Zusammenschlusses der "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG), einer Abspaltung der SPD, mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die ihrerseits wiederum aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED, der Staatspartei der ehemaligen DDR) hervorgegangen war. Mit Wahlergebnissen um die zehn Prozent in den letzten drei Bundestagswahlen und parlamentarischer Präsenz in zehn der sechzehn Bundesländer – bis hin zur Stellung des Ministerpräsidenten in Thüringen – ist Die Linke inzwischen eine seit zwanzig Jahren etablierte Kraft im Bundestag. Der rechtspopulistischen, in Teilen als rechtsextrem eingestuften "Alternative für Deutschland" (AfD) gelang es 2017 zum ersten Mal, Sitze zu gewinnen, und zwar sogar mit dem besten Ergebnis unter den kleinen Parteien, sodass sie im Bundestag die drittgrößte Fraktion stellt. Sitzverteilung im Bundestag (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 088 501) Auch wenn damit noch nicht von einer "Zersplitterung" des Parlaments, gar von "Weimarer Verhältnissen" gesprochen werden kann, ist unübersehbar, dass sich das Parteiensystem ausdifferenziert und die politische Bandbreite der parlamentarisch repräsentierten Interessen zugenommen hat. Als Folge ist die Regierungsbildung im Bundestag schwieriger geworden und dauerte 2017/2018 so lange wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Künftig müssen die demokratischen Fraktionen und ihre Parteien noch deutlicher als bisher unter Beweis stellen, dass sie die politische Verantwortung, die in Wahlen konkretisiert wird, übernehmen wollen und können. Bedeutung und Aufgaben der Fraktionen Die Fraktionen sind die Parteien im Parlament. Ihre Bedeutung im deutschen Parlamentarismus zeigt sich schon darin, dass sie es sind, die sich nach der Wahl, aber noch vor der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages versammeln und die ersten politischen Entscheidungen treffen bzw. vorbereiten. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor allem auf die Aktivitäten, die für die Bildung einer neuen Regierung entfaltet werden. Doch für den bald darauf einsetzenden Arbeitsalltag des Parlaments ist es genauso wichtig, wie sich seine Fraktionen darauf organisatorisch und personell einstellen. In den meisten Ländern wird eine bestimmte Mindestgröße vorgeschrieben, damit sich Abgeordnete zu einer Fraktion zusammenschließen können. Im Bundestag beträgt diese fünf Prozent, analog zur Sperrklausel im Wahlgesetz. Außerdem bestimmt die Geschäftsordnung, dass nur Abgeordnete einer Partei eine Fraktion bilden können. Als Sonderregel für CDU und CSU wurde 1969 der Passus in die Geschäftsordnung aufgenommen, dass eine Fraktionsgemeinschaft auch für Abgeordnete solcher Parteien möglich ist, die in keinem Bundesland in Wettbewerb zueinander stehen. Weiteren Ausnahmen von der Regel "Fraktion = Abgeordnete aus derselben Partei" muss der Bundestag im Einzelfall zustimmen. Ein spezieller Beschluss des Parlaments ist auch erforderlich, um sogenannte Gruppen anzuerkennen. Dabei handelt es sich um Abgeordnete einer Partei, die sich zusammenschließen wollen, ohne Fraktionsmindeststärke von fünf Prozent zu erreichen. So wurde etwa 1990, als für die Bundestagswahl die Sperrklausel separat für das ost- und westdeutsche Wahlgebiet galt, den acht Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und den 17 von der PDS/Linke Liste dieser Status zuerkannt. Damit erhielten sie fraktionsähnliche Rechte sowie eine angemessene Finanzierung. Auch 1994 wurde mit den Abgeordneten der PDS so verfahren, die wiederum nicht in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten war, aber vier Direktmandate in Berlin und damit insgesamt 30 Sitze errungen hatte. Hierarchisierung und Arbeitsteilung in den Fraktionen Hierarchisierung und Arbeitsteilung sind die Prinzipien, die die Fraktionsentwicklung schon seit dem Ersten Bundestag geprägt haben. Dass man ein Gremium brauchte, das die Führung der Geschäfte und die Außenvertretung wahrnahm, hatte sich schon aus früheren Erfahrungen etlicher Abgeordneter der ersten Stunde des westdeutschen Parlamentarismus ergeben. Ganz selbstverständlich also wählten sich die Fraktionen bereits 1949 Vorstände. Das arbeitsteilige Fraktionenparlament (© Quelle: www.bundestag.de Basis: Schaubild aus Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 201) Arbeitsteilige Strukturen fanden hingegen erst einige Jahre später Eingang in die Organisation der Fraktionen. Schon im Ersten Bundestag hatte sich ein System von fachlich spezialisierten Ausschüssen entwickelt, um die Kriegsfolgen gesetzgeberisch zu bewältigen. Nie wieder hat es auch nur annähernd so viele Ausschuss- und Unterausschusssitzungen gegeben wie in der ersten Wahlperiode von 1949 bis 1953: 5111 gegenüber zum Beispiel 3096 in der 18. Wahlperiode von 2013 bis 2017. So ließ der westdeutsche Nachkriegsparlamentarismus gar keinen Raum für das aus dem 19. Jahrhundert überkommene Trugbild: Danach gelten – in Verkennung der tatsächlichen Praxis des ersten gesamtdeutschen Parlaments, der in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 tagenden Nationalversammlung – als ideale Abgeordnete die im Plenum freihändig beratenden und sich spontan gegenseitig überzeugenden politischen Generalisten. Selbst bei gutem Willen: Zu vielfältig und alltäglich waren die Probleme, die Lösungen erforderten, zu groß war der Entscheidungsdruck, um diesem Trugbild in der Praxis zu folgen. Die Abgeordneten lernten rasch, dass der Einzelne ohne die fraktionsinternen arbeitsteiligen Strukturen gar nicht verantwortungsvoll entscheidungsfähig ist. Ebenso schnell machten sie die Erfahrung, dass die Ausschüsse umso effektiver arbeiten konnten, je besser der Sachverstand in den Fraktionen bereits organisiert und gebündelt, je präziser politische Positionen schon vorgeklärt waren. Unter diesen Voraussetzungen wurden die Entscheidungen außerdem verbindlich und verlässlich kalkulierbar hinsichtlich der parlamentarischen Zustimmung im Plenum. Ein weiterer Faktor beschleunigte die Arbeitsteilung im Bundestag: das Wachsen der großen Fraktionen. Mit 250 bzw. 162 Mitgliedern konnten die Union aus CDU und CSU sowie die SPD im Zweiten Bundestag die Positionen ihrer Fraktionen nicht mehr in Vollversammlungen detailliert diskutieren und herausarbeiten. Deshalb bildeten sie ab 1953 innerhalb ihrer Fraktionen fachlich spezialisierte Arbeitskreise – ein Beispiel, dem die FDP 1957 folgte. Damit war eine parlamentarische Arbeitsebene geschaffen, auf der Abgeordnete ohne hervorgehobene Stellung besser als in den Fraktionsversammlungen ihre Positionen zur Geltung bringen konnten und der Sachverstand dieser "einfachen" Parlamentarier besser für die Fraktion zu nutzen war. Solche Ebenen können nur in die Fraktionsorganisationen eingezogen werden, wenn zwischen den Abgeordneten gegenseitiges Vertrauen in die Übereinstimmung ihrer grundlegenden politischen Überzeugungen herrscht. Erst auf dieser Basis entwickelt sich die Bereitschaft, dem Kollegen aus der eigenen Fraktion die Entscheidungen auf seinem Fachgebiet zumindest im Detail weitgehend zu überlassen und im Gegenzug dafür dasselbe zu erwarten. Dieses Vertrauen wuchs im Bundestag mit der Dauer des Zusammenwirkens heran und ermöglichte die zunehmende Arbeitsteilung in den Fraktionen. Arbeitsgruppen und Arbeitskreise Aus diesen Organisationsanforderungen sind in den Fraktionen des Bundestages weitgehend identische Strukturen entstanden. Union und SPD richten seit Jahren regelmäßig je gut zwanzig hochspezialisierte Arbeitsgruppen (AGs) ein, die in ihrem thematischen Zuschnitt den Bundestagsausschüssen wie ein Spiegelbild entsprechen. Die Mitglieder einer AG vertreten ihre Fraktion im korrespondierenden Ausschuss. In der SPD ist der oder die AG-Vorsitzende gleichzeitig Sprecher bzw. Sprecherin der Fraktion im Ausschuss (Inzwischen nennt die Fraktion die Inhaber dieser Position gar nicht mehr AG-Vorsitzende, sondern gleich Sprecher.). In der Unionsfraktion hat dagegen oft der oder die stellvertretende AG-Vorsitzende das Sprecheramt inne, während die Vorsitzenden von Amts wegen Mitglieder im erweiterten Fraktionsvorstand sind. Diese personellen Verknüpfungen garantieren den Informationsfluss zwischen Parlament und Fraktionen in der sachpolitischen Arbeit und ihre organisatorische Verzahnung im Gesetzgebungsprozess. Die kleineren Fraktionen verfügen über sogenannte Arbeitskreise (AK), die größere Themengebiete abdecken, zumeist fünf oder sechs, denn ihre geringere Mitgliederzahl erlaubt ihnen keine tiefere Binnendifferenzierung. Die AfD entschied sich hingegen nach ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag 2017 25 Arbeitsgruppen einzusetzen, die im Wesentlichen spiegelbildlich zu den Ausschüssen geschnitten sind, nennt diese aber Arbeitskreise. In den AGs leisten die Abgeordneten die gesetzgeberische Detailarbeit, dort konkretisieren oder korrigieren sie oft die Führungsvorgaben, im Falle der regierungstragenden Fraktionen auch die Entwürfe der Ministerien. Viele der AG- und AK-Mitglieder sind für das jeweilige Sachgebiet schon durch ihre vorangegangene Berufstätigkeit ausgewiesen oder haben sich – zum Teil über mehrere Wahlperioden – auf bestimmte Materien spezialisiert. Insofern lassen sich die AGs bzw. AK als Instanz zur Sozialisation und Einarbeitung der Bundestagsabgeordneten begreifen. Hier können diese ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, ihre Nützlichkeit für die eigene Fraktion unter Beweis stellen, sich für Führungsaufgaben empfehlen, gewisse Eigenständigkeit sowie sachpolitischen Einfluss gewinnen und Wählerinteressen zur Durchsetzung verhelfen. Die Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreise eröffnen damit den Parlamentariern auch ein Potenzial zur inhaltlich-politischen Kontrolle der eigenen Regierung bzw. Fraktionsführung, das im Normalfall hinter verschlossenen Türen, als letztes Mittel aber auch öffentlich genutzt werden kann. Fraktionsführungen Die zunehmende Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Arbeitsteilung erforderte weitere innerfraktionelle Koordination und Integration, was wiederum den Bedarf an Führung steigerte. Diese Führung wurde auch dadurch notwendiger, dass schon in den 1950er-Jahren in der noch jungen Bundesrepublik Mehrheitsregierungen auf der Basis von Koalitionen zum Muster wurden. Solche Mehrheitsregierungen sind nur dann stabil und zuverlässig handlungsfähig, wenn die sie tragenden Fraktionen prinzipiell geschlossen agieren – und zwar nicht nur einmal bei der Kanzlerwahl, sondern für die Durchsetzung eines Gesetzgebungsprogramms über eine ganze Wahlperiode hinweg. Für die Oppositionsfraktionen gilt prinzipiell dasselbe, da sie schließlich der Öffentlichkeit beweisen wollen, dass sie eine bessere und ständig bereite Alternative zur amtierenden Regierung und ihrer Mehrheit sind. Diese Geschlossenheit erwarten im Übrigen auch die Bürgerinnen und Bürger; sie scheint nach wie vor in der öffentlichen Wahrnehmung und der Politischen Kultur der Bundesrepublik das wichtigste Merkmal für Kompetenz und Entscheidungskraft zu sein. Solche Geschlossenheit ist nur durch Führung zu erreichen. Sie hat (neben der organisatorisch-praktischen Leitung) die politische Richtung vorzugeben. Sie muss dafür Sorge tragen, dass die in der Fraktion formulierten Interessen und herausgearbeiteten Einzelpolitiken inhaltlich stimmig sind, dass die Gesamtfraktion und ihre Experten ineinander greifen und dass die Leitlinien der Partei berücksichtigt werden. Im Falle der Parlamentsmehrheit müssen die Fraktionsführungen zusätzlich sicherstellen, dass ihre Fraktionen und die Regierung an einem Strang ziehen, also abgestimmt reden und handeln. Für diese Lenkungsfunktionen wählen die beiden großen Bundestagsfraktionen seit 1975 (SPD) bzw. 1980 (CDU/CSU) Geschäftsführende Vorstände. Dieser besteht im 19. Bundestag bei der Union aus einem Vorsitzenden, mittlerweile zwölf Stellvertretern und fünf Parlamentarischen Geschäftsführern. Hinzu kommen noch die beiden Justiziare und ein Sprecher der CDU-Landesgruppen. Der ersten weiblichen Vorsitzenden einer der großen Fraktionen im Bundestag, Andrea Nahles, traten in der SPD bis Juni 2019 sieben Stellvertreter und vier Parlamentarische Geschäftsführer zur Seite. Die Aufgaben des Vorsitzenden sind beispielhaft in der Arbeitsordnung der CDU/CSU-Fraktion (§ 7) festgehalten: "Der Vorsitzende führt die Fraktion und vertritt sie nach innen und nach außen. Er beruft die Fraktions- und Vorstandssitzungen ein und schlägt ihre Tagesordnungen vor. Er leitet die Fraktion im Plenum des Bundestages." Aus dieser nüchternen Beschreibung ist der politische Rang dieses Amtes kaum erkennbar. Was "führen" und "leiten" tatsächlich bedeutet, ergibt sich erst aus der Organisationswirklichkeit und aus den unterschiedlichen politischen Zielen, Persönlichkeiten und Führungsstilen der konkreten Amtsinhaber. Die "Administratoren" ("Verwalter") unter den Fraktionsvorsitzenden, die sich eher als "ehrliche Makler" denn als Initiatoren von Politik verstanden, bezogen ihre herausragende Stellung entweder daraus, dass sie ihrer Fraktion als Bindeglied zur Regierung, zuweilen auch als deren verlängerter Arm erschienen oder parlamentarische Statthalter von Kanzlerkandidaten ohne Bundestagsmandat waren. Herbert Wehner, der fast 14 Jahre das Amt des Fraktionsvorsitzenden bekleidete, "diente" so "seinen" sozialdemokratischen Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Karl Carstens "hielt drei Jahre lang die Stellung" für Helmut Kohl, bis dieser vom Ministerpräsidentensessel in Rheinland-Pfalz in die Oppositionsführerschaft im Bundestag wechselte. Die "Politiker" unter den Fraktionsvorsitzenden bezogen ihre Autorität aus ihrer Rolle als gleichsam "echte" Oppositionsführer, die als Fraktionsvorsitzende auch Herausforderer des amtierenden Kanzlers waren – so etwa Helmut Kohl und Angela Merkel; die Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt und Wolfgang Schäuble traten eher als innerparteiliche Rivalen und/oder prospektive Nachfolger des amtierenden Kanzlers auf. Die in den Statuten und Organisationsstrukturen der Fraktionen im Grundsatz angelegte Arbeitsteilung und Hierarchisierung erlauben die ganze Bandbreite dieser Vorsitzendenrollen. Die Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden fungieren vor allem als inhaltliche Koordinatoren größerer Sachgebiete und sind für die in diesen Sachgebieten angesiedelten Arbeitsgruppen jeweils "zuständig". Sie ähneln insofern Abteilungsleitern in großen Firmen oder Verwaltungen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer organisieren die Arbeitsabläufe im Alltag des Bundestages. Für die Außendarstellung besonders wichtig ist ihre Funktion, bei Abstimmungen die Präsenz der Abgeordneten und ihr geschlossenes Auftreten zu erreichen. Keineswegs steuern die Parlamentarischen Geschäftsführer aber nur den technisch-prozeduralen Teil des Bundestagsbetriebes. Durch ihre Mitgliedschaft im Geschäftsführenden Vorstand wirken sie auch wesentlich an der Auswahl und Koordination politischer Inhalte für gesetzgeberische Vorhaben mit. Diese engsten Führungszirkel der beiden großen Fraktionen werden ergänzt durch die erweiterten Vorstände. Die in der Regel über 200 Mitglieder umfassenden Fraktionen sind – bei aller Übereinstimmung in ihren jeweiligen politischen Grundsätzen und zentralen Zielen – heterogene Gebilde. Die Abgeordneten der SPD wie der Union unterscheiden sich regional, konfessionell, sozialstrukturell und durchaus auch in ihren politischen und ideologischen Positionen. Um den Zusammenhalt in der Fraktion zu gewährleisten, müssen diese Unterschiede in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen repräsentiert werden. Zu diesem Zweck gibt es im 19. Bundestag in der SPD-Fraktion 25, in der Unionsfraktion 47 weitere Vorstandsmitglieder. Sie fungieren als Mittlerinstanz zwischen Gesamtfraktion und Leitungsebene. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der CDU/CSU, deren erweiterter Vorstand aus den Vorsitzenden der Arbeitsgruppen (gegenwärtig 23), den Vorsitzenden der sechs sogenannten Soziologischen Gruppen und 18 sonstigen gewählten Mitgliedern besteht. Organisation der Bundestagsfraktion der CDU/CSU in der 19. Wahlperiode (© www.cducsu.de/fraktion (Abruf am 27. August 2019)) Die kleineren Fraktionen, die in der Vergangenheit oft nur 30 bis 50 Mitglieder zählten, im 19. Bundestag zwischen 67 und 91, können mit weniger differenzierten Binnenstrukturen auskommen. Organisation der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in der 19. Wahlperiode (© www.gruene-bundestag.de/fraktion (Abruf am 27. August 2019)) Ihre Vorstände entsprechen hinsichtlich Größe und Funktionen den Geschäftsführenden Vorständen der großen Fraktionen; faktisch entfällt bei ihnen die Ebene des erweiterten Vorstandes. Auch die Feingliederung in Arbeitsgruppen muss, wie gezeigt, in den kleineren Fraktionen unterbleiben. In den vergangenen Wahlperioden hatten sie schon häufig Schwierigkeiten, alle Bundestagsausschüsse hinreichend zu besetzen. Am Beispiel: Selbst bei 50 Mitgliedern ergibt sich folgende Rechnung: Da die Angehörigen der Fraktionsführung in der Regel keine Ausschusspositionen übernehmen, stehen gut 40 Personen für diese Aufgaben bereit. Bei über 20 Bundestagsausschüssen könnten also jeweils höchstens zwei Mitglieder entsandt werden. Da für eine Reihe von Ausschüssen den kleineren Fraktion mehrere Sitze zur Verfügung stehen, muss auf Doppelmitgliedschaften zurückgegriffen werden, die eine erhebliche Arbeits- und Zeitbelastung der Abgeordneten darstellen. Dass angesichts solcher Zahlen die Einrichtung von thematisch spiegelbildlich zu den Bundestagsausschüssen geschnittenen Arbeitsgruppen nicht in Frage kommt, ist offenkundig. Stattdessen werden Arbeitskreise eingerichtet, die größere Themengebiete umfassen. Während deren Vorsitzende in der FDP nicht kraft Amtes dem Fraktionsvorstand angehören (aber die Vorsitzenden der Bundestagsausschüsse, die die Freidemokraten stellen), gingen Bündnis 90/Die Grünen 1994 den Weg der Unionsfraktion und nahmen die Arbeitskreisvorsitzenden (sogenannte Koordinatoren) zur besseren sachpolitischen Verzahnung in den Vorstand auf. Seit der 15. Wahlperiode sind die Koordinatoren die Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Dieselbe Konstruktion findet sich bei der Linken und bei der AfD. QuellentextAusstattung und Finanzen der Fraktionen Fraktionszuschüsse (© bpb, Quelle s. Bild) Die hervorgehobene Stellung der (engeren) Fraktionsvorstände wurde im Laufe der Zeit weiter ausgebaut durch die finanzielle und personelle Ausstattung der Fraktionen. Mittlerweile sind die ursprünglich als Sekretariatshilfen angelegten Stäbe zu politischen Dienstleistungsunternehmen mittlerer Betriebsgröße geworden. Bei SPD und CDU/CSU waren im 18. Bundestag 225 bzw. 328, bei den kleinen Fraktionen um die 130 Mitarbeiter beschäftigt. Zur Finanzierung dieses Personals und anderer Ausgaben erhalten die Fraktionen staatliche Zuschüsse. Um ihre auch verfassungsgerichtlich anerkannte Rolle als maßgebliche Akteure im demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess angemessen erfüllen zu können, werden ihnen aus dem Bundeshaushalt jährlich Mittel zugewiesen, über die sie nach dem 1995 in Kraft getretenen Fraktionsgesetz öffentlich Rechnung legen müssen. Fraktionsmitarbeiter (© bpb, Quelle s. Bild) Seit Ende der 1990er-Jahre betrugen diese Zuschüsse um die 60 Millionen Euro jährlich; vor allem durch Veränderungen in der Zahl der Fraktionen und die Vergrößerung des Bundestages sind sie seither auf 88 Millionen (2017) gestiegen. Ohne Zweifel sind diese materiellen Entwicklungen den Arbeitsmöglichkeiten der Fraktionen insgesamt und damit auch den Abgeordneten als Angehörigen ihrer Fraktion zugute gekommen. Die weitgehende Finanzhoheit und Verfügung über das Fraktionspersonal in Händen der (engeren) Vorstände erhöht aber vor allem deren Führungspotenzial. Suzanne S. Schüttemeyer Herstellung der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit Angesichts der Bedeutung der Fraktionen und ihrer meist schon vor dem Wahltag einsetzenden Aktivitäten zur Bildung späterer Koalitionen nimmt die Öffentlichkeit die förmlichen Akte zur Konstituierung des Bundestages meistens gar nicht als Beginn einer neuen Wahlperiode, sondern eher als einen Abschnitt im Prozess der Regierungsbildung wahr. In der Tat erscheint es realitätsgerecht und zum Verständnis der parlamentarischen Demokratie und ihrer Wirkungsweise nötig, den gesamten Prozess in den Blick zu nehmen: von der Organisation der neuen Bundestagsfraktionen, ihren Vorstandswahlen, Ausschuss- und Arbeitsgruppenbesetzungen über die Wahlen des ganzen Bundestages für seine Leitungsgremien und die Schaffung seiner Arbeitsebene bis hin zur Wahl des Kanzlers und damit der Regierungsorganisation. Rechnet man die Zeit, die vom Tag der Bundestagswahl bis zur Vereidigung des neuen Bundeskabinetts verstreicht, so dauerte es von 1949 bis 2009 im Durchschnitt knapp sechs Wochen (zwischen 24 und 65 Tagen), bis die politische Arbeitsfähigkeit vollständig hergestellt war. Schon 2013 gestaltete sich die Regierungsbildung schwieriger als gewöhnlich, und es verstrichen 86 Tage, bevor Angela Merkel nach 2005 zum zweiten Mal zur Kanzlerin einer Großen Koalition gewählt werden konnte. Und 2017 brachte die Bundestagswahl ein Ergebnis hervor, das es noch schwerer machte, eine Regierungsmehrheit zu finden: Die beiden traditionellen Volksparteien CDU/CSU und SPD konnten zusammen nur noch 53,5 Prozent der Stimmen gewinnen, und mit der AfD zog eine sechste Partei in den Bundestag ein. Da sie allen anderen als nicht koalitionsfähig galt, blieben als rechnerisch und politisch mögliche Bündnisse lediglich die sogenannte Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP oder eine Fortsetzung der Großen Koalition übrig. Daher kam es zu langwierigen Vorsondierungen, bevor überhaupt – dann allerdings schnelle – Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden konnten. Zudem band die SPD – wie schon 2013 – die endgültige Entscheidung über eine Fortführung des Bündnisses mit der Union an ein Votum ihrer Mitglieder, was den Zeitraum bis zur Kanzlerwahl weiter verlängerte. Die erste Parlamentssitzung: Geschäftsordnung und Wahl des Bundestagspräsidiums Das Grundgesetz bestimmt, dass das Parlament spätestens dreißig Tage nach der Wahl zusammentreten muss (Art. 39 Abs. 2 GG). Auf dieser Sitzung beschließt es seine Geschäftsordnung. Werden größere Reformen an diesem Regelwerk für die parlamentarische Arbeit für nötig gehalten, werden sie im Laufe einer Wahlperiode nach ausführlichen Beratungen zwischen den Fraktionen vorgenommen. Daher übernimmt das neue Parlament zu Beginn in der Regel die Ordnung des vorangegangenen Bundestages oder modifiziert diese nur leicht. Außerdem werden der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter gewählt. Sie haben vor allem die Aufgabe, die Sitzungen des Bundestages zu leiten; der Bundestagspräsident vertritt das Parlament nach außen und steht protokollarisch nach dem Bundespräsidenten an zweiter Stelle der Ämterordnung. Bundestagspräsident und Vizepräsidenten bilden das Präsidium, das die internen Angelegenheiten des Hauses regelt. Ihre Wahl wird keineswegs spontan vorgenommen, sondern im Vorfeld von den Fraktionen geklärt. Es ist bereits seit den 1950er-Jahren zur parlamentarischen Tradition geworden, dass das Vorschlagsrecht für das Amt des Bundestagspräsidenten bei der größten Fraktion des Bundestages liegt. Ist diese an der Bildung der Bundesregierung beteiligt, so gehört die Position des Bundestagspräsidenten zum Personaltableau der Regierungsbildung. Ihre Besetzung wird von denselben personaltaktischen und politisch-strategischen Erwägungen geleitet wie die Auswahl der Kabinettsmitglieder. Fraktionsspitzen und Kanzler waren bislang in aller Regel darauf bedacht, mit dem Amtsinhaber einen möglichst zuverlässigen Verbündeten an der Spitze der parlamentarischen Alltagsarbeit zu bekommen oder wenigstens einen, der nicht allzu viel politische Eigenständigkeit zu entfalten versprach. Da mit dem Präsidentenamt die Vertretung des ganzen Parlaments nach außen und die unparteiische Sitzungsleitung verbunden sind, obliegt es der vorschlagenden Fraktion aber auch, die gebotene parteipolitische Neutralität im Auge zu behalten und einen für die anderen Fraktionen akzeptablen Kandidaten zu präsentieren. Dass dies bisher gelungen ist, zeigt die Tatsache, dass es seit 1954 keine Gegenkandidaturen mehr gab. Weniger einvernehmlich hat sich rückblickend die Wahl der Vizepräsidenten gestaltet. Zunächst wurde es auch hier rasch zum Brauch, dass jede Fraktion im Präsidium vertreten sein sollte, um an der Leitung des Bundestages teilzunehmen. Im Drei-Fraktionen-Parlament der 1970er- und 1980er-Jahre verständigte man sich auf einen Proporz (Präsident und ein Vize für die stärkste, zwei Vizepräsidenten für die zweite große und ein Vizepräsident für die kleine Fraktion). Der Einzug von Bündnis 90/Die Grünen, später der PDS bzw. der Linken führte zu etlichen Auseinandersetzungen über die Vertretung der kleineren Fraktionen im Präsidium. Mit der 1994 in die Geschäftsordnung eingefügten Regel, wonach jede Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten stellt, wurde eine allseits befriedigende Lösung gefunden. Ihr Funktionieren setzt aber voraus, dass die Akteure nur solche Kandidaten präsentieren, die für die anderen Fraktionen auch wählbar sind. Die Missachtung dieser stillschweigenden Übereinkunft durch die PDS (Vorgängerin der Partei Die Linke) führte 2005 dazu, dass die ihr zustehende Position eines Vizepräsidenten erst nach einem halben Jahr besetzt werden konnte. 2017 scheiterte der von der AfD aufgestellte Kandidat wegen islamfeindlicher Aussagen in drei Wahlgängen im Bundestag. Der Ältestenrat (siehe unten) entschied daraufhin, dass er wegen des offenkundigen Mangels einer Mehrheit nicht ein weiteres Mal kandidieren könne. Da auch die folgenden Kandidaten der AfD die erforderliche Stimmenmehrheit verfehlten, ist/war die AfD mit Stand November 2019 nicht im Präsidium des Bundestages vertreten. Ältestenrat und Parlamentarische Geschäftsführer Wichtiger für den politischen Alltag des Bundestages als das Präsidium ist der Ältestenrat. Er besteht aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und gegenwärtig (im 19. Bundestag) 23 weiteren Abgeordneten, die von den Fraktionen gemäß ihrer Mitgliederzahl benannt werden. Die Bedeutung des Ältestenrats für die Binnenorganisation des Parlaments kann daran abgelesen werden, dass ihm alle Parlamentarischen Geschäftsführer der beiden großen Fraktionen angehören und die kleineren Fraktionen die ihnen jeweils zustehenden Sitze (FDP und AfD je 3, Grüne und Linke je 2) ebenfalls mit ihren Parlamentarischen Geschäftsführern besetzen. Die Geschäftsführer sind die zentrale Schaltstelle für die Steuerung der politischen Arbeitsabläufe in ihren Fraktionen. Sie verständigen sich im Ältestenrat – und häufiger noch in Vorbesprechungen und anderen informellen Zusammenkünften – über den Terminplan des Hohen Hauses, die Sitzungswochen, die Tagesordnung der Plenarsitzungen, zumeist auch über Redezeiten und Zahl der Redner, über Zahl und Größe sowie Vorsitzende und Stellvertreter der Ausschüsse, deren Zeitplanung und Überweisungen von Gesetzentwürfen an die Ausschüsse. Wenngleich es sich bei den Übereinkommen der Geschäftsführer und den Vereinbarungen des Ältestenrates förmlich um Vorschläge an das Plenum des Bundestages handelt, so sind diese faktisch doch gleichbedeutend mit der Entscheidung des Parlaments. Haben sich die Fraktionen, vertreten durch ihre Geschäftsführer, geeinigt, muss das gesamte Plenum nicht mehr mit diesen Gegenständen befasst werden – ein Zeichen für die pragmatische, effizienzorientierte Handhabung der parlamentarischen Arbeit. QuellentextParlamentarische Geschäftsführer Ob förmlich im Ältestenrat oder informell in Gesprächsrunden, mit der Erfüllung dieser Funktionen prägen die Parlamentarischen Geschäftsführer das Parlamentsgeschehen. Welches Thema wann behandelt wird, wer wie lange wozu reden darf, in welchen Strukturen das Parlament seine Arbeit erledigt, welcher Ausschuss in der Hand welcher Fraktion liegt, wird von ihnen entschieden. Selbstverständlich sind sie in diesen Entscheidungen nicht frei: Sie agieren als Repräsentanten ihrer Fraktion, und das heißt, sie müssen den Interessen und Bedürfnissen ihrer Fraktion ebenso folgen, wie sie in der Sache diese führen, ihr vorangehen müssen. Mit den Worten eines langjährigen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der Unionsfraktion, der zusammen mit seinem SPD-Kollegen in den fünfziger und sechziger Jahren Standards und Konventionen für die parlamentarische (Zusammen-)Arbeit setzte, die bis heute Gültigkeit haben: "Die Parlamentarischen Geschäftsführer gehen selten mit vorgefassten Beschlüssen irgendeines Gremiums, aber gelegentlich doch mit Beschlüssen des Vorstandes oder der Fraktion in den Ältestenrat. Sie müssen fast immer ‚wissen‘ oder ‚fühlen‘, was ihre Fraktion will. Sie werden sehr selten von ihren Fraktionen nachträglich desavouiert, und sie werden sehr selten vom Plenum in dem, was sie im Ältestenrat vereinbaren, korrigiert." (Will Rasner) [...] Was zu Recht als Verfahrenshoheit der Parlamentarischen Geschäftsführer bezeichnet wird, darf also nicht als einsame Entscheidungsmacht interpretiert werden. Vielmehr stehen sie in einem Beziehungsgeflecht, in dem sie die Interessen einzelner Abgeordneter, ihrer jeweiligen Fraktion als Ganzes, ihres Fraktionsvorstandes und des Bundestages als Gesamtparlament austarieren müssen. Hinzu kommt ein traditionell gewachsenes, die Fraktionszugehörigkeit übergreifendes Selbstverständnis der Geschäftsführer. Die Äußerung "Wir sind ja eine Gewerkschaft, wir Parlamentarischen Geschäftsführer" verweist auf einen Bestand an gemeinsamen Orientierungen der Amtsinhaber ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. Diese Orientierungen liegen vor allem im Bereich organisatorischer Effizienz und Reibungslosigkeit in den technischen Abläufen parlamentarischer Verfahren. Dies findet auch seinen Niederschlag in dem – zumeist – erfolgreichen Bemühen, im Ältestenrat konsensuale Entscheidungen zur Organisation des Parlamentsbetriebes zu treffen. Suzanne S. Schüttemeyer, "Manager des Parlaments zwischen Effizienz und Offenheit. Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag", in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36–37/97, S. 12 f. Einrichtung und thematischer Zuschnitt der Ausschüsse Bevor der Ältestenrat förmlich eingesetzt ist, trifft sich bereits ein Vor-Ältestenrat, der insbesondere über die Struktur und Besetzung der Ausschüsse des neuen Bundestages berät. Grundsätzlich gilt für die Einsetzung von Ausschüssen das Prinzip der Spiegelbildlichkeit, das heißt, der Bundestag richtet für jedes Ministerium einen Ausschuss ein, um so die fachlich-politische Kontrolle besser organisieren und leisten zu können. Bundestagsausschüsse und Bundesministerien (© www.bundestag.de/ausschuesse (Abruf 22. Oktober 2019)) Ausgenommen vom Prinzip der Spiegelbildlichkeit sind die grundgesetzlich vorgeschriebenen Ausschüsse – weder der Petitionsausschuss noch der EU-Ausschuss haben ein Gegenstück in der Bundesregierung. Das Gleiche gilt für die beiden in jeder Wahlperiode eingesetzten Ausschüsse für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie für den Haushalt. Sie dienen der Selbstorganisation des Parlaments beziehungsweise seiner klassischen Querschnittsaufgabe, die Haushaltspolitik und -führung der Bundesregierung zu überwachen. Im 19. Bundestag finden sich fünf weitere Ausschüsse, die nicht auf ein bestimmtes Ressort der Exekutive bezogen sind: der Sportausschuss, der Tourismusausschuss, der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Ausschuss Digitale Agenda sowie der Ausschuss für Kultur und Medien. Außerdem gibt es im 19. Bundestag nicht nur einen, sondern zwei Ausschüsse, die das Bundesinnenministerium kontrollieren. Als dieses Ressort mit der Regierungsbildung 2018 für die CSU um die Bereiche Bau und Heimat erweitert wurde, richtete der Bundestag gemäß dem Prinzip der Spiegelbildlichkeit zusätzlich den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen ein. Der thematische Zuschnitt der Ausschüsse spiegelt also zum einen politische Schwerpunktsetzungen wider, mit denen der Bundestag deutlich machen will, dass die entsprechenden gesellschaftlichen Belange vom Parlament aufgegriffen werden. Zum anderen kann er das Ergebnis geänderter Strukturen der Regierungsorganisation sein, die ihrerseits sowohl von inhaltlichen als auch von personal- und parteipolitischen Erwägungen bestimmt werden. Besetzung der Ausschüsse Besteht Klarheit über Zahl und Geschäftsbereiche sowie Größe der Ausschüsse, so wird versucht, Einvernehmen darüber herzustellen, welche Fraktion welchen Ausschussvorsitz und welche Stellvertreterpositionen besetzen darf. Zwischen 1949 und 1994 ist es nur einmal misslungen, diese Verteilungsfragen durch Verhandeln zwischen den Geschäftsführern im Ältestenrat zu regeln. Doch seither musste immer das sogenannte Zugreifverfahren angewendet werden. Dabei wird mit Hilfe einer mathematischen Methode, dem Proportionalverfahren von Sainte-Laguë/Schepers, nach der Stärke der Fraktionen ermittelt, in welcher Reihenfolge sie auf einen Ausschussvorsitz bzw. Stellvertreterposten zugreifen dürfen. Diese Form der Besetzung ist sehr viel zufallsabhängiger und erlaubt den Fraktionen deutlich weniger als der Versuch der einvernehmlichen Regelung, bestimmte Präferenzen zum Tragen zu bringen. Ständige Ausschüsse des 19. Bundestags (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 064 113; aktualisiert, Stand: Oktober 2019) Diese Präferenzen ergeben sich aus sachpolitischen und personellen Erwägungen, auch aus Traditionen. So hat sich im Bundestag als guter parlamentarischer Brauch herausgebildet, den Vorsitz im Haushaltsausschuss, einem höchst wichtigen Instrument zur Kontrolle der Regierung, einem Mitglied der Opposition zu überlassen. Will eine Fraktion sich einem politischen Themenbereich besonders widmen, hat sie dies in der Vergangenheit schon getan oder setzt sie aufgrund ihres parteipolitischen Programms bestimmte (neue) sachpolitische Schwerpunkte, so wird sich dies auch in den Ausschusspräferenzen niederschlagen. Ein klassisches Beispiel ist hier die SPD, die traditionell den Vorsitz im Ausschuss für Arbeit und/oder Soziales führt. Auch Seniorität oder personelle Kontinuität spielen gelegentlich eine Rolle beim Zugriff auf einen Ausschuss, wenn eine Fraktion einen erfahrenen Vorsitzenden wieder nominieren möchte. Außerdem gilt im Bundestag, dass nach Möglichkeit ein Mitglied der Opposition die Stellvertretung übernimmt, wenn ein Angehöriger einer Mehrheitsfraktion den Vorsitz innehat und ebenso andersherum. Unter den Zahlenverhältnissen der Großen Koalition ist dieser Brauch allerdings nicht durchgängig aufrechtzuerhalten. Um dem Demokratieprinzip zu genügen – die Wählerinnen und Wähler haben schließlich eine Partei bzw. Koalition mit der Mehrheit ausgestattet und damit zur Entscheidung legitimiert – müssen sich die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse auch in den Gremien des Bundestages wiederfinden. Deshalb wird, ebenfalls nach dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren, entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen im Bundestag errechnet, wie viele Mitglieder jede Fraktion in die verschiedenen Ausschüsse entsenden kann. Zum Beispiel verteilen sich im Haushaltsausschuss, der mit 44 Mitgliedern zu den größten Ausschüssen des Bundestages gehört, die Sitze wie folgt: 15 CDU/CSU, 10 SPD, 6 AfD, 5 FDP, 4 Linke, 4 Bündnis 90/Grüne. Im 21 Mitglieder zählenden Ausschuss Digitale Agenda stellen CDU/CSU 7, SPD 5, AfD 3 und die drei weiteren Fraktionen je zwei Vertreter. Jeder Abgeordnete hat das Recht, einem Ausschuss anzugehören; ist er fraktionslos (was nur noch äußerst selten vorkommt), wird ihm vom Bundestagspräsidenten eine Mitgliedschaft, allerdings nur mit Rede- und Antrags-, jedoch ohne Stimmrecht, zugewiesen. Im Normalfall sind die Fraktionen Herren des Verfahrens zur Ausschussbesetzung. Sie benennen ihre Mitglieder, und sie haben auch das Recht, diese wieder zurückzurufen. QuellentextBedeutung der Ausschüsse Für viele Parlamentsfunktionen ist der Ausschuss weniger wichtig als angenommen, wenn auch nicht verzichtbar. Von der Regierungskontrolle geschieht hier nur der nicht-öffentliche Teil der oppositionellen Kontrolle, die ansonsten öffentlichkeitsorientiert in Plenum und Medien ihren Ort hat, während das interne Controlling der Regierungsmehrheit in den Arbeitskreisen und der Fraktionsführung stattfindet. Die Ausschüsse sind bei der Gesetzgebung meist nur als "Notar" für das Parlament tätig; Vorlagen werden stattdessen in den Ministerien und den Arbeitskreisen der Fraktionen erarbeitet. Die Repräsentationsfunktion findet auf ihrer Input-Seite ebenfalls schwerpunktmäßig in den Arbeitskreisen statt, die Outputseite im Plenum oder in direkten Medienkontakten. Der Ausschuss leistet jedoch einige Arbeit, die innerparlamentarisch von Bedeutung ist, insbesondere mit seiner notariellen Funktion, als letzte inhaltliche Überprüfung von Vorlagen vor der Plenumsphase und als "Plenum in Testphase". [...] Mit der Argumentation im Ausschuss kann weder das Gegenüber noch wie im Plenum eine Zuhörerschaft überzeugt werden; daraus erklärt sich auch die – im Vergleich zum Plenum – relativ gelassene, oft freundliche Stimmung. Der Ausschuss hat seine Funktion darin, die Meinungsbildung der Fraktionen zu prüfen, die "Frontlinien" zwischen ihnen zu klären und Bereiche von Gemeinsamkeiten auszuloten sowie ihre Stellungnahmen quasi notariell zur Kenntnis zu nehmen. Dafür wären wohl gelegentlich auch weniger ausführliche Diskussionen ausreichend. Den einzelnen Abgeordneten kann die Auseinandersetzung allerdings als Übung und Test für die anschließende Rede im Plenum dienen, weil im Ausschuss meist eine höhere Vertraulichkeit und bessere Stimmung herrscht als in der öffentlichen Auseinandersetzung. Jürgen von Oertzen, Das Expertenparlament, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006, S. 247 und 272 Die Praxis der Ausschussbesetzung gestaltet sich in allen Fraktionen nach ähnlichem Muster. Zu Beginn einer Wahlperiode werden die Abgeordneten schriftlich oder in persönlichen Gesprächen von einem Parlamentarischen Geschäftsführer nach ihren Ausschusspräferenzen befragt. In der CDU gibt es einen "Ausschuss zur Besetzung der Ausschüsse", im Jargon "Teppichhändlergremium" genannt, in dem die Parlamentarischen Geschäftsführer und die Vorsitzenden der Landesgruppen aushandeln, wer in welchen Ausschuss geht. Ob Ausschuss oder einzelner Parlamentarischer Geschäftsführer: In allen Fraktionen muss versucht werden, die Wünsche der Abgeordneten mit den Erfordernissen der Gesamtfraktion in Einklang zu bringen: Einerseits ist Sachverstand für die Ausschussarbeit gefragt, andererseits müssen die Fachleute auch in der Lage sein, "über den eigenen Tellerrand" hinauszublicken.Einerseits sollen langjährige Erfahrungen honoriert und genutzt werden, andererseits können "Erbhöfe" das Risiko der Erstarrung und Abschottung gegen neue Ideen und neue Leute bergen.Die besondere Nähe einer Fraktion zu gesellschaftlichen Interessen soll in der Ausschussbesetzung zum Ausdruck kommen, darf aber nicht in Abhängigkeit zu einem Verband oder einer Interessengruppe umschlagen.Die gemeinsame politische Linie einer Fraktion muss zum Tragen kommen, aber auch die innerfraktionellen Unterschiede sind hinreichend zu berücksichtigen. Gelingt der Führung die Ausbalancierung dieser widerstreitenden Anforderungen nicht oder nicht gut genug, drohen Gefahren: Unzufriedene Mitglieder und die mangelhafte Nutzung vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten sind keine guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit. Deshalb wird große Mühe darauf verwandt, die Fraktionsangehörigen in ihre "Wunschausschüsse" zu entsenden, wenigstens als stellvertretende Mitglieder oder über Nachrücklisten zu einem späteren Zeitpunkt. Dass in Fraktionsversammlungen nur gelegentlich Kampfabstimmungen über die Zuteilung von Ausschusssitzen stattfinden, belegt, dass dieses Bemühen in der Regel zum Erfolg führt. Es zeigt aber auch, dass die Fraktionsführungen bei ihren Entscheidungen über die wichtige Ausschussmitgliedschaft im Parlament keineswegs frei sind: Sie müssen die individuellen Interessen der Abgeordneten einbeziehen und mit dem – ja auch von den einzelnen Abgeordneten geteilten – Interesse am Erfolg der gemeinsamen Arbeit abgleichen. Von einer "Unterwerfung" der Fraktionsmitglieder unter ihre Führung kann somit keine Rede sein. Arbeitsalltag der Abgeordneten QuellentextLanger Donnerstag [21:03] Es ist Donnerstag. Der stellvertretende Bundestagspräsident Thomas Oppermann von der SPD übernimmt das Tagungspräsidium. Er löst Hans-Peter Friedrich ab, den Stellvertreter von der CSU. Jetzt […] sind noch achtzig Abgeordnete im Saal. Auf den Rängen sitzen sogar noch Besuchergruppen. Oppermann erlaubt sich ein kurzes Wort: "Mit Rücksicht auf die Mitarbeiter des Hauses" werde er von jetzt an die Redezeit streng überwachen. Je länger das Plenum tagt, desto später ist auch Feierabend für all jene, die im Hintergrund den Parlamentsbetrieb am Laufen halten: die Protokollanten, die Saalordner, die Mitarbeiter in den Fraktionen, das Bundestagsrestaurant. Oppermann kündigt an, wer überziehe, dem werde sogleich das Mikro abgestellt. Zwischenfragen seien nicht mehr zugelassen. Und im Übrigen bitte er darum, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Reden zu Protokoll zu geben. Würden alle geplanten Reden gehalten, müsse man noch lange nach Mitternacht hier sitzen. Sitzungswochen sind für die Bundestagsabgeordneten harte Arbeit, nicht nur donnerstags am Hauptkampftag. Es geht los am Montag, wenn die Parteigremien tagen. Am Dienstag sind die Fraktionssitzungen, am Mittwoch tagt das Bundestagsplenum, vergleichsweise kurz und mit stets gleicher Tagesordnung: Die Regierung wird befragt, danach wird eine Aktuelle Stunde zu einem Thema aufgerufen, das eine der Fraktionen eingebracht hat. Den Rest des Tages verbringen die Abgeordneten in der nicht minder wichtigen Ausschussarbeit, auch das kann bis tief in die Nacht dauern. Am Donnerstag geht es im Plenum morgens um 9 los und dauert oft bis Mitternacht und darüber hinaus. Am Freitag trifft sich alles noch einmal im Plenum, bis zum Nachmittag, dann eilen die Abgeordneten zurück in ihre Wahlkreise. [21:50] Gerade wird Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen, 21 sind es heute insgesamt. […] Tagesordnungen […] sind Sache des Ältestenrates, nachdem zuvor die Fraktionen ihre Ansprüche angemeldet haben. Dem Ältestenrat gehören das Präsidium des Bundestages und 23 weitere Abgeordnete an. Es sind nicht unbedingt die ältesten Parlamentarier, wohl aber erfahrene. Sie tagen in einem speziellen Saal im Reichstagsgebäude, jedes hier gesprochene Wort wird mitgeschnitten. Donnerstags wird die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche festgelegt, im Groben jedenfalls. Die genaue Abstimmung ist dann Sache der Parlamentarischen Geschäftsführer aus den Fraktionen, die sich dienstags in einer etwas kleineren Runde treffen, traditionell koordiniert durch die stärkste Fraktion, also die Union.[...] [22:27] Im Plenum versucht gerade der junge Unionsabgeordnete Christoph Bernstiel auf seine Weise, die Sitzung zu verkürzen. Er ist mit seiner Rede zur Enquetekommission früher fertig als geplant: "Die unverbrauchte Redezeit widme ich den Mitarbeitern des Hauses." Da wird gelacht, aber Oppermann setzt noch eins drauf: "Lieber Kollege, es sind gerade mal 25 Sekunden." Überhaupt der Zeitplan. Donnerstagvormittag und Freitagvormittag gelten im Bundestag als Kernzeiten, weil da die öffentliche, sprich mediale Aufmerksamkeit am größten ist. Dahin möchten am liebsten alle Fraktionen ihre Tagesordnungspunkte legen. Das geht nicht, aber wenigstens soll jeder mal dran sein. Bislang war es eine per Handschlag getroffene Übereinkunft, dass die Koalitionsfraktionen, obwohl sie mehr als die Hälfte aller Wählerstimmen haben, nur die Hälfte der Gesamtredezeit für sich in Anspruch nehmen. Die andere Hälfte steht der Opposition zu. Die Oppositionsfraktionen müssen sich freilich einigen, wie sie das unter sich aufteilen. […] Jeder bekommt mal die beste Sendezeit, es geht reihum. [...] [23:24] Im Plenum geht es jetzt um das Zensusgesetz zur Vorbereitung der nächsten Volkszählung. Die Bundesregierung hat dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, spricht dazu. Dann die AfD. Auch die Grünen reden, weil sie gegen Volkszählungen sind und das auch unbedingt laut sagen wollen. Die anderen Fraktionen geben ihre Reden zu Protokoll. [...] Früher war es üblich, "zu Protokoll zu reden", wie es offiziell heißt. "Reden wir zu Protokoll" war eine vielgebrauchte Wendung: Die Reden wurden nicht gehalten, sondern das Manuskript den Protokollführern übergeben. Manchmal wurden ganze Tagesordnungspunkte zu Protokoll geredet. [...] Lange Sitzungen des Bundestages hat es schon immer gegeben, mit dem Einzug der AfD aber wird es regelmäßig sehr spät. Die mit Abstand längste Sitzung überhaupt war am 24. November 1949: Sie begann um 10 Uhr 30 und endete am nächsten Tag um 6 Uhr 23. Im Plenum ging es damals hoch her, weil der SPD-Fraktionsvorsitzende Kurt Schumacher Regierungschef Konrad Adenauer als "Kanzler der Alliierten" beleidigt hatte und nun ausgeschlossen werden sollte. Einer der längsten Donnerstage seit Beginn dieser Wahlperiode war der 14. Juni des vergangenen Jahres [2018] […]. Am Ende musste das Plenum bis 2 Uhr 03 nachsitzen. [23:50] Das Präsidium hat unterdessen abermals gewechselt, Friedrich ist wieder da. Die letzten Besuchergruppen haben die Tribüne verlassen, eine Schulklasse aus Hamburg darunter. Sie wirkte schon sehr müde. Jetzt sind alle Ränge leer. Und unten hat Oppermanns Mahnung gewirkt. Die diensthabenden Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen haben viel zu tun, dem Tagungspräsidium mitzuteilen, wer alles seine Rede zu Protokoll gibt. […] Jetzt ist das Plenum beim vorletzten Tagesordnungspunkt, es geht um Agrarökologie. [23:59] Im Plenum sitzen jetzt noch etwa sechzig Abgeordnete. Der letzte Tagesordnungspunkt wird aufgerufen. Es geht um Anerkennung der damals sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher als Opfergruppen des Nationalsozialismus. Grüne und FDP haben dazu Anträge vorgelegt. Thomas Hacker von der FDP sagt: "Zu später Stunde ein ernstes Thema." Und tatsächlich sind alle noch einmal aufmerksam, und es gibt eine leise Debatte, bei der sich einiges über deutsche Geschichte und Gedenkkultur lernen lässt. [00:29] Friedrich verkündet: "Die Sitzung ist geschlossen." Der Grüne Konstantin von Notz macht noch ein Selfie mit den Leuten aus seiner Fraktion, die jetzt noch da sind. Die Saaldiener eilen, alles aufzuräumen. Der Bildschirm vor dem Tagungspräsidium wird geputzt. Draußen rollt eine lange Schlange von Taxis an, welche die Abgeordneten zu ihren Quartieren bringen. Einmal brauchte der Bundestag für eine Sitzung nur eine Minute. Das war am 13. März 1974. Der Abgeordnete Becker wurde in den Vermittlungsausschuss gewählt. Frank Pergande, "Nachts ist aller Beifall lau", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7. April 2019, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv Das Freie Mandat Die Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdB) sind keine Einzelkämpfer. Anders als zum Beispiel die Abgeordneten und Senatoren des US-Kongresses, aber genauso wie die Abgeordneten in den parlamentarischen Demokratien Europas, werden sie von den Bürgerinnen und Bürgern vor allem als Vertreter ihrer jeweiligen Partei gewählt. Sie sind aber nicht an Aufträge und Weisungen gebunden – weder von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern noch von Parteien, Verbänden, Interessengruppen oder Unternehmen. Art. 38 GG garantiert ihnen das sogenannte Freie Mandat. Darin findet sich auch die Formulierung, die Abgeordneten seien "nur ihrem Gewissen unterworfen", die zu vielen Missverständnissen Anlass gegeben hat und seither in mancher öffentlichen Debatte emotional überhöht wird. Doch die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten, dass bei den wenigsten Entscheidungen im Parlament das Gewissen als moralisch-sittliche Kategorie ins Spiel kommt. Sie wollten mit der Formulierung lediglich die Weisungsfreiheit der Abgeordneten noch klarer zum Ausdruck bringen und deutlich machen, dass diese sich bei ihren Entscheidungen auf das eigene, allein zu verantwortende Urteil stützen müssen. QuellentextRepräsentation: unverzichtbar und doch oft unverstanden Aus Umfragen ist abzulesen: Parlamentarier genießen keinen guten Ruf mehr, Parlamente verlieren an Ansehen bei Bürgerinnen und Bürgern. Die Wahlbeteiligung sinkt, ebenso die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems. Prüft man die Vorwürfe und Urteile im Einzelnen, so wird aber deutlich, wie widersprüchlich sie sind und auf welchen oft irrigen Ansprüchen und Maßstäben sie beruhen, aber auch, welch schwierige – gleichwohl für moderne komplexe Gesellschaften unabweisbar vernünftige – Regierungsform die repräsentative Demokratie darstellt. Einerseits sollen Politiker Führung ausüben, sollen – auch und gerade – "unpopuläre" Entscheidungen treffen. Andererseits wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Wählerinnen und Wählern folgen, vor allem nicht in deren Privilegien und Positionen einschneiden.Einerseits wird angemahnt, Politik müsse sich am Gemeinwohl ausrichten. Andererseits wird jede Chance genutzt, mit der Veto-Macht von Einzelinteressen zu drohen.Einerseits wird schnelle, pragmatische Entscheidung von Parlamenten und Regierungen gefordert, andererseits die Kurzatmigkeit der Politik kritisiert und langfristig-konzeptionelles Denken vermisst.Einerseits lautet die Forderung, dem Kompromiss den Vorrang vor der als "Parteiengezänk" verunglimpften kontroversen Diskussion zu geben. Andererseits gerät die Glaubwürdigkeit von Politikern in Zweifel, wenn diese um einer nötigen Entscheidung willen von ursprünglichen Positionen abgehen. Teilweise werden sogar Verhandlung und Kompromiss als solche diskreditiert und als Zeichen von Schwäche interpretiert.Einerseits wird das Freie Mandat der Abgeordneten historisch überhöht, der "unabhängige" Abgeordnete idealisiert. Andererseits wird mehr oder minder ausdrücklich das imperative Mandat favorisiert, bei dem ein Abgeordneter an inhaltliche Vorgaben der von ihm Vertretenen gebunden ist, sowie die Unterwerfung der Abgeordneten unter den plebiszitär ermittelten Bürgerwillen.Einerseits lautet die Mehrheitsmeinung, Politiker kümmerten sich nicht um den Wählerwillen, orientierten sich nicht genügend an der "normalen" Alltagswelt und den Interessen der sogenannten Durchschnittsbürger. Andererseits ist der Vorwurf gängig, dem Volk werde nur "aufs Maul geschaut", die Politiker hängten ihr Mäntelchen opportunistisch in den Wind der demoskopisch ermittelten Stimmungen.Einerseits wird Professionalisierung der Politik, also Politik als Beruf, mit äußerster Skepsis betrachtet, insbesondere die finanziellen Begleitumstände dieser Entwicklung. Oft wird der Amateur- und Gelegenheitspolitiker als der erstrebenswerte Typus schlechthin dargestellt. Andererseits wird höchste Professionalität von Parlamenten und Regierungen bei ihrer Aufgabenerfüllung verlangt, werden strenge Maßstäbe an Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Politiker angelegt. Im Populärverständnis erscheint direkte Demokratie als die "eigentliche" Form, die repräsentative Demokratie dagegen als Notlösung, weil Bevölkerungszahl und Großräumigkeit die allzuständige Versammlung aller auf dem Marktplatz nicht mehr zulassen. Dahinter steht die Illusion, es gebe herrschaftsfreie Selbstregierung. Doch die immer wieder vorgetragene Behauptung, die Beteiligung jedes einzelnen an den täglichen Entscheidungen des Gemeinwesens würde ihm seine ursprüngliche Freiheit zurückgeben, kann nicht als überzeugende Argumentation für die Überlegenheit direkter Demokratie dienen. Ein möglichst großes Maß an politischer Freiheit wird in (post-)modernen Gesellschaften vielmehr dadurch hergestellt, dass die Universalität von Herrschaft anerkannt und sodann nach Wegen gesucht wird, ihr Grenzen zu setzen und ihre Ausübung an Regeln zu binden. Schon der Verweis darauf, dass Entscheidungen getroffen werden (müssen) für Nicht-Anwesende und Nicht-Zuständige (zum Beispiel Kinder, Ausländer), für nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich Auseinanderliegendes (heute wird die Klimasituation künftiger Generationen besiegelt), belegt, dass repräsentative Demokratie keine Notlösung ist. Im Gegenteil: Erst parlamentarische Repräsentation ermöglicht es, von der Entweder-oder-Entscheidung durch Mehrheit abzugehen und einen Kompromiss zu suchen, der die widerstreitenden Interessen integriert und damit friedenstiftend wirkt. Dabei müssen Repräsentanten stets den Spagat leisten zwischen politischer Führung und Gefolgschaft. Sie müssen die Positionen der zu Repräsentierenden hören, ihnen nach eigener Abwägung und Urteilsbildung folgen, sie modifizieren oder ihnen widersprechen – und dafür wiederum Folgebereitschaft bei den Repräsentierten suchen. So erweist sich Repräsentation als die ebenso notwendige wie einzig mögliche Form, Herrschaft demokratisch zu organisieren. Suzanne S. Schüttemeyer Seit den frühesten Anfängen des modernen Parlamentarismus gibt es eine Debatte um die Frage, in welchem Ausmaß die Repräsentanten an den Willen der zu Repräsentierenden gebunden sind. Aus einer Rede des englischen Politikers und Staatstheoretikers Edmund Burke an seine Wähler in Bristol 1774 bezog die Parlamentsforschung 200 Jahre später die Unterscheidung zwischen zwei Typen von Abgeordneten: dem trustee und dem delegate. Unter einem trustee wird dabei der in seiner politischen Urteilsbildung freie, der Wählerschaft generell rechenschaftspflichtige Treuhänder verstanden, unter einem delegate der an die Positionen der Wählerinnen und Wähler zwingend gebundene, gleichsam als Sendbote fungierende Beauftragte. QuellentextEdmund Burke zur Rolle politischer Repräsentation, 1774 (Auszug) "[…] es sollte die Freude und der Stolz eines jeden Repräsentanten sein, mit seinen Wählern in der innigsten Eintracht, der engsten Übereinstimmung und der freimütigsten Verbindung zu leben. Deren Wünsche sollten für ihn größtes Gewicht haben, deren Meinung in hohem Respekt stehen, deren Geschäfte uneingeschränkte Aufmerksamkeit verdienen. Es ist seine Pflicht, Ihnen seine Muße, seine Vergnügungen, seine Zufriedenheit zu opfern. Und vor allem hat er stets und in allen Fällen deren Interessen den seinen vorzuziehen. Aber seine unvoreingenommene Meinung, sein reifes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen, die darf er Ihnen nicht opfern – einem einzelnen ebenso wenig wie irgendeinem Kreis existierender Menschen (any set of men living). Diese verdankt er nicht Ihrer Gunst, noch dem Gesetz oder der Verfassung. Sie sind vielmehr ein Vertrauenspfand Gottes (a trust from providence), für dessen Missbrauch er zutiefst verantwortlich ist. Ihr Repräsentant schuldet Ihnen nicht nur seinen Fleiß, sondern sein Urteilsvermögen. Und er verrät Sie, anstatt Ihnen zu dienen, wenn er es Ihrer Meinung zuliebe aufopfern würde. […] Ein gutes Parlamentsmitglied zu sein, ist […] keine leichte Aufgabe. Insbesondere in dieser Zeit, wo die Neigung, in die gefahrvollen Extreme serviler Willfährigkeit oder ungestümer Popularitätssucht zu verfallen, so deutlich ausgeprägt ist." Edmund Burke, "Speech to the Electors of Bristol. On his being declared by the Sheriffs, duly elected one of the Representatives in Parliament for that city. On Thursday, the 3rd of November, 1774". Entnommen aus dem Aufsatz von Winfried Steffani, "Edmund Burke: Zur Vereinbarkeit von freiem Mandat und Fraktionsdisziplin", in: ZParl, 12. Jg. (1981), S. 109–122. Umfragen belegen, dass deutsche Abgeordnete in diesen Entweder-oder-Kategorien anscheinend weder denken noch handeln. Selbstverständlich wollen sie im Regelfall die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler – bzw. der Gruppen, denen sie nach ihrer Annahme ihre Wahl verdanken –, vertreten, denn sie haben diese Interessen als berechtigt erkannt, glauben, ihnen jeweils ein besserer Anwalt sein zu können als andere, und wollen schließlich auch wiedergewählt werden. Genauso sind sich die Parlamentarier aber auch über folgende Gegebenheiten im Klaren: Erstens kennen sie "ihre" Wählerinnen und Wähler gar nicht, und selbst wenn sie darunter ihren Wahlkreis verstehen, so sind dort nur in den seltensten Fällen einhellige politische Positionen anzutreffen, und zu den meisten Gegenständen, über die im Bundestag zu entscheiden ist, gibt es gar keine Positionen.Zweitens kommunizieren nur wenige Bürgerinnen und Bürger direkt mit ihren Abgeordneten und teilen diesen ihre politischen Meinungen zu konkret anstehenden Entscheidungen mit.Drittens gibt es nicht nur so gut wie immer einander widerstreitende Interessen, sondern auch die Prioritäten, die diesen jeweils zugemessen werden, überlagern sich vielfach und ändern sich zudem bei den Wählerinnen und Wählern im Laufe der Zeit.Viertens ist in den parlamentarischen Parteiendemokratien Europas noch in starkem Maße die Vorstellung verbreitet, dass Repräsentation auch dem Gemeinwohl verpflichtet ist. All dies erfordert von den Abgeordneten eigenständige Meinungsbildung und politische Führung in der Sache sowie kompromissorientiertes Verhandeln und Vermitteln. Pragmatisch verbinden sie deshalb die Rollen als Treuhänder und als Sendbote, handeln so, wie es oben für parlamentarische Funktionen dargelegt wurde: responsiv und politisch führend. QuellentextEine typische Sitzungswoche Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Die Zeiten sind lange vorbei, als ein Abgeordneter am Montagmorgen in den Zug steigen konnte, unterwegs die Zeitungen und Briefe aus dem Wahlkreis durcharbeitete und am Nachmittag in Bonn die Sitzungswoche mehr oder weniger gemächlich einläutete. Viele verabschieden sich heute bereits sonntags nach dem Kaffeetrinken von ihrer Familie und setzen sich in den Flieger. Und nicht wenige gehen am Abend noch einmal in ihr Büro, besonders wenn Termine schon am frühen Montagmorgen warten und noch ein wenig vorzubereiten sind. [...] Die Terminkalender der Abgeordneten sind derart aus den Nähten geplatzt, dass immer mehr Sitzungen von ihren "klassischen" Tageszuteilungen auf den Montag gelegt werden. [...] Zu den festen Montagsterminen gehören die Sitzungen der Fraktionsvorstände. Sie bereiten die Abläufe der Woche vor, besprechen also beispielsweise die Punkte, die noch von den eigenen Fachleuten der Fraktion eingehender behandelt werden müssen. Auch strategische Angelegenheiten werden hier erörtert: Welches Thema kann im Laufe der Woche wichtig werden? Wie sollte es im Bundestag am besten aufgegriffen werden? Ist das ein Feld, auf dem man die Regierung oder die Opposition öffentlich "stellen" könnte? Und vor allem: Wo lauern in der schon besprochenen Themenabfolge in Ausschüssen und Plenum Fallstricke? Wo kann die eigene Fraktion besonders wirkungsvoll punkten? Die Fraktionen sind auch operative Teile der Parteien im Parlament. Deshalb stehen die Fraktionsvorstandssitzungen am Montagnachmittag immer wieder auch unter dem Eindruck der Präsidiums- und Vorstandssitzungen der Bundesparteien, die zuvor am Montagmorgen in Berlin getagt haben. [...] Zahlreiche Arbeitskreise, Arbeitsgruppen und Arbeitsgemeinschaften tagen schon am Montag, um die laufenden Gesetzesberatungen, den Stand von Initiativen und Antragsvorhaben durchzusprechen – und zwar jeweils fraktionsintern. [...] An anderer Stelle treffen sich auch montags bereits so genannte Berichterstatter aus den verschiedenen Fraktionen zum gemeinsamen Ausloten, wie die Einigungschancen bei einem Gesetzesvorhaben sind. [...] Der Montag dient jedoch nicht nur dem internen In-Schwung-Bringen der Parlamentsabläufe. Er ist auch geschätzt als Möglichkeit, Parlament und Öffentlichkeit zu verknüpfen, ohne dass sich hinziehende Sitzungen alle Planungen über den Haufen werfen. Es geht vor allem um den Kontakt zwischen Fachpolitik und Fachöffentlichkeit. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Der Dienstag ist der Hauptentscheidungstag im parlamentarischen Geschehen – auch wenn davon nach außen hin direkt wenig sichtbar wird. Denn der Dienstag dient der internen Meinungsfindung innerhalb der einzelnen Fraktionen. Das beginnt schon früh am Morgen. Denn alle Politikfelder, die in dieser Woche gefragt sind, müssen an diesem Tag beackert werden. [...] Ganz gleich, ob ein "kleines" oder "großes" Zuständigkeitsterrain zu überblicken ist – in allen Fraktionsgremien werden die anstehenden Fachberatungen detailliert vorberaten. [...] Es geht über die Mittagszeit weiter mit Vorbesprechungen. Denn jede Fraktion ist im Grunde ein Parlament im Parlament: Jede Fraktion gliedert sich in Gruppen von Abgeordneten, die aus verschiedenen Regionen kommen, die politische Grundströmungen bevorzugen, die gemeinsame Anliegen quer zu den einzelnen Fachgebieten verfolgen. Und das alles wird in regelmäßigen Treffen im Auge behalten. [...] Als zentraler Punkt der Sitzungswoche stellen sich dienstags am frühen Nachmittag die Fraktionssitzungen dar. Hier wird alles gebündelt, was in den vielen Dutzend anderen Fachgremien vorgeklärt worden ist. Hier geben die Vorsitzenden einen Überblick über die aktuelle Lage und erläutern die Strategie. Hier erläutern in den Regierungsfraktionen unter anderem auch der Bundeskanzler und seine Minister die Hintergründe und Zusammenhänge der jüngsten Initiativen. Und hier fallen die herausragenden Vorentscheidungen: Stimmt die Fraktion als Ganzes einem Gesetzesvorhaben zu? [...] Die Fraktionssitzungen sind damit der Ort der Vorentscheidung. So wie die Mehrheitsfraktionen sich entscheiden, so soll es – von Korrekturen im Detail abgesehen – später auch Gesetz werden. Deshalb halten sich vor allem die Koalitionsfraktionen über den Stand ihrer internen Beratungen oft gegenseitig auf dem Laufenden. Und deshalb richtet sich auch das Interesse der Medien auf diese Sitzungen. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Der Ausschusstag fängt früh an. Morgens um acht, spätestens um neun Uhr füllen sich Dutzende von Sitzungssälen mit Leben. [...] Damit sich die Regierungsmitglieder unbeschwert von möglichen Reaktionen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit umfassend informieren können, tagen die Ausschüsse in der Regel nicht öffentlich. [...] Dagegen sind die Expertenanhörungen durch die Ausschüsse in der Regel öffentlich. So kann – etwa durch Übertragungen im Parlamentsfernsehen unter www.bundestag.de – dem Eindruck entgegengetreten werden, dass das Wirken des Bundestages sich im Wesentlichen auf die Reden im Plenum beschränkt. [...] Zwischen, vor und nach den Ausschusssitzungen nutzen weitere Gremien die verbleibende Zeit, um in ihrer Arbeit weiterzukommen. So etwa die Parlamentariergruppen, die sich für einzelne Länder oder Regionen auf der Welt intensiver interessieren und den Kontakt zu den dortigen Parlamentskollegen und Regierungsvertretern pflegen. Der Mittwoch ist zudem regelmäßig der erste Plenarsitzungstag der Woche. Es geht los mit der Regierungsbefragung im Anschluss an die Kabinettsitzung. Ein oder mehrere Bundesminister oder Staatssekretäre unterrichten das Hohe Haus am Mittag über die Beschlüsse, die von der Bundesregierung am Vormittag getroffen worden sind. Dabei können die Abgeordneten auch gezielt nachfragen – deshalb die Bezeichnung "Regierungsbefragung". Es folgt zumeist die Fragestunde, bei der schriftliche Anfragen der Abgeordneten von Regierungsvertretern beantwortet werden und ebenfalls Nachfragen möglich sind – für rund zwei Stunden. An jedem Sitzungstag gibt es sodann die Möglichkeit, eine Aktuelle Stunde in den Sitzungsablauf einzubauen und die ersten regulären Tagesordnungspunkte aufzurufen, also gewissermaßen das Routine-Geschäft der öffentlichen Debatten zu starten. Einen der Schlusspunkte des Tages setzen die Obleute, also die für jedes Arbeitsgebiet von den Fraktionen benannten Verantwortlichen, die untereinander besprechen, wie weit Gesetzesvorhaben gediehen sind. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Ganz im Zeichen des Plenums steht in Sitzungswochen der Donnerstag. In der Frühe gibt es noch die Gelegenheit zu einer Morgenandacht, dann eröffnet der Bundestagspräsident oder einer seiner Stellvertreterinnen und Stellvertreter um Punkt neun Uhr die Plenarsitzung. In der Regel wird sie frühestens zwölf Stunden später wieder geschlossen, häufig genug aber erst nach 14 oder gar 16 Stunden. [...] Es gibt donnerstags von 9 bis 14 Uhr zunächst die so genannte Kernzeit. Dafür werden Themen vorgesehen, die von breitem öffentlichem Interesse sind und die deshalb auch vor vielen Abgeordneten behandelt werden sollen. [...] Der Ältestenrat nutzt die frühen Nachmittagsstunden, um über die Themen der folgenden Sitzungswoche zu beraten, Parlamentariergruppen stimmen sich ab, und immer wieder treffen Abgeordnete auch mit Besuchergruppen aus ihren Wahlkreisen zusammen. Nur Ausschusssitzungen dürfen an Donnerstagen gewöhnlich nicht stattfinden, um Kollisionen mit dem Plenargeschehen von vornherein zu vermeiden. [...] Die Redebeiträge werden grundsätzlich so platziert, dass möglichst Regierung und Opposition im Wechsel zu Wort kommen. Die Großen mehr, die Kleinen weniger. Dafür gibt es die "Berliner Stunde" […]; dabei werden die Reden der Bundes- und Landesminister ihren Bundestagsparteien zumeist zugerechnet. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Freitagmorgen – Moment der Vorfreude. Viele Abgeordnete freuen sich, heute nach fünf langen Tagen ihre Familie wiedersehen zu können. Mancher rollt den Koffer mit ins Reichstagsgebäude, um von der Sitzung schnell aufbrechen und den gebuchten Flieger kriegen zu können. Denn auch im Heimatwahlkreis ist der Freitag traditioneller Sitzungstag – örtliche Stadt- oder Kreisparteitage erwarten die Anwesenheit und aktuelle Vorträge von "ihrer" Frau oder "ihrem" Mann in Berlin. Doch davor steht noch einmal ein Sitzungstag mit einigen zeitlichen Unwägbarkeiten. [...] Stellt die Länderkammer dann die Gesetzesampel erst einmal auf Rot, gibt es die Möglichkeit, im Vermittlungsausschuss mit Vertretern aus Bundestag und Bundesrat zu einem Kompromiss zu kommen, mit dem beide Seiten leben können. Dann muss das Ergebnis des Vermittlungsausschusses erst ein weiteres Mal durch beide Kammern. Oft am Freitag, weil der Vermittlungsausschuss häufig am Mittwoch bis in die späten Abendstunden tagt. Ist hingegen nur die Beteiligung des Bundesrates notwendig und reagiert dieser nach Anrufung des Vermittlungsausschusses mit einem Einspruch, so kann diese Hürde durch erneute Abstimmung im Bundestag beiseite geräumt werden. Allerdings ist zum Zurückweisen dieses Einspruchs eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages notwendig. Die Mehrheit der anwesenden Abgeordneten reicht nicht. Und das bedeutet, dass angesichts der knappen Stimmenverhältnisse auch am Freitag häufig die vollständige Präsenz im Regierungslager erreicht werden muss. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Wer Volksvertreter ist, der ist es rund um die Uhr. Auch am Wochenende. [...] Denn hier ist die Gelegenheit der direkten Begegnung, die Verpflichtung zu ständiger Rechenschaft. Was für andere pures Vergnügen ist, kommt beim Abgeordneten in den offiziellen Terminkalender. [...] Wer nach der Wahl zu seinen Wählern auf Distanz geht, hat kaum Chancen auf eine Wiederwahl oder darauf, von den örtlichen Parteigremien nach vier Jahren wieder aufgestellt zu werden. Besonders zwischen zwei Sitzungswochen bildet das Wochenende auch die einzige Möglichkeit, die während des Aufenthaltes in Berlin angefallenen Dinge im Wahlkreisbüro zu erledigen. [...] Zudem haben die Abgeordneten bereits auf dem Weg ins Parlament oft in der Region Verantwortung für ihre Partei übernommen, sind Mitglieder im Orts- oder Kreisvorstand oder sogar Vorsitzende dieser Gremien. Da ist es ganz besonders wichtig, die örtlichen Parteiangelegenheiten durch Treffen mit Kolleginnen und Kollegen aus Orts- und Kreisparteivorständen in der Hand zu behalten. [...] Regelmäßig ist das Wochenende auch willkommene Gelegenheit, Initiativen zu mehr öffentlicher Wirksamkeit zu verhelfen, die unter der Woche in der Fülle der Themen untergegangen sind. Für Interviews und Hinweise am Samstag oder Sonntag sind die Medien in nachrichtenarmen Zeiten besonders dankbar. Und so können Abgeordnete die nächste Sitzungswoche auch schon publizistisch vorbereiten und selbst aus der zweiten oder dritten Reihe heraus neue Themen setzen – und so vielleicht den Boden für Ideen bereiten, die dann auch in den eigenen Reihen in der folgenden Sitzungswoche größere Chancen haben. Gregor Mayntz, "Eine lange Woche mit langen Tagen", in: Blickpunkt Bundestag Nr. 5 vom Juli 2004, S. 19–30 f. Die Beziehung der Abgeordneten zu Fraktion und Partei Politische Sozialisation: Ebenso pragmatisch wie ihre Beziehung zur Wählerschaft verstehen die Bundestagsmitglieder die Einbindung in ihre politische Gruppe, die Fraktion. Lange bevor sie Abgeordnete wurden, haben sie sich auf der Basis politischer Grundüberzeugungen einer Partei angeschlossen, haben dort Erfahrungen gesammelt und in der Regel etliche Positionen und Ämter bekleidet. Sie haben damit selbst die Politik dieser Partei geprägt und ihre Programmatik beeinflusst. Dies endet keinesfalls mit der Mandatsübernahme, denn die enge Verbindung zur Basis von Partei und Wählerschaft ist für die Repräsentationsaufgabe der MdBs ebenso unverzichtbar wie für ihre Wiederwahl. So ist für die 1990er-Jahre ermittelt worden, dass 35 Prozent der deutschen Bundes- und Landesparlamentarier Vorstandsfunktionen auf Ortsebene wahrnahmen (darunter 16 Prozent als Vorsitzende), 60 Prozent Vorstandsfunktionen auf Kreis- bzw. Unterbezirksebene erfüllten (darunter 22 Prozent als Vorsitzende), 26 Prozent Vorstandsfunktionen auf Bezirksebene (darunter vier Prozent als Vorsitzende) und 24 Prozent Vorstandsfunktionen auf Landesebene innehatten. Lediglich 13 Prozent der Bundes- und Landesparlamentarier bekleideten keine Führungsämter in ihrer Partei, und nur ein verschwindend kleiner Anteil von zwei Prozent war ohne jegliche Parteifunktionen. Eine Umfrage von 2016/2017 unter knapp einem Viertel der Bundestagsabgeordneten ergab ähnliche Werte (Positionen auf Ortsebene: 25,9 Prozent, im Kreis/Unterbezirk: 46,8 Prozent, im Bezirk: 20,1 Prozent, auf Landesebene: 25,1 Prozent). Diese Herkunft und Vernetzung der Abgeordneten bewirken, dass sie sich in ihrer Fraktion grundsätzlich politisch "zuhause" fühlen und wie ihre Fraktionskollegen überzeugt sind, bessere Problemlösungen und Politikkonzepte als andere anbieten zu können. Bemühung um Geschlossenheit: Vor allem wegen dieser Überzeugung gibt es die Übereinstimmung in dem Ziel, entweder die Regierungsmehrheit zu erhalten oder aus der Opposition heraus zu erringen, denn es ist für die Gruppe wie für den einzelnen Abgeordneten erstrebenswerter, die Macht zur Gestaltung, möglicherweise sogar ein hervorgehobenes Amt dafür zu besitzen als die harten Bänke der in diesem Punkt machtlosen Opposition zu drücken. Auf diesen Zusammenhängen, die letztlich der Logik der parlamentarischen Parteiendemokratie entspringen, beruht die Geschlossenheit des Redens und Handelns der Fraktion. Diese Geschlossenheit entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, schon weil ihr Fehlen von der Öffentlichkeit als Zeichen der Schwäche gedeutet wird und die parlaments- oder koalitionsinterne Verhandlungsposition einer Fraktion beeinträchtigt. Vorteile der Arbeitsteilung: In der Alltagsarbeit erkennen die Abgeordneten zudem schnell, dass sie Wirkung nur gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen erzielen können, mehr noch: Dass sie nur dann ihr Mandat verantwortungsvoll ausüben können, wenn sie sich der Arbeitsteilung in der Fraktion stellen und sich diese zunutze machen. Als Repräsentanten nicht nur "der eigenen" Wählerschaft, sondern auch der gesamten Bevölkerung vertreten sie gleichzeitig Individual-, Gruppen- und Gemeinwohlinteressen, müssen zu einer Fülle von Themen Position beziehen und an einer Vielzahl von Regelungen mitwirken. Dies ist leichter möglich, wenn der Abgeordnete sich auf die jeweilige Spezialisierung, die "Zuständigkeit" seiner Kolleginnen und Kollegen ebenso verlassen kann, wie diese auf seine bauen werden. Damit geht er – so der Rechtswissenschaftler Horst Sendler – ein "Geschäft auf Gegenseitigkeit" ein. Und diese Gegenseitigkeit funktioniert auf Dauer nur, wenn die damit einhergehenden gegenseitigen Erwartungen auch erfüllt werden: Jeder versucht um des gemeinsamen Erfolges wie seiner eigenen Profilierung willen, seinen Kolleginnen und Kollegen überzeugende Lösungen auf seinem Sachgebiet zu unterbreiten. Auch wird man der eigenen Gruppe nicht schaden wollen, indem man – leichtfertig oder aus egoistischen Motiven – die gemeinsam gefundene Linie verlässt. Sollte dies aus guten Gründen und nach reiflicher Abwägung doch einmal nötig werden, verhält man sich in der Form loyal, das heißt, die beabsichtigte "Abweichung" wird den Kollegen vorher angekündigt und begründet. Fraktionsdisziplin: Demokratische Politik ist ein "Mannschaftsspiel", und damit das "Mannschaftsziel" erreicht wird, braucht es im Regelfall keinen "Druck von oben", höchstens gelegentlich die Erinnerung oder den Ansporn durch die Teamkollegen oder den Trainer. "Fraktionszwang" ist also der falsche Begriff, um den Grund für die Einigkeit der politischen Mannschaften im Bundestag zu beschreiben. Es handelt sich um das Interesse, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, um die Einsicht, dass dies nur zusammen möglich ist, um gegenseitige Loyalität und das Einhalten gemeinsam ausgeprägter Gruppennormen. Dies ist nicht ohne Kosten, Konflikte und Kompromisse zu erlangen. Innerfraktionelle Einigkeit steht also jeweils am Ende eines Prozesses, der allerlei – keinesfalls immer einfache – Abwägungen von den einzelnen Abgeordneten verlangt. Dies ist kein Zwang, sondern selbst auferlegte und den Mitstreitern ebenso abverlangte Disziplin – "Fraktionsdisziplin". Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen und Verhaltensmuster, die aus den politischen Strukturen der parlamentarischen Demokratie erwachsen, wird verständlich, warum die Bundestagsmitglieder Regeln, die ihre Rechte als Einzelne einschränken, schufen bzw. ihnen einhellig zustimmten. Die überwiegende Orientierung der Abgeordneten an effizienter Arbeit, an parlamentarischer Mitgestaltung und aktiver Teilhabe am Gesetzgebungsprozess begünstigte diese Entwicklung. Die Parlamentarier wollen nicht (nur) die typischen Rollen der Abgeordneten von Mehrheit und Opposition im Redeparlament einnehmen und die Politik der Regierung nach außen darstellen, verteidigen oder kritisieren, sondern sachkundig mitentscheiden. Auch deshalb fügen sie sich in die Funktionsmechanismen des vom Politikwissenschaftler Uwe Thaysen so genannten "Fraktionenparlaments" ein. Dementsprechend hat der Bundestag im Laufe der Jahrzehnte Änderungen seiner Geschäftsordnung zumeist einstimmig beschlossen, haben seine Mitglieder Fraktionsstatuten erlassen, die zum Zwecke reibungsloser und effizienter Geschäftsabläufe die meisten Abgeordnetenrechte zu Kollektivrechten ausgestalten oder Individualrechte zugunsten der Fraktion und ihrer Funktionstüchtigkeit einschränken. Antragsrechte, die für den Gesetzgebungsprozess relevant sind, sind so fast vollständig auf die Fraktion bzw. auf Abgeordnetengruppen in Fraktionsmindeststärke übergegangen. Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern hat das einzelne Bundestagsmitglied nicht das Initiativrecht, darf also nicht allein einen Gesetzentwurf ins Parlament einbringen. Erst in der zweiten Lesung eines Gesetzentwurfs kann jeder bzw. jede Abgeordnete Änderungen beantragen. Solche Anträge müssen allerdings in der Regel zuvor dem Fraktionsvorstand vorgelegt werden. Bei den Fragerechten sind (im Abschnitt über die Kontrollfunktion näher erläuterte) Große und Kleine Anfragen den Fraktionen bzw. Abgeordnetengruppen in Fraktionsmindeststärke vorbehalten. Jedes Bundestagsmitglied kann aber "kurze Einzelfragen" (§105 GO-BT) einreichen, die in der jede Sitzungswoche stattfindenden Fragestunde mündlich oder schriftlich vom fachlich jeweils zuständigen Minister beantwortet werden müssen. Dies wird ebenfalls innerfraktionell durch eine Art Vorprüfung koordiniert: Parlamentarische Geschäftsführer bringen die Fragen der Abgeordneten untereinander und mit anderen Vorhaben der Gesamtfraktion in Einklang, bitten den Antragsteller gelegentlich auch um Änderung oder Zurückstellung. Wie schon dargestellt, liegt zudem die Ausschussbesetzung in den Händen der Fraktionen. Rede- und Stimmrecht schließlich sind unentziehbare Bestandteile des Abgeordnetenstatus. Aber auch diese bleiben nicht ohne Regelung und Kanalisierung seitens der Fraktionen: Die Dauer der Plenardebatten und die Aufteilung der Redezeit auf die Fraktionen werden im Ältestenrat, vor allem durch die dort versammelten Parlamentarischen Geschäftsführer, vereinbart; die Rednerinnen und Redner für die von Fachthemen geprägten Plenarsitzungen werden fraktionsintern aus den Mitgliedern der thematisch befassten Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreise ausgewählt. Steuerungsrolle der Fraktionsführung: Bei politisch brisanten und polarisierten Debatten trifft die Fraktionsführung die Entscheidung über die Rednerliste. Mehr oder weniger explizit werden die Redner dazu verpflichtet, die Meinung der Fraktion, also bei intern kontrovers gebliebenen Fragen jene der Fraktionsmehrheit, darzustellen. Wollen sie darüber hinausgehen oder davon abweichen, sind sie gehalten, dies, wie die Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion beispielhaft formuliert, "der Fraktion rechtzeitig mitzuteilen und mit dem Fraktionsvorstand zu besprechen". Letzteres gilt auch für die Abstimmungen im Plenum. Beabsichtigt ein Abgeordneter, von der in der Fraktionsversammlung vereinbarten Linie abzuweichen, muss er dies dort oder gegenüber dem Fraktionsvorstand mitteilen. Bei knappen Mehrheitsverhältnissen wird die regierungstragende Fraktion bzw. Koalition das Risiko einer Niederlage vermeiden wollen. Deshalb muss sie versuchen, die Kolleginnen oder Kollegen, die abweichende Meinungen vertreten, zu überzeugen. Gelingt dies nicht, wird sie Veränderungen an Inhalten oder Verfahren des jeweiligen Vorhabens erwägen oder es gar vertagen. Aber auch bei soliden Mehrheiten und für die Opposition gilt, dass möglichst alles vermieden wird, um ein Auseinanderfallen der Fraktion über Sachfragen öffentlich deutlich werden zu lassen. Daher ist es durchaus gängig, Abgeordneten, die etwa wegen spezifischer Wahlkreis- oder Gruppeninteressen nicht mit ihrer Fraktion stimmen wollen, das Fernbleiben von der Abstimmung zu ermöglichen. Die solchermaßen straff durchgeplanten Debatten und Abstimmungen sind weitere Indizien für die überwiegende Orientierung der Abgeordneten an Effizienz und Reibungslosigkeit. Aber nicht nur insofern ist der Bundestag ein professionelles Parlament geworden. Berufsstruktur der Abgeordneten Schon 1988 belegten Untersuchungen einen gestiegenen Bildungsgrad des Bundestages: Hatten Anfang der 1950er-Jahre 40 Prozent der MdBs über die Hochschulreife verfügt, war dieser Anteil 30 Jahre später auf zwei Drittel gestiegen und erreichte seit den 1990er-Jahren fast drei Viertel. Knapp 80 Prozent der Abgeordneten des 19. Bundestages gaben an, einen Abschluss an einer Universität, einer Fachhochschule oder Pädagogischen Hochschule gemacht zu haben. Die immer komplexeren Materien, die in einer zunehmend ausdifferenzierten, mehr Transparenz und politische Mitwirkung fordernden Gesellschaft bearbeitet werden müssen, spiegeln sich wider in der Zusammensetzung der Parlamente. Offenbar können auf der politischen Bühne heute fast nur noch Menschen Erfolg haben, die über gehobene Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. QuellentextZusammensetzung der politischen Elite Die folgenden Ausführungen […] unterscheiden eine politische Elite im engeren Sinne (etwa Kabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäre, Fraktionsvorsitzende, Vorsitzende von Parlamentsausschüssen und Parteivorsitzende auf Bundes- wie Landesebene) von einer administrativen Elite (Staatssekretäre, Abteilungsleiter in Ministerien ect.), einer Gewerkschafts- (Vorsitzende auf Bundes- und Landesebene), Medien-, Wirtschafts-, Kulturelite u. a. m. [...] Man kann die hauptsächlich von der Politik lebenden Personen als "politische Klasse" bezeichnen […]. […] Wie auch immer "politische Klasse" [so auch nach Hans Herbert von Arnim Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Politische Beamte, kommunale Wahlbeamte, Bundesverfassungsrichter, Mitarbeiter der Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen] abgegrenzt wird – deren Mehrheit gehört sicherlich nicht zur einflussreichen politischen Elite. Sie arbeitet dieser jedoch zu, kommuniziert mit ihr und fungiert als Rekrutierungsreservoir für sie. Mutterboden und Handlungsraum der politischen Elite, so ließe sich ihre Rolle umreißen. [...] Steigt man auf das Oberdeck der eigentlichen politischen Elite, so wiesen Untersuchungen über Jahrzehnte hinweg nach, dass die politische Elite überwiegend aus der Mittelschicht bzw. "kleinbürgerlichen Verhältnissen" stammte – anders als alle anderen Teileliten (außer der gewerkschaftlichen), deren Herkunft stärker von Oberschicht/oberer Mittelschicht bzw. Bürgertum geprägt war. Politische und wirtschaftliche Elite der Bundesrepublik wiesen somit "eine höchst unterschiedliche soziale Rekrutierung" auf. Deutschland war anders als Großbritannien, Frankreich oder Spanien, wo die Teileliten einen gemeinsamen bürgerlichen Hintergrund haben. Ihm fehlen auch die "ausgesprochenen Elitebildungseinrichtungen", wie sie in anderen führenden westlichen Industrieländern bestehen (z. B. die Grandes Écoles in Frankreich, Eliteuniversitäten in den USA und Großbritannien) und dort ein kohärentes Establishment mit gemeinsamem sozialen Hintergrund, Habitus und Einstellungen hervorbringen. Für die alte Bundesrepublik hingegen waren segregierte Teileliten charakteristisch. Betrachtet man die heutigen Eliten anhand ihrer Väterberufe […], so erscheint jene Mittelschichtthese für die politische Elite nicht mehr überzeugend. Jedenfalls liefert das Bürgertum den relativ größten Anteil Spitzenpolitiker. Innerhalb der politischen Elite lässt sich zudem eine stärker bürgerliche Herkunft der Regierungsmitglieder im Vergleich zu den Angehörigen von Partei- und Parlamentsspitzen ausmachen. Ein analoger Wandel wird für die Regierungschefs der deutschen Länder und die Parteispitzen von SPD und CDU/CSU behauptet. Aufgrund dessen konstatiert der Elitensoziologe Michael Hartmann, es vollziehe sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Italien eine "Verbürgerlichung der politischen Eliten". Diese erkläre sich aus der Mitgliederschrumpfung der Volksparteien und aus veränderten Karrierewegen fort von der innerparteilichen "Ochsentour". Trifft dies zu, so ist eine tiefgreifende Veränderung, eine Annäherung an anglofranzösische Establishmentstrukturen festzustellen. [...] Die politische Elite weist mit fast 90 Prozent Hochschulabsolventen einen ähnlich hohen Bildungsgrad wie die meisten anderen Teileliten auf. [...] Vergleicht man die politische Elite Deutschlands mit der außereuropäischer Demokratien […], so fällt zweierlei ins Auge: der hohe Juristenanteil bei den engeren Spitzen der Politik auch in anderen Ländern einerseits und der in Deutschland geringere Anteil der Oberschicht-Abkömmlinge andererseits. Manche Ausführungen zu Verbürgerlichung und zum Juristen-Anteil bei der deutschen politischen Elite relativieren sich daher. [...] Angesichts dessen, dass […] die soziale und demographische Zusammensetzung der politischen Elite und der Parlamentarier ganz erheblich von der der Bürger abweicht, stellt sich die Frage, ob dies nicht einen Mangel der bundesdeutschen Demokratie darstellt. In der Tat mag es zutreffen, dass die Zusammensetzung den Stil der Politik prägt und emotionale Identifikationen für unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen erschwert. Repräsentationsdefizite haben aber nicht zwangsläufig zur Folge, dass auch die Interessen unterrepräsentierter Gruppen zu kurz kommen. Der Berufspolitiker fungiert zumeist nicht als Vertreter seiner sozialen Herkunftsgruppe. [...] Welche Prägungen erfahren diejenigen, die das Land politisch führen werden? Bedeutsam für Eliteneinstellungen scheint der Sozialisationsfaktor "Elternhaus". Dies gilt bereits für den Eintritt in die Politik, kamen doch nach der Elitenuntersuchung von 1972 nicht weniger als 71 % der Angehörigen der politischen Elite aus politisch engagierten Elternhäusern, die nur 23 % der Bevölkerung ausmachten. Ebenso sprechen auch Übereinstimmungen mit den politischen Orientierungen der Eltern für eine Tradierung politischer Grundeinstellungen. Gegenwärtig geben 71,5 % aller Eliteangehörigen (wohl mehr noch der politischen Elite) an, dass politische Diskussionen in ihrem Elternhaus eine große Rolle spielten. Hinzu kommen dann prägende eigene Erfahrungen. Vor allem während der langen, im frühen Erwachsenenalter beginnenden und von politischer Kommunikation erfüllten Karrierewege, die vor dem Aufstieg zur politischen Spitze zu bewältigen sind, formen sich Einstellungen weiter. Der Meinungsaustausch im Sondermilieu einer politischen Partei dürfte im Sinne parteipolitischer Integration wirken, die demokratische Selektion mag darüber hinaus auch "überaus anpassungsfähige und flexible Menschen" produzieren bzw. an die Spitze befördern. Freundlicher formuliert, Menschen, die gelernt haben, mit unterschiedlichen Interessen umzugehen und mehrheitsgetragene Entscheidungen zu suchen. Schon ältere Studien ergaben, dass Neuparlamentarier eine Sozialisation in eine parlamentarische "Subkultur" durchmachen. In signifikanter Weise nämlich vollzogen sich binnen dreijähriger Bundestagserfahrung Einstellungsveränderungen: so u. a. zur Notwendigkeit öffentlicher Ausschusssitzungen, zum Einfluss der Ministerialbürokratie, zur Informiertheit der Presse, zu Reformblockierungen durch Interessengruppen, zur Wünschbarkeit von Volksentscheiden und zum Vorhandensein von Klassenunterschieden – Vorstellungen, die nach Ablauf einer Legislaturperiode allesamt sehr viel weniger häufig als bei Eintritt ins Parlament geteilt wurden. Ähnliche Einstellungswandel kann man auch in neuerer Zeit erkennen. [...] Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 442 ff. Ein entsprechendes Profil weist auch die Berufsstruktur des Bundestages auf. Diesen Daten zufolge ist das Urteil, der Bundestag sei ein "Beamtenparlament", auf den ersten Blick durchaus zutreffend, denn diese Berufsgruppe ist mit 23,6 Prozent die stärkste im 19. Bundestag. Die Schlussfolgerung, dem Bundestag sei die gemeinhin unterstellte Unbeweglichkeit zu eigen, er sei zu bürokratisch und wahre besonders die Interessen dieser Statusgruppe, erweist sich bei genauerem Hinsehen allerdings als fragwürdig. Berufsstatistik der 19. Wahlperiode nach Fraktionszugehörigkeit (Interner Link: Tabelle als PDF öffnen) (© Melanie Kintz / Malte Cordes, Daten zur Berufsstruktur des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode, in: ZParl, 50. Jg. (2019), H. 1, S. 42–58, S. 49 ff.) Die Gruppe der Beamten umfasst nämlich eine große Bandbreite an Berufen und Tätigkeitsfeldern. Nur 30 Prozent von ihnen sind in der klassischen Verwaltung tätig. Weitere 23 Prozent üben kommunale Wahlämter aus, sind also zwar in einer Verwaltung beschäftigt, haben aber nicht die typische Laufbahn absolviert. Außerdem gibt es 15 Prozent Lehrkräfte aus dem schulischen Bereich und gut 18 Prozent Professoren und Wissenschaftler. Hinzu kommen Richter, Staatsanwälte und Politische Beamte. Diese Tätigkeiten sind bei Weitem zu unterschiedlich, um sie über einen Kamm scheren und daraus Rückschlüsse auf Kompetenz und Leistungsfähigkeit des Parlaments ziehen zu können. Dem Vorwurf, der Bundestag wahre vorrangig die Beamteninteressen, lässt sich aus der Langzeitbeobachtung entgegenhalten, dass das politische Entscheidungsverhalten der Abgeordneten von ihrer Fraktionszugehörigkeit, nicht ihrer sozialstrukturellen Herkunft geprägt wird. Koalitionen aller Beamten über die Fraktionsgrenzen hinweg hat es noch nie gegeben – nicht einmal, wenn es um ihre Statusrechte ging. Dagegen ist es eher vorteilhaft für die Tätigkeit im Parlament, dass sich Abgeordnete im Beamtenstatus wegen der Möglichkeit ihrer Rückkehr in den zuvor ausgeübten Beruf besonderer existenzieller Unabhängigkeit erfreuen. Weibliche Abgeordnete zu Beginn der WP (© bpb, Quelle s. Bild) QuellentextFrauen im Deutschen Bundestag Das in den 1960er-Jahren einsetzende Umdenken in der Gesellschaft hinsichtlich der Rolle der Frauen – verstärkt durch die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre – führte auch zu einer drastischen Steigerung des Anteils weiblicher Abgeordneter im Bundestag. Zunächst lebten die Grünen die Praxis gleicher politischer Teilhabe von Frauen vor, indem sie mittels Quotierung gleich bei ihrem ersten Einzug in den Bundestag 1983 mit 35,7 Prozent Frauen in ihren Reihen aufwarteten – zum Vergleich die anderen Fraktionen in der 10. Wahlperiode: CDU/CSU – 6,7 Prozent, SPD – 10,4 Prozent, FDP – 8,6 Prozent. Es dauerte nicht lange, bis die Grünen – mit über der Hälfte weiblicher Abgeordneter im 11. Bundestag – die anderen Parteien unter erheblichen Zugzwang brachten. Per Quote steigerte die SPD ihren Frauenanteil in der Bundestagsfraktion sukzessive auf knapp 42 Prozent im 19. Bundestag; CDU, CSU und FDP konnten sich zwar innerparteilich nicht auf Quoten einigen, rekrutierten in der Folgezeit aber auch mehr Frauen, die zu Beginn der 19. WP 2017 in der Unionsfraktion knapp 20 Prozent, in der FDP knapp 23 Prozent ausmachen. Die PDS bzw. Linke war seit 1990, sofern sie eine Gruppe oder Fraktion bilden konnte, mit 43 bis 59 Prozent Frauen im Bundestag vertreten (aktuell: 54 Prozent). Die Grünen sind mit 39 Frauen unter 67 Abgeordneten (58 Prozent) Spitzenreiter. Weit abgeschlagen landet die AfD mit nicht einmal elf Prozent. Im europäischen Vergleich liegt der Bundestag heute mit einem knappen Drittel weiblicher Abgeordneter im mittleren Bereich. Insbesondere die skandinavischen Staaten weisen traditionell sehr hohe Frauenanteile auf; Anfang 2018 betrugen diese zwischen 37,4 und 43,5 Prozent. Auch Spanien (39,1), Frankreich (39,0), Belgien (38,0), Slowenien (36,7) und die Niederlande (36,0 Prozent) weisen vergleichsweise hohe Werte auf. Erst auf Platz 13 der EU-Länder rangiert Deutschland mit aktuell 30,7 Prozent Frauen im Bundestag. Die meisten süd- und osteuropäischen Länder kommen auf 10 bis 20 Prozent Frauenanteil in ihren Parlamenten, und die USA nehmen im internationalen Vergleich mit 19,4 Prozent nur Rang 100 ein. Die Tatsache, dass Ruanda den Spitzenplatz innehat und Costa Rica Nummer drei ist, verweist aber auch darauf, solche Daten nur nach Kenntnis weiterer Details des jeweiligen politischen Systems, der gesellschaftlichen Situation und der Politischen Kultur zu interpretieren. Suzanne S. Schüttemeyer Insgesamt lässt sich sagen, dass Angehörige politiknaher Berufe auffällig stark im Bundestag vertreten sind. Personen, die gelernt haben, Zusammenhänge darzustellen und zu vermitteln, die kommunizieren können, mit Gesetzen und deren Anwendung zu tun haben – sie sind es, die besonders leicht den Weg in die Politik finden und den Anforderungen derer entsprechen, die Kandidaten in den Parteien aussuchen und aufstellen. Es sollen Menschen sein, deren Talente, Fähigkeiten und Persönlichkeit die Wählerschaft und die Parteien erwarten lassen, dass sie die im Parlament gestellten Aufgaben gut und erfolgreich erfüllen können. Professionalisierung Diese funktionale Ausrichtung der Abgeordnetenauslese zusammen mit den oben skizzierten Arbeitsstrukturen des Bundestages und den Orientierungen seiner Mitglieder sind wesentliche Ursachen für die Professionalisierung des Parlaments. Hinzu kommt der Aspekt der Mandatsdauer: Zweieinhalb Wahlperioden verbleiben die Abgeordneten durchschnittlich im Bundestag. Zu Beginn der 19. Wahlperiode, also 2017/2018, gehörten ihm fast zehn Prozent der MdBs schon 20 Jahre und länger an; 55 (7,6 Prozent) sind bereits zum fünften Mal, 53 (7,5 Prozent) zum vierten Mal MdB. Das Ideal der Spiegelbildlichkeit: Trotz der unübersehbaren Professionalisierung der Parlamente – und auch entsprechender Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger an deren Leistungsfähigkeit – ist die Spiegelbildlichkeit von sozialer Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer politischen Vertretung eine zählebige Wunschvorstellung der öffentlichen Meinung in allen westlichen Demokratien. Ohne Zweifel fühlen sich die Angehörigen einer Gruppe grundsätzlich mit ihren Interessen am besten aufgehoben, wenn einer oder eine der Ihren sie bei Entscheidungen vertreten kann. Doch die Menschen in modernen Gesellschaften werden nicht nur von einem alleinigen Interesse geleitet, gehören nicht nur zu einer einzigen Gruppe. Früher entschied in allererster Linie die Herkunft, etwa aus einer Arbeiterfamilie oder aus dem katholischen Milieu, über die sozialen und ökonomischen Lebenschancen eines Individuums und prägte damit seine grundlegenden wie meist auch tagespolitischen Ansichten. Heute sind die Individuen geleitet von mannigfaltigen Interessen, deren Wertigkeit sich über die Jahre und Lebensstationen verändern kann und die zuweilen in Widerspruch zueinander stehen, ausgeglichen oder in eine Prioritätenfolge gebracht werden müssen. Eine Frau mittleren Alters mit halbwüchsigen Kindern, die sich zum Wiedereinstieg ins Berufsleben entscheidet, gar eine kleine Firma zu gründen beabsichtigt, kirchengebunden ist und sich um die Qualität der Umwelt für die nächste Generation wie um ihre eigene Rente sorgt – welches ist ihre Gruppe, wer ist die Person, von der sie sich am liebsten bei politischen Entscheidungen vertreten sähe? Mit anderen Worten: Welches ist das Bild, das im Parlament zu spiegeln wäre? Soziale Repräsentativität ist also nur um den Preis völlig unangemessener Vereinfachungen zu erreichen. Entsprechende Vorstellungen vernachlässigen zudem, dass das Parlament den Ausgleich von Interessen zu leisten hat. Verstünden sich seine Mitglieder lediglich als Sendboten ihrer jeweiligen sozialen Gruppe, würden Verhandlungen und Kompromisse schwierig, und das Gemeinwohl geriete aus dem Blick. Normativ angemessener und empirisch erfolgversprechender ist folgende Konstellation: Die Repräsentanten sind mit den Lebensbedingungen, den Interessen und Positionen der Bürgerinnen und Bürger vertraut, sei es durch ihre eigene Herkunft, sei es durch enge Kontakte und ständige Kommunikation. Mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen im politisch-parlamentarischen Betrieb treffen sie die Entscheidungen durch Konflikt, Verhandeln und Kompromiss. Dafür sind sie den Repräsentierten rechenschaftspflichtig und von ihnen abwählbar. QuellentextDie Arbeit im Wahlkreis – Voraussetzung für Repräsentation Die wichtigsten Elemente der Wahlkreisarbeit aus Sicht der Abgeordneten (© Quelle: CITREP.) Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen meist die sehr repräsentativen Tätigkeiten von Abgeordneten: Reden im Parlament, Vorfahrten mit großen Dienstlimousinen, lange Ausschusssitzungen, internationale Kontakte, Interviews in den Medien. Doch die Tätigkeit im und um den Sitz des Bundestages im Berliner Regierungsviertel ist nur die eine Seite des Daseins als Parlamentarier. Mindestens ebenso wichtig ist die vielfältige Aufgabenwahrnehmung in den Wahlkreisen "zu Hause". Schätzungen ergaben, dass Abgeordnete dort rund 40 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen. Jeder Abgeordnete kann eindeutig einem Wahlkreis zugeordnet werden. Denn obgleich nur knapp die Hälfte der MdB direkt gewählt werden, sind die allermeisten in einem Wahlkreis angetreten und verstehen sich später auch als dessen Vertreter im Parlament, selbst wenn sie tatsächlich über die Landesliste eingezogen sind. So gibt es Wahlkreise mit bis zu sechs Abgeordneten der unterschiedlichen Fraktionen. Die Tätigkeit im Wahlkreis stellt eine wichtige Grundlage von Repräsentation dar, denn so wird bei den Menschen vor Ort aufgenommen, wie die Stimmung zu aktuellen politischen Themen ist, wo konkreter Handlungsbedarf gesehen wird oder an welcher Stelle vorhandene Regelungen Lücken haben oder sogar ungewünschte Nebenwirkungen hervorbringen. In einem großen vergleichend angelegten Forschungsprojekt, "Citizens and Representatives in France and Germany" (CITREP), wurde die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten des Bundestages und der Französischen Nationalversammlung vergleichend untersucht. Begleitet wurden insgesamt 64 MdB für jeweils drei Tage bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen, um festzustellen, was sie dort tun, wie sie es tun, und mit wem sie in Kontakt treten. Veranstaltungen von Abgeordneten im Wahlkreis (© Die Abbildung zeigt die Anzahl der besuchten Veranstaltungen im Wahlkreis durch das Projekt CITREP; Basis: 618 Veranstaltungen von 64 Abgeordneten) Die Abgeordneten nehmen im Wahlkreis eine außerordentliche Vielfalt an Terminen wahr. Anders als vermutet stehen hierbei weniger die gesellschaftlichen und damit publikumswirksamen Veranstaltungen im Vordergrund, sondern vor allem werden Behörden und Unternehmen besucht und lokale Parteiarbeit betrieben. Überhaupt beschränken sich die Abgeordneten in ihrer Wahlkreisarbeit keineswegs auf ihre formale Zuständigkeit der Bundespolitik: Oft geht es um lokale Themen, aber auch die Landespolitik wird von ihnen im Wahlkreis regelmäßig behandelt. Offenbar sind sie dort also nicht nur als Vertreter "des Bundes", sondern "der Politik" insgesamt – und nehmen diese umfassende Rolle in der Regel auch selbst an. Immer wieder wird Hilfe im Einzelfall geleistet, teils mit einer erstaunlichen Intensität. […] Aber auch um Hilfe in kleineren Dingen wie Anträgen für Arbeitslosenunterstützung oder Rentenpapieren werden die Abgeordneten immer wieder gebeten. Repräsentation bedeutet allerdings nicht nur, Meinungen und Stimmungen aufzunehmen, sondern umgekehrt auch die eigene Politik, den als richtig erkannten Weg, zu erklären und um Unterstützung dafür zu werben. Die Abgeordneten stellen in ihrem realen Verhalten die Informationsaufnahme im Wahlkreis deutlich in den Vordergrund, ohne aber die Darstellung und Vermittlung der eigenen Position gänzlich zu vernachlässigen. Dennoch ist zu fragen, ob die angetroffene Balance dieser beiden Tätigkeiten richtig ist oder ob nicht etwas mehr Erklären und etwas weniger Zuhören insgesamt förderlich wären. Auch wurde deutlich, dass die Rückspiegelung von Erkenntnissen aus der Wahlkreisarbeit in die Parlamentstätigkeit kaum strukturiert und damit sehr abhängig vom individuellen Geschick des Abgeordneten ist. Insofern können im Wahlkreis aufgenommene Einschätzungen auch irgendwo "versanden". Bei großen, aktuellen Themen hingegen kann es für die Mitglieder der Bundesregierung und insbesondere für die Regierungschefs recht unangenehm in einer Fraktionssitzung werden, wenn Abgeordnete nach einer Wahlkreiswoche dort den gesammelten Frust aus der Bevölkerung ablassen – dies wurde für die "Agenda 2010"-Reformen unter Gerhard Schröder berichtet und für die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Übrigens zeigen die Beobachtungen keine grundsätzlichen Unterschiede im Verhalten von direkt und über die Liste gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, anders als es in verschiedenen Studien vermutet wurde. Auch steht in der Wahlkreispraxis weiterhin der persönliche individuelle Kontakt der Abgeordneten mit Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund, während die klassischen und neuen Medien eine nachrangige Bedeutung haben. Natürlich kann es den Abgeordneten nicht gelingen, alle Menschen in ihrem Wahlkreis einzeln zu erreichen, aber umgekehrt zeigt sich: Wer in Kontakt mit "seinem" Abgeordneten treten möchte, hat dazu im Wahlkreis gute Möglichkeiten. Denn Repräsentation lebt von einer lebendigen Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Sven T. Siefken Das Mandat als Beruf: Es kommt also darauf an, dass die Abgeordneten in der Lage sind, ihre Aufgaben im Parlament und als Bindeglied zu den Bürgerinnen und Bürgern so effektiv wie möglich zu erfüllen. Im Deutschen Bundestag hat dafür – früher und intensiver als in anderen europäischen Parlamenten – eine Entwicklung eingesetzt, in deren Verlauf die Arbeitsbedingungen stetig verbessert wurden. Der Weg zu einem professionellen Parlament war schon in den Anfangsjahren des Bundestages vorgezeichnet worden. In der ersten Wahlperiode waren die Abgeordneten noch davon ausgegangen, dass sie nach etwa zwei Jahren die Kriegsfolgen gesetzgeberisch bewältigt haben und die parlamentarische Arbeit dann in der Regel in einem halben Jahr schaffen würden, um sich die andere Hälfte des Jahres ihrem "normalen" Beruf widmen zu können. Diese Annahme bewahrheitete sich jedoch nicht. Rasch entwickelte sich das Mandat zu einer vollen Berufstätigkeit. Die im Parlament anfallenden Aufgaben und die aus der Gesellschaft gestellten Anforderungen hinsichtlich Umfang, Art und Qualität der Entscheidungen und Regelungen ließen bald nur noch im Ausnahmefall den "Feierabendpolitiker" zu. Diese Tendenzen erhielten weitere Schubkraft, als in den 1960er-Jahren eine Planungseuphorie einsetzte und man hoffte, Politik durch wissenschaftliche Methoden besser steuern zu können. Mitarbeiterstäbe: Mit der Parlamentsreform von 1969 wurden insbesondere die Rahmenbedingungen für die Mandatsausübung verbessert. Bis dahin hatten MdBs ohne herausgehobene Ämter in Fraktion oder Parlament keine nennenswerte Ausstattung und mussten einen guten Teil ihrer Zeit für Büroarbeiten aufwenden. 1969 wurden Zahlungen für Persönliche Mitarbeiter eingeführt. Heute kann jeder Abgeordnete über circa 21.000 Euro monatlich aus dem Bundeshaushalt verfügen, um einen Mitarbeiterstab zu beschäftigen. Deren Zahl stieg von 398 im ersten Jahr auf circa 1000 Ende der 1970er-Jahre und betrug im 18. Bundestag knapp 4800. Zwei Drittel von ihnen arbeiteten in Teilzeit; die Hälfte war für ihre Abgeordneten im Wahlkreis tätig. Welche Bedeutung die Mitarbeiter inzwischen für die Parlamentsarbeit der MdBs haben und wie sich das Profil ihrer Tätigkeit gewandelt hat, zeigt sich schon daran, dass in den 1990er-Jahren lediglich ein Fünftel bis ein Viertel von ihnen als Wissenschaftliche Mitarbeiter eingestuft waren: Heute sind es 42 Prozent. Wissenschaftliche Dienste: Ein weiteres Ergebnis der Parlamentsreform von 1969 war die Einrichtung der Hauptabteilung "Wissenschaftliche Dienste" in der Verwaltung des Bundestages. Die Abgeordneten verlangten für ihre Arbeit bessere Informationsgrundlagen, auch was die wissenschaftliche Qualität betraf. Um dem zu entsprechen, wurden Ausschusssekretariate und andere Unterabteilungen eingerichtet, die Abgeordnete zum Beispiel mit Gutachten versorgen. Außerdem wurden die technisch-organisatorischen Kapazitäten verbessert und eine mittlerweile über 1,5 Millionen Bände umfassende Bibliothek aufgebaut – deutliche Schritte in Richtung auf die Professionalisierung des Parlaments. QuellentextAlleskönner mit Instinkt und Fingerspitzengefühl Sie wurden nicht gewählt, sitzen aber dennoch im Bundestag: Wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützen die Mitglieder des Bundestages bei der Wahrnehmung ihres Mandats. Konnten Abgeordnete noch bis in die 1960er-Jahre ihre Büroarbeit selbst oder allenfalls mithilfe einer Schreibkraft aus der Bundestagsverwaltung bewältigen, ist heute die parlamentarische Tätigkeit eines MdB ohne eigene Mitarbeiter kaum mehr denkbar. Allein schon die Korrespondenz: Wenn Thomas Wierer morgens gegen acht Uhr zur Arbeit kommt, dann warten nicht selten 300 E-Mails, ein dicker Stapel Post und mehrere Presseschauen auf ihn. Diese gilt es zu sichten und zu ordnen, bevor sein Chef, […] im Büro erscheint. "Aus der Flut an Informationen das Wichtige herauszufiltern gehört zu den Fähigkeiten, die ein Abgeordnetenmitarbeiter unbedingt benötigt", sagt Wierer, der seit über 20 Jahren zusammen mit einer Kollegin das Bundestagsbüro […] [seines Abgeordneten] leitet. Damit ist Wierer einer von rund 1700 wissenschaftlichen Mitarbeitern, die laut Statistik der Bundestagsverwaltung in den Büros der Parlamentarier in Berlin und im Wahlkreis tätig sind. "Mit wissenschaftlicher Arbeit wie an einer Universität ist die Tätigkeit im Abgeordnetenbüro nicht vergleichbar", sagt Anna Alexandrakis. Die Bezeichnung sei deshalb etwas irreführend. Die Diplom-Pädagogin muss es wissen: Seit fast 25 Jahren ist sie in diesem Job, leitet seit 17 Jahren das Büro […] [ihres Abgeordneten]. Doch auch der Begriff "Büroleiter" decke das Tätigkeitsprofil eines Abgeordnetenmitarbeiters nicht vollständig ab – unterschlage er doch die fachlichen Kompetenzen. Tatsächlich lassen sich inhaltliche und organisatorische Arbeit im Abgeordnetenbüro kaum voneinander trennen: Die Aufgaben von Referenten wie Wierer und Alexandrakis reichen von der Vorbereitung der Ausschuss- und Arbeitsgruppensitzungen bis zu normalen Bürotätigkeiten. Bei Bürgeranfragen aus dem Wahlkreis erledigen sie die Korrespondenz. Sie betreuen Besuchergruppen, schreiben Pressemitteilungen, pflegen Webseiten und Facebookprofile. Bei Bedarf wird auch getwittert. Kommt eine Interviewanfrage zu einem fachfremden Thema, recherchieren sie den Sachverhalt und verfassen "Sprechzettel". "Der Chef muss sprechfähig sein – jederzeit, in jeder Situation", bringt Wierer die Aufgabe auf den Punkt. Für […] [seinen Abgeordneten] besorgt er Material, holt Stellungnahmen von Experten und Interessenverbänden ein. Meist schreibt er auch Reden, Anträge und Ausschussvorlagen für seinen Chef. Ein erhebliches Arbeitspensum: "Ein normaler Acht- oder Neun-Stunden-Tag reicht meist nicht aus", sagt Thomas Wierer […]. Gerade in Sitzungswochen sind es sogar Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage, die Mitarbeiter eines Abgeordnetenbüros absolvieren. Und trotzdem finden Abgeordnetenmitarbeiter wie Wierer und Alexandrakis oft nur in sitzungsfreien Wochen die Zeit, Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Fachlich versierter Referent und gut organisierter Büroleiter, gewiefter Netzwerker und erfahren im Umgang mit Presse und Social Media: Die Arbeit im Abgeordnetenbüro erfordert Alleskönner. "Wir sind Allrounder", bestätigt Alexandrakis. Wer den Job mache, müsse stets politisch auf dem Laufenden sein, fügt Wierer hinzu: "Ohne den Instinkt, welches Thema für den Abgeordneten wichtig werden könnte, geht es nicht." Das gelte auch für Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen. Ganz wichtig auch: Flexibilität. Sich schnell in Themen einarbeiten oder sich auf neue Situationen einstellen zu können, gehöre zu den Grundvoraussetzungen für den Job. "Will man gerade einen ruhigeren Nachmittag in der sitzungsfreien Woche nutzen, um etwas inhaltlich zu arbeiten – dann klingelt das Telefon und es kommt eine Presseanfrage: Bitte Stellungnahme zur Cyberattacke im Bundestag, bitte in zwei Stunden ein Statement", sagt Alexandrakis und lacht. "Dann war’s das mit der Planung." Eigentlich lasse sich kaum etwas sicher planen, jeder Tag sei anders. Doch genau diese Abwechslung schätzt sie: "Es wird nie langweilig. Es gibt immer wieder neue Themen, die man bearbeitet, man lernt jeden Tag dazu. Das ist der große Reiz." Natürlich sei ein Interesse an Politik für den Job elementar. Politik studiert zu haben dagegen nicht: Auch wenn Politologen neben Juristen unter den wissenschaftlichen Mitarbeiter stark vertreten sind – das Studienfach sei nicht das Entscheidende, haben Wierer und Alexandrakis beobachtet. Ohnehin steigen die meisten über ein Praktikum oder als studentischer Mitarbeiter ein. "In überregionalen Medien ausgeschrieben werden Jobs als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Abgeordneten selten", sagt Alexandrakis. Die Büros scheuten die Flut der Bewerbungen. "Sie haben ja keine Personalabteilung und kein Assessment-Center." Ihre Mitarbeiter fänden Parlamentarier daher eher unter den Engagierten an der Parteibasis, über Empfehlungen sowie fraktionsinterne Ausschreibungen und Jobbörsen. Erfahrene Mitarbeiter sind für Abgeordnete – insbesondere für Parlamentsneulinge – unbezahlbar. Sie sind mit den Mechanismen des Parlamentsbetriebs vertraut und auch als Berater bei der Entscheidungsfindung gefragt: [...] Diese Besonderheit des Arbeitsverhältnisses erfordere zwar nicht unbedingt die gleiche Parteizugehörigkeit, aber zumindest ein hohes Maß an politischer Nähe zwischen dem Abgeordneten und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern: "Man sollte schon auf Parteilinie sein – sonst ist die Arbeit für beide Seiten unbefriedigend und das Vertrauen leidet darunter", stellt Alexandrakis klar. So entwickelt sich zwischen Abgeordneten und Mitarbeitern meist ein enges Vertrauensverhältnis. Sie beraten ihn, halten ihm den Rücken frei, schirmen ihn wenn nötig auch nach außen ab. […] Diese politische Nähe und Loyalität jedoch erschweren einen Jobwechsel. Für einen Abgeordneten einer anderen Partei zu arbeiten – undenkbar. [...] Als Angestellte des Abgeordneten endet das befristete Arbeitsverhältnis, wenn dessen Mandat endet: Das kann alle vier Jahre nach der Wahl sein – zudem wenn der Abgeordnete sein Mandat vorzeitig zurückgibt oder verstirbt. Aufgrund dieser Unsicherheit ist für manche die Tätigkeit nur ein Job auf Zeit. Die dabei erworbenen Kenntnisse gelten als gutes Sprungbrett für eine Karriere in größeren Unternehmen, Verbänden oder Politikberatungen. [...] Externer Link: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw34-mitarbeiter/436372 (Abruf am 27.08.2019) (sas/22.08.2016) Diäten im Deutschen Bundestag 2002 bis 2018 (© Michael F. Feldkamp, Deutscher Bundestag 1998 bis 2017/18: Parlaments- und Wahlstatistik für die 14. bis 19. Wahlperiode, in: ZParl, 49. Jg., H. 2, S. 214) Diäten: Diese Entwicklung zur weiteren Professionalisierung verstärkte im Jahr 1975 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur finanziellen Stellung der Abgeordneten. Das Gericht befand, dass das Mandat eine Vollzeittätigkeit geworden sei – mit Folgen für die Diäten: "Aus der Entschädigung des Inhabers eines Ehrenamtes ist die Bezahlung für die im Parlament geleistete Tätigkeit geworden. Der Abgeordnete [...] erhält nicht mehr bloß eine echte Aufwandsentschädigung, er bezieht aus der Staatskasse ein Einkommen." Und dieses Einkommen müsse, wie im Grundsatz schon in Art. 48 Abs. 3 GG verankert, den Parlamentariern eine ausreichende Existenzgrundlage geben und ihre Unabhängigkeit sichern, zudem der Bedeutung des Amtes, der damit verbundenen Verantwortung und den Belastungen gerecht werden. Ausdrücklich wurde vom BVerfG verfügt, dass die Höhe der Diäten den Abgeordneten die Möglichkeit eröffnen müsse, ihre bisherigen Berufe aufzugeben und sich voll und ganz dem Mandat zu widmen. Auf dieser Grundlage verabschiedete der Bundestag 1976 mit nur wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen das sogenannte Abgeordnetengesetz. Es begründete die Steuerpflichtigkeit der Diäten, führte eine steuerfreie Kostenpauschale für mandatsbedingte Ausgaben, zum Beispiel für die Unterhaltung von Büros, einer Wohnung und für die Lebenshaltung am Parlamentssitz sowie für Reisekosten, ein und regelte die Altersversorgung der MdBs ähnlich den Beamtenpensionen. Nicht über diese Grundstruktur, sehr wohl aber über ihre Ausgestaltung im Einzelnen wurden seither zahlreiche, teilweise hitzige Debatten in Parlament und Öffentlichkeit geführt. Besonders strittig gestaltete sich immer wieder die Frage, ob und um wie viel die Diäten angehoben werden sollten, um sie der allgemeinen Einkommensentwicklung anzupassen. Dabei standen regelmäßig auch der Vergleichsmaßstab zur Diskussion sowie das Problem der "Entscheidung in eigener Sache". Nicht selten wurde in diesem Zusammenhang der Vorwurf der "Selbstbedienung" laut, denn die Abgeordneten müssen ja über ihre eigene Bezahlung befinden. Die Auslagerung in eine externe Kommission ist nur auf den ersten Blick ein Ausweg aus diesem Dilemma. Das zentrale Problem ist erfahrungsgemäß die Transparenz, die öffentliche Sichtbarkeit der Entscheidungsfindung in dieser Sache. In der Vergangenheit haben einzelne Abgeordnete und Fraktionen versucht, die Diätendiskussion populistisch zu nutzen. Sie stellten sich als "Sparer am eigenen Leib" dar und lehnten jegliche Erhöhung ab, auch wenn die Einkünfte der Abgeordneten nachweislich hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückgeblieben waren. Oder sie wollten den leidigen, oft aus allgemeiner Politikverdrossenheit gespeisten Vorwürfen entgehen, indem sie automatische Kopplungen der Diäten etwa an Richtergehälter und ihre Anhebung durch Indexierung der Lebenshaltungskosten vorschlugen. Ersteres dient nicht der sachlichen Klärung des Problems, letzteres verfehlt den demokratischen Anspruch auf möglichst große Transparenz. Vor diesem Hintergrund und angesichts neuerlicher massiver öffentlicher Kritik an der Anpassung der Abgeordnetenentschädigung im Jahre 2011 setzte der Bundestag eine Unabhängige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts ein. Sie bekam den Auftrag, Empfehlungen für die Abgeordnetenentschädigung und das Verfahren zu ihrer künftigen Anpassung sowie für die Altersversorgung der Abgeordneten vorzulegen. Die Kommission entwarf ein Leitbild für Parlament und Abgeordnete unter dem Grundgesetz und begründete fundiert, warum Status, Tätigkeit und Verantwortung von Mitgliedern des Bundestages am ehesten mit denjenigen von Richtern an obersten Bundesgerichten vergleichbar seien: Beiden wird von der Verfassung Weisungsfreiheit garantiert, beide entscheiden mit Wirkung für das gesamte Bundesgebiet. Folglich seien Abgeordnete wie oberste Bundesrichter zu besolden. Anpassungen, also in der Regel Erhöhungen der Bezüge sollten der allgemeinen Entwicklung der Löhne in Deutschland folgen. Als Vergleichsmaßstab hierfür empfahl die Kommission den vom Statistischen Bundesamt jährlich ermittelten Nominallohnindex, der die Verdienstentwicklung von fast 90 Prozent der Erwerbstätigen erfasst. Um dem Gebot möglichst großer Transparenz weiter Rechnung zu tragen, sollte diese Anpassung aber nicht automatisch erfolgen. Vielmehr müsse der Bundestag zu Beginn jeder Wahlperiode einen neuen Beschluss dazu fassen und der Bundestagspräsident jedes Jahr die entsprechenden Zahlen veröffentlichen. 2014 folgte der Bundestag durch eine Änderung des Abgeordnetengesetzes den zentralen Vorschlägen der Kommission. Damit ist nun gewährleistet, dass die Abgeordneten so bezahlt werden, wie es der Bedeutung des Parlamentsmandats angemessen ist und auch die Transparenz des Verfahrens ist dauerhaft gesichert. Gängigen Vorurteilen, die Abgeordneten würden sich selbst zu viel Geld bewilligen, lässt sich mit folgender Berechnung begegnen: 2018 kostete der Bundestag in Summe sämtlicher Zahlungen an Abgeordnete, Mitarbeitergehälter, Sach- und Fraktionsausgaben jeden Einwohner Deutschlands gerade einmal 50 Cent pro Monat. Quellentext"Parlamentarismus“ in der DDR vor 1989 … Die Deutsche Demokratische Republik ist bis 1989/90 eine kommunistische Diktatur gewesen. Insofern kann die Volkskammer nicht auf eine Stufe mit dem Deutschen Bundestag gestellt werden. Erst in ihrer letzten Phase, nachdem die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ihr Machtmonopol verloren hatte, sollte die Volkskammer zu einem demokratischen Parlament werden, zu einem Parlament auf Abruf allerdings. Als die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer zusammentrat, war klar, dass die Einheit und damit ihre Auflösung nur wenige Monate bevorstand.[...] Die sowjetische Besatzungszone entwickelte sich nach 1945 anders als die amerikanische, britische und französische. Die sowjetische Besatzungsmacht ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nicht gewillt war, ein pluralistisches politisches System entwickeln zu lassen. Die Vorherrschaft der Kommunisten wurde immer deutlicher. Im April 1946 kam es zur Zwangsvereinigung von KPD und SPD. Eine neue "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" (SED) errang dank der sowjetischen Besatzungsmacht allmählich ein Machtmonopol. Die beiden anderen Parteien – die CDU und die LDPD – verloren ihre Eigenständigkeit. [...] In der "Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik", die jeweils eine Einheitsliste für die Wahlen aufstellte, waren die Parteien (SED, CDU, LDPD, DBD, NDPD) zusammen mit den Massenorganisationen vereint. Zu ihnen gehörte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauenbund Deutschlands, der Kulturbund der DDR (KB) sowie die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). [...] Die Mandate der Volkskammer, der obersten Volksvertretung der DDR, wurden nach einem vorher festgelegten Schlüssel vergeben. Die SED erhielt 24,5 Prozent der 500 Mandate, die vier Blockparteien bekamen je 10,4 Prozent. Dem FDGB standen 12,2 Prozent zu, der FDJ 7,4, dem DFD 6,4, dem Kulturbund der DDR 4,2 und der VdgB 2,8 Prozent. Die meisten Repräsentanten der Massenorganisationen gehörten zugleich der SED an, so dass diese auch formell eine absolute Mehrheit in der Volkskammer hatte. Das Machtmonopol der SED war damit auf mehrfache Weise gesichert. [...] Die geringe Bedeutung der Volkskammer zeigte sich allein darin, dass sie nur selten zusammentrat. Auf die siebziger Jahre beispielsweise entfielen ganze 34 Sitzungstage. In einem bemerkenswerten Kontrast zur Ohnmacht der Volkskammer stand der Sachverhalt, dass ihre Abgeordneten immer vollzählig erschienen waren. Lediglich ein einziges Mal wurde in der Geschichte der nicht frei gewählten Volkskammer das Prinzip der Einmütigkeit durchbrochen. Im März 1972 gab es im "Ja-Sager"-Parlament bei dem Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung aus den Reihen der CDU 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen. Nach der DDR-Verfassung war der Volkskammer eine Reihe von Verfassungsorganen untergeordnet – der Staatsrat, der Nationale Verteidigungsrat, der Ministerrat, das Oberste Gericht sowie der Generalstaatsanwalt. All diese Organe wurden von der Volkskammer gewählt. Allerdings konnte keine Rede davon sein, dass sich in der Praxis etwa der Staatsrat der Volkskammer "unterordnete". Der Vorsitzende des Staatsrates war zugleich der Generalsekretär des ZK der SED – und damit der mächtigste Mann im Staate. [...] Dem Wahlakt war bereits Genüge getan, wenn der Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurde. Der Bürger hatte keine Entscheidung. Obwohl die Verfassung geheime Wahl vorschrieb, stellte offene Wahl die Regel dar. [...] Offene Wahl galt als Zeichen des Vertrauensbeweises für die Kandidaten der "Nationalen Front". Wer nichts zu verbergen habe, könne sein Vertrauen offen bekunden. Die Wahlbeteiligung lag bei allen Wahlen über 98 Prozent, die Zahl der Ja-Stimmen betrug jedes Mal deutlich über 99 Prozent. Nichts erhellte offenkundiger den Versuch der SED, gesellschaftliche Harmonie vorzutäuschen. [...] Eckhard Jesse, in: Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr. 227, 3. Aufl., Bonn 2000, S. 20 ff. Quellentext... und 1989/90 Ein besonderes Kapitel des Parlamentarismus in Deutschland wurde 1989/90 geschrieben. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur brachte in der DDR allenthalben "Runde Tische" hervor, darunter auch den Zentralen Runden Tisch der DDR (ZRT), der den Anspruch erhob, freie Wahlen in der DDR herbeizuführen, um die DDR schließlich in ein freiheitlich demokratisches Gemeinwesen zu überführen. Der ZRT war nicht gewählt worden. Daher war es nur konsequent, dass seine Mitglieder für den ZRT nicht den Status eines Parlamentes reklamierten. Wohl aber beanspruchten sie, zusammen mit der Volkskammer der DDR die Politik dieser Republik so lange zu kontrollieren, bis auch für diesen Staat ein demokratisches Parlament seine Arbeit aufnehmen werde. Durch die Übernahme dieser Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion wuchs der ZRT aber obendrein und mindestens vorübergehend ebenfalls in die Funktion eines Gesetzgebers der DDR hinein – dies umso mehr, als sich die (alte) Volkskammer im Winter 1989/90 mehr und mehr selbst auflöste. Für die Parlamentarismusforschung war es verblüffend zu beobachten, mit welcher Geschwindigkeit und Zielgenauigkeit sich der ZRT in seiner Organisation und in seinem Verfahren in die Zwangsläufigkeiten klassischer Parlamente hinein bewegte. Nicht anders die erste und einzig frei gewählte Volkskammer (vom 5. April 1990 bis 2. Oktober 1990): Nur für die 38 Sitzungen dieser Volkskammer ist es erlaubt, im hier argumentierten Sinne von Parlamentarismus auch in der DDR zu reden (Patzelt/Schirmer). Die Erfahrung mit und in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR war ein Lehrstück über den Zusammenhang von Partizipation, Transparenz und Effizienz. Die im Sommer 1990 immer aufs Neue improvisierende Volkskammer der DDR war zwar emotional "aufregend"; sie beflügelte jedoch zunehmend den gegenläufigen Ruf nach Ruhe und den Anspruch (nicht nur) der dortigen Bürgerinnen und Bürger auf ein schließlich routinemäßig funktionierendes Parlament. Tatsächlich erfuhren die Bürger dieser Übergangszeit Parlamentarismus als "government by discussion", also Partizipation und Transparenz. Sehr schnell allerdings wurde ihnen die ebenso zutreffende Fortsetzung dieses englischen Satzes zur Gewissheit: "… but it only works if you can stop people talking". Der Vorsitzende der SPD-Volkskammerfraktion, Richard Schröder, unterstrich die Dringlichkeit dieser Weisheit mit dem lakonischen Bonmot, es gäbe so etwas, wie das "Menschenrecht auf handlungsfähige Regierung". Deutlicher kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, wie sehr die demokratische Regierungsweise von der Leistungsfähigkeit ihrer Parlamentsfraktionen, ihrer Funktionstüchtigkeit insgesamt also abhängig ist. Mit spektakulären, aber leerlaufenden Parlamentsaktivitäten – von Fraktionsdisziplin freigestellter Partizipation – ist nämlich am Ende für die Bürgerinnen und Bürger nichts zu gewinnen. Deren Wohlergehen verlangt ein effizientes, das heißt entscheidungsfähiges Regierungssystem. Uwe Thaysen Seit 1999 ist das Reichstagsgebäude am Berliner Spreeufer Sitz des Deutschen Bundestages. Dafür wurde das Bauwerk aus dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend umgestaltet und modernisiert. Im Plenarsaal unter der Glaskuppel erinnern im Januar 2018 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Französischen Nationalversammlung an die Unterzeichnung des Elyséevertrages. (© Bundesregierung, B145 Bild-00398130, Foto: Sandra Steins) Der Parlamentarische Rat suchte […] verfassungspolitische Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen. Dies wird sichtbar, wenn man die Konkretisierung der zentralen Prinzipien des Grundgesetzes – Demokratie, Föderalismus, Rechts- und Sozialstaat – betrachtet. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 vollzog zwar den Übergang zur parlamentarischen Regierung, blieb hierbei jedoch inkonsequent: Sie stellte neben den Reichstag einen direkt gewählten Reichspräsidenten, führte darüber hinaus den Volksentscheid ein und schuf damit drei konkurrierende demokratische Legitimationen. Auch wurde dem Reichstage (infolge des nur negativen Misstrauensvotums, der präsidialen Kanzlerernennung und der präsidialen Notstandsrechte nach Art. 48 WRV) die Flucht aus der Verantwortung ermöglicht – Regelungen, die 1930 die Selbstabdankung des Parlaments und einen scheinbar "legalen" Übergang in die Diktatur erleichtern sollten. Im Sinne moderner Staatsformenlehre war die Weimarer Republik eine semipräsidentielle Demokratie – wie heute Frankreich oder Russland –, nicht eine parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz hat demgegenüber drei Folgerungen gezogen: 1) "Zuweisung des Legitimationsmonopols an das Parlament": Das Grundgesetz sieht nur eine einzige unmittelbar demokratische Legitimation vor: die der Wahl des Parlaments. Alle anderen Staatsorgane leiten sich vom Bundestag bzw. den Landtagen ab und sind entsprechend minder legitimiert. Auch kennt das Grundgesetz – außer bei der Revision von Ländergrenzen – keine plebiszitären Entscheidungen. Diese antiplebiszitäre Haltung wurde mit emotionalisierenden Kampagnen bei Volksentscheiden bzw. -begehren der Weimarer Zeit und mit der Wahl des ehemaligen Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten begründet. […] Die Tatsache, dass die Landesverfassungen überwiegend durch Volksentscheide bestätigt wurden und die Möglichkeit von Volksentscheiden enthalten, zeigt jedoch, dass diese Folgerung des Grundgesetzes aus den Erfahrungen der Vergangenheit keineswegs allgemein als zwingend betrachtet worden ist. 2) "Konsequente Einführung des parlamentarischen Regierungssystems": Das Grundgesetz sucht allein von parlamentarischen Mehrheiten getragene Regierungen zu ermöglichen und diese zu stabilisieren. Dem dient, dass der Bundeskanzler sein Amt einer Wahl durch das Parlament verdankt; er es nur durch ein "konstruktives Misstrauensvotum", d. h. Wahl eines neuen Amtsinhabers verlieren kann; ein Verordnungsrecht des Präsidenten gänzlich entfallen und das der Bundesregierung eng begrenzt worden ist; selbst im Notstandsfalle parlamentarische Entscheidungsrechte und Kontrollen bestehen bleiben. 3) "Anerkennung der verfassungspolitischen Funktion der Parteien": Während die Weimarer Verfassung die Parteien ignorierte, sie lediglich einmal abwehrend mit der Formulierung, die Beamten seien "Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" (Art. 130 WRV), erwähnte und darin anderen älteren demokratischen Verfassungen ähnelte, hat das Grundgesetz der zentralen Rolle politischer Parteien durch ihre Einbeziehung in die Verfassung (Art. 21 GG) Rechnung getragen. Zusammenfassend ist daher das heutige Deutschland als föderale, parlamentarische Demokratie mit parteienstaatlichen Zügen zu bezeichnen. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 33 f. Art 38 [Wahl] (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. […] Art 39 [Zusammentritt und Wahlperiode] (1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. […] Art 40 [Präsident; Geschäftsordnung] (1) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. […] Art 41 [Wahlprüfung] (1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat. […] Art 42 [Öffentlichkeit der Sitzungen; Mehrheitsprinzip] (1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. […] (2) Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. […] Art 43 [Anwesenheit der Bundesregierung] (1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. […] Art 44 [Untersuchungsausschüsse] (1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. […] Art 45 und Art. 45a bis 45d [Ausschüsse; Wehrbeauftragter; Kontrollgremium] […] Art 46 [Indemnität und Immunität der Abgeordneten] […] Art 47 [Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten] […] Art 48 [Ansprüche der Abgeordneten] (1) Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub. (2) Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig. (3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. […]. Von der Wählerstimme zum Mandat: Sitzberechnung nach Sainte-Laguë / Schepers (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbilder 086 131) Zuteilung der Mandate (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 086 140) Bundestagswahlen 1949-2017 (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 088 500) Sitzverteilung im Bundestag (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 088 501) Das arbeitsteilige Fraktionenparlament (© Quelle: www.bundestag.de Basis: Schaubild aus Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 201) Organisation der Bundestagsfraktion der CDU/CSU in der 19. Wahlperiode (© www.cducsu.de/fraktion (Abruf am 27. August 2019)) Organisation der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in der 19. Wahlperiode (© www.gruene-bundestag.de/fraktion (Abruf am 27. August 2019)) Fraktionszuschüsse (© bpb, Quelle s. Bild) Die hervorgehobene Stellung der (engeren) Fraktionsvorstände wurde im Laufe der Zeit weiter ausgebaut durch die finanzielle und personelle Ausstattung der Fraktionen. Mittlerweile sind die ursprünglich als Sekretariatshilfen angelegten Stäbe zu politischen Dienstleistungsunternehmen mittlerer Betriebsgröße geworden. Bei SPD und CDU/CSU waren im 18. Bundestag 225 bzw. 328, bei den kleinen Fraktionen um die 130 Mitarbeiter beschäftigt. Zur Finanzierung dieses Personals und anderer Ausgaben erhalten die Fraktionen staatliche Zuschüsse. Um ihre auch verfassungsgerichtlich anerkannte Rolle als maßgebliche Akteure im demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess angemessen erfüllen zu können, werden ihnen aus dem Bundeshaushalt jährlich Mittel zugewiesen, über die sie nach dem 1995 in Kraft getretenen Fraktionsgesetz öffentlich Rechnung legen müssen. Fraktionsmitarbeiter (© bpb, Quelle s. Bild) Seit Ende der 1990er-Jahre betrugen diese Zuschüsse um die 60 Millionen Euro jährlich; vor allem durch Veränderungen in der Zahl der Fraktionen und die Vergrößerung des Bundestages sind sie seither auf 88 Millionen (2017) gestiegen. Ohne Zweifel sind diese materiellen Entwicklungen den Arbeitsmöglichkeiten der Fraktionen insgesamt und damit auch den Abgeordneten als Angehörigen ihrer Fraktion zugute gekommen. Die weitgehende Finanzhoheit und Verfügung über das Fraktionspersonal in Händen der (engeren) Vorstände erhöht aber vor allem deren Führungspotenzial. Suzanne S. Schüttemeyer Fraktionszuschüsse (© bpb, Quelle s. Bild) Fraktionsmitarbeiter (© bpb, Quelle s. Bild) Ob förmlich im Ältestenrat oder informell in Gesprächsrunden, mit der Erfüllung dieser Funktionen prägen die Parlamentarischen Geschäftsführer das Parlamentsgeschehen. Welches Thema wann behandelt wird, wer wie lange wozu reden darf, in welchen Strukturen das Parlament seine Arbeit erledigt, welcher Ausschuss in der Hand welcher Fraktion liegt, wird von ihnen entschieden. Selbstverständlich sind sie in diesen Entscheidungen nicht frei: Sie agieren als Repräsentanten ihrer Fraktion, und das heißt, sie müssen den Interessen und Bedürfnissen ihrer Fraktion ebenso folgen, wie sie in der Sache diese führen, ihr vorangehen müssen. Mit den Worten eines langjährigen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der Unionsfraktion, der zusammen mit seinem SPD-Kollegen in den fünfziger und sechziger Jahren Standards und Konventionen für die parlamentarische (Zusammen-)Arbeit setzte, die bis heute Gültigkeit haben: "Die Parlamentarischen Geschäftsführer gehen selten mit vorgefassten Beschlüssen irgendeines Gremiums, aber gelegentlich doch mit Beschlüssen des Vorstandes oder der Fraktion in den Ältestenrat. Sie müssen fast immer ‚wissen‘ oder ‚fühlen‘, was ihre Fraktion will. Sie werden sehr selten von ihren Fraktionen nachträglich desavouiert, und sie werden sehr selten vom Plenum in dem, was sie im Ältestenrat vereinbaren, korrigiert." (Will Rasner) [...] Was zu Recht als Verfahrenshoheit der Parlamentarischen Geschäftsführer bezeichnet wird, darf also nicht als einsame Entscheidungsmacht interpretiert werden. Vielmehr stehen sie in einem Beziehungsgeflecht, in dem sie die Interessen einzelner Abgeordneter, ihrer jeweiligen Fraktion als Ganzes, ihres Fraktionsvorstandes und des Bundestages als Gesamtparlament austarieren müssen. Hinzu kommt ein traditionell gewachsenes, die Fraktionszugehörigkeit übergreifendes Selbstverständnis der Geschäftsführer. Die Äußerung "Wir sind ja eine Gewerkschaft, wir Parlamentarischen Geschäftsführer" verweist auf einen Bestand an gemeinsamen Orientierungen der Amtsinhaber ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. Diese Orientierungen liegen vor allem im Bereich organisatorischer Effizienz und Reibungslosigkeit in den technischen Abläufen parlamentarischer Verfahren. Dies findet auch seinen Niederschlag in dem – zumeist – erfolgreichen Bemühen, im Ältestenrat konsensuale Entscheidungen zur Organisation des Parlamentsbetriebes zu treffen. Suzanne S. Schüttemeyer, "Manager des Parlaments zwischen Effizienz und Offenheit. Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag", in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36–37/97, S. 12 f. Bundestagsausschüsse und Bundesministerien (© www.bundestag.de/ausschuesse (Abruf 22. Oktober 2019)) Ständige Ausschüsse des 19. Bundestags (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 064 113; aktualisiert, Stand: Oktober 2019) Für viele Parlamentsfunktionen ist der Ausschuss weniger wichtig als angenommen, wenn auch nicht verzichtbar. Von der Regierungskontrolle geschieht hier nur der nicht-öffentliche Teil der oppositionellen Kontrolle, die ansonsten öffentlichkeitsorientiert in Plenum und Medien ihren Ort hat, während das interne Controlling der Regierungsmehrheit in den Arbeitskreisen und der Fraktionsführung stattfindet. Die Ausschüsse sind bei der Gesetzgebung meist nur als "Notar" für das Parlament tätig; Vorlagen werden stattdessen in den Ministerien und den Arbeitskreisen der Fraktionen erarbeitet. Die Repräsentationsfunktion findet auf ihrer Input-Seite ebenfalls schwerpunktmäßig in den Arbeitskreisen statt, die Outputseite im Plenum oder in direkten Medienkontakten. Der Ausschuss leistet jedoch einige Arbeit, die innerparlamentarisch von Bedeutung ist, insbesondere mit seiner notariellen Funktion, als letzte inhaltliche Überprüfung von Vorlagen vor der Plenumsphase und als "Plenum in Testphase". [...] Mit der Argumentation im Ausschuss kann weder das Gegenüber noch wie im Plenum eine Zuhörerschaft überzeugt werden; daraus erklärt sich auch die – im Vergleich zum Plenum – relativ gelassene, oft freundliche Stimmung. Der Ausschuss hat seine Funktion darin, die Meinungsbildung der Fraktionen zu prüfen, die "Frontlinien" zwischen ihnen zu klären und Bereiche von Gemeinsamkeiten auszuloten sowie ihre Stellungnahmen quasi notariell zur Kenntnis zu nehmen. Dafür wären wohl gelegentlich auch weniger ausführliche Diskussionen ausreichend. Den einzelnen Abgeordneten kann die Auseinandersetzung allerdings als Übung und Test für die anschließende Rede im Plenum dienen, weil im Ausschuss meist eine höhere Vertraulichkeit und bessere Stimmung herrscht als in der öffentlichen Auseinandersetzung. Jürgen von Oertzen, Das Expertenparlament, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006, S. 247 und 272 [21:03] Es ist Donnerstag. Der stellvertretende Bundestagspräsident Thomas Oppermann von der SPD übernimmt das Tagungspräsidium. Er löst Hans-Peter Friedrich ab, den Stellvertreter von der CSU. Jetzt […] sind noch achtzig Abgeordnete im Saal. Auf den Rängen sitzen sogar noch Besuchergruppen. Oppermann erlaubt sich ein kurzes Wort: "Mit Rücksicht auf die Mitarbeiter des Hauses" werde er von jetzt an die Redezeit streng überwachen. Je länger das Plenum tagt, desto später ist auch Feierabend für all jene, die im Hintergrund den Parlamentsbetrieb am Laufen halten: die Protokollanten, die Saalordner, die Mitarbeiter in den Fraktionen, das Bundestagsrestaurant. Oppermann kündigt an, wer überziehe, dem werde sogleich das Mikro abgestellt. Zwischenfragen seien nicht mehr zugelassen. Und im Übrigen bitte er darum, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Reden zu Protokoll zu geben. Würden alle geplanten Reden gehalten, müsse man noch lange nach Mitternacht hier sitzen. Sitzungswochen sind für die Bundestagsabgeordneten harte Arbeit, nicht nur donnerstags am Hauptkampftag. Es geht los am Montag, wenn die Parteigremien tagen. Am Dienstag sind die Fraktionssitzungen, am Mittwoch tagt das Bundestagsplenum, vergleichsweise kurz und mit stets gleicher Tagesordnung: Die Regierung wird befragt, danach wird eine Aktuelle Stunde zu einem Thema aufgerufen, das eine der Fraktionen eingebracht hat. Den Rest des Tages verbringen die Abgeordneten in der nicht minder wichtigen Ausschussarbeit, auch das kann bis tief in die Nacht dauern. Am Donnerstag geht es im Plenum morgens um 9 los und dauert oft bis Mitternacht und darüber hinaus. Am Freitag trifft sich alles noch einmal im Plenum, bis zum Nachmittag, dann eilen die Abgeordneten zurück in ihre Wahlkreise. [21:50] Gerade wird Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen, 21 sind es heute insgesamt. […] Tagesordnungen […] sind Sache des Ältestenrates, nachdem zuvor die Fraktionen ihre Ansprüche angemeldet haben. Dem Ältestenrat gehören das Präsidium des Bundestages und 23 weitere Abgeordnete an. Es sind nicht unbedingt die ältesten Parlamentarier, wohl aber erfahrene. Sie tagen in einem speziellen Saal im Reichstagsgebäude, jedes hier gesprochene Wort wird mitgeschnitten. Donnerstags wird die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche festgelegt, im Groben jedenfalls. Die genaue Abstimmung ist dann Sache der Parlamentarischen Geschäftsführer aus den Fraktionen, die sich dienstags in einer etwas kleineren Runde treffen, traditionell koordiniert durch die stärkste Fraktion, also die Union.[...] [22:27] Im Plenum versucht gerade der junge Unionsabgeordnete Christoph Bernstiel auf seine Weise, die Sitzung zu verkürzen. Er ist mit seiner Rede zur Enquetekommission früher fertig als geplant: "Die unverbrauchte Redezeit widme ich den Mitarbeitern des Hauses." Da wird gelacht, aber Oppermann setzt noch eins drauf: "Lieber Kollege, es sind gerade mal 25 Sekunden." Überhaupt der Zeitplan. Donnerstagvormittag und Freitagvormittag gelten im Bundestag als Kernzeiten, weil da die öffentliche, sprich mediale Aufmerksamkeit am größten ist. Dahin möchten am liebsten alle Fraktionen ihre Tagesordnungspunkte legen. Das geht nicht, aber wenigstens soll jeder mal dran sein. Bislang war es eine per Handschlag getroffene Übereinkunft, dass die Koalitionsfraktionen, obwohl sie mehr als die Hälfte aller Wählerstimmen haben, nur die Hälfte der Gesamtredezeit für sich in Anspruch nehmen. Die andere Hälfte steht der Opposition zu. Die Oppositionsfraktionen müssen sich freilich einigen, wie sie das unter sich aufteilen. […] Jeder bekommt mal die beste Sendezeit, es geht reihum. [...] [23:24] Im Plenum geht es jetzt um das Zensusgesetz zur Vorbereitung der nächsten Volkszählung. Die Bundesregierung hat dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, spricht dazu. Dann die AfD. Auch die Grünen reden, weil sie gegen Volkszählungen sind und das auch unbedingt laut sagen wollen. Die anderen Fraktionen geben ihre Reden zu Protokoll. [...] Früher war es üblich, "zu Protokoll zu reden", wie es offiziell heißt. "Reden wir zu Protokoll" war eine vielgebrauchte Wendung: Die Reden wurden nicht gehalten, sondern das Manuskript den Protokollführern übergeben. Manchmal wurden ganze Tagesordnungspunkte zu Protokoll geredet. [...] Lange Sitzungen des Bundestages hat es schon immer gegeben, mit dem Einzug der AfD aber wird es regelmäßig sehr spät. Die mit Abstand längste Sitzung überhaupt war am 24. November 1949: Sie begann um 10 Uhr 30 und endete am nächsten Tag um 6 Uhr 23. Im Plenum ging es damals hoch her, weil der SPD-Fraktionsvorsitzende Kurt Schumacher Regierungschef Konrad Adenauer als "Kanzler der Alliierten" beleidigt hatte und nun ausgeschlossen werden sollte. Einer der längsten Donnerstage seit Beginn dieser Wahlperiode war der 14. Juni des vergangenen Jahres [2018] […]. Am Ende musste das Plenum bis 2 Uhr 03 nachsitzen. [23:50] Das Präsidium hat unterdessen abermals gewechselt, Friedrich ist wieder da. Die letzten Besuchergruppen haben die Tribüne verlassen, eine Schulklasse aus Hamburg darunter. Sie wirkte schon sehr müde. Jetzt sind alle Ränge leer. Und unten hat Oppermanns Mahnung gewirkt. Die diensthabenden Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen haben viel zu tun, dem Tagungspräsidium mitzuteilen, wer alles seine Rede zu Protokoll gibt. […] Jetzt ist das Plenum beim vorletzten Tagesordnungspunkt, es geht um Agrarökologie. [23:59] Im Plenum sitzen jetzt noch etwa sechzig Abgeordnete. Der letzte Tagesordnungspunkt wird aufgerufen. Es geht um Anerkennung der damals sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher als Opfergruppen des Nationalsozialismus. Grüne und FDP haben dazu Anträge vorgelegt. Thomas Hacker von der FDP sagt: "Zu später Stunde ein ernstes Thema." Und tatsächlich sind alle noch einmal aufmerksam, und es gibt eine leise Debatte, bei der sich einiges über deutsche Geschichte und Gedenkkultur lernen lässt. [00:29] Friedrich verkündet: "Die Sitzung ist geschlossen." Der Grüne Konstantin von Notz macht noch ein Selfie mit den Leuten aus seiner Fraktion, die jetzt noch da sind. Die Saaldiener eilen, alles aufzuräumen. Der Bildschirm vor dem Tagungspräsidium wird geputzt. Draußen rollt eine lange Schlange von Taxis an, welche die Abgeordneten zu ihren Quartieren bringen. Einmal brauchte der Bundestag für eine Sitzung nur eine Minute. Das war am 13. März 1974. Der Abgeordnete Becker wurde in den Vermittlungsausschuss gewählt. Frank Pergande, "Nachts ist aller Beifall lau", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7. April 2019, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv Aus Umfragen ist abzulesen: Parlamentarier genießen keinen guten Ruf mehr, Parlamente verlieren an Ansehen bei Bürgerinnen und Bürgern. Die Wahlbeteiligung sinkt, ebenso die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems. Prüft man die Vorwürfe und Urteile im Einzelnen, so wird aber deutlich, wie widersprüchlich sie sind und auf welchen oft irrigen Ansprüchen und Maßstäben sie beruhen, aber auch, welch schwierige – gleichwohl für moderne komplexe Gesellschaften unabweisbar vernünftige – Regierungsform die repräsentative Demokratie darstellt. Einerseits sollen Politiker Führung ausüben, sollen – auch und gerade – "unpopuläre" Entscheidungen treffen. Andererseits wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Wählerinnen und Wählern folgen, vor allem nicht in deren Privilegien und Positionen einschneiden.Einerseits wird angemahnt, Politik müsse sich am Gemeinwohl ausrichten. Andererseits wird jede Chance genutzt, mit der Veto-Macht von Einzelinteressen zu drohen.Einerseits wird schnelle, pragmatische Entscheidung von Parlamenten und Regierungen gefordert, andererseits die Kurzatmigkeit der Politik kritisiert und langfristig-konzeptionelles Denken vermisst.Einerseits lautet die Forderung, dem Kompromiss den Vorrang vor der als "Parteiengezänk" verunglimpften kontroversen Diskussion zu geben. Andererseits gerät die Glaubwürdigkeit von Politikern in Zweifel, wenn diese um einer nötigen Entscheidung willen von ursprünglichen Positionen abgehen. Teilweise werden sogar Verhandlung und Kompromiss als solche diskreditiert und als Zeichen von Schwäche interpretiert.Einerseits wird das Freie Mandat der Abgeordneten historisch überhöht, der "unabhängige" Abgeordnete idealisiert. Andererseits wird mehr oder minder ausdrücklich das imperative Mandat favorisiert, bei dem ein Abgeordneter an inhaltliche Vorgaben der von ihm Vertretenen gebunden ist, sowie die Unterwerfung der Abgeordneten unter den plebiszitär ermittelten Bürgerwillen.Einerseits lautet die Mehrheitsmeinung, Politiker kümmerten sich nicht um den Wählerwillen, orientierten sich nicht genügend an der "normalen" Alltagswelt und den Interessen der sogenannten Durchschnittsbürger. Andererseits ist der Vorwurf gängig, dem Volk werde nur "aufs Maul geschaut", die Politiker hängten ihr Mäntelchen opportunistisch in den Wind der demoskopisch ermittelten Stimmungen.Einerseits wird Professionalisierung der Politik, also Politik als Beruf, mit äußerster Skepsis betrachtet, insbesondere die finanziellen Begleitumstände dieser Entwicklung. Oft wird der Amateur- und Gelegenheitspolitiker als der erstrebenswerte Typus schlechthin dargestellt. Andererseits wird höchste Professionalität von Parlamenten und Regierungen bei ihrer Aufgabenerfüllung verlangt, werden strenge Maßstäbe an Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Politiker angelegt. Im Populärverständnis erscheint direkte Demokratie als die "eigentliche" Form, die repräsentative Demokratie dagegen als Notlösung, weil Bevölkerungszahl und Großräumigkeit die allzuständige Versammlung aller auf dem Marktplatz nicht mehr zulassen. Dahinter steht die Illusion, es gebe herrschaftsfreie Selbstregierung. Doch die immer wieder vorgetragene Behauptung, die Beteiligung jedes einzelnen an den täglichen Entscheidungen des Gemeinwesens würde ihm seine ursprüngliche Freiheit zurückgeben, kann nicht als überzeugende Argumentation für die Überlegenheit direkter Demokratie dienen. Ein möglichst großes Maß an politischer Freiheit wird in (post-)modernen Gesellschaften vielmehr dadurch hergestellt, dass die Universalität von Herrschaft anerkannt und sodann nach Wegen gesucht wird, ihr Grenzen zu setzen und ihre Ausübung an Regeln zu binden. Schon der Verweis darauf, dass Entscheidungen getroffen werden (müssen) für Nicht-Anwesende und Nicht-Zuständige (zum Beispiel Kinder, Ausländer), für nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich Auseinanderliegendes (heute wird die Klimasituation künftiger Generationen besiegelt), belegt, dass repräsentative Demokratie keine Notlösung ist. Im Gegenteil: Erst parlamentarische Repräsentation ermöglicht es, von der Entweder-oder-Entscheidung durch Mehrheit abzugehen und einen Kompromiss zu suchen, der die widerstreitenden Interessen integriert und damit friedenstiftend wirkt. Dabei müssen Repräsentanten stets den Spagat leisten zwischen politischer Führung und Gefolgschaft. Sie müssen die Positionen der zu Repräsentierenden hören, ihnen nach eigener Abwägung und Urteilsbildung folgen, sie modifizieren oder ihnen widersprechen – und dafür wiederum Folgebereitschaft bei den Repräsentierten suchen. So erweist sich Repräsentation als die ebenso notwendige wie einzig mögliche Form, Herrschaft demokratisch zu organisieren. Suzanne S. Schüttemeyer (Auszug) "[…] es sollte die Freude und der Stolz eines jeden Repräsentanten sein, mit seinen Wählern in der innigsten Eintracht, der engsten Übereinstimmung und der freimütigsten Verbindung zu leben. Deren Wünsche sollten für ihn größtes Gewicht haben, deren Meinung in hohem Respekt stehen, deren Geschäfte uneingeschränkte Aufmerksamkeit verdienen. Es ist seine Pflicht, Ihnen seine Muße, seine Vergnügungen, seine Zufriedenheit zu opfern. Und vor allem hat er stets und in allen Fällen deren Interessen den seinen vorzuziehen. Aber seine unvoreingenommene Meinung, sein reifes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen, die darf er Ihnen nicht opfern – einem einzelnen ebenso wenig wie irgendeinem Kreis existierender Menschen (any set of men living). Diese verdankt er nicht Ihrer Gunst, noch dem Gesetz oder der Verfassung. Sie sind vielmehr ein Vertrauenspfand Gottes (a trust from providence), für dessen Missbrauch er zutiefst verantwortlich ist. Ihr Repräsentant schuldet Ihnen nicht nur seinen Fleiß, sondern sein Urteilsvermögen. Und er verrät Sie, anstatt Ihnen zu dienen, wenn er es Ihrer Meinung zuliebe aufopfern würde. […] Ein gutes Parlamentsmitglied zu sein, ist […] keine leichte Aufgabe. Insbesondere in dieser Zeit, wo die Neigung, in die gefahrvollen Extreme serviler Willfährigkeit oder ungestümer Popularitätssucht zu verfallen, so deutlich ausgeprägt ist." Edmund Burke, "Speech to the Electors of Bristol. On his being declared by the Sheriffs, duly elected one of the Representatives in Parliament for that city. On Thursday, the 3rd of November, 1774". Entnommen aus dem Aufsatz von Winfried Steffani, "Edmund Burke: Zur Vereinbarkeit von freiem Mandat und Fraktionsdisziplin", in: ZParl, 12. Jg. (1981), S. 109–122. Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Die Zeiten sind lange vorbei, als ein Abgeordneter am Montagmorgen in den Zug steigen konnte, unterwegs die Zeitungen und Briefe aus dem Wahlkreis durcharbeitete und am Nachmittag in Bonn die Sitzungswoche mehr oder weniger gemächlich einläutete. Viele verabschieden sich heute bereits sonntags nach dem Kaffeetrinken von ihrer Familie und setzen sich in den Flieger. Und nicht wenige gehen am Abend noch einmal in ihr Büro, besonders wenn Termine schon am frühen Montagmorgen warten und noch ein wenig vorzubereiten sind. [...] Die Terminkalender der Abgeordneten sind derart aus den Nähten geplatzt, dass immer mehr Sitzungen von ihren "klassischen" Tageszuteilungen auf den Montag gelegt werden. [...] Zu den festen Montagsterminen gehören die Sitzungen der Fraktionsvorstände. Sie bereiten die Abläufe der Woche vor, besprechen also beispielsweise die Punkte, die noch von den eigenen Fachleuten der Fraktion eingehender behandelt werden müssen. Auch strategische Angelegenheiten werden hier erörtert: Welches Thema kann im Laufe der Woche wichtig werden? Wie sollte es im Bundestag am besten aufgegriffen werden? Ist das ein Feld, auf dem man die Regierung oder die Opposition öffentlich "stellen" könnte? Und vor allem: Wo lauern in der schon besprochenen Themenabfolge in Ausschüssen und Plenum Fallstricke? Wo kann die eigene Fraktion besonders wirkungsvoll punkten? Die Fraktionen sind auch operative Teile der Parteien im Parlament. Deshalb stehen die Fraktionsvorstandssitzungen am Montagnachmittag immer wieder auch unter dem Eindruck der Präsidiums- und Vorstandssitzungen der Bundesparteien, die zuvor am Montagmorgen in Berlin getagt haben. [...] Zahlreiche Arbeitskreise, Arbeitsgruppen und Arbeitsgemeinschaften tagen schon am Montag, um die laufenden Gesetzesberatungen, den Stand von Initiativen und Antragsvorhaben durchzusprechen – und zwar jeweils fraktionsintern. [...] An anderer Stelle treffen sich auch montags bereits so genannte Berichterstatter aus den verschiedenen Fraktionen zum gemeinsamen Ausloten, wie die Einigungschancen bei einem Gesetzesvorhaben sind. [...] Der Montag dient jedoch nicht nur dem internen In-Schwung-Bringen der Parlamentsabläufe. Er ist auch geschätzt als Möglichkeit, Parlament und Öffentlichkeit zu verknüpfen, ohne dass sich hinziehende Sitzungen alle Planungen über den Haufen werfen. Es geht vor allem um den Kontakt zwischen Fachpolitik und Fachöffentlichkeit. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Der Dienstag ist der Hauptentscheidungstag im parlamentarischen Geschehen – auch wenn davon nach außen hin direkt wenig sichtbar wird. Denn der Dienstag dient der internen Meinungsfindung innerhalb der einzelnen Fraktionen. Das beginnt schon früh am Morgen. Denn alle Politikfelder, die in dieser Woche gefragt sind, müssen an diesem Tag beackert werden. [...] Ganz gleich, ob ein "kleines" oder "großes" Zuständigkeitsterrain zu überblicken ist – in allen Fraktionsgremien werden die anstehenden Fachberatungen detailliert vorberaten. [...] Es geht über die Mittagszeit weiter mit Vorbesprechungen. Denn jede Fraktion ist im Grunde ein Parlament im Parlament: Jede Fraktion gliedert sich in Gruppen von Abgeordneten, die aus verschiedenen Regionen kommen, die politische Grundströmungen bevorzugen, die gemeinsame Anliegen quer zu den einzelnen Fachgebieten verfolgen. Und das alles wird in regelmäßigen Treffen im Auge behalten. [...] Als zentraler Punkt der Sitzungswoche stellen sich dienstags am frühen Nachmittag die Fraktionssitzungen dar. Hier wird alles gebündelt, was in den vielen Dutzend anderen Fachgremien vorgeklärt worden ist. Hier geben die Vorsitzenden einen Überblick über die aktuelle Lage und erläutern die Strategie. Hier erläutern in den Regierungsfraktionen unter anderem auch der Bundeskanzler und seine Minister die Hintergründe und Zusammenhänge der jüngsten Initiativen. Und hier fallen die herausragenden Vorentscheidungen: Stimmt die Fraktion als Ganzes einem Gesetzesvorhaben zu? [...] Die Fraktionssitzungen sind damit der Ort der Vorentscheidung. So wie die Mehrheitsfraktionen sich entscheiden, so soll es – von Korrekturen im Detail abgesehen – später auch Gesetz werden. Deshalb halten sich vor allem die Koalitionsfraktionen über den Stand ihrer internen Beratungen oft gegenseitig auf dem Laufenden. Und deshalb richtet sich auch das Interesse der Medien auf diese Sitzungen. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Der Ausschusstag fängt früh an. Morgens um acht, spätestens um neun Uhr füllen sich Dutzende von Sitzungssälen mit Leben. [...] Damit sich die Regierungsmitglieder unbeschwert von möglichen Reaktionen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit umfassend informieren können, tagen die Ausschüsse in der Regel nicht öffentlich. [...] Dagegen sind die Expertenanhörungen durch die Ausschüsse in der Regel öffentlich. So kann – etwa durch Übertragungen im Parlamentsfernsehen unter www.bundestag.de – dem Eindruck entgegengetreten werden, dass das Wirken des Bundestages sich im Wesentlichen auf die Reden im Plenum beschränkt. [...] Zwischen, vor und nach den Ausschusssitzungen nutzen weitere Gremien die verbleibende Zeit, um in ihrer Arbeit weiterzukommen. So etwa die Parlamentariergruppen, die sich für einzelne Länder oder Regionen auf der Welt intensiver interessieren und den Kontakt zu den dortigen Parlamentskollegen und Regierungsvertretern pflegen. Der Mittwoch ist zudem regelmäßig der erste Plenarsitzungstag der Woche. Es geht los mit der Regierungsbefragung im Anschluss an die Kabinettsitzung. Ein oder mehrere Bundesminister oder Staatssekretäre unterrichten das Hohe Haus am Mittag über die Beschlüsse, die von der Bundesregierung am Vormittag getroffen worden sind. Dabei können die Abgeordneten auch gezielt nachfragen – deshalb die Bezeichnung "Regierungsbefragung". Es folgt zumeist die Fragestunde, bei der schriftliche Anfragen der Abgeordneten von Regierungsvertretern beantwortet werden und ebenfalls Nachfragen möglich sind – für rund zwei Stunden. An jedem Sitzungstag gibt es sodann die Möglichkeit, eine Aktuelle Stunde in den Sitzungsablauf einzubauen und die ersten regulären Tagesordnungspunkte aufzurufen, also gewissermaßen das Routine-Geschäft der öffentlichen Debatten zu starten. Einen der Schlusspunkte des Tages setzen die Obleute, also die für jedes Arbeitsgebiet von den Fraktionen benannten Verantwortlichen, die untereinander besprechen, wie weit Gesetzesvorhaben gediehen sind. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Ganz im Zeichen des Plenums steht in Sitzungswochen der Donnerstag. In der Frühe gibt es noch die Gelegenheit zu einer Morgenandacht, dann eröffnet der Bundestagspräsident oder einer seiner Stellvertreterinnen und Stellvertreter um Punkt neun Uhr die Plenarsitzung. In der Regel wird sie frühestens zwölf Stunden später wieder geschlossen, häufig genug aber erst nach 14 oder gar 16 Stunden. [...] Es gibt donnerstags von 9 bis 14 Uhr zunächst die so genannte Kernzeit. Dafür werden Themen vorgesehen, die von breitem öffentlichem Interesse sind und die deshalb auch vor vielen Abgeordneten behandelt werden sollen. [...] Der Ältestenrat nutzt die frühen Nachmittagsstunden, um über die Themen der folgenden Sitzungswoche zu beraten, Parlamentariergruppen stimmen sich ab, und immer wieder treffen Abgeordnete auch mit Besuchergruppen aus ihren Wahlkreisen zusammen. Nur Ausschusssitzungen dürfen an Donnerstagen gewöhnlich nicht stattfinden, um Kollisionen mit dem Plenargeschehen von vornherein zu vermeiden. [...] Die Redebeiträge werden grundsätzlich so platziert, dass möglichst Regierung und Opposition im Wechsel zu Wort kommen. Die Großen mehr, die Kleinen weniger. Dafür gibt es die "Berliner Stunde" […]; dabei werden die Reden der Bundes- und Landesminister ihren Bundestagsparteien zumeist zugerechnet. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Freitagmorgen – Moment der Vorfreude. Viele Abgeordnete freuen sich, heute nach fünf langen Tagen ihre Familie wiedersehen zu können. Mancher rollt den Koffer mit ins Reichstagsgebäude, um von der Sitzung schnell aufbrechen und den gebuchten Flieger kriegen zu können. Denn auch im Heimatwahlkreis ist der Freitag traditioneller Sitzungstag – örtliche Stadt- oder Kreisparteitage erwarten die Anwesenheit und aktuelle Vorträge von "ihrer" Frau oder "ihrem" Mann in Berlin. Doch davor steht noch einmal ein Sitzungstag mit einigen zeitlichen Unwägbarkeiten. [...] Stellt die Länderkammer dann die Gesetzesampel erst einmal auf Rot, gibt es die Möglichkeit, im Vermittlungsausschuss mit Vertretern aus Bundestag und Bundesrat zu einem Kompromiss zu kommen, mit dem beide Seiten leben können. Dann muss das Ergebnis des Vermittlungsausschusses erst ein weiteres Mal durch beide Kammern. Oft am Freitag, weil der Vermittlungsausschuss häufig am Mittwoch bis in die späten Abendstunden tagt. Ist hingegen nur die Beteiligung des Bundesrates notwendig und reagiert dieser nach Anrufung des Vermittlungsausschusses mit einem Einspruch, so kann diese Hürde durch erneute Abstimmung im Bundestag beiseite geräumt werden. Allerdings ist zum Zurückweisen dieses Einspruchs eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages notwendig. Die Mehrheit der anwesenden Abgeordneten reicht nicht. Und das bedeutet, dass angesichts der knappen Stimmenverhältnisse auch am Freitag häufig die vollständige Präsenz im Regierungslager erreicht werden muss. [...] Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Wer Volksvertreter ist, der ist es rund um die Uhr. Auch am Wochenende. [...] Denn hier ist die Gelegenheit der direkten Begegnung, die Verpflichtung zu ständiger Rechenschaft. Was für andere pures Vergnügen ist, kommt beim Abgeordneten in den offiziellen Terminkalender. [...] Wer nach der Wahl zu seinen Wählern auf Distanz geht, hat kaum Chancen auf eine Wiederwahl oder darauf, von den örtlichen Parteigremien nach vier Jahren wieder aufgestellt zu werden. Besonders zwischen zwei Sitzungswochen bildet das Wochenende auch die einzige Möglichkeit, die während des Aufenthaltes in Berlin angefallenen Dinge im Wahlkreisbüro zu erledigen. [...] Zudem haben die Abgeordneten bereits auf dem Weg ins Parlament oft in der Region Verantwortung für ihre Partei übernommen, sind Mitglieder im Orts- oder Kreisvorstand oder sogar Vorsitzende dieser Gremien. Da ist es ganz besonders wichtig, die örtlichen Parteiangelegenheiten durch Treffen mit Kolleginnen und Kollegen aus Orts- und Kreisparteivorständen in der Hand zu behalten. [...] Regelmäßig ist das Wochenende auch willkommene Gelegenheit, Initiativen zu mehr öffentlicher Wirksamkeit zu verhelfen, die unter der Woche in der Fülle der Themen untergegangen sind. Für Interviews und Hinweise am Samstag oder Sonntag sind die Medien in nachrichtenarmen Zeiten besonders dankbar. Und so können Abgeordnete die nächste Sitzungswoche auch schon publizistisch vorbereiten und selbst aus der zweiten oder dritten Reihe heraus neue Themen setzen – und so vielleicht den Boden für Ideen bereiten, die dann auch in den eigenen Reihen in der folgenden Sitzungswoche größere Chancen haben. Gregor Mayntz, "Eine lange Woche mit langen Tagen", in: Blickpunkt Bundestag Nr. 5 vom Juli 2004, S. 19–30 f. Die folgenden Ausführungen […] unterscheiden eine politische Elite im engeren Sinne (etwa Kabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäre, Fraktionsvorsitzende, Vorsitzende von Parlamentsausschüssen und Parteivorsitzende auf Bundes- wie Landesebene) von einer administrativen Elite (Staatssekretäre, Abteilungsleiter in Ministerien ect.), einer Gewerkschafts- (Vorsitzende auf Bundes- und Landesebene), Medien-, Wirtschafts-, Kulturelite u. a. m. [...] Man kann die hauptsächlich von der Politik lebenden Personen als "politische Klasse" bezeichnen […]. […] Wie auch immer "politische Klasse" [so auch nach Hans Herbert von Arnim Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Politische Beamte, kommunale Wahlbeamte, Bundesverfassungsrichter, Mitarbeiter der Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen] abgegrenzt wird – deren Mehrheit gehört sicherlich nicht zur einflussreichen politischen Elite. Sie arbeitet dieser jedoch zu, kommuniziert mit ihr und fungiert als Rekrutierungsreservoir für sie. Mutterboden und Handlungsraum der politischen Elite, so ließe sich ihre Rolle umreißen. [...] Steigt man auf das Oberdeck der eigentlichen politischen Elite, so wiesen Untersuchungen über Jahrzehnte hinweg nach, dass die politische Elite überwiegend aus der Mittelschicht bzw. "kleinbürgerlichen Verhältnissen" stammte – anders als alle anderen Teileliten (außer der gewerkschaftlichen), deren Herkunft stärker von Oberschicht/oberer Mittelschicht bzw. Bürgertum geprägt war. Politische und wirtschaftliche Elite der Bundesrepublik wiesen somit "eine höchst unterschiedliche soziale Rekrutierung" auf. Deutschland war anders als Großbritannien, Frankreich oder Spanien, wo die Teileliten einen gemeinsamen bürgerlichen Hintergrund haben. Ihm fehlen auch die "ausgesprochenen Elitebildungseinrichtungen", wie sie in anderen führenden westlichen Industrieländern bestehen (z. B. die Grandes Écoles in Frankreich, Eliteuniversitäten in den USA und Großbritannien) und dort ein kohärentes Establishment mit gemeinsamem sozialen Hintergrund, Habitus und Einstellungen hervorbringen. Für die alte Bundesrepublik hingegen waren segregierte Teileliten charakteristisch. Betrachtet man die heutigen Eliten anhand ihrer Väterberufe […], so erscheint jene Mittelschichtthese für die politische Elite nicht mehr überzeugend. Jedenfalls liefert das Bürgertum den relativ größten Anteil Spitzenpolitiker. Innerhalb der politischen Elite lässt sich zudem eine stärker bürgerliche Herkunft der Regierungsmitglieder im Vergleich zu den Angehörigen von Partei- und Parlamentsspitzen ausmachen. Ein analoger Wandel wird für die Regierungschefs der deutschen Länder und die Parteispitzen von SPD und CDU/CSU behauptet. Aufgrund dessen konstatiert der Elitensoziologe Michael Hartmann, es vollziehe sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Italien eine "Verbürgerlichung der politischen Eliten". Diese erkläre sich aus der Mitgliederschrumpfung der Volksparteien und aus veränderten Karrierewegen fort von der innerparteilichen "Ochsentour". Trifft dies zu, so ist eine tiefgreifende Veränderung, eine Annäherung an anglofranzösische Establishmentstrukturen festzustellen. [...] Die politische Elite weist mit fast 90 Prozent Hochschulabsolventen einen ähnlich hohen Bildungsgrad wie die meisten anderen Teileliten auf. [...] Vergleicht man die politische Elite Deutschlands mit der außereuropäischer Demokratien […], so fällt zweierlei ins Auge: der hohe Juristenanteil bei den engeren Spitzen der Politik auch in anderen Ländern einerseits und der in Deutschland geringere Anteil der Oberschicht-Abkömmlinge andererseits. Manche Ausführungen zu Verbürgerlichung und zum Juristen-Anteil bei der deutschen politischen Elite relativieren sich daher. [...] Angesichts dessen, dass […] die soziale und demographische Zusammensetzung der politischen Elite und der Parlamentarier ganz erheblich von der der Bürger abweicht, stellt sich die Frage, ob dies nicht einen Mangel der bundesdeutschen Demokratie darstellt. In der Tat mag es zutreffen, dass die Zusammensetzung den Stil der Politik prägt und emotionale Identifikationen für unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen erschwert. Repräsentationsdefizite haben aber nicht zwangsläufig zur Folge, dass auch die Interessen unterrepräsentierter Gruppen zu kurz kommen. Der Berufspolitiker fungiert zumeist nicht als Vertreter seiner sozialen Herkunftsgruppe. [...] Welche Prägungen erfahren diejenigen, die das Land politisch führen werden? Bedeutsam für Eliteneinstellungen scheint der Sozialisationsfaktor "Elternhaus". Dies gilt bereits für den Eintritt in die Politik, kamen doch nach der Elitenuntersuchung von 1972 nicht weniger als 71 % der Angehörigen der politischen Elite aus politisch engagierten Elternhäusern, die nur 23 % der Bevölkerung ausmachten. Ebenso sprechen auch Übereinstimmungen mit den politischen Orientierungen der Eltern für eine Tradierung politischer Grundeinstellungen. Gegenwärtig geben 71,5 % aller Eliteangehörigen (wohl mehr noch der politischen Elite) an, dass politische Diskussionen in ihrem Elternhaus eine große Rolle spielten. Hinzu kommen dann prägende eigene Erfahrungen. Vor allem während der langen, im frühen Erwachsenenalter beginnenden und von politischer Kommunikation erfüllten Karrierewege, die vor dem Aufstieg zur politischen Spitze zu bewältigen sind, formen sich Einstellungen weiter. Der Meinungsaustausch im Sondermilieu einer politischen Partei dürfte im Sinne parteipolitischer Integration wirken, die demokratische Selektion mag darüber hinaus auch "überaus anpassungsfähige und flexible Menschen" produzieren bzw. an die Spitze befördern. Freundlicher formuliert, Menschen, die gelernt haben, mit unterschiedlichen Interessen umzugehen und mehrheitsgetragene Entscheidungen zu suchen. Schon ältere Studien ergaben, dass Neuparlamentarier eine Sozialisation in eine parlamentarische "Subkultur" durchmachen. In signifikanter Weise nämlich vollzogen sich binnen dreijähriger Bundestagserfahrung Einstellungsveränderungen: so u. a. zur Notwendigkeit öffentlicher Ausschusssitzungen, zum Einfluss der Ministerialbürokratie, zur Informiertheit der Presse, zu Reformblockierungen durch Interessengruppen, zur Wünschbarkeit von Volksentscheiden und zum Vorhandensein von Klassenunterschieden – Vorstellungen, die nach Ablauf einer Legislaturperiode allesamt sehr viel weniger häufig als bei Eintritt ins Parlament geteilt wurden. Ähnliche Einstellungswandel kann man auch in neuerer Zeit erkennen. [...] Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 442 ff. Berufsstatistik der 19. Wahlperiode nach Fraktionszugehörigkeit (Interner Link: Tabelle als PDF öffnen) (© Melanie Kintz / Malte Cordes, Daten zur Berufsstruktur des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode, in: ZParl, 50. Jg. (2019), H. 1, S. 42–58, S. 49 ff.) Weibliche Abgeordnete zu Beginn der WP (© bpb, Quelle s. Bild) Das in den 1960er-Jahren einsetzende Umdenken in der Gesellschaft hinsichtlich der Rolle der Frauen – verstärkt durch die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre – führte auch zu einer drastischen Steigerung des Anteils weiblicher Abgeordneter im Bundestag. Zunächst lebten die Grünen die Praxis gleicher politischer Teilhabe von Frauen vor, indem sie mittels Quotierung gleich bei ihrem ersten Einzug in den Bundestag 1983 mit 35,7 Prozent Frauen in ihren Reihen aufwarteten – zum Vergleich die anderen Fraktionen in der 10. Wahlperiode: CDU/CSU – 6,7 Prozent, SPD – 10,4 Prozent, FDP – 8,6 Prozent. Es dauerte nicht lange, bis die Grünen – mit über der Hälfte weiblicher Abgeordneter im 11. Bundestag – die anderen Parteien unter erheblichen Zugzwang brachten. Per Quote steigerte die SPD ihren Frauenanteil in der Bundestagsfraktion sukzessive auf knapp 42 Prozent im 19. Bundestag; CDU, CSU und FDP konnten sich zwar innerparteilich nicht auf Quoten einigen, rekrutierten in der Folgezeit aber auch mehr Frauen, die zu Beginn der 19. WP 2017 in der Unionsfraktion knapp 20 Prozent, in der FDP knapp 23 Prozent ausmachen. Die PDS bzw. Linke war seit 1990, sofern sie eine Gruppe oder Fraktion bilden konnte, mit 43 bis 59 Prozent Frauen im Bundestag vertreten (aktuell: 54 Prozent). Die Grünen sind mit 39 Frauen unter 67 Abgeordneten (58 Prozent) Spitzenreiter. Weit abgeschlagen landet die AfD mit nicht einmal elf Prozent. Im europäischen Vergleich liegt der Bundestag heute mit einem knappen Drittel weiblicher Abgeordneter im mittleren Bereich. Insbesondere die skandinavischen Staaten weisen traditionell sehr hohe Frauenanteile auf; Anfang 2018 betrugen diese zwischen 37,4 und 43,5 Prozent. Auch Spanien (39,1), Frankreich (39,0), Belgien (38,0), Slowenien (36,7) und die Niederlande (36,0 Prozent) weisen vergleichsweise hohe Werte auf. Erst auf Platz 13 der EU-Länder rangiert Deutschland mit aktuell 30,7 Prozent Frauen im Bundestag. Die meisten süd- und osteuropäischen Länder kommen auf 10 bis 20 Prozent Frauenanteil in ihren Parlamenten, und die USA nehmen im internationalen Vergleich mit 19,4 Prozent nur Rang 100 ein. Die Tatsache, dass Ruanda den Spitzenplatz innehat und Costa Rica Nummer drei ist, verweist aber auch darauf, solche Daten nur nach Kenntnis weiterer Details des jeweiligen politischen Systems, der gesellschaftlichen Situation und der Politischen Kultur zu interpretieren. Suzanne S. Schüttemeyer Die wichtigsten Elemente der Wahlkreisarbeit aus Sicht der Abgeordneten (© Quelle: CITREP.) Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen meist die sehr repräsentativen Tätigkeiten von Abgeordneten: Reden im Parlament, Vorfahrten mit großen Dienstlimousinen, lange Ausschusssitzungen, internationale Kontakte, Interviews in den Medien. Doch die Tätigkeit im und um den Sitz des Bundestages im Berliner Regierungsviertel ist nur die eine Seite des Daseins als Parlamentarier. Mindestens ebenso wichtig ist die vielfältige Aufgabenwahrnehmung in den Wahlkreisen "zu Hause". Schätzungen ergaben, dass Abgeordnete dort rund 40 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen. Jeder Abgeordnete kann eindeutig einem Wahlkreis zugeordnet werden. Denn obgleich nur knapp die Hälfte der MdB direkt gewählt werden, sind die allermeisten in einem Wahlkreis angetreten und verstehen sich später auch als dessen Vertreter im Parlament, selbst wenn sie tatsächlich über die Landesliste eingezogen sind. So gibt es Wahlkreise mit bis zu sechs Abgeordneten der unterschiedlichen Fraktionen. Die Tätigkeit im Wahlkreis stellt eine wichtige Grundlage von Repräsentation dar, denn so wird bei den Menschen vor Ort aufgenommen, wie die Stimmung zu aktuellen politischen Themen ist, wo konkreter Handlungsbedarf gesehen wird oder an welcher Stelle vorhandene Regelungen Lücken haben oder sogar ungewünschte Nebenwirkungen hervorbringen. In einem großen vergleichend angelegten Forschungsprojekt, "Citizens and Representatives in France and Germany" (CITREP), wurde die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten des Bundestages und der Französischen Nationalversammlung vergleichend untersucht. Begleitet wurden insgesamt 64 MdB für jeweils drei Tage bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen, um festzustellen, was sie dort tun, wie sie es tun, und mit wem sie in Kontakt treten. Veranstaltungen von Abgeordneten im Wahlkreis (© Die Abbildung zeigt die Anzahl der besuchten Veranstaltungen im Wahlkreis durch das Projekt CITREP; Basis: 618 Veranstaltungen von 64 Abgeordneten) Die Abgeordneten nehmen im Wahlkreis eine außerordentliche Vielfalt an Terminen wahr. Anders als vermutet stehen hierbei weniger die gesellschaftlichen und damit publikumswirksamen Veranstaltungen im Vordergrund, sondern vor allem werden Behörden und Unternehmen besucht und lokale Parteiarbeit betrieben. Überhaupt beschränken sich die Abgeordneten in ihrer Wahlkreisarbeit keineswegs auf ihre formale Zuständigkeit der Bundespolitik: Oft geht es um lokale Themen, aber auch die Landespolitik wird von ihnen im Wahlkreis regelmäßig behandelt. Offenbar sind sie dort also nicht nur als Vertreter "des Bundes", sondern "der Politik" insgesamt – und nehmen diese umfassende Rolle in der Regel auch selbst an. Immer wieder wird Hilfe im Einzelfall geleistet, teils mit einer erstaunlichen Intensität. […] Aber auch um Hilfe in kleineren Dingen wie Anträgen für Arbeitslosenunterstützung oder Rentenpapieren werden die Abgeordneten immer wieder gebeten. Repräsentation bedeutet allerdings nicht nur, Meinungen und Stimmungen aufzunehmen, sondern umgekehrt auch die eigene Politik, den als richtig erkannten Weg, zu erklären und um Unterstützung dafür zu werben. Die Abgeordneten stellen in ihrem realen Verhalten die Informationsaufnahme im Wahlkreis deutlich in den Vordergrund, ohne aber die Darstellung und Vermittlung der eigenen Position gänzlich zu vernachlässigen. Dennoch ist zu fragen, ob die angetroffene Balance dieser beiden Tätigkeiten richtig ist oder ob nicht etwas mehr Erklären und etwas weniger Zuhören insgesamt förderlich wären. Auch wurde deutlich, dass die Rückspiegelung von Erkenntnissen aus der Wahlkreisarbeit in die Parlamentstätigkeit kaum strukturiert und damit sehr abhängig vom individuellen Geschick des Abgeordneten ist. Insofern können im Wahlkreis aufgenommene Einschätzungen auch irgendwo "versanden". Bei großen, aktuellen Themen hingegen kann es für die Mitglieder der Bundesregierung und insbesondere für die Regierungschefs recht unangenehm in einer Fraktionssitzung werden, wenn Abgeordnete nach einer Wahlkreiswoche dort den gesammelten Frust aus der Bevölkerung ablassen – dies wurde für die "Agenda 2010"-Reformen unter Gerhard Schröder berichtet und für die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Übrigens zeigen die Beobachtungen keine grundsätzlichen Unterschiede im Verhalten von direkt und über die Liste gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, anders als es in verschiedenen Studien vermutet wurde. Auch steht in der Wahlkreispraxis weiterhin der persönliche individuelle Kontakt der Abgeordneten mit Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund, während die klassischen und neuen Medien eine nachrangige Bedeutung haben. Natürlich kann es den Abgeordneten nicht gelingen, alle Menschen in ihrem Wahlkreis einzeln zu erreichen, aber umgekehrt zeigt sich: Wer in Kontakt mit "seinem" Abgeordneten treten möchte, hat dazu im Wahlkreis gute Möglichkeiten. Denn Repräsentation lebt von einer lebendigen Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Sven T. Siefken Die wichtigsten Elemente der Wahlkreisarbeit aus Sicht der Abgeordneten (© Quelle: CITREP.) Veranstaltungen von Abgeordneten im Wahlkreis (© Die Abbildung zeigt die Anzahl der besuchten Veranstaltungen im Wahlkreis durch das Projekt CITREP; Basis: 618 Veranstaltungen von 64 Abgeordneten) Sie wurden nicht gewählt, sitzen aber dennoch im Bundestag: Wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützen die Mitglieder des Bundestages bei der Wahrnehmung ihres Mandats. Konnten Abgeordnete noch bis in die 1960er-Jahre ihre Büroarbeit selbst oder allenfalls mithilfe einer Schreibkraft aus der Bundestagsverwaltung bewältigen, ist heute die parlamentarische Tätigkeit eines MdB ohne eigene Mitarbeiter kaum mehr denkbar. Allein schon die Korrespondenz: Wenn Thomas Wierer morgens gegen acht Uhr zur Arbeit kommt, dann warten nicht selten 300 E-Mails, ein dicker Stapel Post und mehrere Presseschauen auf ihn. Diese gilt es zu sichten und zu ordnen, bevor sein Chef, […] im Büro erscheint. "Aus der Flut an Informationen das Wichtige herauszufiltern gehört zu den Fähigkeiten, die ein Abgeordnetenmitarbeiter unbedingt benötigt", sagt Wierer, der seit über 20 Jahren zusammen mit einer Kollegin das Bundestagsbüro […] [seines Abgeordneten] leitet. Damit ist Wierer einer von rund 1700 wissenschaftlichen Mitarbeitern, die laut Statistik der Bundestagsverwaltung in den Büros der Parlamentarier in Berlin und im Wahlkreis tätig sind. "Mit wissenschaftlicher Arbeit wie an einer Universität ist die Tätigkeit im Abgeordnetenbüro nicht vergleichbar", sagt Anna Alexandrakis. Die Bezeichnung sei deshalb etwas irreführend. Die Diplom-Pädagogin muss es wissen: Seit fast 25 Jahren ist sie in diesem Job, leitet seit 17 Jahren das Büro […] [ihres Abgeordneten]. Doch auch der Begriff "Büroleiter" decke das Tätigkeitsprofil eines Abgeordnetenmitarbeiters nicht vollständig ab – unterschlage er doch die fachlichen Kompetenzen. Tatsächlich lassen sich inhaltliche und organisatorische Arbeit im Abgeordnetenbüro kaum voneinander trennen: Die Aufgaben von Referenten wie Wierer und Alexandrakis reichen von der Vorbereitung der Ausschuss- und Arbeitsgruppensitzungen bis zu normalen Bürotätigkeiten. Bei Bürgeranfragen aus dem Wahlkreis erledigen sie die Korrespondenz. Sie betreuen Besuchergruppen, schreiben Pressemitteilungen, pflegen Webseiten und Facebookprofile. Bei Bedarf wird auch getwittert. Kommt eine Interviewanfrage zu einem fachfremden Thema, recherchieren sie den Sachverhalt und verfassen "Sprechzettel". "Der Chef muss sprechfähig sein – jederzeit, in jeder Situation", bringt Wierer die Aufgabe auf den Punkt. Für […] [seinen Abgeordneten] besorgt er Material, holt Stellungnahmen von Experten und Interessenverbänden ein. Meist schreibt er auch Reden, Anträge und Ausschussvorlagen für seinen Chef. Ein erhebliches Arbeitspensum: "Ein normaler Acht- oder Neun-Stunden-Tag reicht meist nicht aus", sagt Thomas Wierer […]. Gerade in Sitzungswochen sind es sogar Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage, die Mitarbeiter eines Abgeordnetenbüros absolvieren. Und trotzdem finden Abgeordnetenmitarbeiter wie Wierer und Alexandrakis oft nur in sitzungsfreien Wochen die Zeit, Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Fachlich versierter Referent und gut organisierter Büroleiter, gewiefter Netzwerker und erfahren im Umgang mit Presse und Social Media: Die Arbeit im Abgeordnetenbüro erfordert Alleskönner. "Wir sind Allrounder", bestätigt Alexandrakis. Wer den Job mache, müsse stets politisch auf dem Laufenden sein, fügt Wierer hinzu: "Ohne den Instinkt, welches Thema für den Abgeordneten wichtig werden könnte, geht es nicht." Das gelte auch für Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen. Ganz wichtig auch: Flexibilität. Sich schnell in Themen einarbeiten oder sich auf neue Situationen einstellen zu können, gehöre zu den Grundvoraussetzungen für den Job. "Will man gerade einen ruhigeren Nachmittag in der sitzungsfreien Woche nutzen, um etwas inhaltlich zu arbeiten – dann klingelt das Telefon und es kommt eine Presseanfrage: Bitte Stellungnahme zur Cyberattacke im Bundestag, bitte in zwei Stunden ein Statement", sagt Alexandrakis und lacht. "Dann war’s das mit der Planung." Eigentlich lasse sich kaum etwas sicher planen, jeder Tag sei anders. Doch genau diese Abwechslung schätzt sie: "Es wird nie langweilig. Es gibt immer wieder neue Themen, die man bearbeitet, man lernt jeden Tag dazu. Das ist der große Reiz." Natürlich sei ein Interesse an Politik für den Job elementar. Politik studiert zu haben dagegen nicht: Auch wenn Politologen neben Juristen unter den wissenschaftlichen Mitarbeiter stark vertreten sind – das Studienfach sei nicht das Entscheidende, haben Wierer und Alexandrakis beobachtet. Ohnehin steigen die meisten über ein Praktikum oder als studentischer Mitarbeiter ein. "In überregionalen Medien ausgeschrieben werden Jobs als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Abgeordneten selten", sagt Alexandrakis. Die Büros scheuten die Flut der Bewerbungen. "Sie haben ja keine Personalabteilung und kein Assessment-Center." Ihre Mitarbeiter fänden Parlamentarier daher eher unter den Engagierten an der Parteibasis, über Empfehlungen sowie fraktionsinterne Ausschreibungen und Jobbörsen. Erfahrene Mitarbeiter sind für Abgeordnete – insbesondere für Parlamentsneulinge – unbezahlbar. Sie sind mit den Mechanismen des Parlamentsbetriebs vertraut und auch als Berater bei der Entscheidungsfindung gefragt: [...] Diese Besonderheit des Arbeitsverhältnisses erfordere zwar nicht unbedingt die gleiche Parteizugehörigkeit, aber zumindest ein hohes Maß an politischer Nähe zwischen dem Abgeordneten und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern: "Man sollte schon auf Parteilinie sein – sonst ist die Arbeit für beide Seiten unbefriedigend und das Vertrauen leidet darunter", stellt Alexandrakis klar. So entwickelt sich zwischen Abgeordneten und Mitarbeitern meist ein enges Vertrauensverhältnis. Sie beraten ihn, halten ihm den Rücken frei, schirmen ihn wenn nötig auch nach außen ab. […] Diese politische Nähe und Loyalität jedoch erschweren einen Jobwechsel. Für einen Abgeordneten einer anderen Partei zu arbeiten – undenkbar. [...] Als Angestellte des Abgeordneten endet das befristete Arbeitsverhältnis, wenn dessen Mandat endet: Das kann alle vier Jahre nach der Wahl sein – zudem wenn der Abgeordnete sein Mandat vorzeitig zurückgibt oder verstirbt. Aufgrund dieser Unsicherheit ist für manche die Tätigkeit nur ein Job auf Zeit. Die dabei erworbenen Kenntnisse gelten als gutes Sprungbrett für eine Karriere in größeren Unternehmen, Verbänden oder Politikberatungen. [...] Externer Link: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw34-mitarbeiter/436372 (Abruf am 27.08.2019) (sas/22.08.2016) Diäten im Deutschen Bundestag 2002 bis 2018 (© Michael F. Feldkamp, Deutscher Bundestag 1998 bis 2017/18: Parlaments- und Wahlstatistik für die 14. bis 19. Wahlperiode, in: ZParl, 49. Jg., H. 2, S. 214) Die Deutsche Demokratische Republik ist bis 1989/90 eine kommunistische Diktatur gewesen. Insofern kann die Volkskammer nicht auf eine Stufe mit dem Deutschen Bundestag gestellt werden. Erst in ihrer letzten Phase, nachdem die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ihr Machtmonopol verloren hatte, sollte die Volkskammer zu einem demokratischen Parlament werden, zu einem Parlament auf Abruf allerdings. Als die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer zusammentrat, war klar, dass die Einheit und damit ihre Auflösung nur wenige Monate bevorstand.[...] Die sowjetische Besatzungszone entwickelte sich nach 1945 anders als die amerikanische, britische und französische. Die sowjetische Besatzungsmacht ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nicht gewillt war, ein pluralistisches politisches System entwickeln zu lassen. Die Vorherrschaft der Kommunisten wurde immer deutlicher. Im April 1946 kam es zur Zwangsvereinigung von KPD und SPD. Eine neue "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" (SED) errang dank der sowjetischen Besatzungsmacht allmählich ein Machtmonopol. Die beiden anderen Parteien – die CDU und die LDPD – verloren ihre Eigenständigkeit. [...] In der "Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik", die jeweils eine Einheitsliste für die Wahlen aufstellte, waren die Parteien (SED, CDU, LDPD, DBD, NDPD) zusammen mit den Massenorganisationen vereint. Zu ihnen gehörte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauenbund Deutschlands, der Kulturbund der DDR (KB) sowie die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). [...] Die Mandate der Volkskammer, der obersten Volksvertretung der DDR, wurden nach einem vorher festgelegten Schlüssel vergeben. Die SED erhielt 24,5 Prozent der 500 Mandate, die vier Blockparteien bekamen je 10,4 Prozent. Dem FDGB standen 12,2 Prozent zu, der FDJ 7,4, dem DFD 6,4, dem Kulturbund der DDR 4,2 und der VdgB 2,8 Prozent. Die meisten Repräsentanten der Massenorganisationen gehörten zugleich der SED an, so dass diese auch formell eine absolute Mehrheit in der Volkskammer hatte. Das Machtmonopol der SED war damit auf mehrfache Weise gesichert. [...] Die geringe Bedeutung der Volkskammer zeigte sich allein darin, dass sie nur selten zusammentrat. Auf die siebziger Jahre beispielsweise entfielen ganze 34 Sitzungstage. In einem bemerkenswerten Kontrast zur Ohnmacht der Volkskammer stand der Sachverhalt, dass ihre Abgeordneten immer vollzählig erschienen waren. Lediglich ein einziges Mal wurde in der Geschichte der nicht frei gewählten Volkskammer das Prinzip der Einmütigkeit durchbrochen. Im März 1972 gab es im "Ja-Sager"-Parlament bei dem Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung aus den Reihen der CDU 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen. Nach der DDR-Verfassung war der Volkskammer eine Reihe von Verfassungsorganen untergeordnet – der Staatsrat, der Nationale Verteidigungsrat, der Ministerrat, das Oberste Gericht sowie der Generalstaatsanwalt. All diese Organe wurden von der Volkskammer gewählt. Allerdings konnte keine Rede davon sein, dass sich in der Praxis etwa der Staatsrat der Volkskammer "unterordnete". Der Vorsitzende des Staatsrates war zugleich der Generalsekretär des ZK der SED – und damit der mächtigste Mann im Staate. [...] Dem Wahlakt war bereits Genüge getan, wenn der Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurde. Der Bürger hatte keine Entscheidung. Obwohl die Verfassung geheime Wahl vorschrieb, stellte offene Wahl die Regel dar. [...] Offene Wahl galt als Zeichen des Vertrauensbeweises für die Kandidaten der "Nationalen Front". Wer nichts zu verbergen habe, könne sein Vertrauen offen bekunden. Die Wahlbeteiligung lag bei allen Wahlen über 98 Prozent, die Zahl der Ja-Stimmen betrug jedes Mal deutlich über 99 Prozent. Nichts erhellte offenkundiger den Versuch der SED, gesellschaftliche Harmonie vorzutäuschen. [...] Eckhard Jesse, in: Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr. 227, 3. Aufl., Bonn 2000, S. 20 ff. Ein besonderes Kapitel des Parlamentarismus in Deutschland wurde 1989/90 geschrieben. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur brachte in der DDR allenthalben "Runde Tische" hervor, darunter auch den Zentralen Runden Tisch der DDR (ZRT), der den Anspruch erhob, freie Wahlen in der DDR herbeizuführen, um die DDR schließlich in ein freiheitlich demokratisches Gemeinwesen zu überführen. Der ZRT war nicht gewählt worden. Daher war es nur konsequent, dass seine Mitglieder für den ZRT nicht den Status eines Parlamentes reklamierten. Wohl aber beanspruchten sie, zusammen mit der Volkskammer der DDR die Politik dieser Republik so lange zu kontrollieren, bis auch für diesen Staat ein demokratisches Parlament seine Arbeit aufnehmen werde. Durch die Übernahme dieser Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion wuchs der ZRT aber obendrein und mindestens vorübergehend ebenfalls in die Funktion eines Gesetzgebers der DDR hinein – dies umso mehr, als sich die (alte) Volkskammer im Winter 1989/90 mehr und mehr selbst auflöste. Für die Parlamentarismusforschung war es verblüffend zu beobachten, mit welcher Geschwindigkeit und Zielgenauigkeit sich der ZRT in seiner Organisation und in seinem Verfahren in die Zwangsläufigkeiten klassischer Parlamente hinein bewegte. Nicht anders die erste und einzig frei gewählte Volkskammer (vom 5. April 1990 bis 2. Oktober 1990): Nur für die 38 Sitzungen dieser Volkskammer ist es erlaubt, im hier argumentierten Sinne von Parlamentarismus auch in der DDR zu reden (Patzelt/Schirmer). Die Erfahrung mit und in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR war ein Lehrstück über den Zusammenhang von Partizipation, Transparenz und Effizienz. Die im Sommer 1990 immer aufs Neue improvisierende Volkskammer der DDR war zwar emotional "aufregend"; sie beflügelte jedoch zunehmend den gegenläufigen Ruf nach Ruhe und den Anspruch (nicht nur) der dortigen Bürgerinnen und Bürger auf ein schließlich routinemäßig funktionierendes Parlament. Tatsächlich erfuhren die Bürger dieser Übergangszeit Parlamentarismus als "government by discussion", also Partizipation und Transparenz. Sehr schnell allerdings wurde ihnen die ebenso zutreffende Fortsetzung dieses englischen Satzes zur Gewissheit: "… but it only works if you can stop people talking". Der Vorsitzende der SPD-Volkskammerfraktion, Richard Schröder, unterstrich die Dringlichkeit dieser Weisheit mit dem lakonischen Bonmot, es gäbe so etwas, wie das "Menschenrecht auf handlungsfähige Regierung". Deutlicher kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, wie sehr die demokratische Regierungsweise von der Leistungsfähigkeit ihrer Parlamentsfraktionen, ihrer Funktionstüchtigkeit insgesamt also abhängig ist. Mit spektakulären, aber leerlaufenden Parlamentsaktivitäten – von Fraktionsdisziplin freigestellter Partizipation – ist nämlich am Ende für die Bürgerinnen und Bürger nichts zu gewinnen. Deren Wohlergehen verlangt ein effizientes, das heißt entscheidungsfähiges Regierungssystem. Uwe Thaysen
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Schüttemeyer, Suzanne S.
"2022-01-12T00:00:00"
"2019-12-06T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/parlamentarische-demokratie-341/301690/der-deutsche-bundestag-und-seine-akteure/
Der Bundestag ist das Herzstück des deutschen Parlamentarismus. Er wird geprägt durch die Fraktionen, seine verschiedenen Ausschüsse und Gremien sowie nicht zuletzt durch die Mandatsträger selbst.
[ "Deutscher Bundestag", "Parlament", "Demokratie" ]
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Systemische Übung: Wald | teamGLOBAL | bpb.de
Als PDF herunterladen (15.6kB) Die Teilnehmenden tragen das Ergebnis ihrer mentalen Simulation in ein "Verhalten-über-die-Zeit-Diagramm" ein. Zum Download: Interner Link: Übung: Eingriff in dynamische Systeme Als PDF herunterladen (15.6kB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67609/systemische-uebung-wald/
Wie verändert sich der Baumbestand eines Forstes, wenn das bewirtschaftende Unternehmen eine einmalige Veränderung bei der Fällquote vornimmt? Eine kleine Übung, das Verhalten dynamischer Systeme über längerfristige Zeiträume einzuschätzen.
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Zur Zukunft der Erinnerung | Zukunft der Erinnerung | bpb.de
Einleitung Die folgenden Überlegungen zur Zukunft der Erinnerung haben ein doppeltes Anliegen. Zum einen verstehen sie sich als rettende Kritik an Erinnerungskultur als gesellschaftlichem Projekt der selbstkritischen Verständigung über Geschichte, insbesondere über die Geschichte und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Deutschland. Zum anderen skizzieren sie eine aus dieser Kritik hervorgehende Neuorientierung. Von Erinnerung bzw. Erinnerungskultur wird deshalb am Ende nicht mehr die Rede sein, wohl aber von reflektiertem Geschichtsbewusstsein als Ausgangspunkt für eine Zivilgeschichte der Zukunft. Dass ein langjähriger Protagonist der institutionalisierten Erinnerungskultur für einen bewussten Abschied vom Paradigma der Erinnerung plädiert, mag auf den ersten Blick überraschen, gelten doch gerade die Verantwortlichen in Gedenkstätten in besonderer Weise als Sachwalter und Treuhänder von Erinnerung, als diejenigen, die Erinnerung wach halten und zukunftsfest machen. Allerdings könnte man bereits hier ins Stutzen kommen. Denn Erinnerung, so allgemein formuliert, verschleiert, dass Gedenkstätten nicht eine Erinnerung repräsentieren, sondern Kristallisationspunkt zahlreicher und keineswegs einheitlicher Erinnerungen sind. Überlebende der Lager haben ihre je eigenen Geschichten und Erfahrungen, die sich mit denen anderer Überlebender zwar berühren, kreuzen oder überschneiden können, die aber deshalb doch nicht identisch sind. Zudem haben Überlebende - wie alle Menschen - ihre Geschichten auf eigene, manchmal anderen ähnliche, aber nicht zwingend gleiche Weise verarbeitet und gedeutet wie auch im Licht neuer Erfahrungen oder veränderter Verhältnisse re-rekonstruiert und re-interpretiert. Dass menschliches Erinnern bei aller Rückgebundenheit an Erfahrungen kein bloßes Widerspiegeln ist, sondern immer auch gegenwartsverhaftete und zukunftsgerichtete Konstruktion, ist eine Binsenweisheit. Wenn also Gedenkstätten Erinnerungen weitergeben, dann in dem Sinn, dass sie als gewichtigen Teil ihrer Arbeit erfahrungsgeschichtliche Zeugnisse sammeln, quellenkritisch aufbereitet dokumentieren und für die kritische Auseinandersetzung mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen - gerade aus Sicht der Opfer - nutzen und zur Verfügung stellen. Dass mit quellenkritisch aufbereiteten, kontextualisierten erfahrungsgeschichtlichen Quellen empfindliche Lücken der Überlieferung geschlossen werden können und zu Opfern gemachte Menschen mittels ihrer Zeugenschaft zugleich ihren Subjektstatus zurückerobern und festigen, bedarf keiner Erklärung. Die Selbstgenügsamkeit von Erinnerung hingegen, ihre Abkopplung von geschichtswissenschaftlicher Forschung und methodisch fundierter Vernunft, ihre Transformation in unhinterfragbare historische Offenbarung hingegen ist entweder naiv oder bahnt politischen Religionen und deren hohen Priestern den Weg. Mit historischer Selbstverständigung und handlungsorientierender, kritischer historischer Selbstreflexion auf humane Gegenwart und Zukunft hin hat solches Erinnern nichts zu tun. Der Umstand, dass es zu überraschen vermag, wenn ein Protagonist der öffentlichen Erinnerungskultur für einen bewussten Abschied vom Erinnerungsparadigma plädiert, um dessen historische Substanz zugleich zu bewahren, wird darüber hinaus durch die erhebliche Diskrepanz befördert, die zwischen moderner Gedenkstättenarbeit und einem Großteil öffentlicher Erinnerungskultur besteht. Denn im öffentlichen Diskurs wird Erinnerung zunehmend als moralisch aufgeladene, eher diffuse Pathosformel gebraucht, als sei Erinnerung als solche bereits der Königsweg zur Bildung von kritischem Geschichtsbewusstsein, als stehe Erinnern als solches bereits für gelingende Demokratie- und Menschenrechtserziehung. Aus dem Blick gerät dabei nicht zuletzt, dass historisches Erinnern in der Geschichte eher dem Gegenteil, nämlich immer wieder hoch aggressiven Zwecken, gedient hat und weiterhin dient, etwa in Gestalt der Verortung und Verstetigung von Feindbildern oder der Begründung und Anheizung angeblich ausstehender Rache und Revanche. Clashes of Memory lassen sich nicht nur in Post-Bürgerkriegsgesellschaften wie Spanien oder zerfallenen Staaten wie dem ehemaligen Jugoslawien beobachten, sie finden sich, wenn auch unterschiedlich aggressiv oder entzweiend, in allen Gesellschaften. Anders gesagt, Erinnern und Erinnerungen sind weder a priori friedfertig noch moralisch. Sie sind sich darüber hinaus zunächst selbst genug und deshalb als solche nur schwer - oder mit Macht - zu verallgemeinern. Sie zielen nicht automatisch auf historische Aufklärung, und auch die Addition von Erinnerungen bedeutet nicht zwangsläufig historisches Begreifen. Die wegweisenden Neukonzeptionen der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR - wie Buchenwald oder Sachsenhausen - nach 1990 haben sich deshalb weniger an Konzepten von Erinnerung als vielmehr an erfahrungsorientiertem, forschenden Lernen orientiert, etwa an Konzepten partizipativer, niederschwelliger Museumsarbeit. In dieser Perspektive, die an vor allem in den 1980er Jahren geführte Diskussionen um Gedenkstätten als arbeitende Institutionen, als Lernorte anknüpfen konnte, gelten Gedenkstätten als geschichtswissenschaftlich fundierte Institutionen anwendungsbezogener Forschung und historischen Lernens, als Orte historisch-politischer, ethischer Bildung mit einem gewissen Andachtscharakter. Sie verstehen sich als zeithistorische Museen mit eigentümlichen, ihrer Geschichte als ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager entspringenden Eigenschaften, die sie bei aller Gemeinsamkeit von klassischen Geschichtsmuseen unterscheiden. Denn im Gegensatz zu diesen sind sie als Denkmale aus der Zeit sowohl Tat- und Leidensorte wie auch - konkret und symbolisch - Grabfelder und Friedhöfe. Zudem haben Gedenkstätten nach wie vor humanitäre Aufgaben. Auch wenn diese Merkmale historisches Lernen im engeren Sinn übersteigen und dessen Verbindung mit Gedenken ebenso einfordern wie ermöglichen, stehen sie zum Lernen an und aus der Geschichte nicht zwingend im Gegensatz. Vielmehr lassen sie sich mit solchem Lernen bereichernd verbinden: Denn die Verknüpfung von kognitiven und affektiven Zugängen zur Vergangenheit intensiviert Auseinandersetzungsprozesse. Schließlich braucht Gedenken Wissen. Mehr noch, mit dem endgültigen Schwinden direkter erfahrungsgeschichtlicher Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit kann Gedenken überhaupt erst aus nachträglich erarbeiteten Erkenntnissen folgen. Ohne solche reduziert es sich auf oberflächliche Rituale und vordergründige Betroffenheit oder verkommt gar zur gefühlig verbrämten (geschichts-)politischen Manipulation. Befund Das Erlöschen unmittelbarer Erfahrungsgeschichte in Bezug auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, populär gefasst als Abschied von den Zeitzeugen, intensiviert die Frage nach der Zukunft der Erinnerung. Zugleich droht dieser Abschied - der als Feststellung wie als Topos öffentlicher Rede eine bereits mindestens fünfzehnjährige Geschichte hat - aber auch, zukunftsrelevante Fragestellungen in Bezug auf demokratische Geschichtskultur und die Entwicklung reflektierten Geschichtsbewusstseins zu verstellen. Denn Abschied von der Erinnerung steht für mehr als die Herausforderung, Ersatz für "Lebensgeschichten als Argument" zu schaffen. Vielmehr bedarf es einer umfassenden begrifflichen und methodischen Weiterentwicklung historischen Lernens aus der Geschichte des extremen 20. Jahrhunderts, wenn die mit Erinnerung einmal gemeinten selbstkritischen, Geschichtsbewusstsein bildenden, Lebenspraxis orientierenden Impulse gewahrt und fortgeführt werden sollen. Einerseits ist es gelungen, in der Bundesrepublik negatives Gedächtnis als staatlich geförderte, öffentliche Aufgabe zu etablieren und zu einer Ressource für demokratische Kultur und diese fundierende Lern- und Bildungsprozesse zu machen. Dieser Erfolg verdankt sich ganz wesentlich innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik ab Ende der 1950er Jahre um die NS-Vergangenheit und deren Nachwirkungen; Debatten und Auseinandersetzungen, die ab Ende der 1970er Jahre auch in die Gedenkstättenbewegung einmündeten. Diese Auseinandersetzungen - verstanden als gesellschaftlich folgenreiche, empirische, wissen-wollende und Rechenschaft fordernde Aufarbeitung der Vergangenheit - gingen dem Bildungsprojekt voraus oder begleiteten es, verliehen ihm unmittelbare Relevanz und praktisch nachvollziehbare Evidenz und Plausibilität. Erinnerung hatte in diesem Zusammenhang eine spezifische, vor allem an die Beteiligtengeneration gerichtete Bedeutung. Denn die Aufforderung, sich zu erinnern, wendete sich gegen das ubiquitäre Beschweigen und Ableugnen der NS-Verbrechen, stand gegen die hohle, aber hartnäckige Behauptung: Davon haben wir nichts gewusst. Erinnern hieß in diesem Kontext, sich und anderen die ganze Wirklichkeit des nationalsozialistischen Deutschlands einschließlich der eigenen Rolle darin einzugestehen und individuelle wie gesellschaftliche Konsequenzen zu ziehen. Dieser semantische, direkt mit der nationalsozialistischen Erfahrung verbundene Kern ist weitgehend in Vergessenheit geraten. An seine Stelle ist ein Erinnerungsbegriff getreten, der mit und in zugleich schiefer Adaption von Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte ein vor-, wenn nicht antimodernes Konzept des Umgangs mit Vergangenheit vorantreibt: Erinnerung als Identität und Gemeinschaft stiftendes Erzählen von Vergangenheit jenseits methodisch reflektierten, begrifflich bedachten Durcharbeitens. Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als Überwindung ideologischer und gesellschaftlicher Kontinuitäten nach 1945, Aufarbeitung der Vergangenheit als gesellschaftliches Lernen durch damit verbundene Konflikte war im Kern ein generationelles Projekt; es ist als solches - auch auf Grund seines politischen Erfolgs - weitgehend zu Ende gegangen. Sein Ende bedeutet den eigentlichen Epochenschnitt und ist nicht weniger folgenreich als der Abschied von den unmittelbaren Zeugen. Mit letzteren gehen gewichtige Veto-Instanzen gegen politisch leichthändige Indienstnahmen und historisch wie moralisch schiefe Vergleiche oder unzulässige Verallgemeinerungen und Analogisierungen verloren. Mit letzteren schwinden Menschen, deren Geschichte in besonderer Weise berührt und mit denen Geschichte als lebendige Erfahrung in die Gegenwart hineinreichte und unmittelbare Anteilnahme und Auseinandersetzung einforderte. Mit der Generation Aufarbeitung schwindet nicht nur der zentrale gesellschaftliche Akteur dieses Projekts, das Projekt selbst ändert seinen Aggregatzustand, ja, es hat ihn längst geändert. Diese Änderungen bleiben weitgehend ausgeblendet: zum einen auf Grund des Zeitzeugenbooms mit Beginn der 1990er Jahre, zum anderen durch die forcierte Entwicklung des Ausbaus der KZ-Gedenkstätten nach der Vereinigung der beiden Deutschlands 1990. Denn erst der unabweisliche Bedarf für eine Neukonzeption der an die Bundesrepublik übergegangenen ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR und die damit einhergehende staatliche Verpflichtung hat zur Sicherung und zum angemessenen Ausbau der KZ-Gedenkstätten in ihrer heutigen Form geführt. Der karge Ausbau von Gedenkstätten wie Dachau, Bergen-Belsen, Flossenbürg oder Neuengamme spricht eine deutliche Sprache: Waren in Buchenwald 1990 gegen einhundert Menschen beschäftigt, waren es in Dachau kaum fünf. Jüngere erleben die Bundesrepublik zu Recht nicht mehr als praktische Aufarbeitung fordernde, postnationalsozialistische Gesellschaft. Kaum camouflierte nationalsozialistische Lehrer sind ihnen ebenso fremd wie das Fortwirken nationalsozialistisch geprägter Mentalität oder Elitenkontinuitäten vor und nach 1945. Eine zumeist von Älteren angemahnte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tritt ihnen überwiegend als Erinnerungsimperativ bzw. als institutionalisierte Praxis in Studium, Geschichtsunterricht, Gedenkstätten, Denkmalen und Gedenktagen entgegen und begegnet ihnen in Gestalt massenmedialer oder öffentlich habitualisierter Redundanzen und Kümmerformen wie etwa Gedenkstättenpflichtbesuchen, rhetorischen Codes, visuellen Klischees oder vordergründiger Symbolpolitik. Mit diesem Wandel verbunden sind Erosionen historischer Neugier und gleichsam unmittelbar gegebener lebensweltlicher Relevanz, aber auch Glaubwürdigkeitsdefizite und eine Verschiebung von der Zivilgesellschaft zu staatlichen Regulierungen von Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit - mit allen Vor- und Nachteilen. Christian Meier spricht bereits vom "Gedenkwesen". Anders gesagt: Aus dem einstigen Vorhaben, mittels kritischer Selbstreflexion nationalsozialistischer Vorgeschichte mehr Demokratie und demokratische Haltungen praktisch zu erwirken, ist tendenziell ein von kritischer Selbstvergewisserung und transzendierender gesellschaftlicher Praxis abgekoppeltes Lehrvorhaben geworden: vergangenheitsgefärbtes, eher formales, auch scholastisches Demokratielernen. "Wer aus der Vergangenheit nicht lernt, versteht weder die Gegenwart, noch wird er die Zukunft bewältigen ..." - solche formelhaften Sätze zitieren zwar auch Jüngere gelegentlich gerne, aber es ist zu befürchten, dass sie dabei eher die hilflose Rhetorik der Älteren imitieren. Wie jedes Trockenschwimmen ist solch vergangenheitsgefärbtes Demokratielernen von Monotonie, Langeweile und dem Ruch der Folgenlosigkeit und Wirklichkeitsferne bedroht. Mit diesem Wandel verbinden sich darüber hinaus nicht nur unzulänglich diskutierte didaktische und methodische Fragen, sondern das so verfasste Lernvorhaben trägt auch zunehmend kompensatorische bzw. affirmative Züge: kompensatorische Züge dort, wo es sich vornehmlich an demokratieferne oder demokratieabstinente Jugendliche als angeblich alleinigem Gefährdungspotential demokratischer Verhältnisse adressiert und die darüber hinausgehenden mentalen und strukturellen Gefährdungen demokratischer Gesellschaftlichkeit außer Acht lässt, etwa in Gestalt xenophober, antisemitischer oder (proto-)rassistischer Haltungen in der Mitte der Gesellschaft oder forciertem Sieger-Verlierer-Denken mit sozialdarwinistischer Grundierung. Affirmativ-teleologisch droht das vergangenheitsgefärbte Demokratielernen zudem dort zu werden, wo die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik spätestens mit der Vereinigung von 1989/90 als wesentlich abgeschlossen gilt, mit der Konsequenz, dass nur mehr der Status quo zu festigen sei. Das ist gleichsam die bundesrepublikanische Variante eines selbstgenügsamen Post-Histoire, das Lernen aus der Geschichte als obsolet erscheinen lässt bzw. entsprechende Aufforderungen in das schiefe Licht in sich widersprüchlicher Double-Bind-Kommunikation taucht. Wohin das führt, lehren die Geschichte der DDR und die SED-Geschichtspolitik. Noch 1989 veranlasste die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald eine Jugendstudie zur Wirkung ihrer Arbeit. Angestoßen worden war sie durch die nicht mehr zu übergehende alltägliche Erfahrung, junge Menschen kaum mehr zu erreichen. Die nie zur Veröffentlichung vorgesehene Untersuchung erbrachte drei Befunde, die uns warnen sollten. Zum einen verwies sie auf den Verschleiß der immer gleichen Formeln und Rituale und damit indirekt auch auf den Zusammenhang zwischen mehr oder minder deutlich eingeforderten (Lippen-)Bekenntnissen und Desinteresse. Zum anderen machte sie die Folgen eindimensionaler, unkritischer staatlicher Selbstpositivierung in Verbindung mit geschichtsteleologischer Zwangsläufigkeit deutlich. Warum sollen wir uns, fragten sich jüngere Gedenkstättenbesucher nämlich, diese Geschichte überhaupt etwas angehen lassen, wenn die "Wurzeln des Faschismus" in unserem Land bereits ein für alle mal ausgerottet worden sind, faschistische Gefahr nur noch im Anderswo, im Westen, droht und der Sieg des Kommunismus geschichtsgesetzlich verbürgt ist? Warum und wofür sollte man unter solchen Voraussetzungen überhaupt aus der Geschichte lernen und Verantwortung für ihre Entwicklung übernehmen? Den hier umrissenen Verschiebungen entspricht die schleichende Transformation kritischer historischer Selbstreflexion in Gedächtnis- bzw. Identitätspolitik seit Mitte der 1980er Jahre. Sollten mit Gedächtnis- und Identitätspolitik zunächst vor allem Vertrautheitsschwund und Entheimatungserfahrungen im Prozess technisch beschleunigter Moderne durch Rückgriff auf symbolisch bewahrte Traditionen und die kulturelle Revitalisierung von Erinnerungsorten, Geschichtsbildern oder Mythen symbolisch nur mehr kompensiert werden, haben sie darüber hinaus mit der deutschen Vereinigung zunehmend nationale Züge und Funktionen angenommen. Zu den Folgen gehören eine Entkopplung von kritischer Geschichtswissenschaft und Gedächtnisformierung, die vormoderne Mythisierung von Geschichte als Summe individueller Erlebnisse und Erinnerungen, die Behauptung eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen a priori kalter, unauthentischer Geschichtsschreibung und a priori authentischer Zeitzeugenschaft, das Verschleifen der Grenzen von Erinnerungskultur und -politik, die tendenzielle Reduktion von Erinnerungskultur auf historisch entkernte Pietät jenseits empirisch gehaltvoller Auseinandersetzung mit den Ursachen von Staats- und Gesellschaftsverbrechen als dem Kern präventiver Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und schließlich die Fokussierung auf bloße Abstandsermessung zwischen Damals und Heute, nicht aber deren reflexive Verknüpfung und Analyse. Lernen an negativer Vergangenheit reduziert sich schnell auf moralische Appelle, überhistorisches Existentialisieren bzw. Anthropologisieren - Welt und Menschen sind und waren immer schon schlecht - oder die Akklamation von Bürger- und Menschenrechten im gleichsam luftleeren Raum. Nicht zuletzt aber entschwindet ein empirisch gehaltvolles, reflektiertes Bewusstsein der Verzahnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So wie die Gegenwart meint, sich von der Vergangenheit umfassend distanzieren zu können, schafft sie Zukunft jenseits technischen Wandels und funktionaler Modernisierung gleichsam ab. Lernen aus der Geschichte wird zum Glasperlenspiel. Dabei muss nicht zuletzt verwundern, wie unbedacht einer Kollektivierung von Erinnerungen im Namen des antitotalitären Konsenses das Wort geredet wird, geradezu so, als gehörte nicht gerade die Uniformierung noch des Innersten und Subjektivsten zu den von George Orwell in seiner totalitarismuskritischen negativen Utopie "1984" beschriebenen Alpträumen. Insofern Erinnerungen in unaustauschbaren Erfahrungen gründen, lassen sie sich, ohne diesen Erfahrungen Gewalt anzutun, eben gerade nicht kollektivieren. Statt Erinnerungskollektive zu behaupten, sie also rhetorisch, sozial oder politisch zu konstruieren, ließe sich vernünftigerweise nur nach überindividuellen Rahmenbedingungen für historische Erinnerungen und Sinnbildungen als Anknüpfungspunkte für subjektverbundenes und zugleich transpersonalen Geschichtsbewusstsein fragen. Perspektiven Hier muss ansetzen, wer Erinnerung - verstanden als Metapher für die kritische, handlungsorientierte Auseinandersetzung mit den negativen Horizonten eigener Geschichte - bewahren will. An die Stelle des leerlaufenden Erinnerungsimperativs tritt die Bildung reflektierten Geschichtsbewusstseins als Resultat begreifen wollender Auseinandersetzung sowohl mit Quellen und Überresten, als auch - an sie rückgekoppeltem - Durcharbeiten historischer Erinnerungen. Zukunft gewinnt Erinnerung nicht durch Erinnerungsübertragung, sondern durch ihre Erschließung als historische Quelle und als Lerngegenstand. Reflektiertem Geschichtsbewusstsein wird Erinnerung selbst historisch verstehens- und deutungsbedürftig. Geschichtsbewusstsein in diesem Sinn begreift die extreme Geschichte des 20. Jahrhunderts als unermessliches Reservoir für eine ebenso plastische wie konkrete Auseinandersetzung mit allen Formen politisch, gesellschaftlich und kulturell verursachter Menschenfeindlichkeit, ihren Keimformen und ihren Folgen. Umgekehrt fragt die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte aber auch - nicht zuletzt mit Blick auf die Zeit ab 1945 - nach aus solchen Erfahrungen gewachsenen Konzepten und Praktiken politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenhandelns, dessen Begründung, Umsetzung und auch Institutionalisierung - etwa in Formen des Rechts oder der historisch-politischen Bildung -, national wie transnational. Ihr Gegenstand ist nicht die Vergangenheit als solche, sondern die daran genährte Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft. Um diese Zivilgeschichte zu entfalten und mitzugestalten, bedarf es ebenso der Suche nach Zukunft in der Vergangenheit wie der antizipierenden Auseinandersetzung mit technologisch, politisch, soziokulturell oder ökonomisch generierten Gefährdungen menschlicher Zukunft. Ursachenforschung wie die Ermittlung von Alternativen und Gegenkonzepten greift dabei notwendig deutlich über das 20. Jahrhundert hinaus, und zwar sowohl im Sinne einer Archäologie des individuell und überindividuell Inhumanen und seiner Bedingungen wie der Spuren liegengebliebener, uneingelöster, verhinderter oder enteigneter Zivilität in der Geschichte, verstanden etwa als Verbürgung leiblicher Unversehrtheit, eines menschenwürdigen Lebens, der solidarischen Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen oder der Verpflichtung zu gewaltfreier Konfliktaustragung. Einen frühen Bundesgenossen findet solche Auseinandersetzung mit Geschichte in Montaigne, der unter dem Eindruck der verheerenden Religionskriege seiner Zeit den Kern solchen historischen Lernens umrissen hat: "Ich (...) lerne von Gegenbeispielen mehr als von Beispielen, und weniger durch Nachvollziehen als durch Fliehen. (...) Meine Abscheu vor Grausamkeit zieht mich stärker zur Barmherzigkeit hin, als es deren leuchtendste Vorbilder je bewirken könnten. Was sticht, berührt uns tiefer und macht uns wacher, als was uns streichelt. Die jetzige Zeit vermag uns nur durch ihre Abkehr von ihr zu bessern: durch Nichtanpassung mehr als durch Anpassung, durch Widerspruch mehr als durch Zustimmung." Erschließung und Entwicklung solcher Zivilgeschichte zielen auf die Bildung einer geschichtsbewussten citoyenneté (aktive Bürgerschaft) durch Aneignung und Bearbeitung historischer Erfahrungen und Handlungsfolgen. Insofern unterscheiden sie sich sowohl vom bloßen Einlernen formaler demokratischer Strukturen wie von historisch entkonkretisierten Verpflichtungen auf abstrakte Moral. Vielmehr fußen auch universelle Konsequenzen, etwa die Verpflichtung auf Bürger- und Menschenrechte, im historisch Besonderen, Plastisch-Anschaulichem und transzendieren es gerade dadurch. Von überkommenen, romantischen Vorstellungen einer naturhaft-emanzipatorischen Kraft der Geschichte, insbesondere einer Geschichte "von unten", unterscheidet sich solche Zivilgeschichte insofern, als sie ohne geschichtsteleologische Illusionen auf allen Ebenen des Politischen, Sozialen und Kulturellen nach Ansätzen und uneingelösten Potentialen für Zivilität sucht und kein apriorisches historisches Subjekt postuliert, das allein zu solcher citoyenneté fähig wäre. Die etablierten Formen des Gedächtnisses sind ihr Bezugs- und Orientierungspunkte; aber nicht im Sinne fixierter Traditionen oder ewig gültiger Repräsentationen sondern im Sinne von zeitgebundenen Deckerinnerungen, die auch auf ihre vorbewussten, latenten Gehalte mitbefragt und dadurch gleichsam wieder verflüssigt werden müssten, auch auf lebensweltliche Erfahrungen und Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart hin. Nimmt man - um einen Gegenstandsbereich zu wählen - mit dem Nationalsozialismus verbundene Kernerfahrungen und Handlungsfolgen ernst, dann zeichnen sich beispielsweise als Arbeitsfelder einer solchen Zivilgeschichte folgende ab: politische und soziokulturelle Formen der Stabilisierung bzw. Destabilisierung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch; die gesellschaftliche Verursachung von Angst, deren Folgen und Überwindung; Würde, Selbstachtung und Partizipation; Strukturen und Dynamik sozialer und kultureller Exklusion und Inklusion; Vertrauen und Gewalt. Im Blick auf den Stalinismus ließe sich unter anderem als Arbeitsfeld der Zusammenhang von diskursiver Konfliktaustragungsunfähigkeit und Gewalt als Medium gesellschaftlicher Entwicklung und Steuerung hinzufügen. Allerdings fände die Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft ihre Gegenstände nicht nur in den beiden zentralen, weil folgenreichsten Diktaturgeschichten des 20. Jahrhunderts, der deutschen und der sowjetisch-russischen. Die Unrechts- und Gewaltgeschichte geht in diesen nicht auf. Deshalb operiert eine Geschichte der Zivilität mit potentiell offenem, nationalgeschichtlich nicht eingeschränktem Untersuchungshorizont, schlägt aber nicht alles über einen Leisten und bleibt historischer Konkretion und dem jeweils Besonderen, Spezifischen der einzelnen Geschichten verpflichtet. Denn erst die uneingeschränkte, selbstkritische Anerkennung und Auseinandersetzung mit inhumaner Gesittung und menschenfeindlicher Praxis in der eigenen Geschichte nährt Zivilität und demokratische Kultur nachhaltig. Erst sie erlauben die glaubwürdige, anteilnehmende Öffnung auf die Verhältnisse und Erfahrungen Anderer hin. Die empirisch gehaltvolle Bearbeitung von Themenfeldern wie den oben genannten in Verbindung mit Gegenwarts- und Zukunftsfragen diente nicht nur der Gewinnung von Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungskompetenzen, sondern zielte durch sie hindurch auf die Historizität - und damit Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit - eigenen Lebens. Zugespitzt formuliert, gegen verbreitete Gefühle der Nichtigkeit, des Überflüssig- und Abgehängtseins ginge es nicht zuletzt darum, Lebensgeschichten - im Sinne kultureller Vergesellschaftung und Inklusion - die Rückkopplung an Geschichte zu ermöglichen; nicht zuletzt im Sinne nachträglicher Erwirkung von Subjektivität und reflexiver Identität als Voraussetzungen solidarischer Bewältigung - bzw. Vermeidung - entgleisender Geschichte im Zeitalter der Globalisierung. Zivilgeschichte der Zukunft in diesem Sinne fände, wie gesagt, essentielle Anstöße in nationaler Geschichte, ginge in dieser aber notwendig nicht auf. Sie hätte nicht nur eine inhaltliche Seite, sondern fundierte sich zugleich in methodischen Kompetenzen des kritisch-rationalen Umgangs mit Überlieferung. Sie überschritte das rein Kognitive durch die Ausbildung überlieferungsverbundener historischer Vorstellungskraft als Voraussetzung konkreter Empathie und uneingeschränkter Mitmenschlichkeit, verstanden als Bewahrung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch. Die in der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten zusammengeschlossenen großen Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland haben ein entsprechendes Selbstverständnis im November 1997 veröffentlicht. Es hat im Jahr 2000 Eingang in die Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes gefunden. Der Topos findet sich bereits 1995 im Zusammenhang mit den fünfzigsten Jahrestagen der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Negatives Gedenken - den Inhalten, nicht den Zielen nach - meint die Bewahrung eines öffentlichen, selbstkritischen Gedächtnisses an von den Eigenen an Anderen begangenen Staats- bzw. Gesellschaftsverbrechen und die damit verbundene Verantwortungsübernahme einschließlich des Ziehens praktischer Konsequenzen. "Generation" ist hier eher metaphorisch gemeint. Weder handelt es sich um eine, noch soll behauptet werden, dass alle jeweiligen Mitglieder sich das Projekt Aufarbeitung zu eigen gemacht hätten. Als Metapher zielt der Begriff auf eine Gemeinsamkeit der Beteiligten: ihre erfahrungsgeschichtliche Verbindung mit dem Nationalsozialismus, seinen Aus- bzw. Nachwirkungen. Christian Meier, Zum deutschen Gedenkwesen, in: Norbert Lammert (Hrsg.), Erinnerungskultur, Sankt Augustin 2004, S. 21-42. Vgl. Wilfried Schubarth, Historisches Bewußtsein und historische Bildung in der DDR zwischen Anspruch und Realität, in: Werner Henning/Walter Friedrich (Hrsg.), Jugend in der DDR. Daten und Ergebnisse der Jugendforschung vor der Wende, Weinheim-München 1991, insbes. S. 27ff. So insbes. Hermann Lübbe und Odo Marquard. Michel de Montaigne, Essais. Drittes Buch, Frankfurt/M. 1998, S. 462. Im Gegensatz zu zugeschriebener, über traditionale oder anders vorgegebene Identifikationsmuster einbahnstraßenartig gebildete, starre, auf politische Orthopädien gegründete Identität.
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, Volkhard Knigge
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32665/zur-zukunft-der-erinnerung/
Gegenstand einer kritischen, handlungsorientierten Auseinandersetzung mit der Geschichte ist die daran genährte Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft.
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Was Bildung vom Journalismus lernen kann | Bildungsalltag | bpb.de
Die Rolle von Journalistinnen und Journalisten hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Sie sind nicht mehr die "Gatekeeper" des 20. Jahrhunderts. Ihre Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer sehen in ihnen nicht mehr die Allwissenden, die ihnen Informationen zuteilen, an die sie sonst nicht herankommen. Auch die Lehrenden an den Schulen erleben die Konkurrenz von YouTube und anderen sozialen Medien. Journalistinnen und Journalisten müssen um Aufmerksamkeit und Akzeptanz, um die eigene Autorität und das eigene Selbstverständnis genauso kämpfen wie Lehrerinnen und Lehrer. Digitalisierung und Journalismus Die Digitalisierung verändert das journalistische Handwerk auf revolutionäre Weise. Wenn Reporterinnen und Reporter das Netz nicht als Bedrohung sehen, sondern als Herausforderung, dann können sie erzählen wie niemand vor ihnen. Sie können Wort, Foto und Video so mischen, dass für die Betrachtenden Wirklichkeit vielschichtiger wirksam wird als je zuvor. In multimedialen Reportagen können in journalistischen 3-D-Werken ganz neue Erzählungen entstehen. Auch in der Schule gilt das für die Kombination verschiedener Methoden des Interner Link: Blended Learning und den Einsatz multimedialer Unterrichtstools. Das Netz und die alltägliche Nutzung von Tablets und Smartphones zur Kommunikation und Informationsbeschaffung verändern unsere Mediennutzungsgewohnheiten grundlegend. Wir alle sind gleichzeitig Konsumierende und Produzierende von Inhalten, füttern das Netz mit Texten und Fotos: Das Netz wird so zum Archiv der Gegenwart. Reporterinnen und Reporter bedienen sich in diesem Archiv, entwickeln neue Formen und neue Medien. Formate verändern sich, entstehen neu, Print rückt in den Hintergrund und digitale Angebote in den Vordergrund. In den letzten Jahren haben im Internet Nachrichtenmedien Erfolg, die das Bedürfnis der Leserinnen und Leser nach Informationen und Einordnung schneller, differenzierter und vor allem billiger erfüllen. Websites von Print-Medien, Aggregatoren wie Google und Flipboard, soziale Medien wie Facebook und Twitter, Dutzende News-Apps wie tagesschau.de, Huffington Post oder BBC News liefern der interessierten Leserschaft aktuelle Nachrichten. In Blogging-Diensten wie tumblr, in Netzmedien wie Carta oder Perlentaucher und auf lokalen Seiten wie Ruhrbarone können Nutzer/-innen Nachrichten vertiefen und einordnen. Wer sich für Fußball interessiert, wird bei Podcasts wie "Zonal Marking" oder auf der Seite "Spielverlagerung" fundierter informiert als in den Sportteilen vieler Tageszeitungen. Genauso geht es Menschen, die sich für Medizin, Recht oder Architektur interessieren, wenn sie ihre Nische im Netz aufgespürt haben. Die redaktionelle Gesellschaft Cordt Schnibben (© privat, Cordt Schnibben) In Teilen des Internets wird eine Gegenöffentlichkeit zu den klassischen Medien gesponnen. Klassische Formate und Plattformen werden geplündert, ihnen wird aber auch die Kontrolle und der Heiligenschein geraubt. Die Print-Medien können ihre Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr wie Care-Pakete über den Leserinnen und Lesern abwerfen: Das Netz macht aus ihnen Gesprächspartnerinnen und -partner, Korrektorinnen und Korrektoren, aber auch: Nervensägen, Hetzerinnen und Hetzer. Es geht um "Content", gerade im Kontext der journalistischen Nutzung sozialer Netzwerke. Inhalte müssen "snackable" sein und auf mobilen Endgeräten funktionieren, sie werden zunehmend auf spitze Zielgruppen zugeschnitten und mit ihnen entwickelt. Für Jugendliche konzipierte Medien wie Snapchat oder TikTok prägen zunehmend das Rezeptionsverhalten der Lernenden, was natürlich auch Auswirkungen auf deren Rezeption von Bildungsinhalten hat. Reddit und BuzzFeed sind in den USA häufig geklickte Websites, die Nachrichten sammeln und sortieren. Sie haben inzwischen mehr User als die "New York Times". Ihr Geheimnis ist die Interaktivität: Leserinnen und Leser füttern reddit mit Nachrichten, Fotos, Fragen. Die beliebteste Rubrik ist "Ask me anything", in der Bill Gates, andere Expertinnen und Experten und Prominente Fragen aller Art beantworten. Reddit ist ein sozialer Aggregator, nur gespeist von seinen Nutzerinnen und Nutzern, bei BuzzFeed ("The Viral Web in Real Time") liefern auch Redakteurinnen und Redakteure die Inhalte, die sich vor allem aus Videos, Fotos und Links zusammensetzen. So entwickelt sich langsam eine redaktionelle Gesellschaft von Online-Bürgerinnen und -bürgern, die Zeitungen nicht mehr brauchen, um mitreden und mitgestalten zu können. In der redaktionellen Gesellschaft ist es so leicht wie nie, sich über die Welt zu informieren, so leicht wie nie, den Informationen zu misstrauen, und so einfach wie nie, in einer Parallelgesellschaft der Informationen zu leben. Lernende im 21. Jahrhundert müssen ihre eigenen Chefredakteurinnen und -redakteure sein, sie brauchen Medienkompetenz so dringend wie fundierte Kenntnisse in den klassischen Schulfächern. Smartphones und Tablets ermöglichen ununterbrochene Partizipation. Die funktioniert allerdings anders als die massenmediale Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts. Digitale Bürgerinnen und Bürger kommunizieren in Nischen, in vernetzten Gruppen, in Blogs, unter Followern, Freundinnen und Freunden. Sie sind häufig verwöhnt von den Möglichkeiten der neuen digitalen Medien, gelangweilt von analogen Textbündeln und von Zeitungen, die ihnen zu teuer sind und vollgestopft mit Texten, die sie nicht interessieren. Sie wollen maßgeschneiderte Ware, keine von der Stange, und billig soll die auch sein, am besten kostenlos. Sie mögen Flipboard, Zite, Huffington Post, tumblr, TED, taptu. Die digitalen Angebote der Zeitungen sind ihnen nicht innovativ genug, kaum verändert gegenüber den Papierausgaben, die neuen Möglichkeiten zu wenig nutzend. Das erklärt den mäßigen Erfolg der ePaper-Ausgaben. Veränderung der Bildungsmedien Was für die klassischen und sozialen Medien gilt, gilt auch für Bildungsmedien. Wer als Schülerin und Schüler bei YouTube durch Tutorials anders lernt als die Lernenden vor zwanzig Jahren durchs Schulbuch, sucht die multimediale Vielfalt und Anschaulichkeit auch in der Schule. Lehrende, die den Unterrichtsstoff in Tutorials aufbereiten, gehören heutzutage ebenso zum modernen Unterricht wie Lernende, die den Unterrichtsstoff umsetzen in selbstgestalteten Videos oder multimedialem Storytelling. Medienkompetenz im 21.Jahrhundert bedeutet nicht nur, dass Schülerinnen und Schüler Medien verstehen können, sie sollten auch zu Medienproduzierenden werden, und die Schulen müssen sie dazu in die Lage versetzen. Die Einbeziehung digitaler Medien in den Unterricht bietet zudem die Möglichkeit, die Lerninhalte zielgruppenspezifischer zu vermitteln und die Jugendlichen mehr als bisher in ihrer Lebensrealität abzuholen. Bildungsangebote zur Medienkompetenz sollten Schülerinnen und Schüler befähigen, sich im Medien-Dschungel informiert zu bewegen und ihre Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung kompetent wahrzunehmen. Sie brauchen Grundkenntnisse über die Funktion von klassischen und sozialen Medien, brauchen ein kritisches Verhältnis zu Medien. Besonders Nachrichtenkompetenz ist wichtig, um sich orientieren zu können. Was ist Journalismus, wodurch unterscheidet sich ein Influencer von einer Journalistin? Wie entstehen Nachrichten, wie objektiv können sie sein? Wie kann man Fake News erkennen? Wie recherchiert man, wie verlässlich ist es zu googeln? Pressekodex, Presserecht, Urheberrecht – was ist das? Hate Speech und Mobbing im Netz – was dagegen tun? Wie unterscheiden sich öffentlich-rechtliches und privates Fernsehen? Schülerinnen und Schüler müssen wissen, was sie beachten sollten, wenn sie selbst Texte, Fotos oder Videos veröffentlichen, sei es auf YouTube oder Instagram, in Kommentarspalten oder im eigenen Blog. Wer soziale Medien füttert mit eigenen Fotos und Texten, muss Antworten finden auf Fragen, die jeder Journalist und jede Journalistin während der Ausbildung gelernt hat: Wer muss mir Auskunft geben? Was darf ich veröffentlichen? Wie muss ich die Privatsphäre schützen? Wie überprüfe ich Informationen? Medienkompetenz in der Schule Mit ihrem Strategiepapier "Bildung in der digitalen Welt" und dem "Kompetenzorientierten Konzept für die schulische Medienbildung" hat die Kultusministerkonferenz (KMK) anspruchsvolle Anforderungen an die Vermittlung von Medienkompetenz in Schulen formuliert. Die KMK hat den Lehrenden und den Schulen empfohlen, "außerschulische Kooperationspartner", insbesondere Medienanbieter und Bildungseinrichtungen zur Vermittlung von Medienkompetenz zu nutzen. Hier knüpft beispielsweise die "Externer Link: Reporterfabrik" an. Die WebAkademie des Journalismus organisiert seit über einem Jahr bundesweit Schulbesuche von Journalistinnen und Journalisten und produziert begleitende Unterrichtseinheiten. Denn viele der Anforderungen an die Aus- und Fortbildung von Lehrenden, die in der KMK-Strategie formuliert werden, gehören zum Grundwissen und zur täglichen Praxis von Journalistinnen und Journalisten: Informationen recherchieren und auswählen; Medien produzieren; Datensicherheit und Datenmissbrauch verstehen und erkennen; mediale Gewaltdarstellungen bewerten. Kurzum: die Mediengesellschaft verstehen. In einer Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa unter 1000 14- bis und 21-jährigen Lernenden befanden zwei Drittel, ihre Lehrerinnen und Lehrer seien "nicht so gut" oder "schlecht" mit digitalen Lernmethoden vertraut. Ein Großteil der Jugendlichen sieht in digitaler Bildung mehr als nur die Vermittlung von technischen Kompetenzen. Für 76 Prozent geht es auch darum zu lernen, wie man mit digital gewonnen Informationen umgehen kann. Digitaler Journalismus muss stärker an Leserinnen und Lesern orientiert sein als analoger: interaktiver, transparenter, vernetzter, globaler, auch sinnlicher. Genau das gilt auch für die Gestaltung des modernen Unterrichts, Lehrende können hier von den Erfahrungen von Journalistinnen und Journalisten lernen. Cordt Schnibben (© privat, Cordt Schnibben)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-01-22T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/303437/was-bildung-vom-journalismus-lernen-kann/
Journalismus muss sich den digitalen Veränderungen stellen und entwickelt sich dabei inhaltlich und methodisch weiter. Was Lehrende davon übernehmen können, erklärt Cordt Schnibben, Leiter der Reporterfabrik, in seinem Gastbeitrag.
[ "Journalismus", "Bildung", "redaktionelle Gesellschaft", "Medienkompetenz", "Zeitung" ]
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Editorial | Migration und Arbeitsmarkt | bpb.de
Der demografische Wandel wird die deutsche Gesellschaft in absehbarer Zeit vor große Herausforderungen stellen. Es droht nicht nur die Überalterung, sondern auch ein beträchtlicher Fachkräftemangel. Schon heute beklagen Vertreter der Wirtschaft die unzureichende Auswahl an gut ausgebildeten Spezialisten - im Juli 2009 habe der Bedarf bereits bei über 60 000 Fachkräften gelegen. Doch im internationalen Wettstreit um die "besten Köpfe" könnte Deutschland den Anschluss verlieren. Eines der Kernprobleme liegt darin, dass es für Zuwanderer, insbesondere für solche aus Nicht-EU-Staaten, sehr schwierig ist, ihre im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse anerkannt zu bekommen. Zwar hat es unter anderem mit der Green Card Initiative (2000), dem Zuwanderungsgesetz (2005), dem Nationalen Integrationsplan (2007) und der "Dresdner Erklärung" (2008) immer wieder Schritte in Richtung einer besseren Anerkennungspraxis gegeben, aber noch immer wird viel Potenzial vergeudet. Der zugewanderte Ingenieur, der hierzulande als Taxifahrer über die Runden kommen muss, ist keine Seltenheit. Wie demografischer Druck dazu führen kann, dass Einwanderungspolitik aktiv gestaltet und zu einem zentralen Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialpolitik gemacht wird, zeigt das Beispiel Kanada. Dort werden die Zuwanderer mit Hilfe eines Punktsystems ausgesucht - streng orientiert an ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen. Ungeachtet dessen, ob dieses Modell für Deutschland wünschenswert wäre oder nicht, zeigt sich jedoch auch in Kanada, dass gesetzliche Regelungen kein Allheilmittel sind. Migrantinnen und Migranten werden ihr Potenzial nur dann zum Wohle der Gesamtgesellschaft ausschöpfen können, wenn ihnen vorurteilsfrei begegnet wird und sie sich - unabhängig von ihrer ökonomischen "Verwertbarkeit" - willkommen fühlen.
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Piepenbrink, Johannes
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31663/editorial/
Durch den demografischen Wandel droht der deutschen Gesellschaft nicht nur die Überalterung, sondern auch ein beträchtlicher Fachkräftemangel. Deutschland wird mittelfristig auf gut qualifizierte Migranten angewiesen sein.
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"Moskaus moralischer Bankrott..." Ein Brief aus Prag von Heinrich Böll | Prag 1968 | bpb.de
August abends kam ich auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes in Prag an. Auf der telegrafischen Einladung hatte u. a. gestanden "Unser Bestreben ist, daß Sie sich an Ort und Stelle über den würdigen Verlauf unseres Erneuerungsprozesses überzeugen und nach Rückkehr die Öffentlichkeit Ihres Landes unterrichten". Rückwärts betrachtet wirkt nun der Text dieser Einladung wie mörderische Ironie. Ich hatte die Einladung ohne Zögern angenommen, weil ich im tschechoslowakischen Modell eines demokratischen Sozialismus eine große Hoffnung für den Westen und für den Osten sah; von dort, von Prag und Bratislava aus, hätte sich nach Osten und Westen verbreiten können, was bis zum Januar 1968 als Utopie galt: sozialistische Freiheit. Der nebenstehende Kommentar ist dem Buch entnommen: Heinrich Böll; "Der Panzer zielte auf Kafka, Heinrich Böll und der Prager Frühling", erschienen im KiWi-Verlag 2018. Worüber ich nun die "Öffentlichkeit meines Landes unterrichten" kann: schon in der ersten Nacht weckte uns das Dröhnen schwerer Flugzeuge, die sehr niedrig flogen. Um sieben Uhr früh kam ein Freund ins Hotel, klopfte an unsere Tür und rief von draußen: Wir sind besetzt. Kurz darauf hörten wir die ersten Schüsse auf dem Wenzelsplatz, wir gingen sofort hin, sahen die sowjetischen Panzer – eine Demonstration absurder Dummheit und unzählige Menschen, Jugendliche und Erwachsene. Mich erregte am meisten, wie leidenschaftlich die Menschen versuchten, mit den sowjetischen Soldaten zu diskutieren, ihnen und sich diesen unglaublichen Vorgang zu erklären. Ein einziger Schuß von seiten der Bevölkerung hätte wahrscheinlich die Katastrophe ausgelöst, aber dieser eine Schuß fiel nicht. Es war sichtbar, daß wir Zeugen eines historischen Ereignisses waren, dessen Folgen noch nicht auszudenken sind. Sichtbar war auch, daß hier der von Moskau zentral gelenkte Sozialismus seinen moralischen Bankrott erklärte und daß es sich um eine unverhohlene Unterdrückung einer ganzen Nation handelte. Das Modell einer Hoffnung, die hier acht Monate lang verwirklicht worden war, wurde zerstört. In Prag und Bratislava war bewiesen worden, daß ein strenges doktrinäres System von innen heraus, aus der regierenden Partei heraus, unterstützt von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen, die die Einsicht der Funktionäre stärkten und förderten, ohne Gewalt reformierbar war. Da auch wir in erstarrten Systemen leben, kann, was in diesen acht Monaten verwirklicht wurde, für uns ein Vorbild bleiben. Zunächst haben auf beiden Seiten die Reaktionäre gesiegt, und so manche westliche Träne ist eine Krokodilsträne. Der Prager Totentanz und der blutige Wahlkarneval in Chicago bedingen einander, sie stützten einander, und es wird für die tschechoslowakische Nation wie für uns die Zeit kommen, wo wir uns vor falschen Freunden hüten müssen. Die beiden Blöcke werden nach Einheit und Einigkeit innerhalb der Blöcke schreien, während sie sich doch untereinander einig sind über das, was in der Tschechoslowakei und in Vietnam geschieht. Die jungen Menschen, die in Chicago gegen den Krieg in Vietnam protestiert haben und zusammengeschlagen worden sind, haben gleichzeitig für die Tschechoslowakei demonstriert. Die Tschechoslowakei hat bewiesen, daß Freiheit nicht in eine westliche und östliche geteilt werden muß, ihre Freiheit ist unsere, wie die Freiheit der amerikanischen Demonstranten und Kriegsgegner. Ich habe während der fünf Tage in Prag die absolute Solidarität der tschechoslowakischen Nation erlebt. Ich kann nur hoffen, daß diese Solidarität den Menschen helfen wird, das fürchterliche Faktum der Okkupation zu überstehen und zu überwinden. 8. September 1968 sig. Heinrich Böll Die Veröffentlichung des Textes von Heinrich Böll erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch. Er ist dem Buch entnommen: "Der Panzer zielte auf Kafka - Heinrich Böll und der Prager Frühling", erschienen im "KiWi-Verlag" Köln, 2018. Die Schreibweisen Bölls aus dem Jahr 1968 wurden bei belassen. Zu weiteren Texten & Dokumenten aus dem Externer Link: bpb-Dossier Prag 1968 Der nebenstehende Kommentar ist dem Buch entnommen: Heinrich Böll; "Der Panzer zielte auf Kafka, Heinrich Böll und der Prager Frühling", erschienen im KiWi-Verlag 2018.
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Heinrich Böll
"2022-09-05T00:00:00"
"2018-08-16T00:00:00"
"2022-09-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/kalter-krieg/prag-1968/274318/moskaus-moralischer-bankrott-ein-brief-aus-prag-von-heinrich-boell/
Zum Zeitpunkt des Einmarschs der Truppen des Warschauer Pakts in die CSSR am 21. August 1968 befand sich der Schriftsteller Heinrich Böll mit seiner Frau Annemarie und seinem Sohn René in Prag. Er war für vier Tage einer Einladung des tschechoslowaki
[ "Heinrich Böll", "Prag 1968", "Schriftsteller", "UdSSR", "Protest", "Friedrich Dürrenmatt" ]
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Ein Blick in die Geschichte der Bildwelten der Weltbilder | Weltbilder | bpb.de
Menschen machten sich zu allen Zeiten ein Bild von der Welt, in der sie lebten und wie sie sie jeweils verstanden – und hielten dies entsprechend ihrer Möglichkeiten und den ihnen zur Verfügung stehenden Medien visuell fest. Die hinter dieser Praxis des Entwerfens von Weltbildern liegenden Fragen sind über die Jahrhunderte die gleichen geblieben. Sie betreffen die Ordnung, in welche der Mensch sich eingebettet findet und seine Stellung innerhalb dieser Ordnung: Welche Gestalt hat die Welt? Welche Kräfte und Ideen wirken in ihr? Woraus besteht sie? Wie ist sie entstanden? Wie sieht ihre Zukunft aus? Die mit dieser Ordnung einhergehenden Begriffe "Weltbild" und "Weltanschauung" verweisen dabei unmittelbar auf die grundlegende Bedeutung des Sehens und der Bildlichkeit für die menschliche Erfahrung von Welt. Bilder erfüllen für den Menschen eine grundsätzlich orientierende und strukturierende Funktion. Anschaulichkeit als grundlegende Kategorie für unser Verständnis von Welt meint jedoch mehr als eine bloße Reproduktion des Sichtbaren: Die Bildwelten der Weltbilder vermitteln nicht nur ein anschauliches Bild der Welt und des Kosmos beziehungsweise der entsprechenden Vorstellungen. Bildliche Darstellung geht notwendigerweise immer auch mit einer Abstraktionsleistung einher. Daher ist die dargestellte Welt stets eine vom Menschen hervorgebrachte Wirklichkeit und somit einerseits interpretiert und andererseits symbolisch konstruiert. Bilder von der Welt sind zugleich wirkungsmächtige Instrumente zum praktischen und theoretischen Handeln in der Welt und prägen auf unterschiedlichste Weise die Konstruktion und Imagination von Welt überhaupt. Die Geschichte der "Welt als Bild" reicht von kosmologischen Modellbildungen der Antike bis hin zu jüngsten computergenerierten Visualisierungen der Astrophysik. Es handelt sich also nicht nur um eine Geschichte wechselnder Weltvorstellungen, sondern zugleich um eine Geschichte wechselnder Darstellungsmethoden und unterschiedlicher Visualisierungsmedien: Bei der Betrachtung von Weltbildern gelangt daher eine Vielfalt visueller Medien in den Blick: Buchmalerei und Computersimulation, Tafelmalerei und Infografik, Kartografie und Diagramme. Im Folgenden möchte ich anhand ausgewählter bildlicher Darstellungen der Welt exemplarisch einige Aspekte der Geschichte der Bildwelten der Weltbilder aufzeigen – wobei diese chronologische Reihung nur eingeschränkt als lineare Entwicklung zu verstehen ist. Von der Symbolik des Zentrums und vollkommenen Kreisen Abbildung 1: Babylonische Weltkarte (7.–6. Jahrhundert v. Chr.) (© bpb) Bilder der Welt im Sinne von Praktiken visueller Welterzeugung entstehen bereits lange vor unserer Zeitrechnung. Eines der frühesten überlieferten Weltbilder ist die sogenannte Babylonische Weltkarte, die in der Zeit vom 7. bis 6. Jahrhundert v. Chr. im Zweistromland entstand und sich heute im British Museum in London befindet. Auf dem 8,2 mal 12,2 Zentimeter großen Fragment einer Tontafel sind auf der Vorder- und Rückseite Texte in Keilschrift eingeritzt sowie auf der unteren Hälfte eine Karte aus der Vogelperspektive (Abbildung 1). Auf einer runden Fläche innerhalb eines gleichmäßig breiten Rings, der als Ozean gekennzeichnet ist, sind wichtige Städte und Gebiete lokalisiert. Jenseits des Ozeans schließen sich außen sternförmig eine Reihe dreieckiger Formen an, deren Spitzen in vermutlich unbekanntes Terrain – die Räume zwischen den Spitzen sind unbeschriftet – hineinragen. Zwei parallele Linien, die sehr wahrscheinlich den Euphrat darstellen, streben von der oberen Mitte des Kreises nach unten durch den Mittelpunkt der Karte und treffen auf zwei waagerecht verlaufende Linien, die als Kanal bezeichnet werden. Im Zentrum steht die Stadt Babylon mit dem Hochtempel, der als Sinnbild des Zusammenhalts der Welt – Himmel, Erde und Unterwelt – als vertikale kosmische Achse vorgestellt wird, welche von Anbeginn der Zeiten die Stabilität des Weltgebäudes garantiert. Älteren kartografischen Konventionen folgend, werden die Ränder der bekannten Welt entweder als Berge oder als Meere dargestellt, die von furchterregenden Mischwesen bevölkert sind und somit eine Art Gegenwelt zur Zivilisation der geordneten altorientalischen Stadtkultur verkörpern. Der Text auf der Vorder- und Rückseite der Tontafel nimmt auf die Darstellung erläuternd Bezug. Auf diese Weise wird der begrifflichen Ordnung der Welt eine modellhafte anschauliche Ordnung gegenübergestellt. Zugleich eröffnet die perspektivische Darstellung der Babylonischen Weltkarte der Betrachterin oder dem Betrachter eine kartografische Orientierung im bekannten Raum, die es ihm erlaubt, die Welt der Babylonier als Ganzes zu erfassen. Diese Perspektive auf die Welt ist jedoch zugleich eine Perspektivierung, die Rahmung eines Selbst- und Weltverhältnisses, das auf gewissen Grundannahmen von der Welt basiert, aufgrund derer die Phänomene überhaupt erst in den Blick genommen werden können. Diese sind stets kultur- und zeitgebunden. Weltbilder sind daher als Modellierungen von Überzeugungen zu verstehen, durch die sich Menschen vor aller Erkenntnis und vor jeder Handlung ihrer selbst, ihrer Stellung in der Welt und der Welt als solcher vergewissern, mit einer Orientierungs- und Deutungsfunktion. So sind auch die Babylonische Weltkarte und der zu ihr gehörende Text in eine symbolische Weltsicht eingebettet, in der insbesondere die Handlung der Götter die Welt für die Menschen lesbar macht. Dies lässt sich auch an den Bildern christlicher Weltvorstellungen des lateinischen Mittelalters, sogenannten mappae mundi, festmachen. Anders als etwa die auf den Methoden der griechischen Naturwissenschaft basierenden mittelalterlichen muslimischen Himmelskarten, die selbst keine religiöse Dimension dokumentieren und vielmehr dazu dienten, Mondkalender für die religiösen Rituale zu erstellen und die Gebetszeiten festzulegen, oder Kartendiagramme der islamischen Welt zur Ermittlung der Kibla, der Gebetsrichtung nach Mekka aus jeder Richtung der Welt, sind mappae mundi religiös überformt und geprägt von der biblischen Überlieferung der Ordnung der Welt und weisen zahlreiche Bezüge zur christlichen Heilsgeschichte auf. Ein Beispiel ist etwa die Londoner Psalterkarte, die in den 1260er Jahren entstand und heute in der British Library in London aufbewahrt wird (Abbildung 2). Sie zeigt auf der Vorderseite, ebenfalls aus der Vogelperspektive, die Welt als vom Heiland gesegnete Scheibe, eingefasst von einem grünen Ring, der den Ozean darstellt. Mittig oben auf der Karte, also im Osten, ist das Paradies mit dem Doppelporträt von Adam und Eva sowie fünf dort entspringenden Flüssen zu erkennen. Rechts davon ist das Rote Meer zu sehen, links die kaukasische Festung, hinter der Alexander der Große die Endzeitvölker Gog und Magog eingeschlossen haben soll. Gegenüber, am südlichen Rand der Karte, befinden sich menschliche Missgestalten und halbtierische Fantasiewesen in ihren Gehäusen. Im Zentrum des Erdkreises, in der Mitte der Welt und der Völker, liegt Jerusalem – wie insbesondere seit der Eroberung des Heiligen Landes durch die Kreuzfahrer 1099 auf solchen westlichen Darstellungen der Welt üblich. In der unteren Hälfte sind die ebenfalls in Grün gehaltenen, waagerecht verlaufenden Flüsse Don und Nil sowie, senkrecht skizziert, das Mittelmeer zu sehen. Diese in den Weltozean eingelassene T-Form der Gewässer trennt die drei um das Mittelmeer angeordneten Kontinente Asien, Europa und Afrika voneinander. Der antiken Konvention sogenannter T-O-Karten folgend, liegt Asien im oberen Teil der bewohnten Welt, Europa im linken unteren Viertel und Afrika im rechten unteren Viertel. Auf der Rückseite des Blattes werden die drei Kontinente den drei Söhnen Noahs Sem (Asien), Jafet (Europa) und Ham (Afrika) zugeordnet, die laut der biblischen Überlieferung nach der Sintflut die Erde besiedeln. Abbildung 1: Babylonische Weltkarte (7.–6. Jahrhundert v. Chr.) (© bpb) In dem gleichen Maße, in dem bildliche Darstellungen der bekannten Welt bis in die Frühe Neuzeit hinein von der Symbolik des Zentrums inspiriert sind, beherrscht das geozentrische Weltbild die Vorstellung der Menschen vom Kosmos: Von der Antike an wird dem im stetigen Wandel befindlichen Dasein auf der Erde der supralunare göttliche Bereich der ewigen und unveränderlichen Sphärenwelt gegenübergestellt, in dem die Gestirne in vollkommenen Kreisbewegungen ihre Bahnen um die Erde ziehen, die als unbeweglich im Mittelpunkt des Kosmos vorgestellt wird. Dieser Bezug auf die Idealform des Kreises ist von der Annahme einer göttlichen Geometrie inspiriert, die schon der griechische Philosoph Platon (ca. 428–348 v. Chr.) beschreibt. Er sieht diese im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt. Sie habe die Funktion, das Unbegrenzte zu begrenzen, die Materie nach Maß und Zahl zu gestalten und vor allem Harmonie und Ordnung zu stiften. Dieses Motiv des geometrisierenden Gottes ist in kommentierten Bibelhandschriften aus dem frühen 13. Jahrhundert wiederzufinden. So zeigt etwa eine Darstellung in der "Bible moralisée" aus Oxford von 1235/45 n. Chr., die heute in der Bodleian Library aufbewahrt wird, Gott als deus geometra auf einem Thronsessel sitzend, wie er die Weltscheibe vor sich hält und mit einem Zirkel in der Hand präzise die kreisrunde Form der Welt umreißt. Die Vorstellung von der Vollkommenheit der Kreisbewegungen der göttlichen Gestirne wird jedoch bereits in der Antike durch die zeitgenössische Beobachtung der Himmelserscheinungen der sogenannten fünf Irrsterne infrage gestellt: Die Bahnen der Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur bilden kaum zu deutende Schlaufen, stehen still oder sind sogar rückläufig. Im zweiten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung kann der griechische Mathematiker und Naturforscher Ptolemaios von Alexandria (ca. 100–170 n. Chr.) die komplexen Planetenbewegungen schlüssig erklären, woraufhin das nach ihm benannte Weltbild über Jahrhunderte – bis zur "kopernikanischen Wende" im 17. Jahrhundert – gültig bleibt: Er lässt die Himmelskörper auf Epizyklen kreisen, womit sich die Umlaufbahnen und die Winkelabstände der Planeten von der Sonne präzise beschreiben lassen. Das drei Jahrhunderte zuvor von dem griechischen Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos (ca. 310–230 v. Chr.) entwickelte heliozentrische Modell zur Erklärung der komplexen Planetenbahnen kann Ptolemaios verwerfen. Denn er gelangt zu dem Schluss, dass wenn die Erde sich auf einer riesigen Umlaufbahn um die Sonne bewegen würde, im Sommer wie auch im Winter am Fixsternhimmel gewisse Verschiebungen erkennbar sein müssten – sogenannte Parallaxen. Parallaxeneffekte sind zu Ptolemaios’ Zeiten jedoch nicht auszumachen, auch nicht zu Lebzeiten von Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Galileo Galilei (1564–1642) oder Johannes Kepler (1571–1630). Letzterer kann zwar anhand des Planeten Mars belegen, dass sich Planeten auf elliptischen Bahnen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit um die Sonne bewegen, und besiegelt damit die endgültige Abkehr von der Idealform des Kreises. Doch erst 1838 kann der deutsche Astronom und Mathematiker Friedrich Wilhelm Bessel (1784–1846) den von Ptolemaios geforderten Effekt einer Fixsternparallaxe präzise nachweisen. Von der Ausdehnung der Welt Als am Ende des 15. Jahrhunderts der Seefahrer Amerigo Vespucci (1451–1512) den im Westen neu entdeckten Kontinent als solchen erkennt und der Kosmograf Martin Waldseemüller (ca. 1475–1521) die Neue Welt mit dem Namen Amerika belegt, stellt dies die Trinität der Kontinente und damit auch die biblische Überlieferung der Ordnung der Welt infrage. Da die Bibel die Herkunft aller Völker auf die drei Söhne Noahs zurückführt, die nach der Sintflut die drei Kontinente besiedeln, muss zunächst geklärt werden, ob es sich bei den neu entdeckten Völkern tatsächlich um Menschen oder vielmehr um Tiere handelt. Nachdem am spanischen Hof die Frage nach dem Status der "Wilden" zu Gunsten des Menschseins entschieden ist, wird weiter spekuliert, ob es sich bei den Völkern der Neuen Welt möglicherweise um die zehn verlorenen Stämme Israels handelt. Als spanische und holländische Seefahrer schließlich im 16. und 17. Jahrhundert die legendäre terra australis erreichen und kartografieren und nach der Neuen Welt nun ein fünfter Kontinent entdeckt ist, lässt sich die Vorstellung von der Trinität der Kontinente nicht länger aufrechterhalten. Zu dieser Zeit läutet der Geograf Gerhard Mercator (1512–1594) mit neuen Kartentypen das Zeitalter der kartografischen Reformation ein. Die neuzeitlichen Hersteller von Weltkarten finden ihre Vorbilder in topografischen Karten und sind dem Ideal größtmöglicher Exaktheit und Treue der Aufzeichnung des Terrains verpflichtet. Dennoch ist auch die wissenschaftlich motivierte Darstellung der Erde mit dem Phänomen konfrontiert, dass eine kugelförmige Oberfläche auf eine zweidimensionale Fläche projiziert werden muss und damit die Abbildung der Erde ohne Verzerrung nicht möglich ist. Auch die Repräsentation der Welt durch Karten hängt von der Perspektive beziehungsweise von der verwendeten Projektionsmethode ab, die entweder flächentreu oder winkeltreu erfolgen kann. So können das Territorium und die Oberfläche einer Karte nie vollständig zur Deckung kommen. Wie schon zu Zeiten der Herstellung der Babylonischen Weltkarte folgen auch die ersten wissenschaftlichen Weltkarten der Logik der Abstraktion: Um als Werkzeug der Orientierung zu fungieren, transformiert die Karte das Territorium durch Abstrahieren, Schematisieren und Verallgemeinern in einen erschließbaren und erfahrbaren Raum, um damit etwas Bestimmtes und Intendiertes der Wahrnehmung des Betrachters zuzuführen: etwa den Einblick in Relationen zwischen verschiedenen Orten oder einen anderen epistemologischen Sachverhalt, der anders nicht gezeigt beziehungsweise sichtbar gemacht werden kann. Erst die Abstraktion vom Territorium führt zur Lesbarkeit der Karte, weist diese damit aber auch als soziales Konstrukt aus, das stets aus einem macht- und interessengeleiteten Gefüge hervorgeht. Durch Karten entstehen Bilder von der Welt, deren wie auch immer motivierte Perspektivierung wieder zurückwirkt auf die Wahrnehmung der Welt beziehungsweise des Territoriums. Die Welt des griechischen kosmos und der geschaffene mundus des Mittelalters werden in der Neuzeit durch die im 16. Jahrhundert zunehmende Akzeptanz des heliozentrischen Weltmodells sowie die im 19. und 20. Jahrhundert immer präziser werdenden astrophysikalischen Messmethoden zum Universum. Als solche wird die Welt für lange Zeit als nicht mehr darstellbar empfunden. Dies gilt zunächst mit Blick auf ihre Größe: Die Ausdehnung des Universums in der Neuzeit verändert tiefgreifend die Vorstellungen, die sich die Menschen von der Welt machen. Für die Darstellbarkeit der Welt heißt das: Die Welt, von der man weiß, ist zu groß, als dass sie auch nur vorgestellt werden könnte. Mit dieser räumlichen Entgrenzung der Welt, die in der Vormoderne durch die klassische Unterscheidung von Zentrum und Peripherie oder die Trennung eines Oben von einem Unten strukturiert werden konnte, kommt es zum Verlust wahrnehmbarer Ordnung – nicht zuletzt aufgrund des enormen Zuwachses an Kenntnissen über die Welt, die mit ihrer Entdeckung und Erforschung sowie der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften einhergeht. Versuchen die Kunst- und Wunderkammern des Barock noch, die kosmische Ordnung des Makrokosmos im Mikrokosmos abzubilden und den universalen Zusammenhang aller Dinge aufzuzeigen, stoßen die Enzyklopädien der Aufklärung damit bald an ihre Grenzen. Im 18. Jahrhundert entsteht neben einer ganzen Reihe ähnlicher Vorhaben in Europa auch die "Encyclopédie" des französischen Philosophen und Schriftstellers Denis Diderot (1713–1784) und des Mathematikers Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783). Die Intention der Herausgeber der "Encyclopédie" ist die Sammlung aller auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse und deren systematische Darlegung. Zwischen 1752 und 1780 entsteht damit eines der wirkmächtigsten Hauptwerke der französischen Aufklärung, das gleichsam zum Symbol für das Weltbild dieser Epoche in Europa wird. Am Ende umfasst das Werk 17 Textbände mit rund 72000 Artikeln sowie elf opulent gestaltete Tafelbände. Einem Ergänzungsband von 1780 fügen die Herausgeber eine höchst aufwendig gestaltete Ausklapptafel in einer Größe von 98,5 mal 63,5 Zentimetern hinzu, welche die kaum mehr zu überblickende Vielfalt der Erkenntnisse über die Welt in der Gestalt von einem Baum des Wissens darstellt (Abbildung 3). Der Stich wird mit der Intention entworfen, das wesentliche Wissen über die genealogische Entwicklung der Wissenschaften und der Künste für eine rasche Orientierung des Lesers auf einen Blick verfügbar zu machen. Aus dem Baumstamm erwächst ein komplexes Gefüge von Ästen, die eine Vielzahl ovaler Medaillons als Früchte tragen, in denen kurze, jedoch kaum zu entziffernde Erläuterungen eingetragen sind. Das Wissen wächst in diesem Bild organisch von der Wurzel bis hinauf in die Baumkrone, verzweigt sich immerfort und gleicht schließlich der Gestalt eines natürlichen Baums. Visuelle Ordnungssysteme für Segmente einer immer komplexeren Welt Weltbilder, so scheint es ab dem 19. Jahrhundert, können nicht mehr Visualisierungen der Welt von der Art vormoderner Darstellungen des Kosmos sein. Charakteristisch für die Verwendung des Begriffs werden daher Kombinationen mit explikativem Genitiv, etwa das "Weltbild der Physik" oder das "Weltbild des mittelalterlichen Menschen". Solche Ausdrücke weisen auf die Wahrnehmung insbesondere des 19. Jahrhunderts hin, dass Bilder nur mehr Segmente einer Welt repräsentieren können, die als immer komplexer werdend wahrgenommen wird. So sind beispielsweise visuelle Ordnungssysteme im 18. und 19. Jahrhundert überaus beliebter Bestandteil naturkundlicher Publikationen. Naturforscher sind beseelt von der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt und einer systematischen Beschreibung der Ordnung der Natur. Neben dem begrifflichen Klassifikationssystem, das der Schwede Carl von Linné (1707–1778) in Form einer binomialen Nomenklatur in seinem Werk "Systema naturae" von 1735 als Ordnungssystem der Natur vorstellt, entstehen unzählige taxonomische Diagramme, Bilder und Skizzen, die eine visuelle Ordnung der Natur zu etablieren suchen. Durch die Expansion des Welthandels und die Kolonisierung weiter Teile der Welt steigt die Zahl der in den Sammlungen der europäischen Naturforscher angehäuften Objekte in einem bis dahin nicht gekannten Maße und bringt die bis dahin verwendeten ordnenden Systeme an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Die Fülle und die damit einhergehende Unübersichtlichkeit sowohl der Tier- als auch der Pflanzenwelt führen zu der Einsicht von der Unregelmäßigkeit der natürlichen Ordnung. Um diese zumindest visuell in den Griff zu bekommen, entwerfen Naturforscher mithilfe einer streng geometrischen Bildsprache systematisierende Diagramme, die wiederum Rückschlüsse auf die Gesetzmäßigkeiten und Ordnung der Tier- und Pflanzenwelt zulassen sollen. Als etwa der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) sein epochales Werk über die Ursachen der Veränderlichkeit der Arten 1859 in London publiziert, ergänzt er seine Ausführungen um ein Diagramm auf einer ausklappbaren Tafel (Abbildung 4). Die Leserichtung läuft vom unteren Rand der Tafel nach oben: Die Großbuchstaben A bis L bezeichnen die Populationen einer Art. Die von da nach oben in unterschiedlicher Länge aufstrebenden gepunkteten Linien repräsentieren die Stammlinien der Nachkommen. Vom Großbuchstaben A aus streben sechs Linien fächerförmig auf, wobei sich nur die beiden äußeren bis zur ersten horizontal verlaufenden Linie erstrecken und am Schnittpunkt mit den Kleinbuchstaben a1 und m1 belegt werden. Die im gleichen Abstand eingetragenen und mit den römischen Ziffern I bis XIV durchnummerierten horizontal verlaufenden Linien stehen für Zeitspannen, in welchen Tausende von Generationen aufeinanderfolgen: Nach zehntausend Generationen hat sich A in a10, f10 und m10 aufgespalten, B, C, D sind im Laufe der Zeit ausgestorben, und E und F wurden ohne größere Veränderungen zu E10 und F10. Die Populationen G, H, K und L sind ebenfalls ausgestorben, I wurde jedoch ähnlich wie A entsprechend den Prinzipien der Evolution zu w10 und z10. Obwohl Darwin seine Publikation mit dem griffigen Titel "On the Origin of Species" überschreibt, lässt er den Leser im Dunkeln über den Ursprung der Arten: Von den Buchstaben A bis L laufen elf abgewinkelte Linien zum unteren Rand der Buchseite. Würde der Betrachter das Fortlaufen der Linien imaginieren, träfen diese sich außerhalb der von der Größe des Papiers vorgegebenen Fläche in einem Punkt, der wohl einen gemeinsamen Vorfahren repräsentieren würde. Mit seinem Diagramm macht Darwin jedoch deutlich, dass die Evolution nicht als ein linearer Prozess verläuft, sondern der Struktur eines Busches ähnelt, an dessen vielen Zweigen Gleiches unabhängig voneinander erwachsen kann, und am Ende nicht nur die am besten angepasste Variante existieren kann, sondern eine ganze Reihe von Varianten, wie a10, f10, m10, E10, F10, w10 und z10. Zwar existieren im 19. Jahrhundert eine Vielzahl biologischer Evolutionsmodelle und eine Reihe eindrucksvoller Belege, welche die Evolution zu einer bestechenden Erklärung für die Entstehung der biologischen Vielfalt des Lebens auf der Erde machen. Darwin ist jedoch der Erste, der eine überzeugende Theorie anbietet, die wirklich schlüssig erklären kann, wie die mit der Evolution einhergehenden physiologischen Veränderungen der Lebewesen zustande kommen – insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass Lebewesen perfekt an ihren Lebensraum angepasst sind. Bei der Formulierung seiner Theorie vermeidet Darwin die Bezeichnung "Evolution" und verwendet den Ausdruck "Entwicklung". Denn "Evolution" bezeichnet damals gerade nicht den Wandel der Arten, sondern das Aus- beziehungsweise Entfalten bereits vorgebildeter Anlagen. Der Kerngedanke dieser entwicklungsbiologischen Theorie war in Form der sogenannten Präformationslehre bereits in der Antike entwickelt worden und vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein eine der vorherrschenden Erklärungen für die Entstehung von Leben. Eine der Ursachen für den lang andauernden Widerstand gegen die Vorstellung der Veränderlichkeit der Arten liegt sicher in der großen Bedeutung, die Platons idealistischer Philosophie lange zugeschrieben wurde. Als ein Vertreter der Typenlehre beschreibt Platon die Organismen als geordnet sowie nach gleichbleibenden Formen und Ideen gestaltet – und somit als unveränderlich und ewig. In "On the Origin of Species" entwirft Darwin ein Bild von der Natur, das bestimmt ist von Unvollkommenheit, Zufall und Auslese und sich mit der Vorstellung einer perfekten und unveränderlichen Schöpfung nicht mehr in Einklang bringen lässt. Mit seiner Evolutionstheorie skizziert Darwin ein neues Weltbild, das dem Menschen eine neue Rahmung eröffnet, sich in ein Verhältnis zur Natur und zu seiner Kultur zu setzen, ohne einen Schöpfergott als Erklärung bemühen zu müssen. Er liefert nicht nur Einsichten über die Ursachen der Entstehung der biologischen Vielfalt des Lebens, sondern zugleich den letzten großen Baustein zur Formulierung einer vollständig naturalistischen Weltsicht mit all ihren Folgen für das Menschen- und Weltbild bis in die heutige Zeit. Nur mehr ein Punkt im Weltall Wird die Welt für die Menschen der Neuzeit zu groß, als dass sie auch nur vorgestellt werden kann, schrumpft die Welt für die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu einem Punkt. Als die Raumsonde "Voyager 1" am 14. Februar 1990 das Sonnensystem verlässt, entsteht eine Fotografie der Erde aus 6,4 Milliarden Kilometern Entfernung, die als "Pale Blue Dot" bekannt wird. Das ist die größte Distanz, aus der die Erde bis dahin aufgenommen wurde. Die Aufnahme zeigt ein Bild von der Erde, die von den anderen Planeten in den unendlichen Weiten des Universums nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Milchstraße ist nur ein Sonnensystem neben unendlich vielen anderen und die Erde nur ein Punkt in einem recht kleinen Sonnensystem. Bereits auf dem Mondflug der "Apollo 8" war am 24. Dezember 1968 eine Fotografie der Erde entstanden, die in ihrer Darstellung den Vorstellungsrahmen vieler Menschen neu justierte (Abbildung 5): Das Bild mit dem Titel "Earthrise" zeigt den Erdaufgang vom Mondorbit aus in seiner ganzen Singularität in einem unendlich großen Universum. Wie kein anderes Bild der Raumfahrt trägt "Earthrise" seit seiner Entstehung zur Bildung und Rahmung des Selbst- und Weltverhältnisses der Menschen bei und bildet – wie auch schon die Babylonische Weltkarte zweieinhalb Jahrtausende zuvor – eine Grundlage für die Erzeugung von Darstellungen und Vorstellungen, die sich die Menschen von der Welt machen können. Vgl. hier und im Folgenden: Ingeborg Reichle et al., Vorbemerkung, in: dies. (Hrsg.), Atlas der Weltbilder, Berlin 2011, S. XIII ff. Zur Begriffsgeschichte vgl. Johannes Zachhuber, Weltbild, Weltanschauung, Religion. Ein Paradigma intellektueller Diskurse im 19. Jahrhundert, in: Christoph Markschies/ders. (Hrsg.), Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visualität von Weltbildern, Berlin–New York 2008, S. 171–194. Vgl. Friedhelm Hartenstein, Die Babylonische Weltkarte, in: I. Reichle et al. (Anm. 1), S. 14. Vgl. Eva Schürmann, Die Bildlichkeit des Bildes. Bildhandeln am Beispiel des Begriffs Weltbild, in: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 195–211. Vgl. I. Reichle et al. (Anm. 1). Vgl. zum Begriff mundus Wilhelm Kölmel, Imago mundi. Studien zum mittelzeitlichen Weltverständnis, Boethania-Forschungsergebnisse zur Philosophie, Bd. 19, Hamburg 1995, S. 10–21. Vgl. Michael Borgolte, Christliche Welt und muslimische Gemeinde in Kartenbildern des Mittelalters, in: I. Reichle et al. (Anm. 1), S. 122. Der Begriff "T-O-Karte" bezeichnet eine kreisrunde – O-förmige – Darstellung der Welt, die durch T-förmig angeordnete Gewässer in drei Teile getrennt wird (orbis terrae tripartitus). Vgl. Friedrich Ohly, Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott, in: Norbert Kamp/Joachim Wollasch (Hrsg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters, Berlin–New York 1982, S. 4. Siehe auch Georg Glaszes Beitrag in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. I. Reichle et al. (Anm. 1), S. XIV. Vgl. bspw. Volker Mueller, Denis Diderots Idee vom Ganzen und die "Encyclopédie", Neu-Isenburg 2013; Robert Darnton, Eine kleine Geschichte der Encyclopédie und des enzyklopädischen Geistes, in: Anette Selg/Rainer Wieland (Hrsg.), Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt/M. 2001, S. 455–464. Vgl. bspw. Barbara Holländer, Die enzyklopädische Ordnung des Wissens in bildlichen Darstellungen, in: Hans Holländer (Hrsg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 163–179. Vgl. I. Reichle et al. (Anm. 1), S. XV. Vgl. dies., Charles Darwins Gedanken zur Abstammung des Menschen und die Nützlichkeit von Weltbildern zur Erhaltung der Art, in: ebd., S. 318–332; Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874, Frankfurt/M. 2007; Horst Bredekamp, Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005.
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, Ingeborg Reichle
"2022-03-01T00:00:00"
"2015-09-29T00:00:00"
"2022-03-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/212832/ein-blick-in-die-geschichte-der-bildwelten-der-weltbilder/
Menschen hatten zu allen Zeiten eine Vorstellung von der Welt, in der sie lebten und wie sie sie verstanden – und hielten dies visuell fest. Die Geschichte der "Welt als Bild" nimmt nicht nur wechselnde Weltvorstellungen in den Blick, sondern auch di
[ "Weltbilder", "religiöse Weltbilder", "Religion", "Einstellung zu Religion", "Bildwelten", "Charles Darwin", "Erde", "Weltall" ]
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Editorial | Leichte und Einfache Sprache | bpb.de
Eine Voraussetzung für Kommunikation und Teilhabe in demokratischen Gesellschaften ist sprachliche Kompetenz. Die Konzepte der Leichten und Einfachen Sprache zielen darauf, sprachliche Hürden für diejenigen abzubauen, die Alltags- oder auch Fachsprachen (etwa "Amtsdeutsch", Wissenschaftssprachen) nicht oder nur schwer verstehen. Während Leichte Sprache insbesondere seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland 2009 an Bedeutung gewonnen hat, erhält Einfache Sprache seit den jüngsten Erkenntnissen über das Ausmaß des funktionalen Analphabetismus besondere Relevanz: 14,5 Prozent der 16- bis 64-Jährigen in Deutschland können zwar einzelne Wörter und Sätze lesen (und verstehen), nicht aber zusammenhängende Texte. Leichte und Einfache Sprache werden oftmals synonym verwendet, obwohl Ausgangslage, Regeln und Zielgruppen sich unterscheiden. Erstere fokussiert Menschen mit kognitiven Behinderungen oder Lernschwierigkeiten. Letztere konzentriert sich auf Menschen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen; niedrigschwellige Angebote sollen den Zugang zur Schriftsprache und den Spaß an Büchern erleichtern. Neben der fehlenden einheitlichen Definition ist die Übersetzung der Texte eine weitere Herausforderung: Wie können Sinnverluste minimiert werden und welche sind hinnehmbar, um grundlegende Informationen vermitteln zu können? Die Forschung über das Zusammenspiel von Sprache, Bewusstsein und Teilhabe steht noch am Anfang. Daher gilt es, bei der Institutionalisierung der Leichten und Einfachen Sprache vor allem Menschen als Expertinnen und Experten einzubinden, die selbst zu den Zielgruppen zählen. Mit Blick auf Einfache Sprache sind flankierend auch Ursachen der verbreiteten geringen Lese- und Schreibfähigkeit in den Blick zu nehmen. Die Beobachtung, dass Texte in vereinfachter Sprache offenbar zunehmend auch von Menschen in Anspruch genommen werden, die formal nicht zu den Zielgruppen gehören, zwingt zum Innehalten: Fehlt uns nur die Zeit oder sind wir überfordert von der wachsenden gesellschaftlichen Komplexität?
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Asiye Öztürk
"2021-12-07T00:00:00"
"2014-02-19T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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[ "Leichte und Einfache Sprache", "Kommunikation", "Teilhabe", "Deutschland" ]
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Hintergrund | bpb.de
Deutschland hat in der Zeit von 1987 bis 2001 in absoluten Zahlen mehr Zuwanderer aufgenommen als die klassischen Zuwanderungsstaaten Australien und Kanada zusammen (vgl. Bade 2001). Dennoch war die Integration von zugewanderten Personen in Deutschland aus politischen Gründen keine Selbstverständlichkeit. Erst im Jahr 1991 war ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen, als die CDU, die zusammen mit der FDP die Bundesregierung stellte, die Formel "Deutschland ist kein Einwanderungsland" aus dem Dresdner Manifest strich (vgl. Bade 2001). Allerdings dauerte es weitere 14 Jahre, bis das Ausländergesetz im Jahr 2005 durch das Aufenthaltsgesetz (bzw. besser bekannt als Zuwanderungsgesetz) abgelöst und erstmals das Ziel der Integrationsförderung gesetzlich verankert und geregelt wurde. Seit 2007 liegt nun ein umfassender bundesweiter Maßnahmenkatalog zur Integration von zugewanderten Personen und deren Nachkommen vor: der "Nationale Integrationsplan", herausgegeben von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2007). Da knapp ein Fünftel der ausländischen Bevölkerung in den sechs größten Städten Deutschlands lebt und zudem der städtische Handlungsspielraum bei der Ausgestaltung der Vorgaben des Nationalen Integrationsplans sehr hoch ist, beleuchtet und beschreibt das vorliegende Kurzdossier die verschiedenen Konzepte und Maßnahmen zur Integration ausländischer Mitbürger der sechs größten deutschen Städte: Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt und Stuttgart. Einige Städte und Kommunen haben die Notwendigkeit der Integration ausländischer Mitbürger schon frühzeitig erkannt und eigene, auf die jeweiligen regionalen Besonderheiten abgestimmte Integrationspläne entwickelt. Stuttgart hat hier eine Vorreiterrolle übernommen und bereits 2001 ein eigenes Gesamtkonzept für die Integration und Partizipation von zugewanderten Personen und deren Kindern erarbeitet und umgesetzt. Aber warum sind regional angepasste Integrationskonzepte notwendig? Welche Rolle spielt dabei die jeweilige demographische und wirtschaftliche Situation? Und inwiefern ist eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt schon erfolgt? Eine Evaluation der städtischen Integrationsmaßnahmen kann an dieser Stelle noch nicht erfolgen, da diese erst vor Kurzem verabschiedet worden sind. Vielmehr ist es Ziel dieses Kurzdossiers, vor dem Hintergrund der jeweiligen regionalen Situation die Notwendigkeit städtischer Integrationskonzepte herauszustellen und die Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten einer wissenschaftlich fundierten Evaluation zu ergründen. In diesem Zusammenhang werden ebenfalls einige Beispiele für integrationsfördernde Maßnahmen vorgestellt. Zuvor muss jedoch geklärt werden, was man unter Integration eigentlich versteht. Wie definiert man Integration? Spricht man von Integration, ist es wichtig zu bedenken, dass es verschiedene Konzepte der Integration gibt. Generell ist zwischen Systemintegration und Sozialintegration zu unterscheiden. Während die Erstgenannte den Zusammenhalt eines Systems (z. B. einer Gesellschaft) als Ganzes bezeichnet, wird unter Sozialintegration der Einbezug individueller Akteure in ein System verstanden. Typischerweise ist Sozialintegration gemeint, wenn von der Integration von Migranten gesprochen wird. Hierbei sind zusätzlich vier Dimensionen zu unterscheiden (vgl. Esser 2000): Kulturation (auch: Sozialisierung) als Prozess der Wissensvermittlung, z. B. das Erlernen der Sprache sowie kultureller Standards. Sie ist notwendig, um erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.Unter Platzierung wird die Einnahme von Positionen in einer Gesellschaft verstanden, z. B. im Schul- oder Wirtschaftssystem, aber auch als Bürger. Mit dem Prozess der Platzierung geht die Übernahme von Rechten einher und damit die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Kapitalien zu erwerben.Interaktion bezeichnet die Herausbildung von interethnischen Netzwerken und Beziehungen. Dies beinhaltet Freundschaften, Eheschließungen, Vereinsmitgliedschaften oder ganz allgemein die Einbindung in soziale Gruppen und damit die Möglichkeit, soziales und kulturelles Kapital zu erwerben.Identifikation bezeichnet die individuelle Identifikation mit der Gesellschaft. Die Person sieht sich als Teil des Ganzen. Identifikation spielt sich sowohl auf der kognitiven als auch auf der emotionalen Ebene ab. Die verschiedenen Dimensionen der Integration sind natürlich nicht unabhängig voneinander. So setzt die Platzierung ein gewisses Maß an Kulturation (vor allem Spracherwerb) voraus. Und darauf aufbauend ist erst die Interaktion und schließlich die Identifikation mit einer Gesellschaft möglich. Ist eine Person in allen vier Dimensionen vollständig integriert, spricht man von Assimilation oder Angleichung, womit allerdings auch die kulturelle Eigenständigkeit des Einzelnen und damit die kulturelle Vielfalt verloren gehen kann. Sieht man jedoch Einwanderung als Möglichkeit an, verschiedene Kulturen als gleichberechtigt zu akzeptieren und miteinander zu verbinden (Multikulturalismus) , so muss die kulturelle Eigenständigkeit gewahrt bleiben. Die kulturellen und sozialen Verflechtungsbeziehungen von Menschen mit ihren Praktiken, Symbolen und Gegenständen ersetzen oder verdrängen sich nicht gegenseitig, sondern differenzieren die Möglichkeiten des Zusammenlebens der Menschen aus (vgl. Pries 2005). Sozialintegration kann man also definieren als die Inklusion und Akzeptanz von Migranten in Institutionen, Netzwerken und Positionen einer Gesellschaft. Der Prozess der Integration ist als interaktiver dialektischer sozialer Prozess zwischen Zuwanderern und der Aufnahmegesellschaft zu verstehen und erfolgt generationenübergreifend. Als Grundlage für ein multikulturelles Zusammenleben wird ein Pool von geteilten Werten und Normen (z. B. Rechtsstaatlichkeit) betont. Als Schlüssel für die Sozialintegration in das Aufnahmeland wird der Spracherwerb (Kulturation) angesehen und darauf aufbauend die strukturelle Angleichung der nationalen Gruppen an das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt (Platzierung). Die Platzierung in die Gesellschaft ist daher so zentral, weil sie zur Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen befähigt. Denn neben der Möglichkeit, ökonomisches Kapital zu erwerben und Anerkennung zu erlangen, vermittelt eine erfolgreiche Platzierung dem Positionsinhaber das Gefühl, gebraucht zu werden und ein Teil der Gesellschaft zu sein. Generell wird zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital unterschieden (vgl. Bourdieu 1983). Zudem impliziert der Begriff "Kapitalien" die Möglichkeit, diese nutzbringend einzusetzen. Borjas (1992) führt zudem das ethnische Kapital ein, da ihm zufolge die Integrationsmöglichkeiten auch von der Beschaffenheit des ethnischen Umfelds abhängen. Einen kritischen Diskurs über Multikulturalismus am Beispiel der Niederlande bietet das Kurzdossier Nr. 1 (vgl. Michalowski 2005).
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Andreas Damelang und Max Steinhardt
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57330/hintergrund/
Deutschland hat in der Zeit von 1987 bis 2001 in absoluten Zahlen mehr Zuwanderer aufgenommen als die klassischen Zuwanderungsstaaten Australien und Kanada zusammen. Dennoch war die Integration von zugewanderten Personen in Deutschland aus politische
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Dokumentation: Beschluss des Senats der Republik Polen vom 29. Oktober 2013 zum Gedenken an Tadeusz Mazowiecki, den ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten in Ostmitteleuropa | Polen-Analysen | bpb.de
Der Senat der Republik Polen erweist dem am 28. Oktober 2013 verstorbenen Tadeusz Mazowiecki seine Ehrerbietung, dem ersten Ministerpräsidenten der Dritten Republik und zugleich ersten nichtkommunistischen Regierungschef in den Ländern des nach dem Krieg entstandenen Ostblocks, dem Mitgestalter politischer und wirtschaftlicher Reformen von historischer Bedeutung für Polen, dem herausragenden, moralischen Grundsätzen treuen Politiker, dem mit Visionen, Klugheit und Mut beschenkten Staatsmann und Träger des Ordens des Weißen Adlers. Wir geben unserer Dankbarkeit für Tadeusz Mazowieckis langjährige publizistische, parlamentarische und oppositionelle Tätigkeit Ausdruck, für seine unerschütterliche Haltung als Vertreter der katholischen Gemeinschaft in der Zeit der Volksrepublik, für intellektuelle Inspirationen, für den Mut, zur Verteidigung der Benachteiligten und Streikenden aufzutreten – trotz gegen ihn selbst gerichteter Repressionen –, für seinen Anteil an der Entstehung der Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarność. Der klugen Führung von Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki verdanken wir, gut durch die schwierigen Zeiten der großen Systemveränderungen gekommen zu sein. Wir neigen das Haupt vor Tadeusz Mazowiecki und seiner Treue zu den von ihm bekannten Werten, seiner Ehrlichkeit im öffentlichen Leben. Er bewies sie vor der Weltöffentlichkeit, als er als Zeichen seines Protestes gegen die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber den Verbrechen des Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina sein Mandat als Sonderbotschafter der Kommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen für das ehemalige Jugoslawien niederlegte. Damals sagte er: "Ich gebe damit ein Zeugnis, dass Ehrlichkeit über abstruser Diplomatie stehen muss, für die die Worte über die Verteidigung der Menschenrechte aufhören, etwas zu bedeuten. Dieser Auffassung bin ich als Mensch, aber auch als Christ, der auf diese Weise Zeugnis ablegt. Ich habe nichts Großes vollbracht. Ich habe so gehandelt, wie es mir mein Gewissen gebot." Diese Stimme des Gewissens hat die Welt schließlich gehört. Der Senat der Republik Polen ehrt das Andenken Tadeusz Mazowieckis – eines großen Patrioten, Politikers, Staatsmannes. Der Beschluss unterliegt der Bekanntmachung im Amtsblatt der Republik Polen, Monitor Polski Der Senatsmarschall Bogdan Borusewicz Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate Quelle: Externer Link: http://www.senat.gov.pl/download/gfx/senat/pl/senatuchwaly/1660/plik/479-3.pdf (abgerufen am 12.11.2013) Wir haben nicht aufgehört zu kämpfen Ich möchte meine tiefe Dankbarkeit für die Auszeichnung zum Ausdruck bringen, die heute der "Solidarność" verliehen wird. Den unserer Gewerkschaft zuerkannten Freiheitspreis der Kurt-Schumacher-Stiftung verstehen und empfinden wir als einen Akt der Solidarität mit allem, was uns teuer ist und worum zu kämpfen wir nicht aufgehört haben. In unserer Zeit wurde zur großen Frage, besonders im zweigeteilten Europa, wie in der Welt, in der wir leben und deren Teilung kein tödlicher Kampf überwinden wird, auf unserer Seite dieser Welt eine Bewegung in Richtung Freiheit möglich ist. Für uns und für andere in unserem Teil Europas lebende Völker ist dies eine fundamentale Frage, die darüber entscheidet, wie wir heute sind und wie wir morgen sein werden. Ich glaube, daß aber auch in dem Teil Europas, zu dem Sie gehören, diese für uns so wichtige Frage nicht etwas ist – oder jedenfalls nicht sein sollte –, das bloß als ein von weitem herüberdringender Ruf vernommen werden sollte. Auch über Probleme des Friedens, mit dem größere menschliche Zuversicht einhergehen könnte, oder über die Angelegenheiten Europas, in dem das Gefühl der Gemeinsamkeit nicht vom Zerfall bedroht wäre, kann man nur dann ernsthaft denken und glaubwürdig sprechen, wenn man sich des Gewichts dieser Frage wirklich bewußt ist. Zusammen mit dieser Frage stellt sich jedoch eine weitere, nicht minder wesentliche Frage, die jene erste ergänzt. Es ist die Frage danach, was in diesem Prozeß, der unsere Freiheit erweitern könnte, am bedeutungsvollsten ist, worin vor allem Hoffnung zu suchen ist. Eine Antwort auf diese Frage ohne Illusionen und ohne Vorurteile zu suchen ist wichtig. Deshalb sollte nicht die Bedeutung dessen über­sehen werden, was unter unseren Bedingungen eine größere Öffnung der Machtstrukturen für die Erwartungen und das Streben der Menschen bewirken könnte. Trotz schlimmer Erfahrungen wäre es töricht zu glauben, daß in dieser Bezie­hung die Geschichte schon das letzte Wort gesprochen hat. Die Geschichte hat uns aber auch gelehrt, daß unsere Stärke nur in etwas anderem ihre Quelle haben kann. Alle unsere Erfahrungen beweisen, daß es am wichtigsten ist, wie der Mensch ist und wie es um seine innere Freiheit steht; wie die Gesellschaft ist und wie weit ihr Bewußtsein entwickelt ist, daß sie nicht nur Objekt fremden Handelns, sondern Subjekt ihres eigenen Schicksals ist. Unsere ganze Erfahrung zeigt nämlich, daß der Freiheitsraum nur unter dem Druck authentischer Initiativen in der Gesellschaft er­weitert werden kann, wie er auch nur unter diesem Druck auf Dauer erhalten bleibt. Der Weg der "Solidarność" war ein neuer, noch unge­bahnter Weg. Diese Bewegung der arbeitenden Menschen, gleichsam von Natur antitotalitär ausgerichtet, wenn man die Entstehungsgeschichte und die Umstände, unter denen sie arbeitete, betrachtet, diese Bewegung kämpfte nicht nur gegen etwas, sondern vor allem für etwas. Es ging um Mit­wirkungsrechte, weil die Menschen fühlten, daß ihnen diese Mitwirkung verwehrt wurde. Mitwirkung, Mitent­scheidung waren und sind für diese Bewegung Ausdruck der Freiheit. Dieser Weg besteht fort. Denn die "Solidarność" gehört nicht nur der Vergangenheit an. Große Kapitel der Ge­schichte werden nicht abgeschlossen, ohne zugleich neue zu eröffnen. Einmal errungene Rechte schlagen Wurzeln in den Seelen der Menschen, und dieses Gefühl drängt nach Verwirklichung. Einmal errungene Rechte schaffen eine neue Qualität der Gesellschaft, setzen Maßstäbe für das Streben der Menschen wie für unumgängliche Veränderun­gen. Das, worum wir kämpfen, gehört zu den grundlegenden Menschenrechten. Es ist eine wichtige Tatsache, daß im Laufe der letzten etwa fünfzehn Jahre die Idee der Men­schenrechte ihre Bedeutung wiedergewonnen hat. Man ver­steht unter diesem Begriff jedoch immer noch eher den Widerstand gegen extreme Akte der Gewalt gegenüber Indi­viduen. Wir sind die letzten, die dies nicht gebührend zu schätzen wissen. Zu den Menschenrechten gehört aber auch all das, was z. B. die Meinungs- oder die Vereinigungs­freiheit ausmacht. Wir hoffen, daß unser Kampf von der öffentlichen Mei­nung in Europa und der Welt durch ein ebensolches Ver­ständnis der Menschenrechte unterstützt wird; der Rechte des arbeitenden Menschen, der Rechte der Gesellschaften, der Rechte der Völker. Europa wird nicht Europa bleiben, wenn es nicht für die so verstandenen Menschenrechte kämpfen und diese nicht zum Programm erheben wird, das von Weitsicht getragen ist und die Werte unserer gemeinsa­men Kultur zum Ausdruck bringt. 26. September 1987, aus Anlass der Verleihung des Freiheitspreises der Kurt-Schumacher-Stiftung an die Gewerkschaft "Solidarność" Quelle: Tadeusz Mazowiecki, Partei nehmen für die Hoffnung. Über die Moral in der Politik. © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1990 Mazowiecki. Ein polnischer Christ schaut auf die Deutschen Ab Ende der 1950er Jahre, also ab dem Zeitpunkt, an dem man davon ausgehen muss, dass Tadeusz Mazowiecki die Grundlage seiner politischen Haltung entwickelte, wird er zum Fürsprecher der polnisch-deutschen Versöhnung, und zwar nicht nur der Verbesserung der polnisch-deutschen Beziehungen, sondern der Umsetzung einer grundlegenden Wende in ihnen. Offenbar gab es hierfür zwei Voraussetzungen. Die eine war vor allem politischer Natur. Die polnisch-deutsche Versöhnung war für den zukünftigen Ministerpräsidenten eine unerlässliche Bedingung dafür, dass Polen seine Selbständigkeit wiedererlangen und sich die unglückselige geopolitische Situation verändern wird. Das nach Westen verschobene Polen, ein Drittel des Territoriums auf ehemaligem deutschem Gebiet, schien eine Geisel Moskaus zu sein. Die real existierenden, aber auch unablässig von den Machthabern der Volksrepublik propagandistisch hervorgehobenen revisionistischen Tendenzen der Bundesrepublik Deutschland sollten dazu bewegen, unter den Fittichen des Großen Bruders zu bleiben. Dies war vielleicht das wichtigste Argument der Legitimierung der kommunistischen Machthaber in Polen. Jeder Schritt in Richtung Annäherung an die Deutschen hat also diese Legitimierung geschwächt und war insofern eine Annäherung an den Westen. Klar war, dass der Weg hin zu besseren Beziehungen mit den Deutschen schwierig werden würde. Der damalige Redakteur des Magazins Więź suchte in Deutschland Dialogpartner für eine lange Stecke. Er fand sie im westdeutschen PAX Christi und dem Bensberger Kreis sowie in Günter Särchen und der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Ostdeutschland. In den 1960er und 70er Jahren schienen dies marginale und politisch bedeutungslose Kreise zu sein. Erst nach Abschluss des Warschauer Vertrages vom Dezember 1970 konnte man von den Mitgliedern des PAX Christi als Pionieren der Versöhnung sprechen. Im Falle von Günter Särchen war es eindeutig, dass er als Oppositioneller in Ostdeutschland am Rande der großen Politik bleiben würde. Mazowiecki wollte jedoch immer Politik mit Menschen guten Willens betreiben und Politik, die auf Hoffnung gründet und nicht nur auf den Bedingungen der Realpolitik. Die Zeit, unmittelbar an der großen internationalen Politik teilzunehmen, kam für den nunmehr ehemaligen Redakteur von Więź und des Tygodnik Solidarność im Jahr 1989. Der Moment war auch deshalb von historischer Bedeutung, weil sich damals das Schicksal Deutschlands entschied. Er war Befürworter der deutschen Vereinigung, stellte aber gleichzeitig eindeutige Bedingungen, wozu die bedingungslose Anerkennung der territorialen Integrität der Republik Polen gehörte. Es scheint nicht so, als hätte Bundeskanzler Kohl bezüglich der Grenze Zweifel gehabt, allerdings wollte er die Angelegenheit bedingt durch die innenpolitische Situation auf für sich bequeme Art und Weise regeln. Mazowiecki erwies sich als harter Verhandler, der keine zweideutigen Situationen zuließ. Auf diese Weise schuf er auch die Voraussetzung für die weiteren gutnachbarlichen Beziehungen. Die Versöhnungsgeste in Kreisau (Krzyżowa) erwies sich infolge dessen als bedeutungsvoll, obgleich sich beide Politiker, Kohl und Mazowiecki, nie sympathisch fanden und ihr gegenseitiges Misstrauen bewahrten. Bestimmender Faktor für Tadeusz Mazowieckis Haltung Deutschland gegenüber war nicht nur die Politik. Als Christ wollte er nicht Hass als gemeinsame Beziehung zwischen Menschen und Gesellschaften akzeptieren. Allerdings waren Antipathie und häufig Hass nach dem Krieg verbreitete Gefühle in der Einstellung der Polen und der Deutschen. Eine Voraussetzung dafür war, auf der jeweils anderen Seite nur ein Kollektiv im Lichte von Stereotypen zu sehen und nicht individuelle Menschen und ihre Gesichter. Will man das Denken von Tadeusz Mazowiecki über das deutsche Problem erfassen, muss unbedingt an die von Więź herausgegebene Sammlung von Texten des von den Nazis hingerichteten Theologen Dietrich Bonhoeffer erinnert werden sowie an ein Buch, das Mazowiecki intellektuell ungeheuer nahe war, und zwar "Der Christ im Dritten Reich" von der heute etwas in Vergessenheit geratenen Publizistin Anna Morawska. Beide Bücher, die er selbst herausgegeben hat, gaben auch von den tiefsten Schichten seiner ideellen Einstellung Zeugnis. Es ging nicht nur um die Gestalt des guten Deutschen als Gegenbeispiel zum negativen Stereotyp. Die Person Bonhoeffer erscheinen zu lassen, war das Überschreiten einer künstlichen Grenze bei der Einteilung in Polen und Deutsche. Der deutsche Theologe wurde ein Partner in ein und derselben universalen Frage nach dem Widerstand des Einzelnen gegen eine Diktatur. Polen und Deutsche sollte der moralische Imperativ verbinden – der Christ im Dritten Reich hatte seine Entsprechung im Christen im Kommunismus – und nicht die schlechte und düstere Vergangenheit trennen. Dietrich Bonhoeffer war für Mazowiecki eine ungeheuer wesentliche Persönlichkeit, und er unternahm große Anstrengungen für die Herausgabe beider Bücher, wobei er die Zensur überwand. Unbedingt erinnernswert ist auch, dass Mazowiecki die deutsche Frage in einem größeren europäischen Kontext betrachtete. Der Gedanke, der später mit der Gründung des "Weimarer Dreiecks" Früchte tragen wird, ist in den Diskussionen um Więź herum bereits in den 1970er Jahren präsent. Gesprochen wird über den Bedarf, ein Zentrum des europäischen Kontinents zu schaffen, zu dem Frankreich, Deutschland und Polen gehören sollen. Für die Anhänger der Realpolitik konnte das damals wie ein Plan, der auf Entwicklung konzipiert ist, wirken, ähnlich wie die Versöhnung mit Deutschland in die fernere Zukunft verlegt werden sollte. Auch Tadeusz Mazowiecki konnte nicht die Zeit vorhersehen, in der sich dieses Gedanken realisieren würden, jedoch war er ein Politiker der Hoffnung. Er dachte in der Kategorie der Hoffnung und war bestrebt, Politik mit Menschen guten Willens zu gestalten. Dies erwies sich überraschend als außerordentlich wirksam. Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate Quelle: Externer Link: http://kazwoy.wordpress.com/2013/11/10/mazowiecki-polski-chrzescijanin-patrzy-na-niemcy-wspomnienia-6/ (abgerufen am 18.11.2013) sowie in: Tygodnik Powszechny, Nr. 45 (10.11.2013). S. 18.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2013-11-20T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/173099/dokumentation-beschluss-des-senats-der-republik-polen-vom-29-oktober-2013-zum-gedenken-an-tadeusz-mazowiecki-den-ersten-nichtkommunistischen-ministerpraesidenten-in-ostmitteleuropa/
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DIE LINKE | Landtagswahl Saarland 2022 | bpb.de
DIE LINKE. "DIE LINKE" (DIE LINKE) wurde im Jahr 2007 als Zusammenschluss der in Ostdeutschland verankerten PDS und der in Westdeutschland aus Protest gegen die Agenda 2010 entstandenen WASG gegründet. Daraus leiten sich auch programmatische Schwerpunkte der Partei zum einen aus antikapitalistischen Positionen und zum anderen aus sozial- und steuerpolitischen Forderungen aus dem gewerkschaftsnahen Milieu ab. Der Fusionsprozess beider Parteien ist aufs engste mit dem früheren saarländischen Ministerpräsidenten und SPD-Bundesvorsitzenden Oskar Lafontaine verbunden. Nach seinem Rücktritt von allen Ämtern 1999 profilierte er sich als Kritiker der rot-grünen Reformpolitik. Auch aufgrund seiner Popularität erreichte DIE LINKE bei der Landtagswahl 2009 aus dem Stand 21,3 Prozent, seither ist die Tendenz abnehmend. Seit 2009 führt Lafontaine die Landtagsfraktion. Allerdings sind Fraktion und Landesvorstand seit Jahren tief zerstritten, was sich auch in Parteiausschlussverfahren äußerte. Von der Landtagsfraktion "DIE LINKE" spaltete sich 2021 die Fraktion "Saar-LINKE" ab. Ihr gehört Barbara Spaniol, die Spitzenkandidatin für die Landtagswahl, an. Fakten zur Partei Gründungsjahr Landesverband: 2007* Landesvorsitz: Thomas Lutze* Mitgliederzahl im Saarland: 1.700* Wahlergebnis 2017: 12,8 % * nach Angaben der Partei DIE LINKE strebt einen erneuten Einzug in den Landtag an. Sie ist im Wahlkampf jedoch stark zerstritten. Lafontaine tritt nicht mehr an und steht im Konflikt mit dem Landesvorstand. Er verweigert der Partei im Wahlkampf seine Unterstützung. In den Mittelpunkt des Wahlkampfs stellt DIE LINKE die Themen Bildungsgerechtigkeit und Armutsbekämpfung. Dazu befürwortet sie einen Ausbau der Ganztagsbetreuung mit kostenlosem Mittagessen und die Beitragsfreiheit der Kitas. Kitas und Schulen sollen mehr Personal erhalten. Gymnasien sollen zum Abitur nach neun Jahren (G9) zurückkehren. Ferner fordert die Partei eine bessere digitale Infrastruktur an Schulen. Um ihre Ausgabenwünsche zu finanzieren, hält DIE LINKE höhere Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften für erforderlich. Im Kontext der Armutsbekämpfung fordert sie auch die Abschaffung des Arbeitslosengeldes II ("Hartz IV"), einen "Krisenaufschlag von 100 Euro auf Hartz IV" und höhere Renten. Die Transformation der Industrie im Saarland soll mit öffentlichen Investitionen gefördert werden, um Arbeitsplätze zu erhalten. DIE LINKE setzt sich gegen sachgrundlose Befristungen ein und fordert die Abschaffung verkaufsoffener Sonntage. Zudem soll der ÖPNV deutlich ausgebaut werden. DIE LINKE. Gründungsjahr Landesverband: 2007* Landesvorsitz: Thomas Lutze* Mitgliederzahl im Saarland: 1.700* Wahlergebnis 2017: 12,8 % * nach Angaben der Partei
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"2022-02-23T00:00:00"
"2022-02-17T00:00:00"
"2022-02-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/saarland-2022/505319/die-linke/
DIE LINKE entstand 2007 aus der Fusion der PDS mit der WASG. Sie vereint antikapitalistische Positionen mit Forderungen aus dem gewerkschaftsnahen Milieu. Seit 2009 ist sie im Landtag vertreten.
[ "Die Linke", "Landtagswahl Saarland 2022" ]
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"Lernen. Ausprobieren. Repeat." | Digitale Didaktik | bpb.de
Werkstatt: Inwiefern ist die Schule, an der Sie lehren, auf den digitalen Wandel eingestellt? Welche Schulnote würden Sie vergeben? Jauch: In meiner gegenwärtigen Einsatzschule am Stadtrand von Leipzig ist ein "befriedigend" angebracht. Leider wird an den Schulungen zur Bedienung gespart, sodass sich viele Lehrerinnen und Lehrer selbst "hineinfuchsen" müssen. Schwerwiegend scheint mir die Unkenntnis zum Urheberrecht bzw. zu Materialien unter Creative-Commons-Lizenzen zu sein. Leinstein: Meine Schule treibt die Ausstattung aller Räume mit Laptops, Beamern und Dokumentenkameras, aber auch einem interaktiven Whiteboard, voran. Eine individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler erfolgt durch diese Maßnahmen jedoch nur bedingt – Ich gebe meiner Schule eine 3+. Schulz: Das Gymnasium Grootmoor in Hamburg ist mit Smartboards, Beamern, Netbooks, einem funktionierenden WLAN, das BYOD (Bring Your Own Device) ermöglicht, und einem 3D-Drucker ausgestattet. Für die Ausstattung gebe ich demnach die Note 2. Auch für Möglichkeiten des Austauschs vergebe ich eine 2. Durch KUR (Kollegiale Unterrichtsreflexion) wird die gegenseitige Hospitation und Reflexion des Unterrichts unter Kolleginnen und Kollegen gefördert. Die Integration digitaler Medien in den schulischen Alltag schwankt und ist stark vom einzelnen Lehrenden abhängig. Daher hier die Notenspanne 1 bis 5. Was müsste sich in Ihrem Praxisbereich strukturell verändern, um das Arbeiten mit digitalen Instrumenten stärker zu etablieren? Jauch: Es gibt an der Schule zwar einen Pädagogischen IT-Koordinator (PITKo), dieser müsste jedoch zeitlich und inhaltlich dazu in die Lage versetzt werden, Kolleginnen und Kollegen in Medienfragen zu unterstützen, oder es sollte die Stelle eines "Medienberatenden" geschaffen werden. Leinstein: Es müssten digitale Instrumente vorliegen, die das Erarbeiten und Bearbeiten von Medien jeglicher Art unterstützen, nicht nur deren Konsum, der nicht zu nachhaltiger Bildung führen kann. Schulz: Der Austausch zwischen Kolleginnen und Kollegen muss weiter gestärkt werden. Trotz der guten Ausstattung meiner Schule plädiere ich für eine Professionalisierung des IT-Bereichs, weil dadurch technische Sicherheit und Entlastung gewährleistet werden können. Chammon: Wir müssen bei uns mehr Geld haben, um Hardware und Software einkaufen zu können. Der Wille unter den Pädagoginnen und Pädagogen ist da. Was würden Sie Kolleginnen und Kollegen raten, die bisher keine digitalen Medien im Unterricht einsetzen, sich jedoch dafür interessieren? Leinstein: Ich rate grundsätzlich dazu, sich zu trauen, digitale Medien auszuprobieren, denn über Sinn und Unsinn derselben kann sich nur eine Meinung bilden, wer damit gearbeitet hat. Persönlich schätze ich die große Veränderbarkeit und Anpassbarkeit digitaler Medien, da so nicht nur eine konstante Evaluation des eigenen Unterrichts, sondern auch eine Evolution desselben möglich ist. Im Moment existiert noch keine Software, die Schülerinnen und Schüler mithilfe von statistischen Berechnungen auf ihrem individuellen Lernweg begleitet – hier sehe ich die Universitäten, aber auch staatliche Stellen in der Pflicht. Jauch: Die Blog-Landschaft bietet sehr viele Erfahrungen, Tipps und Tricks zu vielen digitalen Tools, Materialien und methodisch-didaktischen Einsatzszenarios. Eine gute Idee ist es zudem, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schüler bestimmte Tools zu erproben und auch ihre Vorschläge aufzugreifen. Chammon: Man muss nicht alles wissen – die Kinder sind die Expertinnen bzw. Experten. Nutzen Sie das! Als Lehrkraft muss man die pädagogischen, fachlichen und didaktischen Ziele setzen, die Schülerinnen und Schülern sollen die Aufgaben lösen. Wir müssen als Schule aufpassen, nicht eine "Parallel-Welt" zu sein, in der die Lernenden ihren Alltag und deren Medien nicht wiedererkennen können. Schulz: Lernen. Ausprobieren. Repeat. Informieren: Berichte auf der Werkstatt-Seite lesen und Blogs von Lehrerinnen und Lehrern verfolgen. Austauschen: Am #edchatde auf Twitter teilnehmen. Schule, die an die Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schüler anknüpfen möchte, darf sich nicht vor dem Digitalen verschließen. Über welche Hardware sollte eine Schule im digitalen Zeitalter mindestens verfügen? Chammon: Laptop, Handy mit Kamera und Internetzugang. Jauch: Ganz wichtig ist WLAN, am besten im gesamten Schulgebäude, in Verbindung mit einer brauchbaren Internetverbindung der Schule. Beamer mit Streaming-Boxen gehören ebenso in eine moderne Schule, um schnell und ohne Hürden jedem den Zugriff auf ein Demonstrations- und Präsentationstool zu ermöglichen. Praktisch ist es, wenn es ein bis zwei Klassensätze Tablet-PCs gibt, um in spezifischen Phasen "vollwertige" digitale Werkzeuge einsetzen und um soziale Differenzen in der Geräteausstattung der Schülerinnen und Schüler ausgleichen zu können. Leinstein: Dokumentenkameras statt der überkommenen Overheadprojektoren sind Grundvoraussetzung, da nur sie ein schülergerechtes Arbeiten mit klaren Bildern und guter Lesbarkeit ermöglichen. Schulz: Der Stift bleibt wichtig. Die Funktionalität des Mediums für den Inhalt des Unterricht muss im Vordergrund stehen. Worauf kommt es beim Einsatz von digitalen Medien im Unterricht aus Ihrer Sicht besonders an? Chammon: Mut! Jauch: Pädagogik! Nicht der Einsatz von Technik ist das Ziel, sondern die Unterstützung individueller selbstbestimmter Lernwege. Leinstein: Digitale Medien aller Art müssen als Werkzeuge verstanden werden, die möglichst intuitiv bedienbar und vielseitig und unkompliziert im Unterrichtsalltag einsetzbar sind – sie dürfen sich also nicht selbst in den Vordergrund drängen. Schulz: Unbedingt notwendig ist ein stärkerer Fokus auf das Erlernen von Programmiersprachen in der schulischen Bildung. Brauchen wir in Bezug auf technische Neuerungen und den Einsatz digitaler Medien im Schulalltag eine digitale Didaktik? Jauch: Generell mangelt es in Deutschland nicht an Didaktik und Modellen. Vielmehr gibt es nahezu keinen Transfer zwischen Universitäten und Schulen, bei dem Neuerungen, begleitend und mit Ressourcen ausgestattet, ihren Eingang in den Schulalltag finden. Leinstein: Eine strukturierte und zielorientierte Didaktik muss das Große und Ganze im Blick haben, nicht nur die Details. Somit benötigen wir dringend eine digitale Didaktik, die darüber reflektiert, inwiefern digitale Medien und Geräte beim tatsächlichen Bildungserwerb dienlich sein können. Chammon: Ja klar – wir müssen für uns als Pädagoginnen und Pädagogen überlegen, wann, wie und warum wir die neuen Medien einsetzen. Was sind aus Ihrer Sicht die Trends der digitalen Bildung 2015 und warum? Jauch: Vielversprechend scheinen mir Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Angebote zu sein, die zunehmend plattformübergreifend und für immer mehr Themenspektren zur Verfügung stehen. Damit verbinden sich zunehmend (Lern-)Raum, Zeit und Ort. Leinstein: Es müssen Geräte und digitale Produkte entwickelt werden, die den Anforderungen von eigenständiger Erarbeitung von Bildung auch gerecht werden können. Der Trend wird also weg vom Fokus auf die Technik und hin zum Bildungsbedürfnis des individuellen Menschen führen. Schulz: Nur praxisorientierte Didaktiken, die die Vorteile digitaler Bildung mit konventionellen Konzepten wie Kompetenz- und Problemorientierung verbinden, können skeptische Lehrkräfte überzeugen und so digitale Bildung zum schulischen Mainstream werden lassen. Und wenn es technisch, institutionell und strukturell in der Schule keine Grenzen gäbe: Wie sähe dann der Unterricht der Zukunft aus? Chammon: Nicht eins zu eins, also ein Kind arbeitet nicht die ganze Zeit mit einem Tablet bzw. Laptop. Zusammenarbeit und Kommunikation sollen in der Schule eine sehr große Rolle spielen! Jauch: Um individuelles Lernen zu ermöglichen, braucht es Treffpunkte für alle, aber auch genügend Rückzugsräume, um in Ruhe an eigenen Projekten zu arbeiten. Fächer sollten verbindend, einander ergänzend und projektorientiert angeboten werden. Die Rolle der Lehrenden verschiebt sich von Belehrenden zu Beratenden. Meine Schule wäre somit eine vorbereitete Lernumgebung, die zum Entdecken einlädt und keine reine Verwaltungsinstitution. Leinstein: Schülerinnen und Schüler hätten ein qualitativ hochwertiges und robustes digitales Notizbuch mit zwei e-Paper-Farbbildschirmen, einer guten Stifteingabe und einer leistungsfähigen Handschriftenerkennung. Eine Vernetzung mit WLAN ist nicht notwendig, sondern geschieht entweder durch in die Tische integriertes NFC (Near Field Communication) oder Bluetooth. Die Lehrperson bleibt im Zentrum des Unterrichts und im direkten menschlichen Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern. Schulz: Der Unterricht ist vernetzt – virtuell und real. Kooperationen mit außerschulischen Lernorten sowie internationalen Projekten werden virtuell vorbereitet und fördern so den Austausch unter Lernenden und Lehrenden. Vielen Dank für Ihre Antworten! Das Interview ist eine Zusammenfassung von vier ausführlichen Einzelinterviews. Zu den Einzelinterviews gelangen Sie hier: (1) Externer Link: Ausführliches Interview mit Jacob Chammon Chammon ist Schulleiter der deutsch-skandinavischen Gemeinschaftsschule in Berlin. Er hat u.a. Unterrichtsmaterialien für das interaktive Whiteboard entwickelt. (2) Externer Link: Ausführliches Interview mit Steffen Jauch Jauch ist Lehrer an einer Oberschule in Leipzig. Er hat u.a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Tabletklassen-Projekt gearbeitet. (3) Externer Link: Ausführliches Interview mit Richard Leinstein Leinstein ist Deutsch- und Englischlehrer sowie IT-Koordinator an einer Schule in Ansbach. Er war u.a. an der Konzeption und Programmierung einer Blended-Learning-Plattform beteiligt. (4) Externer Link: Ausführliches Interview mit Regina Schulz Schulz ist Englisch- und Geschichtslehrerin in Hamburg. Sie konzipierte bereits interaktive Unterrichtsmaterialien und setzte sich für die Einführung von Tablets im Lehrerkollegium ein.
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"2022-01-06T00:00:00"
"2015-02-20T00:00:00"
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https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/205842/lernen-ausprobieren-repeat/
Wie sehen digitale Schulen heute und morgen ganz konkret aus? Welche Unterstützung brauchen Lehrende wirklich? Und welchen Mehrwert können sie mit digitalen Lernsettings erzielen? Das (und mehr) haben wir vier Lehrende gefragt, die sich seit Jahren p
[ "Digitale Medien", "digitale Werkzeuge", "Lehrende", "Lernende", "Tablet", "Laptop", "Smartphone", "interaktives Whiteboard", "Medienkompetenz", "Urheberrecht", "Creative-Commons-Lizenzen" ]
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Ärztliche Ethik | Bioethik | bpb.de
Die Medizin hat sich – soweit wir sie kennen – stets auch zum Verhalten ihrer Berufsmitglieder geäußert. Sie kann mit dem über 2000 Jahre alten Hippokratischen Eid auf eine eindrucksvolle Geschichte zurückblicken. Doch trotz dieser Geschichte bleibt die Frage, warum es eine ärztliche Ethik geben sollte oder ob es nicht reicht, von einem Arzt in moralischer Hinsicht zu fordern, was ohnehin von jedem Bürger zu fordern ist. Die Sachgegebenheiten und spezifischen Bedingungen ärztlichen Handelns sprechen jedoch dafür, das Verhalten eines Arztes mit Normen zu regulieren, die an Personen außerhalb des Berufstandes heranzutragen unangemessen wäre. Die Frage nach besonderen Normen für einen bestimmten Berufsstand ist nicht von vorneherein sinnlos. Bedarf es zu einer ärztlichen Ethik besonderer moralischer Prinzipien? Dies ist nicht der Fall. Die allgemeine Moral und ein Berufsethos beruhen auf den gleichen moralischen Prinzipien; sie können den Betroffenen jedoch durchaus unterschiedliches Verhalten vorschreiben. Dies lässt sich mit der weithin akzeptierten Formel erklären, "ärztliche Ethik ist keine besondere Ethik, sondern die Ethik für ein Handeln in besonderen Situationen" (u. a. Birnbacher 1993). Die ärztliche Handlung Zu einer ärztlichen Ethik muss man sich vorab einige Merkmale der ärztlichen Handlung vor Augen führen, denn diese ist in mehrfacher Hinsicht mit Ungewissheit behaftet. Ein Arzt kann selbst bei optimalen äußeren Bedingungen und einem Handeln nach den Regeln der Kunst den Erfolg seines Handelns nicht garan­tieren. Umgekehrt kann ein Arzt das Eintreten un­erwünschter Wirkungen nicht sicher ausschlie­ßen. (Toellner 1983) Zudem kann ein Arzt die Heilung seines Patienten im Nachhinein nicht immer sei­ner Einflussnahme zugute schreiben, denn viele Er­krankungen heilen auch ohne Zutun. Will der Arzt jedoch aus einer Heilung auf sein Vorgehen bei zukünftigen Pati­enten schließen, dann muss er klären, welchen Anteil die ärztliche Therapie hatte. Dies zu beantworten, gelingt jedoch nur durch den kontrollierten klinischen Versuch. Hier hat die Notwendigkeit der klinischen Forschung ihren Ursprung. Ferner trägt Nutzen und Schaden der ärztlichen Handlung nicht der Arzt, sondern der Patient. Anders als ein Pilot oder ein Busfahrer, die bei einem Feh­ler auch um sich fürchten müssen, wird einzig der Patient die Ergebnisse ärztlicher Tätigkeit spüren. Überdies sind ärztliche Tätigkeiten häufig hoch komplex und müssen zahlreiche situative Faktoren berücksichtigen. Ärztliche Entscheidungen lassen sich nicht mit mathematischer Präzision fällen. Allein deswegen hat der Computer im ärztlichen Handeln nur bedingt Einzug gehalten. Er kann den Arzt bei Verwaltungsvorgängen, Routinemaßnahmen und bei der Optimierung finanzieller Erlöse unterstützten. Die eigentliche ärztliche Tätigkeit können Computer jedoch nur unzureichend simulieren. Diese Eigenschaften ärztlichen Handelns sind lange bekannt. Sie haben sich unter dem Einfluss der modernen Wissenschaften allenfalls graduell, nicht jedoch prinzipiell geändert. Die ärztliche Handlung ist so, wie es der erste Hippokratische Aphorismus trotz seines Alters von etwa 2500 Jah­ren prägnant zu formulieren weiß: "Das Leben ist kurz, die Kunst weit, der günstige Augenblick flüchtig, der Versuch trügerisch, die Entscheidung schwierig." (Müri 1986, S. 11) Die Medizin: schwer zu kontrollieren Aufgrund ihrer Eigenschaften sind ärztliche Handlungen wie auch der ärztliche Berufsstand in mindestens dreierlei Hinsicht schwer zu kontrollieren. Schluchter (1980) spricht von drei Asymmetrien zwischen der Macht des ärztlichen Berufes und der Kontrolle über den ärztlichen Beruf: Der Bedeu­tung des einzelnen Experten für den Patienten steht keine entsprechende Kontrolle des Patienten gegenüber. Sie können die Ärzte und ihre komplexe und ungewisse ärztliche Tätigkeit nur in geringem Maße überwachen, denn sie ist letztlich nur vom Fachmann zu durchschauen. Auch die Organisationen dieses Berufes, z. B. die Ärztekammern, können die einzelnen Ärzte nur begrenzt kontrollieren. Ärztliches Handeln behält stets einen nur jeweilig auszufüllenden Entscheidungsspielraum und ist nur bedingt von außen zu steuern. Nicht zuletzt steht der funktionalen Bedeutung der Medizin für die Gesellschaft keine entsprechende Kontrolle der Gesellschaft gegenüber. Die Medizin hat sich zu einem derart komplexen und schwierig zu lenkenden Gebilde entwickelt, dass es faktisch unmöglich ist, dieses durch staatliche Bürokratie in effizientem Maße einzuholen. Trotz des dreifachen Ungleichgewichts von funktionaler Bedeutung und Kontrollmöglichkeiten wird der Profession eine weitgehende Autonomie und Selbstverwaltung bis hin zum Standesrecht gebilligt. Wie kann das funktionieren? Die Antwort: durch eine ganz bestimme ärztliche Ethik. Die Legitimation: moralische Selbstverpflichtung und fachliche Qualität Nur wenn die Patienten bestimmte Verhaltensweisen berufsbedingt erwarten dürfen, gelingt die Akzeptanz der Medizin in der Gesellschaft und bei den Patienten. Der Berufsstand muss bestimmte Verhaltensweisen für seine Mitglieder kodifizieren, überwachen und sanktionieren: fachliche Qualität und eine Moral, die Willen und Wohl des Patienten in den Vordergrund stellt. Ärzte sind verpflichtet, ihren Patienten zu nutzen, Schaden zu vermeiden, die Patienten aufzuklären und deren Selbstbestimmung zu respektieren sowie die Verschwiegenheit zu wahren. Es muss allein durch die Mitgliedschaft im Beruf gewährleistet sein, dass der Arzt ein bestimmtes Ethos für sich akzeptiert und realisiert. Wenn der Bürger, also jeder potentielle Patient, einem Mitglied dieses Berufsstandes begegnet, muss er, ohne es kontrollieren zu können, allein über die Berufszugehörigkeit eine bestimmte moralische Ausrichtung und fachliche Qualität des Mitglieds erwarten dürfen. Welche Elemente muss eine ärztliche Ethik angesichts der Strukturen der zu regelnden Tätigkeit enthalten? Zunächst einmal muss sie das Ziel ärztlichen Handelns benennen: eine Verbesserung der Gesundheit. Zudem müssen die Bedingungen für eine gesundheitsbezogene Intervention geregelt werden, insbesondere die informierte Zustimmung des Patienten. Jede ärztliche Intervention – mit wenigen Ausnahmen – bedarf des informed consent (informierten Einverständnisses) des Patienten. Doch das Ziel der ärztlichen Intervention zu erreichen, kann – wie erwähnt – nicht mit Gewissheit garantiert werden. Diese Ungewissheit ärztlichen Handelns lässt sich allenfalls verringern, indem ein Arzt nach den Regeln der Kunst, also fachlich korrekt handelt. Insofern muss eine ärztliche Berufsmoral fordern, dass der Arzt über fachliche Fähigkeiten verfügt und gewillt ist, sie aufrecht zu halten. Durch die Regeln der Kunst lässt sich das Problem der Ungewissheit verringern, aber nicht vollständig eliminieren. Also bleibt auch die Frage, wie darauf zu reagieren ist. Diese Überlegungen führen zur ärzt­lichen Haltung. Der Arzt kann zwar nicht für den Er­folg seiner Handlung garantieren, wohl aber "für die Sorgfalt und die Gewissen­haf­tigkeit, mit der er seine Hand­lungen plant und aus­führt, für sein Engagement, kurz für seine eigene Per­son. Dafür zu garantieren ist er frei­lich verpflich­tet" (Wieland 1986, S. 48). Nur mit einer Haltung seiner Person kann der Arzt auf die unvermeidliche Unsicherheit seines Tuns reagieren. Haltungen sind immer an eine distinkte Person gebunden und sollen eine angemessene Reakti­on wahrscheinlicher werden lassen. Sie sind nur durch fort­gesetzte praktische Übung zu erlernen und anzueignen. Die Berufsordnung Die ärztliche Ethik muss kodifiziert und gegenüber der Gesellschaft vertreten werden, und genau dies versucht die Berufsordnung. Sie soll – so die Präambel – "das Vertrauen zwischen Arzt und Patient" (Bundesärztekammer 2011) erhalten und fördern. Sie demonstriert beispielhaft, dass man sich auch in einer wertepluralen Gesellschaft über die allgemeinen Ziele ärztlichen Handelns einigen kann. Sie enthält die wichtigsten moralischen Normen der ärztlichen Ethik und ist in diesen Fragen weitgehend unumstritten. Damit sind keineswegs alle ethischen Probleme der Medizin gelöst, denn die in der Berufsordnung genannten Normen ärztlichen Handelns können durchaus untereinander in Konflikt geraten. Auch verbleibt stets eine erhebliche Detailarbeit, wenn man bestimmen will, was die Normen ärztlichen Handelns beispielsweise bei neuen Technologien konkret bedeuten. Insofern kann die Berufsordnung zwar die grundlegenden Normen ärztlichen Handelns liefern, die ethischen Fragen und Schwierigkeiten des ärztlichen Alltags bleiben jedoch auch weiterhin bestehen. Ärztliche Ethik: Konstanz und Pluralität? Die moralische Konstruktion der Arztrolle hat sich zumindest als Norm erstaunlicherweise lange Zeit bewährt. Die normativen Grundzüge der gegenwärtigen Arztrolle, sieht man vom informierten Einverständnis einmal ab, sind bereits weitgehend im Hippokratischen Eid zu finden. Angesichts der Pluralisierung der Gesellschaft bleibt zu klären, in welchen Bereichen sich die ärztliche Ethik inhaltlich auf bestimmte Handlungen festlegen muss. Oder aber, wo auf eine inhaltliche Festlegung verzichtet werden sollte zugunsten einer formalen Festlegung auf den Respekt des (durchaus unterschiedlichen) Willens der Patienten. Man kann dieses Problem am Beispiel des ärztlich assistierten Suizids erläutern: Gehört es zur ärztlichen Ethik, dass Ärzte unter allen Umständen Beihilfe zu einem Suizid unterlassen müssen? Oder müssen Ärzte die unterschiedlichen Vorstellungen der Bürger respektieren und dürfen in bestimmten Situationen bei ausdrücklichem Willen des Patienten Beihilfe zum Suizid leisten? Die kontroverse Problematik (Wenker 2013,Wiesing 2013) lässt sich nur über die Auswirkungen auf das Vertrauen beantworten. Wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine Erlaubnis des ärztlich assistierten Suizids unter bestimmten, streng zu fassenden Rahmenbedingungen das Vertrauen in die Medizin gefährdet, wäre ein berufsrechtliches Verbot zu rechtfertigen. Wenn nicht, dann müsste die Berufsordnung die Bedingungen für einen ärztlich assistierten Suizid so fassen, dass Missbrauch unterbleibt, der das Vertrauen gefährden könnte. Eine weitere Herausforderung für die ärztliche Ethik ergibt sich durch die zunehmende Ausweitung medizinischer Tätigkeiten jenseits von Krankheit. Bekanntes Beispiel ist die kosmetische Chirurgie: Ein entscheidendes Kriterium ärztlichen Handelns, die medizinische Indikation, ist bei rein kosmetischen Interventionen nicht mehr gegeben. Gilt damit noch die ärztliche Ethik? Auch in der kosmetischen Chirurgie sind Ärzte aufgrund ihrer Berufsmoral verpflichtet, Interventionen zu unterlassen, die nicht nutzen und/oder Schaden verursachen. Zudem müssen weitere ärztliche Verhaltensweisen gewährleistet sein: eine hohe Qualität der Durchführung um Schäden zu vermeiden, eine umfassende Aufklärung des Patienten, um ihn in die Lage zu versetzen, ein informiertes Einverständnis zu geben, ein Unterlassen von unnötig aufwendigen, wenn auch finanziell lukrativen Maßnahmen (detailliert dazu ZEKO 2013). Zumindest diese Elemente der ärztlichen Ethik müssen gewahrt bleiben, weil anderenfalls das Vertrauen in die Ärzteschaft in seiner Gesamtheit gefährdet wäre. Literatur Birnbacher, D. (1993) Welche Ethik ist als Bioethik taug­lich? In: Ach J. S., Gaidt A. (Hgg.) Herausforderung der Bioethik. Stuttgart, S. 45-67. Externer Link: Bundesärztekammer (2011) (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte. Müri, W. (1986) Der Arzt im Altertum. Griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen mit der Übertragung ins Deut­sche. Darmstadt. Schluchter, W. (1980) Legitimationsprobleme der Medizin. In: ders. (Hg.) Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Frankfurt a.M., S. 185-205. Toellner, R. (1983) Der Patient als Entscheidungssubjekt. In: ders. und K. Sadegh-Zadeh (Hgg.) Anamnese, Diagnose, Therapie. Tecklenburg, S. 237-248. Wenker, M. (2013) Durfte der Kieler Ärztetag den ärztlich assistierten Suizid verbieten? Ja! Zeitschrift für Ethik in der Medizin 25, S. 72-77. Wieland, W. (1986) Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik. Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer praktischen Wissenschaft. Heidel­berg. Wiesing, U. (2013) Durfte der Kieler Ärztetag den ärztlich assistierten Suizid verbieten? Nein! Zeitschrift für Ethik in der Medizin 25, S. 67-71. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) (2012) Ärztliche Behandlungen ohne Krankheitsbezug unter besonderer Berücksichtigung der ästhetischen Chirurgie. Dt. Ärzteblatt 109, S. 2000-2004.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-12-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/174950/aerztliche-ethik/
Reicht es, wenn ein Arzt die moralischen Ansprüche erfüllt, die von jedem Bürger gefordert werden können? Oder bedarf es einer eigenen ärztlichen Ethik?
[ "Bioethik", "Ärztliche Ethik", "Sterbehilfe", "Deutschland" ]
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Saudi-Arabiens Rolle im Nahen Osten | Saudi-Arabien | bpb.de
Lange Zeit galt Saudi-Arabien als verlässlicher Garant für die (prowestliche) Ordnung und Stabilität im Nahen Osten. Mit Israel, Ägypten und Jordanien zählte das Königreich zu den wichtigsten Verbündeten der USA in der Region und bildete einen verlässlichen Stabilitätsanker in der von den Vereinigten Staaten geförderten regionalen Sicherheitsarchitektur. Dem gegenüber standen all jene antiwestlichen Staaten und Akteure, die mit der pax americana unzufrieden waren und sind, allen voran Iran, die libanesische Hisbollah, Syrien und der Irak unter Saddam Hussein. Innerhalb dieser Ordnung konnte sich das Königreich als konstruktive arabische Führungs- und Gestaltungsmacht, Agendasetter und Vermittler in regionalen Konflikten zeigen. Diese traditionelle Rolle Saudi-Arabiens wird zunehmend auf die Probe gestellt. Bereits ab 2003 zeichnete sich für das Königreich eine deutliche Verschlechterung seiner strategischen Lage ab, mit der auch die Infragestellung seiner bisherigen Rolle in der Region einherging. Der von den USA angeführte Irakkrieg und Sturz Saddam Husseins 2003 sowie die erste schiitische, proiranische Regierung im Irak unter Nuri Al-Maliki stellte eine einschneidende Neuordnung der regionalen Kräftekonstellation dar. Saudi-Arabiens Unzufriedenheit mit diesem neuen Machtgefüge äußerte sich fortan zunehmend deutlich in seiner Außenpolitik. Die Umbrüche in der arabischen Welt seit 2011 und die daraus folgenden, noch nicht absehbaren langfristigen Veränderungen der Herrschaftsstrukturen in der Region stellen Saudi-Arabien vor neue außen- wie innenpolitische Herausforderungen: Die Stürze der Regime in Tunesien, Ägypten und Libyen, soziale Proteste wie in Bahrain oder Jemen sowie andauernde bürgerkriegsähnliche Zustände und Kämpfe um die Staatlichkeit im Irak und in Syrien sind für Saudi-Arabien ein anhaltender Unsicherheitsfaktor. Gemeinsam mit dem durch die Wahlerfolge der Muslimbruderschaft verkörperten Aufstieg des politischen Islam sowie der wachsenden Präsenz jihadistischer Kräfte in der gesamten MENA-Region fügen sie sich zu einem präzedenzlosen Bedrohungsszenario. Saudi-Arabien muss seine Strategie in der Region sowie seine Bündnispolitik überdenken und an die neuen komplexeren und wechselhaften Strukturen anpassen. Paradoxe Interessenkonstellationen Die Verschiebungen der Interessenlagen im Nahen Osten haben Konflikte innerhalb der traditionellen Bündnisse hervorgerufen und zugleich teils überlappende Interessen zwischen strategischen Rivalen und politischen Gegnern offenbart. Neue, zuvor nur schwer vorstellbare (Zweck-)Allianzen sind denkbar geworden: Die klassische ideologische Zweiteilung der Region in status-quo-orientierte, prowestliche Akteure einerseits und revolutionäre, antiamerikanische Akteure andererseits ist zwar nicht obsolet geworden, hat sich aber aufgeweicht und verästelt. Zum einen kann eine Spaltung des konservativ-sunnitischen Lagers und die Bildung einer Front gegen den regionalen Einfluss der Muslimbruderschaft beobachtet werden. Diese tritt am deutlichsten in der intensivierten Rivalität zwischen Saudi-Arabien und Katar hervor. Während die Führung in Katar die Muslimbruderschaft und ihr nahestehende Organisationen in der Region unterstützt, hat Saudi-Arabien eine Vorreiterrolle bei der Eindämmung der Muslimbruderschaft und der von ihr geförderten Form des politischen Islam übernommen. Mit der neuen ägyptischen Militärregierung, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Israel bildet Saudi-Arabien eine lose ideologische Front gegen die Muslimbruderschaft. Im März 2014 riefen Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain aus Protest gegen Katars regionale Unterstützung der Muslimbruderschaft ihre Botschafter aus Doha zurück. Sie warfen Katar vor, Bewegungen der Muslimbruderschaft in den Mitgliedstaaten des Golfkooperationsrates zu unterstützen und damit gegen das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten zu verstoßen. Zudem hat die neue Bedrohungslage für Saudi-Arabien zu paradoxen, wenngleich vermutlich nur vorübergehenden Interessenkonvergenzen mit zwei ideologischen Gegnern geführt: Angesichts des als Gefahr für die eigene äußere und innere Sicherheit bewerteten Erstarkens jihadistischer Kräfte in Syrien und im Irak hat sich für Saudi-Arabien und Iran ein gemeinsames Interesse an ihrer Eindämmung entwickelt. Für beide Staaten stellen die Ausrufung eines transnationalen Kalifat-Staates durch die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) in unmittelbarer Nachbarschaft und die internationale Rekrutierung jihadistischer Kämpfer ein imminentes Sicherheitsrisiko dar. Ungeachtet der sonstigen Rivalität Saudi-Arabiens mit Iran, die sich aus einer religiös-ideologischen Feindschaft sowie dem Konflikt um Irans Atomprogramm speist, könnte eine temporäre Ad-hoc-Zusammenarbeit denkbar werden – oder zumindest eine erhöhte Toleranz Saudi-Arabiens gegenüber einem verstärkten iranischen Vorgehen gegen den sunnitischen Jihadismus. Die vorsichtige Annäherung an Iran Anfang 2014 zeugt zumindest von einer gewissen saudi-arabischen Offenheit für neue Wege in der regionalen Zusammenarbeit. Besonders auffällig ist jedoch die derzeitige Konvergenz saudi-arabischer und israelischer Interessen angesichts der aktuellen Politik der USA in der Region. Sowohl Saudi-Arabien als auch Israel betrachten die amerikanisch-iranische Annäherung im Streit um Irans Atomprogramm mit Sorge. Zudem wünschen sich beide Staaten seitens der USA ein entschlosseneres Vorgehen gegen das verbleibende Regime des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad sowie eine geringere Akzeptanz der Muslimbruderschaft beziehungsweise der ihr nahestehenden Parteien in der Region. Eine direkte Zusammenarbeit mit Israel oder auch nur ein offenes Bekenntnis zu gemeinsamen Interessen ist für Saudi-Arabien als arabisch-muslimische Führungsmacht und Fürsprecher für die Sache der Palästinenser jedoch nur schwer denkbar. Es sind daher vor allem israelische Medien und Analysten, die diese neue, paradoxe Interessenkonstellation offen ansprechen. Eine weitere Entwicklung in Saudi-Arabiens strategischem Umfeld ist die zunehmende Divergenz saudi-arabischer und US-amerikanischer Interessen. Es wurde bereits die These vom "Anfang des Endes" des seit 1945 bestehenden saudi-amerikanischen Sicherheitspaktes formuliert. Das Bündnis bildet seit Jahrzehnten einen Grundpfeiler der regionalen Sicherheitsarchitektur insbesondere am Persischen Golf. Dieser Pakt hat Risse bekommen: Saudi-Arabien nimmt seit US-Präsident Barack Obamas zweiter Amtszeit einen graduellen Rückzug der USA aus dem Nahen Osten wahr. Das reduzierte beziehungsweise aus saudi-arabischer Sicht zu zögerliche Engagement der Vereinigten Staaten beispielsweise im Irak oder in Syrien hat für die Führung in Riad die Befürchtung ihres Wegfalls als handlungsfähige oder -willige Ordnungsmacht in der Region hervorgerufen. Zugleich stellt sich für das Königshaus die Frage, inwieweit die USA künftig ein verlässlicher Sicherheitsgarant bleiben. Grund für diese Zweifel ist die mögliche Aufwertung Irans in der Region durch die USA. Eine weitere Annäherung der Vereinigten Staaten und Irans im Konflikt um das iranische Atomprogramm oder die Einbindung Irans in den Kampf gegen den sunnitischen Jihadismus sind für Saudi-Arabien besorgniserregende Szenarien. Ebenso fürchtet die saudi-arabische Führung die Bereitschaft der USA, Kräfte des politischen Islam und insbesondere die Muslimbruderschaft auf demokratischem Weg in die politischen Prozesse in der Region einzubinden. Als Konsequenz aus dieser Wahrnehmung hat sich die saudi-arabische Bereitschaft offenbart, eine eigenständigere und aktivere Rolle in der regionalen Politik einzunehmen. Wiederholt äußerte die Führung in Riad den Wunsch nach mehr Eigenverantwortung in der regionalen Sicherheit. Bereits in den Jahren zuvor hatte Saudi-Arabien eine eigenständigere Politik in der Region unabhängig von der US-amerikanischen Strategie verfolgt, was Beobachterinnen und Beobachter als neue "offensive Politik" beschrieben. Seine spektakuläre Ablehnung eines nichtständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat im Oktober 2013 aus Protest gegen die Syrien- und Iranpolitik des Sicherheitsrates war eines der deutlichsten und symbolträchtigsten Signale für die Spannungen in der saudi-amerikanischen Partnerschaft. Langfristig lassen die tiefgreifenden Entwicklungen und Veränderungen in der Region die Schnittmenge der gemeinsamen saudi-amerikanischen Interessen kleiner werden. Garant der alten Ordnung In der sich aktuell herausbildenden neuen Kräftekonstellation im Nahen Osten muss sich Saudi-Arabien mit drei grundlegenden Entwicklungen auseinandersetzen, die seine äußere und innere Stabilität sowie seine Rolle in der regionalen Politik beeinflussen: der Aufstieg eines politischen Islam, der Vorstellungen eines demokratischen Herrschaftswechsels und eines zivilen, auf dem islamischen Recht basierenden Staates aufgreift, eine neue Qualität des sunnitischen Jihadismus sowie die zunehmende Emanzipation schiitischer und eventuell proiranischer Kräfte in der Region. Der Aufstieg der Muslimbruderschaft und ihr nahestehender Parteien im Anschluss an die Protest- und Demokratiebewegungen von 2011 sowie ihre (zeitweise) Übernahme der Regierungsverantwortung in Ägypten, Tunesien und Marokko haben das saudi-arabische Königshaus und die anderen traditionellen arabischen Herrscherfamilien in Alarmstimmung versetzt. Diese Form des politischen Islam stellt mit dem erklärten Ziel der Muslimbrüder, mittels demokratischer Wahlen einen islamischen Staat zu errichten, ein attraktives Alternativmodell zum saudi-arabischen islamischen Staatskonzept einer feudal geprägten Erbmonarchie und damit eine ernstzunehmende machtpolitische Konkurrenz dar. Während des "Arabischen Frühlings" 2011 übernahm Saudi-Arabien daher eine Rolle als Bewahrer des politisch-autoritären Status quo (ante) in der Region. Die Führung in Riad bemühte sich bisher erfolgreich, die autoritär-konservativen Herrschaftssysteme in der Region zu sichern und an sich zu binden. Dies geschah beispielsweise durch die Erhöhung der finanziellen Unterstützung für konservative Herrscherhäuser wie in Bahrain, Oman, Jordanien und Marokko. Den beiden Königshäusern Jordaniens und Marokkos wurde eine stärkere institutionelle Anbindung an die Golfstaaten angeboten. Die im Mai 2011 an beide Länder gerichtete Einladung, sich um eine Mitgliedschaft im exklusiven "Club" des Golfkooperationsrates zu bewerben, muss zwar eher symbolisch verstanden werden. Sie zeigt aber das starke Interesse der Golfmonarchien, sich mit gleichgesinnten Staaten in der Region zu solidarisieren. Für die Sicherung verbündeter Herrscherfamilien wurde auch militärische Hilfe eingesetzt: Im März 2011 entsandten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate auf Anfrage des bahrainischen Königshauses 2000 Soldaten im Rahmen der Peninsula Shield Force des Golfkooperationsrates nach Bahrain, um das dortige Königshaus gegen soziale Proteste zu schützen. Am deutlichsten wurde Saudi-Arabiens Rolle als Garant der alten Ordnung in Ägypten. Für das saudi-arabische Königshaus ist der Erhalt Ägyptens als verlässlicher Partner im konservativ-autoritären Lager ein Grundanliegen. Unter Präsident Husni Mubarak war Ägypten einer der engsten und langjährigsten Sicherheitspartner sowohl Saudi-Arabiens als auch der USA. Umso entsetzter war die Führung in Riad darüber, wie rasch die Vereinigten Staaten sich von Mubarak abwandten, als Anfang 2011 die ägyptischen Proteste seinen Sturz einleiteten. Noch alarmierter war sie jedoch angesichts der Machtübernahme der Muslimbruderschaft nach der Wahl Mohammed Mursis im Juni 2012 zum neuen ägyptischen Präsidenten. Der politische Erfolg der Muslimbruderschaft in Ägypten barg für das saudi-arabische Königshaus die Gefahr einer weiteren Ausstrahlung der ägyptischen Revolution auf die Nachbarländer. Zudem musste Saudi-Arabien befürchten, dass Ägypten sich als bevölkerungsstärkstes und geostrategisches Schwergewicht in der arabischen Welt dem regionalen Protestlager aus Iran und der Hamas als dem palästinensischen Zweig der Muslimbruderschaft anschließen könnte. Als im Juli 2013 der ägyptische Militärrat die islamistische Führung absetzte, kam daher das erste arabische Glückwunschschreiben aus Riad, verbunden mit einem nur wenige Tage später angekündigten Hilfspaket von fünf Milliarden US-Dollar zur Ankurbelung der ägyptischen Wirtschaft. Gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kuwait half Saudi-Arabien der neuen ägyptischen Militärregierung, die alte Ordnung in Form eines "Neo-Mubarak-Systems" wiederherzustellen und garantierte weitere finanzielle Hilfen, sollten US-amerikanische Hilfsgelder ausfallen. Konfessionalisierung der regionalen Politik Der "Arabische Frühling" führte jedoch nicht überall zu einer Transformation der politischen Ordnung, sondern auch zum Zerfall staatlicher Herrschaft und dem Eindringen von salafistisch-jihadistischen Kräften. Der rasante Aufstieg eines sunnitischen, international rekrutierenden Jihadismus mit transnationalem Kalifatsanspruch stellt für das saudi-arabische Königshaus eine akute Bedrohung dar. Der drohende teilweise Zerfall von Nachbarstaaten wie Syrien und dem Irak sowie die Übernahme quasistaatlicher Kontrolle durch die Jihadistengruppe IS wirft die Frage nach dem Ende der traditionellen Sykes-Picot-Staatenwelt im Nahen Osten auf. Die saudi-arabische Führung hat lange eine widersprüchliche und mitunter kontraproduktive Rolle in diesen Entwicklungen gespielt, indem sie verschiedene kämpfende salafistische Oppositionsgruppen in Syrien und dem Irak unterstützte beziehungsweise gewähren ließ. Hinzu kommt, dass in den vergangenen zehn Jahren ein Trend zu einer religiös-konfessionellen Aufladung regionaler Konflikte sowie zur politischen Instrumentalisierung konfessioneller Ressentiments zu beobachten ist. Der Antritt einer erstmals schiitisch geführten Regierung im Irak 2005, die regionale Einflussnahme der schiitisch-libanesischen Hisbollah und Irans Wiederaufnahme seines Urananreicherungsprogramms 2006 haben in der traditionell sunnitisch regierten arabischen Staatenwelt das Bild eines "schiitischen Halbmonds" geprägt, der sie künftig politisch, militärisch und ideologisch herausfordern könnte. Saudi-Arabien sieht sich verstärkt in der Rolle einer Schutzmacht des sunnitischen Islam und droht damit die regionale Politik entlang einer fiktiven sunnitisch-schiitischen Trennlinie zu spalten. Besonders problematisch erscheint dabei, dass nicht nur friedlich-quietistische sunnitische Kräfte, sondern auch der gewaltbereite Salafismus Unterstützung aus Saudi-Arabien fanden. Vor allem hinsichtlich der innenpolitischen Entwicklungen in Syrien und dem Irak verfolgte Saudi-Arabien in den vergangenen Jahren eine zwiespältige Politik, die sich mitunter sowohl auf die beiden Länder als auch auf die regionale und eigene Sicherheit destabilisierend auswirkte. Nach dem unerwarteten Ausbruch sozialer Proteste in Syrien und dem brutalen Vorgehen des syrischen Regimes gegen die eigene Bevölkerung rief Saudi-Arabien gemeinsam mit Katar als erstes arabisches Land Mitte 2011 seinen Botschafter aus Damaskus zurück und übernahm innerhalb der Arabischen Liga fortan die Führung im Widerstand gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Mit Katar zählt es zu den größten finanziellen Sponsoren syrischer Oppositionsgruppen. Zunächst erscheint es paradox, dass ausgerechnet die Führung in Riad sich hinter den als soziale Protest- und Demokratiebewegung begonnenen syrischen Aufstand stellte. Sie sah jedoch im möglichen Sturz des syrischen Regimes die einmalige Möglichkeit, den regionalen Einfluss Irans und der Hisbollah maßgeblich zu schwächen – das syrische Regime zählt seit 30 Jahren zu den engsten und langjährigsten Verbündeten Irans in der arabischen Staatenwelt. Gleichzeitig befürchtet das saudi-arabische Königshaus, nach einem Sturz Assads könnten die Muslimbrüder die politische Führung im Land übernehmen. Um dies zu verhindern, unterstützte Saudi-Arabien mit der Freien Syrischen Armee die säkulare Opposition, aber auch salafistische Oppositionskräfte wie die Rebellengruppe Jaish al-Islam. Nachdem sich abzeichnete, dass ein baldiger Sturz Assads nicht zu erwarten war, wuchs der Wunsch nach einem international resoluteren Vorgehen gegen das Assad-Regime. Die Entwicklungen im syrischen Bürgerkrieg ließen Saudi-Arabiens Unzufriedenheit weiter wachsen: Die öffentliche Unterstützung des Assad-Regimes durch die Hisbollah im März 2013 schürte antischiitische Ressentiments innerhalb der saudi-arabischen Gesellschaft. Der Verzicht der USA auf einen Militärschlag gegen Assad im September 2013 war eine erneute Enttäuschung über das aus saudi-arabischer Sicht mangelnde internationale Vorgehen. Die Ernennung des vehement antischiitischen und iranfeindlichen Prinzen Bandar zum Geheimdienstchef 2012 wurde als erstes deutliches Zeichen einer neuen, offensiveren Strategie Saudi-Arabiens in der Region und im Syrienkonflikt gewertet. Gleichzeitig stellten Beobachter eine zunehmende "Konfessionalisierung" der saudi-arabischen Außenpolitik fest. Die direkte und indirekte Unterstützung salafistischer Oppositionskräfte handelte dem Königreich nicht zuletzt seitens Irans den Vorwurf ein, Unterstützer oder zumindest ideologischer Wegbereiter des sunnitischen Jihadismus – repräsentiert durch den IS, al-Qaida und der ihr untergeordneten syrischen Nusra-Front – in der Region zu sein. Dabei wurde dem saudi-arabischen Königshaus eine zweigleisige Politik vorgeworfen, die einerseits oppositionelle und gewaltbereite Salafisten im eigenen Land bekämpft, sie andererseits außerhalb Saudi-Arabiens als Mittel einer antischiitischen und antiiranischen Politik einsetzt. Eine Unterstützung des IS und anderer Jihadistengruppen bestreitet die saudi-arabische Führung, auch wenn es durchaus wahrscheinlich erscheint, dass private Spenden aus Saudi-Arabien an diese Gruppen geflossen sind. Angesichts der zahlreichen saudi-arabischen Kämpfer in den syrischen und irakischen Bürgerkriegsgebieten hat das Königshaus mittlerweile die Gefahr eines Bumerang-Effektes erkannt. Saudi-arabische Staatsangehörige stellen die größte Gruppe an ausländischen Kämpfern in Syrien und bergen als indoktrinierte und kriegserfahrene Rückkehrer eine akute Gefahr für das Königshaus. Seit diesem Jahr hat die Führung in Riad daher eine neue Politik zur Eindämmung jihadistischer Kräfte im In- und Ausland eingeleitet. Im März 2014 erklärte Saudi-Arabien sowohl den IS als auch die syrische Nusra-Front offiziell zu Terrororganisationen. Zudem erließ König Abdallah eine Verordnung, die die Teilnahme am Jihad im Ausland sowie dessen finanzielle Unterstützung unter Strafe stellt. Im September 2014 trat Saudi-Arabien der von den USA angeführten internationalen Koalition gegen den IS bei und beteiligte sich an den ersten US-Luftangriffen gegen Stellungen des IS in der nordsyrischen Provinz Rakka. Ob diese Wende in der saudi-arabischen Politik noch rechtzeitig erfolgte, bleibt offen. Das lange Tolerieren von salafistisch-jihadistischen Strömungen in den Nachbarländern hat unbeabsichtigt schwer kontrollierbare Kräfte entfesselt. Nach dem Sturz Saddam Husseins hat Saudi-Arabien gegenüber dem Irak versucht, verschiedene, teils widersprüchliche Rollen miteinander zu vereinbaren: Einerseits ist das Königreich bemüht, sich als Stabilisator und Garant einer überkonfessionellen irakischen Einheit zu präsentieren. Andererseits sieht es sich als Schutzmacht und Verteidiger der Interessen der arabisch-sunnitischen Gemeinschaft im Irak und setzt sich für den weitgehenden Erhalt einer arabisch-sunnitischen Identität des Landes ein. Als Ursprungsland der islamischen Schia ist der Irak heute zu einem akuten Schauplatz einer ideologisierten und politisch instrumentalisierten sunnitisch-schiitischen Auseinandersetzung geworden. Saudi-Arabien und Iran werden in diesem Konflikt jeweils die Rolle der natürlichen Schutzmacht des sunnitischen beziehungsweise schiitischen Glaubens zugeschrieben. Seit Saddam Husseins Sturz wurde in der arabisch-sunnitischen Welt die These vertreten, dass das entstandene strategische Machtvakuum von Iran ausgefüllt wurde, der künftig in Allianz mit dem Irak einen "schiitischen Block" in der Region anführen könnte. Die saudi-arabische Führung sah im schiitischen Iran den eigentlichen, wenn auch unbeabsichtigten Profiteur des Irakkrieges und machte den USA den Vorwurf, den Irak Iran überlassen zu haben. Tatsächlich konnte Iran seit 2005 zu seinem früheren irakischen Erzfeind schnell sehr enge politische, militärische, wirtschaftliche und religiöse Beziehungen entwickeln und zu einem der einflussreichsten ausländischen Akteure im Irak werden. Dennoch ist die heutige irakische Führung keine von Iran gesteuerte Marionette, sondern paradoxerweise ein wichtiger Partner sowohl der Vereinigten Staaten als auch Irans. Der schrittweise Ausschluss der Sunniten von der politischen Macht im Irak, die Eskalation konfessionell angeheizter Gewalt ab 2006 und die von Saudi-Arabien wahrgenommene Unfähigkeit der USA zur Stabilisierung der Lage haben Saudi-Arabien von einer ehemals zurückhaltenden zu einer proaktiveren und bisweilen erratischen Irakpolitik wechseln lassen. Ziel der saudi-arabischen Führung ist es weiterhin, über eine multikonfessionelle Regierung die nationale Einheit des Irak zu wahren, die den irakischen Sunniten eine faire Beteiligung an der Macht und eine wichtige Rolle im Staat zusichert. Dafür war sie bereit, säkular-schiitische Kräfte wie den ehemaligen irakischen Premierminister Iyad Allawi gegenüber den als zu ideologisch-schiitisch empfundenen Nuri Al-Maliki zu unterstützen. Die Wahl von Haidar Abadi 2014 zum neuen irakischen Premierminister wurde hingegen von Saudi-Arabien begrüßt. Abadi, ebenfalls Mitglied der schiitischen Da‘wa-Partei, wird nach der achtjährigen Regierungszeit Malikis zugetraut, sich stärker für einen interkonfessionellen Ausgleich einzusetzen. Zugleich ignorierte beziehungsweise tolerierte die Führung in Riad lange Zeit das Rekrutieren saudi-arabischer Staatsangehöriger für den sunnitischen Jihad im Irak sowie die moralisch-ideologische Unterstützung des Jihads seitens einheimischer Kleriker. Manche Beobachter unterstellten Saudi-Arabien gar ein Interesse an einem "kontrollierten Chaos", um den iranisch-schiitischen Einflussgewinn im Irak einzudämmen. Erst die militärische Aufrüstung des IS nach der Erbeutung von modernem Kriegsgerät während seiner Offensive auf die zweitgrößte irakische Stadt Mossul im Juni 2014 sowie die anschließende Ausrufung eines transnationalen Kalifats haben die saudi-arabische Führung endgültig alarmiert. Das Königshaus sieht nun akuten Handlungsbedarf und hält ein internationales Vorgehen gegen den sunnitischen Jihadismus für notwendig. Neue Rolle unter alter Handlungslogik Saudi-Arabiens Außenpolitik im Nahen Osten unterliegt weiterhin dem Primat der Herrschaftssicherung nach innen. Die Führung in Riad ist dabei bemüht, ihre Strategie an die sich ändernden Bedingungen einer komplexer und wechselhafter werdenden regionalen Bedrohungslage anzupassen. Zu diesem Zweck hat sie zum einen die Rolle des Restaurators beziehungsweise Bewahrers der alten autoritären Ordnung in der Region übernommen. Zum anderen spielt sie eine neue offensivere Rolle in der ideologischen Auseinandersetzung mit Iran um die neue ideelle Machtverteilung in der Region. Beide Strategien könnten sich jedoch langfristig sowohl für die regionale als auch für die Stabilität des Königreichs nach innen als kontraproduktiv erweisen. Saudi-Arabien befindet sich mit seiner aktuellen politischen Rolle in einem Dilemma. Das Königreich möchte einerseits weiterhin als Garant der regionalen Stabilität auftreten, ist aber andererseits mit seiner reaktionären Politik gegenüber sozialen Protestbewegungen und der Bereitstellung eines ideologischen Nährbodens für religiös-konfessionellen Radikalismus zum Teil des Problems geworden. Dem Königshaus ist nicht erst seit dem "Arabischen Frühling" bewusst, dass die größten Gefahren für die eigene Herrschaft aus der Mitte der Gesellschaft sowohl im eigenen Land als auch in der Region kommen, sei es in Form von Forderungen nach mehr sozialer, wirtschaftlicher und politischer Teilhabe, Ideen eines demokratisch-islamischen zivilen Staates oder religiöser Radikalisierung in der eigenen Bevölkerung. Das von Saudi-Arabien mit Sorge wahrgenommene "schiitische Erwachen" in der Region birgt hingegen weniger die Gefahr einer Bildung eines panschiitischen Blocks. Vielmehr drückt es die zunehmende politische Ermächtigung und Emanzipation von Schiiten aus, die nach anhaltender gesellschaftspolitischer Marginalisierung in den sunnitisch-autoritär regierten, entpolitisierten Gesellschaften der Region eine stärkere Teilhabe einfordern. Die tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Dynamiken sind komplex und schwer zu kontrollieren. Die von Saudi-Arabien gewählte herkömmliche Strategie der Herrschaftssicherung – Restauration statt Reform – und die Unterstützung von sunnitisch-salafistischen Kräften bietet keine Erfolgsgarantie, sondern fördert möglicherweise eine prekär-labile Stabilität im Nahen Osten. Welche Richtung die Neujustierung von Saudi-Arabiens Strategie in der Region künftig einschlagen wird, bleibt abzuwarten. MENA steht für "Middle East and North Africa" (Mittlerer Osten und Nordafrika). Bis Juni 2014 bekannt unter dem Namen "Islamischer Staat in Irak und Syrien" ISIS (arabisch "da’isch": daula al-islamiya fil ‘iraq wa asch-scham). Nach der Eroberung eines zusammenhängenden Gebietes im Nordwesten des Irak und im Osten Syriens rief die Terrororganisation am 29. Juni 2014 einen Kalifat-Staat aus. Vgl. beispielsweise Chemi Shalev, Riyad, notre allié antisémite, nachgedruckt in: Courrier international vom 14.–20.11.2013, S. 26; Jonathan Spyer, Israel and Saudi Arabia – Alliance of Interests, 25.10.2013, Externer Link: http://jonathanspyer.com/2013/10/25/israel-and-saudi-arabia-alliance-of-interests (15.10.2014). Vgl. beispielsweise Mansour Al-Marzoqi Al-Bogami, Saudi’s Strategic Invitation to Iran, 12.8.2014, Externer Link: http://studies.aljazeera.net/en/reports/2014/08/2014812114442948388.htm (15.10.2014). Vgl. Guido Steinberg, Anführer der Gegenrevolution. Saudi-Arabien und der arabische Frühling, SWP-Studie 8/2014, Externer Link: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2014_S08_sbg.pdf (22.10.2014). Yasmine Farouk, More than Money: Post-Mubarak Egypt, Saudi Arabia, and the Gulf, GRC Gulf Paper, April 2014. Das geheime englisch-französische Sykes-Picot-Übereinkommen von 1916 regelte nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs die geopolitische Neuordnung und Grenzziehung im Nahen Osten entlang kolonialer Interessengebiete. Die Architektur des Abkommens prägt bis heute das nahöstliche Staatengefüge. Vgl. Simon Mabon/Stephen Royle, IS, Regional Security and the End of Sykes-Picot, FPC Briefing, August 2014; Gareth Stansfield, The Remaking of Syria, Iraq and the Wider Middle East – The End of the Sykes-Picot State System?, RUSI Briefing Paper, Juli 2013. Der Begriff des "schiitischen Halbmonds" wurde erstmals 2004 vom jordanischen König Abdallah benutzt und bezieht sich auf Iran, Syrien, den Irak und den Libanon. Für einen Überblick über die 30-jährige syrisch-iranische Allianz vgl. Jubin Goodarzi, Syria and Iran: Alliance Cooperation in a Changing Regional Environment, Ortadoğu Etütleri, 4 (2013) 2, S. 31–54. Nach dem Chemiewaffenangriff der syrischen Armee auf die Bevölkerung im östlichen Damaskus im August 2013 vereinbarten die USA mit Syrien und Russland die Zerstörung der Chemiewaffen und verzichteten auf den zunächst angedrohten Militärschlag. Vgl. Patrick Cockburn, Iraq Crisis – How Saudi Arabia Helped ISIS Take Over the North of the Country, 13.7.2013, Externer Link: http://www.independent.co.uk/voices/comment/iraq-crisis-how-saudi-arabia-helped-isis-take-over-the-north-of-the-country-9602312.html (15.10.2014). Cockburn weist zudem darauf hin, dass während Prinz Bandars Amtszeit als Geheimdienstchef von 2012 bis 2014 Jihadisten die bewaffnete sunnitische Opposition in Syrien und Irak übernahmen. Vgl. ebd. Vgl. Aaron Zelin, The Saudi Foreign Fighter Presence in Syria, April 2014, Externer Link: http://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/the-saudi-foreign-fighter-presence-in-syria (15.10.2014). Vgl. Lori Plotkin Boghardt, Saudi Arabia’s Shifting War on Terror, 18.8.2014, Externer Link: http://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/saudi-arabias-shifting-war-on-terror (15.10.2014). Der saudi-arabische König Abdallah beteuert immer wieder die Notwendigkeit einer irakischen Regierung der nationalen Einheit und des Erhalts der Unabhängigkeit und territorialer Einheit des Irak. Vgl. beispielsweise Misr Al-Shamri/Ahmad Ghalab, khadim al-haramein yastaqbal Talabani wa yashaddad ‘ala al-wahda al-watani al-‘iraqiya, in: Al-Hayat vom 12.4.2010. Kronprinz Sultan beschrieb den Irak als "untrennbaren Teil der arabischen Nation"; vgl. Interview mit Kronprinz Sultan, in: Asharq al-Awsat vom 8.6.2008. Vgl. beispielsweise Ghasan Sharbil, ‘idha fashal al-‘iraq’, in: Al-Hayat vom 26.8.2009. So Außenminister Prinz Saud Al-Faisal im September 2005 in seiner Rede vor dem U.S. Council on Foreign Relations in New York. Vgl. dazu auch Ellinor Zeino-Mahmalat, Die Rollen Saudi-Arabiens und Irans während der arabischen Umbrüche und danach, KAS Auslandsinformationen 8/2013.
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, Ellinor Zeino-Mahmalat
"2021-12-07T00:00:00"
"2014-11-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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Nach dem "Arabischen Frühling" ringt Saudi-Arabien um seine Rolle als Stabilitätsanker der regionalen Sicherheitsarchitektur. Zugleich droht es die konfessionelle Spaltung der Region voranzutreiben.
[ "Saudi-Arabien", "naher Osten", "MENA-Region", "Katar", "Islamischer Staat", "Muslimbruderschaft", "Königreich" ]
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Großbritannien nach der Ära Blair | Presse | bpb.de
Thema des 4. bpb-forums im Medienzentrum der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb am 19. September in Bonn ist Großbritannien. In den zehn Jahren unter Tony Blair hat sich das Land tiefgreifend gewandelt. Doch als wer wird Blair in Erinnerung bleiben: Als der ambitionierte New Labour-Reformer oder als der "Pudel der USA", der sein Land leichtfertig in den Irak-Krieg verwickelte? Und: Wird sich die Politik unter seinem "politischen Zwilling" Gordon Brown verändern? Auf diese Fragen werden die drei eingeladenen Großbritannien-Experten in der Diskussion versuchen, Antworten zu geben. Podiumsteilnehmer sind Roland Sturm, Professor für politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitherausgeber des in der bpb-Schriftenreihe erschienenen Länderberichts Großbritannien, Henning Hoff, freier Großbritannien-Korrespondent für die ZEIT, die WELT, die BZ und weitere Medien, sowie der Publizist und ehemalige Koordinator der Deutsch-Britischen Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt, Bernd-Werner Becker. Gemeinsam werden sie ein Resümee der Amtszeit Blairs ziehen und darüber diskutieren, welche Politik von dem neuen Premierminister Gordon Brown zu erwarten ist. Moderation: Jürgen Faulenbach, bpb/Fachbereichsleiter Print. Termin Mittwoch, 19. September 2007 19:30 bis 21:00 Ort Medienzentrum der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn Direkt an der Bundesstraße 9 U-Bahn-Stationen: Juridicum oder Bundesrechnungshof/Auswärtiges Amt Die Diskussionsrunde findet im Rahmen der Begleitveranstaltungen des Beethovenfestes statt, dessen Länderschwerpunkt in diesem Jahr auf Großbritannien liegt. Das bpb-forum im Bonner Medienzentrum greift in regelmäßigen Abständen aktuelle politische Themen auf und lädt dazu Gesprächs- und Diskussionspartner ein. Eingeladen sind alle Interessierten, der Eintritt ist frei. Um Ankündigung und Berichterstattung wird gebeten. Weitere Informationen unter: www.bpb.de/bpb-forum Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Raul Gersson Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 (0) 228 99 - 515 284 Fax: +49 (0) 228 99 - 515 293 E-Mail: E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50500/grossbritannien-nach-der-aera-blair/
Diskussion mit drei eingeladenen Großbritannien-Experten zum Schwerpunkt-Land des diesjährigen Beethovenfestes.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Allianz für Menschenrechte, Tier- und Naturschutz | Bundestagswahl 2021 | bpb.de
Gründungsjahr Bundesverband 2013* Mitgliederzahl in Deutschland 97* Bundesvorsitz Josef Fassl* Wahlergebnis 2017 0,1 Prozent *nach Angaben der Partei Die "Allianz für Menschenrechte, Tier- und Naturschutz" (Tierschutzallianz) wurde im November 2013 gegründet. Alle Gründungsmitglieder inklusive des damaligen Landesvorstands gehörten dem Landesverband der "Partei Mensch Umwelt Tierschutz" (Tierschutzpartei) in Sachsen-Anhalt an. Laut Aussage der Tierschutzallianz werden als Hauptgründe für die Abspaltung eine mangelnde Distanz der Tierschutzpartei zum "rechten Spektrum", Meinungsverschiedenheiten im innerparteilichen Umgang sowie in der inhaltlichen Ausrichtung der Partei genannt. Als ihre zentralen Werte nennt die Tierschutzallianz "Toleranz, Weltoffenheit und die Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft". Ein Kernthema der Partei ist der Tierschutz. Die Tierschutzallianz fordert u.a. die Abschaffung der Massentierhaltung sowie eine langfristig vollständig tierversuchsfreie Forschung. Den Einsatz von Wildtieren in der Unterhaltungsindustrie und die Jagd will die Partei verbieten. Sie lehnt zudem die Nutzung von Gentechnik ab und setzt sich für eine stärkere Unterstützung der ökologischen Landwirtschaft ein. Außerdem plädiert die Partei für eine steuerliche Bevorzugung von pflanzlichen Produkten im Vergleich zu tierischen Erzeugnissen. Neben ihren Zielen in den Bereichen Tierschutz und Landwirtschaft fordert die Tierschutzallianz in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl direkte Bürgerbeteiligung auf allen politischen Ebenen und ein Absenken der Sperrklausel bei Wahlen von fünf auf drei Prozent. Sozialpolitisch setzt sie sich für einen "Umbau der Sozialleistungen in Richtung eines garantierten Grundeinkommens" und ein "Recht auf eine eigene Wohnung" ein. Im Bereich der Bildungspolitik fordert die Tierschutzallianz bundesweit einheitliche Rahmenbedingungen bei Beibehaltung der Zuständigkeit der Bundesländer. Zudem soll Umwelt- und Tierschutz "als verpflichtender Bestandteil des Unterrichts" eingeführt werden. Außerdem spricht sich die Partei gegen eine "Zwei-Klassen-Medizin" aus, ohne "jedoch die Leistungen der privaten Kassen zu verschlechtern" oder die Art und die Anzahl der Krankenkassen vom Staat zu reglementieren. Stattdessen sollen die Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse verbessert werden. Darüber hinaus wird ein "weitere[r] Anschubs für die wirtschaftliche Entwicklung" in ländlichen Regionen gefordert, um der dortigen Abwanderung junger Menschen entgegenzuwirken. Wirtschaftspolitisch setzt sie sich gegen wirtschaftliche Beziehungen mit Staaten ein, "denen der Profit vor Erhaltung der Umwelt geht". Die Tierschutzallianz befürwortet langfristig ein vollständiges Verbot der Prostitution. Des Weiteren lehnt sie Schusswaffen in Privathaushalten ab. Gründungsjahr Bundesverband 2013* Mitgliederzahl in Deutschland 97* Bundesvorsitz Josef Fassl* Wahlergebnis 2017 0,1 Prozent *nach Angaben der Partei
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-02T00:00:00"
"2021-08-23T00:00:00"
"2021-09-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/bundestagswahl-2021/338945/allianz-fuer-menschenrechte-tier-und-naturschutz/
Die Tierschutzallianz wurde 2013 als eine Abspaltung von der Tierschutzpartei gegründet. Ihr zentrales Thema ist der Tierschutz. Zudem fordert sie u.a. mehr Bürgerbeteiligung, eine bedingungslose Grundsicherung und einheitliche Rahmenbedingungen für
[ "Tierschutzallianz", "Parteienprofil", "Bundestagswahl 2021" ]
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Islam und säkularer Rechtsstaat: Grundlagen und gesellschaftlicher Diskurs | Islam in Deutschland | bpb.de
Einleitung Religion und Säkularität - das mag für manche wie die Vereinigung von Feuer und Wasser klingen. Sind Religionen nicht natürliche Gegner einer weltlich orientierten und auf religionsneutralen Institutionen aufgebauten Ordnung? Tatsächlich haben vor allem die monotheistischen Religionen mit ihren weitreichenden Geltungsansprüchen lange gebraucht, bis sie bereit waren, ihren Frieden mit säkularen Ordnungen zu schließen. Im christlichen Spektrum hat die katholische Kirche diesen Schritt nachhaltig erst im Jahr 1965 mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzogen. Immer noch finden sich - stark modifizierte - Staatskirchensysteme in mehreren europäischen Staaten. Auch im Judentum scheint die Lage noch nicht gänzlich geklärt zu sein. Das Modell des Staates Israel als "jüdische Demokratie" nährt eine noch nicht abgeschlossene Debatte in Israel über das Verhältnis beider Sphären. Vor allem der Islam und sein Normensystem (Scharia) werden von vielen Nichtmuslimen, aber auch manchen Muslimen als der gegenwärtige Bedrohungsfaktor für säkulare demokratische Rechtsstaaten angesehen. Scharia bezeichnet im weiten Sinne alle religiösen und rechtlichen Normen sowie die Instrumente ihrer Auslegung wie die Vorschriften über die rituellen Gebete, das Fasten oder auch das Ehe-, Familien- oder Strafrecht. Manche Strömungen beziehen sich auf einen engen Scharia-Begriff und meinen damit im Wesentlichen das Ehe-, Erb- und Strafrecht. In den vergangenen Jahren ist ein aggressiver islamischer Extremismus ("Islamismus" ) ideologisch und teils auch massiv gewalttätig gegen säkulare demokratische Rechtsstaaten und ihre Bürger in Erscheinung getreten. Nicht von ungefähr ist dieses Thema daher auch Gegenstand der zweiten Deutschen Islamkonferenz (DIK). Stehen solche Phänomene aber tatsächlich für "den Islam" oder "die Muslime", oder sind sie nicht bedrohliche und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfende Randerscheinungen? Die angemessene Behandlung derartiger Fragen setzt vor allem eines voraus: eine nüchterne, realistische Sachlichkeit und somit Fairness gegenüber den Menschen. Weder der faktenarme Alarmismus kleinstbürgerlicher Angstphantasien noch blauäugige Parolen, wonach "der Islam" nichts sei als Frieden, helfen bei der Bewältigung realer Probleme und bei der Nutzung positiver Potenziale der Religionen zum gemeinsamen Wohl. Spätes Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden, oftmals wenig differenzierten Islamdebatten ist es nicht immer leicht, die Sachanalyse in den Vordergrund zu stellen. Symptomatisch sind einige kritische Reaktionen auf die Feststellung des Bundespräsidenten Christian Wulff im Oktober 2010, wonach auch der Islam mittlerweile zu Deutschland gehört. Dies gilt umso mehr, als die dauerhafte Präsenz einer erheblichen Anzahl von Musliminnen und Muslimen in Deutschland ein vergleichsweise neues Phänomen ist, das mit Migrationsvorgängen und den damit verbundenen Begleiterscheinungen aufs Engste verbunden ist. Anders als in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, den USA oder Australien wird hierzulande Migration von vielen immer noch weit mehr als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen. Tatsächlich hat die Zuwanderungspolitik der vergangenen Jahrzehnte vorwiegend eher wenig ausgebildete Arbeitskräfte für die Verrichtung einfacher und körperlich anstrengender Tätigkeiten ins Land gebracht. Deren Arbeitsplätze sind aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels der vergangenen Jahrzehnte weitgehend weggefallen. Anders als zunächst allseits erwartet, ist ein erheblicher Teil dieser Menschen auf Dauer im Land geblieben, ohne dass die notwendigen institutionellen Reaktionen beispielsweise im Bildungsbereich erfolgt wären. Erst in den vergangenen Jahren hat sich dies geändert. Hinzu kommt, dass sich vor allem seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die öffentliche Wahrnehmung von Migranten verändert hat: Zum einen gab es eine diskursive Verschiebung, die sich nunmehr weniger auf "Ausländer" und mehr auf "Muslime" konzentriert, zum anderen dominiert die defizitorientierte Sicht auf die Migranten. Vielfältige Erfahrungen aus öffentlichen Veranstaltungen zeigen, dass oft umstandslos Probleme mangelnder Sprachbeherrschung und die damit verbundenen Schwierigkeiten im Hinblick auf Bildung und Arbeit, Diskriminierung oder kulturell bedingte Verhaltensweisen (wie das Ehrverständnis oder die Kommunikationskultur) mit der Religion des Islams vermischt werden. Schon deshalb ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Themenfelder "Integration" und "Islam" inhaltlich und institutionell getrennt hat, indem nicht nur eine - religionsorientierte - Islamkonferenz etabliert wurde, sondern auch Integrationsgipfel stattfanden und andere integrationsbezogene Aktivitäten entfaltet werden. Der säkulare Rechtsstaat hat sich bei allen Unvollkommenheiten als das historische Erfolgsmodell erwiesen. Frieden und Wohlstand scheinen auf seiner Grundlage am besten zu gedeihen. Gerade Deutschland hat in der Folge des nationalsozialistischen Terrorstaats und des DDR-Unrechtsregimes allen Anlass, sich eine an der Menschenwürde orientierte, freiheitliche, aber auch wehrhafte Ordnung zu geben. Die aus guten Gründen teils mit Unterstützung, teils gegen erbitterten Widerstand von Religionsvertretern entstandene säkulare Trennung von Religion und staatlicher Machtausübung zählt zu den unverzichtbaren Grundlagen einer solchen staatlichen Ordnung. Wird sie durch den Islam gefährdet? Wenn Moscheen errichtet werden, wenn Empfehlungen zum Umgang mit muslimischer Religion in Schulen gegeben werden, wenn "Halal-Fleisch" (nach islamischen Regeln geschächtetes Fleisch) und Scharia-konforme Investmentfonds angeboten werden oder wenn einer Iranerin von einem deutschen Gericht die ehevertraglich vereinbarte Zahlung von Goldmünzen im Scheidungsfall zugesprochen wird, befürchten manche eine schleichende, vielleicht sogar offene "Islamisierung" Deutschlands und ein Untergraben des säkularen Staats. Deutsche Rechtsordnung als unumstößliche Grundlage Notwendiger Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass allein die deutsche Rechtsordnung in allen rechtlich relevanten Bereichen darüber entscheidet, welche Normen in welchem Umfang und innerhalb welcher Grenzen durchgesetzt werden können. Auf dieser Stufe der Letztentscheidung ist das Recht einheitlich und keineswegs "multikulturell". Vielfalt - auch religiöse Vielfalt - allerdings ist unterhalb dieser Schwelle in erheblichem Umfang möglich, teils erwünscht und sogar geboten. Die Zeiten des "cuius regio, eius religio" ("Wessen Gebiet, dessen Religion") sind vergangen. Andererseits hat sich Deutschland gegen eine streng laizistische und für eine religionsoffene und neutrale Säkularität entschieden, wie es beispielsweise aus Artikel 4 und Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes sowie dem Religionsverfassungsrecht insgesamt zu entnehmen ist. Religion ist keineswegs aus dem öffentlichen Raum verbannt. Sie darf sichtbar werden, sich in die Debatten einmischen und ist ein wichtiger Bestandteil universitärer Forschung und Lehre. Sie findet auch im bekenntnisorientierten Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen vieler deutscher Länder oder im Rahmen vielfältiger anderer Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Raum. Anders als in streng laizistisch orientierten Systemen wie in Frankreich oder der Türkei wird Religion in Deutschland nicht als Bedrohung des staatlichen Machtanspruchs wahrgenommen, sondern als mögliche positive Ressource für das Zusammenleben und die gemeinnützige Sinnstiftung. Nicht nur deshalb sind die Religionen aufgefordert, extremistische Potenziale in den eigenen Reihen ernst zu nehmen und ihnen mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten entgegenzutreten. Religiöse Normen versus Rechtsnormen Generell muss zwischen religiösen Normen (wie Beten und Fasten) und Rechtsnormen (wie Vertragsrecht, Familienrecht und Strafrecht) unterschieden werden. Dies ist aus der Sicht des deutschen Rechts erforderlich, aber auch aus islamischer Perspektive möglich und bereits in der frühen Normenordnung des Islams angelegt, wenngleich es durchaus Überschneidungsbereiche zwischen Recht und Religion gibt. Religiöse Normen, auch solche der Scharia, genießen den Schutz der in Deutschland weitreichenden Religionsfreiheit. Abgesehen von historisch begründeten und immer noch rechtsverbindlichen Sonderregelungen gelten für alle Religionen und Weltanschauungen (es geht hier um Individuen und ihre individuelle Religionsfreiheit oder Organisationen und ihre kollektive Religionsfreiheit, nicht um "die Religion" schlechthin) dieselben Rechte und Pflichten. Unser Verfassungssystem kennt keinen "christlichen Religionsvorbehalt", auch wenn das Christentum sicherlich in besonderer Weise kulturprägend war und es nach wie vor ist. Sie kann aber nur in dieser Funktion auch besondere Rechtsrelevanz gewinnen, beispielweise im Hinblick auf die Inhalte von Lehrplänen. Mit anderen Worten: Was der Mehrheit zusteht, steht auch den Angehörigen kleinerer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu. So gesehen ist es eine schlichte Normalität, dass eine auf Dauer im Lande lebende Bevölkerungsgruppe, zusehends auch als deutsche Staatsangehörige, eine religiöse Infrastruktur aufbaut. Im Bereich rechtlicher Normen herrscht weitgehend das Territorialprinzip: Jeder Staat wendet die ihm eigenen Sachnormen an. Das gilt annähernd uneingeschränkt für das Strafrecht und das gesamte öffentliche Recht, die das Handeln in staatlicher Souveränität und die Aufrechterhaltung unerlässlicher gemeinsamer Verhaltensstandards zum Gegenstand haben. Im Bereich des Privatrechts jedoch gelten Besonderheiten dort, wo das Wohl einzelner Privatpersonen bei der Ordnung ihrer Verhältnisse im Vordergrund steht. Deshalb stellt die deutsche Rechtsordnung Regeln für "internationale" Sachverhalte im Hinblick darauf auf, welches Recht im konkreten Fall als das sachnächste anzusehen ist. Man ist also im Grundsatz dazu bereit, auch fremdes Recht anzuwenden, wenn es sachnäher ist als das eigene. So kann es dazu kommen, dass, wie oben erwähnt, ein deutsches Gericht ehevertragliche Ansprüche nach iranischem Recht durchsetzt. Weshalb sollte auch eine Ehefrau nicht Vermögenswerte zur Absicherung nach der Scheidung erhalten können? Was ist anstößig an der Zahlung von Goldmünzen anstelle der Zahlung in einer hoch inflationären Währung? Damit sind jedoch zugleich die Grenzen (sogenannter ordre public) angedeutet: Wo die Anwendung fremden Rechts zu Ergebnissen führen würde, die unseren rechtlichen Grundentscheidungen widersprechen, endet die Bereitschaft zu solcher Rechtsanwendung. Deshalb kann es im Inland ebenso wenig eine - noch dazu nur dem Ehemann vorbehaltene - einseitige Privatscheidung geben noch eine unflexible, patriarchalisch orientierte Zuordnung des Sorgerechts für Kinder nach Alter und Geschlecht oder ein Eheverbot zwischen Musliminnen und Nichtmuslimen, wie es dem traditionellen islamischen Recht entspricht. Nach alledem gibt es dennoch Grund zur Entwarnung: Maßgeblich für die Rechtssprechung in Deutschland bleibt im Grundsatz und nach den auch international üblichen Maßstäben das deutsche Recht. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch in vielen - nicht allen - islamisch geprägten Staaten wie Marokko, Jordanien oder Ägypten Reformen erkämpft werden, welche die Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen aufheben oder jedenfalls eindämmen sollen, während andernorts wie in Nigeria oder in Pakistan politisierte Rückschritte ins juristische Patriarchat auf den Weg gebracht wurden. Auch daran zeigt sich die Vielgestalt der Interpretation nur scheinbar einheitlicher Regelungen im Islam. Gefährdung durch den Islam? Ist der demokratische Rechtsstaat, der Einheit und individuelle Gestaltungsfreiheit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen versucht, durch den Islam gefährdet? Eine bündige Antwort auf die so gestellte Frage ist unmöglich: Die Positionen des Islams und der Muslime sind dafür zu vielgestaltig, da auch der Islam alles andere als ein monolithischer Block ist. Deshalb müssen wir die Situation in Deutschland und Europa gesondert von der in anderen Teilen der Welt betrachten. Die Unterscheidung ist wichtig, weil Muslime gerade in freiheitlichen Rechtsstaaten offen und ohne machtpolitischen Druck über Fragen ihrer Religion debattieren und publizieren können. Andererseits ist es ebenso wahr wie beklagenswert, dass insbesondere in weiten Teilen der arabischen Welt offene Debatten über die hier behandelten Fragen nicht geführt werden können, weil dort Menschenrechte unterdrückt werden, worunter auch die Meinungsfreiheit leidet und die Entwicklung von offenen Diskursräumen verhindert wird. Neben vielen politischen Ursachen ist dieser Zustand auch dadurch bedingt, dass eine breite, intolerante Schicht von Religionsgelehrten und religiösen Autodidakten durch solche Debatten ihre Macht bedroht sieht oder generell extrem intoleranten Spielarten des Islams folgt, wie beispielsweise dem in Saudi-Arabien dominierenden Wahhabismus. Zunächst ist festzuhalten, dass neben den vielen schon im Inland geborenen oder hier sozialisierten deutschen Muslimen auch diejenigen vom Balkan oder aus der Türkei in einer rechtskulturellen Umgebung aufgewachsen sind, die sich seit vielen Jahrzehnten an europäischen Staats- und Rechtssystemen orientieren und sich explizit von islamrechtlich ausgeprägten Systemen abgewandt haben. Aber auch unter Muslimen aus anderen Teilen der vom Islam geprägten Welt finden sich Anhänger des demokratischen Rechtsstaats in großer Zahl. Nicht wenige von ihnen sind den dortigen, säkular oder religiös legitimierten Diktaturen entflohen. Breit angelegte Untersuchungen in Deutschland aus jüngerer Zeit belegen, dass die Zustimmung zu den Grundlagen des deutschen Staats- und Rechtssystems unter Muslimen ungefähr so groß ist wie unter der Gesamtbevölkerung. Teilweise ist ihr Vertrauen in die deutschen Institutionen sogar stärker ausgeprägt. Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass die wohl bei weitem größte Gruppe von Muslimen diejenige der "Alltagspragmatiker" ist, welche sich wie wohl der größte Teil der Bevölkerung überhaupt ohne tiefere Reflexion in das bestehende System einfindet und es in seinen Grundentscheidungen - einschließlich der Menschenrechte - bejaht. Innerislamische Meinungsvielfalt Muss man sich dafür vom Islam schlechthin abwenden, wie es eine kleine, aber lautstarke Zahl ideologisierter Islamkritiker behauptet? Eine solche Haltung spiegelt eine profunde Unkenntnis der Materie wider. Das Normensystem des Islams, die Scharia, ist auch und gerade in ihren diesseitsbezogenen rechtlichen Anteilen alles andere als ein unveränderliches Gesetzbuch. Auch der Islam trennt schon seit seiner Frühzeit Diesseits und Jenseits, religiöse und rechtliche Sachverhalte, auch wenn es mancherlei Verbindungen und Verflechtungen gibt. Auch im Islam wurde seit jeher die Frage erörtert, welche Normen in welchem Kontext und in welcher Weise zu interpretieren sind. In der kulturellen Blütezeit des islamischen Mittelalters, aber auch wieder in der Gegenwart wird dem eigenständigen Nachdenken und Interpretieren (Idschtihad) der religiösen Quellen breiter Raum gegeben. Bereits bei der Frage, welche Normen in welchem Verhältnis zueinander stehen, und ob die eine die andere außer Kraft setzen kann, wurden und werden die unterschiedlichsten Meinungen vertreten. Auch der Koran als oberste normative Quelle enthält keinerlei eindeutige Aussagen zu Staatsaufbau und Rechtssystem sowie zu den Menschenrechten. Immer sind es Menschen, die geprägt von Ausbildung, Vorverständnis sowie dem historischen und sozialen Kontext die Normen nach Geltung und Inhalt zu interpretieren haben, und die demgemäß zu sehr diversen Ergebnissen kommen. Unter denjenigen, die religionsbezogene Positionen beziehen, finden sich Traditionalisten ebenso wie solche, die sich auch mental-intellektuell in Deutschland und Europa "einheimisch" fühlen. Anders als die Traditionalisten sehen sie muslimisches Leben hierzulande nicht als strukturellen Ausnahmezustand an, in dem man sich mit Kompromisslösungen zurechtfinden muss, sondern begreifen ihre Lebenssituation als die neue Normalität eines Islams in religionspluralen Gesellschaften und religionsneutralen Staaten. Diese Richtung ist insbesondere im schulischen und akademischen Bereich sowie in Nichtregierungsorganisationen besonders häufig anzutreffen. Dies spricht dafür, dass der zu etablierende islamische Religionsunterricht an Schulen, die entsprechende universitäre Ausbildung der Lehrkräfte und die Etablierung einer islamischen Theologie an Universitäten den wünschenswerten Prozess muslimischer Selbstreflexion und -bestimmung im Rahmen des säkularen Rechtsstaats deutlich voranbringen werden. Explizite Gegner des säkularen demokratischen Rechtsstaats bilden eine vergleichsweise kleine, aber gefährliche Richtung in Gestalt des "Islamismus". Dies ist eine auch im Spektrum des Islams durchaus neue politische Richtung, wenngleich sie sich fälschlich als Vertreter einer Rückbesinnung auf den "wahren Islam" ausgibt. Das traditionelle islamische Staatsrecht ist seit seiner Frühzeit ausgesprochen vage und lässt die unterschiedlichsten Herrschaftsmodelle zu. Folgerichtig finden sich in der Neuzeit auch viele Gelehrte, welche die Demokratie als das System des Islams im 20. und 21. Jahrhundert ansehen. Dagegen richten sich Islamisten mit der Parole, alleine Gott könne Gesetzgeber sein, weltliche Mehrheitsentscheidungen ohne Letztorientierung auf den Islam hin seien inakzeptabel und zu bekämpfen. Nichtmuslimen wird nur eine zwar im Grundsatz geschützte, aber von Gleichberechtigung weit entfernte Position zugewiesen. Es geht diesen Ideologen also primär um die Durchsetzung des eigenen Machtanspruchs im religiösen Gewand, wobei nur ein geringer Teil von ihnen unmittelbar zur Gewaltanwendung greift (sogenannter Dschihadismus), während die meisten eine legalistische Strategie über Bildungs- und Sozialeinrichtungen verfolgen. Der Iran der Gegenwart ist ein Realität gewordenes Modell solcher Haltungen. Einschlägige extremistische Aktivitäten entfaltet in Europa beispielsweise die Gruppierung Hizb al-Tahrir. Zu nennen sind aber auch diejenigen, die hier lebende Muslime zu scharfer Abgrenzung gegen Christen und Nichtmuslimen generell anhalten und sie zur Bildung von Parallelstrukturen aufrufen ("Unterwerft euch nicht den Entscheidungen der Ungläubigen!"), wie es weit verbreiteten Fatwa-Bänden der prominenten saudi-arabischen Gelehrten Ibn Baz und al-Uthaymeen zu entnehmen ist. Solche Positionen stoßen allerdings auch in der islamisch geprägten Welt auf Ablehnung. Nicht zuletzt sind insbesondere unter Jüngeren populäre, charismatische Personen zu nennen, die nicht über Herrschaftsmodelle diskutieren, sondern im Wege gesellschaftlicher Fundamentalkritik letztlich einen auch politischen Ausschließlichkeitsanspruch propagieren. Auch sie erscheinen trotz ihres besonderen Infiltrationspotenzials indes nicht mehrheitsfähig zu sein. Nach alledem ist es grundlegend verfehlt, "den Islam" auf eine nur fiktive Essenz festzulegen und daraus einen Gegensatz zum säkularen Rechtsstaat zu konstruieren. Wer so vorgeht, unterstützt im Grunde das Geschäft des Islamismus. Ein Mangel an analytischen Fähigkeiten und wissenschaftlicher Redlichkeit zeigt zudem eine gelegentlich anzutreffende Vergleichsperspektive, welche das Deutschland der Gegenwart mit der islamischen Welt der Vergangenheit in Beziehung und Gegensatz zueinander setzt, damit aber auf die gegenwärtig hier lebenden Muslime abzielt. Der neue Volkssport, in Leserbriefen und Internetblogs Koransuren aus ihrem textlichen und interpretativen Kontext zu reißen und daraus ein Bedrohungsszenario zu konstruieren, ist ein Dokument dieser Ignoranz. Perspektiven Der Islam steht nicht im strukturellen Gegensatz zum säkularen demokratischen Rechtsstaat. Positionen muslimischer Extremisten lassen sich nicht verallgemeinern und sind unter Muslimen auch nicht mehrheitsfähig. In der Folge darf sich die notwendige Bekämpfung des islamischen Extremismus nicht gegen Muslime insgesamt richten. Sie bilden keineswegs eine "Gegengruppe" zur sonstigen Bevölkerung, sondern sind Teil der deutschen Gesamtgesellschaft. Als in ihrer übergroßen Mehrheit rechtstreue Bürger haben sie Anspruch auf die gleichen Rechte und unterliegen den gleichen Pflichten wie alle anderen. Die Grundlagen unserer Rechtsordnung müssen immer wieder neu vermittelt werden, durch alle Bevölkerungsgruppen und über die Generationen hinweg. Entsprechende Akzeptanz ist kein Selbstläufer, sondern bedarf gesamtgesellschaftlicher Überzeugungsarbeit in Abwehr und zur Verhinderung jeglicher Formen von Extremismus. Den demokratischen Rechtsstaat lehnen nicht nur Islamisten ab, sondern auch Rechts- und Linksextreme. Gleichzeitig ist es ein unerlässlicher Bildungsauftrag in Richtung der Gesamtbevölkerung, dass die vom Rechtsstaat garantierten Grundrechte nicht nur der Mehrheit zustehen, sondern dass entgegen verbreiteten Ressentiments auch Minderheiten wie Muslime den gleichen religionsverfassungsrechtlichen Schutz genießen. In Zeiten sich häufender Brandanschläge gegen Moscheen muss daran erinnert werden. Im islamischen Spektrum ist es erforderlich, über alltagspraktische Handhabung hinaus religionsorientierte und religiös vermittelbare Positionen weiterzuentwickeln, die Muslimen auch aus religiöser Sicht einen Weg in die Mitte der Gesellschaft aufzeigen. Ansätze hierfür sind vorhanden und müssen weiter ausgebaut werden. Insbesondere finden sich wesentliche Bereiche inhaltlicher Übereinstimmung in islamischen und säkularen Grundlagennormen (overlapping consensus), die man nutzbar machen kann. So kann auch der Islam positive Beiträge zu gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen leisten, Muslime können sich über religiöse Organisationen hinaus - wie es schon zusehends der Fall ist - in nicht religiös ausgerichteten Kontexten einbringen. Das setzt die Bereitschaft zur Öffnung auf allen Seiten voraus. Diese Erkenntnis ist auch psychologisch bedeutsam: Wer mag schon fortwährend als "Problem" wahrgenommen und benannt werden? Nur bei offener und empathischer - nicht blauäugiger - Bereitschaft zur Verständigung kann aus dem schon weitgehend funktionierenden Nebeneinander immer mehr Miteinander wachsen. Missverständnisse im Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland sind nicht selten. Verständnisprobleme wurzeln häufig in unterschiedlichen Dialogkulturen, soweit Muslime stark von Kommunikationsformen aus ihren Herkunftsländern geprägt sind. Sachliche Anfragen und Kritik werden häufig als persönlicher Angriff verstanden. Manchmal mag das beabsichtigt sein, oft aber nicht. Umgekehrt wirken die in den meisten Herkunftsländern der Muslime geläufigen "gesichtswahrenden" Formen indirekter Problembenennung und Kritik im mitteleuropäischen Kommunikationskontext als Ausweichen und Verschleierung. Manchmal mag auch das beabsichtigt sein, oft aber nicht. Schließlich fügt sich die Debatte um den Islam in Deutschland in größere, zukunftsbestimmende Zusammenhänge: Welche Rolle sollen Religionen und Weltanschauungen künftig im öffentlichen Raum spielen? Wie soll die Kooperation zwischen ihren Organisationen und dem Staat gestaltet werden? Hier gilt es, immer wieder eine angemessene, breit vermittelbare Haltung fernab der Extreme von Religionsdiktatur und säkularistischer Ersatzreligion zu definieren. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Behauptung eines clash of civilizations ein intellektuelles Krisenphänomen ist. Sie unterstellt fälschlich eine innere Homogenität unterschiedlicher - und als strukturell gegensätzlich angesehener - Kulturen. Eher ist ein kulturenübergreifender clash of minds erkennbar: Wer die Grundlagen des säkularen demokratischen Rechtsstaats als gemeinsame Hausordnung akzeptiert, verdient auch seinen vollen Schutz. Extremismus dagegen muss bekämpft werden, und dieser Kampf sollte möglichst alle mobilisieren können, die von ihm bedroht sind, über alle Religionen und Weltanschauungen hinweg. Vgl. beispielsweise die Diskussionen in Israel anlässlich der Einführung eines Treueschwurs auf N-TV online vom 10.10.2010, www.n-tv.de/politik/Israel-verlangt-Treueschwur-article1682986.html (9.2.2011). Vgl. Mathias Rohe, Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, München 20092. Vgl. zur (noch unscharfen) Begrifflichkeit des "Islamismus" und seinen maßgeblichen Inhalten ders., Islamismus und Schari'a, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.), Integration und Islam, Nürnberg 2005, S. 120-156. Vgl. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, Berlin 2010. Vgl. Matthias Drobinski, Die neue deutsche Frage, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.10.2010. Vgl. Naika Foroutan, Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?, in: APuZ, (2010) 46-47, S. 9-15; Dietrich Thränhardt, Integrationsrealität und Integrationsdiskurs, in: ebd., S. 16-21. Der vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur von Rheinland-Pfalz Anfang des Jahres 2011 herausgegebene Leitfaden "Muslimische Kinder und Jugendliche in der Schule" ist inhaltlich am geltenden Recht orientiert. Dennoch löst er Irritationen aus, Kritiker bezeichnen einige Empfehlungen als "antiaufklärerisch". Das Faltblatt ist online: http://eltern.bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/eltern.bildung-rp.de/Faltblatt_Muslimische_Kinder_und_Jugendliche_in_der_Schule.pdf (9.2.2011). Vgl. zur Diskussion darüber Abdul-Ahmad Rashid, Handreichungen für Lehrer in der Kritik, online: www.forumamfreitag.zdf.de/ZDFde/inhalt/24/0,1872,8202616,00.html (9.2.2011). Vgl. Mathias Rohe, Islamisierung des deutschen Rechts?, in: JuristenZeitung, 62 (2007) 17, S. 801-806. Vgl. Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 20064. Vgl. M. Rohe (Anm. 2), S. 9ff. Dies verkennt Tilman Nagel, Lohn und Strafe im Diesseits und im Jenseits, Rezension zu M. Rohe (Anm. 2), online: www.nzz.ch/nachrichten/kultur/buchrezensionen/lohn_und_strafe_im_diesseits_und_im_jenseits_1.3981865.html (9.2.2011). Vgl. Katrin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen, herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren, Berlin 2007, S. 24ff., S. 492ff.; BAMF (Hrsg.), Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009. Weitere typische Grundhaltungen unter Muslimen in Europa sind Islamgegner, die vor allem vor dem Hintergrund negativer persönlicher Erfahrungen eine islamkritische Grundhaltung pflegen, Islamisten, die sich durch eine eher aggressive Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft auszeichnen, Traditionalisten, die zwar eine traditionalistische Haltung pflegen, aber auf eine Verständigung mit der Mehrheitsgesellschaft hin ausgerichtet sind, sowie einheimische Muslime, die dafür plädieren, das Leben von Muslimen in Europa als Regel anzusehen. Vgl. M. Rohe (Anm. 2), S. 383ff. Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Kiefer in dieser Ausgabe. Bestehende Probleme resultieren weitgehend aus bildungsbezogenen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Zusammenhang mit Migrationsvorgängen. Hier nicht behandelt wird die gewiss dringend zu beachtende Frage, ob und wieweit religiöse oder - so zu vermuten - vor allem kulturelle und soziale Prägungen beispielsweise eine vergleichsweise höhere Gewaltbereitschaft bedingen, wie sie in manchen Untersuchungen konstatiert wird. Vgl. Katja Irle, Zweifelhafte Rolle der Imame, in: Frankfurter Rundschau vom 7.6.2010, online: www.fr-online.de/politik/zweifelhafte-rolle-der-imame/-/1472596/4471348/-/index.html (9.2.2011).
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, Mathias Rohe
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-06T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33391/islam-und-saekularer-rechtsstaat-grundlagen-und-gesellschaftlicher-diskurs/
Der Islam wird von vielen als Bedrohungsfaktor für säkulare Rechtsstaaten angesehen. Doch gegen einen strukturellen Gegensatz spricht die hohe Zustimmung zu den Grundlagen des deutschen Staats- und Rechtssystems unter Muslimen.
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Deutungen | Deutsche Revolution 1918/19 | bpb.de
7. Februar 1919, Weimar. 3. Sitzung der Nationalversammlung: Hugo Preuß (DDP) trägt als zuständiger Staatssekretär des Inneren den Gesetz entwurf über die vorläufige Reichsgewalt vor. (© Deutsches Historisches Museum) Die deutsche Revolution von 1918/19 ist in ihrer Deutung, Bewertung und Einordnung so umstritten wie kaum ein anderes Ereignis der deutschen Geschichte. Das ist nicht ganz überraschend, weil gerade bei einem revolutionären Umbruch der eigene Standpunkt unvermeidlich in die Beurteilung einfließt. Aus konservativer, sozialdemokratischer oder sozialistischer bzw. kommunistischer Sicht wird das Ereignis naturgemäß jeweils ganz unterschiedlich beurteilt. Schwierigkeiten bereitet dabei der Umgang mit Begriffen wie "die verratene Revolution". Denn hierbei geht es nicht nur um unterschiedliche Erwartungshorizonte, sondern auch um den Vorwurf, dass politische Akteure ihre Ziele verraten haben, etwas anderes getan haben, als sie zuvor gesagt haben oder als es den Erwartungen ihrer Anhängerschaft entsprach. Dieser Vorwurf des Verrats traf insbesondere die Sozialdemokratie. Das begann bereits 1914, als die Reichstagsfraktion der SPD den Kriegskrediten zustimmte. In diesem Zusammenhang ist es sicherlich sinnvoll, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was in den entscheidenden Wochen der deutschen Revolution 1918/19 passiert ist und dies in Beziehung zu setzen zu den Gesetzmäßigkeiten, die der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel beim Übergang von autokratischen zu demokratischen Systemen ermittelt hat. Merkel unterscheidet drei Phasen. In der ersten Phase, die durch interne Ursachen, zum Beispiel eine Legitimitätskrise, oder durch externe Ursachen, zum Beispiel eine Kriegsniederlage, ausgelöst sein kann, gibt es unterschiedliche Verlaufsformen, für die sich unterschiedliche historische Beispiele finden lassen. Verlaufsformen - Historische Beispiele An dieser Tabelle wird deutlich, dass für die deutsche Revolution 1918/19 der Systemwechsel nach Aushandlung von Kompromissen zwischen alten und neuen Eliten stattfand. Kennzeichnend hierfür sind vor allem der Ebert-Groener-Pakt und das Stinnes-Legien-Abkommen. Die zweite Phase der Systemtransformation ist die der Institutionalisierung demokratischer Strukturen. Im Kern geht es dabei um die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Das geschah in Deutschland am 31. Juli 1919. Eine entscheidende Weichenstellung brachte allerdings schon der erste Reichsrätekongress im Dezember 1918, der mit überwältigender Mehrheit für die Wahlen zur Nationalversammlung stimmte und mit ebenfalls sehr großer Mehrheit den Antrag ablehnte, das Rätesystem zur Grundlage einer neuen Verfassung zu machen. Hier wurde keine Revolution "verraten". Es war einfach so, dass das sozialdemokratische Delegiertenkontingent auf diesem Kongress sehr viel größer war als das der USPD und beide Parteien unterschiedliche politische Vorstellungen hatten. Diese unterschiedlichen Größenordnungen bei den Delegierten entsprachen den Verhältnissen im Land. Das zeigte sich auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung, als die SPD 37,9 Prozent erreichte, die USPD aber nur 7,6 Prozent. Die KPD hatte zu diesem Zeitpunkt noch den Status einer Splitterpartei und trat zu den Wahlen gar nicht an. Anders gesagt: Die Parteien, die eine sozialistische Revolution anstrebten, hatten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung hinter sich. Die große Mehrheit wollte Parlamentarisierung und Demokratie, aber keine Diktatur des Proletariats. In die Weimarer Reichsverfassung fand der Rätegedanke dann Eingang im Artikel 165, dem letzten Artikel des fünften Abschnittes "Das Wirtschaftsleben". Dort ist die Rede von Bezirksarbeiterräten und einem Reichsarbeiterrat, der sich mit Vertretern der Unternehmerschaft zu einem Reichswirtschaftsrat zusammenschließen sollte. Ein vorläufiger Reichswirtschaftsrat wurde 1920 gegründet, entfaltete aber bis zu seiner Auflösung 1934 kaum Aktivitäten. Der Rätegedanke, der sich nicht nur im Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 durchgesetzt hatte, sondern auch in der frühen Nachkriegszeit in Ungarn und Deutschland eine erhebliche Rolle gespielt hatte, kam auf Dauer außerhalb der Sowjetunion nirgends zum Tragen. Und ein Nebeneinander von Parlament und Räten, eine "Doppelherrschaft", die nicht wenige linke Vordenker damals propagierten, konnte sich nie irgendwo etablieren. Gleichwohl gibt es bis heute immer wieder Stimmen, die in der strikten Abwehr von Versuchen in diese Richtung durch SPD und Gewerkschaften eine verpasste Chance sehen wollen. Die dritte Phase der Systemtransformation ist die der Konsolidierung. Die neue Verfassung muss zunächst formal legitimiert werden. So gewinnt die Politik an Berechenbarkeit und kann sich an institutionell abgesicherten Normen orientieren. Das in der Verfassungstheorie festgeschriebene neue System muss sich aber auch in der Verfassungswirklichkeit bewähren. Dafür müssen Legislative, Exekutive und Judikative zusammenwirken. Nur so kann ein neuer gesellschaftlicher Grundkonsens (Common Sense) entstehen, auf dessen Boden sich eine zivilgesellschaftliche Bürgerkultur entwickeln kann. Diese dritte Phase hat die Weimarer Republik nur unter großen Schwierigkeiten bewältigt. In den ersten Jahren – man denke an den Kapp-Lüttwitz-Putsch, kommunistische Aufstandsversuche und den Hitler-Ludendorff-Putsch – herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Ein großer Teil der alten Eliten stand dem neuen System mehr oder weniger ablehnend gegenüber. Insbesondere in der Judikative gab es massive republikfeindliche Einstellungen. So musste sich Reichspräsident Ebert noch kurz vor seinem Tod vom Amtsgericht Magdeburg bescheinigen lassen, er habe als Beteiligter am Januarstreik 1918 Landesverrat begangen. Er hatte sein Amt unter schwierigen Umständen angetreten. Bisweilen überschätzte er die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme, unterschätzte gleichzeitig die Risiken einer vorbehaltlosen Kooperation mit den alten Eliten und nutzte nicht immer die Spielräume zum Aufbau einer neuen zukunftsweisenden Ordnung. Friedrich Ebert war das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt der deutschen Geschichte. Von nationalistischen Gegnern der neuen Republik gnadenlos verfolgt bis zuletzt, starb er bereits mit 54 Jahren. 7. Februar 1919, Weimar. 3. Sitzung der Nationalversammlung: Hugo Preuß (DDP) trägt als zuständiger Staatssekretär des Inneren den Gesetz entwurf über die vorläufige Reichsgewalt vor. (© Deutsches Historisches Museum) Verlaufsformen - Historische Beispiele
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-17T00:00:00"
"2018-08-24T00:00:00"
"2022-01-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/274856/deutungen/
Die Bewertung und Einordnung der Deutschen Revolution ist in der Wissenschaft umstritten. Der Übergang von der autokratischen zur demokratischen Herrschaft in der Weimarer Republik wurde vom rechten wie vom linken Lager bekämpft.
[ "Info Aktuell 33/2018", "Deutsche Revolution 1918/19" ]
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Veranstaltungskalender | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Übersicht Zu den Termindetails gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken. August Interner Link: Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Interner Link: Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung14. August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) September Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V. Oktober Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN) November Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg Februar 2024 Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite August Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten. Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen: 31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung 14. August 2023, Berlin & online Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen. Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen. Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen? 24. August 2023, online Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit. Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS September Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten 4. September 2023, Düsseldorf In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor. Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung. Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September, Leipzig Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten. Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen. Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media 12. September 2023, online Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen? Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert? Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen. Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023 Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit 13. September 2023, Berlin Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen. Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene 20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte. Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention 28. bis 29. September 2023, Berlin Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung. Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Oktober Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus 4. und 18. Oktober 2023, Berlin Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt. Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur 19. Oktober 2023, Berlin Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein. Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN November Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus 9. bis 10. November 2023, Berlin Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten. Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt. Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt. Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen. Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt: Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg Februar 2024 Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024 28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung. Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren. Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht. Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-04T00:00:00"
"2016-01-18T00:00:00"
"2023-08-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/218885/veranstaltungskalender/
Veranstaltungshinweise und Fortbildungen aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus &amp; Prävention
[ "Infodienst Salafismus", "Termine" ]
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21 und ein bisschen realistischer? | Deutschland Archiv | bpb.de
I. Auch im 21. Jahr des vereinten Deutschland dürften das Erreichte und die Zukunftsperspektiven Ostdeutschlands je nach Perspektive des Betrachters unterschiedlich bewertet werden. Die im Einigungsprozess verantwortlichen Politiker und ihre Nachfolger werden die zweifellos vorhandenen Erfolge ein weiteres Mal bejubeln und ihre Unfehlbarkeit beteuern, ihre Kritiker werden auf die Schattenseiten und deren Folgen verweisen. Weizenbearbeitender Betrieb Cerestar in Barby (Sachsen-Anhalt) - Gemeinschaftwerk "Aufschwung Ost", 1994. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00003561, Foto: Engelbert Reineke) Während die Verbesserung der Lebensverhältnisse für alle Schichten der Bevölkerung, insbesondere für die Rentnergenerationen, wie auch die Ausstattung der Region mit einer modernen Infrastruktur bis hin zu einem weitgehend sanierten Wohnungsbestand allgemein anerkannt scheinen, gehen die Meinungen über den Umbau der Produktionsverhältnisse und seine Folgen auseinander. Dafür gibt es gute Gründe. Die erkennbaren Fortschritte haben ihren "Preis", und die Art und Weise ihrer Entstehung hat die Entwicklungspfade in die Zukunft eingeengt. Drei zentrale Politikfelder stechen dabei hervor: die Produktion, der Arbeitsmarkt und die Bevölkerung. Produktion: Auf der einen Seite hat sich Ostdeutschland in den vergangenen Jahren zu einem leistungsfähigen Wirtschaftsstandort mit einer modernen Infrastruktur entwickelt. So ist die gesamtwirtschaftliche Leistung, das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, von 1991 bis 2010 auf mehr als das Doppelte gestiegen. Anfang der 1990er-Jahre erzielt worden. Seit der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts der deutschen Einheit hat sich die Dynamik der Entwicklung deutlich abgeschwächt. Die anfänglichen Wachstumsvorsprünge des Ostens sind inzwischen Geschichte. Die Aufholfortschritte sind immer kleiner geworden; im Jahr 2010 wurden erst drei Viertel des Produktivitätsniveaus in den alten Ländern erreicht. Arbeitsmarkt: Auf der anderen Seite hat der Arbeitsmarkt mit den Erfolgen beim Neuaufbau moderner Produktions- und Dienstleistungsstätten nicht mithalten können. Der Verlust an Arbeitsplätzen war infolge der Transformationskrise, der Politik der schnellen Lohnangleichung und der Kapitalsubventionierung beim Aufbau einer modernen Produktion so heftig und andauernd, dass erst im vergangenen Aufschwung vor der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise wieder Beschäftigung aufgebaut wurde. Die tariflichen Arbeitszeiten sind länger und die Entlohnung niedriger als im Westen. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch deutlich höher sowie der Anteil an Langzeitarbeitslosen und somit von Hartz IV Empfängern größer. Bevölkerung: Und schließlich wurde trotz breit angelegter Eindämmungsversuche seitens der Tarifparteien bis zur Zahlung von Bleibeprämien durch Länderregierungen der Bevölkerungsschwund nicht gestoppt. Abwanderung und Geburtenrückgang haben in Ostdeutschland zu Schrumpfungs- und Alterungserscheinungen geführt, dass selbst mehr als 20 Jahre nach dem Beginn der politischen Transformation das Geburtenniveau sowie die anhaltend negative Wanderungsbilanz der neuen Länder zu einer weiteren Verstärkung dieser Tendenzen beitragen. Hinzu kommt, dass selbst bei künftig günstigerer Bevölkerungsentwicklung das lange "Gedächtnis" demografischer Prozesse zu einem bleibenden Effekt des Geburten- und Abwanderungseffektes führen wird: Die Halbierung der Anzahl der Geburten in den frühen 1990er-Jahren generiert 20 bis 30 Jahre später einen Echoeffekt von abermals sinkenden Geburten. II. Die Ergebnisse sind ambivalent. Ihre Ursachen liegen letztlich sowohl in den überkommenen Entwicklungsrückständen der DDR-Wirtschaft als auch in der Art und Weise des wirtschaftlichen Umbaus Anfang der 1990er-Jahre. Privates Unternehmertum – Expansion mit wenig eigenen Führungszentralen Der Umbau einer zentralen Planwirtschaft zu einer dezentralen Marktwirtschaft greift in die ordnungsökonomischen Verhältnisse an der Basis ein. Auf der Tagesordnung stehen die Entstaatlichung der Produktion, der Aufbau und die Festigung eines leistungsfähigen privaten Unternehmenssektors. Am 18. Mai 1990 unterzeichnen Theo Waigel, Bundesminister der Finanzen (r.), und Walter Romberg, Finanzminister der DDR, den Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Palais Schaumburg (i.H.: Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und Lothar de Maizière, Ministerpräsident der DDR). (© Bundesregierung, B 145 Bild-00049950, Foto: Arne Schambeck) Im Falle Deutschlands waren die Weichen grundsätzlich durch die Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR laut Einigungsvertrag gestellt worden. Die Privatisierung der ehemals staatlichen Unternehmen oblag der Treuhandanstalt. Sie hatte den Auftrag, durch Umstrukturierung und Verkauf die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu erhalten. Im Zuge der großen Privatisierung wurde der ursprüngliche Bestand an Kombinaten und Betrieben von 8.500 in verkaufsfähige kleine und mittelgroße Objekte aufgespalten, sodass bis Ende 1994 rund 15.000 Einheiten zur Disposition standen. Nur in Ausnahmefällen wie "Jenoptik" und "Verbundnetz Gas" stellte sie sich den Herausforderungen der Überleitung großer Unternehmen in die Marktwirtschaft. Für rund 70 Prozent des Bestandes gelang die Weiterführung in privater oder öffentlicher Hand. Der Rest wurde liquidiert. Auf der neuen ordnungsökonomischen Grundlage entstand ein robuster, wenn auch kleindimensionierter Unternehmenssektor, der bald seine Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis stellte und nach dem Jahr 2000 bis zum Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise kräftiger expandierte als sein westdeutsches Pendant. Allerdings bestehen große strukturelle Unterschiede, die einer nachhaltig schnelleren Expansion des Unternehmenssektors im Wege stehen. Während Führungszentralen fast völlig fehlen und Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten im Osten deutlich unterrepräsentiert sind, wird die Unternehmenslandschaft weitgehend von mittelgroßen, kleinen und kleinsten Unternehmen geprägt. Größenvorteile können kaum genutzt werden. Wettbewerbsvorteil durch niedrige Löhne in der Privatwirtschaft Mit der deutsch-deutschen Währungsunion und der Übernahme der Tarifautonomie waren Anfang der 1990er-Jahre Prozesse in Gang gesetzt worden, die eine enorme Belastung der Produktionskosten bedeuteten. Die Umstellung der Währung mit einem Kurs von 1:1 für alle laufenden Zahlungen, auch der Löhne und Gehälter, bedeutete eine Aufwertung von 1:4 für die Hersteller handelbarer Güter. Die Kosten stiegen und belasteten die finanzielle Lage der Betriebe, die aufgrund der wenig attraktiven Produktpalette und der veralteten Produktionstechnologien ohnehin schon geringe Chancen am Markt hatten. Der Druck wurde noch dadurch erhöht, dass die Tarifparteien, allen voran ihre Vertreter in der Metallindustrie, fast durchweg übereinkamen, bis 1994 die Löhne in Ostdeutschland an das Westniveau anzugleichen. Dieser Beschluss ging völlig an den tatsächlichen Produktivitätsverhältnissen in der Wirtschaft zwischen Ost und West vorbei. Die ostdeutschen Unternehmen passten sich durch Personalabbau an die hohen Tariflöhne an. Viele Unternehmen traten zudem aus dem Tarifvertragssystem aus. Der Organisationsgrad von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ging drastisch zurück, die kollektive Lohnfindung verlor an Bedeutung, und die Arbeit in der Privatwirtschaft wird seitdem in Ostdeutschland in vielen Unternehmen deutlich unter Tarif entlohnt. Ein Vollzeitbeschäftigter in der ostdeutschen Privatwirtschaft empfing im Jahr 2010 knapp 70 Prozent des Monatsverdienstes eines Arbeitnehmers im Westen. Im Verarbeitenden Gewerbe beträgt der Rückstand sogar ein Drittel. Ließ sich der deutliche Lohnabstand anfangs noch durch den großen Produktivitätsrückstand rechtfertigen, so hat sich das inzwischen geändert. Der Produktivitätsabstand zwischen Ost und West ist geringer als der Lohnabstand geworden und die Lohnstückkosten sind unter das westdeutsche Niveau gesunken, sodass die niedrigeren Lohnzahlungen für einen preislichen Wettbewerbsvorsprung der Unternehmen sorgen. Dieser Standortvorteil gerät dürfte in jenem Maße schwinden, in dem infolge des demografischen Wandels das Arbeitsangebot sinkt und Knappheiten am Arbeitsmarkt die Unternehmen zu höheren Entlohnungen drängen. Nachholende Modernisierung – Dominanz der Zulieferer und geringe Außenorientierung Die im Zuge der großen Privatisierung verkauften Betriebe wurden in großer Anzahl an auswärtige Investoren, vor allem aus dem früheren Bundesgebiet, veräußert. Wenn sie nicht später aus Konkurrenzgründen oder wegen krimineller Machenschaften geschlossen worden sind, dienten sie in vielen Fällen als verlängerte Werkbänke für die Erwerber. Mit dem Neubeginn unter privaten Eigentümerverhältnissen wurden unter hohem privaten und öffentlich gefördertem Kapitaleinsatz die Produktpalette und die Produktionsprozesse der Unternehmen auf einen modernen Stand gebracht. Mit dieser Art der Modernisierung wurden die überkommenen technologischen Rückstände in der Breite überwunden, aber nur wenig Spitzenunternehmen hervorgebracht. Erst im vergangenen Jahrzehnt haben sich mit der Ansiedlung von Unternehmen beispielsweise aus dem Bereich der Energiegewinnung aus Sonne und Wind neue Zweige etabliert. In der Industrie führte die Privatisierungsstrategie zu einer De-Industrialisierung bislang nicht gekannten Ausmaßes. Die Industrieproduktion sank in der Transformationskrise nach unterschiedlichen Schätzungen um zwei Drittel bis drei Viertel ihres Standes vor der Vereinigung. Mit dem Umbau der privatisierten Betriebe wurde die Tendenz umgekehrt. Die Re-Industrialisierung hat inzwischen in einigen Gebieten zu einem mit dem Durchschnitt in Westdeutschland vergleichbaren Industriealisierungsgrad geführt. Aus der Perspektive der Produktpalette betrachtet, führte der Umbau zwar auch zur Erneuerung der Produktion von Konsum- und Investitionsgütern, die Industrie wird jedoch insgesamt von Zulieferproduktionen für Kunden im Inland und im Ausland dominiert. Deren Wertschöpfungspotential ist jedoch gegenüber Endproduktherstellern kleiner. Mit dem Schwerpunkt der Produktion im Bereich der Vorleistungsgüter orientieren sich die Industrieunternehmen zunehmend auf die Außenmärkte in den alten Bundesländern. Die Warenexportquote in den neuen Bundesländern ist nur halb so hoch wie die westdeutsche. Entwicklungsrückstände – vorübergehende Vorteile in der Finanz- und Wirtschaftskrise Der durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise ausgelöste Produktionseinbruch traf die einzelnen Regionen in Deutschland in unterschiedlichem Maße. Am stärksten waren dem Nachfragerückgang die exportorientierten hochindustrialisierten Bundesländer ausgesetzt. Die weitgehende Orientierung der ostdeutschen Wirtschaft auf den inländischen Markt, ihre noch vorhandenen Rückstände bei der Wiedergewinnung industrieller Stärken und die hohe preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Industrie haben den Produktionseinbruch in der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem im Jahr 2009 weniger stark ausfallen lassen als in den hochindustrialisierten westdeutschen Bundesländern. Die geringe Exportorientierung und die kleinteilige Struktur der Kreditnehmer in den neuen Bundesländern dürften auch die Kreditinstitute dazu veranlasst haben, ihre Kreditvergaben in der Krise zu Lasten der vor allem in Westdeutschland ansässigen großen Exportunternehmen auszuweiten. In der Erholungsphase 2010 haben allerdings die Rückstände wieder ihre Bremswirkung entfaltet. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts blieb in den neuen Bundesländern mit 2 Prozent gegenüber dem Westen (3,8 Prozent) weit zurück. Kleinteilige Wirtschaft – eingeschränkte Entwicklungspotentiale "Kleinteilige Wirtschaft": Firmenwegweiser des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen, 1998. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00164099, Foto: Julia Fassbender) Mit der Aufspaltung des Unternehmensbestandes in verkaufsfähige Objekte und deren Reduzierung auf das Kerngeschäft entstand in Ostdeutschland ein Unternehmenssektor, der von seinen Innovationspotentialen weitgehend entblößt war. In der Regel sind Forschungs- und Entwicklungseinheiten, Berufsbildungsstätten sowie soziale Einrichtungen aus den Betrieben ausgegliedert worden. Es überlebten vorwiegend kleine und mittelgroße Einheiten. Die im Privatisierungsprozess stark reduzierten Potentiale in Forschung und Entwicklung (FuE) schränkten und schränken für lange Zeit die Innovationskraft der Privaten ein. Der Staat sorgt zwar über die verstärkte Finanzierung öffentlicher Forschungsinstitutionen für einen Ausgleich, der Wissenstransfer an die Privaten bedeutet aber zusätzliche Probleme. An der nach Abschluss der Privatisierung gebliebenen Kleinteiligkeit der Unternehmenslandschaft hat sich bis heute wenig geändert. Anders als Großunternehmen verfügen kleine und mittlere Unternehmen in der Regel nicht über eigene Forschungsabteilungen oder ein eigenes Forschungs- und Innovationsmanagement. Auch ist ihr Zugang zur Finanzierung von FuE-Projekten im Vergleich zu großen Unternehmen erschwert. Um das Innovationspotential dieser Unternehmensgruppe volkswirtschaftlich zu erschließen, ist der Staat mit Förderprogrammen zum Nachteilsausgleich aktiv. Geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – Defizite in den öffentlichen Finanzen Niedrige Lohnstückkosten im Verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands sichern zwar die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Anbietern im überregionalen Wettbewerb. Sie haben aber auch ihren "Preis": Die dahinter stehenden Produktivitätssteigerungen wurden vor allem in den 1990er-Jahren durch Beschäftigungsabbau erreicht. Dazu kommt eine moderate Entwicklung der Löhne aufgrund der verbreiteten Entkoppelung von tarifvertraglichen Bindungen. All dies schwächt die Lohnbasis, begrenzt die Steuereinnahmen und induziert umfangreiche Transferzahlungen. Entsprechend liegen die Steuerquoten und auch das Pro-Kopf-Niveau der Steuereinnahmen in Ostdeutschland deutlich unter dem westdeutschen Stand. Auch die gezielt zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung eingesetzten Steuersubventionen (Investitionszulage) beziehungsweise Steuerausnahmetatbestände (Sonderabschreibungen) wirkten dämpfend auf die Steuerreinnahmen. Nachdem in der Anfangszeit Steuersubventionen sehr massiv eingesetzt worden waren, erfolgte inzwischen eine stärkere Fokussierung der Investitionsförderung und das Instrumentarium der Sonderabschreibungen ist seit langem abgeschafft. Die Defizite in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit die schwache Steuerkraft führen dazu, dass der Osten Deutschlands nach wie vor in starkem Maße auf finanzielle Transfers im Rahmen der interregionalen Ost-West-Ausgleichsmechanismen angewiesen ist. Die seit 1990 aufgelaufenen Nettofinanztransfers von West nach Ost in Höhe von 1,2 Billionen Euro dürften deshalb ihr Maximum noch nicht erreicht haben. Mit dem Auslaufen des Solidarpaktes II im Jahr 2019 werden die Aufwüchse allerdings sinken. Ausgleichstendenz der regionale Leistungsbilanz – Ausfluss des Konsumrückgangs In der regionalen Leistungsbilanz saldieren sich die Eigenleistung einer Region und ihr Güterverbrauch. Die ostdeutsche Wirtschaft war mit einem großen Ungleichgewicht zwischen Nachfrage und Produktion in das vereinte Deutschland gestartet. Während die Nachfrage nach Konsum- und nach Investitionsgütern infolge kräftiger Zuflüsse an öffentlichen und privaten Finanzmitteln vor allem aus dem früheren Bundesgebiet auch zu Beginn der deutschen Vereinigung hoch gehalten worden war, stürzte die Produktion transformationsbedingt zunächst regelrecht ab. Der Nachfrageüberhang wurde durch einen hohen Einfuhrüberschuss vor allem gegenüber dem früheren Bundesgebiet ausgefüllt. Im Jahr 1991 lag er bei 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und entsprach damit 90 Prozent der Ausgaben der privaten Haushalte in Ostdeutschland für den Konsum. Das Ungleichgewicht zwischen Nachfrage und Produktion erhöhte sich in den ersten Aufbaujahren sogar noch. Zwar legte das Bruttoinlandsprodukt kräftig zu. Dank der regen Investitionstätigkeit der Unternehmen sowie des Staates und der Erfüllung des Nachholbedarfs der privaten Haushalte an Konsumgütern stieg die Inlandsnachfrage in dieser Phase aber ebenfalls deutlich. Erst mit dem Rückgang der Investitionen in Wohn- und Gewerbeimmobilien und der verhaltenen Entwicklung der Ausrüstungsinvestitionen öffnete sich die Schere zwischen Nachfrage und Produktion nicht weiter. Als nach dem Jahr 2000 auch der private Konsum nicht mehr stieg, ging der Nachfrageüberhang bei anhaltendem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts immer weiter zurück. Bis zum Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise sank er auf rund 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Verlangsamtes Wachstum – Aufholen im Pro-Kopf-Einkommen dank Bevölkerungsrückgang Voraussetzung für ein aktives Aufholen in der Pro-Kopf-Produktion ist ein schnelleres wirtschaftliches Wachstum in der zurückgebliebenen Region. In den ersten Jahren des wirtschaftlichen Um- und Neuaufbaus hat die ostdeutsche Wirtschaft diese Voraussetzung sehr deutlich erfüllt. Das Bruttoinlandsprodukt stieg kräftiger als in Westdeutschland. Der Rückstand in der Pro-Kopf-Produktion verringerte sich bis 1996 relativ und absolut. Lag das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) 1991 bei 34 Prozent des westdeutschen Niveaus, so waren es in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre 63 Prozent. Danach schwächte sich die Wachstumsdynamik der Produktion deutlich ab und fiel im Aufschwung in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre teilweise sogar hinter die Entwicklung in Westdeutschland zurück. Während der wirtschaftlichen Schwächephase in Deutschland in den Jahren 2002–2004 ist der Abstand infolge des Produktionswachstums im Osten relativ und absolut kleiner geworden. Im Jahr 2010 lag die Pro-Kopf-Produktion wie vor der Wirtschafts- und Finanzkrise bei knapp 70 Prozent des westdeutschen Standes. Ausschlaggebend dafür war aber nicht mehr das schnellere Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Ostdeutschland sondern die sinkende Einwohnerzahl. III. Seit mehr als einem Jahrzehnt entwickelt sich die ostdeutsche Wirtschaft auf einer neuen ordnungsökonomischen Grundlage, den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die Ergebnisse sind allerdings ambivalent. Das von einer niedrigen Basis aus generierte stetige und kräftige Wirtschaftswachstum in den Aufbaujahren der Wirtschaft ist mit der fortschreitenden Integration der Wirtschaft in die deutschen und europäischen Märkte der Abhängigkeit von Konjunkturschwankungen gewichen. Die anfangs höhere Wachstumsdynamik des Bruttoinlandsprodukts als im früheren Bundesgebiet ist bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verloren gegangen. Größere Wachstumsraten in einzelnen Jahren danach erwiesen sich als Ausfluss von Sondereffekten und waren damit nicht nachhaltig. Die transformierte Wirtschaft ist zwar wachstumsorientiert, die Wachstumsdynamik ist jedoch gebremst. Einem schnelleren Wachstum als im Westen stehen strukturelle Gegebenheiten entgegen, in denen sich die Langzeitwirkung der Rückstände der überkommenen DDR-Wirtschaft wie auch der Art und Weise ihres Umbaus Geltung verschaffen: die Konditionen der deutsch-deutschen Währungsunion, die Strategie zur Privatisierung der DDR-Betriebe etc. Strukturelle Ungleichheiten sind nicht von heute auf morgen zu verändern. Sind sie erkannt, sollten sie aber von der Politik ernstgenommen und in ihrem Zielkatalog beachtet werden. Angleichung an unechte Durchschnitte beim Pro-Kopf-Einkommen sollte durch Vergleiche mit Vergleichbarem ersetzt werden. Vor dem Hintergrund der siedlungsstrukturellen Unterschiede in Deutschland hat ein Konsortium von fünf großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten unter der Leitung des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle in seinem neuesten Gutachten empfohlen, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland auf die regionale Ebene zu beziehen, vergleichbare Regionen zu identifizieren und die wirtschaftspolitischen Instrumente zu präzisieren. Von einer flächendeckenden Ostförderung kann beim bisherigen Stand der Angleichung nicht mehr die Rede sein. In den Geltungsbereich der Förderung müssen alle strukturschwachen Regionen in Deutschland einbezogen werden. Für die Wirtschaftsforschung ergibt sich daraus die Aufgabe, die Langzeitwirkungen des Umbaus der ostdeutschen Wirtschaft auf die Posttransformationsperiode zu analysieren und ihre Folgen für die wirtschaftliche Integration in Deutschland und Europa aufzuzeigen. Weizenbearbeitender Betrieb Cerestar in Barby (Sachsen-Anhalt) - Gemeinschaftwerk "Aufschwung Ost", 1994. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00003561, Foto: Engelbert Reineke) Am 18. Mai 1990 unterzeichnen Theo Waigel, Bundesminister der Finanzen (r.), und Walter Romberg, Finanzminister der DDR, den Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Palais Schaumburg (i.H.: Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und Lothar de Maizière, Ministerpräsident der DDR). (© Bundesregierung, B 145 Bild-00049950, Foto: Arne Schambeck) "Kleinteilige Wirtschaft": Firmenwegweiser des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen, 1998. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00164099, Foto: Julia Fassbender) Vgl. Ostdeutsche Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, Hg. Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Wirtschaft im Wandel, Sonderh. 1/2009, S. 32. Vgl. Udo Ludwig u.a., Ostdeutsche Wirtschaft im Jahr 2011: Trotz Wachstumsbeschleunigung keine Fortschritte im gesamtwirtschaftlichen Aufholprozess, in: Wirtschaft im Wandel, 7–8/2011, S. 245–266, hier 257. Vgl. Ostdeutsche Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, Hg. Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Wirtschaft im Wandel, Sonderh. 1/2009, S. 63. Die Vertreter der Tarifparteien kamen fast ausschließlich aus dem Westen und hatten ein lebhaftes Interesse daran, durch hohe Abschlüsse mögliche Konkurrenten um Märkte und Arbeitsplätze aus dem Osten vom Westen fernzuhalten. Zur juristischen Aufarbeitung solcher Fälle vgl. Klaus Boers u.a. (Hg.), Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010. Vgl. Udo Ludwig, Aus zwei Volkswirtschaften mach eine – Strukturelle Brüche und Disparitäten im Aufholprozess der ostdeutschen Transformationswirtschaft, in: 20 Jahre Deutsche Einheit. Von der Transformation zur europäischen Integration, Hg. Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Halle/S. 2010, S. 115–132, hier 121f. Vgl. Ostdeutsche Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, Hg. Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Wirtschaft im Wandel, Sonderh. 1/2009, S. 38. Vgl. Kristina van Deuverden, Auch nach 20 Jahren: Steuereinnahmen in den Neuen Ländern schwach, in: Wirtschaft im Wandel, 2/2010, S. 91–104.
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Udo Ludwig
"2013-12-19T00:00:00"
"2012-01-11T00:00:00"
"2013-12-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/53288/21-und-ein-bisschen-realistischer/
Die Bewertungen der Bilanz und der Perspektiven Ostdeutschlands gehen auch im 21. Jahr der deutschen Einheit auseinander. Einhelliger Anerkennung von Erfolgen stehen divergierende Meinungen über den Umbau der Produktionsverhältnisse und dessen Folgen
[ "Erinnerungskultur", "DDR", "Einigungsprozess", "Wiedervereinigung", "Friedliche Revolution", "Deutschland", "DDR" ]
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Wahlhandlung | Wahlen in Deutschland: Grundsätze, Verfahren, Analysen | bpb.de
Die zugelassenen Wahlvorschläge sind mit Angabe der Bewerbernamen sowie der Partei auf dem amtlichen Stimmzettel aufzuführen. Jede wahlberechtigte Person kann entweder persönlich am Wahltag in ihrem Wahlbezirk oder bei Verhinderung durch Briefwahl wählen. Die Stimmabgabe in den Wahllokalen kann entweder per Stimmzettel oder mit einem Wahlgerät erfolgen. Entscheidend ist, dass die Wahl geheim und frei abläuft. Deshalb ist in Paragraf 33 des Bundeswahlgesetzes festgeschrieben, dass "Vorkehrungen dafür zu treffen [sind], dass der Wähler den Stimmzettel unbeobachtet kennzeichnen kann". Werden Wahlgeräte verwendet, so müssen sie die "Geheimhaltung der Stimmabgabe gewährleisten" (§35 BWahlG). Das Bundesverfassungsgericht verbot am 3. März 2009 den Einsatz von Wahlcomputern in Deutschland vorläufig. Wegen technischer Mängel der eingesetzten Geräte würde der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl nicht mehr erfüllt, so die Begründung. Erst wenn diese Mängel behoben sind, können Wahlcomputer in Deutschland wieder eingesetzt werden. Um sicherzustellen, dass Wahlberechtigte ihre Stimme frei abgeben können, ist es nach Paragraf 32 verboten, dass während der Wahlzeit in der näheren Umgebung des Wahllokals Wahlkampfaktivitäten betrieben werden. Dazu zählen auch Unterschriftensammlungen jeglicher Art. Aus dem gleichen Grund dürfen Umfrageergebnisse am Wahlsonntag nicht vor Schließung der Wahllokale bekannt gegeben werden. Möglich wäre sonst die Stimmabgabe aus Mitleid für Parteien, die noch einige Stimmen zum Überspringen der Fünfprozentklausel brauchen, oder die Unterstützung der führenden Partei, nur um das Gefühl zu haben, zu den Gewinnern zu zählen. QuellentextInklusion im Wahlrecht Mithilfe einer Wahlschablone haben Menschen mit eingeschränkter Sehkraft und Blinde die Möglichkeit, ohne fremde Hilfe ihre Stimme bei Wahlen abzugeben. (© picture-alliance, Klaus-Dietmar Gabbert / dpa-Zentralbild/ZB | Klaus-Dietmar Gabbert) Um auch Menschen mit Behinderung die Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, hat der Gesetzgeber verschiedene Angebote und Regelungen geschaffen. So stellt die Bundeszentrale für politische Bildung im Fall von Bundestagswahlen für Menschen mit Hör- und Sehbehinderungen spezifische Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Wahlinhalten und dem Wahlverfahren zur Verfügung. Das Angebot reicht von Veranstaltungen bis zu Print- und Multimediaprodukten. Zudem bieten auch andere Akteure behindertengerecht aufbereitete Informationen an. Dazu zählen unter anderem der Sozialverband Deutschland und die Lebenshilfe, die beispielsweise Informationen in leichter Sprache bereitstellen. Im Hinblick auf den Wahlvorgang existiert eine Reihe von Sonderregelungen. So haben körperlich beeinträchtige Menschen für den Fall, dass das Wahllokal in ihrem Wahlkreis nicht über einen barrierefreien Zugang verfügt, die Möglichkeit, einen Wahlschein zu beantragen und damit in einem barrierefreien Wahllokal von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Darüber hinaus verfügen diese Menschen wie andere Wählerinnen und Wähler auch über das Recht, Briefwahl zu beantragen. Menschen, die nicht lesen können oder körperlich nicht in der Lage sind, den Wahlvorgang auszuführen, haben die Möglichkeit, die Unterstützung einer Hilfsperson in Anspruch zu nehmen. Diese frei von der Wählerin/dem Wähler benannte Person ist dazu verpflichtet, den Vorgaben der/des Wahlberechtigten zu folgen und die gewonnenen Kenntnisse geheim zu halten. Um Menschen mit eingeschränkter Sehkraft und Blinde in die Lage zu versetzen, den Wahlvorgang eigenständig zu vollziehen, stehen Stimmzettelschablonen zur Verfügung. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, den Inhalt des Wahlzettels mit den Fingern zu lesen und eigenständig sowie geheim zu wählen. Die Schablonen werden von den örtlichen Blindenvereinen auf Anfrage kostenlos bereitgestellt. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Sonderregelungen und Unterstützungsleistungen angehalten, alle Wahlgrundsätze im Auge zu behalten. Die Bereitstellung von Informationen und die Regelungen zur Barrierefreiheit sowie zum Einsatz von Stimmzettelschablonen eröffnen bzw. erleichtern Menschen mit Behinderung den Wahlvorgang und erfolgen demnach im Sinn des Prinzips der Allgemeinheit der Wahl. Wenn Menschen mit Behinderung die Dienste von Hilfspersonen in Anspruch nehmen, kann dies allerdings eine Beeinträchtigung des Prinzips der geheimen Wahl mit sich bringen. Zudem besteht grundsätzlich die Gefahr, dass das Wahlrecht missbraucht wird, indem die Hilfsperson nicht im Sinn des Wahlberechtigten, sondern in ihrem eigenen Sinn abstimmt. Da eine Person in diesem Fall zwei Stimmen abgeben könnte, wäre auch das Prinzip der Gleichheit der Wahl betroffen. Der Gesetzgeber hat in diesem Zusammenhang jedoch zugunsten der Allgemeinheit der Wahl entschieden. Der beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen angesiedelte Inklusionsbeirat hat jahrelang gefordert, das Wahlrecht auf weitere Gruppen auszuweiten. Das Gremium sprach sich dafür aus, dass auch den Menschen, für die eine Betreuungsperson bestellt wurde oder die in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind, die Möglichkeit gewährt wird, ihre Stimme abzugeben. Diese Menschen sind mittlerweile (seit 2019) zur Wahlteilnahme berechtigt. Der Inklusionsbeirat berief sich auf die seit März 2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechtskonvention. Darin wird in Artikel 29a Menschen mit Behinderung das Recht eingeräumt, sich "gleichberechtigt mit anderen" an Wahlen zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund forderte der Beirat die Abschaffung des Wahlverbots für die genannten Gruppen. Auch die Stimmabgabe durch Briefwahl ist so geregelt, dass sie geheim und frei stattfindet. Der Wahlbriefumschlag muss einen Wahlschein, den sich der/die Wahlberechtigte zuvor ausstellen lassen muss, als Nachweis des Wahlrechts enthalten. Der Stimmzettel muss in einem eigenen Umschlag beiliegen – so kann der Stimmzettel ungelesen vom Wahlschein, der den Namen der wählenden Person trägt, getrennt werden; das Wahlgeheimnis bleibt gewahrt. Die Freiheit der Wahl wird dadurch sichergestellt, dass auf dem Wahlschein an Eides statt erklärt wird, dass die Stimmen möglichst persönlich, auf jeden Fall aber nach dem erklärten Willen der Person, die von der Briefwahl Gebrauch macht, abgegeben wurden. Die Briefwahl stellt ein besonderes Entgegenkommen des Gesetzgebers dar, das der Allgemeinheit der Wahl dienen soll. Dieses Angebot wird von den Bürgern und Bürgerinnen zunehmend genutzt. Ihre Zahl stieg von 9,4 Prozent im Jahr 1990 auf 28,6 Prozent im Jahr 2017 an. Mithilfe einer Wahlschablone haben Menschen mit eingeschränkter Sehkraft und Blinde die Möglichkeit, ohne fremde Hilfe ihre Stimme bei Wahlen abzugeben. (© picture-alliance, Klaus-Dietmar Gabbert / dpa-Zentralbild/ZB | Klaus-Dietmar Gabbert) Um auch Menschen mit Behinderung die Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, hat der Gesetzgeber verschiedene Angebote und Regelungen geschaffen. So stellt die Bundeszentrale für politische Bildung im Fall von Bundestagswahlen für Menschen mit Hör- und Sehbehinderungen spezifische Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Wahlinhalten und dem Wahlverfahren zur Verfügung. Das Angebot reicht von Veranstaltungen bis zu Print- und Multimediaprodukten. Zudem bieten auch andere Akteure behindertengerecht aufbereitete Informationen an. Dazu zählen unter anderem der Sozialverband Deutschland und die Lebenshilfe, die beispielsweise Informationen in leichter Sprache bereitstellen. Im Hinblick auf den Wahlvorgang existiert eine Reihe von Sonderregelungen. So haben körperlich beeinträchtige Menschen für den Fall, dass das Wahllokal in ihrem Wahlkreis nicht über einen barrierefreien Zugang verfügt, die Möglichkeit, einen Wahlschein zu beantragen und damit in einem barrierefreien Wahllokal von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Darüber hinaus verfügen diese Menschen wie andere Wählerinnen und Wähler auch über das Recht, Briefwahl zu beantragen. Menschen, die nicht lesen können oder körperlich nicht in der Lage sind, den Wahlvorgang auszuführen, haben die Möglichkeit, die Unterstützung einer Hilfsperson in Anspruch zu nehmen. Diese frei von der Wählerin/dem Wähler benannte Person ist dazu verpflichtet, den Vorgaben der/des Wahlberechtigten zu folgen und die gewonnenen Kenntnisse geheim zu halten. Um Menschen mit eingeschränkter Sehkraft und Blinde in die Lage zu versetzen, den Wahlvorgang eigenständig zu vollziehen, stehen Stimmzettelschablonen zur Verfügung. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, den Inhalt des Wahlzettels mit den Fingern zu lesen und eigenständig sowie geheim zu wählen. Die Schablonen werden von den örtlichen Blindenvereinen auf Anfrage kostenlos bereitgestellt. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Sonderregelungen und Unterstützungsleistungen angehalten, alle Wahlgrundsätze im Auge zu behalten. Die Bereitstellung von Informationen und die Regelungen zur Barrierefreiheit sowie zum Einsatz von Stimmzettelschablonen eröffnen bzw. erleichtern Menschen mit Behinderung den Wahlvorgang und erfolgen demnach im Sinn des Prinzips der Allgemeinheit der Wahl. Wenn Menschen mit Behinderung die Dienste von Hilfspersonen in Anspruch nehmen, kann dies allerdings eine Beeinträchtigung des Prinzips der geheimen Wahl mit sich bringen. Zudem besteht grundsätzlich die Gefahr, dass das Wahlrecht missbraucht wird, indem die Hilfsperson nicht im Sinn des Wahlberechtigten, sondern in ihrem eigenen Sinn abstimmt. Da eine Person in diesem Fall zwei Stimmen abgeben könnte, wäre auch das Prinzip der Gleichheit der Wahl betroffen. Der Gesetzgeber hat in diesem Zusammenhang jedoch zugunsten der Allgemeinheit der Wahl entschieden. Der beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen angesiedelte Inklusionsbeirat hat jahrelang gefordert, das Wahlrecht auf weitere Gruppen auszuweiten. Das Gremium sprach sich dafür aus, dass auch den Menschen, für die eine Betreuungsperson bestellt wurde oder die in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind, die Möglichkeit gewährt wird, ihre Stimme abzugeben. Diese Menschen sind mittlerweile (seit 2019) zur Wahlteilnahme berechtigt. Der Inklusionsbeirat berief sich auf die seit März 2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechtskonvention. Darin wird in Artikel 29a Menschen mit Behinderung das Recht eingeräumt, sich "gleichberechtigt mit anderen" an Wahlen zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund forderte der Beirat die Abschaffung des Wahlverbots für die genannten Gruppen. Mithilfe einer Wahlschablone haben Menschen mit eingeschränkter Sehkraft und Blinde die Möglichkeit, ohne fremde Hilfe ihre Stimme bei Wahlen abzugeben. (© picture-alliance, Klaus-Dietmar Gabbert / dpa-Zentralbild/ZB | Klaus-Dietmar Gabbert)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2021-06-28T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/wahlen-in-deutschland/335640/wahlhandlung/
Ob im Wahllokal oder per Briefwahl: Das Bundeswahlgesetz regelt, dass die Wahlen geheim und frei ablaufen müssen.
[ "Wahllokal", "Briefwahl", "Stimmzettel", "Bundeswahlgesetz", "Geheimhaltung", "Stimmabgabe", "Wahlcomputer" ]
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The Spanish May 15th Movement, cyber social movements changing democratic education in Europe | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de
Interner Link: Report (PDF-Version: 185 KB) by Rocío Ortiz Galindo, Phd Candidate in Communication at the University of Navarra (Spain) The last two decades have shown new ways of citizen mobilisation on the Internet, "cyber social movements", which have contributed to the democratic education of a civil society that wishes to take part in political decision making and social change. We can find an example of this trend in 2011, in Spain: the May 15th Movement or "Spanish Revolution". The country was immersed in one of the worst moments of the economic crisis, with youth unemployment at 46 percent and a general social unrest due to the social cuts one week before the regional elections. Thus, on the 15th of May around 50.000 people took the streets of more than fifty Spanish cities to show the society´s indignation with the current political system. As of that day, thousands of citizens decided to camp in the main squares of the Spanish cities (and subsequently all over the world), to debate in assembly the most important problems of the country. The result was the constitution of a pacific movement, very heterogeneous, formed by sectors of the entire society (with a large percentage of young people with university education) that wishes citizenship to take part in the main political decisions to achieve "real democracy". Many camps remained until June. Since then, the movement has kept active, it has frequently organised demonstrations and it has continued its assemblies, not only in the neighbourhoods but nationally and internationally as well. Although the more visible actions of these collectives (demonstrations, camps...) are carried out on the offline scenery, the base of its success lies in how its members are using the new tools on the Internet, since they provide help with organising and coordinating the social movements. The "social unrest" was expanded through different social networks, where several collectives organised the big demonstration. As of that moment, the citizens have shaped their own media and their own social networks to create virtual spaces that allow them to organise and to coordinate the communication between thousands of people who are strangers to each other. Thus, after four months this movement has become a real laboratory of tools that enable online democracy: websites where citizens put forward their own political proposals; virtual assemblies; online referendums; online petitions; informative spreading (alternative to the traditional media) to perform an exhaustive monitoring of politicians actions, etc. The introduction of these electronic tools in everyday life (where the space frontiers are usually diffused) is creating active citizenship keeping a close eye on social problems in Europe and the world. Thus, this movement has organised a world demonstration on 15th of October 2011: the Global Revolution. We will have to keep paying attention to these democratic cyber-revolutions to observe the changes of these trends in the scene of global citizenship education.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/66866/the-spanish-may-15th-movement-cyber-social-movements-changing-democratic-education-in-europe/
With Spain being immersed in one of the worst moments of the economic crisis, new ways of citizen mobilisation on the Internet have contributed to the democratic education of a civil society. An example of this trend: the May 15th Movement or "Spanis
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Iran ist anders (2011) | Iran | bpb.de
Iran war immer anders. Als Ajatollah Chomeini vor 32 Jahren – gestützt auf eine gewaltige Volksbewegung – die Islamische Republik Iran gründete, machten sich viele seiner Jünger zumindest am Anfang Hoffnungen, ihre Revolution werde sich auf die benachbarten arabischen Länder ausbreiten. Die Revolution in Iran sollte für die weitere islamische Welt zum Vorbild werden. Diese Erwartungen schienen nicht unbegründet: Die arabischen Despoten waren bei ihren Völkern genauso verhasst wie der Schah in Iran. Die soziale Ungerechtigkeit war hier und dort gleich drückend. Und der politische Islam als Idee hatte seinen Ursprung bei den Muslim-Brüdern im arabischen Ägypten. Doch aus all dem wurde nichts. Kein arabisches Volk folgte damals oder später dem Vorbild der Iraner. Für die sunnitische Mehrheit der Araber konnte die schiitische Staatsdoktrin Irans von der Herrschaft des führenden Gottesgelehrten grundsätzlich nicht attraktiv werden. Bei den Sunniten gibt es nicht jene Hierarchie der Berufs-Kleriker, die sich in Iran zur Herrschaftsschicht aufschwangen. Der Arabische Frühling schwappte nicht über Umgekehrt waren Anfang des Jahres 2011 viele – vor allem im Westen – davon überrascht, dass der Arabische Frühling nicht auf das iranische Hochland übergriff. Die erwartete Neubelebung der grünen Protestwelle, die sich im Sommer des Jahres 2009 gegen die umstrittene Wiederwahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad erhoben hatte, blieb weitgehend aus. Dabei hat Iran mehr noch als Tunesien, Ägypten oder eine Reihe anderer arabischer Länder eine gut ausgebildete junge Generation, der die beruflichen Perspektiven fehlen. Irans Präsident Ahmadinedschad verspricht für das laufende Jahr 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze, aber seine Kritiker innerhalb des Apparats rechnen ihm vor, dass es höchstens 600.000 werden können. Die Preise laufen den Einkommen davon, und Millionen leben immer noch in Armut. Zugleich genießt auch hier eine reiche Oberschicht einen Wohlstand, der sie von den Problemen der Mehrheit immer weiter entfremdet. Daneben erkauft sich ein breiter Mittelstand durch Abstinenz von der Politik gewisse Freiräume, so wie das auch die Bourgeoisie unter Hosni Mubarak in Ägypten oder Zine el Abidine Ben Ali in Tunesien konnte. An potentiellen Gründen für ein iranisches Frühlingserwachen fehlte es somit nicht. Ungezählte Iraner, wahrscheinlich die Mehrheit, haben genug von ideologischer Gängelung, von kleinlichen Schikanen durch Kleidervorschriften, von Korruption, von der selbstherrlichen Unfähigkeit der Bürokratie und der eigenen politisch-kulturellen Isolation vom Ausland. Die Anhänger der Protestbewegung gegen Ahmadinedschad wollten auf sehr verschiedene Weise eine Wende. Über den Protest gegen die umstrittene Wiederwahl hinaus forderten sie politische Partizipation und Bürgerrechte; sie wollten andere Leute an der Spitze des Staates, und sie wollten ein Ende von Brutalität und Unterdrückung. Sie wünschen sich all dies immer noch. Aber kaum jemand träumt von einer neuen Revolution, und nur wenige sind derzeit bereit, dafür ihr Leben zu riskieren. Die Iraner haben schon eine Revolution erlebt Denn die Iraner haben den arabischen Rebellen eine Erfahrung voraus. Sie haben durch die Revolution von 1979, die mit so großen Hoffnungen begonnen hatte, die Illusion verloren, dass sich durch einen Umsturz etwas bessern lässt. Außerdem wählten die Iraner in den Jahren 1997 und 2001 den Reformer Mohammed Chatami zum Präsidenten. Doch die Reformansätze verebbten, Chatami brachte nicht den erhofften Wandel und viele seiner Anhänger wandten sich enttäuscht ab. Dass die Grüne Welle des Jahres 2009 an der skrupellosen Unterdrückung durch das Regime scheiterte, besiegelte diese historischen Erfahrungen. Bei ihren späteren Protesten brachte die Grüne Bewegung gegen die Übermacht der Staatsgewalt nicht mehr Millionen auf die Beine, sondern nur noch Zehntausende, zuletzt bloß noch einige Tausend. Ihre Führer Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi leben seit Monaten in erzwungener Isolierung von ihrer Gefolgschaft. Im Sommer 2009 konnte das iranische Revolutionsregime die Grüne Bewegung unterdrücken. Einer der Gründe dafür ist, dass es sich auf breite Schichten von Begünstigten stützen kann. Durch die Vergabe von Posten, Arbeitsstellen, Wohnungen, Schulplätzen, Stipendien, Sozialhilfen und anderer kleiner Privilegien haben die Regierung und die Geistlichkeit Abhängigkeiten geschaffen. Schätzungsweise ein Viertel der Iraner kann aus solchen materiellen Gründen kein Interesse am Sturz des Systems haben. Einst hatte Revolutionsführer Chomeini gegenüber Unzufriedenen gegrollt, er habe die Revolution nicht gemacht, damit die Wassermelonen billiger würden. Aber da auf die Dauer das Fußvolk jeder Revolution ein besseres und reicheres Leben erwartet, dachte sich Ahmadinedschad etwas anderes aus. Bevor er im Jahr 2005 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, versprach er, unter seiner Herrschaft werde das Erdölgeld statt in die Taschen korrupter Ausbeuter auf die Speiseteller der Armen geleitet werden. Lange Zeit verwirklichte der Staatschef diese Verheißung mittels immer höherer staatlicher Hilfen für Grundnahrungsmittel, Benzin und wichtige Versorgungsgüter, die deren Preise absurd billig hielten. Subventionen prägen schon lange Irans Wirtschaft, und auch unter Ahmadinedschad fehlt eine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Auf seinen ungezählten Reisen in die Provinz verteilt Präsident Ahmadinedschad Geld mit vollen Händen. Den Staatsschatz plündert er mit ungesetzlichen Mitteln: Soeben erst warfen ihm Gegner im Parlament vor, dass er an neun Millionen Stimmbürger zusätzlich einen Bonus in bar zahlte, um seine Wiederwahl im vorletzten Jahr zu sichern. Das Parlament wird die Vorwürfe untersuchen. Für viele ist der Erhalt des Status quo das Beste Doch selbst seine erbittertsten Feinde werfen Ahmadinedschad nicht vor, er hätte ähnlich wie Mubarak oder Ben Ali 40 Milliarden Dollar im Ausland angehäuft. Auch dem Geistlichen Führer Ali Chamenei wird sein blühender Personenkult, aber nie persönliche Bereicherung angelastet. Die geistlichen Honoratioren und inzwischen auch die Führer der Revolutionsgarden sind sowieso für den Status quo, denn sie kontrollieren die profitablen Sektoren der Wirtschaft. Als sich die Straßen Teherans und anderer iranischer Städte im Sommer des Jahres 2009 mit Millionen füllten, die im Zeichen der Farbe Grün gegen Ahmadinedschad protestierten, fühlten sich ältere Iraner und ausländische Beobachter an die Kundgebungen erinnert, die drei Jahrzehnte vorher dem Sturz des Schahs vorausgingen. Wie damals riefen die Menschen Parolen gegen die Diktatur, wurden verprügelt und vertrieben. Und wie damals ließ die Staatsmacht schießen und es floss Blut – wenn auch weit weniger. Aber hier endeten die Ähnlichkeiten. Denn Revolutionsführer Chomeini verfügte 1979 über eine dichte Organisation, die über die Moscheen bis ins letzte Dorf reichte. Sein Stab dirigierte die Bewegung, bestimmte wo demonstriert wurde, wo die Basare schlossen, denn auch der Mittelstand und das Bürgertum waren für die islamische Bewegung und unterstützten sie finanziell. Die Erdölarbeiter streikten monatelang und zwangen das Regime des Monarchen durch Ausfall der Einnahmen finanziell in die Knie. Teile der Streitkräfte, vor allem der Luftwaffe, liefen zu Chomeini über. Den Demonstranten blieb allein ihre ohnmächtige Wut Im Gegensatz zu jenen Tagen hatte die Grüne Bewegung im Sommer 2009 fast gar nichts, vor allem keine Organisation. Stets durften die Iraner unter der Islamischen Republik ungestraft schimpfen, so viel sie wollten, denn es blieb ohne Folgen. Der geringste Versuch jedoch, oppositionelle Strukturen zu schaffen, wurde gnadenlos zerschlagen. Als Folge konnte sich die Grüne Bewegung nur auf spontane Ausbrüche der Unzufriedenheit und des allgemeinen Überdrusses an den Verhältnissen stützen. Die andere Seite, das Regime, hatte für die Konfrontation alles: die Polizei, die Geheimdienste, die regulären Streitkräfte sowie die Parallel-Armee der Pasdaran, der Revolutionsgarden; das Regime hatte die Verwaltung, Fernsehen und Rundfunk, die meisten Zeitungen. Auf der einen Seite waren die Gewehre, auf der anderen nur ohnmächtige Wut. Die Parallelen zwischen der Grünen Bewegung Irans im Sommer 2009 und dem Arabischen Frühling in Ägypten und Tunesien wurden übereilt gezogen. Zwar waren hier wie dort die Protestbewegungen in hohem Maß eine Sache der Jugend. Da die Jugend die modernen Kommunikationsmittel beherrscht, fühlt sie sich überall als Anwärter auf die politische Zukunft. Der offensichtliche Mangel an Organisation, an Programmen und an charismatischen Führern konnte durch diesen Elan in Kairo und Tunis bis zum raschen Durchbruch überbrückt werden. Doch der iranische Repressionsapparat war effizienter. Seine Internet-Polizei ist eine der stärksten der Welt. Schon am Vormittag nach Ahmadinedschads Wiederwahl, am 13. Juni 2009, wurden die Mobilfunk-Netze abgeschaltet und staatliche Kontrolleure übernahmen die zehn größten Internet-Provider. Die Übertragungsgeschwindigkeit im Internet wurde auf ein Dreißigstel der bisherigen Datenmenge herabgesetzt. Die staatlichen Überwacher sammelten eine ungeheure Menge persönlicher Daten und Kontakte von Regimegegnern im Netz und griffen erst danach ein. Nichts mehr entging der Zensur im Internet.
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Rudolph Chimelli
"2022-01-22T00:00:00"
"2011-11-12T00:00:00"
"2022-01-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/iran/40105/iran-ist-anders-2011/
Als im Frühjahr 2011 die Menschen in Tunesien und Ägypten ihre Regierungen stürzten, blickte die Welt erneut auch auf Iran: Im Sommer 2009 hatte es dort Massendemonstrationen gegen das Regime gegeben, die sogenannte Grüne Bewegung forderte Reformen.
[ "Demonstration", "Arabischer Frühling", "Chimelli", "Nahost", "Revolution", "Wahl", "Iran", "Iran" ]
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Die vertraute Fremde | Lokaljournalismus | bpb.de
Die Antwort auf die Frage: "… und woher weißt Du das?" fällt Jugendlichen und jungen Leuten inzwischen sehr leicht: "Aus dem Internet natürlich!" Dort kennen sie sich aus, dort finden sie ihre Quellen - dort sind sie zuhause. Die Repräsentativerhebung zur Mediennutzung der Deutschen ergab, dass tatsächlich hundert Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren Internetnutzer sind; unter den 20- bis 29-Jährigen sind es mehr als 98 Prozent, so die ZDF-Online-Studie 2011. Dabei spielt die Welt der Information für die jungen Leute keineswegs die Hauptrolle; viel wichtiger ist ihnen die Kommunikation. Und besonders wichtig sind ihnen die Plattformen, auf denen man sich zeigen ("profilieren"), sogenannte Freunde sammeln, seine Meinungen kundtun und sich austauschen kann. Der genannten Erhebung zufolge haben inzwischen neun von zehn Jugendlichen (14- bis 19-Jährige) auf einer dieser Plattformen – überwiegend bei "facebook" – ein Profil; in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen sind es mehr als 70 Prozent. Die enorme Bedeutung, die das Internet als Kommunikationsraum vor allem unter jungen Leuten besitzt, zeigt sich an der durchschnittlichen Verweildauer. Während die berufstätige Erwachsenenbevölkerung pro Tag rund zwei Stunden online ist (und davon einen erheblichen Teil aus beruflichen Gründen), verbringen Teenager jeden Tag rund drei Stunden im Internet, vor allem, um unter Ihresgleichen zu kommunizieren. Diese Welt der "Social Media" ist heute die mediale Heimat der jungen Leute, sie ist ihr Marktplatz, ihr Cafe, ihre Flaniermeile, ihr Club. Das Smartphone haben sie stets in der Hand – und so ist ihre Lebenswelt unauflösbar mit der digitalen Community vernetzt und verwoben. Für sie ist das Lokale kein geografischer, sondern ein kommunikativer Raum. Den alten Medien schenken sie hingegen kaum Aufmerksamkeit. Sie schauen sehr viel weniger Fernsehen als ihre Eltern (die 40- bis 55-Jährigen sitzen im Durchschnitt vier Stunden und 20 Minuten vor dem Fernseher, die Teenager "nur" eine Stunde und 54 Minuten), hören seltener Nachrichtensender und lesen weniger Zeitung. Befragungen zufolge aber unterstützen sie die Ansicht, dass Tageszeitungen glaubwürdiger sind als die meisten Newsanbieter im Internet. Auch die grundsätzlichen Anforderungen an die Informationsbeschaffung sind ihnen bewusst: Zusammenhänge zu kennen und Hintergründe auszuleuchten, um das komplizierte Weltgeschehen zu verstehen. Aber die großen Themen der etablierten Welt erscheinen vielen jungen Menschen abstrakt und sachfremd. Sie finden, dass die Themen, die sie in ihren Kommunikationsnetzen unter Gleichaltrigen austauschen, sowieso die wichtigeren seien. Denn dort geht es um ihre Sicht der Dinge, um ihre Wertvorstellungen und um ihre Sorgen. Die Community stiftet Identität – nicht nur im Web? Wenn das Lokale der Ort ist, wo sich der Alltag der Menschen abspielt, dann sind die meisten Jugendlichen im Lokalen sehr gut vernetzt, weil sich für sie (fast) alles in dieser Community der Gleichaltrigen abspielt. Die Kommunikationswissenschaft nennt dies Peer-to-peer-Kommunikation, die das Lebensgefühl der jungen Leute bis Mitte Zwanzig permanent zur Sprache bringt. Gewiss ist dies eine selbstreferenzielle und hoch redundante Kommunikation, deren Bedeutung aber darin liegt, dass sie identitätsvermittelnd wirkt und das bietet, was schon immer Merkmal des Lokalen ist: Vertrautheit, Geborgenheit, Sicherheit. Mit diesen Merkmalen verbindet sich die für den Journalismus zentrale Frage: Gibt es einen Übergang von der Community-Welt des Web 2.0 zu den klassischen Informationsmedien, allen voran zur Tageszeitung, die bis heute die lokale Welt der Erwachsenen repräsentiert? Was ist, wenn die jungen Leute, die als sogenannte "digital natives" mit und in der Internetwelt groß geworden sind, die Dreißig überschreiten, wenn sie einen Job auf unbestimmte Dauer haben, wenn sie mit ihrem Partner/ihrer Partnerin an Familiengründung denken? Wenn die Suche nach dem "richtigen" Stadtteil, nach der besten Schule einsetzt, wenn man eine Initiative für mehr Wohnstraßen unterstützt und sich eine Meinung über den Stadtteilentwicklungsplan bilden will? Wenn man für den Ausgang mit Freunden die kompetente Gastrokritik sucht und eine Einschätzung der Theaterpremiere lesen will? Zu allem gibt es Informationen im Web. Aber sind sie zuverlässig? Und wer steht jeweils dahinter?Die derzeit ungeklärte Frage also lautet: Sind die Lokalteile der Zeitungen – sei es auf Papier, sei es als Webangebot – attraktiv genug, um in fünf oder zehn Jahren die dann Erwachsenen als regelmäßige Leser zu gewinnen? Es gibt hierzu eine optimistische und eine eher pessimistische Einschätzung. Ich beginne mit letzterer. Ihr zugrunde liegt die Ermittlung der regelmäßigen Zeitungsleser; gemeint sind damit diejenigen, die mehrmals pro Woche in "ihrer" Tageszeitung lesen. Mitte der 80er Jahre waren dies unter den 14- bis 24-Jährigen immerhin 79 Prozent. Das Beunruhigende daran ist, dass unter diesen Jungen der Anteil der Zeitungsleser schon seit Ende der 80er Jahre rückläufig ist. Seit einer Zeit also, als es noch gar kein Internet gab. Zehn Jahre später, als die Mehrheit der deutschen Haushalte über einen Internetzugang verfügte und auch ältere Erwachsene regelmäßig im World Wide Web surften, war unter den Jungen der Anteil der Zeitungsleser bereits unter 60 Prozent gesunken. Heute liegt er deutlich unter 50 Prozent. Man kann daraus folgern, dass die Welt des Lesemediums Zeitung und die Welt der Jugendlichen schon seit mehreren Jahrzehnten auseinanderdriften. Dies gilt auch für die lokale Berichterstattung insgesamt, die ebenfalls schon damals an Attraktivität eingebüßt hat. Dieses Problem der Diskrepanz zeigt sich auch darin, dass von den älter werdenden Jungen nur wenige zum regelmäßigen Zeitungslesen konvertieren. Weil sozusagen der Leser-Nachschub fehlt, sinkt die Reichweite der Lokal- und Regionalzeitungen Jahr für Jahr um zwei bis vier Prozent. Leider gibt es bislang auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die jungen Leute statt der Papierausgabe die Webseite der Lokalzeitung nutzen: Auch dieses Angebot wird in den meisten Ballungsräumen von der Mehrheit der Jungen verschmäht; vielen von ihnen genügt der flüchtige Blick aufs Smartphone, um zu sehen, ob sich Freunde und Kollegen melden. Ihr Informationsinteresse beschränkt sich meist auf das Geschehen in der Community. Repräsentant der Erwachsenenwelt Also ein Siechtum, an dessen Ende der Tod der Zeitung steht? Schauen wir uns noch die optimistisch stimmenden Nachrichten an. Diese gehen von dem Befund aus, dass die Verweigerung der jungen Leute nicht allein die Zeitungen betrifft, sondern den klassischen Informationsjournalismus insgesamt, also auch die Fernsehnachrichten und die Nachrichtenmagazine. Und besonders hart trifft es die Lesemedien. Offenbar hatte das Schulsystem schon während der 80er Jahre zunehmend Probleme mit der Vermittlung von Lesekompetenz - nicht nur mit der Technik des Lesens, sondern dem damit verbundenen Textverstehen. Verstehendes Lesen ist keine Anstrengung, sondern interessant – und vielen, die dies können (vor allem Mädchen so zeigen Studien) bringt es auch Spaß. Hinzu kommen die Lehrinhalte. Der Stoff, den Kinder und Jugendliche in der Schule lernen (müssen), repräsentiert die Erwachsenenwelt: eine abstrakte, institutionelle Begriffs- und Wissenswelt. Das war zwar schon immer so, verändert haben sich indessen die Geltung, die Reputation und die Glaubwürdigkeit dieser Erwachsenenwelt. Die Erwachsenen argumentieren heute doppelzüngig: Sie wollen Wachstum und erzeugen Umweltzerstörung, beklagen soziales Elend und fördern Turbokapitalismus, predigen Freiheit und denken an verschärfte Überwachung, suchen im öffentlichen Leben nach integeren Persönlichkeiten und protegieren aus opportunistischen Gründen Kleingeister und Schnäppchenjäger. Für Jugendliche ist die Tageszeitung mit ihrem Lokalteil ein "typischer" Repräsentant dieser Erwachsenenwelt, denn auch im Lokalteil wird schöngeredet und hochgeschrieben – und verschwiegen, was den Etablierten schaden könnte. Sehr viele Jugendliche machen darum einen weiten Bogen um die Zeitung, entwickeln Vorurteile und mokieren sich das "Blatt für die Omas/Opas". Sie fragen sich, warum dies eine gute Nachricht sein soll? Allein deshalb, weil – wenn diese Beschreibungen zutreffen – der Prozess der Entfremdung auch umkehrbar ist. Untersuchungen des Angebots von Lokalzeitungen (bzw. des Lokalteils von Regionalzeitungen) kamen zu dem Ergebnis, dass rund zwei Drittel aller lokalen Zeitungsberichte nur die Perspektive der Institutionen und Veranstalter zeigen - egal, ob Politik, Wirtschaft oder Kultur. Nur ausnahmsweise wurde und wird aus der Sicht derjenigen berichtet, für die man die Zeitung macht: jene der Bürgerinnen und Bürger. Und noch immer sind dialogische und erzählende Darstellungsformen die große Ausnahme, noch immer kommen jene Problemthemen zu kurz, für die sich junge Leute interessieren. Inzwischen ist in verschiedenen Zeitungsredaktionen die Botschaft angekommen. Dort beginnt das Umdenken, und der Perspektivenwechsel wird eingeübt: weg von der überkommenen Veranstaltungsberichterstattung, hin zu eigenständigen Themen, die ganz aus der Sicht der Leute (Beteiligte, Betroffene, Interessierte) aufgegriffen und recherchiert werden. Dies genügt freilich nicht. Denn für die, denen die Zeitung fremd war, bedeutet Zeitunglesen eine anspruchsvolle Kulturtechnik, die keineswegs selbstverständlich gekonnt wird. Inzwischen gibt es eine Reihe von Experimenten in verschiedenen Bundesländern, in deren Verlauf Zeitungen in den Schulunterricht sinnvoll integriert und Zeitungen auch in Interner Link: Ausbildungsgängen von Lehrlingen eingebunden werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Zeitungslektüre zumal des Lokalteils zu mehr sozialer Kompetenz, zu besserem Kontextwissen und auch mehr Selbstsicherheit führt (aber manchmal auch zu Verdruss, wenn der Lokalteil langweilig ist – siehe oben). Wenn sich diese Entwicklung verstärkt, wird dem Lokaljournalismus eine neue Aufgabe zukommen: Er kann junge Leute an das Stadtleben heranführen und ihnen zeigen, wie das öffentliche Leben funktioniert, wie mit politischen Konflikten umzugehen ist und wie Gemeinwohl erzeugt werden kann. Allzu optimistisch? Vermutlich dann, wenn wir nur an die gedruckte Zeitung denken. Aber das Wort "Zeitung" sagt es eigentlich schon: Im 17. Jahrhundert stand dieses Wort für "tagesaktuelle Nachrichten", die von den "Zeitungern", den Blattmachern, verbreitet wurden. Diese Bedeutung kommt wieder, sofern der Lokaljournalismus das öffentliche Stadtleben aus Sicht (auch der jungen) Menschen über alle relevanten Kanäle vermittelt – sei es per Video und Plattformen, über Smartphone und weiterentwickelte Tablet-PCs. Oder auch, wer sich es dann noch leisten kann, auf dem Papier. Berücksichtigte (nicht zitierte) Literatur: Bucher, Hans-Jürgen und Klaus-Dieter Altmeppen (Hrsg.) (2003): Qualität im Journalismus. Grundlagen-Dimensionen-Praxismodelle. Wiesbaden. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Journalisten-Reader "Kreativ ohne Chaos". Multimediales Arbeiten in den Lokalredaktionen. Externer Link: http://www.drehscheibe.org/fileadmin/user_upload/allgemein/bpb_ms_kreativ_reader_2009.pdf Haller, Michael (Hrsg.) (2003): Lokale Kommunikation. In: Bentele/Brosius/Jarren (Hrsg.): Öffentliche Kommunikation. Handbuch der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden, S. 576-589 Haller, Michael (Hrsg.) (2011): Näher ran! Das Lokale soll die Zeitungen aus der Krise führen. Themenschwerpunkt in Message. Internationale Zeitschrift für Journalismus, Heft 1/2011, S. 8-23 Stöber, Rudolf (2005): Deutsche Pressegeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Konstanz, 63ff. Wolf, Fritz (2010): Salto Lokale. Das Chancenpotential lokaler Öffentlichkeit. Zur Lage des Lokaljournalismus. 15. Mainzer Medien Disput. Als Download erhältlich unter Externer Link: http://www.mainzermediendisput.de/.
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Michael Haller
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-11-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/150777/die-vertraute-fremde/
Die Zeitung will junge Leser erreichen: Sie entscheiden über die Zukunft der Zeitung. Aber nehmen diese die Lokalzeitung noch wahr? Und stimmen gar die Prognosen: Stirbt die Zeitung jung?
[ "Journalismus", "Lokaljournalismus", "Zeitung", "Jugend", "Alter", "Internet", "Medien", "digital", "Deutschland" ]
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Bund, Zivildienst oder Freiwilliges Soziales Jahr: fluter.de hilft bei der Entscheidung | Presse | bpb.de
fluter.de berichtet über die erste wichtige Entscheidung, die Jugendliche nach ihrer Schulzeit treffen müssen. Jungs wählen meist zwischen Bundeswehr und Zivildienst. Viele Mädchen überlegen, ob sie vor dem Beginn der Ausbildung oder des Studiums ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) einlegen. fluter.de bietet Entscheidungshilfen und zeigt, welche Wege nach der Schule eingeschlagen werden können und welche Möglichkeiten Bundeswehr, Zivildienst und FSJ bieten. Die Bundeswehr hat beim Hochwasserschutz oder den Auslandseinsätzen bewiesen, wie vielfältig das Einsatzgebiet eines Wehrpflichtigen sein kann. Ohne die Arbeit der Zivildienstleistenden müssten viele Aufgaben im Bereich häuslicher Pflege und im sozialen Bereich neu verteilt werden. Das Online-Jugendmagazin der bpb beleuchtet beide Seiten: Ein junger Mann berichtet von seinem Zivildienst im Wattenmeer und ein Soldat erzählt, warum er sich für die Ausbildung bei den Gebirgsjägern der Bundeswehr entschieden hat. Wer sich zwischen dem Dienst an der Waffe und dem Ersatzdienst entscheidet, hört auf sein Gewissen. In der DDR mischte sich der Staat massiv in diese persönliche Entscheidung ein: Zivildienst gab es nicht. Wer sich gegen den Dienst in der Nationalen Volksarmee sträubte, wurde als so genannter Bausoldat eingesetzt. Doch diejenigen, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, wurden während und auch nach Ende ihrer Dienstzeit schikaniert. Ehemalige Bausoldaten erzählen auf fluter.de über diese Zeit. Ein Blick ins Ausland zeigt, wie Wehr- und Zivildienst in der Türkei, in Island oder Israel funktioniert. Ein Hörstück geht der Frage nach, wie selbstlos der Mensch sein kann. Und es werden Jugendliche vorgestellt, die ein Freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege absolviert haben. In der Rubrik "Lesen" wird Joseph Hellers "Catch 22" als Buch des Monats besprochen. Im Thematext geht es dieses Mal um Erich Maria Remarques weltberühmten Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues". In der Filmrubrik stellt fluter.de "Der Soldat James Ryan" von Steven Spielberg vor. fluter.de ist die Onlineausgabe von fluter, dem Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Als Heft erscheint fluter viermal im Jahr. Täglich gibt es auf der Website www.fluter.de neue Beiträge und Diskussionen, wöchentlich Film- und Buchbesprechungen, regelmäßig Aktuelles und monatliche Themenschwerpunkte. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter: Externer Link: www.fluter.de Mit der Bitte um Veröffentlichung. Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Raul Gersson Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50529/bund-zivildienst-oder-freiwilliges-soziales-jahr-fluter-de-hilft-bei-der-entscheidung/
Das Online-Magazin fluter.de im März mit Reportagen über einen Zivi im Wattenmeer, einen Gebirgsjäger und das schwere Los der Kriegsdienstverweigerer in der DDR.
[ "Unbekannt (5273)" ]
30,260
Der Unterschied zwischen Religion und Ideologie | Salafismus - Ideologie der Moderne | bpb.de
Die Glaubensfreiheit und die ungestörte Religionsausübung sind durch das Grundgesetz gewährleistet. Tag der offenen Moschee in Köln-Ehrenfeld 2017. (© picture-alliance/dpa, Rainer Jensen) Nach der gängigsten Zählung umfasst der Koran 6236 Verse. Die Zahl der Verse, aus denen sich Hinweise zu Rechtsfragen ableiten lassen (āyāt al-aḥkām), wird auf zwei- bis fünfhundert geschätzt, wobei sich rund zwei Drittel von ihnen auf gottesdienstliche Handlungen und nicht auf das zwischenmenschliche Zusammenleben beziehen. So ist der Koran für Muslime zwar eine wichtige, aber auch eine sehr eingeschränkte Rechtsquelle. Er ist kein Gesetzbuch sondern in erster Linie eine spirituelle Quelle. Weder im Koran noch in der Prophetenüberlieferung finden sich Hinweise zur konkreten Herrschaftsausübung. Die Scharia (šarīʿa, "Weg"), das sogenannte Islamische Recht, hat zunächst nur die Aufgabe, den Gottesbezug zwischen Mensch und Gott zu definieren, ähnlich dem Nominatio dei im Grundgesetz, wonach auf "Gott" als diejenige Instanz verwiesen wird, vor welcher der Mensch Verantwortung tragen muss und über die er nicht nach seinem Ermessen verfügen kann. Bereits vor mehreren hundert Jahren hat die islamische Gelehrsamkeit "klassische fünf Güter" definiert, denen religiöse, soziale, moralische und rechtliche Normen unterzuordnen sind. Diese sind der Schutz des Lebens, des Eigentums, der Vernunft (Bildung), des Glaubens und der Familie. Die Deutung von Aussagen aus heiligen Büchern erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Religions- und Wirkungsgeschichte, denn nur so lässt sich der Bedeutungsgehalt eines Textes einordnen. Die meisten klassischen Gelehrten bejahten die Mehrdeutigkeit des Korans. Sie gingen davon aus, dass Vieldeutigkeit eine Gnade Gottes sei, da diese der Natur des Menschen entgegenkomme. Demgegenüber sei Variantenlosigkeit eher unnatürlich. Außerdem könne Vieldeutigkeit Erleichterung für den Einzelnen bedeuten und Ansporn für die Wissenschaft sein. Letztendlich erlaube erst Vielfalt, dass Widerspruchsfreiheit zum Kriterium der Wahrheit werden könne. In seinem Buch "Die Kultur der Ambiguität" fordert der Islamwissenschaftler Thomas Bauer dazu auf, sich auf diese klassische Korangelehrsamkeit zu besinnen. Auch die frühe muslimische Gemeinde habe die Worte des Korans anagogisch, also nicht wörtlich, betrachtet, sondern ihre über den Text hinausweisende, inspirierende, spirituelle und transzendente Bedeutung erkannt, so die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth in ihrem Buch "Die koranische Verzauberung der Welt". Die literalistische, also wortwörtliche Lesart der Salafisten und Dogmatiker, die gerade viele Jugendliche anspricht, verkehrt dagegen die ursprüngliche Botschaft in ihr Gegenteil. Der sogenannte Prozess der "Re-Islamisierung" im Laufe des 20. Jahrhunderts ist keine Rückbesinnung auf traditionell-religiöse Werte, sondern eine Ideologisierung des Islam, die Strukturen westlicher Ideologien übernimmt und integriert. Die Intoleranz, die Ideologien charakterisiert, zeigt sich im Islamismus daran, dass dessen Vertreter nach eigener Selbstzuschreibung die genaue Bedeutung einer jeden Koransure kennen, die Echtheit eines jeden Prophetenwortes genau beurteilen können, das Leben des Propheten und seiner Gefährten bestens zu rekonstruieren wissen und so über die letztendliche Deutungshoheit verfügen. In diesem dogmatischen Anspruch auf Eindeutigkeit und absolute Wahrheit sehen viele Menschen muslimischen Glaubens eine Anmaßung gegenüber den Mitmenschen und Gott. Die Glaubensfreiheit und die ungestörte Religionsausübung sind durch das Grundgesetz gewährleistet. Tag der offenen Moschee in Köln-Ehrenfeld 2017. (© picture-alliance/dpa, Rainer Jensen)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-17T00:00:00"
"2018-07-10T00:00:00"
"2022-01-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/272436/der-unterschied-zwischen-religion-und-ideologie/
Klassische Gelehrte bejahen die Interpretationsmöglichkeiten, die der Koran Gläubigen bietet und sie befähigen, ihre Lebensweise mit der Moderne in Einklang zu bringen. Salafisten, die für sich die einzig gültige religiöse Deutungshoheit reklamieren,
[ "Salafismus", "Ideologisierung" ]
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M 04.07 Auswertungsmatrix | Digitalisierung - Meine Daten, meine Entscheidung! | bpb.de
Die Auswertungsmatrix für Schülerinnen und Schüler steht als formatiertes Arbeitsblatt im Interner Link: PDF-Format zur Verfügung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-05-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/digitalisierung-grafstat/309955/m-04-07-auswertungsmatrix/
Schreib's dir auf! In diese Matrix können Schülerinnen und Schüler ihre Antworten auf die Fragen zu den Texten M 04.03 bis M.04.06 eintragen.
[ "Digitalisierung; Datenhandel; Datenschutz; Datensicherheit; Überwachung; Big Data; Datenökonomie; Datenethik" ]
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Juliane Lang | bpb.de
Juliane Lang ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Dissens e.V. Berlin im Projekt Fortbildung zum Thema "Geschlechterreflektierende Ansätze in der Arbeit mit rechtsorientierten Jungen und jungen Männern“. Sie ist freie Referentin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin e.V. und Mitglied im Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus. Sie studierte Gender Studies und Erziehungs-wissenschaften mit thematischen Schwerpunkten auf Frauen und Geschlechterverhältnisse im Recht­sextremismus, Fußball und –fankulturen, Gender in der päda­go­­­­gischen Rechtsextremis­musprävention. Sie veröffentlichte zuletzt: "(R)echte Kerle? Geschlechterreflektierende Pädagogik als Prävention von Rechts­extremismus.“ (mit Laumann, V.) In: Offene Jugendarbeit - Zeitschrift für Jugendhäuser, Jugendzentren und Spielmobile. Heft 04/2012. zurück zur Übersicht
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-01-24T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/153785/juliane-lang/
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Partei für Gesundheitsforschung (Gesundheitsforschung) | Europawahl 2019 | bpb.de
Gründungsjahr 2015* Mitgliederzahl 258* Vorsitz Felix Werth* Wahlergebnis 2014 nicht angetreten *nach Angaben der Partei Die "Partei für Gesundheitsforschung" (Gesundheitsforschung) ist eine im Januar 2015 in Berlin gegründete Ein-Themen-Partei, die aus elf Landesverbänden und dem Bundesverband besteht. Zuletzt nahm die Partei an den Landtagswahlen im Oktober 2018 in Hessen und in Bayern teil. Für die Europawahl 2019 hat die Partei eine gemeinsame Liste für alle Bundesländer aufgestellt, die 17 Kandidaten umfasst. Hauptprogrammpunkt der Partei ist die Bekämpfung von Alterskrankheiten, wie etwa Krebs, Herzinfarkt, Diabetes Typ 2 oder Alzheimer, damit die Menschen im Alter mit höherer Wahrscheinlichkeit körperlich und geistig gesund bleiben. Um dieses Ziel zu verfolgen, möchte die Partei zusätzliche Mittel in die Entwicklung von wirksamer Medizin gegen die genannten Krankheiten investieren. Hierzu sollen vor allem neue Forschungseinrichtungen geschaffen, Wissenschaftler in den entsprechenden Bereichen gezielt gefördert und die universitären Fachbereiche wie etwa die Biowissenschaften erweitert werden. Jüngere Generationen könnten durch sinkende Krankheitskosten und durch die Möglichkeit zur Arbeit in den neu geschaffenen und erweiterten Bereichen profitieren. Darüber hinaus befürwortet die Partei die Ausweitung von Informationen über eine gesunde Lebensweise, um Alterskrankheiten vorzubeugen. Für die Bundestagswahl 2017 forderte sie, zusätzlich ein Prozent des Bundeshaushaltes in diese Forschung zu investieren. Die GESUNDHEITSFORSCHUNG tritt mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. (© TUBS/bpb) Laut eigener Aussage ist zum Erreichen der angestrebten Ziele eine Partei nötig, da das Thema durch die großen Parteien zu wenig Beachtung findet. Die Partei Gesundheitsforschung steht der Zusammenarbeit "mit allen großen Parteien außer der AfD" positiv gegenüber, möchte dabei aber ausschließlich ihr eigenes Thema bearbeiten und zu anderen Inhalten keine Stellung beziehen. Gründungsjahr 2015* Mitgliederzahl 258* Vorsitz Felix Werth* Wahlergebnis 2014 nicht angetreten *nach Angaben der Partei Die GESUNDHEITSFORSCHUNG tritt mit einer gemeinsamen Liste für alle Bundesländer an. (© TUBS/bpb)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2019-05-07T00:00:00"
"2019-04-11T00:00:00"
"2019-05-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/europawahl-2019/289334/partei-fuer-gesundheitsforschung-gesundheitsforschung/
Die Gesundheitsforschung verfolgt als einziges politisches Ziel die bessere Erforschung altersbedingter Krankheiten. In ihrem Programm fordert sie daher, ein zusätzliches Prozent des Bundeshaushaltes in dieses Forschungsgebiet zu investieren. Zu ande
[ "Partei für Gesundheitsforschung (Gesundheitsforschung)" ]
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Migrantenkinder, ihr Leserisiko und ihre Medienumgebung | Hauptschule | bpb.de
Einleitung Erkan, ein 11 Jahre alter Türke, ist in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen. Seine Schulkarriere ist weitgehend gescheitert. Seine Eltern sprechen sehr gut deutsch, unterstützen auch alle schulbezogenen Aktivitäten ihrer Kinder; so hatten sie etwa bei der Wohnungswahl die Schule im Blick. Dennoch ist es nicht gelungen, ein Bildungsbündnis mit der Schule zu knüpfen: Erkan soll in die Sonderschule wechseln, weil er in der Regelschule nicht mehr mitkommt. Er ist vermutlich nie in das deutsche Bildungssystem "eingestiegen". Er lässt auch keine Alternative dazu aufkommen, etwas anderes sein zu wollen als sein Großvater, nämlich ein Türke. So verwundert es nicht, dass er kein deutsches Wort mit einem redet, wenn man bei ihm zu Hause im Wohnzimmer sitzt. Er konzentriert sich auf den Fernseher. Es läuft Formel I, das Autorennen auf RTL - eine der von Jungen seines Alters favorisierten TV-Sendungen. Als sein Vater von der Arbeit nach Hause kommt, fasst Erkan in Windeseile die Ergebnisse des Rennens zusammen. Er hat bei Formel I offensichtlich genau zugesehen und sich die Ergebnislisten gemerkt, die er für seinen Vater versprachlicht und interpretiert, selbstverständlich auf Deutsch. Der Bildungsrahmen für Lesen und Medien Wie kommt es zu diesem merkwürdigen Widerspruch: Im Alltag und im Rahmen von Medien funktioniert das Lesen, in der Schule scheitert ein Kind wie Erkan daran. Lesen und Schreiben sind Schlüsselkompetenzen für alle Schulleistungen, für eine erfolgreiche Berufsausbildung und spätere Berufstätigkeit. Eine aktuelle Bestandsaufnahme zur Lesesozialisation fasst die heute bekannten wesentlichen Bedingungen für eine erfolgreiche Lesesozialisation zusammen. Eine davon ist die soziale Erwünschtheit. Die renommierte schweizer Fachfrau für Mediensozialisation schreibt: "Während das Lesen heutzutage im Bewusstsein bildungsnaher Schichten einen Höchststand an sozialer Erwünschtheit erreicht hat, sind kritische Stimmen gegenüber den neuen Medien in unserer Zeit fester Bestandteil der Debatte um Bildung und Kultur. Die Kritik hebt auf einen so genannt oberflächlichen und ausufernden Medienkonsum ab und weiter auf den Verfall der bekannten und vertrauten Sozialformen, sie interessiert sich kaum dafür, welche neuen Zugänge zu Texten und Informationen und welche spezifischen Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien zu gewinnen sind." Lehrerinnen und Lehrer sind bildungsbewusst, sie nehmen publikumswirksame Debatten wie die des Niedersächsischen kriminologischen Forschungsinstitutes und deren Ergebnisse - türkische Jungen sehen zu viel fern, spielen gehäuft Computerspiele undweisen ein hohes Gewaltpotenzial auf - wahr, haben jedoch in der Regel keinen offenen oder geschulten Blick für die spezifische Lesekompetenz eines Jungen aus einer türkischen Familie. Zudem haben sich das Medienangebot und seine Nutzung in den vergangenen Jahren stark gewandelt, und zwar in Richtung multimedialer Systemangebote, die zweckorientiertes Lesen erforderlich machen. Untersuchungen wie die des Schweizers Heinz Bonfadelli von 1992 zeigen, dass viele lesende Kinder und Jugendliche keineswegs fernsehabstinent sind, dass sie das Fernsehen gezielt einsetzen, spezielle Sendungen oder Sendungsteile auswählen und in ihren Wissens- und Erfahrungsschatz einbinden. Multimedia verlangt zunehmend mehr an medialen Integrationsleistungen. Zudem durchdringen sich in unserer Kultur Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Parlando-Phänomen). Zwar ist die Lust am Lesen immer noch sehr wichtig, aber sie hat doch einen erheblichen Wandel erfahren. Sie konzentriert sich heute nicht mehr selbstverständlich auf das Buch, sondern darauf, was zum individuell gelebten Alltag passt. Für Erkan sind das Autorennen und Sport - und damit der Bildschirm und die passenden gängigen Druckmedien, die Kommunikationsstoff liefern. Das Stichwort hierzu lautet Anschlusskommunikation. Ein Buch wie Harry Potter wird dann erfolgreich, wenn man sich darüber mit den Freunden unterhalten kann. Wenn die Buchhandlung zudem den Event liefert, sich mitternachts verkleidet zu treffen und die stark beworbene neue Auflage mit den vielen anderen Fans in den Händen zu halten, dann wird gelesen. Wie die erwähnte schweizer Studie zeigt, tun sich Migrantenkinder und -jugendliche schwer, mit Erwachsenen und in deutscher Sprache diese Anschlusskommunikation zu führen. Sie bleiben mit ihrer Mediennutzung vor allem in ihrer Freundesgruppe allein - und auf Deutsch eher sprachlos. Die deutsche Leseforscherin Bettina Hurrelmann weist auf die soziale Einbindung durch das Lesen hin. Lesesozialisation ist immer Teil des sozialen Systems, in dem die Kinder aufwachsen. Dabei spielt es eine große Rolle, was in der Familie gelesen und geschätzt wird: die abonnierte Zeitung, das kostenlose Werbeblatt mit Lokalinformationen, Bücher, Magazine zu Freizeitaktivitäten usw. Wie die schweizer Leseforscherin Andrea Bertschi-Kaufmann betont, entwickelt sich Lesen im komplexen sozialen System der Familie mit einem spezifischen sozioökonomischen Status, mit unterschiedlicher Bildungsnähe, typischem Umgang mit Büchern oder anderen gedruckten Texten oder Multimedia-Angeboten, je nach Erziehungsstil und Familienform usw. Bei Erkan stehen Mündlichkeit, also die Unterhaltung, und Fernsehen im Vordergrund. Anstelle von Büchern gibt es zu Hause DVDs. In Abhängigkeit von der spezifischen Sozialisation der Kinder, hier des Jungen Erkan, muss die Schule erst die Motivation zum Lesen wecken - wenigstens für einen Teil der Bandbreite der heutige vorfindlichen Texte -, bevor bildungstypische Texte wie etwa geschlossene Erzählungen überhaupt eine Rolle spielen können. Das bedeutet beispielsweise, die Verteiler lokaler Werbezeitungen zu bitten, diese auch vor der Schultür abzulegen. So wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit beim erfolgreichen Lesen und auch Schreiben zusammenwachsen, so spielt auch die medientypische Art und Weise der Nutzung beim Lesen eine Rolle. In Familien wie der von Erkan haben PC und Internet einen wesentlich höheren Stellenwert als Bücher. Hier tritt jedoch eine zusätzliche Schwierigkeit auf. Die Studie zum Mediengebrauch schweizer Migrantenkinder, deren Ergebnisse weiter unten zusammengefasst werden, verweist auf eine "Unwucht" beim Internetzugang dieser Gruppe. Zwar ist die Ausstattung der Zimmer von Migrantenkindern mit elektronischen Medien hoch - sogar höher als die von schweizer Kindern -, aber es gibt eine digitale Trennung, einen digital divide: Die Kinder von Migranten verfügen vielfach nicht über einen Internetzugang, und das bei zugleich geringerer Ausstattung mit Printmedien im Verhältnis zu den schweizer Familien. Zudem ist das Fernsehen mit seinen zahllosen Programmen das Leitmedium. Zwischen Programmen mit unterschiedlichen Genres hin und her zu springen, ist eine Medienkompetenz, die im unmittelbaren Umfeld Erkans niemand auch nur andeutungsweise negativ bewertet. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Kompetenz des Zappens oder Switchens eine wesentliche Voraussetzung für das Surfen im Internet ist. "Wie wird Lesen zum Erfolg?": Erstens: Die "literalen Sozialisationsfelder" Schule und Familie müssen zusammenpassen: "Die lebendige literale Praxis im familiären Umfeld unterstützt die literale Praxis und Motivation in der Schule ganz eindeutig. Die motivierte literale Praxis in der Schule wirkt demgegenüber kaum oder nur sehr bedingt auf die literale Praxis in einem lese- und schreibabstinenten familiären Umfeld." Zweitens: Das schulische Lesen reicht zwar als Anregung für eine Ausbildung "vergleichsweise weniger anspruchsvoller literaler Kompetenzen". "Für die Entwicklung komplexerer literaler Kompetenzen ist die motivierte außerschulische literale Praxis unverzichtbar." Drittens: Neben der Motivation ist die Lesepraxis im Feld der alltäglichen Mediennutzung förderlich, um vom Lesen auch zum Schreiben zu kommen. Entscheidend ist also das Zusammenspiel von Schule und Familie, das die alltägliche Lesepraxis in der jeweiligen Alltagskultur akzeptiert und fördert, um von der Lesemotivation für einfache Texte in Medienumgebungen wie Jugendmagazinen zu anspruchsvolleren geschlossen Texten zu kommen. Risiken auf dem schulischen Weg zum kulturellen Kapital des Lesens Bei der heute in der Schule vermittelten Lesekompetenz gibt es eine Risikogruppe, die bei diesem Bildungsprozess außen vor bleibt. Es sind Jungen aus Migrantenfamilien, aus Familien mit einfacher Bildung und aus dem unteren sozialen Viertel. Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler deutscher Schulen schneiden bei den Schulleistungen im internationalen Vergleich (Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA) unterdurchschnittlich gut ab. Dieses Ergebnis wurde in den vergangenen Jahren breit diskutiert. Was mich als Pädagogen daran bedrückt, ist nicht in erster Linie das festgestellte Mittelmaß, sondern die Zusammensetzung der Gruppe mit geringer oder schlechter Lesekompetenz. Ein Fazit der PISA-Studie lautet: "Deutschland gehört zu den Staaten, in denen die potenzielle Risikogruppe schwacher und extrem schwacher Leser relativ groß ist. Ihr Anteil an der Alterskohorte beträgt in Deutschland rund 23 %." "Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe erhöhen", sind die "Stellung der Familie im unteren Viertel der Sozialstruktur, ein Bildungsniveau der Familie mit maximal einem Sekundarstufe-I-Abschluss ohne Berufsausbildung, die Zuwanderung mindestens eines Elternteils und schließlich - ein Junge zu sein." Dieses Bündel von Risikofaktoren ist ein hausgemachtes Schulproblem. Die Ursache für Defizite in der Lesekompetenz ist also nicht nur die Konsum- und Mediensituation der heutigen Kindergeneration. Es geht auch um die Frage, wie institutionalisierte Bildung mit den diversen Alltagskulturen in einer auf Individualisierung setzenden Gesellschaft korrespondiert. Woraus und was Menschen lesen, macht die feinen Unterschiede dafür aus, ist es doch verantwortlich dafür, wie nahe sie an das Lesen als eine Schlüsselkompetenz mit sozialer Prägekraft herankommen. Möglicherweise verschieben sich aber jetzt die Gewichte langsam zugunsten Erkans und seiner Fähigkeit, Listen vom Bildschirm zu lesen: PISA hat mit der Operationalisierung von Lesekompetenz der Schule auch dringend nahegelegt, diskontinuierliche Texte didaktisch ernst zu nehmen und in den Lesekatalog der Schule aufzunehmen. Damit gelangen auch andere Trägermedien als die des gedruckten Textes in den didaktischen Horizont. Erkans Schulprobleme sind kein Einzelfall. Sie haben etwas mit der Bildungsbeteiligung und der sozialen Lage der Familie eines Kindes bzw. Jugendlichen zu tun. Die PISA-Daten legen nahe, den "Löwenanteil der ungleichen Bildungsbeteiligung" dem "gemeinsamen Einfluss von kognitiven Grundfähigkeiten, Lesekompetenz und Sozialschichtzugehörigkeit" zuzuschreiben. In diesem Gefüge hat Erkan schlechte Karten, insbesondere weil die Bildungsbeteiligung für ein Migrationskind von dessen Sprachkompetenz abhängt: "Für Kinder aus Zuwandererfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere. Bei gleicher Lesekompetenz machen Kinder aus Zuwandererfamilien vom Übergang in einen mittleren oder höheren Bildungsgang tendenziell häufiger Gebrauch als die Altersgleichen, die aus deutschsprachigen Familien stammen." Die Sprache ist das "kulturelle Kapital", das für eine aufwärtsführende Bildungskarriere unabdingbar ist. Das ist alles andere als eine neue Erkenntnis, hat doch der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu diesen Zusammenhang schon in den 1960er Jahren empirisch aufgezeigt. In den 1970er Jahren war sich die Pädagogik der Schulrelevanz der vom Briten Basil Bernstein beschriebenen elaborierten und restringierten Codes der Sprache wohl bewusst. In dieser Gemengelage gibt es, wie gesagt, feine Unterschiede. So beschäftigt sich Erkan zwar kompetent mit einer kleinen Auswahl diskontinuierlicher Texte, jedoch nicht mit Gedrucktem. Noch wichtiger ist, dass diese Texte nicht die Darstellungsform des Buches haben. Dem Buch wird Erkan mit viel Abwehr begegnen. Wenn der Bildschirm mit dem Unterhaltungsprogramm des Fernsehens oder der Bildschirm der Spielkonsole nicht kompatibel mit der Schule sind, dann wird auch diese schwache Verbindungsbrücke zum Lesen diskontinuierlicher Textewegbrechen. Mediale Alltagskompetenz auch in der Schule zuzulassen und in den Erwerb der Lesekompetenz einzubinden - dem kommt vor diesem Hintergrund große Bedeutung zu. Lesen außerhalb der Schule trägt erheblich zur "Habitualisierung der Lesetätigkeit" und zum "Erwerb von Leseexpertise" bei, weshalb dieselbstverständliche Lesekompetenz und nichtdidaktische Leseförderung des Alltagslebens einerseits wichtige kulturelle Ressource sein kann, andererseits die Bildungsbeteiligung erheblich zu stören in der Lage ist. Wichtig wird hier sein, Texte in den verschiedenen medialen Darstellungsformen in die Förderung der Lesekompetenz aufzunehmen. Diskontinuierliche Texte in die Prüfung schulischer Lesekompetenz einzubeziehen, kann helfen, einen der feinen kulturellen Unterschiede in der alltäglichen Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen zu verringern. Die heute üblichen medialen Darstellungsformen von Texten, vom Fernsehbildschirm bis zum Internet, neben den gedruckten Text zu stellen, fällt den mit dem Buch professionalisierten Pädagoginnen und Pädagogen sicher schwer. Die persönlich erworbene und geschätzte eigene Literalität zu relativieren, ist sicher auch kein einfacher Prozess. Ressourcen des Alltagslebens Den Weg zum Lesen in der Schule über ein Unterhaltungsmedium und dessen Formate vorzubereiten, war der Weg, den die Sesame Street in den USA vor bald 40 Jahren beschritt. Heute stellt in Deutschland eigentlich niemand die Frage, welche Lernchance beispielsweise Handy plus MP3-Player in sich tragen. Alltagsmedienkompetenz ist hierzu das Schlüsselwort. Vor etwa zwei Jahren wollten Kinder und Jugendliche nicht nur ihr persönliches Handy, sondern dazu auch den eigenen Klingelton haben, nicht zuletzt, weil dafür heftig geworben wurde. Wie nun mit den attraktiven Werbebotschaften für Klingeltöne umgehen? Wenn die Kinder und Jugendlichen (oder deren Eltern) nicht durch die über das Handy per SMS abgeschlossenen Verträge finanziell bluten wollen, dann kommen sie nicht umhin, das Kleingedruckte zu lesen oder andere differenzierte Informationsstrategien zumeist in Kooperation mit der Freundesclique zu nutzen. Dafür ist Lesen nach der Definition der internationalen Leseleistungsstudie PISA notwendig. Ebensogut ist es möglich, Erkans Fernseh- und Genrekompetenz als Kompetenz nach PISA einzustufen und festzustellen, in welchem Maße Erkan in einem diskontinuierlichen Text Informationen ermitteln und interpretieren kann. In einer gerade veröffentlichte Studie des renommierten schweizer Soziologen, Medien- und Bildungsforschers Heinz Bonfadelli und Priska Bucher wird die Mediennutzung schweizer Jugendlicher mit und ohne Migrationhintergrund untersucht, nicht zuletzt mit dem Ziel, die Beziehung zu Bildungserfolgen zu klären. Wie lauten die wesentlichen Botschaften dieser Studie? "Jugendliche sind vor allem Jugendliche, nicht vorrangig Schweizer, eingewanderte Türken usw." Sie haben die für ihr Alter typischen Vorlieben. Es gibt jedoch auch Unterschiede, die weniger mit den Medieninhalten als dem Umgang mit Medien zu tun haben, mit der "Mediennutzungssprache sowie (...) der Anschlusskommunikation". Die Daten sind hilfreich, weil sie kulturell gerahmt und aktuell sind. 1 468 12- bis 16-jährige Schülerinnen und Schüler aus 88 Schulklassen wurden differenziert nach ihrer vielfältigen Mediennutzung im sozialen und kulturellen Umfeld sowie zu ihrer "kulturellen Orientierung" befragt. Die Studie zeichnet ein recht differenziertes Bild zu folgenden Bereichen, wobei nicht nur Vielseher und starke Mediennutzer eine Rolle spielen: "Medienzugang, Mediennutzung, Freizeitaktivitäten" einschließlich der Mediennutzungssprache;"Soziales Umfeld: Mediale und nichtmediale Interaktionen in Familie und Peergroup";kulturelle Orientierung: Verhältnis zur Herkunftskultur und zur schweizer Kultur;Persönliche Werte und Einstellungen wie Zukunftspläne oder politische Einstellungen. 34 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen weisen einen typischen schweizer Lebenszusammenhang auf, 66 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Dabei handelt es sich um Kinder und Jugendliche, von denen mindestens ein Elternteil in einem anderen Land als der Schweiz (Ex-Jugoslawien, Türkei und Italien) geboren und aufgewachsen ist. Geringere formelle und informelle Bildungschancen: Auch in der Schweiz ist es für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schwieriger als für die Stammbevölkerung, zu Schulerfolg und zum Abitur zu gelangen. Wenn man Bildungschancen weiter sieht als nur den Bereich der Schule, wenn man die beiläufigen, informellen Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen betrachtet, dann spielt dabei das soziale Umfeld eine wichtige Rolle. Hier zeigt sich, dass Migrantenkinder bzw. -jugendliche im Nachteil sind. Sie reden mit ihren Eltern weniger über das, was sie gelesen haben, als die schweizer Kinder. Auch für den Bereich der neuen Medien haben sie - anders als die gleichaltrigen Schweizer, deren Väter auf diesem Gebiet kompetente Gesprächspartner sind - kaum die Möglichkeit des Austausches. Mit den Gleichaltrigen reden die Migrantenkinder jedoch in gleichem Maße wie die gleichaltrigen Schweizer. Weniger Printmedien, mehr elektronische Medien und ein "digital divide": In Migrantenhaushalten gibt es weniger Printmedien. Stattdessen stehen den Kindern mehr elektronische Medien einschließlich eines PCs und Internetzuganges zur Verfügung. Es gibt allerdings - wie oben schon erwähnt - innerhalb von Migrantenfamilien eine deutliche Trennung zwischen solchen, die keinen PC und Internetzugang haben und solchen, in denen die Kinder mehr oder weniger selbstständig darüber verfügen dürfen. Medien-Zeitbudget und genutzte Medien- Inhalte: Jugendliche mit Migrationshintergrund hören deutlich seltener und weniger lang Radio, verbringen jedoch mehr Zeit vor dem Fernseher. Migrantenkinder sehen mehr "Kurzinformationen auf Privatsendern" als Schweizer Kinder. "Alle Schüler lesen im Schnitt 1 Stunde 30 Minuten Zeitung pro Woche. Schweizer Schülerinnen und Schüler mit Migrationhintergrund unterscheiden sich in der Zeit, in der sie lesen nicht, jedoch bei dem, was sie lesen. Die Schüler mit Migationshintergrund lesen nämlich wesentlich mehr Gratiszeitungen. Schweizer Schüler lesen pro Woche mehr Bücher; schweizer Schüler 3 Stunden 10 Minuten, Migranten im Schnitt 2 Stunden 40 Minuten, wobei Kinder und Jugendliche mit türkischem Hintergrund wöchentlich fast so lange lesen wie die mit schweizer Eltern, nämlich im Schnitt 3 Stunden. In den schweizer Haushalten gibt es häufiger große Tageszeitungen, Regional- und Lokalzeitungen gibt es gleich häufig in schweizer und Migrantenhaushalten. Nur 9 % der Migrantenhaushalte haben Zeitungen in ihrer Muttersprache." Mediennutzungssprache: Printmedien werden in deutscher Sprache genutzt, TV dagegen von bis zu 50 % der Migrantenkinder auch in der Herkunftssprache. Kulturelle Orientierung: Eine der großen Stärken der Untersuchung ist die Frage nach der "kulturellen Orientierung" der Migrantenfamilien. Es ist nicht nur wichtig, welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten bei Medienausstattung und Mediennutzung vorliegen. Wesentlich ist auch deren Einbettung in kulturelle Wünsche und Hoffnungen. So gibt es Familien mit einer Orientierung hin zu ihrer schweizer Umgebung oder zu ihrem Herkunftsland. Es gibt aber auch Familien, die sich als "Dualisten" oder "kulturell Ungebunde" fühlen. Es zeigen sich Unterschiede zwischen den Generationen und zwischen den Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsländern (Vgl. Tabelle der PDF-Version). Die Differenz in der kulturellen Orientierung ist bei Migrantenfamilien und ihren Kindern recht groß, was wir meist nicht bewusst wahrnehmen: "Der Anteil an Schweiz-Orientierten ist mit 41 % über alle ausgewerteten Nationalitäten-Gruppen hinweg sehr stabil und macht jeweils die größte Gruppe aus." Es liegt auf der Hand, dass die kulturelle Orientierung auf die Sprache der Mediennutzung ausstrahlt. Mit der Ausrichtung auf die neue kulturelle Umgebung steigt die Mediennutzung in deutscher Sprache. Zudem gibt es eine Konvergenz bei der Mediennutzung hin zur schweizer Umgebung. Trotzdem statten auch die an der Schweiz Orientierten wie alle anderen Migrantenfamilien die Kinderzimmer deutlich stärker mit elektronischen Medien aus. Recht unabhängig von der kulturellen Orientierung bevorzugen Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien Fernsehen, PC, Internet und Radio, wobei der oben erwähnte digital divide zu beachten ist. Ein differenzierender Blick lohnt sich: Dualisten "lesen gar länger als die schweizer Jugendlichen und unterscheiden sich somit deutlich von Herkunfts- oder Schweiz-Orientierten jugendlichen Migranten". Die Herkunftsorientierten dagegen lesen kaum. Einige pädagogische Anmerkungen Erkan hat sich sein Bildungsleben mit seiner kulturellen Orientierung an seinem türkischen Großvater reichlich kompliziert gemacht. So ist die klare kulturelle Orientierung seiner Eltern an der deutschen Sprache und der deutschen kulturellen Umgebung für ihn eher ein Stressfaktor und Ursache für emotionale Unordnung. Erkan bleibt in der deutschen Bildungswelt allein und fühlt sich wahrscheinlich auch so. Wie die schweizer Untersuchung deutlich macht, kann er in seinem Kinderzimmer eigenständig über elektronische Medien verfügen. Im Gegensatz zur Mehrzahl anderer Migrantenkinder hat er einen Vater, mit dem er seine Medienerlebnisse besprechen kann. Vater und Sohn haben ein gemeinsames Thema: Autos. Und diese Anschlusskommunikation läuft interessanterweise auf Deutsch. Es ist bedauerlich, dass keine Lehrerin und kein Lehrer das entdeckt haben. Vermutlich ist Erkan in seiner Bildungsbiographie vor allem auf jene Lehrer und Lehrerinnen gestoßen, für die das erzählende oder informierende Buch der Königsweg und das einzig wahre Ziel von Literalität sind. Deshalb bleibt es letztlich bei Erkan, selbst die Passung von Schul-Lesen und Familien-Lesen herzustellen, eine Passung, die die Lesesozialisationsforschung heute für so wichtig hält. Das kann und will er jedoch nicht. Hier schlägt die Unterausstattung von Migrantenfamilien mit Printmedien negativ zu Buche. Das gilt auch für jene Familien, die sich an der schweizer bzw. der deutschen Umgebung orientieren. Wenn zu Hause beispielsweise eine Zeitung verfügbar ist, dann ist das eine kostenlose Werbezeitung. Lehrerinnen und Lehrer werden, wenn sie auch die Kinder von Migranten erreichen wollen, nicht umhinkommen, die Präferenzverschiebung von den Print- zu den elektronischen Medien in Migrationsfamilien anzuerkennen und die Werbeblätter als Leseanlass zu akzeptieren. Zudem werden sie lernen müssen, ernst zu nehmen, dass Migrantenkinder die Verfügungshoheit über die elektronischen Medien im Kinderzimmer besitzen, und dass in der Regel kein Erwachsener mit ihnen über ihre Medienerlebnisse spricht. Erkans Vater ist hier ein Ausnahme. Schule kann eine Brückenfunktion zum Medienkinderzimmer und zum gedruckten Text in der Schule übernehmen. Dafür bietet sich vor allem die Anschlusskommunikation zum Medienkonsum an. Auch Migrantenkinder reden über das, was sie in den Medien sehen und hören, jedoch tun sie das vor allem mit Gleichaltrigen. Diese Gespräche gehören in die Schule, und zwar als Teil der Motivationsphase für Recherchen oder um Geschichten weiter zu spinnen und von dort zum Schreiben zu kommen. Lehrer sind aufgefordert, die zugrunde liegenden Themen der Kinder und Jugendlichen aufzugreifen und die dazu passenden Bücher und Jugendmagazine in die Schulbibliothek zu stellen. Dann könnte Erkan zu Hause mit seinem Vater über Sport- und Autosendungen auf Deutsch sprechen und dieses Fachwissen und seine persönliche Expertenkompetenz beim Lesen von Ergebnislisten in der auf einen 11-jährigen zugeschnitten Fachliteratur der Schule vertiefen. Dieser Prozess beginnt mit Bildern und führt über Listen zu kürzeren geschlossenen Texten. Vgl. Andrea Bertschi-Kaufmann/Wassilis Kassis/Peter Sieber (Hrsg.), Mediennutzung und Schriftlernen, München 2004. Horst Heidtmann und Ulrike Bischof haben voreinigen Jahren festgestellt, dass Fernsehangebote wie Soaps zum Nachlesen auch gedruckter Bücher und Fotobände anregen. Vgl. A. Bertschi-Kaufmann u. a. (Anm. 1), S. 101. PISA steht für "Programme for International Student Assessment". Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001 (im Folgenden zitiert als Band 1); Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000 - die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Opladen 2002 (im Folgenden zitiert als Band 2). PISA 2000, Band 1, S. 401. Ebd., S. 399 und S. 401. Vgl. Jürgen Baumert/Gundel Schümer, Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb im nationalen Vergleich, in: PISA 2000 (Anm.4), S. 159 - 202. Vgl. Pisa 2000, Band 2, S. 168. J. Baumert/G. Schümer (Anm. 7), S. 199. Ebd., S. 174. Hierbei kommt folgender Begriff der Lesekompetenz zu Anwendung: "Lesen ist eine universelle Kulturtechnik und ermöglicht die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben einer modernen Gesellschaft. Eine erfolgreiche Lesesozialisation beginnt bereits im Vorschulalter in der Familie. Im Einklang mit der Forschungsliteratur wird Lesen in PISA als aktive Auseinandersetzung mit Texten gesehen. Die Verstehensleistung stellt eine Konstruktionsleistung des Lesers bzw. der Leserin dar, bei der der Inhalt des Textes aktiv mit bereits vorhandenem Wissen in Beziehung gesetzt wird." (PISA 2000, Band 1, S. 78). Vgl. Priska Bucher/Heinz Bonfadelli, Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Medien, in: Lothar Mikos/Dagmar Hoffmann/Rainer Winter (Hrsg.), Mediennutzung, Identität und Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen, Weinheim-München 2007. Ebd., S. 244. Ebd., S. 238.
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Bachmair, Ben
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30381/migrantenkinder-ihr-leserisiko-und-ihre-medienumgebung/
Das Beispiel des elfjährigen Erkan zeigt, welche Lesekompetenz im Medienalltag erworben werden und wie Schulen daran anknüpfen können.
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Dokumentation: Kandidaten und Wahlkampfetappen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2018 | Russland-Analysen | bpb.de
Die folgende Dokumentation basiert auf Auszügen aus einer umfassenden russischsprachigen Analyse des Wahlkampfes und vor allem der Kandidatenregistrierung bei den Präsidentschaftswahlen 2018, bereitgestellt von der russische Bewegung "Golos", die sich auf Wahlbeobachtung spezialisiert hat, und der "Europäischen Plattform für demokratische Wahlen" (Externer Link: epde.org). Wir danken "Golos" für die exklusive Zusammenstellung dieser Dokumentation. Auszüge in englischer Übersetzung sind im Internet zugänglich unter Externer Link: http://bit.ly/2Fugiy5 und Externer Link: http://bit.ly/2Hehkvk. Die Redaktion der Russland-Analysen Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder Neuerungen im russischen Wahlrecht In den Jahren 2012 bis 2017 sind 15 Mal Änderungen am Föderalen Gesetz "Über die Wahl des Präsidenten der Russischen Föderation" vorgenommen worden. Insgesamt wurden 59 der 87 Paragraphen und sämtliche vier Anhänge dieses Gesetzes verändert. Darüber hinaus sind Bestimmungen des Föderalen Gesetzes Nr. 67 "Über grundlegende Wählerrechte und das Recht zur Teilnahme an Referenden für Bürger der Russischen Föderation" geändert worden, die die Wahl des Präsidenten Russlands betreffen, nämlich die Bildung der Stimmbezirke, die Berufung der Wahlkommissionen, die Fristen für Einsprüche gegen Wahlergebnisse. Die Gesetzesänderungen zielten in unterschiedlicher Richtung. Zu den Neuerungen, die eine Demokratisierung des Wahlprozesses befördern, gehören: die drastische Reduzierung der zur Registrierung eines Kandidaten erforderlichen Unterschriftenzahl von zwei Millionen (1,8 % der Wahlberechtigten) auf 100.000 für Anwärter, die von nicht im Parlament vertretenen Parteien nominiert wurden, und auf 300.000 für parteiunabhängige Anwärter (Mai 2012); Ermöglichung einer Stimmabgabe für Bürger, die nicht unter ihrer Meldeadresse wohnhaft sind sowie einige Erleichterungen für Wahlbeobachter am Wahltag (Änderungen von 2017). Ein großer Teil der Änderungen aus den Jahren 2012 bis 2016 wies jedoch in die entgegensetzte Richtung: Es gibt neue Einschränkungen des passiven Wahlrechts, zusätzliche Beschränkungen bei der Registrierung als Kandidat und es erfolgte eine Reduzierung der Fristen für Beschwerden gegen Wahlergebnisse. Einen Überblick über die für die Wahlen 2018 gültigen Registrierungsanforderungen für Präsidentschaftskandidaten gibt die unten folgende Tabelle 3. Die Auswahl und Registrierung von Kandidaten Über vier Etappen hinweg hat die Zahl der Bewerber um den Posten des russischen Präsidenten im Vorfeld der Wahlen 2018 drastisch abgenommen. Aus 70 Subjekten der Russischen Föderation hat die Zentrale Wahlkomitee (ZWK) anfänglich von 24 politischen Parteien und 46 Bürgern, die sich selbst nominiert haben (Parteiunabhängige), Ankündigungen über Veranstaltungen zur Nominierung von Bewerbern für die Präsidentschaftswahlen erhalten. In einer zweiten Etappe sind bei der ZWK insgesamt 36 (21 + 15) schriftliche Anträge auf Teilnahme am Nominierungsverfahren eingegangen. Die Gründe für das Ausscheiden von Bewerbern waren unterschiedlich, u. a. sind zwei Kandidaten doppelt nominiert worden; die vorgeschriebenen Voraussetzungen bei einer Parteinominierung durch den jeweiligen Kongress (bzw. bei parteiunabhängigen Bewerbern durch die Initiativgruppe) sind nicht erfüllt worden, (weniger als 43 Delegierte oder 500 potentielle Wähler s. dazu auch Tabelle 3). Zudem wurden Anträge auf Teilnahme am Nominierungsverfahren aus formalen Gründen abgelehnt (hierbei wurden die gesetzlichen Bestimmungen wörtlich und nicht sinngemäß zu Ungunsten der Bewerber ausgelegt): die ZWK sei zu spät über die Durchführung einzelner Parteikongresse informiert worden, obwohl Mitglieder der ZWK an den Kongressen teilnahmen; Versammlungen von Initiativgruppen für parteiunabhängige (selbst nominierte) Bewerber wurden nicht angemeldet; es gab einzelne fehlende, falsch ausgefüllte oder nicht notariell beglaubigte Antragsunterlagen sowie Verstöße bei Nominierungskongressen. Zwei Bewerbern, darunter Alexej Nawalnyj, wurde das passive Wahlrecht abgesprochen, da sie in Strafverfahren verurteilt worden sind. Einem weiteren Bewerber wurde durch ein russisches Gericht die Nominierung abgesprochen, da er einen Aufenthaltstitel eines ausländischen Staates (Finnland) besitzt. Auf diese Weise sind weitere 17 Bewerber, überwiegend selbst nominierte, ausgeschieden. Die ZWK genehmigte so 19 Kandidaturen. Unmittelbar nach Bekanntgabe durch die ZWK zog der Bewerber der "Sozialdemokratischen Partei Russlands" seine Kandidatur zu Gunsten von Wladimir Putin zurück. Die Kandidatur eines weiteren Bewerbers wurde durch das Oberste Gericht aufgehoben. In der dritten Etappe standen 17 Bewerber fest. 15 davon erhielten das Recht auf Unterschriftensammlung im Vorfeld der Wahlen. Zwei Bewerber, Wladimir Schirinowskij und Pawel Grudinin wurden durch die Zugehörigkeit ihrer Partei zur Duma (s. Tabelle 3) im vorhergehenden Nominierungsprozess als gültige Präsidentschaftskandidaten registriert. 6 Bewerber konnten erfolgreich die verlangte Anzahl an Unterschriften sammeln und konnten sich somit als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen registrieren lassen. Gründe für das Ausscheiden der übrigen 9 Bewerber waren u. a.: Rückzug der Kandidatur, weil auf Parteimitglieder Druck ausgeübt wurde; Unzufriedenheit über den Ablauf der Wahlen ("Wahlen sind eine Farce"); fiktive Gründe; weil nicht genügend Unterschriften gesammelt werden konnten (in einem Fall konnten angeblich die fehlenden 10 000 Unterschriften nicht rechtzeitig durch die russische Post an die ZWK zugestellt werden); zwei Bewerber verzichteten zu Gunsten von Wladimir Putin; ein Bewerber verzichtete auf das Einreichen von Unterschriften. In der Endetappe haben sich folgende 8 Kandidaten erfolgreich zur Wahl des Präsidenten registrieren lassen können (in alphabetischer Reihenfolge, so wie sie auf dem Stimmzettel aufgelistet werden): Sergej Baburin (Russische Union des ganzen Volkes),Pawel Grudinin (KPRF),Wladimir Schirinowskij (LDPR),Wladimir Putin (Selbstnominierung),Ksenija Sobtschak (Bürgerinitiative),Maksim Surajkin (Kommunisten Russlands),Boris Titow (Wachstumspartei),Grigorij Jawlinskij (Jabloko)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-03-13T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-350/266195/dokumentation-kandidaten-und-wahlkampfetappen-im-vorfeld-der-praesidentschaftswahlen-2018/
In Russland gibt es einige Anforderungen, um sich erfolgreich als Präsidentschaftskandidat zu registrieren. Acht haben es auf die Liste geschafft. Welche Neuerungen gibt es im Wahlrecht, die die Präsidentschaftswahl betreffen? Wie funktioniert Auswah
[ "Russland; Russland-Wahl; Präsidentschaftswahlen 2018;" ]
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Traditionspfad mit Entwicklungspotenzial | Corporate Citizenship | bpb.de
Einleitung Unternehmen scheinen seit einigen Jahren die mit Abstand wichtigsten Akteure in modernen Gesellschaften zu sein, und die Gesellschaft erweckt den Eindruck, als würde sie vom Wirtschaftssystem dominiert werden. Das Schlagwort von der "Ökonomisierung der Gesellschaft" bringt diesen "gefühlten Trend" treffend zum Ausdruck. Aber vor lauter selbst erzeugter Dynamik, modischen Trendbehauptungen und kommunikativen Artefakten geraten die zu Grunde liegenden Vorstellungen, Begrifflichkeiten und Institutionalisierungspfade aus dem Blick. Im Kern geht es um die grundlegende Frage nach der Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft. Eine unübersichtliche Vielzahl und Vielfalt von Deutungsversuchen und Begrifflichkeiten streifen diese gesellschaftspolitische Grundfrage, wobei sich global gebräuchliche Begriffe wie Corporate Social Responsibility (CSR) und Corporate Citizenship (CC) mit je spezifischen Akzentsetzungen durchzusetzen scheinen. Der CSR-Begriff gründet im wirtschaftlichen Handeln von Unternehmen. Die Einhaltung von arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen, der schonende Umgang mit natürlichen Ressourcen sowie die Formulierung und Implementierung ethischer Standards sind typische CSR-Themen. Das gesellschaftliche Selbstverständnis und das entsprechende Engagement von Unternehmen kommen in der Ausgestaltung betrieblicher Prozesse und Strukturen entlang der Wertschöpfungskette zum Ausdruck. Von diesem CSR-Begriff ist die Vorstellung vom freiwilligen gesellschaftlichen Engagement von Unternehmen in der Gesellschaft, Corporate Citizenship, zu unterscheiden, das über die wirtschaftliche Unternehmenstätigkeit hinausgeht. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass sich Unternehmen freiwillig und - über den wirtschaftlichen Unternehmenszweck hinaus - zusammen mit Nonprofit-Organisationen in gesellschaftlichen Angelegenheiten engagieren, "also eine Art Pfadfinderfunktion aus-üben", um selbst gestellte Aufgaben vor Ort zu bearbeiten. In diesem Sinne nimmt der Begriff des Corporate Citizenship die als Corporate Social Responsibility beschriebenen und dezidiert wirtschaftlichen Bezüge des gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen auf und eröffnet darüber hinaus für Unternehmen als Corporate Citizen gesellschaftliche Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in den von ihnen selbst gewählten Tätigkeiten und Projekten in Engagementfeldern wie Bildung, Soziales, Sport, Kultur und Ökologie. Festzuhalten bleibt, dass beide analytisch zu trennenden Begriffe das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen aus zwei unterschiedlichen, sich gleichwohl aber ergänzenden Perspektiven thematisieren: einerseits aus der (betriebs-)wirtschaftlichen Perspektive (CSR) und andererseits aus der gesellschaftlichen Perspektive (CC) eines engagierten Unternehmens. Bei einer derartigen begrifflich-analytischen Differenzierung ist zu bedenken, dass sich CSR und CC "im wirklichen Leben" wechselseitig ergänzen. Implementiert z.B. ein Unternehmen in seinen Betrieben sachlich höhere und qualitativ bessere als die gesetzlich vorgeschrieben Arbeits-, Umweltschutz- und Sozialstandards, dann erfüllt es erstens CSR-Standards und entwickelt es zweitens darüber hinaus - in gesellschaftspolitischer Absicht - gemeinsam mit Nonprofit-Organisationen sowie auch Staat und Verwaltung beispielsweise Ideen und Projekte zur Vereinbarkeit von "Familie und Beruf", dann betätigt es sich als Corporate Citizen. In diesem, die Dimensionen Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship umfassenden Verständnis des gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen werden im Folgenden der traditionsreiche Institutionalisierungspfad des gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen nachgezeichnet und dessen Entwicklungspotenziale ausgelotet. Unternehmerische Fürsorge Für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft ist die relativ späte Herausbildung von Demokratie sowie von Sozial- und Rechtsstaat konstitutiv. Bürgertum und kapitalistisches Unternehmertum entwickelten sich im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen einer Monarchie; zugleich wurden aber bereits die institutionellen Grundlagen moderner Staatlichkeit und kapitalistischen Wirtschaftens gelegt. Die kapitalistische Industrialisierung veränderte die Wirtschaftsstruktur des Kaiserreichs grundlegend. Diese "schöpferische Zerstörung" bzw. ökonomische Transformation ging einher mit tief greifenden sozialen Veränderungen und Konflikten. Dabei war das Bürgertum bestrebt, sich gegenüber Adel und Klerus zu etablieren, während die sich herausbildende Arbeiterklasse daran interessiert war, einen auskömmlichen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg für sich zu sichern und politischen Einfluss zu erringen. Die Unternehmer wiederum waren auf die Leistungs- und Folgebereitschaft ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter angewiesen. Vor allem durch betriebliche Fürsorgeleistungen in den Bereichen Wohnen, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit und Alter - bei gleichzeitig relativ geringen Löhnen - erhofften sich Unternehmer eine Rendite steigernde Leistungs- und Folgebereitschaft ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter und darüber hinaus ein hinreichendes Maß an gesellschaftlicher Befriedung. Dabei ist zu bedenken, dass die betriebliche Fürsorge eine freiwillige, nur von einem Teil der Unternehmen gewährte soziale Leistung war. Als soziale Klasse drängte das Bürgertum im 19. Jahrhundert auf politische Machtbeteiligung. In der Anfangsphase des deutschen Kapitalismus war die gesellschaftliche Rolle von Unternehmen in erster Linie die eines wirtschaftlichen Akteurs, der darüber hinaus freiwillig und anhand subjektiver - zumeist religiös begründeter - Erwägungen in Art und Umfang höchst unterschiedliche Fürsorgeleistungen für seine Arbeiterschaft gewährte. In der Anerkennung sozialer Risiken und ihrer sachlichen Differenziertheit bildete die unternehmerische Fürsorge eine wesentliche Grundlage für die seit den 1880er Jahren in Deutschland aufgebauten öffentlichen Sozialversicherungen. Manch ein namhafter Unternehmer - von Bosch bis Siemens - wurde so auch zum Vorkämpfer für ein zeitgemäßes Sozial-, Arbeits- und Tarifrecht. Aber bis weit in die Weimarer Republik hinein entwickelten sich Wirtschaft und Politik als eigenständige Systeme nebeneinander. Während die wirtschaftliche Entwicklung dynamisch und rasch verlief, kam es zu einer verspäteten Herausbildung von Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat, die aber - was das rasche Ende der Weimarer Republik und der Machtantritt der Nationalsozialisten zeigten - höchst fragil waren. Durch die "Politik der Gleichschaltung" des nationalsozialistischen Regimes wurde das Wirtschaftssystem dem totalitären Staat "einverleibt" und die Dualität von Wirtschafts- und Staatssystem beendet. Der korporatistische Staat als Platzanweiser Die DDR folgte - bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit gegenüber dem Nationalsozialismus - diesem Strukturmuster eines verabsolutierten Staates und einer ihm untergeordneten Wirtschaft. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen wurde zunächst am Strukturmuster eines Dualismus von Staat und Wirtschaft aus der Weimarer Republik angeknüpft. Die nachholende Modernisierung in den Bereichen Demokratie, Rechts- und Sozialstaat wurde in der Anfangszeit der Bundesrepublik durch die politischen Vorstellungen der westlichen Alliierten und später durch die innenpolitischen Auseinandersetzungen und die entstehenden sozialen Bewegungen forciert und stimuliert. Gleichzeitig erlebte die deutsche Wirtschaft ein dynamisches Wachstum und zeigte ein entsprechend gestärktes Selbstbewusstsein, das aber bis in die 1970er Jahre hinein unter Verweis auf die aktive Rolle führender deutscher Unternehmen im Nationalsozialismus in Frage gestellt wurde. In den 1950er und 1960er Jahren konsolidierten sich Wirtschaft und Staat innerhalb kürzester Zeit. Mit der Rentenreform (1957) und der Einführung der Sozialhilfe (1961) wurden die gesetzlichen Grundlagen für die Expansion des deutschen Sozialstaates gelegt. Die Definition von sozialen Risiken, die Entwicklung einer sozialstaatlichen Leistungspalette sowie von sozialen Diensten und Einrichtungen erlebte eine bis dahin nicht gekannte Erweiterung. Vor diesem Hintergrund konnte der deutsche Sozialstaat mit der Akzeptanz und Unterstützung seiner Bürger rechnen, da er ihnen in Aussicht stellen konnte, sie an der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung über sozialstaatliche Mechanismen und Verfahren der Verteilung und des Ausgleichs teilhaben zu lassen. Der expansive Sozialstaat wiederum begegnete diesen wachsenden Ansprüchen und Herausforderungen mit einer Strategie der Einbeziehung bzw. Inkorporierung privater Organisationen in die staatliche Politik. In erster Linie zielt der Korporatismus auf die Schlichtung des für kapitalistische Gesellschaften grundlegenden Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit ab. Insofern steht die Inkorporierung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden im Mittelpunkt staatlicher Politik. Im Gegenzug können Unternehmen in Anerkennung ihrer Mitwirkung und als Entschädigung für ihren partiellen Autonomieverlust mit "staatlichem Wohlwollen" rechnen. Die Inkorporierung von Unternehmen in staatliche Entscheidungsprozesse erstreckt sich über alle Politikfelder, wobei die Finanz-, Arbeits-, Umwelt- und Sozialpolitik im Vordergrund stehen. Dabei sind Unternehmen und ihre Verbände in die politischen Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse einbezogen (politischer Mitent-scheider), zahlen Beiträge und Steuern (Transferzahler) und erstellen in ihren Betrieben unmittelbar soziale Leistungen (Dienstleistungserbringer). Im korporativen Sozialstaat sind Unternehmen an den Entscheidungen und der Ausgestaltung der Arbeits- und Tarifpolitik sowie der sozialen Sicherung, insbesondere der Sozialversicherungen, in institutionalisierter Form dauerhaft beteiligt. Die Institutionalisierungsformen reichen dabei von "informellen" Gesprächen über Selbstverwaltungsstrukturen bis hin zu gesetzlich geregelten Beteiligungsverfahren und -gremien. Im Rahmen der - vereinfach dargestellt - paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer führen Unternehmen Beiträge an die Sozialversicherungen ab. Zudem sind sie als Steuerzahler - wohlgemerkt höchst ungleich - an der Finanzierung staatlicher Aufgaben beteiligt. Unternehmen sind im korporativen Sozialstaat aber nicht nur politische Mitentscheider und wichtige Transferzahler, sondern sie sind - im Rahmen sozialgesetzlicher Bestimmungen - auch Dienstleistungserbringer. Sie betreiben z. B. Kindergärten, bieten Ausbildungsplätze im Rahmen des dualen Ausbildungssystems an und beschäftigen Menschen mit Behinderungen. Unter den Bedingungen des korporativen Sozialstaates hat das Verhältnis von Wirtschaft und Staat in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren eine neue ordnungspolitische Gestalt angenommen. Der Staat reklamiert für sich - unter Verweis auf seine sozialstaatlichen Erfolge - eine gesellschaftliche "Führungsrolle". Unter dieser staatlichen Prämisse werden dem Wirtschaftssystem und den Unternehmen Rechte und Pflichten zugewiesen. Die Inkorporierung von Wirtschaft und Unternehmen in staatliche Politik bedeutet für beide einerseits einen Autonomieverlust, andererseits können sie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen auf die vom regulierenden und gewährleistenden (Sozial-)Staat reklamierten Zuständigkeiten verweisen. Das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen wird unter dieser sozialstaatlichen Prämisse und in Anerkennung der vermeintlichen Allzuständigkeit und -verantwortung des Staates für die Gesellschaft leicht zur gesetzlichen Pflichterfüllung, die sich darüber hinaus in ritualisierten Forderungen von Unternehmensverbänden an den Staat, das eine zu tun und das andere zu unterlassen, erschöpfen. Es überrascht dann auch nicht, dass in einer derart sozialstaatlich eingehegten Wirtschaft das freiwillige gesellschaftliche Engagement von Unternehmen bzw. ihre Rolle als Corporate Citizen aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwindet, ein Schattendasein führt und vielleicht sogar tatsächlich verkümmert. Die Dominanz des korporativen Staates, seine Bestrebungen zur Befriedung des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit sowie der Einbezug der entsprechenden verbandlichen Akteure in die staatliche Politik begünstigt aber auch die Entwicklung von Widerspruch und Selbstorganisation. So entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland - mit leichter Zeitverzögerung parallel zur Expansion des korporativen Sozialstaates - eine nach gesellschaftlichen Anlässen und sozialen Milieus differenzierte Zivilgesellschaft, deren Selbstverständnis anfangs im hohen Maße antistaatlich und antikapitalistisch geprägt war. Unter den Bedingungen des korporativen Staates blieb die Zivilgesellschaft bis Anfang der 1980er Jahre aus den zwischen Staat und Wirtschaft bestehenden Verflechtungen ausgeschlossen. Diese Exklusion wiederum "begünstigte" selbstbezügliche, zirkuläre und ideologische Deutungsmuster, die bis heute in Teilen der Zivilgesellschaft in abgeschwächter Form nachwirken und einen pragmatischen Umgang mit Wirtschaft und Unternehmen erschweren. Es bleibt festzuhalten, dass das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland bis zur deutschen Vereinigung von der Politik des korporativen Sozialstaates geprägt war, die Wirtschaft und Unternehmen gesellschaftliche Pflichten im Rahmen staatlicher Aufgaben zuwies. Unter diesen Bedingungen verlor das für Unternehmen in Deutschland konstitutive freiwillige gesellschaftliche Engagement auf Seiten von Zivilgesellschaft und Staat an Aufmerksamkeit und Wertschätzung, während es insbesondere in zahlreichen deutschen Familienunternehmen ununterbrochen eine hohe Wertschätzung und faktische Bedeutung erfahren hat. Die Spielordnung der polyzentrischen Gesellschaft Spätestens seit den 1990er Jahren - beschleunigt durch die deutsche Vereinigung und die forcierte Globalisierung des Wirtschaftens - erodiert die Bedeutung von Nationalstaaten. Dieser Bedeutungsverlust bezieht sich nicht in erster Linie auf den staatlichen Aufgabenbestand, sondern auf die schwindende Steuerungsfähigkeit des Staates. Die politische Vorstellung, der Staat könne durch die Inkorporierung gesellschaftlicher Akteure, insbesondere von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, die Gesellschaft steuern, verliert an Überzeugungskraft. Und selbst bei der Steuerung seiner eigenen Angelegenheiten werden dem deutschen Staat im internationalen Vergleich betrachtet erhebliche Mängel bescheinigt. Mit einem Paradigmenwechsel und der Einführung "neuer" bzw. wirtschaftlicher Steuerungsinstrumente und -verfahren versuchen Bund, Länder und Kommunen seitdem ihre politische Steuerungsfähigkeit wiederzugewinnen und zu verbessern. Die Globalisierung des Wirtschaftens und die Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit beschleunigten in den 1990er Jahren den Übergang von der Vorstellung und der Praxis eines korporatistischen Staates zum Typus einer polyzentrischen und pluralistischen Gesellschaft, in der Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat begrenzte Aufgabenbereiche und ein je spezifisches Steuerungsrepertoire haben. In einer polyzentrischen Gesellschaft verliert der Staat seine selbsternannt dominante Position als gesellschaftliche Steuerungsinstanz und wird zu einem Akteur neben anderen, wobei ihm aber die Verantwortung für die Gewährleistung und Rahmensetzung staatlicher Aufgaben obliegt. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kann er - auch im Vergleich mit anderen Akteuren - auf eine weit reichende demokratische Legitimation als Gütekriterium und Alleinstellungsmerkmal verweisen. Unter diesen Bedingungen bedeutet Steuerung von Gesellschaft nicht mehr und nicht weniger als Interdependenzbewältigung zwischen unterschiedlichen Systemen und Akteuren. Eine weitergehende, absichtsvolle Gestaltung von Gesellschaft ist in einer polyzentrischen Gesellschaft nur durch Interaktionen und Aushandlungen zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat denkbar und möglich, wobei Effekte und Folgen dieses Handelns nur begrenzt kalkulierbar sind. Liaison zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft? In dieser neuartigen Konstellation zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft kommt es infolgedessen zu einer gravierenden Bedeutungsverschiebung zugunsten von Wirtschaft und Zivilgesellschaft. An die Stelle eines dominierenden korporativen Staates treten netzwerkartige Austauschbeziehungen zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und auch Staat. Diese Beziehungen basieren auf Selbststeuerungs- und Selbstorganisationsprozessen der Beteiligten, die in der Freiwilligkeit des Handelns und der Einsicht in eine "immer irgendwie diffuse" gesellschaftliche Verantwortung gründen. Als Instrumente und Verfahren der Handlungskoordination können die Beteiligten nicht auf hierarchische Weisungen zurückgreifen, sondern müssen sich in Abstimmungsprozessen verständigen und gemeinsame Vereinbarungen treffen. In diesen Aushandlungsprozessen einer polyzentrischen Gesellschaft kommen die relative Autonomie und Ressourcenstärke von Wirtschaft und Unternehmen zum Tragen. Zivilgesellschaft und Nonprofit-Organisationen scheinen unter diesen Bedingungen zunächst "nur" Stakeholder oder sogar kulturell "Fremde" zu sein, während staatliche Akteure angesichts der Handlungsdynamik, Entscheidungsstärke und Ressourcenausstattung wirtschaftlicher Akteure versuchen, in der Position eines politischen Mittlers oder Moderators neue Bedeutung zu erlangen. Gleichwohl gibt es in einer polyzentrischen Gesellschaft kein die Gesellschaft dominierendes System. Wirtschaft und Unternehmen sind vielmehr Teil der Gesellschaft und befinden sich in einem Interdependenzverhältnis mit Staat und Zivilgesellschaft. Dabei ist zu bedenken, dass Wirtschaft und Unternehmen kein monolithischer Block sind, sondern aus einer Vielzahl und Vielfalt von Organisationen mit zum Teil weit reichenden Handlungsalternativen bestehen. Entsprechend der Größe, der Rechts- und Organisationsform, der Branchenzugehörigkeit und der Stellung im Wirtschaftsprozess variiert auch das gesellschaftliche Selbstverständnis von Unternehmen über ihre Rolle in der Gesellschaft. Das unternehmerische Gesellschaftsverständnis reicht von Korruption über "Trittbrettfahren" und Tauschhandlungen bis hin zu ausgeprägt altruistischen Gemeinwohlorientierungen. Welche Ausprägungen eines unternehmerischen Gesellschaftsverständnisses sich in einer polyzentrischen Gesellschaft herausbilden, steht in engem Zusammenhang mit den Vorstellungen und Verhandlungspositionen von Zivilgesellschaft und Staat. So ist die Zivilgesellschaft in Deutschland trotz ihrer seit Ende der 1960er Jahre beschleunigten und dynamischen Entwicklung sachlich fragmentiert und organisatorisch vielgestaltig; eine kollektiv geteilte Vorstellung von Zivilgesellschaft konnte sich unter diesen Bedingungen bisher nicht herauskristallisieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland trotz ihrer relativen Unübersichtlichkeit und Intransparenz in der Öffentlichkeit in hohem Maße als vertrauenswürdig angesehen wird. Insofern kann die Zivilgesellschaft in Abstimmungsprozessen mit Wirtschaft und Unternehmen bisher auf einen nicht unerheblichen Vertrauensvorschuss in der Öffentlichkeit verweisen. Der Staat hingegen hat in der nachkorporatistischen Phase zunächst Akzeptanzprobleme, wobei die demokratische Legitimation als spezifischer Vorteil staatlicher Steuerung unterschätzt wird. In den Abstimmungsprozessen zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat ist nur der Staat aufgrund seiner breiten demokratischen Legitimation als potenzieller Gemeinwohlgarant in der Lage, die singulären Interessen von Unternehmen und Nonprofit-Organisationen in ein universalistisches, gemeinwohlverpflichtetes Programm zu transformieren. Die Bedeutung der demokratischen Legitimation staatlichen Handels ist nicht hoch genug zu veranschlagen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen in der Regel mit betrieblichen und wirtschaftlichen Eigeninteressen verknüpft ist und dass Nonprofit-Organisationen zumeist spezifische Gruppeninteressen verfolgen. Renaissance der Gesellschaftspolitik In einer polyzentrischen Gesellschaft gibt es weder einen Primat des Staates noch der Wirtschaft. Vielmehr besteht zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat keine wie auch immer geartete Über- oder Unterordnung, sondern ein Interdependenzverhältnis zwischen Systemen und Akteuren, die jeweils auf ihre spezifische Art und Weise in die sozialkulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingebettet sind und zur Sozialisation, Identitätsbildung und Integration ihrer Mitarbeiter, Mitglieder und Bürger beitragen. Das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen hat selbstverständlich wirtschaftliche Anlässe und Begründungen; gleichwohl ist es weitaus mehr als "nur" wirtschaftliches Handeln oder ein so genannter "business case", denn es stiftet kollektiven Sinn, erweitert Lebenschancen und eröffnet gesellschaftliche Perspektiven. Das gesellschaftliche Engagement von Unternehmen hat - in einem umfassenden Sinne verstanden als Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship - einen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Gehalt und wird zukünftig verstärkt Gegenstand von Auseinandersetzungen und Aushandlungen zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat sein. Vgl. Uwe Schimank/Ute Volkmann, Ökonomisierung der Gesellschaft, in: Andrea Maurer (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2008. Vgl. Dirk Baecker, Die Form des Unternehmens, Frankfurt/M. 1999; Max Ringlstetter/Michael Schuster, Corporate Citizenship - Eine aktuelle Mode der strategischen Unternehmensführung, in: ders./Herbert A. Henzler/Michael Mirow (Hrsg.), Perspektiven der strategischen Unternehmensführung. Theorien, Konzepte, Anwendungen, Wiesbaden 2003; Stephanie Hiß, Warum übernehmen Unternehmen gesellschaftliche Verantwortung. Ein soziologischer Erklärungsversuch, Frankfurt/M. 2006; Jürgen Schultheiss, CC und CSR - ein schwieriges und unterschätztes Thema in den Medien, in: Holger Backhaus-Maul/Christiane Biedermann/Stefan Nährlich/Judith Polterauer (Hrsg.), Corporate Citizenship in Deutschland. Bilanz und Perspektiven, Wiesbaden 2008. Vgl. die Beiträge in A. Maurer (Anm. 1); Peter Ulrich, Corporate Citizenship oder: Das politische Moment guter Unternehmensführung in der Bürgergesellschaft, in: H. Backhaus-Maul u.a. (Anm. 2); Josef Wieland, Corporate Citizens sind kollektive Bürger, in: Michael Behrent/ders. (Hrsg.), Corporate Citizenship und strategische Unternehmenskommunikation in der Praxis, München-Mehring 2003. Vgl. Holger Backhaus-Maul/Christiane Biedermann/Stefan Nährlich/Judith Polterauer, Corporate Citizenship in Deutschland. Die überraschende Konjunktur einer verspäteten Debatte, in: dies. (Anm. 2); vgl. auch die Beiträge in: Thomas Beschorner/Matthias Schmidt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship, München-Mehring 2007. André Habisch, Corporate Citizenship. Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen in Deutschland, Berlin-Heidelberg-New York 2003. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4 Bde., München 2003; Werner Abelshauser, Wirtschaftliche Wechsellagen, Wirtschaftsordnung und Staat: Die deutschen Erfahrungen, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1996. Vgl. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1947. Vgl. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 2005; Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2., Stuttgart 1988. Vgl. Gerhard Bäcker/Gerhard Naegele/Reinhard Bispinck/Klaus Hofemann/Jennifer Neubauer, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2 Bde., Wiesbaden 2008; Franz Xaver-Kaufmann, Herausforderung des Sozialstaates, Frankfurt/M. 1997; Stephan Leibfried/Uwe Wagschal (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat, Frankfurt/M. 2000; M. G. Schmidt (Anm. 8). Vgl. Rolf G. Heinze/Thomas Olk, Sozialpolitische Steuerung, in: Manfred Glagow (Hrsg.), Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, Bielefeld 1984; Wolfgang Streeck, Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Europäischer Union, Frankfurt/M. 1999. Vgl. Karl-Werner Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1986; Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. - New York 1987. Vgl. Wolfgang Streeck (Hrsg.), Staat und Verbände. Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), Wiesbaden 1994; Paul Windolf, Die Zukunft des Rheinischen Kapitalismus, in: Jutta Allmendinger/Thomas Hinz (Hrsg.), Organisationssoziologie. Sonderheft 42 der KZfSS, Wiesbaden 2002. Vgl. die Beiträge in Arthur Benz/Suanne Lütz/Uwe Schimank/Georg Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance, Wiesbaden 2007; Jens Beckert, Wer zähmt den Kapitalismus?, in: ders./Bernhard Ebbinghaus/Anke Hassel/Philip Manow (Hrsg.), Transformation des Kapitalismus, Frankfurt/M. 2006. Vgl. die Beiträge in Bernhard Blanke/Stephan von Bandemer/Frank Nullmeier/Göttrik Wewer (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, Opladen 2001. Vgl. Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005; ders., Organisationsgesellschaft, in: Wieland Jäger/ders. (Hrsg.), Organisationsgesellschaft. Facetten und Perspektiven, Wiesbaden 2005. Vgl. H. Backhaus-Maul u.a. (Anm. 2.); Holger Backhaus-Maul/Sebastian Braun, Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen in Deutschland. Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und engagementpolitische Perspektiven, in: Thomas Olk/Ansgar Klein/Birger Hartnuss (Hrsg.), Engagementpolitik, Wiesbaden 2008 (i.E.); Birgit Riess, Unternehmensengagement - ein Beitrag zur gesellschaftlichen Selbststeuerung zwischen Markt und Staat, in: H. Backhaus-Maul u.a. (Anm. 2). vgl. auch den Beitrag von Stefan Nährlich in diesem Heft. Vgl. Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hrsg.), Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, Frankfurt/M.-New York 2008. Vgl. Peter Imbusch/Dieter Rucht (Hrsg.), Profit und Gemeinwohl. Fallstudien zur gesellschaftlichen Verantwortung von Wirtschaftseliten, Wiesbaden 2007; Hannes Koch, Soziale Kapitalisten. Vorbilder für eine gerechte Wirtschaft, Berlin 2007; sowie die Unternehmensbeiträge in H. Backhaus-Maul u.a. (Anm. 2).
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Backhaus-Maul, Holger
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31062/traditionspfad-mit-entwicklungspotenzial/
Im Zuge globaler Debatten über Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship werden die Konturen dieses "deutschen Weges" und sein Zukunftspotenzial sichtbar.
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Ablauf der Ereignisse (II) | Deutschland Archiv | bpb.de
8. Oktober 1989 Die Erfahrungen der letzten 24 Stunden, insbesondere die Konfrontation mit der Gewaltlosigkeit der Demonstranten und ihrem alles andere als kriminellen Verhalten … macht (die Sicherheitskräfte) nervös und unsicher. Die Verantwortlichen planen, an diesem Tag nichts mehr dem Zufall zu überlassen. MfS-Minister Mielke konferiert u.a. mit Krenz, Schabowski und Schwanitz. Bereits am Vormittag, zum Zeitpunkt des sonntäglichen 10-Uhr-Gottesdienstes, umstellen etwa 50 Schutzpolizisten in Doppelposten das Gelände der Gethsemanekirche und behindern vereinzelt Bürger und Gemeindemitglieder, die Zutritt suchen. Mindestens zwanzig Zivilkräfte des MfS halten sich in der Nähe des Haupteingangs auf. Am Alexanderplatz (werden) im Laufe des Tages ungefähr 50 Personen ergriffen und zugeführt. Wieder holen MfS-Kräfte im Zusammenspiel mit der Volkspolizei Bürger aus der Menge, die ihnen durch Kleidung, Accessoires und Körperhaltung verdächtig erscheinen. … An der Gethsemanekirche spitzt sich aus Sicht der Polizei- und Sicherheitskräfte die Situation gegen 18 Uhr zu, als etwa 2000 Personen die Fürbitt-Andacht besuchen. Noch während der Andacht beginnen Volkspolizisten und Kräfte des MfS mit der Sperrung der Straßeneinmündungen der Stargarder Straße in den Bereichen Schönhauser Allee und Pappelallee. … Um 20 Uhr stellen Demonstranten … an der Kreuzung Stargarder Straße/Pappelallee eine Kette brennender Kerzen auf. … Gegen Ende des Fürbitt-Gottesdienstes wird die Kirche von Sicherheitskräften umstellt. Als sich unter den Heraustretenden die Nachricht verbreitet, dass Besucher der Andacht nach Verlassen des Kirchgeländes polizeilich zugeführt worden sind, bleiben zwei- bis dreitausend Menschen auf dem umzäunten Kirchgelände. … Immer wieder rufen sie „Keine Gewalt, keine Gewalt“. … Die zahllosen Versuche etlicher Bürger, (an den Absperrungen) mit den Polizisten ins Gespräch zu kommen, scheitern an einem wie anbefohlenen Schweigen. Immer mehr Kerzen werden auf die Straße gestellt. … Gegen 22 Uhr wächst die Spannung. Die … angeforderten (Polizei-)Reserven treffen ein. Über Megaphon ergeht die Aufforderung zum Räumen der Straße. … Diese Auflösung (wird) durch die Führungsgruppe im Haus des Lehrers gesteuert. … An allen Absperrungen finden sich jeweils etwa 50 Zivilkräfte aus den Anti-Terror-Einheiten des MfS ein. Im Rücken der Demonstranten und Passanten werden Busse und Lkw aufgefahren. Die herangeführten Reservekräfte versperren auf der Höhe Lychener/Stargarder Straße die Rückzugsmöglichkeit. … Gegen 23.30 Uhr … fordern Offiziere die Demonstranten… zum Verlassen der Kreuzung (Pappelallee/Stargarder Straße) auf. … Unmittelbar nach der Durchsage stürzen sich Volkspolizisten und MfS-Kräfte auf alle im Umfeld erreichbaren Personen. … Etliche der vermeintlichen Demonstranten erweisen sich als MfS-Angehörige und greifen sich nun gezielt Personen. … Wie am Vortag wird der Schlagstock unmotiviert und nahezu hemmungslos gebraucht. Auch Schlagringe und Reizgas kommen zum Einsatz. Manche der Zugeführten werden verprügelt, ehe sie in den bereitstehenden Bus gestoßen werden. Die größte Brutalität geht von den Anti-Terror-Einheiten des MfS aus. Bis spät in die Nacht durchkämmen Sicherheitskräfte die Straßen des Prenzlauer Bergs zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee. … Gegen 2.00 Uhr nachts erhalten die Reserve-Kräfte den Befehl zum Rückzug. Wie am Vortag solidarisierten sich viele Anwohner mit den Demonstranten. Aus den Fenstern gellen Pfiffe und Pfui-Rufe. Zuweilen fliegen Flaschen und auch Blumentöpfe. In vielen Fenstern und auf Balkonen stehen brennende Kerzen. Resümee Für den 8. Oktober lässt sich die Zahl der tatsächlich zum Einsatz gekommenen Sicherheitskräfte … an den Ereignisorten auf etwa 1.500 bis 2.000 Mann schätzen. Zugeführt wurden an diesem Tag 524 Bürgerinnen und Bürger. Quelle: Andreas Förster, "Interner Link: Eine Sternstunde des demokratischen Aufbruchs - Die Untersuchungskommission zur Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober 1989 in Ostberlin", Deutschland Archiv vom 12.10.2021
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-10-12T00:00:00"
"2021-10-12T00:00:00"
"2021-10-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/341985/ablauf-der-ereignisse-ii/
[ "Ostberlin", "Untersuchungskommission", "7. Oktober 1989", "Polizei" ]
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Migrationsprofil Frankreich | Frankreich | bpb.de
Galt die Einwanderung zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive lange Zeit als Erfolgsgeschichte, so wird sie in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend auch als Ursache sozialer Probleme und Auslöser von Konflikten wahrgenommen. Wahlerfolge rechtsextremer Parteien – insbesondere des Interner Link: Front National (FN) – machen dies ebenso deutlich wie immer wieder aufflammende Interner Link: Unruhen in den Vororten französischer Metropolen. Vor diesem Hintergrund hat die französische Einwanderungspolitik in den letzten Jahren und insbesondere unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy (2007-2012) einen zunehmend restriktiven Kurs angenommen. Der sozialistische Präsident François Hollande (2012-2017) war mit einem moderateren migrationspolitischen Programm angetreten. Dessen Umsetzung wurde jedoch von anhaltenden ökonomischen Problemen, der europäischen "Flüchtlingskrise" und mehreren schweren Terroranschlägen in Frankreich stark überlagert. Auch in den kommenden Jahren werden Fragen der Zuwanderungssteuerung, der Umgang mit dem Islam sowie die Integration der zweiten und dritten Generation die wichtigsten Herausforderungen der französischen Politik in diesem Themenfeld darstellen. Das Migrationsprofil Frankreich geht zunächst auf die Interner Link: historische Entwicklung der Einwanderung und Einwanderungspolitik in Frankreich ein. Anschließend beleuchtet es das Interner Link: aktuelle Migrationsgeschehen und die Einwandererbevölkerung des Landes, um sich dann den Themen Interner Link: irreguläre Migration , Interner Link: Flucht und Asyl , Interner Link: Staatsangehörigkeit und Staatsangehörigkeitserwerb sowie Interner Link: Umgang mit dem Islam zu widmen. Schließlich werden die Interner Link: jüngeren migrationspolitischen Entwicklungen und die Interner Link: zukünftigen Herausforderungen auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 dargestellt. InfoFrankreich Hauptstadt: Paris Amtssprache: Französisch Fläche: 551.500 km2; mit Überseegebieten 643.801 km2 (zum Vergleich Deutschland: 357.022 km2) Bevölkerungszahl (Externer Link: 1. Jan. 2017, geschätzt): 64,86 Millionen (mit Überseegebieten 66,99 Millionen) Bevölkerungsdichte (Externer Link: 2013): 117 Einwohner je km2 Bevölkerungswachstum (Externer Link: 2015): 0,4% Erwerbsquote (Externer Link: 2015): 56,1% Anteil ausländischer Bevölkerung (2013): 6,2% Anteil Einwanderer (2013): 8,9% Arbeitslosenquote: 10,0% (Externer Link: 2015), 9,4% (2010), 8,9% (2005); 8,5% (2000) Religionen (Externer Link: 2015, geschätzt): Christen, v.a. Katholiken (63-64%), Muslime (7-9%), konfessionslos (23-28%) Dieser Text ist Teil des Interner Link: Migrationsprofils Frankreich. Hauptstadt: Paris Amtssprache: Französisch Fläche: 551.500 km2; mit Überseegebieten 643.801 km2 (zum Vergleich Deutschland: 357.022 km2) Bevölkerungszahl (Externer Link: 1. Jan. 2017, geschätzt): 64,86 Millionen (mit Überseegebieten 66,99 Millionen) Bevölkerungsdichte (Externer Link: 2013): 117 Einwohner je km2 Bevölkerungswachstum (Externer Link: 2015): 0,4% Erwerbsquote (Externer Link: 2015): 56,1% Anteil ausländischer Bevölkerung (2013): 6,2% Anteil Einwanderer (2013): 8,9% Arbeitslosenquote: 10,0% (Externer Link: 2015), 9,4% (2010), 8,9% (2005); 8,5% (2000) Religionen (Externer Link: 2015, geschätzt): Christen, v.a. Katholiken (63-64%), Muslime (7-9%), konfessionslos (23-28%)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2017-04-19T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
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Die Einwanderungssituation in Frankreich ist bis heute stark geprägt von der Kolonialgeschichte früherer Jahrhunderte sowie einer langen Tradition der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer aus anderen europäischen Staaten. Insgesamt haben Einwanderung
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Das BMG in der frühen Bonner Republik | Politische Kultur im Kalten Krieg | bpb.de
Einleitung Keine politische Institution in der Bundesrepublik spiegelt in den Jahren der staatlichen Teilung das facettenreiche, von menschlicher Tragik, von Irrationalität und Widersprüchlichkeiten geprägte innerdeutsche Verhältnis so wider wie das im September 1949 gegründete Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG). An seiner Geschichte lässt sich exemplarisch die wechselvolle Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen aufzeigen. Das gilt für die zahlreichen, auf Destabilisierung der DDR zielenden "Undercover-Aktivitäten" des BMG wie vor allem für dessen nach innen gerichteten antikommunistischen Abwehrkampf. All diese Maßnahmen verstanden sich als Beitrag zur Überwindung der deutschen Teilung und fügten sich damit weitgehend in die während der 1950er Jahre praktizierte amerikanische "Befreiungspolitik" ein. Nicht zuletzt deshalb steht das gesamtdeutsche Ministerium stellvertretend für die Geschichte des Antikommunismus im Nachkriegsdeutschland. Seine Mitarbeiter, die in erster Linie persönliche Betroffenheit, ähnliche Biographien und Schicksale miteinander verbanden - sei es als Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten oder als politisch Verfolgte und Dissidenten aus der SBZ/DDR -, hatten sich aus tiefer innerer Überzeugung dem Kampf für die staatliche Einheit verschrieben. Freilich wurde ihr politischer Auftrag in dem 1949 niedergelegten Gründungsdokument weitaus zurückhaltender - als Angehörige einer Art deutschlandpolitischer Informationseinrichtung - beschrieben. Das BMG sollte gesamtdeutsche Klammer und moralisches Gewissen in einem sein. Offiziell oblagen ihm die "Aufklärung Westdeutschlands über die Verhältnisse Ostdeutschlands", die "Pflege und Förderung einer Volksgesinnung (...) zur Einheit der Nation in Freiheit", die "Vorbereitung für die Angleichung der ostdeutschen Verfassungs- und Rechtsverhältnisse an den Westen" sowie die "Bereitstellung einwandfreien Tatsachenmaterials über die ostdeutschen Wirtschafts- und Sozialverhältnisse". Gleichwohl stellte sich heraus, dass das Ministerium mit seinen Mitarbeitern nicht zu der erhofften Entscheidungs- und Nahtstelle werden sollte, die fortan für die zentralen politischen Fragen der Wiedervereinigung verantwortlich zeichnete. Denn in der frühen Bonner Republik war es Bundeskanzler Konrad Adenauer, der das wichtige Terrain der Außen- und Deutschlandpolitik als seine Domäne beanspruchte. Dem BMG wies er lediglich flankierende Aufgaben zu. Diese bestanden beispielsweise darin, nach außen zu demonstrieren, dass der Gedanke der staatlichen Einheit - ungeachtet der vom Kanzler entschlossen auf Westintegration der Bundesrepublik ausgerichteten Grundorientierung - keinesfalls abgeschrieben war. Innerhalb dieser - quasi vom Kanzleramt begrenzten - Vorgaben suchten die Bediensteten des Ministeriums nach Kompensation für ihre enttäuschten Hoffnungen. Da in ihren Reihen Konsens darüber bestand, den Kommunismus als Urheber für die Teilung der Nation zu betrachten, war ein alternatives Exerzierfeld schnell gefunden. Man verlegte sich auf eine möglichst wirkungsvolle, operative antikommunistische Auseinandersetzung. Unter dieser Prämisse galt es, dem politisch-ideologischen Gegner nicht nur im Osten empfindliche Schläge zu versetzen. Weitaus gefahrloser und mitunter wesentlich effektiver erschien ihnen die antikommunistische Frontstellung in der Bundesrepublik. Der durch sie seit den frühen 1950er Jahren in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft hineingetragene staatliche Antikommunismus, der mitunter das Ausmaß eines "Kalten Bürgerkriegs" annahm, richtete sich gegen politische Gruppierungen wie die KPD und deren Tarnorganisationen. Fortan wurde mit besonderer Priorität der Kampf gegen diesen inneren Feind geführt. Dessen zahllosen Versuchen, die westdeutsche Gesellschaft politisch zu unterwandern und die junge Republik politisch zu destabilisieren, wollte man sich energisch widersetzen. Zugleich bemühte sich das Ministerium, mit publizistisch aufwändigen und öffentlichkeitswirksamen Kampagnen das staatspolitische Bewusstsein der Bundesbürger auf den deutschlandpolitischen Regierungskurs auszurichten. Durch die Vermittlung von Leitideen und Überzeugungen produzierte das BMG damit nicht nur politische Kultur, es prägte auch deren Wandel. All das erfolgte - wie nachfolgend anhand einiger Beispiele der politisch-operativen West-Arbeit des Ministeriums verdeutlicht werden soll - vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts und unter dem Eindruck, einer massiven kommunistischen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei standen freilich die perzipierte und die tatsächliche Gefährdung in keiner Relation zueinander. Im Angesicht der östlichen Bedrohung Das in den Gründerjahren der Bundesrepublik weit verbreitete Gefühl, dem Zugriff Moskaus und seiner kommunistischen Helfershelfer schutzlos ausgesetzt zu sein, entsprang nicht allein der sich für jedermann sichtbar verschlechternden internationalen Lage seit dem Beginn des Koreakrieges. Der politische Alltag in Deutschland lieferte Argumente genug, die expansiven Absichten des Ostens nicht leichtfertig anzuzweifeln. Die Machthaber in der SBZ/DDR waren dazu übergegangen, ihr Regime zu stabilisieren. Sie eliminierten die Reste der bürgerlichen Parteien und stellten die Weichen für den "Aufbau des Sozialismus". Im Deutschen Bundestag saß dagegen mit der KPD ein enger Verbündeter und ein willfähriges Sprachrohr Ost-Berlins, das auf unvergleichbare Weise das Parlament als politische Arena und Agitationsforum zu nutzen wusste. Doch damit nicht genug. Die Anzeichen mehrten sich, dass es die SED nicht bei einem rhetorischen Schlagabtausch belassen wollte. Überzeugt von dem Anspruch, die stalinistische DDR zum Modell für das wiederzuvereinigende Deutschland zu machen, bedurfte es einer ganzen Palette praktisch-politischer und propagandistischer Maßnahmen. Eine hierfür konzipierte Westarbeit zielte darauf ab, den "Sturz des Adenauer-Regimes" herbeizuführen. Sie stützte sich nicht allein auf die westdeutschen Kommunisten. Die SED bediente sich in diesem Zusammenhang ebenso der Unterstützung vermeintlich überparteilicher Organisationen wie der "Nationalen Front des demokratischen Deutschlands". In dieser durch die SED gesteuerten Einrichtung waren ost- und westdeutsche Repräsentanten tätig, die sich unablässig in einer wahren Propagandaschlacht mit millionenfach aufgelegten Broschüren, Traktaten, Flugblättern, Zeitungen und Zeitschriften, über spezielle Korrespondenzzirkel, Aufsehen erregende Pressekonferenzen, Diskussionsbeiträge und Auftritte in der Bundesrepublik darum bemühten, die dortige öffentliche Meinung zugunsten der deutschlandpolitischen Vorstellungen von DDR und Sowjetunion zu manipulieren. Es sollte nicht bei solchen Werbeversuchen bleiben. Die östlichen Aktivitäten hoben zugleich darauf ab, die SPD-Basis zu gewinnen, sie in einer Aktionseinheit mit der KPD gegen die antikommunistische Parteiführung eines Kurt Schumacher oder Herbert Wehner zu mobilisieren. Selbst bürgerlich-konservative, mitunter sogar rechtsnationalistische Kreise in der Bundesrepublik gehörten zum Kreis der Adressaten. Dabei bediente man sich der Requisitenkiste kommunistischer Bündnispolitik. Konzepte aus den 1920er Jahren der Weimarer Republik oder der sowjetischen Deutschlandpolitik der frühen 1940er Jahre tauchten wieder auf, als Stalin zeitweise die bürgerlich-nationale Karte im Kampf gegen Hitler auszuspielen versucht hatte. All das war dem Ziel verpflichtet, das parlamentarisch-demokratische System der Bundesrepublik zu erschüttern und auf diese Weise, losgelöst von der großen Deutschlandpolitik, der Wiedervereinigung unter östlichen Vorzeichen mit Mitteln der Konspiration zu ihrem Durchbruch zu verhelfen. Als bekannt wurde, welche immensen Geldsummen Ost-Berlin dafür zur Verfügung stellte, waren die Bonner Parteien und Regierungskreise beunruhigt. So lagen Anfang der 1950er Jahre dem BMG interne Informationen darüber vor, dass die SED für die politische Arbeit der KPD jährlich zwischen 20 und 25 Millionen DM illegal in den Westen transferierte. Angesichts solch besorgniserregender Entwicklungen zögerte die Bundesregierung nicht, die östliche Infiltration durch eine Reihe von Gesetzesinitiativen möglichst wirkungsvoll einzudämmen. "Säuberung" des öffentlichen Dienstes und Staatsschutzgesetze Zusammen mit dem Bundesinnenministerium (BMI) war das BMG die treibende Kraft für einen am 19. September 1950 herbeigeführten Kabinettsbeschluss, der die Entlassung von Angehörigen der KPD und ihrer nachgeordneten Tarnorganisationen aus dem öffentlichen Dienst anstrebte. Das BMG vertrat dabei eine ausgesprochen harte Linie. Es engagierte sich während der interministeriellen Abstimmungsprozesse erfolgreich dafür, möglichst umfassende und scharfe Maßnahmen einzuleiten. Wo manche Ressorts aus Sicht des Ministeriums noch nicht ausreichend für die Gefahren der kommunistischen Unterwanderung sensibilisiert waren, leisteten seine Mitarbeiter Überzeugungsarbeit. Sie setzten sich schließlich mit ihrer Forderung durch, von allen Angehörigen des öffentlichen Dienstes eine Erklärung abzuverlangen, in der versichert wurde, zu keinem Zeitpunkt nach dem 8. Mai 1945 der KPD oder einer dieser Partei nahestehenden Organisationen angehört zu haben. Als im Bundespostministerium Bedenken aufkamen, die sich gegen ein Entlassungsverfahren von vermeintlichen Kommunisten richtete, ohne zuvor eine umfassende Vorermittlung durchgeführt zu haben, boten die antikommunistischen Experten des BMG entschlossen Paroli. Ihr Appell an die Zivilcourage und den Ethos der Beamten, als "Dienstvorgesetzte im Bund die ersten Kämpfer für die Demokratie" zu sein, schuf am Ende Konsens darüber, die vom Postressort artikulierten Zweifel nicht länger gelten zu lassen. Kaum war der Beschluss über die "Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung" publiziert, entbrannte eine öffentliche Debatte darüber. Die rechtliche Tragweite der Verordnung war nicht unumstritten, wie manche Rechtsgutachten überaus deutlich machten. Doch vor den Arbeitsgerichten setzte sich zumeist die Auffassung durch, dass schon der Verdacht einer kommunistischen Betätigung als Grund für eine Entlassung gelten könne. Ermutigt durch solche Erfolge, warfen sich die Vertreter des gesamtdeutschen Ministeriums mit Verve in die Debatte, als innerhalb des Regierungsapparats 1950/51 Überlegungen zur Formulierung so genannter Staatsschutzgesetze angestellt wurden. Ihr Interesse bestand in erster Linie darin, eine rechtlich wirkungsvolle Handhabe gegen die Flut von kommunistischem Agitationsmaterial zu erhalten. Als sie in dieser Angelegenheit im Dezember 1950 die Federführung übertragen bekamen, warteten sie sogleich mit einem unorthodoxen Vorschlag auf. So war es angesichts der nur wenige Jahre zurückliegenden Erfahrung mit dem NS-Regime überaus befremdlich, wenn die BMG-Unterhändler in ihren Gedankenspielen zeitweilig sogar so weit gingen, Postzensur oder gar ein Druckverbot von kommunistischen Propagandaschriften in der Bundesrepublik verhängen zu wollen. Gleichwohl verwarfen sie diese Position, kaum dass sie ausgesprochen war. Dabei schien sie weniger der antidemokratische Charakter als vielmehr die ungünstige psychologische Wirkung und die Gefahr davon abzuhalten, die DDR könnte aus solchen Maßnahmen propagandistisch Kapital schlagen. Als am 30. August 1951 nicht zuletzt unter dem Einfluss des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts der strafrechtliche Staatsschutz die letzte parlamentarische Hürde genommen hatte, zeigte sich das gesamtdeutsche Ministerium überaus zufrieden. Denn unter den darin festgeschriebenen Paragrafen 88 bis 98, welche die "gewaltlosen Methoden des Kalten Krieges" definierten und dafür das "mögliche Strafmaß speziell" festlegten, befand sich ein Abschnitt, der - entsprechend vorangegangener BMG-Anregungen - künftig auch "verfassungsverräterische Publikationen" ahndete. Vorerst konnte man damit gegen die Einfuhr östlicher Propagandaschriften vorgehen. Gut zwei Jahre später, nicht zuletzt nach eindringlicher Intervention von BMG, BMI und Bundespostministerium, die sich nach wie vor mit den - nun vermehrt mit SED-Geldern im Bundesgebiet gedruckten - Massen kommunistischer Kampfschriften herumzuschlagen hatten, brachte die 3. Novellierung der Staatsschutzgesetze aus Sicht der antikommunistischen Abwehrspezialisten endlich den entscheidenden substantiellen Durchbruch: Von nun an konnten sie auch rechtlich dagegen vorgehen. Mittel des Gegners anwenden Im Kampf gegen den inneren kommunistischen Feind gab es zwar von Anfang an zwischen dem BMG, dem BMI und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln eine klare Kompetenzabgrenzung. Doch in den ersten Jahren der Bonner Republik, vor allem zu jenem Zeitpunkt, als sich das BfV noch im Aufbau befand, nahm man es damit nicht immer so genau. Hier galt als oberstes Gebot der antikommunistische Konsens; dieser bestimmte die Wahl der Mittel und Methoden. Er rechtfertigte vieles, was der erfolgreichen Eindämmung der "kommunistischen Wühlarbeit" im Bundesgebiet diente. Vor allem das BMG legte mitunter einen antikommunistischen Übereifer an den Tag, der unter der Vorgabe der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überaus zweifelhaft war. Die einzig am Erfolg ihrer Arbeit interessierten Akteure irritierte dies zumeist wenig. Es verwundert nicht, dass sie mit politisch Andersdenkenden, zu denen nicht nur Kommunisten, sondern auch Pazifisten oder so genannte Neutralisten zählten, keineswegs zimperlich umgingen. Überaus deutlich brachte dies Ewert von Dellingshausen, einer der im BMG für "Psychologische Kriegführung" - so die in der internen Amtssprache übliche Bezeichnung für die politisch-operative Abwehrarbeit - federführend verantwortlichen Ministerialen auf den Punkt. Im Februar 1958 votierte er freimütig dafür, im Kampf gegen den Kommunismus die "Mittel, die der Gegner anwendet, für uns selbst nutzbar zu machen". Dass dies keineswegs graue Theorie war, hatten bereits drei Jahre zuvor Vertreter des Bundesinnenministeriums moniert. Nichts anderes war es nämlich, wenn sie sich in einer interministeriellen Besprechung hinsichtlich der Praktiken ihrer Kollegen aus dem gesamtdeutschen Ressort zu der Bemerkung hinreißen ließen, die "Demokratie dürfe nicht bei der Abwehr des Kommunismus in Methoden verfallen, die in ihrer geistigen Uniformität der Kampfart der totalitären Weltanschauung entsprächen". Anfang der 1950er Jahre hatte das BMG damit begonnen, für seine nach innen gerichtete antikommunistische Abwehrarbeit erste administrative Vorkehrungen zu treffen. Das Ganze lief auf eine Geheimkartei hinaus. Der generelle Charakter der Datenbank, ihre Inhalte, die Art, wie die entsprechenden Informationen beschafft und schließlich verwendet wurden, waren nicht unproblematisch. All dies war geradezu beispielhaft für die damals vorherrschende politische Mentalität des Kalten Krieges. Mit jenen Maßnahmen driftete das Ministerium in Arbeitsbereiche ab, die eigentlich den Nachrichtendiensten, allen voran dem BfV, oblagen. Unter der Bezeichnung "Apparat Booch", so benannt nach der gleichnamigen betreuenden Hilfssachbearbeiterin, wurden ab dem 1.April 1951 zwei vertrauliche Karteien aufgebaut. Sie erfassten sowohl Organisationen als auch Personen, die im Zusammenhang mit einer kommunistischen Betätigung aufgefallen waren, sich irgendwann öffentlich positiv über die DDR geäußert hatten, mit links stehenden oder neutralistischen Kreisen in Verbindung standen oder mit diesen sympathisierten. Diese ausgesprochen dubiose Angelegenheit war von vornherein als vertraulich konzipiert und damit der öffentlichen Kontrolle entzogen. Wer oder welche Institution mit welcher Charakteristik in jener ominösen Kartei landete, blieb allein der Willkür des BMG vorbehalten. Es wurde, so die offizielle Sprachregelung, von der jeweiligen "politische(n) Situation bestimmt" - was immer das bedeuten mochte. In Zweifelsfällen verfuhr man nicht nach dem alten Rechtsgrundsatz in dubio pro reo, sondern plädierte - frei nach der Lenin'schen Devise: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser - vielmehr dafür, sich "für eine Erfassung zu entscheiden". Mit dem Ziel, möglichst schnell über eine Nachschlagekartei zu verfügen, um der antidemokratisch-neutralistischen Umtriebe in der Bundesrepublik Herr zu werden, und mit dem ambitionierten Anspruch eines "sofortige(n), umfassende(n) Überblick(s) über die Tätigkeit der in Rede stehenden Organisation bzw. Person" wurden zunächst die eigenen Unterlagen des Ministeriums ausgewertet. Nachrichten und vertrauliche Informationen über Agenten und Spitzel sowohl aus der DDR, der Bundesrepublik und aus West-Berlin erhielt das BMG darüber hinaus von den Ostbüros der SPD oder der CDU sowie von antikommunistischen privaten Organisationen wie beispielsweise die Berliner Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) - Institutionen, die durch das gesamtdeutsche Ministerium mitunter mit beträchtlichen Mitteln finanziell unterstützt wurden. Mitunter griff das BMG auch ungeprüfte anonyme Hinweise aus der Bevölkerung auf. Im Laufe der Zeit wurde die Sammelarbeit weiter perfektioniert. Abgesehen von KgU- und Ostbüro-Informanten sowie von ost- wie westdeutschen Zeitungen, die regelmäßig daraufhin ausgewertet wurden, kam eine enge Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten, dem BND in Pullach und den Kölner Verfassungsschützern, zustande. Eine solche Kooperation beruhte auf Gegenseitigkeit. Als im März 1954 innerhalb des BMG darüber nachdacht wurde, die Datenkartei durch ein entsprechendes Bildarchiv zu ergänzen und das BfV um Amtshilfe zu bitten, begrüßten die Verfassungsschützer diesen Schritt außerordentlich. Sogleich wurde vereinbart, Materialien und Erkenntnisse künftig auszutauschen sowie einen Informationsabgleich vorzunehmen. Gut zehn Jahre später hatte die akribische Sammelleidenschaft des BMG ein respektables Ergebnis vorzuweisen: Inzwischen waren rund 20 000 Personen und etwa 3000 Institutionen in speziellen - wegen ihrer Brisanz als Verschlusssache deklarierten - Dossiers erfasst. Die antikommunistisch motivierte Erfassungswut hielt an. Und so überrascht es nicht, dass selbst in den frühen 1960er Jahren noch daran gedacht wurde, die Planstellen für diesen Bereich aufzustocken, um Rückstände aufarbeiten zu können. Da es sich bei der Datensammlung nicht um eine rein interne Arbeitskartei handelte, die dem BMG als Entscheidungsgrundlage bei der Vergabe von Fördermitteln an Personen oder private Einrichtungen diente, war die ganze Angelegenheit höchst bedenklich. Das BMG sah sich durch das in seinem Hause angehäufte Wissen aufgewertet. Mit seinem eigenen "Nachrichtendienst" erteilte es in Sachen Antikommunismus Auskünfte gegenüber den Anfragen von benachbarten Ministerien, aber auch von nichtstaatlichen Institutionen wie etwa dem "Industrie-Warndienst zur Abwehr wirtschaftsschädigender Tätigkeit" oder dem "Volksbund für Frieden und Freiheit" (VFF), mit dem es in der antikommunistischen Abwehrarbeit eng kooperierte. Das BMG zögerte nicht, Informationen weiterzuleiten, die zweifelhaften Charakter besaßen. Nichts anderes war es nämlich, wenn dabei auf sensible Daten von Personen zurückgegriffen wurde, "die Kommunisten waren oder von denen wir es annahmen", wie ein früherer, mit Geheimschutzfragen betrauter Mitarbeiter sich erinnert - und das im Namen einer Regierungsbehörde, die nicht mit einem solch speziellen Verfassungsschutzauftrag ausgestattet war. Dass es dennoch dazu kam, war im Wesentlichen auf die antikommunistisch aufgeheizte Atmosphäre und auf die stellenweise ans Irrationale grenzenden Bedrohungsvorstellungen zurückzuführen, welche die politische Kultur der frühen Bundesrepublik nachhaltig prägten. Unter solchen Bedingungen überrascht es kaum, wenn die beteiligten Akteure den Blick dafür verloren, was unter demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien tolerierbar war. Ambivalentes Demokratieverständnis Dieses Grundproblem erstreckte sich auch auf viele andere Bereiche, in denen sich das BMG während der 1950er und frühen 1960er Jahre im Sinne eines bundesdeutschen Rollback zu profilieren suchte. Nicht zuletzt mit Hilfe des durch das BMG alimentierten antikommunistischen VFF wurden westdeutsche politische Persönlichkeiten und Organisationen, die auf Dialog mit der DDR setzten, etwa die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, als vermeintliche Antidemokraten und Kommunistenfreunde öffentlich verunglimpft. Dabei machte das BMG während der Hochphase des Kalten Krieges immer wieder von verdeckten Maßnahmen Gebrauch, welche die Kompetenzen eines Bundesministeriums weit überschritten. Während des niedersächsischen Landtagswahlkampfs 1951, aber auch im Bundestagswahlkampf 1953 mischte es sich in den Wettstreit von Parteien und Organisationen ein. Am 29. Juli 1953 etwa informierte der im BMG hierfür bekannte Abwehrspezialist Ewert von Dellingshausen den Verfassungsschutz über eine von seinem Fachreferat geplante Kampagne gegen ein aus Heinemanns GVP und Joseph Wirths neutralistisch orientiertem "Bund der Deutschen" gebildetes Wahlbündnis. Im Zuge der Amtshilfe bat er um geeignete Unterlagen, um eine wirkungsvolle Flugschrift gegen diese politische Gruppierung auf den Weg bringen zu können. Das Projekt zerschlug sich bald, da sich das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung bereits mit dem BfV auf ein ähnliches Vorhaben verständigt hatte. Gleichwohl zog sich das BMG keinesfalls aus der wahlkampfpolitischen Arena zurück: Es griff weiterhin auf in seinem Auftrag verdeckt operierende antikommunistische, private Vereinigungen zurück, die politische Gruppierungen, die keinesfalls illegal waren, allein wegen ihrer von der Bundesregierung abweichenden deutschlandpolitischen Grundüberzeugungen diffamierten. Hier wurden Propagandakampagnen initiiert, die darauf zielten, die Wahlchancen jener Einrichtungen empfindlich zu reduzieren. Diese Aktivitäten verstießen nicht nur gegen alle Regeln der politisch-demokratischen Kultur, sie waren auch rein rechtlich betrachtet illegale Eingriffe. Selbst in den 1960er Jahren lassen sich solche Praktiken des BMG noch nachweisen. In Hamburg beispielsweise bediente sich das Ministerium der privaten staatsbürgerlichen Bildungsorganisation "Der Ring e.V.", um dort 1961 bei Betriebsratswahlen in den dortigen Groß- und Dienstleistungsunternehmen den öffentlichen politischen Willensbildungsprozess zu beeinflussen. Das BMG stellte jener privaten Institution, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Arbeiter, Angestellte und Beamte staatsbürgerlich zu schulen, um damit zur "Abwehr totalitärerer Bestrebungen in Betrieben, Verwaltungen und Organisationen" beizutragen, erhebliche Mittel zur Verfügung. Allein zwischen 1961 und 1964 flossen aus den Kassen des gesamtdeutschen Ministeriums über 120 000 DM. Im Gegenzug engagierte sich "Der Ring e.V." dafür, linksorientierten und vermeintlich linksradikalen Gruppierungen im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung das politische Leben zu erschweren. Während des im selben Jahr in der Hansestadt stattfindenden Bürgerschaftswahlkampfs engagierte sich der aus dem BMG-Etat finanzierte Verein gegen die Deutsche Friedens-Union (DFU). Diese heterogene Sammelbewegung aus Kommunisten, Sozialisten, Neutralisten und Nationalisten, welche die deutsche Frage durch eine Verständigung mit den östlichen Nachbarn zu lösen wünschte und nicht verboten war, sollte durch entsprechende Wahlkampfpropaganda daran gehindert werden, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Hier wurde den Vertretern des BMG zugesagt, die politischen Kundgebungen der DFU mit rhetorisch versierten Diskussionsrednern zu stören und die hier - in gewisser Weise nachrichtendienstlich - gewonnenen Beobachtungen unverzüglich an den Geldgeber weiterzuleiten. All dies kam den seit geraumer Zeit geläufigen antikommunistischen Abwehrstrategien des gesamtdeutschen Ressorts sehr entgegen. Es erhielt vom Verfassungsschutz regelmäßig Listen mit genauen Orts- und Zeitangaben über politische Veranstaltungen linksradikaler Vereinigungen und Gruppierungen. In diese wurden dann gezielt Vertrauenspersonen des Ministeriums eingeschleust. Ähnlich wie im Vorfeld der Hamburger Bürgerschaftswahl übten sie verfassungswidrig gegenüber politisch legalen Organisationen Überwachungsfunktionen aus - quasi als verlängerter Arm des BMG und des BfV. Dabei ergab sich immer wieder die Gelegenheit, mittels präventiver Provokationsmaßnahmen ansonsten schwer angreifbare politische Gegner auf eine halbwegs legale Weise dem Zugriff der Polizeiorgane auszusetzen. Diese Praktiken machten abermals deutlich, wie sehr die antikommunistischen Akteure im BMG Gefangene ihrer selbst waren. In dem Bewusstsein, der östlichen Bedrohung unter allen Umständen Paroli bieten zu müssen, fiel es ihnen offenbar nicht mehr auf - jedenfalls wurde dies nicht offen thematisiert -, wie sehr sie sich den Methoden ihrer politischen Gegner annäherten. Es mutet an wie eine ironische Fußnote in der Geschichte des Antikommunismus in Deutschland, wenn gerade jenes Ministerium, das zusammen mit dem BMI nachhaltig darauf gedrängt hatte, mit den im August 1951 verabschiedeten Staatsschutzgesetzen ein Instrumentarium an die Hand zu bekommen, um die verfassungspolitische Grundordnung der Bundesrepublik zu bewahren, Maßnahmen ergriff, die nicht in Einklang mit Teilen dieser Staatsschutzordnung standen. Das galt besonders für den Paragrafen 88, der in dem Verstoß gegen das "Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen", eine Staatsgefährdung erblickte. Und selbst hinsichtlich des Rechts "auf die verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition" lässt sich wahrlich streiten, inwieweit dies angesichts der politischen Praxis des BMG stets uneingeschränkt sichergestellt war. Dieser Beitrag beruht auf meiner Monographie: Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949 - 1969, Düsseldorf 2008. Für ausführliche Fußnotenbelege sei auf diese Publikation verwiesen. In diesem Aufsatz werden lediglich wörtliche Quellenzitate belegt. Dokumente zur Deutschlandpolitik. II. Reihe. Bd. 2: Die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. 7. September bis 31. Dezember 1949. 2. Unveröffentlichte Dokumente, München 1996, S. 453. I 2, Bonn, 25.10. 1950, Vermerk, S. 2-5, in: Bundesarchiv, Abteilung Koblenz (künftig abgekürzt: BAK), Akte B 137 (Bestand "Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen"), Akte 1549. Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1968, Frankfurt/M. 1978, S. 392f. Tagung der Länderreferenten für gesamtdeutsche Fragen im Bundeshaus Berlin am 12.2. 1958, Ref.: MR Dr. Freiherr von Dellingshausen, Bonn, Thema: Die kommunistische Infiltration - Fragen ihrer Bekämpfung, S. 4, in: BAK, B 137, Akte 1232. Vertraulich! Abschrift des Protokolls einer Besprechung zur Frage der Intensivierung des geistigen Impulses gegen den Kommunismus im Bundesministerium des Innern am 20.10. 1955, S. 4, in: BAK, B 137, Akte 16428. I 2, Bonn, 27.3. 1951, I. Kartei zur Erfassung der Organisationen und Personen, die sich im Bundesgebiet im antikommunistischen Sinne betätigen, S. 1, in: BAK, B 137, Akte 5993. Betr.: Merkblatt-Sammlung von I 2, 1.) Erstellung der damaligen Kartei lt. Verfügung der Abteilung I vom 3.3. 1951, in: BAK, B 137, Akte 5993. Interview des Verfassers mit Hans Georg Baumgärtel am 2.8. 2004. Vereinssatzung "Der Ring e.V. - Vereinigung für staatsbürgerliche Schulung", in BAK, B 137, Akte 1197. 1. Strafrechtsänderungsgesetz, vom 30.8. 1951, in: Reinhard Schiffers, Zwischen Bürgerfreiheit und Staatsschutz. Wiederherstellung und Neufassung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1951, Düsseldorf 1989, S. 349.
Article
Creuzberger, Stefan
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32268/das-bmg-in-der-fruehen-bonner-republik/
Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen kämpfte gegen kommunistische Unterwanderung. Anhand von Beispielen werden Einblicke in die politische Kultur des Antikommunismus in der jungen Bundesrepublik gegeben.
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Antiziganistischer Rassismus – ein osteuropäisches Problem? | Rechtsextremismus | bpb.de
Am 3. November 2013 hält ein Bus am Kulturpalast mitten im Zentrum von Sofia. 15 Skinheads zwischen 16 und 25 Jahren steigen aus und schauen sich nach dunkelhäutigen Opfern um. Sie finden sie. Ein Roma mit seinem Kind ist zufällig in der Nähe. Schon geht der Angriff los, die Skinheads schlagen brutal mit Steinen auf die Roma ein. Die meisten der Passanten schauen nur zu, doch Mütter mit Kindern können die Gewalt schließlich stoppen. Nach eineinhalb Stunden trifft endlich die Polizei ein. Einige Tage später, am 9. November 2013, genau zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht in Deutschland und Österreich, wird die Nationalistische Partei Bulgariens (NPB) ins Leben gerufen. Der Zusammenschluss kleinerer, fragmentarischer Vereinigungen von Skinheads, Radikalen, "Blood&Honour"-Vertretern, Klerikalen und Fußball-Hooligans ist nun das vierte Mitglied der bulgarischen Rechtsaußen. Erklärtes Ziel der NPB ist, die Existenz des bulgarischen Volkes, das angeblich durch Roma und Flüchtlinge bedroht ist, zu schützen und seine Reproduktion zu fördern. Man wolle "den Terror der Zigeuner mit eiserner Faust zerschmettern", erklärte der Vorsitzende Simeon Kastadinov der Zeitung "24 Stunden". An den pogromartigen Übergriffen im September 2011 in Katuniza bei Plowdiw in Südbulgarien waren viele NPB-Gründer aktiv beteiligt. Dagegen zeigen sich die traditionellen bulgarischen Nationalisten von Ataka (was auf Deutsch "Angriff" bedeutet), bereits zum dritten Mal im Parlament vertreten und diesmal als Mehrheitsbeschaffer für die Regierung entscheidend, seit ein paar Jahren Jahren etwas moderater: Sie fordern "nur" die Auflösung der Roma-"Ghettos". Doch das ist nur die Oberfläche. Vor einem Jahr zahlte "Ataka" einem Polizisten, der aus Selbstverteidigung einen Roma getötet hatte, 5.000 Euro - die "Spende" war ein Teil der Kampagne "Orthodoxe Solidarität". Vor allem in Ungarn ist Antiziganismus hoffähig geworden Insgesamt aber bleiben die Akteure der bulgarischen Rechtsaußen untereinander zerstritten und zersplittert. Interner Link: Ganz anders sieht es in Ungarn aus. Um die Heimat von den Roma zu "befreien", entstand in den vergangenen Jahren in Ungarn eine komplette politische und wirtschaftliche Maschinerie, erzählt der ungarische Journalist Balazs Cseko. Während rechtsextremistische Parteien bei den vergangenen Wahlen in Polen und der Slowakei aus dem Parlament verdrängt wurden, erzielte die größte rechtsextreme Partei Ungarns, Jobbik, bei den Wahlen 2010 und 2014 mit fast 17 Prozent bzw. gut 20 Prozent der Stimmen zwei Riesenerfolge. Jobbik lehnt nicht nur die EU und den Westen ab, sondern bemüht sich auch um alternative politische Bündnisse: Mit dem Iran und den arabischen Ländern hat Jobbik bereits aktive Beziehungen aufgebaut. Auch rhetorisch verhält sich die ungarische rechtsradikale Partei ganz anders als ihre bulgarischen Schwestern: Sie bedient sich eines klar neofaschistischen Stils. In der dunkelbraunen Szene Ungarns gibt es allerdings noch radikalere Akteure als Jobbik, beispielsweise die "The Out-Laws’ Army", "the Sixty-four Counties", das "Youth Movement" und "The Hungarian National Front", die alle untereinander verbunden sind. An der Spitze der Rechtsaußenbewegung, auch in Sachen Gewalt gegen die Roma-Minderheit, stehen "New Hungarian Guard" und "Pax Hungarica". Mindestens sieben Roma wurden in den letzten fünf Jahren Opfer von gezielten Mordanschlägen. Schikanen und Einschüchterungen sind an der Tagesordnung. Das mussten Romakinder erleben, als sich am 5. September 2013 in Konyár eine Gruppe von Fußball-Hooligans vor einer Schule versammelte. Was dann geschah, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Die jungen Männer erklärten der Polizei, sie hätten draußen vor dem Gebäude einfach nur da gestanden, geraucht und gesungen. Die Hooligans hätten Schüler angegriffen, sie voller Hass angeschrien und sie angepinkelt, sagten die Romakinder. Das Europäische Zentrum für Rechte der Roma (ERRC) besteht auf einem erneuten Ermittlungsverfahren; die Sicherheitsorgane hätten den Rechtsextremisten Deckung gegeben, lautet der Verdacht des ERRC. Wer sind die osteuropäischen Neonazis? Der Stil eines offensiven Ultranationalismus der neuen faschistischen oder rechtsextremen Parteien in Osteuropa erfreut sich momentan einer größeren Popularität als bei vergleichbaren Parteien im Westen. Die Führungskader sind meist selbstbewusste, draufgängerische Dreißigjährige aus der Mittelschicht, die den Totalitarismus nicht bewusst erlebt und dem herrschenden System den Kampf erklärt haben; in Serbien und Kroatien sind es oft Kriegsverstörte und Ustascha-Erben. Unter den Mitläufern dominieren Teenager, die in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen und von schlechten Bildungs- und Erziehungsmodellen geprägt sind. Ideologie sowie Verhaltens- und Outfit-Kodex sind aus dem Westen importiert. Und doch glauben Ralf Melzer und Sebastian Serafin, dass der gemeinsame Kern der Programme der rechtsradikalen Parteien in Ost-Mitteleuropa sich gerade aus einer Ablehnung des Westens bzw. einer Westorientierung speist. Die Serbische Radikale Partei (SRS) sehnt sich nach einem Großserbien, die Großrumänien-Partei (PRM) strebt nach der Fusion von Rumänien und Moldawien, und die ungarische Jobbik will Ungarn in den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg wiederherstellen. Ähnliche Attitüden, meinen Melzer und Serafin, zeigten sich auch in der Europaablehnung der extrem rechten Parteien in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei, obwohl diese Länder EU-Mitglieder sind. Die ungarische Jobbik fordert gar den EU-Austritt. Als Hardliner ist auch die serbische SRS zu sehen, die eine EU-Mitgliedschaft Serbiens rundweg ablehnt. Rückbesinnung auf historisch umstrittene "Vaterfiguren" Das Ideal einer starken, homogenen Nation gehe aus einem tatsächlich oder vermeintlich erlittenen historischen Unrecht hervor, meinen Gregor Mayer und Bernhard Odehnal. Die Bulgaren beklagen unter anderem den Vertrag von Neuilly-sur-Seine, durch den sie Westthrakien, das Gebiet um Zaribrod und Süddobrudscha verloren. Die Serben mussten wegen des Zerfalls Jugoslawiens die serbisch besiedelten Gebiete in Kroatien und Bosnien aufgeben. Für die Ungarn bedeutet der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg unterschriebene Friedensvertrag von Trianon den Verlust von Siebenbürgen, "Ober- und Unterungarn" und der Karpatoukraine – und einen verletzten Nationalstolz. Unter anderem das sind die Gründe, warum in allen osteuropäischen Ländern vor allem Staatsoberhäupter und Heerführer als Kultfiguren hervorragen, die der territorialen Integrität ihrer Vaterländer vorbehaltlos gedient haben. So zieht seit 2003 jeden Februar unter Trommeln und Fackeln ein Trauerzug zu Ehren von General Hristo Lukov durch Sofia. Auch ein Verbot durch die Stadtverwaltung konnte ihn bisher nicht stoppen. General Lukov war Gründer der Nationalen Legionen, einer Organisation nach dem Vorbild der Hitler-Jugend. Von Nazideutschland erhoffte sich Lukov, die nach dem Vertrag von Neuilly-sur-Seine verlorenen bulgarischen Gebiete zurückzubekommen. Auch die slowakischen Nationalisten ehren ihren ehemaligen Regierungschef, den katholischen Prister Jozef Tiso, der 1939 sein für unabhängig erklärtes Land unter "den Schutz des Deutschen Reiches" stellte und 60.000 jüdische Bürger in den Tod schicken ließ. Die ungarischen Neonazis beziehen sich gern auf den mit Hitler verbündeten ungarischen "Reichsverweser" Miklos Horthy. Die Aufmärsche der Rechtsextremen in traditionellen, faschistischen Uniformen oder im einfachen, makabren Neonazi-Outfit sollen Angst schüren, Größe aufzeigen und somit die oft geringen Mitgliedszahlen aufbauschen. Gerne marschieren die Rechten dort, wo es zuvor Fälle von Roma-Kriminalität gegeben hat. Der Normalbürger muss geschützt werden, dem Staat ist nicht zu trauen – das wollen die Rechtsextremen ausdrücken. Angriffe auf Roma wie zum Beispiel Ende August 2013 in Tschechien, verstehen sie als eine Art vorbeugenden Selbstschutz. Allein in der nordöstlichen Stadt Ostrava wurden nach Polizeiangaben rund 60 Menschen in Gewahrsam genommen, als sie versuchten, in ein von Roma bewohntes Viertel vorzudringen. Das ERRC berichtete auch über Brandanschläge auf Unterkünfte von Roma-Familien. Mit ihren Aufmärschen feuern die Neonazis die vorhandenen Spannungen zusätzlich an. Als die bulgarische Garde sich im November 2013 mit Bändern in Nationalfarben an den Ärmeln "um die Sicherheit der Bürger" sorgte, schlossen sich die Roma in eigenen Organisationen zusammen. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Was aus diesen Bürgergarden wird, lässt sich kaum einschätzen. Einmal entstandene Strukturen wieder aufzulösen, dürfte jedenfalls schwer werden. Institutioneller Rassismus Die Aggression gegen Roma geht in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten allerdings nicht nur von neonazistischer und rechtsextremer Seite aus. In der gesamten Gesellschaft ist Antiziganismus weit verbreitet. Und viel subtiler. Beispielsweise berichten rumänische Roma-Aktivisten, dass in ihrem Land die Erinnerung an den Holocaust zwar wie ein Wall gegen direkte Gewalt wirke. Doch antiziganistische Ressentiments sind an der Tagesordnung. Je mehr Strukturmängel wie eine niedrige Beschäftigungsquote, hohe Steuern und der Reformstau die Alltagssorgen der Bevölkerung verstärken, desto mehr prägt sich die Sehnsucht der Mehrheitsbevölkerung nach rechtspopulistischen Autoritäten aus. In der slowakischen Stadt Banska Bystrica (die Arbeitslosigkeit liegt hier bei 20 Prozent) konnte Bürgermeister Marian Kotleba punkten, als er ein Stück Land kaufte, auf dem sich ein Roma-Lager befindet, das er auflösen will – und zwar mit Gewalt. Das kommt gut an, weil in Gegenden, in denen Roma-Minderheiten und Mehrheitsbevölkerung in enger Nachbarschaft wohnen, kleine Diebstähle und Provokationen keine Seltenheit sind. Für die Nicht-Roma sind die Roma eine Sicherheitsfrage, nicht eine Frage der Menschen- oder Sozialrechte, erklärt der slowakische Journalist Martin Ehl von der Zeitung Hospodářské noviny dieses Phänomen. Antiziganismus wird auch von ganz oben verbreitet, von politischen und gesellschaftlichen Autoritäten. Die Roma würden Arbeit meiden und von Diebstählen leben – wegen mehrfacher abfälliger Aussagen wie dieser wurde der rumänische Präsident Traian Băsescu im Februar 2014 vom Nationalen Anti-Diskriminierungsrat mit einer Geldstrafe von 130 Euro belegt. Der ehemalige bulgarische Premier Bojko Borissov bezeichnete vor fünf Jahren in einer Rede "die Zigeuner" als Menschen schlechter Qualität. Und der Bürgermeister von Temeswar, Nicolae Robu, hat die Roma wiederholt als Mafia bezeichnet. Konsequenzen? Bleiben aus. Nach den pogromartigen Übergriffen im September 2011 in Katuniza wurden zwar einhundert der Angreifer verhaftet. Doch keiner von ihnen ist bislang dafür verurteilt worden. Warum, so fragt sich nicht nur Rumjan Russinov von der bulgarischen Redaktion der Deutschen Welle, geht der Staat nicht gegen den verbreiteten Antziganismus vor? "Die Antwort lautet: Die Leute, die Posten in den staatlichen Institutionen besetzen, sind Träger von Ressentiments gegen Roma. Das heißt, wir geraten in einen Teufelskreis. In der Gesellschaft existiert ein starker Antiziganismus, und es gibt enorme Probleme mit den Roma, aus denen sich auch zum Teil dieser Antiziganismus speist. Dieses Einstellungsmuster ist zugleich aber eine gut verkaufte Ware – sowohl für die Politik, als auch für die Medien. In den vergangenen Jahren haben die bulgarischen Politiker für die Stimmen der Roma gekämpft. Jetzt ist der Wahlkampf nach dem Maß der Romagegner geschnitten." Antiziganismus ist nicht auf Osteuropa beschränkt Warum ist das aber eigentlich so? In seinem Buch "Europa erfindet die Zigeuner" geht Klaus-Michael Bogdal mit der Suche nach einem Grund bis in das 15. Jahrhundert zurück, in eine Zeit, zu der sich viele ominöse "Ägypter", für die man die Roma damals hielt, in Europa niederließen. Man betrachtete die Roma als heimatlos, sie standen außerhalb der Ständeordnung und galten daher auch als "Schmarotzer". Das Stereotyp vom Rom als Kriminellem ist im Umlauf, seit Europa sich an die Roma erinnern kann. Zwischen Ost- und Westeuropa besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied – die Roma wurden von jeher überall bestenfalls geduldet. Seit Bulgarien und Rumänien 2007 der EU beigetreten sind und seit 2010 die Bürger des Westbalkans Visa-Freiheit in der EU genießen, flüchtet ein Teil der Roma aus dem Südosten nach West- und Nordeuropa. Offenbar massiv zugenommen hat ihr Zuzug mit der Öffnung der EU-Arbeitsmärkte für Rumänen und Bulgaren im Januar 2014. Mehr Sicherheit vor Rassismus und bessere, menschlichere Lebensbedingungen in den Zielländern sind meist die Gründe für ihre Migration. Die Institutionen der EU und westeuropäischer Staaten reagierten auf die Einwanderung der Roma mit der Rücknahme wichtiger Errungenschaften. So darf die Visafreiheit für bestimmte Länder in der EU ausgesetzt werden, wenn Bürger eines Staates massenhaft unbegründete Asylanträge stellen. Diese Entscheidung des EU-Parlaments hatte zur Folge, dass zwischen 2011 und 2013 an der mazedonischen Grenze 74 Ausreisen von Roma verhindert wurden. In Südschweden sammelte die Polizei Daten von mehr als 4.000 Roma – weil sie Roma sind. In Frankreich kam es zu Massendeportationen von Roma in ihre Heimatländer, was einer klaren Entrechtung dieser Volksgruppe mitten in Europa gleichkommt. Der französische Front National hatte gegen die Roma Stimmung gemacht – mit Erfolg. Unter dem Druck fremdenfeindlicher und EU-skeptischer Parteien werden in der EU wichtige Entwicklungen des europäischen Integrationsprozesses zurückgedreht. Mit der Roma-Frage in Europa zeigen sich derzeit vor allem zwei Dinge: Wie sehr ihre Menschenrechte in West- wie Ost-Europa systematisch verletzt werden. Und: Wie sehr sich durch die Inanspruchnahme des Rechts auf Mobilität in ganz Europa antiziganistischer Rassismus offenbart. Denn dieses Bürgerrecht, in den EU-Verträgen verankert, so wird von vielen Seiten verlangt, soll nicht (in vollem Maß) auch für Roma gelten. Auch in Deutschland löste der Zuzug von Roma massive Reaktionen aus. In rechtsextremen Internetforen werden "Sonderbehandlungen" für Roma gefordert; in den Duisburger Stadtteilen Hochfeld und Bergheim formierten sich Proteste mit teils rassistischem und wohlstandschauvinistischem Hintergrund gegen die Zuwanderer. Doch auch nicht-rechtsextreme "Normalbürger" und sogar politische Entscheidungsträger haben Ängste – oder schüren sie. "Armutseinwanderung" hieß das politische Unwort des Jahres 2013 in Deutschland – es ist geprägt von Ressentiments gegen Arme, besonders häufig gegen Roma. Armut macht Angst, im Osten wie im Westen. Wer will schon neben bettelarmen Menschen leben, die das Unvermögen der Staaten, mit sozialen Herausforderungen fertig zu werden, so klar vor Augen führen? Ralf Melzer, Sebastian Serafin (Hrsg.), "Rechtsextremismus in Europa" Externer Link: http://www.errc.org/article/roma-killings-in-hungary-the-court-has-done-its-job-the-state-needs-to-act/4180 Externer Link: http://www.errc.org/article/hungary-police-fail-to-act-against-racist-violence-as-football-fans-target-romani-schoolchildren/4189 Ralf Melzer, Sebastian Serafin (Hrsg.), "Rechtsextremismus in Europa", S. 30. Ustascha war eine faschistische kroatische Bewegung. Ebd., S. 252. Gregor Mayer und Bernhard Odehnal, "Aufmarsch", S. 14. Externer Link: http://www.presseurop.eu/de/content/article/4353831-der-kleine-fuehrer-stellt-die-demokratie-auf-die-probe
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Diljana Lambreva
"2022-01-10T00:00:00"
"2014-05-12T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/184146/antiziganistischer-rassismus-ein-osteuropaeisches-problem/
Bulgarien, Ungarn, Rumänien – seit Jahren mehren sich die Berichte über Angriffe auf Sinti und Roma in osteuropäischen Ländern. Antiziganistischer Rassismus scheint dort auf dem Vormarsch zu sein, rechtsextreme Gruppen haben großen Zulauf. Doch spät
[ "Antiziganismus", "Rassismus", "Bulgarien", "Ungarn", "Rumänien" ]
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TRÜMMERN UND TRÄUMEN | Deutschland 2015: Unser Land – unsere Zukunft | bpb.de
Cover Flyer Trümmern und Träumen (© bpb) Clubkultur gehört heute zu Berlin wie der Mauerfall. Denn mit dem Fall der Mauer entstand eine neue Subkultur, die in Berlin ihr Epizentrum hatte und die von zwei Faktoren maßgeblich geprägt wurde: elektronischer Musik und visueller Kunst. In diesen Medien fanden Utopien und alternative Gesellschaftsentwürfe ihre Gestalt. Wiedervereinigung und Zusammenwachsen von Ost und West haben Berlin zur Spielwiese kreativer junger Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt werden lassen. Heute gilt die Stadt als Weltmetropole der Clubmusik, der hybriden Kulturen und des Trendsettings. Am 5. und 6. September 2015 wurde der einstige Grenz- und Mauerbereich zur Spielstätte für TRÜMMERN UND TRÄUMEN, das begleitende Musikprogramm zum Festival FUTUR 25. Es sind jene Orte, die einst Sperrgebiet und Todesstreifen waren, direkt nach der Wende aber von Künstler/innen, Kulturschaffenden und Clubbetreiber/innen erobert wurden. Orte, an denen sich seit 25 Jahren die Erinnerung an die Teilung der Stadt und die lebendige Berliner Clubszene begegnen. Entlang der Spree, an der East Side Gallery und rund um die Oberbaumbrücke spüret TRÜMMERN UND TRÄUMEN den Entwicklungen und Umwälzungen der letzten 25 Jahre nach. Impressionen von TRÜMMERN UND TRÄUMEN Cover Flyer Trümmern und Träumen (© bpb) TRÜMMERN UND TRÄUMEN Programm Das Programm können Sie auch Interner Link: als PDF herunterladen. Eine Kurzfassung des Programms können Sie Interner Link: hier herunterladen (PDF, 1,6 MB). Zeitzeugenboot RADIALSYSTEM V, Anlegestelle Samstag | 5. September 2015 | 14, 16 Uhr Sonntag I 6. September 2015 I 14, 16, 18, 20 Uhr Bei einer Rundfahrt im Zeitzeugen-Boot lassen sich die Ereignisse der letzten 25 Jahre vom Wasser aus Revue passieren: East Side Gallery, Oberbaumbrücke, Arena Berlin, Untersuchungsgefängnis Oberschöneweide als historische Orte der Teilung. Kater Holzig, Bar 25, Tresor und Sage Club als Zeichen der kulturellen Eroberung des städtischen Raums. Während der Fahrt sprechen Zeitzeugen unterschiedlicher Bereiche über den Mauerfall und das kulturelle Leben in Berlin nach der Einheit. Samstag, 05.09.15 14:00 - 15:00 // … hört auf, diese Stadt! Mediengeschichten von der Mauerblümchenstadt zur Metropole Talk-Gäste: Monika Dietl und Diane Hielscher Moderation: Diana Frankovic 16:00 - 17:00 // Vom Fliehen und der Seltenheit des Ankommens Geschichten von Flucht, Ankommen und Identitäten Talk-Gäste: Arne Grahm und Jackie A. Moderation: Thomas Winkler Sonntag, 06.09.15 14:00 - 15:00 // Der Letzte macht das Licht an Wende und Wendungen in der Kulturpolitik Talk-Gäste: Herbert Schirmer und Thomas Flierl Moderation: Diana Frankovic 16:00 - 17:00 // Friede, Freude, Pustekuchen Was aus den Freiräumen für Kopf und Körper geworden ist Talk-Gäste: Andreas Rossmann und Ben de Biel Moderation: Thomas Krüger 18:00 - 19:00 // Macht kaputt? Macht nix. Mach Kunst draus Wie auf Trümmern Träume gemalt werden Talk-Gäste: Jim Avignon, Kai Fuhrmann und Steffi Goebel Moderation: Claudia Wahjudi 20:00 - 21:00 // Löcher in die Mauer Das Untergrund-Informationsnetzwerk zwischen Ost und West Talk-Gäste: Roland Jahn und weitere Gäste Moderation: Erik Heier Berlin Musictours Abfahrt am RADIALSYSTEM V Samstag | 5. September 2015 | 19.30 Uhr [120 min] Eine multimediale Bustour führ zu den Orten der einzigartigen Berliner Rock-, Pop- und Clubmusikszene von damals bis heute. Berlin ist seit langem ein Magnet für internationale Popstars und Künstler. Wo haben sie gelebt und gefeiert, wo und wie entstand und entsteht ihre Musik? Während der Fahrt weiß der Tourguide ungewöhnliche Geschichten, Anekdoten und Hintergründe zu erzählen, die man so garantiert noch nicht gehört hat. Auf Monitoren im Bus werden Interviews und Einspieler gezeigt, in denen die Musiker und Künstler selbst zu Wort kommen und ihr persönliches Berlin vorstellen. Wasserinstallation und Silent Clubbing Mercedes Benz Arena, Bootsanleger Samstag | 5. September 2015 | 21:00 bis 24:00 Uhr: Silent Clubbing Samstag I 5. September 2015 I 22:00 – 23:00 Uhr: Wasserinstallation Wer aufs Meer blickt, spürt, wie seine Gedanken mitgerissen werden, der Kopf langsam wieder seine Freiheit zurückgewinnt. Die Wasserinstallation dürfte ähnliche Auswirkungen auf das Befinden der Zuschauer haben. Mithilfe Berliner Künstler wie Clubbetreiber und Fotograf Ben de Biel will das Künstlerkollektiv Light Art Projects unter der Leitung von Tanja Mackert und Tina Zimmermann zwischen 22:00 und 23:00 Uhr 25 Jahre Berliner Stadtentwicklung als liquide Videoprojektion am Ufer der Spree Revue passieren lassen. Der Fokus liegt auf Berliner Kunst, Musik und Clubkultur. Animierte Fotosequenzen, die auf eine Wasserwand gescreent werden, dokumentieren die Verwandlung der Stadt vom 90er-Underground-Geheimtipp zum heutigen Club-Hotspot. Parallel dazu lädt das „Silent Clubbing“ Set von DJ-Legende Tanith zum gemeinsamen Erinnern ein. Warm-Up von Janina. Clubfestival TRÜMMERN UND TRÄUMEN I Musik, Talks, Tonträger-Duelle und Fahrrad-Rikschas als Gäste-Shuttle 5. September 2015 | ab 19 Uhr I Verschiedene Locations Ein nicht unerheblicher Teil des Wiedervereinigungsprozesses vollzog sich in den Clubs, den Orten der Nacht in Berlin und anderen deutschen Städten. Elektronische Musik, vor allem Techno und House, waren der Underground-Soundtrack der Wendejahre und entwickelte sich nach dem Ende der deutschen Teilung rasend schnell zu einer internationalen Kunstform, die von der Um- und Aufbruchstimmung im wiedervereinigten Deutschland maßgeblich geprägt wurde. Mit einem Mix aus Konzerten, Talks, Partys und Installationen wirft das Clubfestival TRÜMMERN UND TRÄUMEN den Blick zurück auf die geballte kreative Energie der Wendejahre und lädt ein, im Hier und Heute zu feiern. Fahrradrikschas stehen bereit und bringen die Tanzbegeisterten kostenfrei von Club zu Club. FluxBau Gegensätze ziehen sich an: Romano trifft Frank Spilker 5. September 2015 | 19:00 Uhr Doors, 20:00 Programmstart Das Programm im FluxBau dreht sich um die Entwicklung der Popkultur und ihrer Akteure, alte und neue Strategien von Musikern und die Veränderungen in der Medienwelt. Was wurde Realität, und welche scheinbaren Möglichkeiten waren Illusionen? Auf der Bühne begegnen sich Frank Spilker, Sänger der Hamburger Band 'Die Sterne' und der neue Berliner Szeneheld Romano. Moderiert von Jörg Petzold stellen die Künstler den persönlichen Lebenslauf ihren Wünschen und Träumen von damals gegenüber. Nach einem Solo-Konzert von Frank Spilker ist die Gesprächsrunde auf der Wohnzimmer-Bühne eröffnet. Beide Musiker laden Gäste ein, die sie auf ihrem Weg begleitet haben. Danach gibt Romano ein intimes Konzert mit brandneuen Tracks von seinem Album "Jenseits von Köpenick" (VÖ 11.09.2015). ab 23:00 Uhr: Party mit DJ Frank Spilker Tresor 5. September 2015 | ab 19 Uhr 25 Jahre Wiedervereinigung am Beispiel des Tresors Video Lecture von Dimitri Hegemann Der Durchsteckschlüssel Talk mit Dimitri Hegemann und Gästen Eine der prägendsten Personen der Club- und Kulturlandschaft blickt zurück: ¬Dimitri Hegemann, seit Anfang der 90er Betreiber des Tresor-Clubs, brachte den Techno von Detroit nach Berlin. Er spricht mit dem Philosophen und Galeristen Andreas Böttcher, dem Journalisten Rainer Schmidt und anderen Gästen über die Pionierjahre der Clubkultur in Ost und West. Musik: Moritz von Oswald, René Löwe aka Vainqueur & Dimitri Hegemann ab 23.59 Uhr: Party mit Moritz von Oswald, René Löwe aka Vainqueur, Wolle XPD, Sven von Thülen, Pacou, Detroitrocketscience aka Alan Oldham und Ro (mit Eintritt) Weitere Informationen unter Externer Link: http://tresorberlin.com/event/tresor-meets-trummern-und-traumen/ +4 Bar im Tresor 5. September 2015 | ab 19 Uhr: Doors Das freie (Ge)wissen - Von der Umwelt-Bibliothek zu Open Data Musik, Tanz, Installationen und Talk zu Innovationen und freier Wissensgesellschaft 5. September 2015 | 20:00 – 21:00 Uhr Wissen ist Macht, seine Verbreitung kann Mauern und Regierungen stürzen. Die +4Bar im Tresor wird für TRÜMMERN UND TRÄUMEN zu einem Ort des Wissens, an dem Installationen zeigen, wie viel Wissen Geheimdienste damals und heute sammeln. Dazu spricht Wolfgang Rüddenklau, Mitinitiator der Ostberliner Umwelt-Bibliothek u.a. mit Tomas Rudl von netzpolitik.org und Dr. Markus Neuschäfer, Projektleiter der Open Knowledge Foundation. Moderation Nancy Fischer (Externer Link: radioeins). Installationen von Mozilla Foundation, Wikimedia Deutschland, OpenDataCity, Tactical Technology Collective, Berliner Morgenpost und anderen. 21:00 – 24:00 Uhr: Reto Zweifuss (Creative Commons DJ Set). 21:30 – 22:30 Uhr: Kinetische Tanzperformance von Nagual Sounds. Ab Mitternacht: Clubnacht mit offenen Ende Weitere Informationen: Externer Link: http://meetu.ps/2MkCzT YAAM … immer auch die Party der Anderen Ska, Soul, Reggae, Balkan Beats aus Berlin, Köln, Palästina und Sarajewo Im Yaam ist die Party auch immer die Party der anderen. Flüchtlinge und unterschiedliche Kulturen und Lebensentwürfe sind hier willkommen und die Basis jedes Events. Im Ost-West-Soundclash trifft das Kölner Reggae-Soundsystem Pow Pow Movement auf die Balkan-Ska-Partymaschine Dubioza Kolektiv. Die Band aus Sarajevo kombiniert den Spaß ihrer Musik mit engagierten, kritischen Texten und ist mit ihrem Album "Happy Machines" auf Europatournee. 19:00 Uhr: Spoonman DJ Cla:s 20:00 Uhr: Il Civetto 21:30 Uhr: Dubioza Kolektiv 23.00 Uhr: Spoonman DJ Cla:s (mit Eintritt) 23:00 Uhr: Pow Pow Movement (mit Eintritt) Holzmarkt Spreespektakel auf der Pampa Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Artistik Pampa 14:00 – 18:00 Uhr: DJane aka La Flaca 18:00 – 22:00 Uhr: Die Trümmertanten 20:00 Uhr: Doris Tuchakrobatik nachmittags – Kinder Akrobatik Workshops Diverse Performances von Akrobaten, Musikern, Künstlern DingDongDom 16:00 – 17:00 Uhr: Bomber Mix - Varieté für Kinder. 22:00 Uhr: Lesung mit Sven von Thülen und Gästen: "Der Klang der Familie – Berlin, Techno und die Wende" Culture Container chronologisch war gestern! 20.00 Uhr: Megan Dixon-Hood 21.30 Uhr: Wuttke 23.00 Uhr: BLACK KAT and Kittens P.Ostbahnhof Club Haltung von Künstlern – Künstler mit Haltung Talk über gesellschaftliches Engagement von Künstlern 5. September 2015 I ab 19:00 Uhr Mangelt es Künstlern heute an gesellschaftlichem Engagement? Ist der Aktivismus der 70er- und 80er-Jahre vorbei? Die Welt ist seither sicher nicht konfliktärmer geworden, dennoch scheinen große konzertierte Aktionen von Künstlerinnen und Künstlern heute ausbleiben, in der Informationsflut untergehen, oder schnell im Mittelpunkt von Angriffen zu stehen. Til Schweiger legte sich mit eigenen "Fans" an, die gegen Flüchtlinge auf seiner Facebook-Seite pöbelten und stellte sich demonstrativ gegen den "shitstorm", andere Künstler sprechen nur privat oder gar nicht über ihr Engagement – oder sind auch gar nicht aktiv. Stehen Künstler in eine besonderen gesellschaftlichen Verantwortung? Müssen Sie sich genauer als früher überlegen, für welche Anliegen sie sich engagieren? Braucht künstlerisches Engagement im digitalen Zeitalter einen anderen Rahmen? Auf dem Podium sprechen Künstlerinnen und Künstler verschiedener Sparten über die Gründe ihres politischen Engagements und die eigene Haltung in gesellschaftlichen und sozialen Fragen. Dabei steht insbesondere das Engagement für Flüchtlinge im Mittelpunkt, aber nicht ausschließlich, denn die eingeladenen Podiumsgäste sind für unterschiedliche Belange aktiv. Es sprechen: Hannes Jaenicke (Schauspieler) über sein öffentliches Engagement für Umwelt- und Tierschutz und über seine Erfahrungen mit künstlerischem Engagement in den USADota Kehr (Sängerin) über ihr Engagement für Flüchtlinge sowie über Songwriting mit HaltungJocelyn B. Smith (Sängerin) über ihr Engagement für Obdachlose und FlüchtlingeTayfun Bademsoy (Schauspieler) über sein ganz privates Engagement für Flüchtlinge und seine Erfahrungen mit den MedienRichard Haus aka PR Kantate (Musiker) über sein Engagement bei der Künstlerplattform GehtAuchAnders und deren Ziele. Das Gespräch wird von Vivian Perkovic (Deutschlandradio) moderiert. Abgerundet wird die Diskussion mit Kurzauftritten von PR Kantate, Dota und Jocelyn B. Smith, die zeigen, dass es auch immer noch jede Menge Songs mit Haltung gibt. ab 22:00 Uhr: "Wegen Hip Hop" Party (mit Eintritt) Watergate A Free Session 5. September 2015 I ab 19:00 Uhr Im Mai fand in Berlin das XJazz-Festival statt, der erfolgreiche Versuch, offene Interpretationsräume zu schaffen und spannende Verbindungen zwischen der Welt des Jazz und der elektronischen Musik zu ergründen. "A Free Session" führt den hohen Anspruch des Festivals fort. Geladen ist die Free-Jazz-Legende Günter Baby Sommer. Der 72-jährige Schlagzeuger und Percussionist war einer der führenden Köpfe der ostdeutschen Improvisationsszene. Mit selbst gebauten und präparierten Instrumenten ist Sommer bis heute einer der innovativsten Solokünstler des Jazzgenres. Mit ihm auf der Bühne steht der libanesische Produzent Rabih Beaini. Dieser durchbricht mit seiner Musik die Grenzen klassischer Clubmusik und liefert eine Klangexpertise zwischen avantgardistischer Elektronica und experimentellen Wagnissen. Erstmals gemeinsam treffen Sommer und Beaini im Clubkontext aufeinander. Warm-Up von DJ Jonathan Rau. ab 23.55 Uhr: Mitja Prinz, Oliver Huntemann, Red Robin, Marcel Freigeist, Mike Book, Rey & Kjavik (mit Eintritt) Clubfestival TRÜMMERN UND TRÄUMEN II: Sonntag, 6. September 2015 | ab 14 Uhr Holzmarkt Spreespektakel auf der Pampa Mit Artisten aus Ost und West 6. September 2015 | ab 14 Uhr Bar 25 und Kater Holzig waren erst der Anfang. Auf dem Holzmarkt-Gelände am ehemaligen Mauerstreifen entsteht eine neue Vision urbanen Lebens, ein neues Miteinander von Kultur, Technik, Leben und Wirtschaft. Das Spree Spektakel ist ein Fest für diesen Ort. Es verbindet Artistik und Musik, Straße und Luft, die Tücken der Erdanziehung mit der Magie ihrer Überwindung. Das Artistenkollektiv Base Berlin entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Chamäleon und der Pampa ein Programm für Alt und Jung, bei dem Artisten aus Ost und West zusammen kommen, Legenden aus DDR-Zeiten mit jungen Künstlern arbeiten. Pampa 14.00 – 17:30 Uhr: Martha van Straten 18.30 – 19:30 Uhr: Romano 20.00 – 22.00 Uhr: Base Bakery 22:00 Uhr Grande Finale Spree Spektakel mit Konzert und Akrobatikshow danach: Feuerstellenromantik mit Gitarren und Gesang nachmittags – Kinder Akrobatik Workshops Diverse Performances von Akrobaten, Musikern, Künstlern DingDongDom Gemeinsam dagegen – die Kraft aus dem Anderssein Sonntag, 6. September I 14:00 – 18:00 Uhr Inmitten der Artisten wird beim Talk im Ding Dong Dom die alles entscheidende Frage gestellt: "Was hat die Wiedervereinigung mit uns gemacht? Mit unseren Ideen, Visionen und Träumen?" Im Rückblick mag da vieles zusammenwachsen, was schon immer zusammen gehört hat. Aber was war und ist das, was uns vereint hat? Welche Positionen und Anti-Positionen gab es vor und kurz nach der Wende bereits auf beiden Seiten der Mauer, die in beiden Systemen das ähnliche wollten. Nämlich erst einmal nicht Teil eines Systems zu sein. Welches System das auch immer war. Dann fällt auf: eigentlich waren die Utopien in Ost und West an manchen Stellen des Alltags gar nicht so verschiedenen. Haben am Ende auch gemeinsame Feindbilder ein Stück Wiedervereinigung voran gebracht? Kuratierte Dialoge zu den Themen: Hooligan Ost trifft Hooligan West. Mit Steve Winkler und Felix KraftIch möchte Teil einer Jugendbewegung sein: Breakdance, Graffiti und Rap in Ost und West. Mit Wolle XDP und Jah FishRadio als Revolutionstreiber: Popkulturelle Sozialisation zwischen DT64 – das Jugendradio der DDR und 98,8 KISS FM. Mit Lutz Schramm (DT64), Alexander Wolff (Kiss FM) und Jan Lerch (Radio 100).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-07-03T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/deutschland-2015/209129/truemmern-und-traeumen/
Begleitend zum Festival FUTUR 25 fand am 5. und 6. September 2015 das Clubfestival TRÜMMERN UND TRÄUMEN statt. Entlang der Spree, an der East Side Gallery und rund um die Oberbaumbrücke spürte TRÜMMERN UND TRÄUMEN den Entwicklungen der Berliner Clubs
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Motive | bpb.de
Nach Motiven für eine geplante Rückkehr in die Türkei wird in der Studie des Liljeberg- und des INFO-Institutes nicht explizit gefragt. Die Befragten werden lediglich um eine Stellungnahme zu folgender Aussage gebeten: "In der Türkei hätte ich gute Chancen auf einen gut bezahlten Job". Die nach Bildungsstand/Ausbildungsniveau der Interviewten aufgeschlüsselten Ergebnisse zeigen, dass dieser Aussage vor allem Personen zustimmen, die mindestens über das Abitur bzw. einen Hochschulabschluss verfügen. 52 Prozent dieser Personengruppe bejahten diese Aussage und sehen für sich damit gute berufliche Möglichkeiten in der Türkei. Das Ergebnis, wonach Türkeistämmige mit einem höheren Bildungsabschluss eine ausgeprägtere Mobilitätsbereitschaft zeigen als niedrig(er)qualifizierte Personen, korreliert mit Daten aus Untersuchungen zum allgemeinen Zusammenhang von Bildung und Mobilitätsverhalten. Demnach sind Personen mit akademischem Abschluss mobiler als die Vergleichsgruppe ohne Hochschuldiplom. In Bezug auf abwandernde deutsche Staatsangehörige zeigen Sauer/Ette beispielsweise auf, dass es sich bei diesen um eine positiv selektierte Gruppe handelt: 49 Prozent haben einen Hochschulabschluss gegenüber 29 Prozent in der nicht-mobilen deutschen Bevölkerung. Das Wanderungsverhalten Türkeistämmiger entspricht also tendenziell dem von Personen ohne Migrationshintergrund und hebt sich somit zunächst nicht besonders hervor, zumal grenzüberschreitende Mobilität bereits in ihrer Familiengeschichte und damit auch in ihrer Biographie angelegt ist. Es stellt sich also die Frage nach den Motiven für das Verlassen Deutschlands und die Wahl der Türkei als Migrationsziel. Während die Liljeberg/INFO-Studie nur indirekt die Gründe für die Abwanderung erfragt und dabei vor allem den Aspekt einer gut bezahlten Arbeitsstelle in der Türkei anspricht, betont die TASD-Studie insbesondere Faktoren im Herkunftsland Deutschland, die eine Abwanderung fördern. Als Abwanderungsmotive nennt die TASD-Studie vor allem ein »fehlendes Heimatgefühl in Deutschland«, »berufliche Gründe« und »wirtschaftliche Gründe«. Unter die beiden letztgenannten Gründe subsumieren sich u.a. Annahmen der Befragten hinsichtlich besserer Karriereaussichten und schnellerer Aufstiegschancen in der Türkei. Das Ergebnis der Studie wirft den Autoren zufolge daher auch die Frage nach der Diskriminierung Türkeistämmiger auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf. Dieser Gedanke schließt an Untersuchungen zur Diskriminierung von Arbeitsuchenden türkischer Herkunft an. Kaas/Manger (2010) fanden heraus, dass Bewerber mit türkischklingendem Namen trotz deutscher Muttersprache und Staatsangehörigkeit schlechtere Chancen auf eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch haben als solche mit einem deutschen Namen. Studien der OECD (2007/2010) kommen zu dem Ergebnis, dass Akademiker aus Einwandererfamilien in Deutschland häufiger von Erwerbslosigkeit betroffen sind als Akademiker ohne Zuwanderungsgeschichte. Begründet werden diese Ergebnisse mit dem Verweis auf ethnische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Deren tatsächliches Ausmaß lässt sich allerdings nur sehr schwer messen, da sie durch erhebliche strukturelle Nachteile der zweiten Migrantengeneration aufgrund niedriger Bildungsabschlüsse verschleiert wird, die eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt nach sich ziehen. Besonders bei Frauen türkischer Herkunft lassen sich insgesamt niedrige Beschäftigungsquoten und damit ein eingeschränkter Arbeitsmarktzugang ablesen. Es ist anzunehmen, dass (türkische) Einwandererinnen der Gefahr einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt sind, da sie sowohl aufgrund ihrer Herkunft (ethnische Diskriminierung) als auch ihres Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Dies könnte auch eine mögliche Begründung für das Ergebnis der TASD-Studie sein, wonach die befragten Frauen eine höhere Abwanderungsbereitschaft signalisierten als männliche Untersuchungsteilnehmer. Darüber hinaus verfügen die zumeist aus Arbeiterfamilien – also nicht-akademischen Elternhäusern – stammenden Studierten türkischer Herkunft nicht über Netzwerke in akademische Beschäftigungssegmente hinein, sodass darin auch ein Grund für deren Benachteiligung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gesehen werden kann. Ergebnisse von Sievers et al. verweisen darauf, dass den erbrachten Leistungen von türkeistämmigen Bildungsaufsteigern in Deutschland nicht immer Anerkennung entgegengebracht wird. Die Autoren deuten an, dass ein Mangel an Anerkennung sowohl der Person als auch ihrer Leistungen eine Abwanderung aus Deutschland motivieren kann. Sie verstehen unter Anerkennung die »Erfahrung von Zugehörigkeit und Respekt«. Der Argumentation Honneths und Stojanovs zufolge, ist sie »fundamental für die soziale Existenz und für die gesellschaftliche Integration«. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in Forderungen nach einer ›Kultur der Anerkennung‹ bzw. einer ›Willkommenskultur‹ wider, die beispielsweise im Konzept der interkulturellen Öffnung (von Verwaltungen etc.) zum Tragen kommt. Wirtschaftliche Wanderungsmotive Ergebnisse aus qualitativen Studien zur Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger von Aydın/Pusch (noch nicht abgeschlossen) und Hanewinkel (2010, unveröffentlicht) bestätigen die Aussage der TASD-Studie nicht, wonach unvorteilhafte berufliche Perspektiven in Deutschland für die Befragten einen entscheidenden Migrationsfaktor bilden. Die Mehrzahl der Befragten sei vielmehr vor ihrer Migration in die Türkei auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut integriert gewesen. Berufliche bzw. wirtschaftliche (Karriere-)Überlegungen spielten bei der Abwanderung aber dennoch eine wichtige Rolle. Dies betonen vor allem Aydın/Pusch. Zu den wirtschaftlichen Wanderungsgründen zählen Aspekte wie die Aussicht auf bessere Aufstiegschancen im Zielland, ein attraktiverer Job oder eine Verbesserung der finanziellen Situation. Theoretisch werden diese Migrationsmotive vor allem in neo-klassischen Push- und Pull-Modellen aufgegriffen. Dieser Ansatz fokussiert ein gewinnmaximierendes Individuum (homo oeconomicus), das sich unter rationalen Gesichtspunkten und unter Abwägung ökonomischer Vor- und Nachteile zweier Länder für die Migration entscheidet, sofern diese eine Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation verspricht. Kritisiert werden diese Modelle insofern, als sie individuelle (emotionale) Wanderungsmotive sowie den Einfluss sozialer Netzwerke (Familie, Verwandtschaft, Freundes- und Bekanntenkreise etc.) auf Wanderungsentscheidungen vernachlässigen. Im Fall der türkeistämmigen Hochqualifizierten zeigt sich, dass die geographische Mobilität nicht selten auf einen beruflichen und sozialen Aufstieg zielt. Die wachsende Präsenz deutscher Unternehmen in der Türkei ermöglicht die Migration durch eine Stellenvermittlung auf dem firmeninternen Arbeitsmarkt. Gesucht werden türkeistämmige Akademiker für Schlüsselpositionen in den türkischen Niederlassungen dieser Firmen aufgrund ihrer Sozialisation in der türkischen und der deutschen Gesellschaft sowie ihrer Kenntnisse beider Sprachen. Attraktiv wirkt auch das seit einigen Jahren anhaltend hohe Wirtschaftswachstum in der Türkei. Nach einem konjunkturellen Einbruch in der Wirtschaftskrise 2008/09 erholte sich das Land schnell. Bereits 2010 verzeichnete die türkische Wirtschaft wieder ein beachtliches Wachstum von 8,9 Prozent. Der Aufwärtstrend setzte sich fort. Im ersten Halbjahr 2011 erzielte die türkische Wirtschaft mit durchschnittlich 10,2 Prozent die höchste Wachstumsrate weltweit , sodass die Türkei bereits als »neues China« bezeichnet wird. Im Vergleich dazu zeigt die deutsche Wirtschaft weit weniger Dynamik. Im Jahr 2011 verzeichnete sie ein Wachstum von vergleichsweise niedrigen 2,6 Prozent. Besonders die West-Türkei ist Gewinnerin der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Dadurch bildet sich ein starkes strukturelles Gefälle zwischen dem wirtschaftlich boomenden Westen und dem landwirtschaftlich geprägten Osten. Die Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen zieht große Teile der Landbevölkerung in die Städte. Vor allem Istanbul ist seit Jahren eine der Hauptaufnahmeregionen dieser Land-Stadt-Wanderungen. Die Westtürkei ist auch das Hauptziel der aus Deutschland abwandernden türkeistämmigen Hochqualifizierten. Die Mehrzahl verschlägt es in Städte wie Izmir oder Istanbul, die als modern, kosmopolitisch und fortschrittlich gelten, westliche Lebensstile und die Aussicht auf einen europäischen Lebensstandard versprechen. Besonders weibliche Abwanderer präferieren diese Zielorte. Hochqualifizierte türkeistämmige Frauen erhoffen sich, wie Hanewinkel (2010) herausgefunden hat, darüber hinaus von der Verlegung ihres Lebensmittelpunktes in die Türkei auch bessere Aufstiegschancen, da in der Türkei mehr weibliches Personal in Führungspositionen zu finden sei als in Deutschland. "Also ich war mir hundertprozentig sicher mit meinen Qualifikationen, die ich habe, komme ich in der Türkei weiter als in Deutschland. Es gibt hier mehr Frauen an der Spitze als in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das jeder weiß, aber es ist wirklich ein ganz wichtiger Hintergrund für mich...also was man beachten sollte einfach." Diese Einschätzung bestätigt eine Untersuchung der internationalen Unternehmensberatung Hay Group aus dem Jahr 2010. Demnach sind in Deutschland weniger Frauen sowohl in den unteren (Frauenanteil: ca. 20 Prozent) als auch in den Top-Führungspositionen (Frauenanteil: ca. 7 Prozent) vertreten als in der Türkei (untere Führungspositionen: ca. 30 Prozent; Top-Führungspositionen ca. 12 Prozent). Besonders gute Chancen haben Frauen im türkischen Bankensektor: In der mittleren Führungsetage sind 75 Prozent der Posten mit Frauen besetzt. Diese Zahlen stehen im Gegensatz zur allgemeinen Frauenbeschäftigungsquote in der Türkei, die mit nur 24 Prozent im OECD-Vergleich (ca. 58 Prozent) äußerst niedrig ist. Die in Deutschland erworbenen Qualifikationen finden in der Türkei Anerkennung. In Istanbul befragte türkeistämmige Hochqualifizierte geben an, dass ein an einer deutschen Universität erworbener Bildungstitel in der Türkei hoch angesehen ist. Ebenso profitierten sie von ihren dort erworbenen Fremdsprachenkenntnissen sowie Arbeitserfahrungen in einem deutschen oder internationalen Unternehmen. Während Sievers et al., Aydın/Pusch sowie die TASD-Studie das Gewicht von wirtschaftlichen Wanderungsmotiven für die Migrationsentscheidung selbst betonen, verweisen Ergebnisse von Hanewinkel (2010) in Bezug auf weibliche türkeistämmige Migrantinnen darauf, dass diese bei der Entscheidungsfindung eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ihre Befragten gaben an, vor allem aus emotionalen Gründen in die Türkei gekommen zu sein (s.u.). Der Wunsch, einmal ausprobieren zu wollen, wie es ist, in der Türkei zu leben, wird zu einem essentiellen Teil der eigenen Selbstverwirklichungsidee: "Es war IMMER Türkei im Hintergrund, also dass ich mal irgendwann wieder zurück will, einfach nur mal um es auszuprobieren, ob es klappt. Also nicht, weil ich unbedingt wieder in die Türkei will, sondern nur, weil ich mich gefragt hab, ob ich mich wohl fühle in Istanbul. […] Ich hab es aber wie gesagt immer über die Jahre im Hinterkopf, also wie so eine Hintertür quasi, die hab ich mir immer offen gehalten." Verwirklichen und in die Tat umsetzen lässt sich dieser Wunsch aber nur unter der Voraussetzung einer möglichen beruflichen Integration auf dem türkischen Arbeitsmarkt. Praktika während des Studiums – häufig absolviert in der türkischen Niederlassung eines deutschen Unternehmens – führen an den Arbeitsmarkt in der Türkei heran. Bereits die Studienwahl wird von einigen Befragten direkt an den (angenommenen) Bedürfnissen der türkischen Wirtschaft orientiert. Während der Grund für die Abwanderung also ein emotionaler sein kann, gestaltet sich die Umsetzung des Migrationsvorhabens oft auf eine wirtschaftliche Art und Weise. Gleichzeitig ist anzumerken, dass Wanderungsentscheidungen zumeist nicht aus einem einzigen Grund getroffen werden, sondern dass verschiedene Motivlagen kumulieren, was dazu beiträgt, dass sich die Untersuchung von Migrationsentscheidungen als kompliziert erweist. Auch wenn wirtschaftliche Faktoren vor der Migration eine durchaus untergeordnete Rolle spielen können und für die Migrationsentscheidung nicht zwangsläufig ausschlaggebend sind, gewinnen sie den Ergebnissen Hanewinkels zufolge nach der Migration an Bedeutung, denn: Die Befragten wollen auf ihren aus Deutschland gewohnten Lebensstandard nicht verzichten. Kurzfristig werden im direkten Anschluss an den Wechsel des Aufenthaltsstaates zwar finanzielle Einbußen in Kauf genommen, langfristig streben aber alle Befragten einen ihrem Leben in Deutschland ähnlichen oder höheren Lebensstandard an. Dies kann nur gelingen, indem sich die Migranten erfolgreich auf dem türkischen Arbeitsmarkt platzieren und eine ihren in Deutschland erworbenen Qualifikationen angemessene Anstellung mit entsprechender Vergütung finden. Vor allem in Städten wie Istanbul, in denen die Lebenshaltungskosten Umfragen zufolge aktuell z.T. diejenigen in deutschen Großstädten übersteigen , hat dies zur Konsequenz, dass die Anhäufung finanzieller Ressourcen von entscheidender Bedeutung auch für die Aufenthaltsdauer in der Türkei ist. Ergebnisse von Hanewinkel (2010) deuten an, dass eine Rückkehr nach Deutschland bzw. der Umzug in ein anderes Land dann wahrscheinlich wird, wenn sich deutliche Einbußen im Lebensstandard dauerhaft abzeichnen. Insgesamt kann die Migration in die Türkei also als ergebnisoffener Prozess interpretiert werden. Emotionale Wanderungsmotive Zu den nicht-ökonomischen Wanderungsmotiven zählen vielfältige Aspekte persönlicher "Selbstverwirklichungspläne", die hier nicht umfassend erörtert werden können. Daher werden lediglich einige Akzente gesetzt, die die Bandbreite dieser Motivlagen aufzeigen sollen. Anstoß für die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger geben häufig familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen (Netzwerke) in die Türkei, die seit der Kindheit durch Familienurlaube gepflegt wurden. Dadurch entsteht auch das Gefühl, mit dem Leben in der Türkei bereits vertraut zu sein. Gefestigt wird es teilweise auch durch Studienaufenthalte in der Türkei (Auslandsemester). Damit bestätigen sich Ergebnisse der jüngeren Migrationsforschung, wonach Netzwerke, also soziale Kontakte ins Zielland sowie Vorerfahrungen im Ausland, beispielsweise in Form von Studienaufenthalten, Abwanderungsentscheidungen begünstigen. Das Gefühl, mit dem Leben in der Türkei bereits vertraut zu sein, entsteht auch dadurch, dass viele der Abwanderer die Türkei nicht als Ausland betrachten, sondern sich diesem Land heimatlich verbunden fühlen. Im Gegensatz zur TASD-Studie, die "fehlendes Heimatgefühl in Deutschland" als einen der Hauptabwanderungsgründe ausmacht, weisen die Studien von Aydın/Pusch, Hanewinkel und Sievers et al. auf eine Doppelorientierung der hochqualifizierten Abwanderer türkischer Herkunft hin. Demnach sehen die Befragten nicht entweder Deutschland oder die Türkei als ihre Heimat an, sondern verstehen beide Länder als solche. Über soziale Netzwerke und Medien, aber auch die physische Bewegung selbst (Urlaube, Studienaufenthalte etc.) werden Beziehungen in beide Länder hinein gepflegt. Gestärkt wird ihr Bezug zur Türkei auch durch die eigenen Eltern, die oft als "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen. Die Mehrzahl der von Hanewinkel befragten Migrantinnen türkischer Herkunft berichtet davon, in der Kindheit und Jugend durch den Wunsch der Eltern nach einer Rückkehr in die Türkei geprägt worden zu sein. Dieser sei daran sichtbar geworden, dass die Familie symbolisch immer "auf dem Sprung" gelebt habe: "Zu Hause wurde nur türkisches Fernsehen gehört, es wurden nur türkische Zeitungen gelesen […] alle Pläne meiner Eltern bezogen sich auf die Türkei. Wir haben in Deutschland sehr spartanisch gelebt. Wir haben zum Beispiel nie neue Möbel gekauft. Immer benutzte Möbel, weil wir eh weg wollten. Das war 30 Jahre so, wir wollten 30 Jahre weg und haben keine Möbel gekauft." Für eine Befragte symbolisiert der Erwerb eines eigenen Hauses schließlich das Eingeständnis, dass der "Traum von der Rückkehr geplatzt" sei. Sie sieht sich selbst als älteste Tochter in der Verantwortung, den Traum ihrer Eltern doch noch in die Realität umzusetzen, der mit der Zeit auch zu ihrem eigenen Wunsch gereift sei. Ob und inwieweit die Remigration ehemaliger "Gastarbeiter", die oft im Rentenalter erfolgt , sich auf die Abwanderung der Nachfahren in die Türkei auswirkt bzw. inwieweit auch eine Abwanderung der zweiten Migrantengeneration zu einer Rückkehr der Eltern ins Heimatland beitragen kann, ist ungeklärt. Hanewinkels Untersuchungen legen nahe, dass eine Beeinflussung in beide Richtungen denkbar ist. Eine ihrer Befragten verlegte ihren Lebensmittelpunkt in die Türkei, da ihre Eltern nach einem langjährigen Aufenthalt in Deutschland dorthin zurückgekehrt waren. Eine andere Befragte schilderte, dass ihre eigene Migration in die Türkei ihre Eltern dazu veranlasste, lange gehegte Rückkehrpläne in die Tat umzusetzen. Da deren Kinder in Deutschland und in der Türkei leben, pendeln sie nun zwischen diesen beiden Ländern hin und her. Neben familiären Bezügen in die Türkei kann auch eine Partnerschaft oder Heirat mit einer in der Türkei lebenden Person zu einer Abwanderung aus Deutschland führen, sofern sich eine Beziehung z.B. aufgrund der Berufstätigkeit des Partners in der Türkei besser realisieren zu lassen scheint als in Deutschland. Die Attraktivität Istanbuls mit seinen vielfältigen Lebensstilen stellt einen weiteren emotionalen Grund für die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger in die Türkei dar. Facettenreiche Kultur- und Unterhaltungsangebote, die "kulturelle" Vielfalt der Bevölkerung, aber auch die wirtschaftliche Aufbruchstimmung in der Bosporus-Metropole wirken attrahierend. Im Vordergrund steht bei den Abwanderern nicht zwangsläufig der Wunsch nach einem Leben im Heimatland der Eltern, der Türkei, sondern ausdrücklich der Wunsch nach einem Leben in Istanbul: "Istanbul war für mich immer eine Traumstadt. […] Also es war die Stadt eher, also Türkei jetzt nicht im Vordergrund unbedingt, es war erst Istanbul und DANN die Türkei vielleicht, also in Klammern die Türkei eher." Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Die Abwanderung hochqualifizierter türkeistämmiger deutscher Staatsangehöriger in die Türkei". Liljeberg/INFO (2011, S. 33). Vgl. dazu auch Rebeggiani (2011). Ette/Sauer (2011). Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass mehr hochqualifizierte Deutsche aus dem Ausland wieder zurückkehren als Abwanderer ohne akademischen Abschluss (Ette/Sauer 2010a, S. 8). Demnach sind Akademiker insgesamt mobiler als Personen ohne Hochschulabschluss. Sezer/Dağlar (2009, S. 17). OECD (2005, S. 52 f.). Vgl. OECD (2005, S. 22). Sezer/Dağlar (2009, S. 7). Sievers et al. (2010, S. 65). Sievers et al. (2010, S. 71). Honneth/Stojanov (2006). Vgl. Pusch/Aydın (2011), Hanewinkel (2010). http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Tuerkei/Wirtschaft_node.html (Zugriff: 28.12.2011). http://www.focus.de/finanzen/news/konjunktur/wirtschaftswachstum-tuerkei-ist-das-neue-china_aid_664402.html (Zugriff: 28.12.2011). http://www.focus.de/finanzen/finanz-news/deutschland-wirtschaftswachstum-geht-weiter-0-5-prozent-im-letzten-quartal_aid_684474.html (Zugriff: 28.12.2011). Sezer/Dağlar (2009, S. 21). Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010). http://www.presseportal.de/pm/66526/1580155/hay_group (Zugriff: 28.12.2011). http://www.euractiv.de/druck-version/artikel/bankensektor-mit-topchancen-fr-trkinnen-003806 (Zugriff: 15.02.2012). Böhm et al. (2011, S. 1) und http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Tuerkei/Wirtschaft_node.html (Zugriff: 28.12.2011). Hanewinkel (2010). Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010). Hanewinkel (2010). Cost of Living Survey 2011 der Consulting Agentur Mercer: http://www.mercer.com/press-releases/1420615 (Zugriff: 4.1.2012): Istanbul liegt im weltweiten Städtevergleich auf Platz 70 (im Vorjahr: Platz 44) der teuersten Städte der Welt. Frankfurt a.M. schafft es als höchstplatzierte deutsche Stadt auf Platz 73 und liegt damit hinter der Bosporusmetropole. Beispielsweise belegten 2007 zwei Sondererhebungen für die Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) zur Abwanderungsbereitschaft und tatsächlichen Abwanderung von Deutschen, dass rund zwei Drittel der Befragten mit ernsthaften Abwanderungsgedanken und -plänen regelmäßig Kontakte in das potenzielle Zielland ihrer Auswanderung pflegten. Auch Vorerfahrungen mit Auslandsaufenthalten z.B. im Studium erhöhen die Abwanderungsbereitschaft und tragen zum Aufbau sozialer Netzwerke außerhalb Deutschlands bei (Diehl et al. 2008). Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010). Erlinghagen et al. (2009). Sievers et al.(2010), Hanewinkel (2010). Aydın/Pusch (2011), Hanewinkel (2010), Sievers et al. (2010). Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-20T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/132825/motive/
Nach Motiven für eine geplante Rückkehr in die Türkei wird in der Studie des Liljeberg- und des INFO-Institutes nicht explizit gefragt. Die Befragten werden lediglich um eine Stellungnahme zu folgender Aussage gebeten: "In der Türkei hätte ich gute C
[ "Hochqualifizierte Kräfte", "Hochqualifizierte", "Fachkräfteabwanderung", "Deutschland", "Türkei" ]
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Unterbeschäftigung | Europa | bpb.de
Die Unterbeschäftigung gehört neben der Arbeitslosigkeit zu den größten sozialen Problemen der Europäischen Union. Neben den knapp 19 Millionen Arbeitslosen wollten im Jahr 2017 neun Millionen Teilzeitbeschäftigte gern mehr Stunden arbeiten – fast jede fünfte teilzeitbeschäftigte Person. Hinzu kommen 10,4 Millionen Personen der sogenannten Stillen Reserve (beispielsweise Personen, die sich entmutigt von der Suche auf dem Arbeitsmarkt zurückgezogen haben). Bezogen auf die Erwerbspersonen der EU-28 entsprach die Stille Reserve einem zusätzlichen Erwerbspersonen-Potential von 4,2 Prozent. Jedoch variiert dieser Prozentsatz erheblich. 2017 reichte er von 0,9 Prozent in Malta und Tschechien bis 12,1 Prozent in Italien (Deutschland: 2,3 Prozent). Fakten Zur Beurteilung der Arbeitsmarktsituation sollte neben der Arbeitslosigkeit auch die Unterbeschäftigung betrachtet werden. Im Jahr 2017 waren in den 28 EU-Mitgliedstaaten 45,7 Millionen Personen teilzeitbeschäftigt – fast drei Viertel davon Frauen (73,6 Prozent). Nach Angaben von Eurostat würde rund ein Fünftel aller Teilzeitbeschäftigten (19,6 Prozent) gern mehr Stunden arbeiten und wäre dafür auch verfügbar. Damit gilt dieser Personenkreis als unterbeschäftigt. Der Anteil der teilzeitbeschäftigten Männer, die 2017 unterbeschäftigt waren, lag bei 25,4 Prozent (3,1 Mio. Personen) und der entsprechende Anteil der Frauen bei 17,5 Prozent (5,9 Mio. Personen). Die höchsten Anteile von teilzeitbeschäftigten Personen, die den Wunsch haben, mehr Stunden zu arbeiten und dafür auch verfügbar wären, fanden sich im Jahr 2017 in Griechenland (70,6 Prozent), Zypern (62,2 Prozent), Spanien (48,3 Prozent) und Portugal (41,3). Aber auch in Lettland, der Slowakei, Kroatien und Bulgarien lag der Anteil bei mehr als einem Drittel. Diesen Staaten ist gemeinsam, dass die jeweilige Teilzeitquote – also der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an allen Beschäftigten – bei 15 Prozent oder weniger lag (bei fünf der acht Staaten lag die Quote sogar unter 10 Prozent). Am niedrigsten war der Anteil von teilzeitbeschäftigten Personen, die den Wunsch haben, mehr Stunden zu arbeiten und dafür auch verfügbar wären, im Jahr 2017 in Tschechien (5,9 Prozent), Estland (7,0 Prozent), den Niederlanden (10,4 Prozent), Malta (10,8 Prozent) und Luxemburg (11,2 Prozent). Darauf folgte Deutschland, wo 1,4 der 11,6 Millionen Teilzeitbeschäftigten gern mehr Stunden arbeiten würden und ihrerseits auch könnten (11,8 Prozent). Neben den unterbeschäftigten Teilzeitbeschäftigten zählt Eurostat auch die "Stille Reserve" zu den Unterbeschäftigten. Die Stille Reserve, also das Potential an zusätzlichen Erwerbspersonen, bestand 2017 aus 2,3 Millionen 15- bis unter 75-jährigen Personen, die Arbeit suchen, jedoch dem Arbeitsmarkt nicht kurzfristig zur Verfügung stehen (beispielsweise Studierende, die einen Arbeitsplatz für die Zeit nach ihrem Abschluss suchen) und 8,1 Millionen Personen, die für eine Arbeit verfügbar sind, jedoch nicht nach Arbeit suchen (beispielsweise Personen, die sich entmutigt von der Suche auf dem Arbeitsmarkt zurückgezogen haben). Laut Eurostat handelt es sich bei beiden Gruppen um Nichterwerbspersonen, die trotzdem eine "gewisse Bindung an den Arbeitsmarkt" haben. Zusammengenommen bildeten diese zwei Gruppen 2017 eine Stille Reserve von 10,4 Millionen Personen. Bezogen auf die Erwerbspersonen der EU-28 entsprach das einem zusätzlichen Erwerbspersonen-Potential von 4,2 Prozent. Zwischen den Mitgliedstaaten variiert dieser Prozentsatz erheblich und reichte 2017 von 0,9 Prozent in Malta und Tschechien bis 12,1 Prozent in Italien (Deutschland: 2,3 Prozent). Dabei umfasste die Stille Reserve in allen EU-Mitgliedstaaten außer in Schweden in erster Linie Personen, die für eine Arbeit zur Verfügung standen, aber keine Arbeit suchten. Außer in Litauen, Bulgarien, Österreich, Dänemark und Finnland sowie in Deutschland und Slowenien, wo die Werte zwischen 44,4 und 50,0 Prozent lagen, stellten Frauen in allen EU-Mitgliedstaaten den größten Anteil an der Stillen Reserve. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Erwerbstätige sind alle Personen im Alter von mindestens 15 Jahren, die in der Bezugswoche (der EU-Arbeitskräfteerhebung) gegen Entgelt oder zur Gewinnerzielung mindestens eine Stunde gearbeitet haben sowie alle Personen, die nur vorübergehend von ihrer Arbeit abwesend sind (zum Beispiel aufgrund von Krankheit, Urlaub, Streik, Aus- oder Weiterbildungsmaßnahmen). Die Erwerbsbevölkerung (auch Erwerbspersonen) setzt sich aus den Erwerbstätigen und den Arbeitslosen zusammen. In der Arbeitskräfteerhebung basiert die Unterscheidung zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung generell auf den Eigenangaben der Befragten. Davon abweichend ist in den Niederlanden und Island festgelegt, dass eine übliche Arbeitszeit von weniger als 35 Stunden als Teilzeitbeschäftigung gilt. In Schweden gilt diese Definition für Selbständige. In Norwegen werden lediglich die Beschäftigten, die zwischen 32 und 36 Stunden arbeiten, um eine Eigenangabe gebeten. Personen, die Arbeit suchen, jedoch dem Arbeitsmarkt nicht kurzfristig zur Verfügung stehen, sind Personen im Alter von 15 bis unter 75 Jahren, die weder erwerbstätig noch erwerbslos sind und die in den vergangenen 4 Wochen aktiv nach Arbeit gesucht haben, jedoch in den nächsten 2 Wochen keine Arbeit aufnehmen können. Zur Vervollständigung umfasst diese Kategorie ebenfalls drei kleinere Personengruppen: diejenigen, die eine Arbeit gefunden haben, welche sie in weniger als 3 Monaten aufnehmen werden, und in den nächsten 2 Wochen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen;diejenigen, die eine Arbeit gefunden haben und diese in 3 Monaten oder später aufnehmen werden sowiediejenigen, die in den letzten 4 Wochen passiv Arbeit gesucht haben und in den nächsten 2 Wochen eine Arbeit aufnehmen könnten. Passive Arbeitssuche liegt beispielsweise vor, wenn auf das Ergebnis eines Vorstellungsgespräches gewartet wird. Personen, die für eine Arbeit verfügbar sind, jedoch nicht nach Arbeit suchen, sind Personen im Alter von 15 bis unter 75 Jahren, die weder erwerbstätig noch erwerbslos sind und die arbeiten wollen, in den nächsten 2 Wochen eine Arbeit aufnehmen könnten, jedoch nicht nach Arbeit suchen. Hierbei handelt es sich zum Beispiel um Personen, die sich entmutigt von der Suche auf dem Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, weil sie nach langer Arbeitslosigkeit keinen Arbeitsplatz gefunden haben. Quellen / Literatur Eurostat: Online-Datenbank: Full-time and part-time employment, Supplementary indicators to unemployment (Stand: 04/2018) Eurostat: Online-Datenbank: Full-time and part-time employment, Supplementary indicators to unemployment (Stand: 04/2018)
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"2022-01-14T00:00:00"
"2012-02-29T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/70602/unterbeschaeftigung/
Im Jahr 2017 wollten neun Millionen Teilzeitbeschäftigte gern mehr Stunden arbeiten. Hinzu kommen weitere 10,4 Millionen Unterbeschäftigte ("Stille Reserve").
[ "Unterbeschaeftigung", "Erwerbstätigkeit", "Stille Reserve", "Teilzeitbeschäftigte", "Teilzeitbeschäftigung", "Zahlen und Fakten", "Europa", "EU", "EU-28", "EU-27" ]
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Zeitliche Entwicklung und regionale Unterschiede | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de
Die Reichtumsquote in Deutschland ist laut Mikrozensus − gemessen an der Schwelle von 200 Prozent des mittleren (Median)Nettoäquivalenzeinkommens − von 7,7 Prozent im Jahr 2005 auf 8,2 Prozent im Jahr 2013 zunächst angestiegen, bis 2016 gleich hoch geblieben und dann bis 2019 auf 7,9 Prozent gefallen. (vgl. "Einkommensreichtumsquote 2005 bis 2019"). Auch in Westdeutschland zeigt sich dieser Verlauf. In Ostdeutschland schwanken die Werte etwas mehr. Die Quote ist dort im Zeitraum 2005 bis 2019 von 6,1 auf 6,8 Prozent angestiegen. Das bedeutet, dass der Anteil der so definierten Reichen im Osten marginal stärker angestiegen ist, aber immer noch − unter Verwendung des regionalen Medians wie des Bundesmedians − unterhalb der westdeutschen Quote liegt. Bei Verwendung des Bundesmedians würden die Werte für 2005 in Westdeutschland 8,8 bzw. 8,6 Prozent in 2019 und in Ostdeutschland 3,9 bzw. 5,0 Prozent in 2019 betragen. Der Angleichungsprozess des Ostens an die westdeutschen Verhältnisse schreitet in dieser Hinsicht ganz langsam fort. Bemerkenswert ist, dass die Reichtumsquoten im Vergleich zu den Armutsquoten von Jahr zu Jahr weniger schwanken. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse auch in Krisenzeiten bei den hier relevanten Personen höher ist als im Bereich des unteren Endes der Einkommenshierarchie. Auf der Ebene der Bundesländer ist die Streuung der Reichtumsquoten 2019 etwas größer, mit einem leichten Anstieg seit 2005 in fast allen Bundesländern. Die höchste Reichtumsquote verzeichnet im Jahr 2019 gemessen am Bundesmedian mit 10,9 Prozent Hamburg vor Hessen (10,3 %), Baden-Württemberg und Bayern (9,9 bzw. 9,8 %). Die niedrigsten Quoten finden sich in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern mit 3,1 bzw. 3,6 Prozent, gefolgt von Thüringen und Sachsen (3,7 und 3,8 %). Bei Verwendung des Landesmedians ergeben sich deutlich andere Werte und eine andere Reihenfolge. Im Jahr 2019 verzeichnen Hessen und Berlin die höchsten Reichtumsquoten (9,7 bzw. 9,3 %), gefolgt von Bremen und Hamburg (9,2 bzw. 8,9 %). Am geringsten sind die Werte in Thüringen und Sachsen (5,5 bzw. 5,6 %) und in Mecklenburg-Vorpommern sowie Sachsen-Anhalt mit je 6,1 Prozent (vgl. "Einkommensreichtumsquoten 2019 nach Bundesländern"). Es lassen sich einige, auch über die Jahre hinweg betrachtet stabile Muster gruppenspezifischer Unterschiede bei den Einkommensreichtumsquoten identifizieren, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Frauen haben deutschlandweit eine geringere Einkommensreichtumsquote als Männer. Im Kernerwerbsalter (25 bis 65 Jahre) ist diese Quote höher und bei den unter 18- bzw. über 65-Jährigen geringer als der Durchschnitt. Bei letzteren ist das in Ostdeutschland besonders ausgeprägt. Einpersonenhaushalte haben die geringsten Anteile. Ist die Haupteinkommensbeziehende Person verwitwet, so ist die Einkommensreichtumsquote geringer als bei Geschiedenen und als bei Verheirateten. Die Personen aus Haushalten mit einer in Vollzeit haupterwerbstätigen Person haben den höchsten Anteil, gefolgt von Haushalten Teilzeitbeschäftigter bzw. Nichterwerbstätiger. In West- wie Ostdeutschland ist die Einkommensreichtumsquote von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit bzw. Personen ohne Migrationshintergrund höher als bei Ausländern bzw. Personen mit Migrationshintergrund. Wohlgemerkt: Einkommensreichtum ist – vgl. oben – mit der recht niedrigen Grenze von 200 Prozent des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen definiert. Wirklicher "Reichtum" ist etwas anderes!
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"2022-01-26T00:00:00"
"2016-11-16T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/237447/zeitliche-entwicklung-und-regionale-unterschiede/
Deutschlandweit steigt die Reichtumsquote langsam, aber beinahe stetig an. Der Anteil der Reichen an der Bevölkerung ist in Westdeutschland höher als in Ostdeutschland. Allerdings nähert sich der Osten dem Westen diesbezüglich und auch in der gruppen
[ "Reichtumsquoten", "Reichtum", "Einkommen", "Entwicklung" ]
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Baustein 1: Demoskopie und Wahlumfragen | Wahlen nach Zahlen | bpb.de
Insbesondere vor Wahlen wie der kommenden Bundestagswahl 2021 sind Wahlumfragen in den Medien omnipräsent und spätestens seit den fehlerhaften Prognosen zum Brexit-Referendum und der US-Präsidentschaftswahl 2016 ist offensichtlich: Wahlumfragen bilden nicht nur die Meinung der befragten Personen ab, sondern üben ihrerseits Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Parteien sowie Kandidatinnen und Kandidaten und das eigene Wahlverhalten aus. Aus diesem Grund widmet sich dieser Baustein der Demoskopie und ihrer Bedeutung für die politische Meinungsbildung in einer Demokratie. Leitfragen Welche Rolle spielen Wahlumfragen für die politische Meinungsbildung? Welche Bedeutung haben Umfragen in einer Demokratie? Lernziele Inhaltlich Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten und erklären den Einsatz und Funktionsweise von Wahlumfragen können zwischen Wahlumfrage, Sonntagsfrage, Hochrechnung und Prognose unterscheiden können Begriffe wie Repräsentativität oder Stichprobe erklären kennen die historische Entwicklung der Demoskopie sind in der Lage, den Einfluss von Wahlumfragen auf die politische Meinungsbildung (nicht nur) für die Bundestagswahl 2021 einzuschätzen. Methodisch Die Schülerinnen und Schüler können Schaubilder (Diagramme) lesen und analysieren können die Repräsentativität von Umfragen einschätzen erschließen sich Wissen aus der Rezeption verschiedener medialer Formate (Text, Schaubild, Podcast). Planungshinweise und didaktische Idee des Bausteins Die Unterrichtsmaterialien teilen sich in vier einzelne Lerneinheiten, die zeitlich jeweils eine Unterrichtsstunde umfassen (45 Minuten) und sich modular auch zu Doppelstunden kombinieren lassen (z.B. B 01.04 + B 01.02 oder B 01.04 und B 01.03). Die Lerneinheit B 01.01. umfasst den zeitlichen Rahmen einer Doppelstunde (90 min). Lerneinheit B 01.01: Die Rolle von Umfragen für die Demokratie (90 min) Die erste Lerneinheit fokussiert die Rolle von Umfragen für die (politische) Meinungsbildung. Der Einstieg dient einer ersten Reflexion nach welchen Kriterien und Einflüssen die Lernenden Entscheidungen fällen. Als lebensweltlicher Bezug wird hier die Auswahl eines DJs für die Abschlussfeier herangezogen. Über ein angeleitetes Brainstorming (s. Interner Link: Info 01.01.01) werden die Lernenden an das Thema Wahlumfragen herangeführt und übertragen Erkenntnisse aus dem Bereich Meinungsbildung und Meinungsumfragen auf die Demoskopie. Mithilfe eines Podcast zum Themenfeld erarbeiten sie sich erste Kenntnisse zur Rolle von Wahlumfragen für die Demokratie. Ziel ist es, die Lernenden für den Einfluss von Wahlumfragen zu sensibilisieren. Konkrete psychologische Phänomene werden in Lerneinheit B 01.02 explizit thematisiert. Um die Lernenden als Einstieg grundsätzlich für Dynamiken der Entscheidungsfindungen zu sensibilisieren, diskutieren die Lernenden anhand welcher Kriterien sie die Auswahl eines DJs für eine kommende Feier treffen würden (Interner Link: M 01.01.01). So sollen Lernenden auf Meinungsumfragen in ihrem Alltag aufmerksam gemacht werden. Auf einer gesonderten Handreichung finden sich detaillierte Hinweise zum Vorgehen für Lehrkräfte (Interner Link: Info 01.01.01). Ausgehend von diesen Erkenntnissen erarbeiten sich die Lernenden die Rolle von Umfragen für die Demokratie mithilfe der Podcasts (Interner Link: M 01.01.02), zu denen auch ein Transkript (Interner Link: Info 01.01.02) zur Verfügung steht. Die Aufgaben sind als Gruppenpuzzle konzipiert, sodass die Lernenden sich einzelne Aspekte zu Wahlumfragen erarbeiten und dann das Fachwissen angeleitet zusammentragen. Anschließend bearbeiten die Lernenden ein Arbeitsblatt zu den verschiedenen Umfragetypen (Interner Link: M 01.01.03). Als Sicherung diskutieren die Lernenden im Plenum gemeinsam, welche Rolle Meinungsumfragen für den Wahlkampf spielen. Die Ergebnisse können in einer Mind-Map festgehalten werden (Vorschläge für digitale Mindmap-Tools finden sich unter Interner Link: Mind-Map Tools, bpb). Lerneinheit B 01.02: Der Einfluss von Umfragen auf die Meinungsbildung (45 min) In der zweiten Lerneinheit erarbeiten sich die Lernenden mithilfe von zwei Arbeitsmaterialien die psychologischen Effekte von Wahlumfragen. Sie lernen dabei den Einfluss von Wahlumfragen auf die grundsätzliche Wahlabsicht sowie auf die Parteipräferenz kennen. Als Einstieg wird zunächst gemeinsam das Externer Link: Video „Wie Umfragen die Wahl beeinflussen“ von der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim geschaut. In diesem zeigt sie am Beispiel der Bundestagswahl 2017 drei verschiedene psychologische Effekte zum Einfluss von Umfragen auf die Wahl. Anschließend wird mit der Lerngruppe unter Anleitung der Lehrkraft ein gemeinsames Brainstorming zu möglichen Faktoren, die das Wahlverhalten beeinflussen können, durchgeführt. Die Ideen dazu werden in einer Mindmap gesammelt, beispielsweise auf der Tafel, einer Flipchart oder dem Whiteboard. Vorschläge für digitale Mindmap-Tools finden sich unter Interner Link: Mind-Map Tools, bpb. In der Erarbeitungsphase bearbeiten die Lernenden zwei Arbeitsblätter (Interner Link: M 01.02.01 und Interner Link: M 01.02.02) zu den psychologischen Effekten von Umfragen und deren Einfluss auf die Wahlentscheidung. Das erste Arbeitsblatt (Interner Link: M 01.02.01 Psychologische Effekte A). konzentriert sich auf die Effekte von Wahlumfragen auf die Wahlabsicht und somit auf die Wahlbeteiligung und die generelle Motivation zur Wahl zu gehen. Das zweite Arbeitsblatt (Interner Link: M 01.02.02 Psychologische Effekte B) nimmt den Einfluss auf die Wahlentscheidung, also auf die Parteipräferenz unter die Lupe. Zu dem zweiten Arbeitsblatt finden sich für Lehrkräfte weiterführende Hinweise zu Lösungsvorschlägen (Interner Link: Info 01.02). Zur Sicherung werden die Erkenntnisse im Plenum besprochen und mit den Ideen aus der Einstiegs-Mindmap abgeglichen. Lerneinheit B 01.03: Die historische Entwicklung der Demoskopie (45 min) In der dritten Lerneinheit wird die historische Entwicklung der Demoskopie thematisiert. Ausgehend von eigenen Annahmen zur Entstehung von Meinungsumfragen sammeln die Lernenden erstes Hintergrundwissen mithilfe eines Darstellungstextes. Danach erarbeiten sie sich die kausalen und zeitlichen Zusammenhänge der historischen Entwicklung der Demoskopie anhand aktivierender Übungen mit einem Zeitstrahl. Zum Einstieg formulieren die Lernenden eigene Annahmen über den Nutzen und die Entstehung von Meinungsumfragen. Die einzelnen Ideen werden an der Tafel gesammelt und ggf. geclustert, beispielsweise analog auf Tafel, Flipchart oder Whiteboard oder digital mit z.B. Wortwolken und ähnlichem. Eine Übersicht mit Vorschlägen für digitalen Brainstorming-Tools findet sich unter Interner Link: Brainstorming und Umfragen im Unterricht (bpb.de). Im Anschluss lesen die Lernenden den kurzen Darstellungstext (Interner Link: M 01.03.01) zur Demoskopie und überlegen im Zweierteam, wo ihnen Meinungsumfragen im Alltag begegnen, sofern dies nicht schon im Einstieg erfolgt ist. Dieses Vorwissen dient als Ausgangspunkt für die gemeinsame Erarbeitung der historischen Entwicklung der Demoskopie mithilfe eines Zeitstrahls. Dabei werden verschiedenen Aufgaben und Materialien je nach Anforderungsbereich und Zielsetzung angeboten (Interner Link: M 01.03.02 und Interner Link: M 01.03.03). Die Aufgaben sind dialogisch und dynamisch als Gruppenarbeit gestaltet. Die Lernenden werden angeleitet, sich einzelne Entwicklungsschritte über Hilfekarten zu erarbeiten. Auf einer gesonderten Handreichung finden sich detaillierte Hinweise zum Vorgehen für Lehrkräfte (Interner Link: Info M 01.03). Die Sicherung kann mithilfe eines Externer Link: Quiz zur Funktion und Entwicklung von Wahlumfragen erfolgen. Das Quiz kann sowohl im Plenum als auch im Zweierteam durchgeführt werden. Lerneinheit B 01.04: Analyse und Auswertung einer Wahlumfrage (45 min) In der vierten Lerneinheit analysieren die Lernenden das Ergebnis einer Wahlumfrage in Form eines Diagramms. Angeleitet werden die Lernenden durch einen konkreten Analyseleitfaden (Einordnen – Beschreiben – Bewerten). Da Wahlumfragen immer nur ein punktuelles Stimmungsbild aufzeigen, wurde an dieser Stelle auf ein fiktives und damit neutrales Diagramm einer konstruierten Wahlumfrage zurückgegriffen. Es bietet sich jedoch an, je nach Lerngruppe und Zeitpunkt vor der Wahl stattdessen ein reales Beispiel für die Analyse anzubieten und dabei auch zu diskutieren, dass es sich um punktuelles Stimmungsbild in der Bevölkerung handelt, welches sich schnell ändern kann. Karikatur zu Demoskopie (© Jan Tomaschoff) Als Einstieg in die Lerneinheit dient eine Interner Link: Karikatur, die die Genauigkeit und Zuverlässigkeit von Wahlumfragen thematisiert. Die Karikatur bzw. das Thema Wahlumfragen kann mit einem kurzen Blitzlicht zur Frage „Was wird mit der Karikatur thematisiert?“ in den Blick genommen werden. Im Anschluss sollen die Lernenden angeleitet durch einen Analyseleitfaden (Interner Link: M 01.04.01) ein Diagramm zu einer Wahlumfrage auswerten. Die Ergebnisse werden anschließend gemeinsam im Plenum diskutiert. Eine tabellarische Übersicht der didaktischen Planungsweise steht als Interner Link: PDF zur Verfügung. Karikatur zu Demoskopie (© Jan Tomaschoff)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-01-17T00:00:00"
"2021-07-09T00:00:00"
"2023-01-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/wahlen-nach-zahlen/336388/baustein-1-demoskopie-und-wahlumfragen/
Dieser Baustein behandelt die Demoskopie und ihre Bedeutung für die politische Meinungsbildung in Demokratien hinsichtlich Einsatzes, Funktionsweise und Einfluss auf Wahrnehmungen und Wahlverhalten.
[ "Bundestagswahl 2021", "Demoskopie", "Wahlumfragen" ]
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Wie robust ist das Grundgesetz? | Grundgesetz | bpb.de
Wer an der geltenden deutschen Verfassung etwas verändern will, braucht eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das ist die erste und effektivste Antwort des Grundgesetzes auf die Frage nach seiner Robustheit. Die Verfassung verleiht der demokratisch gewählten Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit die Legitimation, Recht und Gesetz nach ihrem Willen zu verändern, aber es entzieht ihr dieselbe im gleichen Atemzug dort, wo es um sie selber geht. Zum Ändern der Verfassung kann man sich nicht wählen lassen. Dafür braucht der Wahlsieger eine Zweidrittelmehrheit, sprich: normalerweise die Mithilfe der im politischen Wettbewerb unterlegenen und damit zur Machtausübung gerade nicht legitimierten Opposition. Mit dieser Differenzierung zwischen dem Regelfall des gewöhnlichen, der Macht der Mehrheit unterworfenen Rechts und dem Sonderfall des einer Supermajorität vorbehaltenen Verfassungsrechts bringt das Grundgesetz sich selbst in Sicherheit vor den Mühlsteinen der politischen Auseinandersetzung um Mehrheit oder Minderheit. Die Verfassung schützt sich damit davor, in einer Paradoxieschleife zu landen: Sie ermächtigt die Mehrheit, ohne sich ihr auszuliefern. Damit macht sie sich robust für den politischen Normalbetrieb. Das Paradoxieproblem wird in den Extrem- und Ausnahmefall eines Fundamentalangriffs auf die "freiheitliche demokratische Grundordnung" abgedrängt, für den das Grundgesetz Instrumente der sogenannten wehrhaften Demokratie wie Ewigkeitsklausel, Parteiverbot und Verwirkung von Grundrechten parat hält, die allesamt selten oder nie praktisch werden und daher in ihrer Paradoxie aushaltbar erscheinen. Die Robustheit des Grundgesetzes wird dann zuvörderst oder gar nur noch in der Begegnung mit seinen erklärten Feinden zum Problem, musterhaft verkörpert im Nationalsozialismus und im Kommunismus als dem Anderen, mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes existenziell Unvereinbaren. In diesem Spannungsfeld spielte sich, vom SRP- und KPD-Verbot bis zu den Debatten um Notstandsgesetze, RAF-Terror und Radikalenerlass, ein nicht geringer Teil der bisherigen Verfassungsgeschichte der alten Bundesrepublik ab. Wahlsieg ist kein Verfassungsänderungsmandat Im achten Jahrzehnt der Geltungsdauer des Grundgesetzes ist diese Lösung, zwischen politischer Gegnerschaft und Verfassungsfeindschaft zu differenzieren und das eine zu ermöglichen und das andere auszuschließen, indessen prekär geworden, und zwar auf beiden Seiten. Auf der Ebene des Verfassungsschutzes haben das gescheiterte Verbot der verfassungsfeindlichen, aber zur Verfassungswidrigkeit zu schwachen NPD sowie das eklatante Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der Neonazi-Terrororganisation NSU offengelegt, wie wenig auf die Instrumente der wehrhaften Demokratie mitunter Verlass ist, wenn die an sie gerichtete Erwartung, die Robustheit der liberalen demokratischen Verfassung in der Konfrontation mit existenzieller Feindschaft sicherzustellen, tatsächlich einmal praktisch wird. Weniger offen zutage liegt dagegen der Befund, dass auch auf der Ebene der regulären politischen Auseinandersetzung Anlass zur Beunruhigung über die Robustheit des Grundgesetzes besteht. Er zeigt sich, wenn man den Blick über den Geltungsbereich des Grundgesetzes hinaus auf das europäische und außereuropäische Ausland ausweitet. Zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bieten sich hierbei als Studien- und Vergleichsobjekte besonders an: Ungarn und Polen. In Ungarn besitzt als Folge eines sehr speziellen Wahlsystems seit 2010 (mit Unterbrechung) die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da es in Ungarn keine zweite Kammer gibt, ist die Regierungsmehrheit damit gleichermaßen legitimiert, einfache wie verfassungsändernde Gesetze zu erlassen, ohne dabei auf die Opposition irgendeine Rücksicht nehmen zu müssen. Die Regierungsmehrheit hat auf dieser Basis nicht nur zahlreiche Verfassungsänderungen, sondern eine komplett neue, nach ihrem Willen gestaltete Verfassung in Kraft gesetzt, die bis ins Detail auf das Ziel zugeschneidert ist, den Machtverlust der Fidesz-Partei durch eventuelle künftige Mehrheitsverschiebungen möglichst unwahrscheinlich zu machen. In Polen hat dagegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) unter Jarosław Kaczyński mit 38 Prozent der Stimmen zwar 2015 die Wahl gewonnen und eine absolute Mehrheit im Parlament erreicht, aber keine Mehrheit, die zur Änderung der polnischen Verfassung ausgereicht hätte. Diese ist immer noch die gleiche wie vor 2015; kein Buchstabe hat sich geändert. Und trotzdem ist es der Regierungsmehrheit gelungen, die Verfassungsordnung seither in weiten Teilen umzukrempeln und dem Interesse ihres Machterhalts zu unterwerfen. Die Fälle Ungarn und Polen haben gemeinsam, dass die Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Verfassungsänderung systematisch und radikal unterlaufen wird: in Ungarn durch ihre faktische Auflösung, in Polen durch eine auf Dauer gestellte Verfassungskrise. Wie das geschieht und was das für die Robustheit der jeweiligen Verfassung für Folgen hat, lässt sich beispielhaft am Schicksal der Verfassungsinstitution zeigen, die auch im Gefüge des deutschen Grundgesetzes eine Schlüsselrolle einnimmt: das Verfassungsgericht. Der Fall Ungarn In Ungarn begann die Fidesz-Regierung nach ihrem Wahlsieg 2010 früh damit, das bis dahin mächtige und selbstbewusste ungarische Verfassungsgericht zu neutralisieren. Als das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte, mit dem die Fidesz-Regierung Abfindungen für ausgeschiedene Beamtinnen und Beamte mit einer 98-prozentigen Besteuerung rückwirkend wieder einkassieren wollte, entzog sie ihm flugs per Verfassungsänderung weitestgehend die Kompetenz, Steuer- und Haushaltsgesetze überhaupt auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Zuvor schon hatte die Fidesz-Mehrheit die Besetzung der Richterbank ins Visier genommen: Um sie mit eigenen Leuten füllen zu können, änderte sie die Praxis der Richterwahl und erhöhte die Zahl der Richterinnen und Richter von elf auf 15, was Fidesz die Möglichkeit gab, auf einen Schlag sieben neue Richter zu wählen. Die Wahl des Gerichtspräsidiums wurde dem Richterplenum entzogen und ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments und damit der Fidesz-Fraktion überantwortet. Nachdem 2011 die neue, von der Fidesz-Mehrheit allein erarbeitete und beschlossene Verfassung in Kraft getreten war, sorgte Fidesz obendrein dafür, dass die gesamte bisherige Rechtsprechung des Gerichts seit 1989 ihre Bindungswirkung verlor – alle Grundsatzurteile aus der Vor-Fidesz-Zeit waren damit hinfällig. Das ungarische Verfassungsgericht existiert weiter. Es wurde nicht abgeschafft oder ausgeschaltet, wie es etwa dem österreichischen Verfassungsgerichtshof 1933 widerfahren war. Es verhandelt und urteilt bis auf den heutigen Tag still und fleißig vor sich hin und verhilft gelegentlich auch mal Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht, sofern es sich nicht um einen politisch heiklen Fall handelt. Aber es hütet sich, ähnlich wie das russische Verfassungsgericht, dem Willen der Regierungsmehrheit in die Quere zu kommen. Im Gegenteil, bisweilen ist es der Regierung verfassungspolitisch regelrecht zu Diensten: Als Regierungschef Viktor Orbán 2016 versuchte, seinen Abwehrkampf gegen die Aufnahme von Flüchtlingen als Auseinandersetzung zwischen nationaler Selbst- und europäischer Fremdbestimmung zu stilisieren und zu diesem Zweck den Schutz der "Verfassungsidentität" Ungarns gegen die EU in der Verfassung zu verankern, war es das Verfassungsgericht, das ihm nach einem gescheiterten Referendum und einer gescheiterten Verfassungsänderung diesen Wunsch schließlich erfüllte. Im November 2016 urteilte es, dass die Staatsorgane Ungarns keine europarechtliche Verpflichtung anerkennen dürften, die der konstitutionellen Identität Ungarns entgegenstehe, und verschaffte Orbán auf diese Weise die willkommene Möglichkeit, sagen zu können, er dürfe rechtlich nicht, was er politisch nicht wollte. Der Anschein juristischer Korrektheit bleibt gewahrt, und die Regierung kann trotzdem tun, was sie will. Der Fall Polen In Polen blieb die Regierungspartei PiS, anders als die ungarische Fidesz, weit von einer verfassungsändernden Mehrheit entfernt. Trotzdem war die Unterwerfung des Verfassungsgerichts in Polen mindestens ebenso erfolgreich wie in Ungarn. Dabei half zum einen die Tatsache, dass die PiS 2015 nicht nur die Parlamentsmehrheit, sondern wenige Monate zuvor auch das Amt des Präsidenten erobert hatte. Der Präsident nimmt den Verfassungsrichterinnen und -richtern den Amtseid ab, ohne den sie ihr Amt nicht antreten können. Ebenfalls hilfreich war, dass es nicht die PiS, sondern die vormalige Regierungs- und heutige Oppositionspartei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) war, die mit dem Tricksen angefangen hatte: Kurz vor dem absehbaren Machtwechsel änderte sie rasch das Gesetz, das die Besetzung der Verfassungsrichterposten regelt. Das hatte damit zu tun, dass Ende 2015 die Amtszeit von fünf der 15 Richter ablief, also ein ganzes Drittel der Richterbank neu besetzt werden musste. Bei dreien lag der Termin nach der Wahl, aber vor Zusammentritt des neuen Parlaments, also formell noch in der Zuständigkeit der alten Mehrheit. Bei zwei weiteren aber wäre bereits das neu gewählte Parlament zuständig gewesen, also die PiS-Mehrheit. Dennoch besetzte die Bürgerplattform alle fünf Posten selbst. Staatspräsident Andrzej Duda weigerte sich daraufhin, den neuen Richtern den Amtseid abzunehmen – und zwar allen fünfen. Stattdessen wählte das neue Parlament mit den Stimmen der PiS-Koalition fünf andere Verfassungsrichter nach ihrem Geschmack, und diese fünf wurden noch in der gleichen Nacht von Präsident Duda vereidigt. Das Verfassungsgericht wurde angerufen und urteilte, dass in der Tat die Wahl der zwei Richter, deren Amtszeit erst nach Zusammentritt des neuen Parlaments begonnen hatte, verfassungswidrig war – die der anderen drei aber korrekt gewesen sei. Deren Posten waren nun aber schon von den drei von der PiS gewählten Richtern besetzt. Damit gab es drei Richter, die legal gewählt, aber nicht vereidigt waren, und drei Richter, die vereidigt, aber nicht legal gewählt waren. Damit aber nicht genug: Im Dezember änderte die PiS-Mehrheit das Gesetz, das die Verfahrensweise des Verfassungsgerichts regelt. Unter anderem verpflichtete diese Änderung das Gericht, Verfahren künftig strikt in der Reihenfolge ihres Eingangs abzuarbeiten. Die Folge: Alles, was die PiS an neuen Gesetzen erlässt, kann das Gericht erst kontrollieren, wenn der ganze Rückstau von Altverfahren zuvor abgetragen ist – also zu einem Zeitpunkt, an dem die Gesetze zumeist ihre Wirkung bereits längst getan hatten. Das, so das Gericht im März 2016, sei mit dem Verfassungsauftrag an das Verfassungsgericht unvereinbar und das Gesetz somit nichtig. Zwei Dinge machten die Sache aber kompliziert: Zum einen hatte Gerichtspräsident Andrzej Rzepliński den drei vereidigten, aber nicht legal gewählten PiS-Richtern jede Teilnahme an der Urteilstätigkeit verweigert. Zum anderen hatte das Gericht bei der Überprüfung des Gesetzes dieses selbst unangewendet gelassen – denn hätte es auf Basis des neuen Gesetzes verhandelt, hätte es dieses von vornherein praktisch gar nicht überprüfen können. Dies nahm die Regierung zum Anlass, etwas Unerhörtes zu tun: Sie weigerte sich, das Urteil im offiziellen Amtsblatt zu veröffentlichen. Damit war das Urteil offiziell nicht in der Welt. Beides, die Vereidigung der gewählten Richter und die Veröffentlichung gefällter Urteile, hatten bis dato als bloße Formalien gegolten – als rituelle Handlungen, die der Richterwahl beziehungsweise dem Urteilsspruch ihre offiziöse Würde und Gültigkeit geben, aber mit keinerlei rechtlichem oder gar politischem Ermessen verknüpft sind – so die Erwartung. Doch die PiS schuf einfach Fakten. Die PiS besaß keine Macht, die Verfassung zu ändern und die Institution Verfassungsgericht umzugestalten. Aber sie besaß die Macht, der Legitimation des Gerichts sozusagen einen Sprengsatz einzupflanzen und ihn zur Explosion zu bringen: drei Richterposten gleichzeitig doppelt und überhaupt nicht besetzt; die Verfahrensregeln des Gerichts gleichzeitig verfassungswidrig und nicht verfassungswidrig; die Urteile des Gerichts gleichzeitig gesprochen und nicht in der Welt. Ein so mit Paradoxie geimpftes Gericht kann per se schon nicht mehr viel ausrichten. Drei Jahre und zahlreiche weitere Attacken auf die Integrität des Gerichts später ist das einstmals international hoch angesehene polnische Verfassungsgericht heute kaum mehr als ein Schatten seiner selbst. Lektionen für das Grundgesetz In Polen waren weder ein offener Staatsstreich noch eine verfassungsändernde Mehrheit nötig, um eine solch zentrale Institution wie die Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Gefüge der Verfassungsordnung de facto herauszubrechen. Wie robust wäre die deutsche Verfassungsordnung in einem entsprechenden Szenario? Dass es das Bundesverfassungsgericht gibt und in welchen Fällen es aktiv wird, steht direkt im Grundgesetz und ist damit nur mit Zweidrittelmehrheit abänderbar, ebenso dass seine Mitglieder je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Aber alles andere, von den Details der Richterwahl bis zum Verfahren, überlässt die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BVerfGG) legt unter anderem fest, dass das Gericht seinen Sitz in Karlsruhe hat, dass es aus zwei Senaten zu je acht Richtern besteht, dass deren Amtszeit zwölf Jahre und die Altersgrenze 68 beträgt und die Wiederwahl ausgeschlossen ist. Es legt außerdem fest, dass die Richter vom Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. All das entspringt nicht dem Willen des Verfassungsgebers, sondern dem des einfachen Gesetzgebers. Und der kann sich ändern, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern. Er entsteht in der politischen Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheit. Das bedeutet beispielsweise: Eine einfache Mehrheit im Bundestag wäre befugt dazu, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richter einfach aus dem Gesetz zu streichen. Sie könnte die Besetzung der Stellen sich selbst vorbehalten, ohne künftig die Opposition zu beteiligen. Sie könnte auch die Zahl der Richter in den Senaten erhöhen und sich so die Gelegenheit verschaffen, auf einen Schlag eine größere Zahl von Stellen mit eigenen Leuten zu besetzen – ein court packing scheme, wie es Viktor Orbán in Ungarn vorgemacht hat. Schließlich könnte sie die Zahl der Senate von zwei auf drei erhöhen (klagt nicht das Gericht seit Langem über seine zu hohe Arbeitsbelastung?) und sich so erstens die Gelegenheit verschaffen, gleich einen ganzen Senat mit neuen Leuten zu besetzen (die Hälfte davon wäre freilich der Wahl durch den Bundesrat vorbehalten) und zweitens die Geschäftsverteilung zwischen den Senaten auf eine Weise neu zu regeln, die die Gefahr verfassungsgerichtlicher Interventionen beim Umsetzen ihres politischen Programms möglichst minimiert. Die Parlamentsmehrheit könnte aber auch noch auf andere Gedanken kommen. Heute sind im Senat fünf von acht Stimmen notwendig, um ein Gesetz für verfassungswidrig und/oder nichtig zu erklären. Warum nicht aus der absoluten eine Zweidrittelmehrheit machen? Dann müssten schon sechs von acht Senatsmitgliedern der gleichen Meinung sein, um ein Gesetz als verfassungswidrig zu kippen. Eine Sperrminorität von drei Richtern reicht aus, und das Gesetz kommt durch. Das kann sehr nützlich sein, wenn man sich auf verfassungsrechtlich bedenkliches Gelände wagen möchte. Dass der Senat für bestimmte Entscheidungen eine qualifizierte Mehrheit braucht, gibt es bei einigen, selten praktisch werdenden Verfahrensarten schon jetzt, etwa beim Parteiverbotsverfahren oder bei der Präsidentenanklage. Dazu kommt: Dem Bundesverfassungsgericht bei sogenannten normverwerfenden Urteilen eine Zweidrittelmehrheit abzuverlangen, ist eine uralte Forderung nicht zuletzt von Rechtspolitikerinnen und -politikern der CDU. Und warum auch nicht? Bei Verfassungsänderungen besteht man schließlich auch auf einer Zweidrittelmehrheit, warum also nicht auch bei Verfassungsinterpretation mit rechtsverändernder Wirkung? Nun würde das Bundesverfassungsgericht solchen Manipulationen vermutlich nicht tatenlos zuschauen wollen. Wenn die Opposition das Änderungsgesetz per Normenkontrollantrag in Karlsruhe zur Überprüfung vorlegt, könnte das Gericht es für verfassungswidrig und nichtig erklären. Das ist allerdings nicht naheliegend. Denn erstens hat das Gericht den Spielraum des Gesetzgebers, die Verfahrensdetails nach eigenem Gutdünken zu regeln, einst selbst sehr großzügig bestimmt. Zweitens wären manche Änderungen verfassungsgeschichtlich gar nicht unbedingt so vorbildlos, wie man meinen möchte: Bis 1970 betrug beispielsweise die Amtszeit der Richter acht Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl – darauf könnte sich die Parlamentsmehrheit berufen. In den Anfangsjahren vor 1956 betrug die Zahl der Richter pro Senat zwölf statt acht – was ein court packing scheme als bloße Rückkehr zu früheren Zuständen erscheinen ließe. Drittens geriete das Gericht, wenn es Änderungen an seiner eigenen gesetzlichen Verhandlungsgrundlage auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, in das gleiche Dilemma wie einst die Kollegen in Polen: Müssen für dieses Verfahren nicht bereits die neuen Regeln angewandt werden, um deren Verfassungsmäßigkeit es gerade geht? In jedem Fall befände sich das Gericht in der peinlichen Situation, in eigener Sache urteilen zu müssen – was gerade dann, wenn es darum geht, sich der Politisierung durch die Regierungsmehrheit zu erwehren, kaum ohne Autoritätsverlust vonstattenginge. Zugriff auf Wahl-, Parteien- und Parlamentsrecht Ist das Verfassungsgericht als Hindernis erst einmal eliminiert, bliebe nicht mehr allzu viel, was sich dem De-facto-Umbau der Verfassungsordnung durch einfache Parlamentsmehrheit noch in den Weg stellen könnte. Das Bundeswahlgesetz, das Parteiengesetz, die Geschäftsordnung des Bundestages lassen sich sämtlich ebenfalls mit einfacher Mehrheit ändern. Damit hätte die Parlamentsmehrheit Zugriff auf das Wahlsystem, auf die Parteienfinanzierung, auf die parlamentarischen Rechte der Opposition und könnte diese – wiederum nach polnischem und ungarischem Vorbild – in weitem Umfang als Hebel einsetzen, die politische Konkurrenz zu schwächen, zu zersplittern und zu neutralisieren. Ein gewisses Maß an Robustheit würden dem Grundgesetz möglicherweise noch zwei Institutionen verleihen, die eigentlich demokratietheoretisch nicht den besten Ruf genießen: der Bundespräsident und der Föderalismus. Das Staatsoberhaupt hat einem verfassungswidrig zustande gekommenen Gesetz die formelle Ausfertigung und Verkündung zu verweigern. Allerdings sind die Grenzen der verfassungsrechtlichen Prüfungsbefugnis des Bundespräsidenten in höchstem Maße unklar und verfassungspolitisch heikel. Als Hemmschuh beim De-facto-Umbau der Verfassungsordnung könnte sich auch die föderale Verwaltungsexekutive in den Bundesländern erweisen, die über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mitwirkt und deren Existenz es unwahrscheinlicher macht, dass eine politische Kraft das gesamte staatliche Machtgefüge unipolar auf sich ausrichtet, wie es in Ungarn der Fall ist. Und auch dieser Faktor hat eine Kehrseite: Auf Landesebene kann die Exekutivgewalt ihrerseits in die Hände von Kräften fallen, die es mit der liberalen demokratischen Verfassung nicht gut meinen. Schluss Ob das Grundgesetz robust genug wäre, um einem Angriff wie in Polen oder Ungarn standzuhalten, erscheint somit zumindest zweifelhaft. Ließe sich die Robustheit des Grundgesetzes stärken, indem der Spielraum des einfachen zugunsten des verfassungsändernden Gesetzgebers weiter eingeschränkt wird? Es wäre naiv zu glauben, dass das Grundgesetz durch die weitere Konstitutionalisierung politischer Mehrheitsentscheidungen notwendig robuster würde: Denn erstens wird das Funktionieren der demokratischen Verfassung immer davon abhängig bleiben, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am politischen Wettbewerb an konventionelle Fairnessregeln gebunden fühlen, die gerade nicht kodifiziert sind. Und zweitens stärkt jedes Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit umgekehrt dann auch den Hebel einer potenziell autoritären Sperrminorität. Dennoch kann und sollte aus den polnischen und ungarischen Erfahrungen gelernt werden. Das gilt insbesondere und ganz generell für die – verfassungspolitische, nicht verfassungsrechtliche – Frage, nach welchen Kriterien sich eigentlich unterscheidet, was dem verfassungsändernden Gesetzgeber mit Zweidrittelmehrheit und was dem einfachen Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit überlassen sein soll. Wenn man als Gedankenexperiment das polnische Szenario im deutschen Verfassungskontext durchspielt, dann werden die potenziellen Risse im Panzer des Grundgesetzes sichtbar. Besonders eklatant: Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter lässt sich mit einfacher Mehrheit abschaffen. Jedenfalls dieser Schwachpunkt sollte möglichst rasch behoben werden – solange die dafür nötige Zweidrittelmehrheit noch vorhanden ist. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), 2, 1; BVerfGE 5, 85. Vgl. Maximilian Steinbeis/Marion Detjen/Stephan Detjen, Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, München 2008, S. 143ff., 155–194. BVerfGE, 144, 20. Zur Position und Entstehungsgeschichte des ungarischen Verfassungsgerichts sowie zur Vorbildwirkung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vgl. Christian Boulanger, Hüten, richten, gründen: Zur Rolle der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns, Berlin 2013; Kriszta Kovács/Gábor Attila Tóth, Aufstieg und Krise: Wirkung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit auf Ungarn, in: Christian Boulanger/Anna Schulze/Michael Wrase (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, Baden-Baden 2013, S. 317–342. Vgl. Miklós Bánkuti/Gábor Halmai/Kim Lane Scheppele, Hungary’s Illiberal Turn: Disabling the Constitution, in: Journal of Democracy 3/2012, S. 138–147. Vgl. Gábor Halmai, Ungarns Verfassungsgericht: Das Imperium schlägt zurück, 4.2.2013, Externer Link: https://verfassungsblog.de/ungarns-verfassungsgericht-das-imperium-schlagt-zuruck. Zuletzt erklärte im Februar 2019 das Verfassungsgericht das "Stop-Soros-Gesetz", das die Unterstützung von Flüchtlingen unter Strafe stellt, für verfassungsgemäß. Vgl. Viktor Kazai, Stop Soros Law Left on the Book – The Return of the "Red Tail"?, 5.3.2019, Externer Link: https://verfassungsblog.de/stop-soros-law-left-on-the-books-the-return-of-the-red-tail. Vgl. Rénata Uitz, National Constitutional Identity in the European Constitutional Project: A Recipe for Exposing Cover Ups and Masquerades, 11.11.2016, Externer Link: https://verfassungsblog.de/national-constitutional-identity-in-the-european-constitutional-project-a-recipe-for-exposing-cover-ups-and-masquerades. Vgl. Tímea Drinóczi, The Hungarian Constitutional Court on the Limits of EU Law in the Hungarian Legal System, 29.12.2016, Externer Link: http://www.iconnectblog.com/2016/12/the-hungarian-constitutional-court-on-the-limits-of-eu-law-in-the-hungarian-legal-system; Gábor Halmai, The Hungarian Constitutional Court and Constitutional Identity, 10.1.2017, Externer Link: https://verfassungsblog.de/the-hungarian-constitutional-court-and-constitutional-identity. Vgl. zur korrosiven Wirkung des Topos der Verfassungsidentität generell Zsolt Körtvélyesi/Bálazs Majtényi, Game of Values: The Threat of Exclusive Constitutional Identity, the EU and Hungary, in: German Law Journal 7/2018, S. 1722–1744. Zum Ausnutzen rechtsstaatlicher und demokratischer Institutionen zu autokratischen Zwecken vgl. Kim Lane Scheppele, Autocratic Legalism, in: The University of Chicago Law Review 2/2018, S. 545–584; Özan Varol, Stealth Authoritarianism, in: Iowa Law Review 4/2015, S. 1673–1742. Vgl. Anna Śledzińska-Simon, Midnight Judges: Poland’s Constitutional Tribunal Caught Between Political Fronts, 23.11.2015, Externer Link: https://verfassungsblog.de/midnight-judges-polands-constitutional-tribunal-caught-between-political-fronts. Vgl. Anna Śledińska-Simon, Poland’s Constitutional Tribunal under Siege, 4.12.2015, Externer Link: https://verfassungsblog.de/polands-constitutional-tribunal-under-siege. Die Expertenkommission des Europarats (Venedig-Kommission) kam in ihrem Bericht zu dem Schluss, dass das Gesetz "nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, sondern das Funktionieren des demokratischen Systems" in Gefahr bringen würde. Gutachten Nr. 833/2015 vom 11.3.2016, S. 24. Vgl. Paulina Starski, The Power of the Rule of Law: The Polish Constitutional Tribunal’s Forceful Reaction, 17.3.2016, Externer Link: https://verfassungsblog.de/the-power-of-the-rule-of-law-the-polish-constitutional-tribunals-forceful-reaction. Eine Zusammenfassung der Ereignisse und Bestandsaufnahme des aktuellen Zustands des polnischen Verfassungsgerichts bietet Tomasz Tadeusz Koncewicz, From Constitutional to Political Justice: The Tragic Trajectories of the Polish Constitutional Court, 27.2.2019, Externer Link: https://verfassungsblog.de/from-constitutional-to-political-justice-the-tragic-trajectories-of-the-polish-constitutional-court. Die Strategie der PiS-Regierung in Polen, durch Verfassungsverstöße und einfache Gesetzesänderungen die Verfassungsordnung faktisch umzugestalten, reicht weit über die Unterwerfung des Verfassungsgerichts hinaus. Vgl. Wojciech Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Mark Graber/Sanford Levinson/Mark Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis, New York 2018, S. 257–275. Nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz (der sog. Ewigkeitsklausel) ist die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 auch mit verfassungsändernder Mehrheit nicht abänderbar. Das impliziert, dass es irgendeine Art von justizförmigem Grundrechtsschutz geben muss, aber nicht notwendig eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit. Vgl. Horst Dreier, Kommentierung zu Art. 79 III, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Tübingen 20153, Bd. II, S. 2046. Die Verlegung des Sitzes des russischen Verfassungsgerichts von Moskau nach St. Petersburg 2008 führte dazu, dass das Gericht seinen gesamten personellen Unterbau verlor, und war für den folgenden Statusverlust des Gerichts durchaus maßgeblich. Vgl. Ivan S. Grigoriev: Law Clerks as an Instrument of Court–Government Accommodation Under Autocracy: The Case of the Russian Constitutional Court, in: Post-Soviet Affairs 1/2018, S. 17–34. Diese Forderung wurde schon 1970 von dem CDU-Bundestagsabgeordneten Hans Dichgans vertreten und in den 1990er Jahren von prominenten Unions-Rechtspolitikern wie Horst Eylmann und Rupert Scholz aufgegriffen. Vgl. mit weiteren Nachweisen Thomas von Danwitz, Qualifizierte Mehrheiten für normverwerfende Entscheidungen des BVerfG? Thesen zur Gewährleistung des judicial self-restraints, in: Juristenzeitung 10/1996, S. 481–498, hier S. 481f. Das "Grundgesetz (enthält) – von Art. 94 Abs. 1 Satz 1 abgesehen – keine Bestimmung über die Organisation des Bundesverfassungsgerichts (…), insbesondere nicht über die Spruchkörper, durch die es entscheidet, und ebenfalls nicht über die Zahl der zur Mitwirkung berufenen Richter; durch Art. 94 Abs. 2 GG ist vielmehr die Regelung der Verfassung und des Verfahrens des Bundesverfassungsgerichts einem Bundesgesetz vorbehalten worden (…)." Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 7, S. 241ff., S. 243; Bd. 18, S. 440f., S. 441. Vgl. dazu das Online-Symposium "Constitutional Resilience" auf dem Verfassungsblog, 6.–18.12.2018, Externer Link: https://verfassungsblog.de/category/debates/constitutional-resilience-debates. Zur Doppelgesichtigkeit der föderalen Gewaltenteilung vgl. Sujit Choudhry, Rezension zu Tom Ginsburg/Aziz Z. Huq, How to Save a Constitutional Democracy 10.3.2019, Externer Link: https://verfassungsblog.de/how-to-save-a-constitutional-democracy-a-comment-by-sujit-choudhry.
Article
, Maximilian Steinbeis
"2022-02-16T00:00:00"
"2019-04-11T00:00:00"
"2022-02-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/289220/wie-robust-ist-das-grundgesetz/
Wenn man als Gedankenexperiment das polnische Szenario im deutschen Verfassungskontext durchspielt, dann werden die potenziellen Risse im Panzer des Grundgesetzes sichtbar. Die Schwachpunkte sollten möglichst rasch behoben werden.
[ "Grundgesetz", "Demokratie", "Populismus", "Polen", "Ungarn", "Rechtsstaat" ]
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Kooperation zum Schutz vor Gewalt in Ehe und Beziehungen | Gewalt im Geschlechterverhältnis | bpb.de
Die Entwicklung der Arbeit gegen Gewalt gegen Frauen in Deutschland Die Institution Frauenhaus ist inzwischen über 25 Jahre alt. Auch nach diesen Jahren öffentlicher Auseinandersetzung über die Gewalt, der viele Frauen im Zusammenleben mit Männern ausgesetzt sind, ist es immer wieder erforderlich, neue Initiativen zu ergreifen, um die Situation betroffener Frauen zu verbessern. In den vergangenen Jahren sind zwar bedeutende Veränderungen erreicht worden, gelöst werden konnte das Problem der Gewalt im Geschlechterverhältnis bislang jedoch nicht, auch wenn das Unterstützungsangebot bereits eine längere Geschichte hat und für die jüngere Generation von professionellen Helferinnen und Helfern, Politikern und Politikerinnen sowie Betroffenen selbstverständlich geworden ist. Die ersten Frauenhäuser in Westdeutschland wurden 1976, die ersten Notruf-Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen 1977 und die erste spezialisierte Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen 1987 gegründet. Sie wurden im Laufe der Zeit ergänzt durch Fachberatungsstellen für Frauen in Gewaltverhältnissen, Zufluchtswohnungen und Mädchenhäuser. Die Existenz dieser Einrichtungen machte sowohl die gesellschaftliche Verbreitung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen als auch ihr Vorkommen in allen Gesellschaftsschichten sichtbar. Sie veränderte die öffentliche Wahrnehmung, zeigte, dass Unterstützung möglich ist und Veränderungen erreicht werden können, und wirkte nachhaltig innovativ auf das gesamte Feld der sozialen Arbeit und alle angrenzenden Berufsfelder. Die Unterstützungsangebote verbesserten zwar konkret die Lebenssituation vieler misshandelter und vergewaltigter Frauen, hatten darüber hinaus aber nur wenig Erfolg auf struktureller Ebene: - Sie hatten auf die Tatsache, dass viele Männer diese Gewalt ausüben, offenbar keinen verändernden Einfluss. - Die Unterstützungspraxis und die Frauenforschung hatten differenziertes Wissen über die Dynamik von Gewalt in intimen Beziehungen, die Bewältigungsstrategien der betroffenen Frauen, ihre Bindungen und Hoffnungen, die Gefährlichkeit der gewalttätigen Männer und ihre Strategien der Bedrohung und Verfolgung erbracht. Dies schlug sich jedoch nicht in einer veränderten Intervention der jeweils zuständigen staatlichen Institutionen nieder. - Die Annahme, dass parteiliche Unterstützung allein das Geschlechterverhältnis verändern kann, hatte sich nicht bewahrheitet. Die Frauenhäuser mussten vielmehr befürchten, lediglich als gesellschaftliches Feigenblatt zu fungieren und die Folgen der Gewalt zu verwalten. Es gab keine weitergehenden gesellschaftlichen Anstrengungen, um die Gewalt im Geschlechterverhältnis abzubauen. Die Existenz von Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen führte teilweise sogar dazu, den Frauen die Verantwortung für die Gewalt auf neue Art zuzuweisen: Wenn Frauen die Gewalt nicht länger ertragen wollten, stand ihnen schließlich der Weg ins nächste Frauenhaus offen. Gingen sie nicht dorthin, waren sie scheinbar mit ihrer Situation einverstanden. Weil die anhaltende politische Untätigkeit mit der Existenz der Frauenhäuser gerechtfertigt wurde, musste sich grundlegend etwas ändern, damit nicht weiterhin das Problem individualisiert wurde und die misshandelten Frauen und ihre Kinder die ganze Last der Konsequenzen tragen mussten. Aber auch innerhalb der feministischen Gewaltdiskussion waren Veränderungen zu verzeichnen. Das gesellschaftlich gültige Opferbild wurde zunehmend kritisch hinterfragt: Die Forderung nach gesellschaftlicher Ächtung der Gewalt im privaten Raum wurde im Laufe der Diskussion immer weniger mit der Verletzung der moralischen Unschuld der Opfer begründet, sondern zunehmend mit der Rechtsverletzung durch die Täter. Damit erreichte die Auseinandersetzung mit Gewalt im Geschlechterverhältnis eine neue Ebene. Wenn die Gewalt im privaten Raum als Rechtsverletzung anerkannt werden soll, wird das Gewaltmonopol des Staates auch für Gewalt gegen Frauen und Kinder eingeklagt. Dann ist staatliche Intervention gefordert. Für Frauen und Kinder, gegen die im privaten Raum bislang fast ungestraft Gewalt angewendet werden durfte, sollten somit Menschenrechte im vollen Umfang gelten. Gewalt im häuslichen Bereich wurde erstmalig als Frage der inneren Sicherheit gesehen. Der Zusammenhang zwischen "privater" Gewalt gegen Frauen und ausbleibender oder unangemessener staatlicher Reaktion bzw. fehlender staatlicher Verantwortung wurde zentrales Thema und führte zu einem Perspektivenwechsel: Alle mit dem Problem befassten Institutionen und Einrichtungen sollten kompetent und nach einem gleichen Problemverständnis ihre Interventionen koordinieren. So sollte erreicht werden, dass Frauen eine Wahlmöglichkeit jenseits der schieren Flucht haben. Es hatte sich gezeigt, dass weniger die betroffenen Frauen als vielmehr die zuständigen Institutionen nach einem Muster "gelernter Hilflosigkeit" reagierten, das überwunden werden musste. Sobald analysiert wurde, was alles getan werden musste, um über bloßes "Helfenwollen" hinauszugehen, wurden Leerstellen in der Intervention sichtbar, die professionelle Helfer und Helferinnen erneut ratlos und hilflos machten und institutionelle Unterstützung sehr oft verhinderten. Zeigte sich, dass die Reaktion der Institution ins Leere lief, wurde dies in der Regel der misshandelten Frau angelastet, die sich offenbar nicht helfen lassen wollte. Es wurde nicht gesehen, dass das Hilfsangebot mit der Lebenssituation der Klientin möglicherweise nicht kompatibel war und von daher keine wirkliche Hilfe darstellte. Der Weg aus dieser gelernten Hilflosigkeit der Institutionen, die auf Kosten der betroffenen Frauen geht, konnte nur durch die Bündelung von Initiative und Kompetenz gelingen. Der Aufbau von Kooperation und die Verpflichtung auf gemeinsame Ziele waren der Weg, der nun beschritten werden sollte. Verschiebung gesellschaftlicher Normen In vielen gesellschaftlichen Bereichen und Politikfeldern ist im Laufe der vergangenen Jahre das Bewusstsein gewachsen, dass Gewalt im Geschlechterverhältnis kein Randproblem darstellt und keine Privatsache ist. Trotzdem ist die Absicherung existierender Schutz- und Unterstützungsangebote nicht selbstverständlich. Es konnten jedoch einige bedeutende Etappensiege erreicht werden. Die beiden großen sozialen Bewegungen, die Gewalt im privaten Raum zu ihrem Thema gemacht haben - die Frauen- und die Kinderschutzbewegung -, können nach etwa 30 Jahren Arbeit echte Erfolge vorweisen. - 1997 trat nach zwanzigjähriger parlamentarischer Auseinandersetzung die neue gesetzliche Regelung in Kraft, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt. - 2000 wurden Menschenrechte für Kinder durchgesetzt, es wurde ihnen ein Recht auf Gewaltfreiheit in der Erziehung eingeräumt. - 2002 traten das "Gewaltschutzgesetz" und das "Kinderrechteverbesserungsgesetz" in Kraft, die - in Verbindung mit der erweiterten polizeilichen Eingriffsmöglichkeit der Wegweisung in vielen Bundesländern - Frauen zum ersten Mal Alternativen zur Flucht eröffnen, wenn sie sich und ihre Kinder in Sicherheit bringen wollen. Die neue Norm des Gewaltschutzgesetzes gilt für alle von Gewalt in Beziehungen betroffenen Erwachsenen, also auch für Männer, die unter Gewalt durch ihre Partnerinnen oder Partner bzw. durch andere Familienangehörige leiden. Da die Mehrheit der von häuslicher Gewalt betroffenen Personen und die Mehrheit der Hilfesuchenden jedoch Frauen sind, soll im Folgenden weiterhin von Frauen gesprochen werden, auch wenn in Einzelfällen polizeiliche Wegweisungen zu Gunsten von Männern ausgesprochen werden bzw. diese zivilrechtlichen Schutz suchen. Perspektivenwechsel eröffnen neue Blickwinkel Die neue Strategie, die auf Kooperation setzt, geht davon aus, dass alle Einrichtungen und Institutionen immer nur einen berufsspezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit der Gewaltverhältnisse zu sehen bekommen - einige einen größeren, andere einen kleineren. Kooperation und Austausch ermöglichen es den verantwortlichen Professionellen, sich daraus ein vollständigeres Bild zusammenzusetzen und dadurch viel über die Unterschiedlichkeit der Gewaltverhältnisse und Unterstützungsbedürfnisse zu lernen und die Praxis zu optimieren. Den Frauenprojekten fällt dabei die Rolle zu, die Sichtweise der von Gewalt betroffenen Frauen in den Mittelpunkt zu stellen und darauf zu achten, dass ihre Rechte und Bedürfnisse nicht hinter institutionellen Regeln und Hürden verschwinden. Das Ergebnis dieser Wende in der Diskussion über Gewalt im Geschlechterverhältnis war die Gründung von Interventionsprojekten. Als Interventionsprojekte werden institutionalisierte Kooperationsbündnisse bezeichnet, die interinstitutionell und interdisziplinär tätig sind. In ihnen sind im Optimalfall Vertreterinnen und Vertreter aller Einrichtungen, Institutionen, Projekte und Professionen einer Region aktiv, die explizit gegen häusliche Gewalt arbeiten oder dafür gesellschaftliche Verantwortung tragen. In der Regel finden wir hier Frauenhäuser und (Frauen-) Beratungsstellen, Polizei, Justiz, Jugendamt, Kinderschutz, Täterarbeit und Politik. Sie gründen sich in Deutschland seit Mitte der neunziger Jahre. Wir haben es also mit einer noch relativ jungen Entwicklung zu tun. Im Zentrum ihrer Aktivitäten steht in der Regel ein zentrales Kooperationsgremium, wie z.B. ein Runder Tisch. Dieser unterscheidet sich von bereits bekannten und vielerorts aktiven fachspezifisch arbeitenden Runden Tischen dadurch, dass die hieran Beteiligten nicht in erster Linie als individuelle, interessierte Fachleute, sondern als Delegierte mit einem Auftrag ihrer Institution teilnehmen. Es geht langfristig darum, dass nicht nur Einzelne ihre Praxis verbessern, sondern dass ganze Institutionen ein gleiches Verständnis von häuslicher Gewalt und gleiche Ziele entwickeln und auf dieser Grundlage ihre Verfahrensweisen aufeinander abstimmen. Das gemeinsame Ziel ist ein verbesserter Opferschutz und die konsequente Inverantwortungnahme der Täter. Gewalt im Geschlechterverhältnis wird nicht mehr nur in moralischen oder psychologischen Termini diskutiert, sondern als Rechtsbruch ernst genommen. Neue Strategien führen zu neuen Kontroversen Als feministische Einrichtungen begannen, Kooperation mit staatlichen Institutionen zu institutionalisieren, zeigte sich, dass diese "neuen Wege", auf denen die "alten Ziele" erreicht werden sollten, nicht einfach zu begehen waren. Neu und für viele provozierend war der Vorschlag, auf den polarisierenden Begriff "Männergewalt" bzw. "Gewalt gegen Frauen" zu verzichten zugunsten der sehr viel pragmatischeren, aber konsensfähigeren Begriffe "häusliche Gewalt" oder "Gewalt in engen sozialen Beziehungen", welche die Analyse des Gewaltverhältnisses, die der erste Begriff in sich trägt, erschweren. Ergänzend zur Unterstützungsarbeit mit den Frauen sollten täterorientierte Maßnahmen und Täterprogramme initiiert und es sollte mit Männern, die bereit sind, solche Programme durchzuführen, kooperiert werden. Dies löste die Befürchtung aus, dass sowohl die öffentliche Aufmerksamkeit als auch die finanzielle Förderung der ohnehin unzureichend ausgestatteten Angebote für die Opfer der Gewalt reduziert würden. Eine erhebliche Umstellung bedeutete der Wechsel von einer Arbeit "von Frauen für Frauen" zu einer Zusammenarbeit mit Männern sowie von einer ausschließlich autonomen feministischen Politik zu einer Kooperation mit staatlichen Institutionen. Beispielhaft für diesen Konflikt stand die Kooperation mit der Polizei als "Repräsentantin patriarchaler Staatsgewalt" bzw. mit der Justiz oder der Ausländerbehörde, aber auch mit Vertretern und Vertreterinnen des Gesundheitssystems. Entwicklungen und Veränderungen der staatlichen Intervention Lange Zeit war die Bearbeitung der Fälle häuslicher Gewalt durch die Polizei und Amts- bzw. Staatsanwaltschaften von der Haltung geprägt, dass Gewalt, die in privaten Beziehungen stattfindet, auch dort geregelt werden sollte. Häusliche Gewalt wurde aus polizeilicher Sicht als Familienstreitigkeit definiert. Die Polizei reagierte auf strafrechtlich relevante Delikte wie Körperverletzung, Drohungen oder Nötigung überwiegend mit dem Versuch einer Streitschlichtung. Eine ähnliche Arbeitsroutine in den Amts- und Staatsanwaltschaften war die Verweisung der Verfahren auf den Privatklageweg. Der Staat bescheinigte damit den Geschädigten ein mangelndes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung und überließ diese ihrer privaten Initiative. Es herrschte ein deutliches Vollzugsdefizit bestehender Gesetze. Täter hatten in der Regel auf keiner Ebene mit Folgen ihres Handelns zu rechnen. Die Idee von Programmen oder Kursen zur Verhaltensänderung hatte in Deutschland im Bereich häuslicher Gewalt noch kaum Einzug gehalten. Polizeiliche Intervention Als Konsequenz dieser Sichtweise wurde lange Zeit bei Polizeieinsätzen wegen häuslicher Gewalt vorrangig darauf abgestellt, das Opfer zum Verlassen der Wohnung zu bewegen. Solange es keine Möglichkeit gab, Täter über mehrere Tage aus der Wohnung zu verweisen, stellte dies auch in vielen Fällen die einzige Möglichkeit dar, für das Opfer Sicherheit zu organisieren. Inzwischen hat in fast allen Bundesländern eine Änderung der Polizeigesetze stattgefunden. Wegweisungen, Betretungsverbote bzw. längerfristige Platzverweise wurden eingeführt. Es herrscht eine uneinheitliche Sprachregelung, und die einzelnen Normen unterscheiden sich leicht, im Kern bewirken sie aber alle dasselbe: die Befugnis der Polizei, eine gewalttätige Person für einen bestimmten Zeitraum aus einer Wohnung zu verweisen - je nach Bundesland sind es zwischen 10 und 28 Tagen. Die Polizei ist in alle Interventionsprojekte eingebunden und aktiv an der Weiterentwicklung der Intervention beteiligt. Eine erste Evaluation der veränderten Praxis zeigte, dass Polizeibeamte und -beamtinnen es mehrheitlich sehr schätzen, dass ihnen mit der Wegweisung ein Instrument an die Hand gegeben wurde, das ihnen ermöglicht, in Fällen häuslicher Gewalt effektiv und schützend zu intervenieren. Während eine Befragung von gewaltbetroffenen Frauen ergab, dass sich die polizeiliche Praxis der Gefahrenabwehr deutlich verbessert hat, zeigten sich nach wie vor Defizite bei der Beweissicherung. Strafverfolgung Bei der Umsetzung koordinierter Intervention in Fällen häuslicher Gewalt konnte die Ebene der Strafverfolgung bisher noch nicht in gleichem Maße eingebunden werden wie jene der Gefahrenabwehr durch die Polizei. Die Quoten der Verfahrenseinstellungen lagen sehr hoch, Sanktionen für die Täter gab es selten. Trotz erkennbarer Bemühungen von Dezernentinnen und Dezernenten in den Amts- und Staatsanwaltschaften wurden offiziellen Statistiken zufolge nach wie vor mindestens zwei Drittel der Fälle häuslicher Gewalt folgenlos eingestellt. Neuere Forschung zu diesem Thema zeigt ein Dilemma auf: Auch wenn in einer Amtsanwaltschaft konsequent vermieden wurde, auf den Privatklageweg zu verweisen, und das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht wurde, so ist doch die Mehrheit der Fälle -ca. 80 Prozent - nach § 170 Strafgesetzbuch eingestellt worden, und zwar mit der Begründung mangelnder Nachweisbarkeit der Taten. Dies geschah in der Regel dann, wenn Geschädigte nicht zum Tathergang aussagen wollten, und hatte dann für die Täter keinerlei Konsequenzen. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Bereitschaft der Geschädigten, an der Strafverfolgung aktiv mitzuwirken, und dem Ausgang der Verfahren. Dezernentinnen und Dezernenten lehnen es meist ab, gegen den Willen der Geschädigten ein Strafverfahren zu führen. Sie machen sich teilweise Sorgen um die Sicherheit der Frau, bestimmte Gewaltkonstellationen gelten aber auch nicht als verfolgungswürdig. Sie sehen die Aussage der Geschädigten als unverzichtbares Beweismittel für die Erhebung einer öffentlichen Klage an. Wenn die Geschädigte sich zur Tat nicht äußern möchte, wird dies in der Regel als eine Ablehnung weiterer Strafverfolgung interpretiert. Somit folgen die Verfahren mehrheitlich einem vermeintlichen Willen der Geschädigten. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass es so einfach nicht ist. Die größte Gruppe der von Gewalt betroffenen Frauen sandte widersprüchliche Signale aus und stand dem Strafverfahren nicht klar ablehnend, sondern ambivalent gegenüber. Amts- und Staatsanwaltschaften bearbeiten somit die Verfahren häuslicher Gewalt häufig im Spannungsfeld zweier widerstreitender Interessen. Die Lebensumstände und Lebensplanung sowie die Bedürfnisse eines Teils der Gewaltopfer sind nicht mit der Zielrichtung einer konsequenten Strafverfolgung in Einklang zu bringen, vor allem dann, wenn Frauen die Beziehung fortsetzen wollen oder wenn sie vom Täter unter Druck gesetzt werden. Frauen scheuen davor zurück, durch ihre Aussage über die Gewalttaten die ganze Verantwortung für weitere Strafverfolgung auf sich zu nehmen, und fürchten weitere Gewalt. Die Situation der Geschädigten und das Ausmaß ihrer Mitwirkungsbereitschaft muss im Interesse ihrer Sicherheit und einer konsequenten Sanktionierung der Taten möglichst genau abgeklärt werden. Durch persönlichen Kontakt schon frühzeitig im Ermittlungsverfahren können Geschädigte eher motiviert und ermutigt werden, die Strafverfolgung für sich zu nutzen, und eskann dem Opferschutz entscheidend gedient werden. Täterarbeit Täterprogramme sind in Deutschland ein relativ neues und innovatives Arbeitsfeld mit einer sehr dynamischen Entwicklung. Die Einbindung von Täterarbeit in Kooperationsbündnisse gegen häusliche Gewalt nimmt seit 2002 stark zu. Diese neuen Maßnahmen sind eine weitere Option, Vorfälle häuslicher Gewalt möglichst konsequent zu sanktionieren. In Anlehnung an ausländische Modelle wurde seitens der Interventionsprojekte eine Weisung der Justiz zur Teilnahme an speziellen so genannten sozialen Trainingskursen bzw. Täterprogrammen als Mittel der Wahl vorgeschlagen. Am häufigsten kommen zurzeit Auflagen auf der Ebene von Amts- und Staatsanwaltschaften zur Anwendung. Vorgehensweise und Kriterien für die Erteilung von Auflagen gestalten die einzelnen Behörden individuell. Scheint ein Täter geeignet, wird ihm die Möglichkeit eingeräumt, an einem Täterprogramm teilzunehmen. Stimmt er zu und schließt das Programm ab, erfolgt in der Regel keine weitere Sanktion. Bricht er ab oder wird er von der Teilnahme ausgeschlossen, soll gegen ihn Anklage erhoben werden, was aber nicht durchgängig der Fall zu sein scheint. Die neuere Forschung ging der in Deutschland kontrovers diskutierten Frage nach, ob die Arbeit mit Gewalttätern auf der Basis von Weisungen durch Staatsanwaltschaft oder Gericht - also ohne die Freiwilligkeit, die üblicherweise einem Beratungsverhältnis zugrunde liegt - gelingen kann. Es zeigte sich, dass eine Weisung durch die Justiz die Motivation vieler Männer erhöhen kann, die Teilnahme an einem Täterprogramm bis zum Schluss durchzuhalten. Männer, die gegenüber ihren Partnerinnen gewalttätig geworden sind, melden sich nur äußerst selten aus eigener Motivation für Täterprogramme an. Deshalb ist ein äußerer Druck nötig, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Allerdings zeigt sich auch, dass viele Männer das Programm gar nicht erst beginnen, sondern darauf vertrauen, dass ihnen schon nichts passieren wird. Deshalb ist eine enge Kooperation der Einrichtungen, die Täterarbeit durchführen, mit der Justizunverzichtbar, um für diejenigen, welche die Anordnungen unterlaufen, Sanktionen zu erwirken. Auf der anderen Seite ist eine enge Kooperation mit Frauenschutzeinrichtungen erforderlich, um für die Partnerinnen der Kursteilnehmer Opferschutz zu gewährleisten. Eine Diskussion über Qualitätsstandards und Erfolgskriterien in der Täterarbeit ist in Deutschland erst im Entstehen. Innovative Unterstützung: Zugehende Beratung Ein Impuls für die Gründung von Interventionsprojekten war die wachsende Erkenntnis, dass Frauenhäuser allein nicht in der Lage sind, das gesellschaftsweite Problem der häuslichen Gewalt zu lösen. Das Unterstützungssystem sollte weiterentwickelt und ausdifferenziert werden. Zusätzlich entstand durch die veränderte polizeiliche Praxis und das neue Gewaltschutzgesetz ein großer Beratungsbedarf, der neue Anforderungen an Beratung stellte: Die staatliche Intervention entspricht nicht immer den meist unklaren Erwartungen oder Wünschen, die Betroffene an polizeiliche oder justizielle Intervention haben. Vielerorts setzte sich deshalb die Einschätzung durch, dass nicht gewartet werden kann, bis gewaltbetroffene Frauen von sich aus Beratungsstellen oder Frauenhäuser aufsuchen, sondern dass ihnen offensiver Information und Beratung angeboten werden müssten. Es stellte sich die Frage, ob die Frau immer zur Beratung kommen muss oder ob es nicht Wege gibt, wie die Beratung zur Frau kommen kann. Hier sollen zwei beispielhafte innovative Beratungsangebote bei häuslicher Gewalt vorgestellt werden: die pro-aktive und die aufsuchende Beratung. In einigen Bundesländern wurden Interventionsstellen mit pro-aktivem Beratungsangebot eingerichtet. Darunter ist Folgendes zu verstehen: Im Anschluss an polizeiliche Intervention bei häuslicher Gewalt erhalten die Interventionsstellen die nötige Information durch ein Fax der Polizei, nehmen unmittelbar zu betroffenen Frauen - und auch betroffenen Männern - Kontakt auf und bieten Beratung und Krisenintervention an. Die Beratung ist pro-aktiv, aber nicht unbedingt aufsuchend, sondern erfolgt sehr oft telefonisch. In Berlin wurde durch das dortige Interventionsprojekt BIG eine telefonische Hotline für Beratung bei häuslicher Gewalt eingerichtet und durch eine Mobile Intervention ergänzt, die in Krisensituationen aufsuchende Beratung und Unterstützung für Frauen anbietet. Mobile Intervention kann täglich von 9.00 bis 24.00 Uhr telefonisch angefordert werden und berät auf Wunsch Frauen in ihrer Wohnung oder an einem anderen Treffpunkt. Die Beraterinnen werden häufig im Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz gerufen. Die Beratung ist aufsuchend, aber nicht pro-aktiv, da sie nur auf Anfrage stattfindet. Befürchtungen, dass betroffene Frauen den pro-aktiven Ansatz ablehnen oder sich dieser destruktiv auswirken könnte, weil die Betroffenen sich entmündigt oder erneut zum Opfer gemacht fühlen, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil erwies sich die pro-aktive Beratung als Beitrag zur Bestärkung der Betroffenen im Sinne einer Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume, einer Erhöhung der Selbstmächtigkeit und des Rückgewinns von Kontrolle über das eigene Leben. Bei pro-aktiver Beratung gelingt es, auch diejenigen von häuslicher Gewalt Betroffenen mit Information und Unterstützung zu versorgen, die von sich aus keinen Unterstützungsbedarf an Beratungsstellen herantragen würden, sei es, - weil sie sich subjektiv nicht als unterstützungsbedürftig sehen, obwohl sie Gewalt erleiden und ihnen Informationen über ihre rechtlichen Möglichkeiten fehlen; - weil sie glauben, dass ihr Fall "nicht schlimm genug" ist, um Unterstützung zu "verdienen"; - weil sie zu verängstigt oder resigniert sind, nicht mehr aktiv Hilfe suchen bzw. nicht mehr auf Hilfe hoffen. Aufsuchende Beratung ebnet Betroffenen den Weg in das Unterstützungssystem und erreicht die Klärung nächster Schritte für diejenigen, die durch eine starke Krise, dauerhafte psychische oder körperliche Einschränkungen oder anders eingeschränkte Ressourcen nicht aus eigener Kraft Schritte zu ihrem Schutz hätten unternehmen können. Erst durch zugehende - also pro-aktive oder aufsuchende - Beratung erhalten viele der Betroffenen die Informationen, die sie benötigen, um kompetent Entscheidungen über ihre Zukunft treffen zu können. Sie verhilft denjenigen, die sich in einer krisenhaften Situation befinden, zu der erforderlichen Stabilisierung, um Information und Beratung überhaupt aufnehmen zu können. Zugehende Beratungsangebote waren auch geeignet, den Kinderschutz bzw. die Jugendhilfe in das Verfahren einzubinden, den Unterstützungsbedarf von Mädchen und Jungen im Kontext häuslicher Gewalt in Erfahrung zu bringen und an die verantwortlichen Stellen weiterzuleiten. Durch die aufsuchende Beratung der Mobilen Intervention konnte beispielsweise die Situation der beteiligten Kinder erfasst und bei Bedarf der Kindernotdienst hinzugezogen werden. Zugehende Beratung hat sich auch sehr für die Zielgruppe von Migrantinnen - insbesondere denjenigen mit geringen Deutschkenntnissen - bewährt. Die erforderliche Sprachmittlung kann sehr viel einfacher organisiert werden, wenn die Nachfrage nach Beratung nicht unerwartet kommt, sondern der Zeitpunkt und die Rahmenbedingungen von der Beraterin bestimmt werden und so z.B. eine Dolmetscherin die Beraterin im Einsatz begleiten oder telefonisch zugeschaltet werden kann. Auch dem Beratungsbedarf derjenigen Migrantinnen, die in sozialer Isolation leben und die Strukturen des deutschen Hilfesystems nicht kennen, kann so gut entsprochen werden. Die neuen Beratungsangebote ergänzen bestehende Einrichtungen. Sie können diese nicht ersetzen, sondern sind - im Gegenteil - auf sie angewiesen. Stationäre Angebote wie Frauenhäuser werden nicht überflüssig, stattdessen ebnen der pro-aktive Ansatz und die aufsuchende Beratung vielen Frauen den Weg in Frauenhäuser, die diesen Schutz brauchen und ihn aus eigener Kraft nicht gefunden hätten oder ohne Begleitung nicht hätten gehen können. Diese Form der Unterstützungsangebote deckt strukturelle Barrieren des Hilfesystems auf und senkt die Schwellen. Sie trägt zum Funktionieren der Interventionskette bei und hilft, deren Schwachstellen zu erkennen und nachzubessern. Erfolge und Grenzen der neuenStrategien Die neuen Strategien der Bekämpfung von Gewalt im Geschlechterverhältnis - die Interventionsprojekte/-konzepte - zielen auf ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis; sie sind aber keine Wunderwaffe gegen diese Gewalt. Die Arbeit der hier miteinander kooperierenden Experten und Expertinnen darf nicht durch überhöhte Erwartungen belastet werden. Mit Interventionsprojekte lässt sich aber tatsächlich viel erreichen, wenn die Erkenntnisse über die Voraussetzungen gelingender Kooperation und kooperationsfördernde Faktoren sowie mögliche Konflikte berücksichtigt und Verantwortliche langfristig eingebunden werden. Durch die Schaffung neuer Unterstützungsangebote oder die Erarbeitung neuer Richtlinien kann es zu konkreten Verbesserungen für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder kommen; der Schutz vor den häusliche Gewalt ausübenden Männern kann organisiert werden. Sie können die Bereitschaft zum Umdenken und Lernen von Personen und Organisationen fördern und so die gesellschaftliche Verantwortung für Gewalt im Geschlechterverhältnis stärken und weitere Zielgruppen betroffener Frauen erreichen, die bislang durch die Lücken des Hilfesystems fallen. Interventionsprojekte/-konzepte ermöglichen einen breiten Konsens unter den beteiligten Experteninnen und Experten sowie den Institutionen, schaffen Strukturen, in die weitere gesellschaftliche Kräfte eingebunden werden können, und kommen so ihrem Ziel eines Abbaus der häuslichen Gewalt näher. Der Blick richtet sich inzwischen auch auf die Kinder, welche die Gewalt gegen die Mutter miterleben müssen. Ihre Situation wird in Forschung und Praxis zunehmend Gegenstand des Interesses und der Entwicklung von Unterstützung. Das Miterleben der Gewalt wird als eine Form der Gewalt gegen das Kind angesehen. Der Kinderschutz ist gefordert, die Situation der Mütter ernst zu nehmen und Konzepte zu entwickeln, die berücksichtigen, dass oft sowohl die Mutter als auch die Kinder der Gewalt ausgesetzt sind und dass in dieser Situation eine Mutter ihre Kinder nicht aus eigener Kraft schützen kann. Probleme bereitet die Tatsache, dass in den familiengerichtlichen Verfahren, in denen über Sorgerecht und Umgangsrecht entschieden wird, die Sicherheitsinteressen von Müttern oft nicht ernst genug genommen werden. Durch die Arbeit der Interventionsprojekte gelingt es inzwischen eher, die separaten Bereiche des Kinderschutzes und der Frauenunterstützung miteinander zu verknüpfen. Gerade weil sich an die Kooperation und Vernetzung von vielen Seiten hohe Erwartungen richten, muss auf eines hingewiesen werden: Die Beteiligung an Vernetzung und das Organisieren von Kooperation kosten Zeit und Zeit kostet Geld. Es ist nicht tragbar, dass diese Wege zur Optimierung von Schutz und Unterstützung allein auf ehrenamtliches Engagement und zusätzliche Arbeitsbelastung bauen. In allen beteiligten Institutionen müssen die nötigen Mittel aufgebracht werden, um sich verlässlich in die Vernetzung einbinden zu lassen. Diese Mittel sind gut angelegt. Investitionen in Prävention heute sparen zukünftige Folgekosten von Gewalt in ganz anderer Höhe. Gewalt im Geschlechterverhältnis zu beenden ist eine der großen Herausforderungen an unsere Gesellschaft auf dem Weg zur Verwirklichung vonFrieden, Menschenrechten und Demokratie. Erst wenn Menschenrechte und innere Sicherheit auch im privaten, häuslichen, familiären Bereich gelten, wird es "im Außen" gelingen, Frieden zu sichern. Leider nicht so selbstverständlich, dass die Existenz der Frauenhäuser abgesichert und ihre Arbeit zu den Pflichtaufgaben der Gesellschaft gezählt würde. Vgl. Carol Hagemann-White, Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis, in: dies./Barbara Kavemann/Dagmar Ohl, Parteilichkeit und Solidarität - Praxiserfahrungen und Streitfragen, Bielefeld 1997. Zu Gewalt gegen Männer vgl. Barbara Kavemann, Kinder misshandelter Mütter - Anregungen zu einer zielgruppenspezifischen Intervention, in: Eva Breitenbach/Ilse Bürmann u.a. (Hrsg.), Geschlechterforschung als Kritik, Bielefeld 2002; vgl. außerdem Daniela Gloor/Hanna Meier, Gewaltbetroffene Männer - wissenschaftliche und gesellschaftlich-politische Einblicke in eine Debatte, Bern 2003; Hans-Joachim Lenz, Diskussionsbeitrag zur Debatte Gewalterfahrungen von Frauen und Männern!? Ein neues Thema in der bundesdeutschen Frauen-, Männer- und Geschlechterforschung, IFF-Info Zeitschrift des Interdisziplinären Frauenforschungs-Zentrums, Bielefeld 2002, S.79 ff. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Hans-Joachim Lenz in dieser Ausgabe. Vgl. Barbara Kavemann/Beate Leopold/Gesa Schirrmacher/Carol Hagemann-White, Modelle der Kooperation gegen häusliche Gewalt, BMFSFJ (Hrsg.), Schriftenreihe Band 193, Stuttgart 2001. Vgl. ebd. Stand Herbst 2004. Vgl. WiBIG, Staatliche Intervention bei häuslicher Gewalt - Entwicklung der Praxis von Polizei und Staatsanwaltschaft im Kontext von Interventionsprojekten, 2004. www.bmfsfj.de (Stichwort: Forschungsnetz; Forschungsberichte). (WiBIG = Wissenschaftliche Begleitung Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt). Vgl. ebd. Vgl. WiBIG, Täterarbeit im Kontext von Interventionsprojekten gegen häusliche Gewalt, 2004. www.bmfsfj.de (Anm.8.) Vgl. WiBIG, Neue Unterstützungspraxis bei häuslicher Gewalt, o. O. 2004. www.bmfsfj.de (Anm.8). Das erste Bundesland, welches das Polizeigesetz änderte und Interventionsstellen einrichtete, war Mecklenburg-Vorpommern. Die Arbeit dieser Stellen wurde evaluiert - vgl. ebd. Vgl. WiBIG, Von regionalen Innovationen zu Maßstäben guter Praxis - Die Arbeit von Interventionsprojekten gegen häusliche Gewalt, o. O. 2004. www.bmfsfj.de (Anm.8). Vgl. Heinz Kindler, Partnerschaftsgewalt und Kindeswohl. Eine meta-analytisch orientierte Zusammenschau und Diskussion der Effekte von Partnerschaftsgewalt auf die Entwicklung von Kindern. Folgerungen für die Praxis. Arbeitspapier, Deutsches Jugendinstitut, München 2002. Vgl. Barbara Kavemann, Kinder misshandelter Mütter - Anregungen zu einer zielgruppenspezifischen Intervention in: Eva Breitenbach/Ilse Bürmann u.a. (Hrsg.), Geschlechterforschung als Kritik, Bielefeld 2002.
Article
Kavemann, Barbara
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27887/kooperation-zum-schutz-vor-gewalt-in-ehe-und-beziehungen/
Gewalt im Geschlechterverhältnis gilt heute nicht mehr als Randproblem und Privatsache, auch werden entsprechende Übergriffe inzwischen als Rechtsbruch ernst genommen. Es gibt jedoch nach wie vor Probleme bei der Ahndung und Prävention.
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Das politisch-ideologische System Syriens und dessen Zerfall | Syrien | bpb.de
Ein Land zu beschreiben, das im Verfall begriffen ist, ist nicht einfach. Was ist heute überhaupt noch vom politischen System übrig, und was aus dem alten Syrien wird die blutigen Kämpfe überleben? Die staatlichen Strukturen haben sich in einigen Provinzen aufgelöst. In den umkämpften Gebieten wie beispielsweise Aleppo erhalten Angestellte im aufgeblähten Staatsdienst keine Gehälter mehr. Die staatlichen Dienstleistungen sind zusammengebrochen und werden durch revolutionäre lokale Koordinationskomitees sowie bewaffnete Rebellen übernommen. Selbst die Minister im Kabinett von Präsident Baschar al-Assad stehen faktisch unter Hausarrest und strikter Überwachung aus Furcht vor Desertionen. Die politische Macht ist vollends in den Familienclan des Präsidenten und in die Geheimdienste übergegangen. Doch weit vor der Zeit, als die gegenwärtige Krise begann und sich in Syrien die staatlichen Institutionen begannen aufzulösen, waren die ideologischen Fundamente des politischen Syriens zerbröckelt und bestenfalls zur Fassade verkommen. Der Syrien-Forscher und Politikwissenschaftler Raymond Hinnebusch reihte Syrien in das nahöstliche Muster populistischer autoritärer Regime ein, die nach dem Abzug der Kolonialmächte entstanden sind. Ihre nationalistischen Eliten sahen sich äußerer Bedrohung und innerer Instabilität ausgesetzt. Sie stützten sich zunächst auf das Militär und den Verwaltungsapparat. Gleichzeitig versuchten sie, ihre soziale Basis, etwa in die untere Mittelklasse, zu erweitern und ihre Legitimität zu erhöhen. Ihre außenpolitische Unabhängigkeit versuchten sie durch eine "defensive Modernisierung" zu verteidigen. Zwar traten sie in den Kreis des kapitalistischen Weltsystems ein, doch versuchten sie, eine Industrie aufzubauen, mit der sie billig Konsumgüter imitieren und produzieren konnten, um nicht vom Import abhängig zu werden (Import-Substitution). Dabei nahm der Staat die Dinge in die Hand. Die industrielle Bourgeoisie war stets schwach geblieben. Im staatlichen Patronagesystem Syriens gingen die großen Aufträge an regimetreue Großfamilien oder an nahe und ferne Verwandte des Präsidentenclans, wie die Lizenz für das Mobilfunknetz oder den Autohandel. Eine der reichsten Nutznießer der korrupten Rentier-Ökonomie ist der Makhlouf-Clan aus dem Familienzweig von Baschars Mutter. Rami Makhlouf, ein Cousin Baschars, besitzt zahlreiche Schlüsselunternehmen und gilt als reichster Mann Syriens. Diese sogenannten Unternehmer waren und sind vom Regime abhängig. Die Monopolisierung von Lizenzen verstärkte diese Tendenz. Das "Unternehmertum" blieb damit politisch konservativ und suchte den Schutz des Regimes, vor ausländischen Konkurrenten wie vor inländischen Unruhen und auch in der jetzigen Krise. Statt eines wirtschaftlich und gesellschaftlich dynamischen Unternehmertums entstand ein ökonomisches divide et impera oder eine "Segmentierung der Bourgeoisie". In Damaskus und Aleppo waren die regimeloyale Kaste oder oligarchische Bourgeoisie besonders stark vertreten. Daneben gibt es diejenigen, die als führende Bürokraten im Staatsapparat arbeiten und sich Kommissionen aus dem System sichern. Auch sie stehen in der Regel der Präsidentenfamilie nahe und werden auch als Staatsbourgeoise bezeichnet. Alle ideologischen Pfeiler sind gestürzt Politisch und ideologisch stützte sich das Assad-Regime vor allem auf Panarabismus, Sozialismus, Baathismus, Säkularismus, Antizionismus, Antiimperialismus und durch Geheimdienste garantierte Stabilität. Fast nichts ist davon geblieben. Nach dem Sturz des irakischen Präsidenten Saddam Hussein blieb Syrien als einziges panarabisches Sprachrohr alter Schule übrig. Das war ein Widerspruch in sich, weil statt arabischer Einheit nur noch die syrischen Baathisten übrig blieben, die im ideologischen Wettstreit mit den irakischen Baathisten den syrischen Nationalismus vor den panarabischen Nationalismus gestellt hatten. Von arabischer Einheit und pro-palästinensischer Solidarität war außer Rhetorik in der politischen Praxis wenig zu sehen. Auch die Mehrheit der Palästinenser in Syrien ist inzwischen Opfer der Unterdrückung geworden. Das Palästinenserviertel Yarmouk in Damaskus ist mehrfach bombardiert worden. Nur eine linke Splittergruppe der Palästinenser (Palestinian Liberation Front – General Command) hält noch zum Diktator. Die Hamas hat Damaskus verlassen. Das Parlament der Arabischen Liga wurde Ende 2011 aus Damaskus abgezogen. Statt ideologischer Vorreiter des Panarabismus ist Syrien heute zum Paria der arabischen Welt geworden. Der Sozialismus im syrischen System war unter Baschar al-Assad durch neoliberale Inseln aus punktuellen Reformen und vetternwirtschaftlichen Privilegien mehr und mehr ausgehöhlt worden. Nach außen gerichtet gab er vor, die Soziale Marktwirtschaft einführen zu wollen. Doch letztendlich baute er die Privilegien der regimenahen Unternehmerklasse und vor allem seines Familienclans aus. Die Wirtschaftspolitik unter dem jungen Assad konzentrierte sich auf sichtbaren Wohlstand (Einfuhr neuer Autos, moderner Handys, internationaler Waren) für die urbane aufstrebende obere Mittelklasse, die vom Regime profitierte. Dagegen vernachlässigte er das verarmte Hinterland, das zusätzlich unter langjähriger Dürre und Missmanagement litt. Zwar gab es weiterhin festgesetzte Grundpreise für Nahrungsmittel, ein freies Schul- und Gesundheitssystem (selbst für die vielen irakischen Flüchtlinge, die nach 2003 in Syrien Zuflucht suchten), einen aufgeblähten Staatsdienst, sozialistisch anmutende Bürokratie, Fünf-Jahres-Pläne. Doch als im Februar 2012 inmitten blutiger Schlachten gegen die demonstrierende Bevölkerung in Deraa und Homs eine neue Verfassung verabschiedet wurde, tauchte der Begriff Sozialismus nicht einmal mehr auf. Der Baathismus verstand sich als Wiedergeburt panarabischen Nationalstolzes in Kombination mit sozialistischen Idealen und antiimperialistischen Impulsen. In der Verfassung von 1973 bis 2012 war die Führungsrolle der Baath-Partei festgeschrieben. Ähnlich wie in der DDR existierten gefügige Blockparteien. Die Baath-Partei führte das Parteienbündnis in der Progressiven Nationalen Front an. Wer in Syrien Karriere machen wollte, trat der Baath-Partei bei. Studium, Arbeitsplatz, die Lizenz für den eigenen Laden oder gar eine Fabrik waren mit einem Parteibuch einfacher zu erlangen. Die Baath-Partei durchzog alle gesellschaftlichen Schichten, Berufe und Institutionen. Gewerkschaften, Unternehmerverband, Frauenorganisationen, Anwaltsgilde, Journalistenvereinigung und dergleichen waren gleichgeschaltet. Erst mit dem Aufstand bildeten sich 2011 erstmals unabhängige Organisationen wie ein Journalistenverein oder ein Richterbund heraus, deren Mitglieder sich inzwischen meist im Ausland befinden. Trotz ihrer breiten gesellschaftlichen Basis schrumpfte die politische Rolle der Baath-Partei unter Baschar al-Assad immer weiter zusammen. Immer weniger fanden sich ihre ideologischen Grundwerte in der Politik wieder. Zwar war die Partei weiterhin eine "Loyalitätenschmiede", doch schwand ihr Einfluss angesichts der Kontraktion des Regimes auf alawitische Familienkreise, den Elite-Militärapparat und die Geheimdienste. Heute ist die Baath-Partei, insbesondere auf den unteren Ebenen, so gut wie nicht mehr existent. Bereits in den ersten Monaten des zunächst friedlichen Aufstands 2011 traten Mitglieder aus Orts- und Provinzverbänden aus Protest gegen die skrupellose Gewalt der syrischen Armee gegen Zivilisten aus der Partei aus. Das wäre früher absolut undenkbar gewesen. Inzwischen sind sogar einige Abgeordnete des 250 Delegierte umfassenden Parlaments in die Türkei desertiert. Der staatlich proklamierte Säkularismus, der die Minderheiten großenteils hinter dem Assad-Regime versammelte, ist umgeschlagen in eine sektiererische Überlebenstaktik des Regimes, die den Aufstand von Anfang an als einen Religionskrieg darzustellen versuchte: Alawiten und andere Minderheiten gegen Sunniten oder "Terroristen". Das ist eine vereinfachte Darstellung, die der Realität nicht gerecht wird. Wohlhabende Sunniten stehen weiterhin an der Seite des Regimes, wenn auch große Teile der einst von Hafis al-Assad kooptierten, pragmatischen sunnitischen Handelsklasse vom Regime abgerückt ist. Andererseits haben sich prominente Alawiten und Christen der Opposition angeschlossen oder waren schon immer dort verankert. Schon vor 2011 taktierte das Regime mit der "islamistischen Bedrohung". Die säkulare Opposition wurde kompromisslos unterdrückt, während konservativ-islamische Kreise teilweise an Einfluss gewannen. Die islamistische Gefahr köcheln zu lassen, bedeutete, Assad und sein Regime als Garant des gesellschaftlich liberalen Syriens darstellen zu können. Das funktionierte durchaus, und der Krieg im Irak mit wachsenden konfessionellen Spannungen gab dem Regime in Damaskus genügend argumentative Munition, um die Angst vor irakischen oder auch libanesischen Verhältnissen in Syrien aufrechtzuerhalten. Insofern entwickelte der Irakkrieg eine stabilisierende Wirkung für das Regime. Antizionismus, pro-palästinensische Rhetorik und ein Widerstandsdiskurs, der nicht nur vom Regime, sondern auch von weiten Teilen der Bevölkerung bis hin zu Teilen der Opposition gepflegt wurde, stützten das Assad-Regime zusätzlich. Noch im Januar 2011 fühlte sich Assad so sicher vor den Auswirkungen des "Arabischen Frühlings", dass er sich in einem Interview im "Wall Street Journal" den arabischen Autokraten-Kollegen als Reformer empfahl und von einer Interesseneinheit zwischen Regime und Bevölkerung in Syrien sprach. Schließlich ist Syrien das einzige Land in der Kette der Staaten des "Arabischen Frühlings", das zuletzt fest im antiwestlichen Lager verhaftet war. Doch dieser Widerstandsdiskurs zerbrach schneller, als Assad es geahnt hatte. Sobald er in Deraa die Waffen nach innen wandte und – statt den Golan zu befreien – die berüchtigte 4. Division von Baschars Bruder Maher al-Assad auf friedliche Demonstranten schoss, fiel der Widerstandsdiskurs in sich zusammen, und mit ihm stürzten auch die anderen Sympathieträger dieses Lagers wie die schiitische Hisbollah im Libanon in den Abgrund. Zuletzt im Sommerkrieg 2006 mit Israel von der arabischen Straße – auch von Sunniten – gefeiert als Bollwerk gegen den Zionismus, ist die "Partei Gottes" in den Augen vieler Araber nun verkommen zu einer prinzipienlosen Miliz, die einen Diktator unterstützt, der wie kaum ein anderer seine eigene arabische Bevölkerung foltert und tötet. Der "Arabische Frühling" hat zu einem Paradigmenwechsel geführt: Nicht der "Widerstand" gegen Israel oder die Zionisten nährte die Proteste, sondern die Empörung gegen die eigenen arabischen Autokraten und die verwehrten Lebensperspektiven. Der letzte Anker, an dem sich viele Syrer festhielten und zum Teil heute noch verzweifelt festhalten, ist die Stabilität, die das Assad-Regime verkörperte. In Syrien gab es über Jahrzehnte kaum sichtbare Kriminalität, keine offenen Religionskonflikte und stabile Außengrenzen, selbst an den von Israel besetzten Golanhöhen. Syrien wurde unter dem autoritären Präsidialregime von Hafis al-Assad zur stabilen Mittelmacht in der Region. Erst sein Sohn ließ das Land wieder zu dem werden, was es einst war, zum Spielball äußerer Interessen. In Syrien laufen die tektonischen Platten sunnitischer und schiitischer Interessensphären zusammen, russischer und westlicher Politik sowie iranischer, saudischer, ägyptischer und türkischer Machtpolitik. Assad hatte versucht, die Krise zu dominieren, um am Ende als Garant der Stabilität auch von der politischen Klasse des Erzfeindes Israels Unterstützung zu erhalten. Inzwischen ist klar, dass dieser wichtige Grundpfeiler seiner Herrschaftslegitimität unwiderruflich eingestürzt ist. Assad wird die Stabilität in seinem Land, geschweige denn in seinem ganzen Territorium, nie wieder herstellen beziehungsweise garantieren können. Damit wird er entbehrlich für weite Teile der syrischen Minderheiten, die Rache und Verfolgung fürchten, sowie für die arabische und internationale Gemeinschaft, die in dieser sensiblen Region ein Machtvakuum und Chaos fürchten. Als self-fulfilling prophecy ist dabei, das einzutreten, wovor Assad und sein Regime gewarnt und was sie zugleich ausgelöst haben. In der Realität ist also kaum noch etwas vom syrischen politischen System oder von den ideologischen Grundpfeilern des Regimes übrig geblieben. Eine politische Kernschmelze ist eingetreten, die als Nukleus lediglich den militärischen Machterhalt eines Familienclans und dessen Profiteuren übrig lässt und bei einem Scheitern die weitgehende Zerstörung des Landes nach sich zieht. Dennoch soll im Folgenden ein Blick auf die Überreste des theoretischen politischen Systems und dessen Herkunft geworfen werden. Neue Verfassung 2012 im Kontext des Krieges Inmitten der unaufhaltsamen militärischen Eskalation, die mit einer Verschärfung der internationalen Sanktionen einherging, machte die Regierung Assad den Versuch, nicht nur ihre militärische, sondern auch ihre politische Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Eine von der Regierung einberufene Kommission aus 29 alawitischen, sunnitischen und christlichen Experten stellte im Februar 2012 einen neuen Verfassungsentwurf vor. Die Novelle sollte die Verfassung der Arabischen Republik Syrien von 1973 ersetzen, die sich auf französisches und ägyptisches Recht stützte. Im Erb- und Familienrecht gelten teilweise weiterhin osmanisches und islamisches Recht. Die Religionsgruppen erhielten unter Assad die Freiheit, weitgehend eigene familienrechtliche Bestimmungen in Kraft zu setzen, was gegen Ende der Dekade allerdings wieder schwieriger wurde, als konservativ-islamische Kräfte an Einfluss gewannen. Am 26. Februar 2012 veranstaltete die Regierung ein Referendum zur Annahme der neuen Verfassung, während Teile von Homs in Schutt und Asche gelegt wurden. Es ist schwer zu sagen, wie viele der 14 Millionen wahrberechtigten Syrer tatsächlich an die Urnen gingen. Das Referendum war ein staatlich gelenkter Erfolg. Ganz im alten Stil wird in der Präambel der neuen Verfassung der Widerstand gegen die Kolonialgewalt und gegen den zionistischen Erzfeind beschworen, die zum Stolz und Erstarken Syriens geführt hätten. Im Einzelnen enthält das Dokument jedoch einige Neuheiten. Unter normalen Umständen wären einige der Verfassungsänderungen als revolutionäre Reformen in die syrische Geschichte eingegangen und von der oppositionellen Zivilgesellschaftsbewegung begrüßt worden. Doch für diese Zeit kam es zu spät und war zu wenig. Die führende Rolle der Baath-Partei in Politik und Gesellschaft (Artikel 8) wurde abgeschafft. Diese Änderung vollzog also die politische Realität nach. Politischer Pluralismus bleibt jedoch eingeschränkt, da mindestens die Hälfte der Parlamentsmitglieder "Arbeiter und Bauern" sein müssen (Artikel 60). Trotz des vertrauten Vokabulars wurde in der neuen Verfassung jeder Hinweis auf Sozialismus ausradiert. Die Dreifaltigkeit von "Einheit, Freiheit und Sozialismus", auf die der Präsident seinen Eid schwören musste, gehört nun der Vergangenheit an. Auch hier näherte sich die neue Verfassung an die längst eingetretene Wirklichkeit an. Das Dokument nimmt keinen deutlichen Bezug auf Syriens religiöse und ethnische Vielfalt. Kurden werden nicht erwähnt. Die religiösen Minderheiten erhalten jedoch das Recht, ihr Familienrecht und religiöse Angelegenheiten nach eigenen Statuten zu regeln. Damit gibt der Staat seinen Säkularismus endgültig auf. Im "säkularen" Syrien war es im Übrigen auch bisher nicht möglich, standesamtlich zu heiraten. Die arabische Sprache ist als einzige Amtssprache festgeschrieben (Artikel 4). Auch die neue Verfassung schreibt vor, dass der syrische Präsident ein Muslim sein muss (Artikel 3.1). Dies ist in fast allen Verfassungen der arabischen Welt der Fall. Der Passus war in der Verfassungskommission jedoch heftig umstritten. Schon Hafis al-Assad wollte 1973 diese Vorschrift kippen und stieß dabei auf starken Widerstand der damals noch in Syrien aktiven Muslimbrüder. Aufgeschreckt ruderte der alte Assad zurück, stampfte sein Vorhaben ein und machte sogar eine Reihe weitgehender Zugeständnisse darüber hinaus. Um konservative Muslime zu beschwichtigen, besuchte er fortan demonstrativ Moscheen und gründete sogar Koranschulen im Namen des Regimes. Die islamischen Stiftungsgüter wurden unter den Baathisten verstaatlicht und einem Ministerium unterstellt. Dieses trieb den Moscheebau mit privaten und öffentlichen Geldern voran – ein anschauliches Beispiel dafür, wie institutioneller, formaler Laizismus – die Trennung von Kirche und Staat – nicht unbedingt auch gesellschaftlichen Säkularismus vorantreiben muss. Anders als in anderen arabischen Staaten ist in Syrien der Islam nicht Staatsreligion. Die Scharia wird jedoch als Hauptquelle der Gesetzgebung bezeichnet (Artikel 3 Absatz 2). Konservative Sunniten erkennen Alawiten nicht als Muslime an. Auch deshalb war Hafis al-Assad dieser Verfassungsparagraf ein Dorn im Auge gewesen. Doch als der schiitische Geistliche Musa al-Sadr aus dem Libanon in den 1970er Jahren die Fatwa erließ, dass Alawiten Muslime seien, löste sich dieses Problem auf elegante Weise. Die neue Verfassung von 2012 ändert einige Bestimmungen in Bezug auf den Präsidenten. Das Mindestalter wird wieder auf 40 Jahre heraufgesetzt. Als Baschar al-Assad im Sommer 2000 die Nachfolge seines Vaters antrat, war er gerade einmal 34 Jahre alt. Kurzerhand wurde die Verfassung geändert, damit er überhaupt das höchste Staatsamt übernehmen konnte. Mit Blick auf die erstarkte Auslandsopposition verlangt die neue Verfassung, dass der Präsident (oder die Präsidentin) von Geburt aus Syrer sein muss, mit einer Syrerin beziehungsweise mit einem Syrer verheiratet sein und mindestens zehn Jahre in Syrien gelebt haben muss. Das schließt die meisten Exilsyrer aus. Die neue Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Mal sieben Jahre wird keinen nennenswerten Effekt in der Praxis haben. Diese Regel tritt nach Ablauf der jetzigen Amtszeit 2014 ein. Somit könnte Assad – falls er den Aufstand politisch überleben sollte – bis 2028 im Amt bleiben. Auch diese Verfassung verleiht dem Präsident Machtfülle: Er führt die Exekutive und kann Dekrete erlassen; er ernennt den Premierminister und die Minister; er kann das Parlament auflösen und die Mitglieder des Verfassungsgerichts bestimmen. Alle drei Staatsgewalten bleiben also in der Hand des Präsidenten. Dazu ist er Oberbefehlshaber der Armee, von der allerdings derzeit nur die vornehmlich alawitisch besetzten Eliteeinheiten voll einsatzfähig sind. Artikel 117 verleiht dem Präsidenten absolute Immunität vor Strafverfolgung außer im Falle des Landesverrats. Dies erscheint als vorsorgliche Maßnahme, die an den Jemen erinnert. Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh ließ sich Anfang 2012 zum Gang ins Exil überreden, nachdem ihm volle Immunität zugesagt wurde. Aufstieg und Fall des syrischen Baathismus Die Baath-Partei war bereits acht Jahre lang an der Macht gewesen, als Hafis al-Assad 1971 Präsident wurde. Mit ihm bauten vor allem Alawiten ihre Machtpositionen aus. Sie lebten einst als armes Bauernvolk in den Bergen um Latakia und erlebten durch die Kolonialpolitik der Franzosen ihren sozialen Aufstieg. Es war zwar keine "alawitische Revolution", sondern eher Zufall, dass sich gerade ein Alawit als hart und skrupellos genug erwies, die Intrigen und Machtkämpfe dieser Zeit für sich zu entscheiden. Dennoch spielt es eine Rolle, dass Assad einen säkularen persönlichen Hintergrund hatte. Der Pragmatiker verabscheute religiösen Konservatismus und die Politisierung von Religion. Der Islam, forderte er, solle frei "vom abscheulichen Gesicht des Fanatismus" sein. "Die Arabische Sozialistische Baath-Partei ist eine nationalistische sozialistische Partei, die nicht zwischen Religionen unterscheidet. (…) Wenn Syrien nicht schon immer über dem Sektierertum gestanden hätte, würde es jetzt nicht existieren." Er konnte damals nicht ahnen, dass ausgerechnet sein Sohn Baschar im politischen Überlebenskampf mit all diesen Prinzipien selbst brechen würde. Zwar spielte die alawitische Karte durchaus eine Rolle im syrischen Loyalitätssystem. Die Religionszugehörigkeit wurde zunehmend Bestandteil des politischen Pokers. Doch konnte man – zumindest bis zum Ausbruch der Revolte 2011 – nicht von einer "alawitischen Herrschaft" sprechen. Eine exklusive Klientelpolitik von und für Alawiten fand in Syrien nicht statt. Die Baath war keine Alawiten-Partei, sondern stützte sich auf verschiedene soziale, nicht auf religiöse Gruppen. Weder die Gesellschaft und schon gar nicht das Unternehmertum waren von Alawiten dominiert. Vielen Alawiten ging es in Syrien nicht besser als anderen Gruppen. Einige der treuesten Weggefährten Assads waren Sunniten, darunter Mustafa Tlass, der im Mai 2004 als dienstältester arabischer Verteidigungsminister nach 32 Jahren in Pension ging (und dessen Söhne heute im Widerstand kämpfen) oder Farouq al-Shara (von dem ebenfalls einige Familienangehörige die Seiten gewechselt haben oder im Gefängnis sitzen). Baschar al-Assad hat eine Sunnitin geheiratet und war im Machtapparat um Ausgleich bemüht. Viele Alawiten saßen als Oppositionelle im Gefängnis und wurden vom Regime in der Regel härter abgeurteilt als Mitstreiter anderer Religionen. Die Baath-Partei war nicht die einzige "säkulare" Stimme im unabhängigen Syrien nach dem Ende der französischen Mandatszeit 1946. Es gab Kommunisten, Sozialisten, syrische Nationalisten (die alle häufig auch panarabisch dachten) und im anderen Lager Konservative und Islamisten. Doch die Organisation von Michel Aflaq (ein Christ) und Salah al-Din Bitar gewann immer stärker an Kraft, besonders nach den Wahlen von 1954, die als erste freie Abstimmung in der arabischen Welt gilt. Syrien besitzt also, anders als die anderen Staaten des "Arabischen Frühlings", eine demokratische Vorgeschichte, auf die in oppositionellen Internetforen heutzutage hingewiesen wird. In den Jahren nach der Unabhängigkeit wechselten sich hoffnungsvolle demokratische Intermezzi und Militärcoups in rasantem Tempo ab. In den 1940er und 1950er Jahren wurde der Christ Faris Khoury zum Premierminister gewählt. Die Anti-Assad-Opposition wählte bewusst die alte syrische Flagge aus dieser Zeit – grün, weiß, schwarz – zum Banner des Aufstands von 2011. Doch die demokratischen Versuche währten nicht lange. Syrien wurde in der Region zum Synonym für Instabilität und Chaos. "Es war eine Zeit", wie A.R. Kelidar schreibt, "in der alle syrischen Offiziere morgens zur gleichen Zeit aufstehen mussten, andernfalls würde einer von ihnen einen Coup starten." Am 8. März 1963 sprangen die Baathisten einen Augenblick früher aus den Betten und putschten sich in Damaskus an die Macht. Besonders Jugendliche aus Minderheiten, wie Alawiten, Drusen oder Ismailiten, fühlten sich zur Baath-Partei hingezogen. Ihre radikale Ideologie des Panarabismus und der sozialen Erneuerung schaffte für sie die Möglichkeit, sich in die junge Nation zu integrieren. Entwurzelte Alawiten aus der Provinz Alexandretta, die Frankreich 1939 an die Türkei abtrat, sowie palästinensische Flüchtlinge sahen ebenso bei den Baathisten eine politische Heimat. Die Baathisten konnten auch diejenigen hinter sich versammeln, die der alten Eliten überdrüssig waren und die verkrusteten sowie ungleichen sozialen Verhältnisse anprangerten. Die treibende Kraft im Syrien der 1950er und 1960er Jahre war vor allem eine Kombination panarabischer Ideologie und der Kampf um eine überfällige Landreform. Beides schmolz die Baath-Partei geschickt zusammen. Dies erweiterte ihre Basis und mobilisierte die Bauern im Sinne der nationalen Agenda. Die nationale wurde dadurch wiederum auch zu einer sozialen Revolution. Gewinner waren in der Tat kleine und mittlere Bauern, die durch die Umverteilung von Land deutlich profitierten. Unter ihnen hatte die Baath-Partei neben Arbeitern, Studenten und Mitgliedern der unteren städtischen Mittelklasse lange viele Anhänger, bis sie von der neuen Elite ebenso enttäuscht wurden wie einst von den feudalen Grundbesitzern. In einem blutigen Baath-internen Putsch 1966 übernahmen die Offiziere Salah Jadid und Hafis al-Assad die Macht. Ihr Motor wurde eine quasi leninistische Kaderpartei. Sie trieben die Landreform voran, verstaatlichten Banken und Betriebe. Der Staat erhielt das Außenhandelsmonopol. Mit diesen Maßnahmen gewannen die Neo-Baathisten Zulauf aus ländlichen und städtischen Unterschichten, entfremdeten jedoch Unternehmer und Händler aus der städtischen Mittelschicht. Aus dem Gerangel unter den führenden Baath-Köpfen – vor allem alawitische, drusische und ismailitische Militärs – um die persönliche Macht im Staat ging schließlich 1970 Hafis al-Assad, Fliegerpilot und Chef der Luftwaffe, vom "nationalistischen Flügel" als Sieger hervor. Das war bis heute der letzte Putsch in Syrien. Assad nannte ihn auch gar nicht so, sondern lediglich "Korrekturbewegung". Der clevere Bauernsohn korrigierte die sozialistische Wirtschaftspolitik und verbündete sich so mit der Bourgeoisie. In den 1970er Jahren erlebte Syrien durch eine Öffnung nach außen einen Wirtschaftsboom. Assad trieb in den kommenden Jahren die Industrialisierung des Landes voran und investierte in Infrastruktur, Städtebau, Gesundheitswesen und Erziehung. Das schuf unter anderem eine relativ breite Mittelklasse, erhöhte die Mobilität der Syrer und reduzierte die Rate der Analphabeten drastisch. Er baute die Baath zu einer Massenpartei aus. Die Mitgliederzahl explodierte auf über eine Million im Jahr 1991 in einem Land, das damals etwa 13 Millionen Einwohner zählte. Unter Hafis al-Assad begann ein Pragmatismus, der auf Machterhalt und Stabilität ausgerichtet war, sowohl innen- wie außenpolitisch. Doch statt einer Liberalisierung erlebten die Syrer eine "Präsidialmonarchie". Assad pflegte einen gigantischen Führerkult. "Am Ende war es seine persönliche Autorität, und diese alleine, die das Land zusammen hielt", schreibt der Assad-Biograf Patrick Seale. "Er war der einzige Mast, der das Zelt aufrecht hielt." Dass das Zelt am 10. Juni 2000 nicht in sich zusammenbrach, als Assad seinem Blutkrebs erlag, war daher keineswegs selbstverständlich. Allerdings driftete die zentralisierte Macht vom Präsidenten in Richtung Sicherheitsapparate, zu den staatswirtschaftlichen Profiteuren und letzten Endes zu den Eliteeinheiten des Militärs. "Zu Zeiten von Hafis al-Assad kam die Dynamik des Regimes daher, dass es ein Machtzentrum gab, klar, bestimmend und gut definiert", sagte der damalige Kopf der Zivilgesellschaftsbewegung, Michel Kilo, im Jahr 2003. Innerhalb der Macht schien es keine Widersprüche, keine unterschiedlichen Interessen zu geben. "Das ist nicht mehr der Fall. Die Macht wird nicht mehr von ihrem Kopf reproduziert, sondern der Kopf wird von verschiedenen Machtzentren reproduziert." Die Pluralisierung von Machtzentren setzte unter Baschar al-Assad ein und zeichnet auch das Bild des Umgangs mit dem Aufstand 2011. Gleichzeitig verkam die Baath-Partei zum Sammelbecken verschiedener Kräfte, in der sich auch zunehmend konservativer Islamismus breitmachte. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Irakkrieg 2003 bekam der Panarabismus einen neuen Schub in Verbindung mit einem antiamerikanischen Islamismus. Die Baath-Partei schwamm in diesem Strom mit und kompromittierte damit zunehmend die säkulare oder gar sozialistische Komponente ihrer Ideologie. Schließlich stellte der "Arabische Frühling" die alten Diskurse vollständig auf den Kopf. Die Proteste richteten sich gegen die eigenen autokratischen Systeme und nicht gegen einen äußeren Feind. Panarabismus wurde zur Farce, die Baath-Ideologie verblasste endgültig und der Widerstandsdiskurs zerbrach. "Die Politik des Widerstands hat die gesamte arabische Welt ruiniert", sagte Kilo bereits kurz vor dem Aufstand Ende 2010. "Seit 40 Jahren haben wir gegen die ‚Handlanger der Zionisten‘ gekämpft, während die Zionisten gemütlich auf dem Golan sitzen. Wo ist der Widerstand? Wo ist die nationalistische Politik?" Die Kritik wuchs auch in Kreisen außerhalb der Opposition. Der desillusionierte junge Historiker Sami Moubayed schrieb Ende 2011: "Der Arabische Nationalismus wurde 50 Jahre lang getestet und gemolken. Er hat drastisch versagt, auf die politischen, ökonomischen und sozialen Sorgen der Menschen eine Antwort zu geben. Ebenso versagt hat der Baathismus, der gerade seinen langen Weg in die Geschichte angetreten hat. Gerade weil der Baathismus versagt hat, haben die Leute nach Antworten woanders gesucht, in Moscheen zum Beispiel." Ende 2011 veröffentlichte die Zeitung "Baladna" (Unser Land) ein gewagtes Meinungsstück des Schauspielers Bassam Jneid, der schrieb: "Heute ist der letzte Slogan der Baath-Partei zusammengebrochen, nachdem der Freiheitsslogan schon vor 40 Jahren gefallen war. (…) Um Himmels willen, was von unserer Partei geblieben ist, ist nichts anderes als eine Bande von Dieben, die alles stahlen, was sie konnten unter dem Deckmantel des Nationalismus." Selbst der offizielle Diskurs in Damaskus brach mit der Ideologie der vergangenen Jahrzehnte. Die Zeitung "al-Watan" (Vaterland) trat im November 2011 dafür ein, die panarabische Solidarität zu beerdigen. Der Autor stellt Syrien als Opfer des arabischen Verrats und internationaler Verschwörung dar. "Vielleicht ist die Zeit gekommen, die Türen zu schließen, selbst die Fenster, sich innenpolitischen Angelegenheiten zuzuwenden und den Panarabismus aufzugeben, der Syrien nur eine Katastrophe nach der anderen gebracht hat, einen Flüchtling nach dem anderen und eine Verlegenheit nach der anderen." Somit haben Regimeanhänger wie -gegner gleichermaßen den Baathismus und Panarabismus als Ideologie des syrischen Systems endgültig zu Grabe getragen, während die letzten Reste der politischen Institutionen von physischer Zerstörung bedroht sind. Vgl. Raymond Hinnebusch, Syria: Revolution from Above, London–New York 2001, S. 2ff. Unter anderem benutzt Volker Perthes trotz Bedenken diesen Begriff und ordnet ihn in die entwicklungstheoretischen Debatten ein. Vgl. Volker Perthes, Staat und Gesellschaft in Syrien 1970–1989, Hamburg 1990, S. 33, S. 209ff. Vgl. Interview mit Baschar al-Assad, in: The Wall Street Journal vom 31.1.2011. Eine englische Übersetzung der Verfassung von 2012 ist zu finden unter: Externer Link: http://de.scribd.com/doc/81771718/Qordoba-Translation-of-the-Syrian-Constitution-Modifications-15-2-2012 (7.1.2013). Vgl. Hans Günter Lobmeyer, Opposition und Widerstand in Syrien, Hamburg 1995, S. 193ff.; Gerhard Schweizer, Syrien: Religion und Politik im Nahen Osten, Stuttgart 1998, S. 278. Vgl. Patrick Seale, Asad: The Struggle for the Middle East, London 1988, S. 173. Mehr zu Syrien unter französischem Mandat: Philip S. Khoury, Syria and the French Mandate: The Politics of Arab Nationalism, 1920–1945, Princeton 1987; Malik Mufti, Sovereign Creations: Pan-Arabism and Political Order in Syria and Iraq, Ithaca–London 1996, S. 44ff. Zit. nach: P. Seale (Anm. 6), S. 173. Zit. nach: Nikolaos van Dam, The Struggle for Power in Syria, London 20114, S. 110. Vgl. H.G. Lobmeyer (Anm. 5), S. 211, S. 219ff.; Hanna Batatu, Syria’s Peasantry: The Descendants of Its Lesser Rural Notables and Their Politics, Princeton–Oxford 1999, S. 227ff., S. 327; V. Perthes (Anm. 2), S. 16; ders., Einige kritische Bemerkungen zum Minderheitenparadigma in der Syrienforschung, in: Orient, (1990) 4; N. van Dam (Anm. 9). Vgl. V. Perthes (Anm. 2), S. 49; Tabitha Petran, Syria, London 1972, S. 107. Die Fahne war das offizielle Banner von 1932 bis 1958 und von 1961 bis 1963. A.R. Kelidar, Religion and State in Syria, in: Asian Affairs, (1974) 1, S. 16–22. Vgl. R. Hinnebusch (Anm. 1), S. 31. Vgl. ebd., S. 3, S. 120. Vgl. ebd., S. 52ff. Vgl. H. Batatu (Anm. 10), S. 177. R. Hinnebusch (Anm. 1), S. 145. P. Seale (Anm. 6), S. 440. Interview mit dem Autor am 30.9.2003 in Damaskus. Interview mit dem Autor am 28.10.2010 in Damaskus. Sami Moubayed, Challenge for Political Islam in Syria, 11.12.2011, Externer Link: http://www.mideastviews.com (7.1.2012). Let us now tend to a country called Syria, in: Baladna vom 22.11.2011, Übersetzung C.W. A letter to the heart of Pan-Arabism: Syria First, in: al-Watan vom 28.11.2011, Übersetzung C.W.
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, Carsten Wieland
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-02-14T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/155126/das-politisch-ideologische-system-syriens-und-dessen-zerfall/
Vom syrischen politischen System ist nicht mehr viel übrig. Staatliche Strukturen haben sich vielerorts aufgelöst, die Verfassungsänderung von 2012 kam zu spät und ging nicht weit genug, alle ideologischen Pfeiler des Regimes sind gestürzt.
[ "Krieg", "Bürgerkrieg", "Aufstand", "Arabischer Frühling", "Staat", "Verfassung", "Ideologie", "Syrien" ]
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M 03.04 Beispiel: Einfache Häufigkeitsauszählung | KlassenCheckUp! | bpb.de
Mittelwert: 1,45 Median: 1,00 Abweichung: 0,79 Standardabweichung: 0,93 Arbeitsaufträge für die Gruppenarbeit: Beschreibt, was ihr aus der Grafik bzw. Statistik lesen könnt, und markiert wichtige Punkte in der Grafik. Beachtet dabei die Punkte der Checkliste! Bei Bedarf könnt ihr die Bedeutung der statistischen Begriffe im Glossar nachsehen. Wie interpretiert ihr die Daten? Wie sind die Werte zu beurteilen?
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-21T00:00:00"
"2011-12-06T00:00:00"
"2021-09-21T00:00:00"
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Kommentar: Die Ukraine als europäische Wohlstandsoase – Wasyl Holoborodkos Vision hat überzeugt | Ukraine-Analysen | bpb.de
Deutlich mehr als zwei Drittel der Wähler trauen Wolodymyr Selenskyj zu, dass er die Ukraine – wie die Serienfigur Holoborodko in Selenskyjs TV-Produktion "Diener des Volkes" – auf dem Weg zu einem modernen Staat entscheidend voranbringt. Die Ukrainer wählten damit zum dritten Mal seit der Unabhängigkeit einen Amtsinhaber ab. Der kompetitive Wahlkampf sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wirklicher Pluralismus noch nicht existiert. Fünf Jahre nach der Zäsur des Euromaidan konnten die Ukrainer bei den Präsidentschaftswahlen kaum zwischen "alten" und "neuen" Politikern wählen. Dabei zeigen Umfragen schon lange, dass die Bürger der Ukraine neue Repräsentanten wollen. Letztere sind auf nationaler Ebene aber noch selten oder haben keine Macht. Reichweitenstarke TV-Kanäle von Oligarchen und ein Wahlrecht, das Millionensummen und Politik intransparent miteinander verflicht, versperren den Weg zu Bekanntheit und Ämtern. Revolution an der Wahlurne Selenskyj hatte, was Neupolitiker sonst kaum haben: Zugang zu den Medien. Über das Fernsehen erreichte er Wähler im ganzen Land. Und als erfolgreicher TV-Produzent mit eigenem Vermögen konnte er mit einer professionellen Kampagne auf YouTube und Instagram auch junge Leute zur Stimmabgabe motivieren. Er brach so aus dem Stand alte Abstimmungsmuster: mit Ausnahme von Lwiw gewann er in allen Regionen. Das lag auch daran, dass der kurz "Se" genannte Politneuling sich gegen "unaufgeklärten" Patriotismus wandte. Damit hatten einige die weitere Konfrontationslinie "Sicherheit gegen Freiheit" (Angelina Karjakina, siehe Externer Link: https://www.eurozine.com/security-over-liberty/) eröffnet. Das Ziel: eigenes Fehlverhalten rechtfertigen. Das Narrativ: Die Regierung müsse von allen unterstützt werden, Kritik schwäche die Ukraine und spiele dem Kreml in die Hände. Letzteres stimmt leider, sollte aber kein Grund sein, Defizite zu verschweigen. Ukrainische Journalisten, die aus von Russland besetzten Gebieten berichteten und neben der russischen Aggression auch ukrainisches Fehlverhalten ansprachen, wurden als parteiisch oder gefährlich abgestempelt, kurz: als unpatriotisch. Diese Haltung gipfelte in Poroschenkos Wahlslogan "Armee, Sprache, Glaube". Es ist das Verdienst der ukrainischen Bürger, dass sie diesem Betrug nicht aufgesessen sind. Selenskyj hat es nicht geschadet, dass er die ukrainische Sprache und Kultur aufs Korn genommen hat. Das dürfte daran liegen, dass er auch sich selbst auf die Schippe nimmt: Als ein Politiker seinen Patriotismus in Frage stellte, drohte er damit, seine jüdische Mutter auf den Ankläger zu hetzen. Hohe Erwartungen Der Wunsch der großen Mehrheit ist euroatlantische Integration. Davon zeugt die Europafahne, die in der Ukraine häufig neben der Nationalflagge weht. Die EU gilt als Rettungsanker, mit dem Korruption und schlechter Regierungsführung begegnet werden soll. Diese beiden Probleme sehen die Ukrainer als größte Herausforderung neben dem Krieg. Weder ein EU-Beitritt noch eine NATO-Mitgliedschaft sind in der kommenden Amtszeit realistisch. Das liegt auch an den Strukturen und am Zustand der EU. Die Unaufrichtigkeit mancher Politiker in der EU und der Ukraine belastet die Beziehungen, auch wenn Brüssel unterhalb der Beitrittsschwelle viel für die Ukraine tut. Reformen sind vor allem dort gelungen, wo die Interessen mächtiger Eliten nicht berührt wurden. Die Ausnahmen im Banken- und Energiesektor oder im Gesundheitsbereich zeigen aber, dass der Druck der ukrainischen Zivilgesellschaft und der internationalen Partner wirkt. Das überzeugende Wahlergebnis ist ein schwieriges Mandat. Die Erwartungen der Wähler sind nicht nur hoch, sondern auch divers: Es gibt zum Beispiel große Unterschiede zwischen den Erwartungen der Wähler in Kiew und in ländlichen Gegenden oder auch zwischen den Erwartungen derjenigen, denen es wirtschaftlich gut geht, und denen, die kaum über die Runden kommen. Manche betonen, dass in der Ukraine zurzeit schwierigste Bedingungen herrschen und dass nachhaltige Reformen Zeit brauchen. Andere sind enttäuscht darüber, dass nach wie vor Partikularinteressen die Politik bestimmen, dass der wirtschaftliche Aufschwung ausbleibt, und darüber, dass Verantwortliche nicht für Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen werden. Ausblick auf die Parlamentswahlen Die erste Herausforderung für den neuen Präsidenten ist das Parlament. Das semipräsidentielle Regierungssystem der Ukraine erfordert in vielen Fällen sowohl die Zustimmung des Präsidenten als auch des Parlaments oder des Premierministers. Beispielsweise ernennt der Präsident die Gouverneure, die für die Regierungsführung in den Regionen eine wichtige Rolle spielen, aber der Premierminister muss zustimmen. Nachdem sich die Wahlkommission mit der Verkündung des amtlichen Endergebnisses am 30. April sehr lange Zeit gelassen hat, muss die Werchowna Rada nun innerhalb von 30 Tagen das Datum der Vereidigung Selenskyjs bestimmen. Danach kann dieser seine Vertreter in die Präsidialadministration, den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, die Nationalbank und das Verfassungsgericht berufen und den Posten des Generalstabschefs besetzen. Den Verteidigungsminister, den Außenminister, den Chef des noch immer mächtigen Sicherheitsdienstes und den Generalstaatsanwalt kann er nominieren, aber diese Nominierungen erfordern die Bestätigung durch das Parlament. Wenn die neue Rada gewählt ist, gilt es, eine Koalition zu bilden, die den Premierminister, der vom Präsidenten vorgeschlagen wird, mit einfacher Mehrheit bestätigt. Der aktuelle Premier Wolodymyr Hrojsman hat sich schon lange von Poroschenko distanziert. Wie andere einflussreiche Politiker wird er abwägen, ob er eine eigene Partei gründet oder sich auf andere Art und Weise vernetzt Einfluss verschafft. Aktuelle Versuche, noch rasch Gesetze zu verabschieden, die die Kompetenzen des Präsidenten beschneiden, dürften für Selenskyj keine Gefahr darstellen. Denn immerhin ist das klare Wahlergebnis auch eine Botschaft an die Rada, deren Beliebtheit gering ist. Für Selenskyj ist es wichtig, sich bis zur Parlamentswahl respektabel zu halten und dann eigene Abgeordnete zu gewinnen, unabhängig davon, ob es bei der Parlamentswahl im Oktober bleibt oder ob die Wahl vorgezogen wird. Gegenwärtig liegt Selenskyjs Partei, benannt nach seiner Serie "Diener des Volkes", in Umfragen bei über 20 Prozent. Das entspricht etwa dem Wert, mit dem 2014 die Präsidentenpartei nach Verhältniswahlrecht (nach dem zurzeit die Hälfte der Abgeordneten gewählt wird) abschnitt. Zur stärksten Fraktion wurde die Partei nur, weil ihre Kandidaten in den Einzelwahlkreisen (über die zurzeit die zweite Hälfte der Abgeordneten per Mehrheitswahlrecht gewählt wird) überwiegend gewannen. Mit Geld und Einfluss Abgeordnete befördern – das kann nun auch Selenskyj. Das von Poroschenko 2014 versprochene neue Wahlrecht – ein reines Verhältniswahlrecht mit offenen Parteilisten, das den Wählern erlauben würde, gezielt Abgeordnete zu bestimmen – wurde nicht eingeführt. Reformpartner der Ukraine sollten hieraus lernen und den Neupräsidenten "Se" rechtzeitig vor der Parlamentswahl 2024 an eigene Versprechungen für ein neues Wahlrecht erinnern. Der unberechenbare Präsident Innenpolitisch wird "Se" am Kampf gegen die Korruption und am wirtschaftlichen Aufschwung gemessen werden. Das ist folgerichtig, denn an gesicherten Eigentumsrechten hängen Investitionen, ausländische wie inländische, die der Wirtschaft fehlen. Die Gretchenfrage ist, ob Selenskyj zuverlässig für das steht, was er verspricht: Transparenz, Fairness, Teilhabe an politischen Entscheidungen, das Aufbrechen von Monopolen sowie Rechtsstaatlichkeit und Justizreform. Seine Beziehungen zum berüchtigten Oligarchen Ihor Kolomojskyj lassen zumindest daran zweifeln, dass Selenskyj unabhängig ist. Den Aufbau seiner Partei jedenfalls hat er nicht demokratisch gestaltet, obwohl es für sein Team ein Leichtes gewesen wäre, 10.000 Unterschriften zu sammeln und so den in der Ukraine vorgegebenen Prozess der Parteigründung umzusetzen. Stattdessen bediente er sich einer alten Parteihülle (Partei des entscheidenden Wandels) und widmete diese um. Und was Selenskyjs Kommunikationsstrategie angeht, kann man festhalten: "Se" kommuniziert virtuell mit den Bürgern, die er über die sozialen Medien zum Mitmachen aufruft, bislang unverbindlich zu seinem eigenen Nutzen. Im Kreml lacht keiner über Selenskyj Für den Kreml ist Selenskyj, der in Russland als Schauspieler gut bekannt ist, eine Herausforderung. Russische Bürger verfolgen seine Auftritte in den sozialen Medien mit neidvollem Interesse. Noch am Wahlabend verkündete Selenskyj – für den Kreml ein Alptraum –: "Ich bin noch nicht Präsident, ich kann mich noch als Bürger an alle Länder der früheren UdSSR wenden und sagen: Alles ist möglich!" Dass in der Ukraine ein Jude durch einen friedlichen Machtwechsel Präsident werden konnte, widerspricht dem Feindbild von der Faschistenhochburg und vom "failed state". Und Putins Offensive, Ukrainern russische Pässe anzubieten, demaskierte Selenskjy als Einladung, sich in die russische Unfreiheit zu begeben. Dass der Verteidigungsexperte Iwan Aparschyn nun zu Selenskyjs Team gehört, lässt auf die weitere Professionalisierung der ukrainischen Armee hoffen und auf mehr Transparenz im Verteidigungssektor, insbesondere im undurchsichtigen staatlichen Rüstungskonzern UkrOboronProm. Ihre innenpolitischen Herausforderungen müssen die Ukrainer in erster Linie selbst bewältigen. Was den Krieg angeht, den Russland gegen die Ukraine führt, kann Europa mehr tun. Ein Anfang wäre damit gemacht, die zentrale Rolle Russlands als Kriegspartei klar zu benennen. Es ist perfide, wenn Putins Sprecher die Legitimität der Wahl anzweifelt, weil drei Millionen Ukrainer in von prorussischen Separatisten besetzten Gebieten nicht hätten abstimmen können.
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Von Miriam Kosmehl (Bertelsmann Stiftung, Berlin)
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-05-22T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/291666/kommentar-die-ukraine-als-europaeische-wohlstandsoase-wasyl-holoborodkos-vision-hat-ueberzeugt/
Korruption und mangelhafte Regierungsführung wird von den Ukrainern neben Krieg als größte Herausforderung der Politik genannt. Als Lösungsansätze werden der ersehnte EU-Beitritt sowie die NATO-Mitgliedschaft gehandelt. Wie begegnet der neue Präsiden
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Die öffentliche Wahrnehmung des Bundesverfassungsgerichts | Herrschaft des Rechts | bpb.de
Die Beziehung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Öffentlichkeit ist eine gute und enge. Das Bundesverfassungsgericht braucht die Öffentlichkeit, zugleich ist es ein Liebling der Öffentlichkeit. Seit Jahrzehnten verfügt Karlsruhe, zusammen mit dem Bundespräsidenten, unter den Verfassungsorganen über die höchsten Vertrauenswerte in der Bevölkerung. So bekundeten zuletzt im Dezember 2020 in einer Umfrage von Infratest Dimap 80 Prozent der Befragten, (sehr) großes Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht zu haben – deutlich mehr als in die Bundesregierung (61 Prozent) und den Bundestag (57 Prozent). Die Werte bestätigen nicht nur, dass das meist ausgleichende politische Agieren des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung gut ankommt. Sie zeigen auch, dass das höchste deutsche Gericht, wenn es seine Aufgabe gut erfüllt, ein wichtiger Stabilitätsanker für das politische System der Bundesrepublik ist. Von entscheidender Bedeutung dürfte dabei sein, dass das Bundesverfassungsgericht, obwohl es eine politische Institution ist, doch vor allem als Gericht wahrgenommen wird. Hilfreich hierfür ist nicht zuletzt eine entsprechende Medienarbeit. Ein Gericht als politische Institution Das Bundesverfassungsgericht ist eine politische Institution. Es trifft politische Entscheidungen, indem es Gesetze und Gerichtsentscheidungen bestätigt, korrigiert und gegebenenfalls annulliert. "Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden", heißt es in §31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Wenn das Grundgesetz als Verfassung (nationalstaatlich) an höchster Stelle steht, dann profitiert von diesem Rang automatisch auch das Bundesverfassungsgericht als dessen Interpret und Wächter. Diese Machtfülle scheint zwar dadurch begrenzt, dass das Bundesverfassungsgericht als Gericht konstruiert ist, das an vorgegebenes Recht – das Grundgesetz – gebunden ist, nur auf Antrag tätig werden beziehungsweise nur über vorliegende Klagen entscheiden kann. Faktisch sind diese Grenzen aber relativ schwach. So sind die Vorschriften des Grundgesetzes meist abstrakt. Geschützt werden etwa Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde. Was das konkret bedeutet, entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Auch die Grundrechte werden so konkretisiert. So sind zum Beispiel auch Mieter:innen durch das Grundrecht auf Eigentum geschützt, obwohl sie gerade keine Eigentümer:innen sind. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erhielt von den Richter:innen in zahlreichen Entscheidungen eine Bestands- und Entwicklungsgarantie, obwohl er im Grundgesetz nicht einmal erwähnt ist. Vermeintliche Lücken im Grundgesetz füllt das Bundesverfassungsgericht selbstbewusst. So entwickelte es ein Grundrecht auf Datenschutz (informationelle Selbstbestimmung) und band Auslandseinsätze der Bundeswehr an einen Beschluss des Bundestags. Jüngste Entdeckungen der Richter:innen waren Anfang 2020 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und ein Jahr später die Anerkennung des Klimaschutzes als Staatsziel. Ganz ohne Verfassungsänderung entwickelt sich das Grundgesetz weiter, dank der Gestaltungskraft der Karlsruher Richter:innen. Zwar bindet sich das Gericht in gewisser Weise durch seine Rechtsprechung selbst. Es kann nicht in jedem Fall neue Maßstäbe entwickeln, sondern legt seinen Entscheidungen in der Regel die bisherige eigene Rechtsprechung zugrunde. Allerdings können die Richter:innen bei Bedarf ihre Rechtsprechung auch jederzeit ändern: 2008 sah Karlsruhe im Abgleich von Kfz-Kennzeichen mit Fahndungscomputern noch keinen Eingriff in Grundrechte. 2019 korrigierte sich das Gericht und entschied das Gegenteil. Etwas verdeckter, aber noch einflussreicher ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Eingriffe in Grundrechte müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein. Der Staat soll nicht "mit Kanonen auf Spatzen schießen". Was aber angemessen ist, entscheidet letztlich das Bundesverfassungsgericht selbst. Natürlich prüft auch der Gesetzgeber die Verhältnismäßigkeit. Es gibt aber keinen naturwissenschaftsgleichen, für alle und alles identischen Maßstab. Letztlich wägt das Gericht nach freiem politischem Ermessen ab und besitzt die Macht, seine Abwägung an die Stelle der Abwägung des Bundestags zu setzen. Selbst der alte Satz "wo kein Kläger, da kein Richter" wurde vom Bundesverfassungsgericht faktisch in ein "Kläger finden sich immer" abgewandelt. Zwar sind Klagen prinzipiell nur zulässig, wenn jemand selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten verletzt ist (oder das zumindest substantiiert vorträgt). Doch wenn es dem Gericht opportun erscheint, erlaubt es, mit unterschiedlichen Argumenten, auch jedermann und jederfrau die Klage: So könne, betont das Gericht etwa, bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen von Polizei und Verfassungsschutz ja niemand wissen, ob er oder sie persönlich betroffen ist. Deshalb können nun alle gegen neue Sicherheitsgesetze klagen, auch wenn sie eine persönliche Betroffenheit nicht nachweisen können. Ein zweites Beispiel: Durch die EU-Integration verliere, so das Bundesverfassungsgericht seit seinem Maastricht-Urteil von 1993, das Wahlrecht der Wähler:innen zum Bundestag an Wert – also müssen aus Karlsruher Sicht alle Bürger:innen gegen die Zustimmung des Bundestags zu EU-Verträgen klagen dürfen. Und beim Klimaschutz hat das Gericht schließlich den "intertemporalen" Grundrechtsschutz entwickelt. Bereits heute kann sich jeder ohne konkrete Betroffenheit gegen Grundrechtseinschränkungen wehren, die erst in Jahrzehnten drohen. Am Bundesverfassungsgericht kann fristwahrende Post bis zur letzten Minute eingeworfen werden. (© picture-alliance/dpa, Jürgen Effner) Das alles heißt natürlich nicht, dass die Kläger:innen mit ihren Klagen stets Erfolg hätten. Zunächst geht es nur darum, dass das Bundesverfassungsgericht sich selbst Zugang zu einem Problem verschafft, sodass es verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickeln und dann Gesetze und andere staatliche Akte an diesen Maßstäben messen kann. Das Bundesverfassungsgericht handelt also nach Regeln, die es größtenteils selbst entwickelt hat und anschließend selbst interpretiert. Kein anderes deutsches Verfassungsorgan hat eine so große politische Gestaltungsmacht. Eine politische Institution als Gericht Große Macht führt nicht zwingend zu hohem Ansehen. Doch das große Vertrauen, das das Bundesverfassungsgericht in der Bevölkerung genießt, zeigt, dass die Karlsruher Richter:innen mit ihrer Machtposition in den vergangenen 70 Jahren klug umgegangen sind. Das beginnt damit, dass die Verfassungsrichter:innen in ihren Urteilen in der Regel den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers betonen. Sie lassen ihm Freiheit bei der Einschätzung der Lage und bei der Erforderlichkeit von Eingriffen. Die Richter:innen betonen meist, dass die Verfassung viele Lösungen für politische Probleme zulasse und das Bundesverfassungsgericht nur dann interveniere, wenn die seitlichen "Leitplanken" des Grundgesetzes durchbrochen werden. Sie lassen die Politik an der langen Leine und nehmen sich somit auch aus der Verantwortung für das mühsame Alltagsgeschäft. So kann das Bundesverfassungsgericht insbesondere dann als eine Art oberster Schiedsrichter eingreifen, wenn wichtige politische Vorhaben gesellschaftlich hoch umstritten sind. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann Karlsruhe dann zum Beispiel neue Teilregelungen anordnen und so Bedenken der Kläger:innen aufgreifen. Kein Wunder, dass nach vielen Karlsruher Schiedssprüchen die meisten Beteiligten recht zufrieden sind. Doch das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts folgt nicht nur aus seiner Arbeit als fähiger Mediator. Erleichtert wird seine Rolle auch dadurch, dass es ein Gericht ist, das Recht anwendet und Urteile spricht. Es ist eben nicht ein weiterer Akteur im vielstimmigen politischen Diskurs, sondern es ist die Institution, die am Ende entscheidet. Es hat das letzte Wort, es ist das Basta-Organ. Gerade in Deutschland mit seiner verspäteten parlamentarischen Tradition war der Rechtsstaat viel früher entwickelt als die Demokratie. Die Hoffnung auf das Recht und unabhängige Richter ist in Deutschland tief verankert. Insofern passte auch das 1949 neu geschaffene Bundesverfassungsgericht gut in die noch autoritätsfixierte Nachkriegszeit. Hier sprachen juristische Experten Urteile und setzten die Verfassung gegen die Politik durch. Spätestens als das Verfassungsgericht 1961 Adenauers Plänen für ein Regierungsfernsehen die Stirn bot, hatte sich das Gericht als eigenständiger, mächtiger Akteur etabliert. Ein Organ, das machtkontrollierend, machtverteilend und minderheitenschützend agiert, kann aber politisch schnell zwischen alle Stühle geraten. Die scheinbar neutrale Rolle als Gericht, das nur das vorgegebene Grundgesetz anwendet, ist dabei ein wirkungsvoller Schutz. Die im Ausland oft gestellte Frage, wie man einem Gericht so viel politische Macht anvertrauen kann, ist aus deutscher Sicht insofern genau umgekehrt zu beantworten: Gerade weil das Bundesverfassungsgericht ein Gericht ist und als Gericht gesehen werden will, kann es seine Rolle zwischen und über den Interessen so gut ausfüllen. Sitzungszimmer im Bundesverfassungsgericht. (© picture-alliance/dpa, Uli Deck) Die "Inszenierung" dieser Rolle geht bis in die Details. Die Richter:innen tragen Roben, ihre internen Auseinandersetzungen unterliegen dem Beratungsgeheimnis. Und wenn sie bei komplizierten Fällen Sachverständige anhören, wird dies "mündliche Verhandlung" genannt. Die Schlichtungssprüche firmieren als "Urteil" oder "Beschluss". Und: Die Argumentation muss immer auf das Grundgesetz zurückgeführt werden. Politische Argumente sind natürlich allgegenwärtig, aber nur in juristischer Übersetzung als Auslegung einer Verfassungsnorm nach "Sinn und Zweck" oder als abzuwägender Gesichtspunkt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Und natürlich gehört auch das Massengeschäft mit den tausenden unspektakulären Verfassungsbeschwerden zur Inszenierung des Bundesverfassungsgerichts als Bürgergericht. Versuche der Richter:innen, ein Verfahren der "freien Annahme" durchzusetzen, bei dem sie sich wie der US-Supreme Court auf bedeutende Fälle konzentrieren könnten, hatten in Deutschland nie eine Chance. Die Öffentlichkeit will ein Verfassungsgericht, das für alle da ist, und nicht eine Denkfabrik, die sich auf selbstgewählte Fragestellungen konzentriert. So sehr die Richter:innen über die Last des täglichen Klein-Klein stöhnen: Diese Last ist eben der Preis für die große Macht, die ihnen anvertraut ist. Schlecht für das Ansehen als über allem Parteiengezänk stehende Richter:innen ist es aber, wenn das Bundesverfassungsgericht selbst gespalten ist. Phasen mit häufigen 5:3-Entscheidungen in den 1970er und in den 1990er Jahren waren zugleich Phasen einbrechender Popularität. Das Bundesverfassungsgericht wirkte damals nicht mehr wie der Gegenentwurf zur Politik, sondern wie ein neues Forum für den üblichen Streit. Deshalb hat das Gericht sich in den vergangenen zwanzig Jahren mit beachtlichem Erfolg bemüht, einstimmig oder zumindest mit großer, lagerübergreifender Mehrheit zu entscheiden. Dies erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Öffentlichkeit die Urteile als Recht akzeptiert und nicht als camouflierte Politik wahrnimmt. Ähnliches gilt für Konflikte des Bundesverfassungsgerichts mit europäischen Gerichten, insbesondere mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Das Dilemma ist ganz aktuell: Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den Anleihe-Ankaufprogrammen der Europäischen Zentralbank (EZB) dem EuGH vorgeworfen, er habe das EU-Recht methodologisch völlig falsch angewandt, weshalb sein Urteil in dieser Sache für Deutschland unbeachtlich sei. Abgesehen davon, dass es von wenig Verantwortungsbewusstsein zeugt, den EuGH ausgerechnet in einer Situation anzugreifen, in der die EU mit den ins Autoritäre abdriftenden Staaten Polen und Ungarn im Clinch liegt, hat sich das Bundesverfassungsgericht hier auch selbst keinen Gefallen getan. Wenn Gerichte streiten und sich gegenseitig Grenzüberschreitungen vorwerfen, leidet vor allem die Idee des Rechtsstaats, für die eben auch das Bundesverfassungsgericht steht. Pressearbeit Politische Berichterstattung fokussiert sich typischerweise auf Fragen der Machtverteilung. Wer hat bei einem Gerichtsverfahren gewonnen, und wer hat verloren? Wer wird welche Probleme bei der Umsetzung einer Entscheidung haben? Für politische Berichterstatter:innen ist die Justiz eine Black Box, bei der am Ende ein Urteil ausgeworfen wird. Der Weg dorthin interessiert schon deshalb wenig, weil nicht-juristische Journalist:innen ihn oft nicht so recht verstehen und beschreiben können. Wenn das Ansehen der politischen Institution Bundesverfassungsgericht wesentlich davon abhängt, dass es als Gericht und nicht als politischer Akteur wahrgenommen wird, dann hat das Bundesverfassungsgericht ein objektives Interesse an einer medialen Berichterstattung, die diese Sichtweise unterstützt. Für das Gericht ist daher eine Medienberichterstattung wichtig, die nicht nur in Kategorien von Sieg und Niederlage analysiert, sondern ein Urteil als einen Akt der Rechtsfindung darstellt. Es profitiert von Journalist:innen, die auch seine juristischen Argumente beschreiben und bewerten. In und um Karlsruhe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Kreis von rund drei Dutzend Journalist:innen angesiedelt, die über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts juristisch kompetent berichten und so die Sichtweise mittransportieren, dass hier Recht gefunden und gesprochen wird. Dieser juristisch orientierte Journalismus nützt dem Bundesverfassungsgericht. Dabei geht es nicht um unkritische Hofberichterstattung. Auch harte mediale Kritik an Entscheidungen wird in Karlsruhe akzeptiert, solange sie das Narrativ unterstützt, dass es sich hier um Rechtsprechung handelt, die zunächst juristisch zu bewerten ist. Eher unerwünscht ist dagegen Kritik, die den Richter:innen die Verfolgung individueller oder kollektiver Interessen unterstellt. Der Vorwurf oder auch nur die bloße Darstellung, das Bundesverfassungsgericht verfolge eine eigene Agenda, ist für das Gericht ja auch besonders problematisch, weil dabei seine Legitimationsbasis als selbstloser Schiedsrichter berührt ist. Die Karlsruher Journalist:innen haben ihrerseits ein Interesse daran, die juristische Perspektive zu betonen, weil es ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber der politischen Berichterstattung ist, die in der Regel in den Berliner Korrespondentenbüros oder in der Zentrale des jeweiligen Mediums angesiedelt ist. Und weil eine kompetente verfassungsrechtliche Berichterstattung als Ausweis journalistischer Qualität gilt, verfügen alle Qualitätsmedien über spezialisierte Journalist:innen, meist sogar über eigene Korrespondent:innen vor Ort. Auch die ARD-Rechtsredaktion sitzt in Karlsruhe. Man könnte also von einem symbiotischen verfassungsjuristisch-medialen Komplex sprechen. Um das Jahr 2000 herum diskutierten die Verfassungsrichter:innen, ob sie wie Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat auch nach Berlin umziehen sollten. Sie lehnten dies mit deutlicher Mehrheit ab, um die Distanz zur Politik zu wahren. Auch medienstrategisch war dies wohl die richtige Entscheidung, weil das Gericht in Berlin sehr viel mehr zum Gegenstand der allgemeinen Politikberichterstattung geworden wäre und sein juristisch-mediales Biotop verloren hätte. Die Karlsruher Rechtskorrespondent:innen sind seit 1975 in der Justizpressekonferenz (JPK) zusammengeschlossen, einem Verein, der ähnlich wie die Bundespressekonferenz in Berlin oder die Landespressekonferenzen in den Landeshauptstädten funktioniert. Die JPK vertritt die Interessen der Journalist:innen gegenüber der Karlsruher Justiz und organisiert regelmäßig Veranstaltungen. Mitglieder müssen heute kein Büro mehr in Karlsruhe unterhalten, es genügt, wenn sie ständig über die Karlsruher Bundesjustiz berichten. Eine Pressestelle gibt es am Bundesverfassungsgericht erst seit 1996. Zuvor wandten sich die Karlsruher Journalist:innen an die Präsidialräte des Gerichts, also an hohe Beamte der Justizverwaltung. Man konnte dies als Ausdruck des engen Verhältnisses zwischen Karlsruher Medien und Gericht deuten. Die Einrichtung der Pressestelle war dann eine Reaktion auf die letzte große Legitimitätskrise des Gerichts, die auf die umstrittenen Beschlüsse zum Pazifistenslogan "Soldaten sind Mörder", zur Strafbarkeit von Sitzblockaden und zum Verbot von Kruzifixen in bayerischen Klassenzimmern folgte. Die Pressestelle veröffentlicht pro Jahr rund einhundert Pressemitteilungen. Da das Gericht in den meisten Fällen nicht mündlich verhandelt, sind diese Pressemitteilungen (neben den Entscheidungen selbst) die wichtigste Kommunikationsform des Gerichts mit der Außenwelt. Dabei wird in der Regel der Originalwortlaut der Entscheidungen in den Kernaussagen zusammengefasst. Es findet dabei, außer mitunter im ersten Absatz der Pressemitteilung, keine Übersetzung in nicht-juristische Sprache statt. Dies bleibt Aufgabe der Journalist:innen. Auch so stärkt das Gericht die Position der spezialisierten Berichterstatter:innen. Erst 2020 wurde öffentlich bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht am Vorabend der (seltenen) Urteilsverkündungen die jeweilige Pressemitteilung für die Mitglieder der JPK an der Pforte des Gerichts bereithält. Gegen diese Praxis klagt inzwischen die AfD, das Verfahren ist noch am Verwaltungsgericht Karlsruhe anhängig. In diesem Verfahren betonte der damalige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in einem Schriftsatz, diese Vorgehensweise stelle sicher, "dass die Öffentlichkeit zeitnah und kompetent über die häufig äußerst umfangreichen und komplexen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts informiert werden kann". Die Beschränkung der Praxis auf die Mitglieder der JPK begründete Voßkuhle mit der "Professionalität dieses Kreises". Obwohl sich das Bundesverfassungsgericht bei dieser Praxis der Vorabinformation mit Sperrfrist für ausgewählte Medien gerade nicht wie ein Gericht verhält, zeigt es doch, welch hohen Wert die Richter:innen auf eine spezifisch juristische Berichterstattung durch die spezialisierten Journalist:innen legen. Weil das Gericht so selten mündlich verhandelt und seine Urteile verkündet, produziert es auch selten telegene Bilder. Umso wichtiger sind dann die rund zehn Urteilsverkündungen pro Jahr: Lange bevor dies 1998 gesetzlich geregelt wurde, ließ das Gericht bereits Fernsehaufzeichnungen und Übertragungen seiner Urteile zu. Anders als bei den übrigen Bundesgerichten, denen der Gesetzgeber 2017 die TV-Übertragung ihrer Urteile eher aufzwingen musste, war das Bundesverfassungsgericht hieran selbst interessiert. Wenn jeweils acht Richter:innen in roten Roben zu sehen sind, befördert dies die öffentliche Wahrnehmung des Bundesverfassungsgerichts als Gericht. Dass zeitweise der Begriff der "Roten Roben" sogar ein mediales Synonym für das Bundesverfassungsgericht war, kann durchaus als Erfolg der Karlsruher Ikonographie gewertet werden. Mehr Richtersymbolik geht kaum. Am Bundesverfassungsgericht kann fristwahrende Post bis zur letzten Minute eingeworfen werden. (© picture-alliance/dpa, Jürgen Effner) Sitzungszimmer im Bundesverfassungsgericht. (© picture-alliance/dpa, Uli Deck) Vgl. Christian Rath, Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2013, S. 19ff. Vgl. z.B. BVerfGE 89, 1. So zuletzt in BVerfG, 1 BvR 2756/20, Beschluss vom 20.7.2021. Vgl. BVerfGE 65, 1. Vgl. BVerfGE 90, 286. Vgl. BVerfG, 2 BvR 2347/15, Urteil vom 26.2.2020. Vgl. BVerfG, 1 BvR 2656/18, Beschluss vom 24.3.2021. Vgl. BVerfGE 120, 378. Vgl. BVerfGE 150, 244. Vgl. BVerfG (Anm. 7). Vgl. Rath (Anm. 1), S. 36ff. Vgl. BVerfGE 12, 205. Vgl. z.B. Sebastian Felz, Duchesse-Schwerrot. Wie die Richter des Bundesverfassungsgerichts zu ihren Roben kamen und warum diese ein Symbol für die Autorität des Gerichts sind, in: Ad Legendum 4/2008, S. 246–249. Vgl. hierzu z.B. Uwe Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, Wiesbaden 2010; Thomas Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts, München 2018. Vgl. Christian Rath, Pressearbeit und Diskursmacht des Bundesverfassungsgerichts, in: Robert Chr. von Ooyen/Martin H.W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2015, S. 403–412. Vgl. BVerfGE 93, 266. Vgl. BVerfGE 92, 1. Vgl. BVerfGE 93, 1.
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, Christian Rath
"2021-12-03T00:00:00"
"2021-09-09T00:00:00"
"2021-12-03T00:00:00"
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Das Bundesverfassungsgericht ist eine politische Institution, die als Gericht wahrgenommen werden will und von der Öffentlichkeit auch als solches wahrgenommen wird. Neben seinen meist ausgewogenen Entscheidungen ist vor allem dies das Geheimnis sein
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Öffentlichkeit und Vertrauen – wieviel Zweifel an unseren Medien brauchen wir? | Presse | bpb.de
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor zwei Wochen hat Deutschland gewählt. In unserer politischen Öffentlichkeit geht es seither um die Bildung einer neuen Regierung, diverse Partei-Krisen, Personaldebatten und – nicht zu vergessen – auch um einen Negativrekord. Trotz aller "Geht-Wählen-Kampagnen" in Zeitungen und Fernsehkanälen: So niedrig wie 2009 war die Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl nie zuvor. Für diese Tendenz hat sich die Vokabel "Politikverdrossenheit" etabliert. Das Wort kommt daher, als sei klar, dass die Bürger keine Lust mehr auf Politik, Politiker oder Parteien hätten. Doch der Begriff "Politikverdrossenheit" ist vor allem eine mediale Chiffre, um einen gesellschaftlichen Prozess so einzuordnen, dass Zuschauer und Leser das Gefühl gewinnen, das Problem sei klar definiert und adressiert. Beschäftigen wir uns ein wenig mit der medialen Chiffre "Politikverdrossenheit". Es fällt auf, dass dieser Begriff mit einem Prozess tiefgreifenden Wandels der Öffentlichkeit einhergeht. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend individualisiert, verdrängen partikulare Interessen immer mehr kollektive Narrative. Aber die normativen Ansprüche an Massenmedien steigen zugleich. Es gibt gute Gründe dafür, dass Fernsehnachrichten und Tageszeitungen über die Entwicklung der Wahlbeteiligung schreiben. Wir sollten uns durchaus fragen, ob aus der sinkenden Partizipation des Souveräns Gefahren für unser Gemeinwesen erwachsen. Weigern sich immer mehr Menschen, ihr Wahlrecht wahrzunehmen, so mag das ein Signal politischen Selbstbewusstseins sein, aber es markiert auch einen klaren Trend: Die Legitimation unserer Repräsentaten sinkt. Das muss aber noch kein Grund sein, die Fassung zu verlieren und reflexhaft den Untergang der Demokratie zu prophezeien. Wenn wir auf die Wissenschaft schauen, dann gibt es eine lebhafte Diskussion über Ursachen und Auswirkungen sinkender Wahlbeteiligung. Vielleicht ist der "Wählerschwund" ja ganz normal und lässt auf eine gesetzte, unaufgeregte politische Kultur schließen. Wolfgang Merkel ist einer der Politologen, die sagen: ein allgemein niedrigeres Niveau der Wahlbeteiligung mindert nicht die Qualität der Demokratie, insbesondere solange es keine gravierenden Unterschiede der Partizipation gesellschaftlicher Schichten gibt. In tradierten Demokratien wie Großbritannien, den USA oder der Schweiz liegt die Beteiligung schließlich noch weit unter der deutschen. Wenn wir die mediale Chiffre der "Politikverdrossenheit" einfach so hinnehmen, verstellen wir uns vielleicht einen genaueren Blick: Die Menschen, die üblicherweise als politikfern oder verdrossen tituliert werden, haben nämlich sehr wohl ein lebhaftes Interesse an Politik. Hinter der beschriebenen Entwicklung steckt indes eine Differenzierung der Gesellschaft, eine Auflösung klassischer Milieus. Immer mehr, gerade auch junge Menschen, zweifeln die politischen Repräsentationsstrukturen an. Ja, es gibt sie, jene Menschen, die verdrossen sind davon, wie sie Politik wahrnehmen. Sie misstrauen jener Art, wie sie Politik medial erleben. Eine gewagte These: Vielleicht sind viele Menschen gerade deshalb desillusioniert, weil die Vermittlung von Politik immer mehr den Gesetzmäßigkeiten der Massenmedien gehorcht, die selbst um ihre eigene Rolle ringen. Blicken wir auf den jüngsten Bundestagswahlkampf zurück, dann fällt auf: In einschlägigen Print-, TV- und Online-Medien wurde durchgängig über die inhaltliche Leere der wahlkämpfenden Kandidaten geklagt. In der Öffentlichkeit bildete sich dafür das knackige Label "blutleer". Den Schwarzen Peter bekam natürlich die Politik zugeschoben. Wäre es aber nicht Aufgabe von Moderatoren, Interviewern, Reportern gewesen, den inhaltlichen Unterschieden auf den Grund zu gehen? Wirken unsere prominentesten Medien womöglich selbst mit an der Entleerung öffentlicher Diskussionen? Schauen wir auf die Mechanismen, mit denen Politik am ehesten medial kanalisiert wird. Das Repertoire lautet: Personalisierung, Voyeurismus, Skandalisierung und Exklusivität. Wenn politische Koalitionen als Tigerenten- oder Biene-Maja-Koalitionen beschrieben werden, sind das infantile Einordnungen abseits jeglicher inhaltlicher Determinationen. Politik wird den Regeln des Entertainments unterworfen, wird zum banalisiert konsumierbaren Politainment. Befindet sich unsere Öffentlichkeit in der Krise? Es stellt sich zunächst die Frage, was wir unter Öffentlichkeit verstehen. Der Begriff selbst ist mehrdeutig – und die Möglichkeit, ihn klar zu definieren, sinkt mit der voranschreitenden Fragmentierung unserer Gesellschaft. Öffentlichkeit verstehe ich als Kommunikationsbereich von Politik und Gesellschaft und darin konkret als Prozess des Informations- und Meinungsaustauschs sowie der Meinungsbildung. Eine herausragende Rolle kommt hierbei zweifelsohne den Massenmedien zu. Jürgen Habermas hat diesen Begriff der Öffentlichkeit geprägt und die Medien-Öffentlichkeit mit all ihren Defiziten beschrieben. Diese über Massenmedien hergestellte Öffentlichkeit hat eine hohe Bedeutung für die Legitimation von Politik – und sie hat, so Habermas, das strukturelle Defizit, dass sie eher der Verkündung von oben nach unten dient. Die Massenmedien stellen eine Öffentlichkeit aus dem Blickwinkel des politischen Systems her. Also präziser gefragt: Befindet sich diese Medien-Öffentlichkeit in der Krise? Vordergründig scheint das Vertrauen in die Massenmedien gegeben. Eine Mehrheit der Menschen stützt sich auf Informationen aus Rundfunk, Internet und Tageszeitungen. Für die öffentliche Debatte über die Wirtschaftskrise, das Gesundheitswesen und die soziale Gerechtigkeit scheinen diese Medien gut genug zu sein. Doch wer sich ein wenig umhört in der Welt der Medien, weiß von einer Krise zu berichten, die derzeit alles erschüttert – und die viel mit verlorenem Vertrauen der Konsumenten zu tun hat. Das liegt nicht alleine daran, dass Papier unzeitgemäß wäre oder die User sich lieber ihr ganz individuelles Programm im Netz zusammenklicken. Vielmehr bieten neue Kommunikationsformen jetzt neue Wege, die von Habermas diagnostizierten Strukturdefizite der Öffentlichkeit aufzulösen. Das heißt: Partizipation und Interaktivität kommen zu ihrem Recht, Themen werden nicht mehr länger top down vorgegeben, die Teilnehmer dagegen nehmen bottom up Einfluss, den sie als Leserbriefschreiber nie gehabt hätten. Zugleich befinden sich die großen Medien in einer Krise mit wirtschaftlicher und inhaltlicher Dimension. Verlage und Sender entlassen massenhaft Journalisten, kürzen Budgets, setzen ihre Redaktionen unter ökonomischen Hochdruck auf Kosten der Qualität. Das ist auch die Folge einer Entwicklung, in der Medienmacher die Zeitung und das Magazin als Handelsware ansehen – und intern gerne satte, zweistellige Renditen als Ziel vorgeben. Bemerkenswert scheint mir, dass trotz ihrer eigenen System-Krise die Bereitschaft zur Selbstkritik in den Medien eher schwach ausgeprägt ist. Leider führt eine allzu selbstverteidigende Haltung auch dazu, dass sich Medienvertreter zum "Ersatzvolk" aufspielen, wie es Susanne Gaschke in der ZEIT schrieb. Es gäbe indes genug Gründe für Selbstkritik. Zum Beispiel die vor der Wahl 2005 inflationär eingesetzten Mittel der Demoskopie, die eine öffentliche Meinung suggerierten, die sich am Wahlabend völlig anders darstellte. Oder schauen wir auf das letzte Kanzler-Duell, das gleich von vier Moderatoren geleitet wurde – was die Möglichkeit eher einschränkte, Unterschiede und Details zwischen den Spitzenkandidaten herauszuarbeiten. Wir erleben darüber hinaus einen stetig schärferen Wettlauf, eine Beschleunigung in den Medien. Es steigt der Druck, Live-Informationen und "Quick-and-Dirty"-Stories zu liefern. Es geht um schnelle Exklusiv-Informationen – auch wenn dem Adverb "exklusiv" immer weniger qualitative Bedeutung zukommt. Die Informanten aus der politischen Elite erarbeiten sich ergebnisorientiert eine wachsende Rolle. Die Immunabwehr der medialen Öffentlichkeit gegen derartige Instrumentalisierungen sinkt drastisch. Die so genannten Spin-Doctors wissen genau, wie sie den Zugang in die Debatte finden – weil sie Journalisten finden, die dringend eine Story brauchen. Vermutlich führt die Beschleunigung automatisch auch zu einem Verlust an Distanz, die eigentlich für die Deliberation politischer Ideen geboten wäre. Die ZEIT beschreibt die Einstellung vieler Journalisten gegenüber den Politikern wie folgt: "Na, mal sehen, was >>den Politikern<> Sie sehen: Beim Thema Selbstkritik müssen wir uns – natürlich – auch den politischen Akteuren zuwenden. Die Art und Weise, wie sich Politiker zum Aufbau eigener Marken den Gesetzmäßigkeiten der klassischen elektronischen Medien und Produktwerbung anpassen, trägt stark zur Krise der öffentlichen Vermittlung von Politik bei. Mechanistisch, ja gnadenlos, bedienen sich Politiker der PR-Mittel, bevor sie sich an die Öffentlichkeit wagen. Ihre Auftritte sind glatt, weil sie wissen, dass Ecken und Kanten nach den bekannten Regeln des TV-Geschäfts nicht goutiert werden. Die Grammatik der Massenmedien erlaubt weder das "Äh" noch ein Zögern, weder differenzierte Gedanken noch einen Hauch von Schwäche. Im Fernsehen wird nach einem Kanzler-Duell über Oberfläche und Oberweite diskutiert, es werden präzise Analysen zur Körpersprache hergestellt. Garantiert ziehen die Politiker daraus den Schluss, beim nächsten Mal medienwirksamer zu erscheinen. Aber was passiert mit den politischen Gedanken, den Inhalten? Wir sprechen über Vertrauen in der Öffentlichkeit. Vertrauen ist für Politiker ein lebenswichtiges Gut, quasi ein Vorschuss, ein Kredit, um im und für das Gemeinwesen aktiv zu sein. Doch es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Vertrauen und Öffentlichkeit, so wie wir sie erleben. Insbesondere, wenn die Medien-Öffentlichkeit in der ökonomischen und auch strukturellen Krise steckt – Politik sich aber weiter ungeniert der Grammatik der Massenmedien bedienen kann. Mit Niklas Luhmann möchte ich Vertrauen als einen Mechanismus beschreiben, mit dem Komplexität reduziert wird. Vertrauen zu sichern ist wichtig, wenn Politiker quasi als Treuhänder von Wählern agieren. Politisches Vertrauen muss deshalb über Öffentlichkeit entstehen. Politiker werben um Vertrauen, indem sie in Massenmedien die Komplexität politischer Sachverhalte bis zur Unkenntlichkeit reduzieren. Die politischen Akteure müssen dabei insbesondere darauf achten, wie sie wirken – nämlich glaubwürdig. Doch es gibt eine Dichotomie, die ich hier betonen möchte: Glaubwürdigkeit und auf der anderen Seite Ehrlichkeit sind zwei Begriffe, zwei Unterkategorien zur Herstellung von Vertrauen. Ehrlich ist ein Mensch, wenn er tut, was er ankündigt, oder die Gründe erläutert, warum er es nicht geschafft hat. Wer ehrlich ist, kann sich aber – in der massenmedialen Grammatik – schnell den eigenen Weg verbauen. Deshalb spielt die Glaubwürdigkeit eine umso stärkere Rolle. Glaubwürdigkeit ist eine Frage des Wirkens, der Erscheinung, des Äußeren – es ist auch ein Begriff der PR. Ich betone: Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit sind in der öffentlichen Vermittlung von Politik zunehmend gegensätzliche Begriffe: Sie verhalten sich zueinander wie Schein und Sein. In der medialen Diskussion spielt Glaubwürdigkeit heute eine weitaus wichtigere Rolle als Ehrlichkeit, wenn Akteure versuchen, Vertrauen einzuwerben. Aber diese Betonung von Glaubwürdigkeit zulasten von Ehrlichkeit kriselt in dem Maße, wie Zweifel an der Universalität der bekannten medialen Grammatik aufkommen. Vertrauen gewinnen politische Akteure nachhaltig nicht über Schein, sondern über Sein – eben über Ehrlichkeit. Und diese Ehrlichkeit wird lebensnotwendig in einer immer weiter fragmentierten Gesellschaft, in der das Bewusstsein für die erforderliche Differenzierung der Probleme immer weiter steigt – ebenso wie die Verlockung, der Apathie nachzugeben. Die Legitimität politischer Repräsentation steht sonst auf dem Spiel. Blicken wir noch einmal auf den schwierigen Begriff Öffentlichkeit. Wir sehen heute, dass die rasante Entwicklung digitaler Medien uns zu einem Umdenken zwingt. Die möglichst allumfassende Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit über Massenmedien, verliert in dem Maße an Bedeutung, wie Menschen sich ihre digitalen Teilöffentlichkeiten organisieren. Das ist kein Rückzug im Protest, sondern eine Möglichkeit gesteigerter individueller Teilhabe. Im Netz sucht man sich die Themen, die interessieren, und man engagiert sich eher in persönlich relevanten Teil- oder Sub-Öffentlichkeiten. Dies ist im Grunde kein neuer Prozess – schon früher hatten Ärzte oder Handwerker ihre eigenen Versammlungen und Medien. Aber die Herausforderung für die Demokratie wächst, weil ein Auseinanderdriften der Diskussionen in unzählige, nicht verbundene virtuelle Öffentlichkeiten zu einer Lähmung der Kommunikation in der Polis führen kann. Habermas bezeichnete die Moderne als gescheitert, weil sie eben diesen Prozess zugelassen habe. Sie habe, wenn man so will, zugelassen, dass die Totalität des Lebens in voneinander abgetrennte Spezialgebiete zerfiel. Doch gerade Pluralität muss in einer Demokratie funktionieren. Der französische Philosoph Lyotard postulierte dagegen, eine Pluralität zu denken, die die Einzigartigkeit des Individuellen auszuhalten und auszutragen imstande ist und Alterität als fundamentale Bestimmung menschlichen Daseins begreift. Der pluralistische Liberalismus ist demnach der einzig denkbare theoretische Rahmen einer funktionierenden politischen Kultur. Doch welche Aufgabe haben Massenmedien in einer Öffentlichkeit, in der Neben- und Spezialmedien eine immer größere Rolle spielen? Mir scheint es einleuchtend, dass der normative Anspruch an Massenmedien in dieser Konstellation wächst. Massenmedien haben und behalten eine Leuchtturmfunktion und ihre Aufgabe ist es, in der unübersichtlichen Vielfalt aus differenzierten Kanälen jene Themen oder Meinungen in den politischen Raum zu befördern, die auch für die Polis von Bedeutung sind. Gerade jetzt ist es Zeit für inhaltliche Qualität, für intensive Recherche, für das Aufspüren von Themen, die von Bedeutung sind – und nicht nur dem Quotendruck entspringen. Die Arbeit dieser Massenmedien – seien es Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sender, Radiokanäle, Web-Portale oder was auch immer sich im Internet an öffentlichen Knotenpunkten entwickeln wird – diese Arbeit bedeutet Verantwortung. Gelingt es nicht, Themen zu aggregieren, die die politische Sphäre am Leben erhalten – so werden sich immer mehr Bürger in die Freiheit des Netzes, abseits des Mainstreams, absetzen. Ihre Rolle als Meinungsmacher, die Politik von oben nach unten diktieren, werden Massenmedien in der neuen Öffentlichkeit nicht mehr spielen können. Sie müssen sich einer gesteigerten Durchlässigkeit von Themen auch in die andere Richtung öffnen. "Mehr Demokratie wagen", mehr Interaktivität und Beteiligungsmöglichkeiten in Medien, wie in Politik schaffen, scheint das Gebot der Stunde. Nur so werden die defizitären Strukturen der Massenmedien und der Parteienpolitik relegitimiert. Wir müssen umdenken, wenn es um Öffentlichkeit geht, sollten Pluralität als Essenz der Demokratie verstehen – und eben auch auf Pluralität öffentlicher Diskurse setzen. Eine Gesellschaft im Wandel braucht vielfältige öffentliche Diskurse und Medien, die sowohl der Fragmentierung gerecht werden als auch der Meinungsbildung für das Gemeinwesen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass der Preis dieser Demokratisierung von Medien und Politik mehr Ambiguität bedeutet. Wir wissen bei diesen Prozessen heute noch nicht, wohin sie übermorgen führen. Die Macht, in Medien und Politik alles vorherzubestimmen, ist in Frage zu stellen. Ein Zurück in eine vordemokratische Öffentlichkeit ist aber allemal die größere Katastrophe. Ich möchte mit drei Thesen für die anschließende Debatte schließen. Erstens: Dass unsere massenmediale Öffentlichkeit auf relevante politische Diskurse im längst angebrochenen Internet-Zeitalter äußerst zögerlich reagiert, zeigt das Beispiel der Piratenpartei. Es wäre für ihre eigene Zukunft wünschenswert, wenn auch Massenmedien sich bereits vor einer Wahl mit den inhaltlichen Forderungen einer Gruppe auseinandersetzten, die immerhin 845.000 Wähler hinter sich vereint. Doch die etablierten Medien achten noch zu wenig auf die neuen Trends und Themen, die in einer flexibleren Gesellschaft aufkommen. Hier ist Recherche-Kompetenz gefragt. Zweitens: Medien, die neue, inhaltlich starke Wege der Politikvermittlung für die Netzgesellschaft bieten, fördern den demokratischen Diskurs und sichern damit nicht nur das politische Wissen, sondern auch Beteiligung – und sie können sogar Massen erreichen. Ich hebe hier quasi pro domo den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung als Beispiel hervor. Die überragende Nutzerzahl von mehr als sechseinhalb Millionen zeigt, dass fokussierte Politikvermittlung nicht auf Verdrossenheit, sondern sogar auf reges Interesse gerade auch junger Menschen stößt. Drittens: Für die politischen Akteure ist es Zeit, dem Wandel der Öffentlichkeit auch andere Kommunikationsformen folgen zu lassen. Dazu gehört mehr als das Einrichten eines Facebook-Accounts, der nur bis zum Wahltag mit spärlichen Infos gefüllt wird. Und es geht auch nicht um kompakte Texte mit 140 oder 160 Zeichen. Soziale Netzwerke und Communities im Netz sind keine Plakatwände, auf die man mal schnell etwas kleistert. Es geht um ernstgemeinte Teilhabe. In dieser Hinsicht hat das Projekt Obama Maßstäbe gesetzt, denn es setzt darauf, die neuen Modi öffentlicher Diskussion ernst zu nehmen, alle Medienformen einzubinden und Dialog zuzulassen. Im Idealfall stiegt dabei nicht nur die punktuelle Mobilisierung zum Wahltermin, sondern vielmehr das Niveau politischer Diskurse, von dem eine plurale Demokratie auch in der Zukunft wird leben müssen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. - Es gilt das gesprochene Wort - Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
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Eine Gesellschaft im Wandel braucht vielfältige öffentliche Diskurse und Medien, die sowohl der Fragmentierung gerecht werden, als auch der Meinungsbildung für das Gemeinwesen.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Triumph und Terror | München 1972 | bpb.de
Am Nachmittag des 26. August 1972 öffnete sich der Vorhang der Spiele von München wie ein schimmernder Regenbogen. Am Olympiaberg, den viele Münchner noch "Schuttberg" nannten, weil er nach 1945 aus Kriegstrümmern aufgehäuft worden war, sah man kaum das grüne Gras vor lauter Schaulustigen. Viele hatten Kofferradios und Ferngläser mitgebracht, gebannt blickten sie hinunter ins Olympiastadion, auf dessen Rängen 80.000 Menschen versammelt waren. Die Organisatoren der Olympischen Spiele von München waren davon überzeugt, dass die Eröffnungsfeier der wichtigste Moment der gesamten Spiele war. Die Eindrücke der Feier erreichten gut zwei Milliarden Menschen, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Dank neuer Satellitentechnik gelangten erstmals Hunderte Stunden farbiger Live-Bilder in die entlegensten Winkel des Planeten. Was immer bei den Spielen passierte: Es war ein globales Ereignis. 27 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die junge Bundesrepublik die ehrenvolle Aufgabe und enorme Chance erhalten, die Jugend der Welt in München zu empfangen, 8.000 Sportler aus 122 Ländern. Gleich bei der Eröffnungsfeier sollte das Land symbolisch aus dem langen Schatten der Nazi-Zeit treten. Die Väter der Spiele, der oberste deutsche Sportfunktionär Willi Daume und der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, wollten ein neues Deutschland präsentieren: geläutert und demokratisch, freundlich und friedlich, lässig und bunt. Zuschlag in Rom "Sitzen Sie fest auf Ihrem Stuhl?", hatte Daume Vogel gefragt, als er im Oktober 1965 mit der Olympia-Idee im Münchner Rathaus vorsprach. Der Oberbürgermeister war zunächst skeptisch gewesen: "Aber der DDR würde das doch nicht gefallen", hatte er entgegnet. Daume hatte ihm dann erklärt, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC) den Ostdeutschen erstmals eine eigenständige Olympia-Mannschaft zugestehen wollte – und dem Westen als Kompensation womöglich die Ausrichtung der Spiele 1972. Auch über Münchens Vergangenheit als "Hauptstadt der Bewegung" im Nationalsozialismus würde das IOC wohl hinwegsehen. Der amerikanische IOC-Präsident Avery Brundage galt schließlich als schwer germanophil. Am 26. April 1966 erhielt die rekordverdächtig schnell zusammengestellte Münchner Bewerbung bei der IOC-Session in Rom den Zuschlag, mit einer Stimme Vorsprung. Sie hatte mit dem Versprechen "grüner Spiele" und von "Spielen der kurzen Wege" überzeugt, aber osteuropäische Vorbehalte auch mit handfesten sportpolitischen Zugeständnissen entkräftet – und die Stimmen afrikanischer Delegierter mutmaßlich auch aufgrund großzügiger Entwicklungshilfe der Bundesregierung bekommen. Der emotionale Visionär Daume, ein CDU-Mitglied, und der nüchterne Macher Vogel, ein Sozialdemokrat, bildeten ein kongeniales Organisatoren-Duo. Gemeinsam banden sie früh die Bundesregierung und die bayerische Staatsregierung in ihre Pläne ein. Das war die Grundlage dafür, dass die Spiele als nationales Prestigevorhaben wahrgenommen wurden und sich stets auf eine komfortable Zustimmung der Bevölkerung stützen konnten. Für München erkannte Vogel sofort die Chance, seine aufstrebende Stadt infrastrukturell in die Moderne zu wuchten und ganz neu auf die Weltkarte zu setzen – als Heimat bayerischer Gemütlichkeit und deutscher Weltoffenheit. München sollte dann tatsächlich wie kaum ein anderer Ausrichter davor und danach von den Spielen profitieren. Davon zeugt bis heute das stadtplanerische Erbe der Spiele: die S- und U-Bahn, der Mittlere Ring, die verkehrsberuhigte Altstadt und der Olympiapark. Gegenteil von 1936 In einem Punkt waren sich Daume und Vogel sofort einig: München 1972 musste ganz anders sein als Berlin 1936, die gigantomanischen Propagandaspiele, mit denen Hitler zugleich seine Macht vorgeführt und seine Friedfertigkeit vorgetäuscht hatte. Nicht so martialisch und pathetisch, nicht so protzig und zackig. Swing und Pop statt Marschmusik und Wagner, lustige Böllerschützen statt donnerndem Kanonengruß. In Berlin hatten die Uniformen von Polizei, Wehrmacht und SS die Optik im Olympiastadion geprägt; in München trugen die Sicherheitskräfte azurblaue Sakkos und nur sehr selten Waffen. Bei der Eröffnung 1936 hatten die Nationalsozialisten die olympische Liturgie mit ihren faschistischen Inszenierungen verschmolzen, etwa im dramatischen Duell zweier Krieger in glänzender Rüstung, die am Ende zu Boden gesunken und nach dem Heldentod auf ihren Schildern aus der Arena getragen worden waren. 1972 wich die verordnete Symmetrie olympischer Rituale einem fröhlichen Durcheinander, als 3.200 Schulkinder in Gelb und Blau durchs Stadion tollten und einer Athletin oder einem Athleten ihrer Wahl ein Blumensträußchen überreichten. Der Einmarsch der Nationen, bei den bisherigen Spielen der Neuzeit stets auf Erhabenheit getrimmt, geriet zum unbeschwerten Einlaufen. Die verspielten Melodien, die Kurt Edelhagens olympische Big Band dazu erklingen ließ, schlossen nationale Andacht praktisch aus: "Kalinka" für die Sowjetunion, "When the Saints Go Marching In" für die USA, "Horch, was kommt von draußen rein" für die Bundesrepublik. Selbst jene Athleten, die sich vorgenommen hatten, zu marschieren, kamen irgendwann ins Tänzeln. Sie salutierten nicht vor der Ehrentribüne, wie das üblich war, sondern winkten in alle Ecken des Stadions. Als die Mannschaft der DDR einlief, hielten Willi Daume und Hans-Jochen Vogel vor Spannung den Atem an. Was würde das westdeutsche Publikum tun? Würde der warme Applaus nun abreißen? Im Gegenteil: Die Münchner Zuschauer applaudierten für die Ostdeutschen auffallend kräftig. Es war ein Ausdruck von Gastfreundschaft und gutem Willen, den Daume und Vogel inständig erhofft, aber nicht hatten planen können. Spätestens damit war der Ton gesetzt für die "heiteren Spiele", die nicht nur den Organisatoren vorschwebten, sondern auch der Bundesregierung. "Widerlegen wir die These", hatte Bundeskanzler Willy Brandt bei der Einweihung des Olympiaparks gesagt, "dass es den freundlichen Deutschen nur in Ausnahmefällen gibt". Wenn die internationalen Besucher bei ihren deutschen Gastgebern überhaupt irgendetwas anzumerken hatten, dann höchstens, dass selbst der Frohsinn mit landestypischer Gründlichkeit organisiert war. "Die erste Goldmedaille für die Deutschen!", schrieb die Zeitung "L’Aurore" aus Paris nach der Eröffnungsfeier. "Ja, sie würden sie verdienen, weil sie uns das wunderbarste Schauspiel gezeigt haben, von dem man träumen kann." Selbst der Kommentator des sowjetischen Fernsehens ließ sich zu dem Resümee hinreißen, München habe seine Gäste "freundlich empfangen". Zehn Tage Leichtigkeit Für zehn Tage schienen sich die kühnsten Hoffnungen der Organisatoren zu erfüllen. Die Jugend der Welt verliebte sich in München und die tänzerisch leichte Atmosphäre der Spiele, in die zuvorkommenden Hostessen in ihren blauen Dirndln und in den lustig quergestreiften Maskottchen-Dackel Waldi. Das Münchner Publikum jubelte der sowjetischen Turnerin Olga Korbut zu, eine Eisschmelze mitten im Kalten Krieg, und es schloss John Akii-Bua ins Herz, den Sohn ugandischer Hirten, der nach seinem Gold über 400 Meter Hürden gar nicht mehr aufhören wollte zu laufen vor Glück. Auf allen Ebenen spiegelte sich das Motiv des neuen Deutschland, eines modernen und lockeren Landes. Auf der "Spielstraße" im Olympiapark boten Artisten, Musiker, Schauspieler und Tänzer ein kreatives Kontrastprogramm zum Sport. Das magisch geschwungene Zeltdach des Olympiastadions, das der Architekt Günter Behnisch mit seinem Team errichtet hatte, raubte den Betrachtern den Atem. Das elegante Alltagsdesign des Gestalters Otl Aicher verwandelte Hinweisschilder in Kunst – in sanftem Himmelblau, Grün und Orange, doch niemals in Rot oder Schwarz, den Farben der Diktaturen dieses Jahrhunderts. "Es kommt weniger darauf an, zu erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen", diese Leitlinie hatte Aicher ausgegeben. Die Organisatoren Daume und Vogel trauten sich etwas, sie gewährten kreativen, aber manchmal auch sturen Köpfen wie Aicher den nötigen Freiraum. Sie glaubten an den verwegenen Stadion-Entwurf, als selbst der leistungsfähigste Bundeswehr-Computer von der Berechnung der Statik des Daches überfordert war. Und nun sah es für einen langen Moment tatsächlich so aus, als wäre ihr Traum von den "heiteren Spielen" Wirklichkeit geworden. Bis zum Morgen des 5. September. An diesem Tag entpuppte sich der Traum als schrecklich naiv. Der palästinensische Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft kostete zwölf unschuldige Menschenleben und stürzte die Spiele aus Glanz und Euphorie in Elend und Verzweiflung. Deutscher Aufbruch Bis zu jenem schrecklichen Tag atmeten die Münchner Spiele den Geist eines Landes im Aufbruch. Das olympische Motiv des neuen Deutschland war nicht aus der Luft gegriffen, wenngleich natürlich nicht die Gesellschaft in ganzer Breite in Bewegung war. Zweifellos roch es 1972 nach Freiheit und Abenteuer und für manche sogar ein ganz kleines bisschen nach Revolution. Sturm und Drang der Studierenden von 1967/68 sollte weiterleben in der bundesrepublikanischen Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung, aber grenzenlos übersteigert mündete er auch im mörderischen Terrorismus der Roten Armee Fraktion. Deren Köpfe Andreas Baader und Ulrike Meinhof waren im Olympiasommer nach Bombenanschlägen und Schusswechseln in Haft, seit wenigen Wochen schien der Terror beendet zu sein. 1972, das war zunächst mal ein Lebensgefühl: weite Schlaghosen und enge Hemden mit Riesenkrägen, dicke Koteletten und wallende Locken, Schlager und Disco. Wer bei der Bundespost einen Telefonanschluss bestellte, bekam nicht mehr automatisch das graue Wählscheibentelefon geliefert. Man konnte jetzt wählen zwischen Grün, Rot, Orange und Gelb. Politisch verkörperte der junge Bundeskanzler Brandt den Zeitgeist, den Abschied von schneidigem Auftreten, autoritärer Führung und bigotter Moral. Das sozialliberale Bündnis, 1969 geschmiedet, lüftete durch in der Bundesrepublik. Auf die Westintegration folgte die Entspannungspolitik im Osten, auf Konrad Adenauers Diktum "Keine Experimente" Brandts Aufruf "Mehr Demokratie wagen". Beinahe ein Vierteljahrhundert hatte es gedauert, bis die Bundesrepublik eine liberale Demokratie im umfassenden Sinne wurde – nicht nur rechtlich, sondern auch politisch und vor allem gesellschaftlich, ein Gemeinwesen, das sich den Geistern der Vergangenheit stellte und sein Grundgesetz als Antwort auf den Horror des Nationalsozialismus verstand. Knapp zwei Jahre vor den Spielen war Brandt im ehemaligen Warschauer Ghetto auf die Knie gesunken. Es war zugleich das Eingeständnis von Schuld und die Bitte um Vergebung gewesen, eine ikonische Geste von einem, der selbst nicht hätte knien müssen. Ende April 1972 überstand Brandt im Bundestag ein Misstrauensvotum, es war ein großes Drama, aber auch die große Bestätigung, die der Kanzler für seinen Kurs brauchte. Bei der Bundestagswahl im November sollte seine SPD dann zum ersten Mal stärkste Kraft werden. Wettkampf der Systeme Nur die dickköpfigsten DDR-Funktionäre konnten diese Bundesrepublik noch mit voller Überzeugung als Hort von Faschismus und Reaktion geißeln. Die Deutschen aus dem Osten hatten 1972 allerdings selbst allen Grund zum Stolz: In München trat die DDR erstmals mit eigener Hymne und unter eigener Fahne bei Olympia an. "Der Kapellmeister soll in München gut unsere Hymne einstudieren", hatte der Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, prognostiziert: "er wird sie oft spielen müssen." Und so kam es. Es regnete Goldmedaillen für die Ostdeutschen, etwa für die Sprinterin Renate Stecher, die sowohl über 100 als auch über 200 Meter siegte. Auf der Bühne des Sports fuhr die DDR jenes internationale Renommee ein, das ihr auf anderen Feldern verwehrt blieb. Mit 20 Goldmedaillen lag sie im Medaillenspiegel deutlich vor der Bundesrepublik mit 13. Olympia 1972 war also nicht nur ein Wettstreit von Athleten, sondern auch ein Wettkampf der Systeme. Die Spiele von München erlebten etwa ein packendes deutsch-deutsches Duell in der Sprint-Staffel der Frauen, bei dem die Schlussläuferin für das westdeutsche Team, Heide Rosendahl, überraschend den DDR-Star Stecher distanzierte. Der amerikanische Schwimmer Mark Spitz avancierte mit sieben Goldmedaillen zum damals erfolgreichsten Olympioniken aller Zeiten. Die Sowjetunion feierte ein ebenso sensationelles wie umstrittenes Basketball-Gold im Finale gegen die USA und eroberte am Ende den prestigeträchtigen ersten Platz im Medaillenspiegel. Auch in der DDR, in der Erich Honecker im Juni 1971 der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED geworden war, spürten die Menschen Anfang der 1970er Jahre einen Aufschwung, zumindest im Lebensstandard. Der "Eiserne Vorhang" schien sich ein klein wenig zu bewegen: Der Moskauer und der Warschauer Vertrag waren im Juni 1972 in Kraft getreten, ebenso das Berlin-Abkommen, das Reisen und Telefonieren zwischen Ost und West erleichterte. Und am 16. August, eine gute Woche vor Eröffnung der Spiele, hatten Bundesrepublik und DDR mit den Verhandlungen über einen Grundlagenvertrag begonnen. Zu Weihnachten sollten sie erfolgreich beendet sein. Spiegel der modernen Zeit In vielen Dingen waren die Spiele auch der Spiegel eines neuen Selbstbewusstseins. Die Leichtathletin Rosendahl, die ihre Mitbürger im Weitsprung mit dem ersten Gold für die Bundesrepublik erlöste, war eine junge Frau, die es sich erlaubte, älteren Fernsehmoderatoren zu widersprechen. Afroamerikanische Athleten demonstrierten in München gegen die anhaltende Diskriminierung zu Hause. Die jungen Nationen des Globalen Südens, die sich von kolonialer Herrschaft befreit hatten, forderten ihren Platz bei Olympia. 1972 war zudem ein Jahr, in dem sich auch technologisch und kulturell auffallend viele kleine Fenster in die Zukunft öffneten. Der erste 8-Bit-Mikroprozessor wurde vorgestellt, der erste Taschenrechner kam auf den Markt, im deutschen Fernsehen feierte die Science-Fiction-Serie "Raumschiff Enterprise" Premiere. In München wurden die alten Stoppuhren von der elektronischen Zeitmessung abgelöst; die akkreditierten Journalisten erhielten ihre Informationen aus einem Supercomputer. Über die Straßen von München rollte das erste Elektroauto von BMW, eigens für die Spiele als abgasfreies Begleitfahrzeug für Marathonläufer und Geher entwickelt. Olympia wurde allmählich zum großen Geschäft und das IOC zur Geldmaschine. In München kündigte sich die Kommerzialisierung schon an, aber sie dominierte nicht das Bild. Werbung war den Athletinnen und Athleten noch strikt verboten, doch Mark Spitz, der natürlich barfuß schwamm, reckte nach einem seiner Siege ein Paar Adidas-Schuhe in die Kameras, angeblich aus Versehen. Doping wuchs zur Geißel des Sports heran, zum ersten Mal wurde in München eine Goldmedaille deshalb aberkannt. Es erwischte den 16-jährigen US-Schwimmer Rick DeMont, der aber möglicherweise tatsächlich nur sein Asthma-Medikament genommen hatte. Die Welt rückte näher zusammen. 1972 reiste Richard Nixon als erster US-amerikanischer Präsident zum Staatsbesuch nach China. Der Club of Rome veröffentlichte seinen Bericht zu den "Grenzen des Wachstums"; in Deutschland entstand langsam ein Tätigkeitsfeld, das als "Umweltpolitik" bekannt wurde. Zwei Chiffren der Weltläufigkeit importierte die Bundesrepublik aus den USA: Kurz vor den Spielen erschien die deutsche Erstausgabe des Magazins "Playboy", und in München eröffnete Ende 1971 die erste Filiale einer Schnellrestaurantkette namens McDonald’s. Doch noch ein weiteres Phänomen musste als zunehmend weltumspannend gelten: der internationale Terrorismus. Radikale Palästinenser verübten Anschläge auch auf deutschem Boden. Bereits im Februar 1970 hatte ein palästinensisches Kommando am Münchner Flughafen einen israelischen Passagier ermordet und elf weitere verletzt. Aber all das war nur das grausame Vorspiel für das sogenannte Olympia-Attentat von München. Überfall im Morgengrauen Im Morgengrauen des 5. September 1972 sahen sechs Postbeamte, die auf dem Weg zur Arbeit ins Olympiapostamt waren, mehrere Männer in Trainingsanzügen mit großen Sporttaschen über den Zaun ins Olympische Dorf klettern. Sie dachten sich nichts dabei: Seit Beginn der Spiele war es üblich, dass Sportlerinnen und Sportler sich am frühen Morgen nach der Disco wieder ins Dorf schlichen, gerade rechtzeitig, bevor Trainer und Betreuer ihre Abwesenheit bemerkten. Wenn die Organisatoren unbedingt hätten verhindern wollen, dass jemand über den Zaun steigt, hieß es, hätten sie ihn sicher auch höher errichtet als zwei Meter und die Pfosten oben nicht abgerundet. Die vermeintlichen Athleten waren in Wahrheit die acht Mitglieder eines Kommandos der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September". Ein Anschlag nahm seinen blutigen Lauf, dessen globale Wirkmächtigkeit aus heutiger Sicht nur vergleichbar ist mit den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA. In München trat der internationale Terrorismus ins Bewusstsein der Menschen, weil sich das Unheil in einer kollektiven Live-Fernseherfahrung Stunde um Stunde vor den Augen der Welt entfaltete. Der palästinensische Überfall auf die israelische Mannschaft konterkarierte grausam den Plan der Münchner Olympia-Organisatoren, die Nazi-Zeit vergessen zu machen. Wieder starben Juden auf deutschem Boden. Später stellte sich heraus, dass die olympischen Gastgeber mehr als zwei Dutzend Hinweise auf einen drohenden Anschlag ignoriert hatten und dass die Sicherheitskräfte unvorbereitet und nicht ausreichend ausgerüstet waren. Das komplette Versagen von Polizei, Behörden und Politik sollte das deutsch-israelische Verhältnis auf Jahre hinaus belasten. Die acht Terroristen liefen um kurz nach vier Uhr morgens die wenigen Meter vom Zaun des Dorfs in die Connollystraße, die nach dem US-amerikanischen Dreispringer James Connolly benannt war, dem ersten Olympiasieger der Neuzeit. In Haus Nummer 31 waren auf mehrere Appartements verteilt 21 Mitglieder des israelischen Olympia-Teams einquartiert. Das Terrorkommando rannte zunächst ein Stockwerk zu weit nach oben und platzte in eine falsche Wohnung, in der Athleten aus Hongkong lebten. Dann stürmte es zwei Wohnungen mit Israelis. Die Sportler leisteten heftigen Widerstand. Im Handgemenge erschossen die Palästinenser den Ringertrainer Moshe Weinberg und verletzten den Gewichtheber Yossef Romano schwer. Sie trieben neun Israelis im Zimmer des Fechttrainers Andrei Spitzer zusammen. Die Athleten wurden gefesselt und mussten die folgenden Stunden auf zwei gegenüberliegenden Betten sitzen, stets bedroht von Terroristen mit Maschinengewehren. Den sterbenden Romano legten die Palästinenser zwischen die Geiseln auf den Boden; sein Todeskampf dauerte mehrere Stunden. Alle Bitten, doch einen Arzt zu rufen, ignorierten die Geiselnehmer. Rechtsextreme Helfer Sie warfen zwei Polizisten, die vor dem Haus auftauchten, mehrere Blätter zu. Darauf standen die Namen von 328 Gesinnungsgenossen, deren Freilassung sie bis 9 Uhr forderten. Die Allermeisten waren in Israel inhaftierte Palästinenser. Außerdem auf der Liste: die deutsche Linksterroristin Ulrike Meinhof. Wie man heute weiß, führte diese Forderung insofern in die Irre, als es tatsächlich deutsche Rechtsextremisten waren, die das Attentat vorzubereiten halfen. Willi Pohl, Mitglied der rechtsradikalen "Volksbefreiungsfront Deutschland", kutschierte im Sommer 1972 wochenlang Abu Daoud durchs Land – den Drahtzieher des Attentats. Pohls Rolle kam erst 40 Jahre später durch Recherchen des "Spiegel" ans Tageslicht. Bis heute sind längst nicht alle Hintergründe des Anschlages bekannt. Noch immer liegen in Archiven gesperrte Akten. Kein Untersuchungsausschuss, nicht einmal eine Historikerkommission hat den Anschlag gründlich aufgearbeitet. Selbst ein würdiger Gedenkort im Münchner Olympiapark wurde erst nach 40 Jahren beschlossen – vermutlich, weil die Verantwortlichen von damals ihre Fehler nicht auch noch zur Schau stellen wollten. Das deutsche Versagen endete nicht mit dem Tod der zwölf Opfer, es setzte sich noch lange fort. Gescheiterte Befreiung Am 5. September 1972 traf sich der Krisenstab wenige hundert Meter entfernt vom Ort der Geiselnahme. Bayerns Innenminister Bruno Merk übernahm die Leitung, der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber war sein wichtigster Ansprechpartner. Auch Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher redete mit. Den ganzen Tag herrschte ein großes Kommen und Gehen, was ein koordiniertes Krisenmanagement nicht gerade begünstigte. Immerhin gelang es den Verantwortlichen, den Terroristen immer wieder neue Ultimaten abzuringen, ohne dass weitere Geiseln erschossen wurden. Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir hatte den Deutschen bereits am Morgen mitgeteilt, dass ihr Land keinen einzigen Palästinenser aus einem israelischen Gefängnis freilassen würde. Andernfalls, so Meir, wäre kein Jude auf der Welt mehr vor solcher Erpressung sicher. Der Krisenstab entwarf daraufhin Szenarien für eine Geiselbefreiung, stieß aber schnell an praktische Grenzen. Die Deutschen hatten weder ausgebildete Scharfschützen noch Präzisionswaffen. Die Sache nahm groteske Züge an: Als Polizisten in Trainingsanzügen auf den Dächern in Stellung gingen, konnten die Terroristen das live im Fernsehen mitansehen. Niemand hatte den Kamerateams das Filmen verboten. Am späten Nachmittag änderten die Geiselnehmer überraschend ihre Forderungen. Ihr Anführer Issa, der den Tag über mit den deutschen Verantwortlichen vor der Eingangstür verhandelte, das Gesicht geschwärzt und ein Pepita-Hütchen auf dem Kopf, verlangte nun, mit seinen Leuten und den Geiseln nach Ägypten ausgeflogen zu werden. Kurz zuvor hatte das IOC die sportlichen Wettkämpfe unterbrochen. Immer heftiger waren die internationalen Proteste geworden, man könne doch nicht einfach weitermachen als wäre da nichts. Unterdessen bat die Bundesregierung die ägyptische Führung um Unterstützung. Doch diese wollte die Terroristen nicht aufnehmen. "We do not get involved", wurde Bundeskanzler Willy Brandt beschieden. Damit war klar: Die Geiselnahme musste auf deutschem Boden beendet werden. Mit zwei Hubschraubern flogen Palästinenser und Geiseln um 22.35 Uhr aus dem olympischen Dorf zum Bundeswehr-Fliegerhorst nach Fürstenfeldbruck. Dort war eine Stunde zuvor eine Lufthansa-Maschine gelandet, in der als Crew verkleidete Polizisten warteten. Sie sollten, so der Plan, die Geiselnehmer beim Betreten der Maschine überwältigen. Doch den Beamten wurde schnell bewusst, dass es sich um ein Himmelfahrtskommando handelte. Keiner von ihnen war für solch einen riskanten Nahkampf ausgebildet. Die Polizisten verweigerten den Befehl und stiegen aus. Ihre Vorgesetzten zeigten dafür sogar Verständnis. Kaum waren die Hubschrauber in Fürstenfeldbruck gelandet, eskalierte die Lage. Issa und sein Stellvertreter Toni liefen zur Maschine – und fanden sie leer vor. Ihnen wurde wohl klar, dass es sich um eine Falle handelte. Auf ihrem Rückweg zu den Hubschraubern begann ein Feuergefecht mit der Polizei, das – mit Pausen – mehrere Stunden andauerte. Bei den Sicherheitskräften lief schief, was schieflaufen konnte. Die Panzerfahrzeuge blieben im Stau der Gaffer vor dem Fliegerhorst stecken. Die Scharfschützen waren schlecht postiert, auch, weil man bis zuletzt trotzig von weniger als acht Attentätern ausgegangen war. Die Terroristen ermordeten die neun Geiseln, die in den Hubschraubern aneinandergefesselt waren, mit Salven aus ihren Schnellfeuerwaffen und zündeten auch eine Handgranate. Neben den Israelis starb im Tower der Polizist Anton Fliegerbauer. Zu allem Überfluss verbreitete sich in der Nacht die fatale Falschmeldung, dass alle Geiseln befreit worden seien – erst am Morgen des 6. September erfuhr die Welt die fürchterliche Wahrheit. Nachhall des Anschlags Auch fünf Terroristen wurden in Fürstenfeldbruck getötet; drei weitere wurden leicht verletzt festgenommen. Der weitere Umgang mit ihnen ließ die deutsch-israelischen Beziehungen unter den Gefrierpunkt abkühlen. Nur 54 Tage nach ihrer Festnahme wurden die drei überlebenden Palästinenser aus deutscher Haft freigepresst, als Gesinnungsgenossen eine Lufthansa-Maschine entführten. Die drei Männer wurden nach Tripolis ausgeflogen, wo ihnen Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi einen triumphalen Empfang bereitete. Das schnelle Nachgeben der deutschen Seite spricht im Rückblick dafür, dass dahinter ein heimlicher Deal der Bundesregierung mit der palästinensischen Führung stecken könnte. Auch kundige Zeitzeugen wie Hans-Jochen Vogel hielten dies für plausibel. Die Deutschen, so die These, hätten sich mit der Freilassung die Zusage der Palästinenser erkauft, die Bundesrepublik vor weiteren Anschlägen zu verschonen. Die einzige sichtbare Konsequenz aus dem Olympia-Attentat war noch im September 1972 die Gründung der Antiterroreinheit GSG 9 (Grenzschutzgruppe 9). Sie ging auf die Initiative des Polizeioffiziers Ulrich Wegener zurück, der während des Anschlags der Adjutant von Bundesinnenminister Genscher gewesen war. Unter Wegeners Kommando befreite die GSG 9 dann im Oktober 1977 die Geiseln aus der von Palästinensern entführten Lufthansa-Maschine "Landshut". Zerbrechlicher Zauber Zehn Tage lang hatten die Spiele von München den Zauber der olympischen Idee bewiesen; am elften Tag zeigte sich die Zerbrechlichkeit allen Zaubers. Das Olympia-Attentat gilt vielen als dunkelste Stunde in der Geschichte der jungen Bundesrepublik, denn natürlich wiesen elf auf deutschem Boden ermordete Juden unweigerlich zurück in die große Finsternis vor 1945. Die Macher der Spiele haben zu diesem Unglück mit unverantwortlicher Arglosigkeit beigetragen, mit der blinden Zuversicht, dass nichts und niemand ihr Friedensfest stören würde. Der Anschlag hat die Erinnerung an die "heiteren Spiele" schwer belastet, aber nicht getilgt. 50 Jahre danach ist der Wunsch der Hinterbliebenen der israelischen Opfer sehr verständlich und unbedingt zu respektieren, das Jahr 2022 nicht als Jubiläumsjahr zu begreifen, sondern vor allem als Gedenkjahr. Zugleich bleibt aber ohne Zweifel erinnerungswürdig, dass sich in den Spielen von München der politische und gesellschaftliche Wille ausdrückte, das neue Deutschland – die junge, noch verletzliche Demokratie auf deutschem Boden – zum Erfolg zu führen. Vgl. Uta Andrea Balbier, "Der Welt das moderne Deutschland vorstellen": Die Eröffnungsfeier der Spiele der XX. Olympiade in München 1972, in: Johannes Paulmann (Hrsg.), Auswärtige Repräsentationen, Köln 2005, S. 105–119. Die Darstellung der Ereignisse aus Sicht der Organisatoren gründet wesentlich auf persönlichen Interviews der Autoren mit Hans-Jochen Vogel, vgl. Roman Deininger/Uwe Ritzer, Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland, München 2021. Brundage hatte sogar unverhohlene Sympathien für die Nationalsozialisten gehegt. Seine Begeisterung für München 1972 hatte ironischerweise auch mit seiner guten Erinnerung an Berlin 1936 zu tun, vgl. das biografische Standardwerk Allen Guttmann, The Games Must Go On, New York 1983. Vgl. Kay Schiller/Christopher Young, München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Göttingen 2012, S. 60–69. Vgl. Richard Mandell, Hitlers Olympiade. Berlin 1936, München 1980. "Gell, jetzt kommen sie alle", in: Der Spiegel, 2.7.1972, S. 65. Zit. nach Harry Valérien, Olympia 1972. München – Kiel – Sapporo, München 1972, S. 30. Vgl. Gerhard Matzig, Helles Deutschland, in: Süddeutsche Zeitung, 14.7.2010, S. 3. Elisabeth Spieker, Zeigen, nicht erklären, Externer Link: http://www.otlaicher.de/beitraege/zeigen-nicht-erklaeren. "Des is, wia wenn’s d’Mauer dabei hätten", in: Der Spiegel, 3.9.1972, S. 26–32. Vgl. David Clay Large, Munich 1972. Tragedy, Terror, and Triumph at the Olympic Games, London 2012, S. 96–108, S. 155–190. Vgl. David Goldblatt, Die Spiele. Eine Weltgeschichte der Olympiade, Göttingen 2018, S. 241–246. Vgl. Niall Ferguson et al. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge MA 2010. Die Darstellung der Ereignisse stützt sich auf die Archiv- und Zeitzeugen-Recherche der Autoren. Vgl. das Standardwerk zum Anschlag von Simon Reeve, Ein Tag im September. Die Geschichte des Geiseldramas bei den Olympischen Spielen in München 1972, München 2006. Vgl. Axel Frohn et al., Die angekündigte Katastrophe, in: Der Spiegel, 23.7.2012, S. 34–44. Vgl. Patrizia Schlosser, Himmelfahrtskommando, Podcast des Bayerischen Rundfunks, 2.5.2022, Externer Link: http://www.ardaudiothek.de/sendung/10475841. Siehe hierzu auch den Beitrag von Eva Oberloskamp in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Ulrich Wegener, GSG 9. Stärker als der Terror, Münster 2018. Vgl. Peter Münch, Gedenkfeier zum Olympia-Attentat in Gefahr, in: Süddeutsche Zeitung, 28.5.2022, S. 8.
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Deininger, Roman | Ritzer, Uwe
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-08-31T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/muenchen-1972-2022/512568/triumph-und-terror/
Ein junges Deutschland feierte 1972 ein heiteres Olympia. Das Attentat vom 5. September offenbarte Schwachstellen – die Fehler der Deutschen in Aufarbeitung und Gedenken zogen sich über Jahrzehnte hin.
[ "Olympia", "Terrorismus", "Demokratie", "Sport" ]
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Vorreiter des Umbruchs im Ostblock | Deutsch-polnische Beziehungen | bpb.de
Nach der großen Streikbewegung im Juli/August dokumentierte die am 31. August 1980 von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczysław Jagielski und Streikführer Lech Wałęsa geschlossene Vereinbarung von Danzig (die in leicht abgeänderter Form auch in Stettin und zwischen der Regierung und den oberschlesischen Bergarbeitern in Jastrzębie unterzeichnet wurde) ein weitgehendes Zurückweichen der herrschenden Partei PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei). Erstmals wurden in einem kommunistischen Land unabhängige Gewerkschaften anerkannt, das Streikrecht und der Zugang zu den Massenmedien eingeräumt. Innerhalb weniger Wochen verlor die Partei die direkte Kontrolle über mehr als 90 Prozent der organisierten Arbeiter und damit ihre Legitimationsbasis als "führende Kraft" beim Aufbau des Sozialismus in Polen. Das Protokoll der Vereinbarungen von Danzig wurde in der Folgezeit zum Bezugsrahmen der sich im Lande immer weiter ausbreitenden Gewerkschaftsbewegung. Im November 1980 waren von den 16 Mio. Werktätigen Polens rund 10 Mio. der Solidarność beigetreten. Unter den Mitgliedern waren über eine Million Mitglieder der PZPR. Große Konflikte zwischen der Solidarność und der PZPR in den zwölf Monaten zwischen der Unterzeichnung der Vereinbarungen in Stettin, Danzig und Jastrzębie und dem ersten Landeskongress der Gewerkschaft im September/Oktober 1981 machten deutlich, dass sich die Staats- und Parteiorgane keineswegs mit einer unabhängigen Gewerkschaft abgefunden hatten. Die von der Parteiführung als herausfordernd empfundene Haltung der neuen Gewerkschaftsbewegung wurde durch die Lähmung des alten Partei- und Staatsapparats gefördert. Zwar war Parteichef Gierek am 5. September 1980 durch den bisherigen ZK-Sekretär für Sicherheit, Stanisław Kania, abgelöst und eine Erneuerung in der Partei gefordert worden, aber weder PZPR noch Regierung konnten ein überzeugendes Reformprogramm für die Wirtschaft und die politische Mitbestimmung der Gesellschaft entwickeln. Der erst im August 1980 ernannte Ministerpräsident Józef Pińkowski trat im Februar 1981 zurück. Sein Nachfolger wurde General Wojciech Jaruzelski, der den Posten des Verteidigungsministers (seit 1968) und den Oberbefehl über die Streitkräfte beibehielt. Stellvertretender Ministerpräsident wurde der als liberal geltende Publizist und Politiker Mieczysław Rakowski. Der Mordanschlag auf Papst Johannes Paul II. in Rom am 13. Mai 1981, der Tod des hochangesehenen Primas von Polen, Erzbischof Stefan Kardinal Wyszyński, am 28. Mai und der Drohbrief des ZK der KPdSU an die Führung der PZPR vom 5. Juni, in dem mit Konsequenzen für den Fall gedroht wurde, dass die Partei sich nicht in der Lage sähe, die sogenannte "Doppelherrschaft" (PZPR – Solidarność) zu beenden, führten zu einer weiteren Destabilisierung der Lage. Dazu kamen die inneren Auseinandersetzungen in der Solidarność über die Ziele und Taktik der Gewerkschaft. In der Solidarność und im Kreis der Berater und Experten trafen zwei verschiedene Ansichten aufeinander: Nach der einen sollte die Gewerkschaft eher eine sozial- und wirtschaftspolitisch orientierte Arbeitnehmerorganisation sein, nach der anderen eher eine gesellschaftlich-politische Bewegung mit einer demokratischen Mission. Die Eigengesetzlichkeit der Entwicklung führte dazu, dass die zweite Vorstellung sich durchsetzte und zugleich das vorläufige Scheitern der Bewegung heraufbeschwor. Auf dem ersten Landeskongress in Oliwa bei Danzig im September 1981 erregte eine Solidarność-Botschaft an die Arbeiter in den sozialistischen Bruderstaaten großes Aufsehen und den wütenden Protest der kommunistischen Nachbarn. Im Oktober 1981 übernahm Ministerpräsident und Verteidigungsminister Jaruzelski auch das Amt des Ersten Sekretärs des ZK der PZPR. Immer offener wurde von der Parteiführung mit einem gesetzlichen Streikverbot gedroht. Das politische Klima verschärfte sich in den Novemberwochen zusehends. Am 12. Dezember kündigte die Gewerkschaftsführung in Danzig an, sie werde für den Fall, dass in der für den 15. und 16. Dezember einberufenen Sejmsitzung der Regierung Sondervollmachten erteilt würden, am 17. Dezember einen nationalen Protesttag durchführen. Gleichzeitig verlangte sie eine Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierung innerhalb der nächsten zwei Monate. Am 13. Dezember 1981 verhängte Ministerpräsident und Parteisekretär General Jaruzelski über Polen das Kriegsrecht und setzte einen von ihm geleiteten "Armeerat der nationalen Errettung" (WRON) ein. Wałęsa und andere Mitglieder der Solidarność sowie eine große Zahl von Intellektuellen und Aktivisten der Gewerkschaft und anderer Verbände wurden interniert, aber auch ehemalige Staats- und Parteifunktionäre, u.a. der Ex-Parteisekretär Gierek. In einer in der Sowjetunion gedruckten Proklamation und in einer Rundfunkansprache rechtfertigte Jaruzelski die Verhängung des Kriegsrechts mit Umsturzplänen der Solidarność, die "Anarchie, Willkür und Chaos" und einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätten. Der gescheiterte Versuch einer "Normalisierung" und Liberalisierung ohne Demokratisierung (1982-1988) Der Priester Jerzy Popiełuszko wurde am 19. Oktober 1984 von Agenten des polnischen Geheimdienstes ermordet. (Bild: AP) Der Einsatz der Sicherheitskräfte unter dem politischen Schirm der Armee erwies sich als die letzte Möglichkeit für das Personal des realsozialistischen Systems, seine Machtposition zu behaupten. So übernahm die Armee weitgehend die Aufgaben, für die unter "normalen" Bedingungen die PZPR zuständig war. Nach Aufhebung des Kriegsrechts (22.7.1983) stabilisierte General Jaruzelski durch die Personalunion von Erstem Sekretär des ZK der PZPR, Regierungschef und Oberbefehlshaber der polnischen Armee seine herausragende Position im Machtgefüge. Nach der grausamen Ermordung des oppositionellen Priesters Jerzy Popiełuszko im Oktober 1984 übernahm er selbst die oberste Verantwortung und Kontrolle über den Sicherheitsapparat. Neben dem Kampf gegen ideologische Gegner in den Parteireihen und in der Gesellschaft widmete sich die Jaruzelski-Führung einer neuen Politik, die Wege suchte, die Nichtkommunisten für sich zu gewinnen, freilich nicht die politische Opposition (wie z.B. den Solidarność-Untergrund). Die katholische Hierarchie mit dem Primas, Erzbischof Józef Kardinal Glemp, an der Spitze spielte bei den demonstrativ herausgestellten Dialog- und Verständigungsangeboten eine Schlüsselrolle. Hauptziel der Politik war die politische Neutralisierung der katholischen Kirche. Wichtigstes Forum der von der Jaruzelski-Führung deklarierten Verständigung sollte die 1982 geschaffene "Patriotische Bewegung der nationalen Wiedergeburt" (PRON) sein, die 1983 offiziell die seit den 50er Jahren bestehende "Front der Nationalen Einheit" (FJN) ablöste. In ihr waren alle legalen politischen und gesellschaftlichen Organisationen vertreten. Der Umfang des politischen "Dialogs", der von der Jaruzelski-Führung in der Übergangszeit bis zum Beginn von "Glasnost" und "Perestrojka" in der Sowjetunion angeboten wurde, reichte weit über das hinaus, was die Parteiführungen in den anderen sogenannten "realsozialistischen" Staaten ihren Gesellschaften zu bieten hatten. Die Ausweglosigkeit der politisch-gesellschaftlichen Lage in Polen lag aber in der ersten Hälfte der 1980er Jahre darin, dass sich die polnische Gesellschaft, soweit sie sich politisch artikulierte, in ihren Vorstellungen nicht von Vergleichen mit den Nachbarstaaten leiten ließ, sondern die Unreformierbarkeit des real existierenden Sozialismus in Polen konstatierte. Die meisten Arbeiter waren von Anfang an skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten einer Wirtschaftspolitik ohne Dialog mit authentischen Gewerkschaften und boykottierten durch ihre Passivität die Umsetzung von angekündigten Wirtschaftsreformen. Darüber hinaus war die Solidarność mit der Verabschiedung des Gewerkschaftsgesetzes am 8. Oktober 1982 verboten worden. Seit 1982 auf Betriebsebene von der PZPR initiierte neue Gewerkschaften suchten nach einem unabhängigen Profil, wurden aber von einem Großteil der Arbeiter abgelehnt. Jaruzelski hatte bis zum 10. Parteitag der PZPR (29.6.-3.7.1986) seine Position gegenüber innerparteilichen Gegnern seines "mittleren" Kurses in der Innenpolitik ausgebaut. Der Parteikongress sollte dem Prozess der "sozialistischen Erneuerung" neue Impulse geben. Das politische Angebot fand seinen Niederschlag in der überraschenden Freilassung aller politischen Gefangenen nach der am 17. Juli 1986 verkündeten Amnestie. Im Dezember 1986 wurde von Jaruzelski ein "Konsultativrat beim Staatsratsvorsitzenden" einberufen. Darunter waren auch von der demokratischen Opposition respektierte Persönlichkeiten, die jedoch von dieser kein Mandat besaßen. Weitere Anzeichen für eine Öffnung der Innenpolitik waren die liberalere Kulturpolitik unter dem neuen Kulturminister Aleksander Krawczuk und die Bestellung einer Bürgerrechtsbeauftragten/Ombudsman (November 1987) beim Sejm. Die innenpolitische Liberalisierung vollzog sich jedoch zu langsam, als dass sie die Verschärfung der sozioökonomischen Situation der Gesellschaft auffangen konnte. Die im Herbst 1986 angekündigte zweite Phase der Wirtschaftsreform brachte keine durchgreifende Verbesserung der Versorgungslage und wurde von der Bevölkerung vor allem als inflationstreibende Preispolitik erfahren. In einem Referendum im November 1987 verfehlte das von der Regierung vorgestellte Programm einer Wirtschaftsreform und politischer Reformen die erforderliche absolute Mehrheit der Wahlberechtigten. Nach dieser politischen Niederlage, den Streiks im April/Mai 1988, der geringen Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen im Juni 1988 und der zweiten Streikwelle im August 1988 machte sich in der Warschauer Führung die Einsicht breit, dass ohne direkte politische Entscheidungsfreiheit der Gesellschaft ein Ausweg aus der Dauerkrise nicht zu finden war. Die Gruppe um Jaruzelski befürchtete ganz einfach, in kürzester Frist nicht mehr Herr der Lage zu sein und den chaotischen Verhältnissen nicht mehr Einhalt gebieten zu können. Die Idee des "Runden Tisches" wurde geboren. Mit dem "Runden Tisch" in Polen wurde eine Institutionalisierung des evolutionären Systemwechsels vom realen Sozialismus zur pluralistischen Demokratie gefunden, die eine Vorbildfunktion für vergleichbare politische Prozesse in den Ländern Mittel- und Südosteuropas, die DDR eingeschlossen, übernehmen sollte. Für den historisch präzedenzlosen Systemwechsel mussten entsprechende Foren gefunden werden, für die in den sozialistischen Verfassungen kein Platz war und die einen ausgesprochen vorübergehenden Charakter hatten. Aber ungeachtet ihrer fehlenden verfassungsrechtlichen Verwurzelung übernahmen sie eine quasi gesetzgebende Funktion, auch wenn entsprechende Vereinbarungen noch vom formellen Gesetzgeber, dem Parlament, ratifiziert werden mussten. Vom Konzept des "Runden Tisches" zur parlamentarischen Demokratie (1988-1989) Nach dem grünen Licht des 10. ZK-Plenums der PZPR im Januar 1989 kam es dann zu den historischen Verhandlungen am "Runden Tisch" vom 6. Februar bis 5. April 1989 zwischen Vertretern der "Regierungskoalition"-Seite (PZPR, ZSL, SD, drei im Sejm vertretene christliche Gruppierungen, OPZZ) und der "Oppositions-Solidarność"-Seite über einen "historischen Kompromiss", der das Machtmonopol der PZPR endgültig beseitigen sollte. Nicht beteiligt an den Gesprächen waren Vertreter der Fundamentalopposition, die eine Diskussion mit den Vertretern des alten Systems grundsätzlich ablehnten. Am "Runden Tisch" wurden Abmachungen getroffen, die das politische und institutionelle System Polens grundlegend verändern sollten. Schon vor der Unterzeichnung der Ergebnisprotokolle wurden dem Sejm am 22. März Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellierungen zugeleitet: Es handelte sich um die Änderung der Wahlordnung für die vorgezogenen Sejmwahlen im Juni 1989, die Einführung des Senats als zweite Kammer und des Präsidentenamtes, die Einführung des Gewerkschaftspluralismus und ein weitgehend liberalisiertes Vereinsrecht. Das Ergebnis der eigentlichen Verhandlungen wurde in drei Protokollen über die politischen Reformen, den Gewerkschaftspluralismus und die Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammengefasst. Das Protokoll über politische Reformen sah die schrittweise Einführung der vollen Volkssouveränität vor. Das im Juni zu wählende Zweikammerparlament (Sejm, Senat) wurde verpflichtet, eine neue demokratische Verfassung und ein neues demokratisches Wahlrecht auszuarbeiten. Polen befand sich nun in einer Phase permanenter Evolution oder einer "Revolution Schritt für Schritt", die von den Wählern am 4. Juni und in den Stichwahlen am 18. Juni 1989 weiter beschleunigt wurde und den Systemwandel schneller als von beiden Seiten des "Runden Tisches" bis dahin erwartet, zum Systemwechsel mutierte. Die Wahlen wurden zwar nur als halbfrei bezeichnet, weil im Sejm nach der am "Runden Tisch" vereinbarten Mandatsaufteilung 65 Prozent der Sejmsitze an die bisherige Regierungskoalition fallen und so genannte "unabhängige" Kandidaten um 35 Prozent der Abgeordnetensitze konkurrieren sollten. Die Wahlen zum Senat, einer Art Länderversammlung, waren völlig frei, damit war er die erste frei gewählte polnische Abgeordnetenversammlung nach 1945. Eine aus Sejm und Senat gebildete Nationalversammlung sollte mit absoluter Mehrheit auf sechs Jahre den Präsidenten wählen. Am "Runden Tisch" hatte es ein stillschweigendes Einvernehmen darüber gegeben, dass General Jaruzelski der einzige Kandidat für das Präsidentenamt sein würde. Beide Seiten gingen im April 1989 noch davon aus, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung und die Loyalität der Abgeordneten der Regierungskoalition so unbestritten sein würden, dass es beim Wahlvorgang einer Zustimmung der Opposition nicht bedurft hätte. Aber alles kam ganz anders als erwartet. Nach den zwei Runden zu den Parlamentswahlen am 4. und 18. Juni wurde ein eindrucksvoller Sieg der Opposition verzeichnet. Von den insgesamt 261 Kandidaten des "Bürgerkomitees", 161 für den Sejm = 35% der Sitze und 100 für den Senat war nur ein einziger Senatskandidat durchgefallen. Von 100 Senatoren waren 99 Mitglieder der Liste von Lech Walesa. Die bisherige Regierungskoalition, der 299 Sitze im Sejm zugefallen waren, zerbrach während der Verhandlungen über die Regierungsbildung. Jaruzelski wurde mit nur einer Stimme Mehrheit am 19. Juli zum Präsidenten gewählt und der katholische Publizist und Solidarność-Berater Tadeusz Mazowiecki mit der Regierungsbildung beauftragt. Mazowiecki wurde am 24. August mit überwältigender Mehrheit – auch von zahlreichen PZPR-Abgeordneten – zum Ministerpräsidenten gewählt und stellte am 12. September ein Koalitionskabinett aus Ministern von Solidarność, ZSL, SD sowie vier Ministern von der PZPR dem Sejm vor. Mit der Wahl des ersten nichtkommunistischen Regierungschefs in Polen seit 42 Jahren und der Etablierung einer Regierung, in der von der PZPR nur noch vier für die Demonstration der Bündnistreue gegenüber dem sozialistischen Lager wichtige Ministerien (Inneres, Verteidigung, Außenhandel, Transport und Kommunikation) geleitet wurden, ging in Polen eine historische Epoche zu Ende; ein neues politisches Zeitalter begann. Der Priester Jerzy Popiełuszko wurde am 19. Oktober 1984 von Agenten des polnischen Geheimdienstes ermordet. (Bild: AP)
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Dieter Bingen
"2023-02-22T00:00:00"
"2011-11-12T00:00:00"
"2023-02-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/deutsch-polnische-beziehungen/39757/vorreiter-des-umbruchs-im-ostblock/
Solidarno&#347;&#263;, "Solidarität", hieß die polnische Gewerkschaft, die 1980 aus der Streikbewegung hervorging. Schon im November 1980 waren von den 16 Mio. Werktätigen Polens rund 10 Mio. der Solidarno&#347;&#263; beigetreten. Sie hatte entscheid
[ "Deutsch-polnische Beziehungen", "Polen", "Solidarnocs", "Umbruch" ]
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Fernsehen - regional und global | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de
Karte der Bundesrepublik Deutschland mit den Landesrundfunkanstalten der ARD (© gemeinfrei) Vom zentralen zum regionalen Medium Fernsehen war in seinen Gründerjahren in Ost wie West ein nationales Medium, das aus einer Zentrale die im ganzen Land verstreuten Zuschauer mit Information, Unterhaltung und Bildung versorgte. Dass das Erste Programm von dezentralen Landesrundfunkanstalten betrieben wurde, folgte (medien-)politischen Vorgaben, hatte aber mit dem Medium selbst nichts zu tun. Noch die Gründung des ZDF als zentral organisierte Anstalt, die sich gerne auch als nationaler Sender begreift, bekräftigte diese Vorstellung.  Die Dritten Programme als Regionalsender   Die Dritten Programme hingegen waren bei ihrer Gründung in den 1960er Jahren nicht nur als Bildungs- und Kulturprogramme gedacht, sondern ausdrücklich auch als Programme, die über das jeweilige Bundesland und seine Regionen informieren sollten. Die Sender folgten hiermit zum einen den Wünschen der Landespolitiker, die sich in den bundesweiten Programmen zu wenig präsentieren konnten und deshalb eine eigene 'Fernsehbühne' für sich reklamierten. Sie folgten zum anderen aber auch den Erwartungen der Zuschauer, die nicht nur über die Welt- und Bundespolitik informiert werden wollten, sondern auch über das Geschehen in ihrem jeweiligen Bundesland. Tatsächlich waren die regionalen Informationssendungen des Ersten Programms wie "Hier und heute" (WDR), "Buten und Binnen" (RB) oder "Abendschau" (SFB), für die man das ARD-Programm auseinanderschaltete, beim Publikum schon in den frühen 1960er Jahren sehr erfolgreich.  Regionalisierung statt Bildung   Diesen Erfolg bauten die Dritten Programme Mitte der 1980er Jahre aus, als sie den Bildungs- und Kulturanspruch ablegten und stattdessen zu stärker regional akzentuierten Vollprogrammen mutierten. Sendungen, in denen die regionalen Gebräuche präsentiert und die regionalen Feste wie Karnevalsumzüge gefeiert wurden, prägten das neue Profil der Dritten. Den wichtigsten Akzent aber setzten umfangreiche Informationsangebote über Land und Leute in Magazin- oder Nachrichtenform, darüber hinaus auch im Quiz oder als Unterhaltungsshow. Hinzu kamen regionale Volksmusiksendungen.  Ballungsraum- und Stadt-Fernsehen Center TV ist eines der größten Ballungsraumprogramme Deutschlands und umfasst Regionalsender aus Köln, Düsseldorf und Bremen. (© CenterTV) Als das kommerzielle Fernsehen glaubte, auch spezifizierte Programme für Großstädte wie Berlin, München, Hamburg oder Köln anbieten zu können ("Ballungsraumfernsehen"), konterten die Dritten Programme mit einer Subregionalisierung. Am weitesten hat dies das WDR Fernsehen umgesetzt. Hier wird die "Aktuelle Stunde" durch eine "Lokalzeit" ergänzt, die mittlerweile von 11 Landesstudios produziert und parallel werktäglich je eine halbe Stunde ausgestrahlt wird. Eine Zeit lang bot der WDR zusätzlich eine Art von Stadtfernsehen an, das aus und für Dortmund und Köln produziert und gesendet wurde. Da es sich aber nicht wesentlich von der aus den beiden Städten kommenden "Lokalzeit" unterschied, wurde es bald wieder eingestellt.  Nur in bestimmten Regionen erfolgreich   Auch einige private Sender scheiterten mit ihrem Versuch, das sogenannte Stadt- oder Ballungsraumfernsehen zu initiieren. "center tv" beispielsweise firmierte als "Heimatfernsehen" und wurde von 2006 bis 2017 äußerst sparsam, dafür aber mit vielen popularisierenden Mitteln (Berichte vom Regionalsport, aus den Vereinen, von den Stadtereignissen) produziert. Zeitweise konnte sich aber auch in anderen Städten lokales Privatfernsehen etablieren, etwa "TV Berlin" von 1997 bis 2018 (aktuelle Sender lassen sich in der Externer Link: Mediendatenbank der Landesmedienanstalten finden). Fernsehen aus aller Welt Satellitenschüssel (© fixativ/fotolia.com) Parallel zur Regionalisierung der Fernsehproduktion wurde der Zugang zum Fernsehen aus aller Welt immer größer. Dass Fernsehen im Wortsinne ein Fern-Sehen ermöglichte, war der Satellitentechnik zuzuschreiben, die ab 1964 Live-Übertragungen aus der ganzen Welt ermöglichte. Erstmals war man nicht nur Augenzeuge dessen, was in der eigenen Stadt geschah oder was im Nachbarland für Aufmerksamkeit sorgte. Man war Augenzeuge bei Ereignissen am anderen Ende des Globus. Mit der Miniaturisierung der Satellitentechnik Anfang der 1990er Jahre wurde es möglich, dass sich Reporter von allen Orten der Welt live zu Wort und im Bild melden konnten. Die Welt schien spätestens mit dem Fall des 'Eisernen Vorhangs' 1989/1990 mit einem Male keine Stelle, keinen Ort, keinen Landstrich mehr zu kennen, von denen das Fernsehen nicht berichten könnte, wenn es denn wollte.  Dass das ein Irrtum ist, ist spätestens bei Krisen und Kriegen zu beobachten. Denn der Zugang zu weiten Teilen der Erde wird immer noch von Polizei und Militär bestimmt, die nur jene zur Berichterstattung zulassen, die die Situation in ihrem Sinne darstellen oder sich einer Vorzensur unterwerfen. Das Fernsehen bewertet die Ereignisse auch danach, ob sich der Aufwand für eine Berichterstattung lohnt und das zu berichtende Ereignis für ein großes Publikum von Interesse sein könnte. Inzwischen führt die Möglichkeit, mit kleinen Geräten wie Tablet PCs oder Smartphones von überall Videos aufzunehmen und zu senden, zu "User-Content" auch im Fernsehen.  Zwischen globaler und lokaler Orientierung: "Glokalisierung"  Auch in einem anderen Sinne wurde das Fernsehen weltläufig. Wie schon im Kino gewann die amerikanische Fernsehindustrie mit ihrer harten Binnenkonkurrenz eines ausschließlich nach ökonomischen Interessen organisierten Marktes weltweit Einfluss. Amerikanische Fernsehserien laufen fast überall, amerikanische Unterhaltungsformate werden überall lizenziert, selbst das Bildschirmdesign wird nach den Mustern aus den USA standardisiert. Ein Nachrichtensender wie CNN gab das Muster für viele andere Nachrichten-Sender vor, die in Europa, Asien und in den arabischen Ländern gestartet wurden. Gleichzeitig versuchten amerikanische Medienkonzerne, mit kommerziellen Sendern in Europa Fuß zu fassen. Doch das scheiterte in vielen Fällen. CNN beispielsweise stellte seinen Versuch deutschsprachiger Sendungen bald wieder ein.  Anpassung an lokale Märkte  Aber auch der Verkauf der amerikanischen Serienrechte ist den Moden des jeweiligen Heimatmarktes unterworfen; in den 1990er Jahren war die Nachfrage nach solchen Serien in Europa eher klein. Hinzu kommt, dass die amerikanischen Medienkonzerne (anders als die großen Sender) nicht unbedingt in amerikanischer Hand sein müssen. Japanische Technologiekonzerne wie Sony, eine Zeit lang ein französischer Wasserkonzern oder ein kanadischer Whiskeyproduzent hielten oder halten Anteile an amerikanischen Produktionsstudios.  Auf diese Weise ist das Fernsehen nicht nur ein Beispiel für die Globalisierung, sondern auch die "Glokalisierung", ein Prozess, bei dem die globalen Strategien der Unternehmen sich den Anforderungen der lokalen Märkte und ihren Bedingungen anpassen. Das Fernsehen ist auch ein Ausdruck für diese aktuelle Form der Modernisierung. Karte der Bundesrepublik Deutschland mit den Landesrundfunkanstalten der ARD (© gemeinfrei) Center TV ist eines der größten Ballungsraumprogramme Deutschlands und umfasst Regionalsender aus Köln, Düsseldorf und Bremen. (© CenterTV) Satellitenschüssel (© fixativ/fotolia.com) Quellen / Literatur Interner Link: Regionalisierung Interner Link: Glokalisierung Interner Link: Regionalisierung Interner Link: Glokalisierung
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-04T00:00:00"
"2017-04-09T00:00:00"
"2022-07-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/246239/fernsehen-regional-und-global/
Das Fernsehen war in seinen Gründerjahren in Ost wie West ein nationales Medium, das die Zuschauer im ganzen Land mit Informationen, Unterhaltung und Bildungssendungen versorgte.
[ "Tele-Visionen", "regionales Medium", "Regionalsender", "Dritten Programme" ]
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Journalisten-Preis zur Bundestagswahl | Presse | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb würdigt mit dem W(ahl)-Award | 2013 zum vierten Mal die besten Beiträge zur Bundestagswahl in Print- und Hörfunkmedien. Bis zum 31. Oktober 2013 können sich die Redaktionen bewerben. Der Preis ist mit insgesamt 11.500 Euro dotiert. Die bpb zeichnet die Wahlberichterstattung aus, die bis zum Schließen der Wahllokale am 22. September 2013 erschienen ist. Insbesondere im Fokus: Lokales. Gefragt ist eine gelungene Mischung aus Information und Originalität. Zudem sollten die Beiträge wahlmotivierend sein. Egal ob Bericht, Reportage, Feature, Interview, Kommentar, Liveticker, Video, Audio, Fotogalerie ... – alle journalistischen Stilformen und Formate in Tageszeitungen, Hörfunk und den dazugehörigen Online-Angeboten sind gefragt, gerne auch crossmedial. Auch Themenseiten und Artikelserien sowie Sendungen und Hörfunkserien können eingereicht werden. Freie und fest angestellte Journalisten aus Tageszeitungs- und Hörfunkredaktionen können sich bewerben – auch im Team. In den beiden Kategorien Print und Hörfunk sind je vier Preise mit 2.500 Euro, 1.500 Euro, 1.000 Euro und 750 Euro dotiert. Einsendeschluss ist der 31. Oktober 2013. Eine unabhängige Jury aus erfahrenen Journalisten bewertet die Beiträge. Der W(ahl)-Award wird Anfang 2014 auf dem Forum Lokaljournalismus in Bayreuth verliehen. Alle Infos zum W(ahl)-Award | 2013, die Teilnahmebedingungen und das Teilnahmeformular unter www.bpb.de/wonair/wahlaward, Externer Link: www.hoerfunker.de/journalistenpreis oder Externer Link: www.drehscheibe.org. Interner Link: Pressemitteilung als PDF. Pressekontakt bpb: Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel: +49 (0)228 99515-200 E-Mail Link: presse@bpb.de »Externer Link: www.bpb.de/presse«
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-10-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/170973/journalisten-preis-zur-bundestagswahl/
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb würdigt mit dem W(ahl)-Award | 2013 zum vierten Mal die besten Beiträge zur Bundestagswahl in Print- und Hörfunkmedien. Bis zum 31. Oktober 2013 können sich die Redaktionen bewerben. Der Preis ist mit ins
[ "Pressemitteilung", "W(ahl)-Award", "Bundesrepublik Deutschland", "Bonn" ]
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Fakten zur Landtagswahl Schleswig-Holstein 2022 | Schleswig-Holstein 2022 | bpb.de
Wer wird gewählt? Mindestens 69 Abgeordnete des Schleswig-Holsteinischen Landtags mit Sitz in der Landeshauptstadt Kiel. Wie oft wird gewählt? Der Landtag von Schleswig-Holstein wird alle fünf Jahre neu gewählt. Wann wird gewählt? Am 8. Mai 2022 von 8 bis 18 Uhr. Wer darf wählen? Wahlberechtigt sind alle Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, seit mindestens sechs Wochen in Schleswig-Holstein eine Wohnung haben oder sich in Schleswig-Holstein sonst gewöhnlich aufhalten, keine Wohnung außerhalb des Landes haben und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Wer ist wählbar? In den Schleswig-Holsteinischen Landtag wählbar sind alle Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, seit mindestens drei Monaten in Schleswig-Holstein wohnen oder sich in Schleswig-Holstein sonst gewöhnlich aufhalten und keine Wohnung außerhalb des Landes haben. Daneben darf ihnen nicht die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter durch einen richterlichen Beschluss aberkannt worden sein. Wie viele Stimmen habe ich? Jede Wählerin und jeder Wähler hat zwei Stimmen. Mit der Erststimme wird ein Wahlkreiskandidat gewählt, mit der Zweitstimme kann für die Landesliste einer Partei oder politischen Vereinigung votiert werden. Wie erfolgt die Sitzverteilung im Landtag? Wahlkreiskandidaten, die in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der Erststimmen errungen haben, ziehen direkt in den Landtag ein. Weitere Sitze werden auf Parteien, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen errungen haben, gemäß ihrer im ganzen Land erzielten Zweitstimmenzahl verteilt. Diese Verteilung verläuft nach dem mathematischen Verfahren Sainte-Laguë. Ausgenommen von der Fünf-Prozent-Hürde sind Wahlvorschläge des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW), der die dänische Minderheit vertritt. Erhält jede Landes- oder Wahlkreisliste, die Wählerstimmen erhält, automatisch einen Sitz im Landtag? Nein, mit Ausnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) werden bei der Verteilung der Sitze nur die Parteien und Wählergruppen berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben (sogenannte Sperr- oder Fünf-Prozent-Klausel). Wie werden die Kandidaten und Kandidatinnen aufgestellt? Die Parteien und Wählergruppen stellen eigene Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkreisen auf, die per Erststimme gewählt werden. Daneben werden Kandidatinnen und Kandidaten auf Landeslisten gesetzt - je nach erreichtem Zweitstimmenanteil ziehen diese gemäß ihrer Reihenfolge auf der Landesliste in den Landtag ein. Ist die Landesliste einer Partei erschöpft, werden weitere offene Sitze nicht durch sie besetzt. Was sind Überhangmandate und Ausgleichsmandate? Gelingt es einer Partei, mehr über die Erststimme gewählte Wahlkreiskandidaten in den Landtag zu entsenden, als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis verhältnismäßig zustehen, so verbleiben diese zusätzlichen Parlamentssitze bei der Partei (Überhangmandate). Alle anderen in den Landtag eingezogenen Parteien erhalten hierfür entsprechende Ausgleichsmandate. Dabei erhöht sich die gesamte Abgeordnetenzahl im Landtag und übersteigt die Mindestanzahl der zu vergebenen Mandate von 69. Was ist die Briefwahl? Wer am 8. Mai 2022 nicht in sein Wahllokal gehen kann, weil er oder sie etwa im Urlaub ist, kann im Vorfeld die Briefwahl beantragen. Man bekommt den Stimmzettel dann nach Hause geschickt und kann bereits vor dem Wahltag seine Stimme abgeben und per Brief an das zuständige Wahllokal schicken. Weitere Informationen beim Landesbeauftragten für politische Bildung Schleswig-Holstein: Externer Link: https://www.politische-bildung.sh/informationen-zur-landtagswahl.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-31T00:00:00"
"2022-03-21T00:00:00"
"2022-03-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wahl-o-mat/schleswig-holstein-2022/506399/fakten-zur-landtagswahl-schleswig-holstein-2022/
Hier finden Sie Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein 2022.
[ "Wahl-O-Mat", "Landtagswahl", "Landtagswahl Schleswig-Holstein 2022", "Wahl-O-Mat Schleswig-Holstein 2022", "Schleswig-Holstein" ]
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Frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung – eine Zeitleiste | Bildung | bpb.de
Von der Mutterschule zum Gute-KiTa-Gesetz Kindertageseinrichtungen gibt es in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhundert. Seit dieser Zeit entstanden unterschiedliche Einrichtungsformen, die als Bewahranstalten, Kleinkinderschulen, Kinderpflegeeinrichtungen oder Kindergärten bezeichnet wurden. Eine erste Verbreitungswelle fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Eingerichtet wurden Kindertageseinrichtungen in erster Linie aus sozialfürsorgerischen Gründen: die Kinder aus armen Familien sollten vor Gefahren geschützt werden, während ihre Eltern einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten. Teilweise standen in den Kindertageseinrichtungen aber auch pädagogische Ziele im Vordergrund. Hier waren die Kindertageseinrichtungen bildungspolitisch motiviert: sie wurden als erste Stufe des Bildungssystems verstanden und hatten schulvorbereitende Aufgaben zu erfüllen. Entsprechend der jeweiligen Gründungsmotive existierten auch unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen zur frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung. Da sich die deutschen Kleinstaaten weitgehend aus der öffentlichen Fürsorge heraushielten und das Feld privaten Initiativen überließen, entstanden im 19. Jahrhundert die Vorläufer unserer heutigen Trägervielfalt. Dabei war der Einfluss der konfessionellen Träger am stärksten ausgeprägt. In der Weimarer Republik erfolgte dann mit der Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) die rechtlich-administrative Zuordnung der Kindertagesstätten zum Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und nicht zum Schulsystem. Damit wurde von administrativer Seite die Fürsorge- und Betreuungsfunktion der Kindertageseinrichtungen betont und festgeschrieben. Mit der derzeitigen Verankerung der Kindertagesbetreuung im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) besteht diese Zuordnung auch heute noch. Externer Link: Hier können Sie die Zeitleiste als Vollbild ansehen. Interner Link: Zeitleiste: Frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung Nach 1945 entwickelte sich die Kindertagesbetreuung in der BRD und der DDR unterschiedlich. Während die Bundesrepublik Deutschland an die Strukturen der Weimarer Republik anknüpfte, wurde in der Deutschen Demokratischen Republik der Kindergarten dem Schulsystem zugeordnet und erhielt einen klaren schulvorbereitenden Auftrag. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurden die Kinderkrippen und Kindergärten der DDR an das westdeutsche Kita-System angepasst und ab 1990 im KJHG geregelt. Verstärkte Aufmerksamkeit erhalten die frühkindlichen Bildungsprozesse seit der Jahrtausendwende. So gibt es seit 2006 in allen Bundesländern elementarpädagogische Bildungs- und Erziehungspläne. Außerdem wurde der quantitative Ausbau der außerfamilialen Kindertagesbetreuung vorangetrieben, mit dem Ergebnis, dass über 90 Prozent aller drei- bis sechsjährigen Kinder und etwas mehr als 30 Prozent aller Kinder unter drei Jahren eine Kindertagesstätte oder Kindertagespflege besuchen. Die aktuellen Initiativen des Bundes richten sich auf die Weiterentwicklung der Qualität frühpädagogischer Einrichtungen. Dazu wird derzeit auf Bundesebene an einem Kita-Qualitätsentwicklungsgesetz (Gute-KiTa-Gesetz) gearbeitet, das 2019 in Kraft treten soll. In der Zeitleiste wird die Geschichte der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung aus einer konzeptionellen, einer institutionellen, einer rechtlich-administrativen und einer berufspolitischen Perspektive dargestellt. Dabei werden einerseits zentrale Gedanken zur familialen und außerfamilialen frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung verschiedener Wegbereiter und Wegbereiterinnen einer Pädagogik der frühen Kindheit vorgestellt und andererseits die Entwicklungslinien frühpädagogischer Einrichtungen und frühpädagogischer Fachkräfte nachgezeichnet.
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Diana Franke-Meyer
"2022-05-11T00:00:00"
"2018-09-26T00:00:00"
"2022-05-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/276523/fruehkindliche-bildung-erziehung-und-betreuung-eine-zeitleiste/
Wie haben sich frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung in Deutschland entwickelt? Unsere interaktive Zeitleiste erkundet Gedanken von Wegbereitern der Frühpädagogik im In- und Ausland und präsentiert Meilensteine auf dem langen Weg zur heutige
[ "Bildung", "Zukunft Bildung", "Dossier Bildung", "Schule", "Erziehung", "Universität", "Studium", "Ausbildung", "Hochschule", "Frühkindliche Erziehung", "Kinderbetreuung", "Kindertagesstätte", "Kindergarten" ]
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Ökologisch-Demokratische Partei / Familie und Umwelt | Landtagswahl Baden-Württemberg 2021 | bpb.de
Gründungsjahr Landesverband 1982* Mitgliederzahl in Baden-Württemberg 1040* Landesvorsitz Guido Klamt* Wahlergebnis 2016 0,7 Prozent *nach Angaben der Partei Die "Ökologisch-Demokratische Partei / Familie und Umwelt" (ÖDP) ging aus der 1978 vom ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl gegründeten "Grüne Aktion Zukunft" und anderen ökologischen Bewegungen hervor, die sich zunächst den 1980 auf Bundesebene gegründeten "Grünen" anschlossen, dann jedoch 1981 in der ÖDP aufgingen. Während die "Grünen" sich klar links von der Mitte positionierten und gesellschaftspolitisch ein explizit progressives Profil entwickelten, nahm die ÖDP wertkonservative Positionen ein. Letztere umfassen neben Forderungen zum Schutz von Natur und Umwelt und nachhaltigem Wirtschaften auch den Schutz der Familie. Auch wird die Stärkung direktdemokratischer Elemente gefordert. Die Grundlage der Programmatik der ÖDP bilden christlich-humanistische Werte. In das Europäische Parlament entsandte sie 2014 einen Abgeordneten und konnte 2019 ihren Stimmenanteil in Deutschland auf ein Prozent steigern, sodass sie weiterhin mit einer Abgeordneten vertreten ist. Im ÖDP-Wahlprogramm zur Landtagswahl wird die vollständige Umstellung auf erneuerbare Energien und die sofortige Abschaltung von Atomkraftwerken gefordert. Weiterhin verlangt die Partei die artgerechte Unterbringung von Tieren in der Landwirtschaft, Anstrengungen für eine Reduzierung des Fleischkonsums und den ökologischen Umbau der Landwirtschaft. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik lehnt die ÖPD, um Rohstoffvorräte zu schonen, eine ausschließliche Orientierung am Wirtschaftswachstum ab. Die Staatsschulden sollen komplett abgebaut werden und eine Neuverschuldung vermieden werden. Die ÖDP lehnt verpflichtende Ganztagesschulen ab und fordert eine Einführung ethischer Standards, so dass unter anderem Gewalt und Pornografie in den Medien stärker strafrechtlich verfolgt werden können. Die ÖDP tritt für eine Wahrung des Asylrechts ein und hebt die Relevanz der Kenntnis der deutschen Sprache und der Akzeptanz von Recht und Werten seitens der Migranten hervor. Gründungsjahr Landesverband 1982* Mitgliederzahl in Baden-Württemberg 1040* Landesvorsitz Guido Klamt* Wahlergebnis 2016 0,7 Prozent *nach Angaben der Partei
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-02-10T00:00:00"
"2021-01-27T00:00:00"
"2021-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/baden-wuerttemberg-2021/326200/oekologisch-demokratische-partei-familie-und-umwelt/
Die ÖDP ging 1981 aus verschiedenen ökologischen Bewegungen hervor. Die Partei vereint auf der Grundlage christlich-humanistischer Werte ökologische mit wertkonservativen Positionen. Sie ist seit 2014 im Europäischen Parlament vertreten. Der Einzug i
[ "Wahlen", "Wahl-O-Mat", "Wer steht zur Wahl", "Landtagswahl Baden-Württemberg 2021", "Ökologisch-Demokratische Partei / Familie und Umwelt", "ödp" ]
30,290
Info 04.05 Integration - gesellschaftliches Risiko und politisches Symbol | Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Integration | bpb.de
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Zu- und Einwanderungsland. Diesen Sachverhalt anzuerkennen und politisch und rechtlich auszugestalten - damit hat sie sich lange Zeit schwer getan. Nach den ersten Reformen des Ausländergesetzes 1990 und 1993 sowie der Öffnung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts für Zuwanderer im Jahre 2000 trat im Jahr 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft. Dank des Statistischen Bundesamtes haben wir kurz danach erfahren: Jedem fünften in Deutschland lebenden Menschen ist die Zuwanderung in die Familienbiographie eingeschrieben. Und für die Zukunft steht fest, dass die demographischen Ungleichgewichte einer alternden Bevölkerung zwar durch Zuwanderung allein nicht korrigiert, einige ihrer problematischen Folgen für Wirtschaft, private Haushalte und die sozialen Sicherungssysteme aber doch abgemildert werden könnten, wenn es denn bei einer positiven Wanderungsbilanz bliebe. Damit zeichnet sich ab: Es gibt keine Alternative zur Integration von Migrantinnen und Migranten. Sie werden gebraucht, und sie sind umgekehrt ihrerseits an ihrer Integration interessiert, geht es dabei doch um den Zugang zu den für die Lebensführung wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnung, Recht und Sicherheit. Es kann daher fast nicht mehr erstaunen, dass sich gegenwärtig alle um Integration als politisches Symbol versammeln. Zwischenzeitlich öffentlichkeitswirksam kommunizierte Übertreibungen, denen zufolge überall Anzeichen für das Scheitern der Integration auszumachen sind, haben den von Kanzlerin Angela Merkel einberufenen Integrationsgipfel provoziert; und mittlerweile ist in zahlreichen ministeriellen Arbeitsgruppen am nationalen Integrationsplan gearbeitet worden. Die List der Vernunft hat offenbar die Migrations- und Integrationsskeptiker zu den Beförderern genau der politischen Anstrengungen werden lassen, welche von den Befürwortern lange vergeblich angemahnt wurden. Aber politische Konjunkturen sind vergänglich. Will man auf den Feldern von Migration und Integration nicht die Übersicht verlieren, empfiehlt es sich, Fragen der gesellschaftlichen Integration von Migranten, Möglichkeiten ihrer politischen Gestaltung und symbolische Politik auseinander zu halten: Der Grad der gesellschaftlichen Integration von Migranten gibt - soziologisch gesehen - im Kern Antwort auf die Frage, in welchem Ausmaß es diesen gelingt, an den für die Lebensführung bedeutsamen gesellschaftlichen Bereichen teilzunehmen, also Zugang zu Arbeit, Erziehung und Ausbildung, Wohnung, Gesundheit, Recht, Politik, Massenmedien und Religion zu finden. Die moderne Gesellschaft mutet allen Individuen - nicht nur Migranten - zu, dies eigenständig und in Ausrichtung an den in den verschiedenen Bereichen jeweils gültigen Anforderungen zu realisieren. Integration bezeichnet daher eine Problemstellung, mit der unterschiedslos alle Menschen konfrontiert sind. Dabei ist kein Individuum auf Dauer in "die Gesellschaft" als solche integriert. Integration erfolgt stets nur auf Zeit in die jeweils bedeutsamen sozialen Zusammenhänge, und sie gelingt keineswegs selbstverständlich, wie die jüngste Debatte um "das abgehängte Prekariat" zeigt; jedes Individuum muss sich ggf. stets aufs Neue darum bemühen. Ausschlaggebend für den Verlauf von Integration sind die Bedingungen, unter denen die Individuen sich dieser modernen Zumutung stellen. Diese betreffen einerseits die sozialen Anforderungen, wie sie auf Märkten, im Erziehungssystem, im Recht, in der Politik oder im Gesundheitswesen gültig sind, andererseits die den Individuen zur Verfügung stehenden materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen. Das gilt zunächst für alle. Migrantinnen und Migranten unterscheiden sich ggf. von anderen im Hinblick auf ihre individuelle Ausstattung - insbesondere mit kulturellen und sozialen Ressourcen: Sie müssen meist die Verkehrssprache des Zuwanderungslandes, insbesondere die Schriftsprache erlernen, ihr erlerntes Wissen und Können, ihre Wertvorstellungen und normativen Erwartungen gemäß den Anforderungen der Gesellschaft neu ausrichten und erweitern sowie in neue soziale Beziehungen zu relevanten Organisationen und Personen treten, die den Zugang zu den wichtigen Lebensbereichen vermitteln. Ihre mitgebrachten Ressourcen können sich dabei sowohl als Potenziale als auch als Barrieren der Integration erweisen. Ob Migranten ihre Kompetenzen zur Geltung bringen können, hängt auch von den sozialen Bedingungen und Barrieren ab, auf die sie treffen. Sehen sich Migranten in verschiedenen Bereichen der Integration Anforderungen gegenüber, die für alle gleich gültig sind? Oder treffen sie auf Barrieren, die insbesondere sie benachteiligen, sei es auf dem Arbeitsmarkt beim Zugang zu Arbeitsplätzen, sei es im Bildungssystem hinsichtlich der Vermittlung von Wissen und der Zuweisung von Kompetenz und Karriereaussichten, sei es im Staat beim Zugang zu bürgerlichen und sozialen Rechten, sei es in Kommunen beim Zugang zu Leistungen der Gesundheit, der Beratung und Fürsorge, sei es in Familien hinsichtlich der Ausrichtung auf Erziehung und Ausbildung oder des Knüpfens von Freundschaften. Die Integration, ihre Verläufe, ihre Erfolge und Misserfolge sind in erster Linie das Ergebnis der Anstrengungen der Migranten, die Anforderungen in den verschiedenen Bereichen zu erfüllen: also in den Arbeit nachfragenden oder Leistungen bereitstellenden Organisationen in Wirtschaft, Erziehung und Ausbildung, Gesundheit, Recht und Politik. Den Migranten und ihren Familien werden trotz und wegen der Freiheit der kulturellen Lebensgestaltung erhebliche Anpassungsleistungen abverlangt. Zugleich sind ihre Erfolgsaussichten aber durch Hürden eingeschränkt, die kaum funktionalen Erfordernissen von Unternehmen, Schulen, Verwaltungen oder Krankenhäusern geschuldet sind, sondern vielmehr der Kontrolle der Arbeitgeber über den Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen, den organisatorischen Alltagsroutinen in Verwaltungen und Schulen oder der Durchsetzungsfähigkeit der Mittel- und Oberschichten in der Konkurrenz um Bildung. Integration heißt auch Konkurrenz um knappe Güter und Irritation organisatorischer Alltagsroutinen durch ein sich wandelndes Publikum. Sie kann nur durch beides hindurch gelingen - und sie kann, weil sie in Unternehmen, Schulen, Krankenhäusern und lokalen Verwaltungen sowie in Familien erfolgen muss, nicht etwa allein oder auch nur vorwiegend politisch verordnet und ebensowenig politisch bewirkt werden. Denn ggf. verdient man Geld in Unternehmen, erwirbt Wissen in der Schule, überwindet Krankheiten mit Hilfe des Arztes und wird geliebt in der Familie. In der politisch-öffentlichen Diskussion über Migration und Integration muss auf eine solche Selbstverständlichkeit wie die, dass die Politik nicht stellvertretend integrieren kann, immer wieder hingewiesen werden; denn hier trifft man auf einen erstaunlichen Glauben an die Reichweite der Politik, der doch sonst längst abhanden gekommen ist. Es gilt zu unterscheiden zwischen der Frage, welche Möglichkeiten die Politik in der Gestaltung von Integrationsprozessen hat, und welche Bedeutung der Kommunikation von Integrationspolitik als politischem Symbol zukommt. Der Politik stehen im Feld der Integration wie auch sonst im Kern drei Möglichkeiten zur Verfügung: Recht, Geld und mobilisierende "Überredung". Es wird Geld für Integrationskurse bereitgestellt, das Zuwanderungsgesetz legt aber zugleich fest, dass Migranten, die es nötig zu haben scheinen, auch teilnehmen müssen, andernfalls drohen ihnen Sanktionen. Die übrigen Migranten, die nicht mehr zur Teilnahme an diesen Kursen gezwungen werden können, werden durch Kampagnen dazu "überredet". Integrationspolitik kann, genau betrachtet, aus nichts anderem bestehen als aus solchen Bündeln von Gesetzen, der Bereitstellung von Geld für Programme und Maßnahmen sowie aus "mobilisierenden Überredungen". Diese sind entweder an die Migrantenfamilien und ihre Integrationsressourcen - Sprache, Wissen und Können, soziale Beziehungen - oder an die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche der Integration und ihre Organisationen in der Wirtschaft, Erziehung, Gesundheit, Religion, an das Recht oder die Politik selbst adressiert. Man verbietet rechtlich Diskriminierung, fördert Beschäftigung sowie Aus- und Weiterbildung mit Geld, mobilisiert Migrantinnen und Migranten und ihre Vereine und Verbände zur Integration und überredet die Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen zu Beschäftigungspakten und anderen Selbstverpflichtungen sowie "die Zivilgesellschaft" - also lokale Sport- und andere Vereine, Kulturorganisationen, Nachbarschaften oder freie Träger - zu mehr Offenheit für "Verschiedenheit": "Managing diversity" und "interkulturelle Öffnung" lauten die europaweiten Mobilisierungsformeln. Damit wird in das öffentliche Bewusstsein gerückt, dass die Integration von Migranten eine generationenübergreifende und keine vorübergehende Problemstellung ist. Unter den Bedingungen von internationaler Migration und Integration kommt es zur Neuauflage einer den europäischen Wohlfahrtsstaaten vertrauten und sie im Kontext der Globalisierung verstärkt herausfordernden Problemstellung: Es geht nicht nur um die Gewährleistung von Teilnahmechancen und sozialer Sicherheit für alle Individuen, sondern auch um die Verhinderung der Stabilisierung von Ungleichheits- und Ausschlussverhältnissen. Ihrem institutionalisierten Selbstverständnis nach gehört es zu den Aufgaben von modernen Wohlfahrtsstaaten, allen Individuen die Chance einzuräumen, die Ungleichheitsverhältnisse, in die sie hineingeboren worden sind, hinter sich lassen zu können: ihnen nicht schicksalartig ausgeliefert zu sein. Der "aktivierende Wohlfahrtsstaat" verlangt den Individuen mehr Eigenverantwortung ab, er setzt nicht mehr - wie der fürsorgende Wohlfahrtsstaat - auf materielle Gleichheit, sondern auf Chancengleichheit bei Akzeptanz von materieller Ungleichheit. Er verspricht aber im Gegenzug, all jenen, die sich in prekären Verhältnissen befinden, Unterstützung zu gewähren, um aus diesen herauszukommen. Die Resultate der PISA-Studien haben an der Einlösbarkeit dieses Versprechens bestehende erhebliche Zweifel untermauert. Die festgestellte Stabilität der Bildungsungleichheit betrifft nicht nur die Migrantenkinder, sondern alle bildungsfernen Schichten - sie scheinen ihrem Schicksal kaum entkommen zu können. Die Migranten und ihre Kinder sind nur die jüngsten Kandidaten, die von den Mechanismen der Stabilisierung sozialer Ungleichheit und sozialem Ausschluss erfasst werden. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Ambivalenz der zentralen Stellung von Integration als einem politischen Symbol. In dem Maße, in dem Migration und Integration als politisch unabweisbare und dauerhafte Aufgabenstellungen begriffen worden sind, richtete sich in der öffentlichen Diskussion die Aufmerksamkeit auf die problematischen Resultate bisheriger Integrationsverläufe. Es ist sicher hilfreich, wenn die soziale Integration von Migranten und deren Nachkommen öffentlichkeitswirksam als Daueraufgabe angemahnt und wenn ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass alle gesellschaftlichen Bereiche in Deutschland wie in ganz Europa lernen müssen, sich darauf einzustellen und entsprechende Routinen auszubilden. Aber gerade weil Prozesse der Integration riskant sind und weil sie - insbesondere nach der späten Einsicht in die Erfordernisse ihrer politischen Gestaltung - Zeit brauchen, ist in ihrer jüngsten symbolischen Aufladung schon die Möglichkeit der Enttäuschung überhöhter Erwartungen eingeschlossen. Nicht alle Programme und Maßnahmen werden greifen, und sie können sich auch als unbeabsichtigte Barrieren erweisen. So gehen zum Beispiel in zahlreichen nordwesteuropäischen Ländern Arbeitsförderungsprogramme mit hoher Dauerarbeitslosigkeit (nicht nur) von Migranten einher, während die südeuropäischen Länder, die kaum solche Programme haben, keine vergleichbare Dauerarbeitslosigkeit von Migranten kennen. Wenn Integrationspolitik öffentlich vor allem als Sonderanstrengung begriffen wird und nicht als regulärer Teil einer ohnehin schwieriger gewordenen Gesellschaftspolitik in den europäischen Wohlfahrtsstaaten, Risiken der Zunahme von Ungleichheit und des sozialen Ausschlusses einzuschränken, dann wird die symbolische Aufladung dieser Politik den Boden dafür bereiten, dass misslingende Integration erneut einseitig zugeschrieben wird: sei es den Migranten als Verweigerung oder Versagen, sei es einer in ihren Möglichkeiten überschätzten Politik. Der Verlauf der Integration von Migrantinnen und Migranten ist absehbar nur ein Indiz unter vielen dafür, inwieweit europäischen Wohlfahrtsstaaten die Gestaltung von Integration insgesamt noch gelingt. Aus: Michael Bommes: Integration - gesellschaftliches Risiko und politisches Symbol, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 22-23/2007) Externer Link: (02.11.2007) Zum Autor: Michael Bommes, Dr. phil. habil., geb. 1954; Professor für Soziologie und Direktor des Insitituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück, Neuer Graben 19/21, 49069 Osnabrück. E-Mail: E-Mail Link: mbommes@uni-osnabrueck.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/projekt-integration/134593/info-04-05-integration-gesellschaftliches-risiko-und-politisches-symbol/
Der Autor beschäftigt sich unter anderem mit Bedingungen, die Integration gelingen lassen können oder diese bremsen. Er erläutert auch, warum Integration als ein politisches Symbol verstanden werden kann.
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Fachbücher | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement 1. Radikalisierung und Prävention Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und PerspektivenJens Ostwaldt, 2020 Interner Link: Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte StudienForschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention, 2020 Interner Link: Handbuch ExtremismuspräventionHrsg.: Brahim Ben Slama, Uwe E. Kemmesies, 2020 Interner Link: Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissenHrsg.: Christopher Daase, Nicole Deitelhoff, Julian Junk, 2019 Interner Link: Gewalt und RadikalitätHrsg.: Erich Marks, Helmut Fünfsinn, 2019 Interner Link: "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen". Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-GruppeMichael Kiefer, Jörg Hüttermann, Bacem Dziri, Rauf Ceylan, Viktoria Roth, Fabian Srowig, Andreas Zick, 2018 Interner Link: "Sie haben keinen Plan B". Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und InterventionHrsg.: Jana Kärgel, 2017 Interner Link: Radikalisierungsprävention in der Praxis. Antworten der Zivilgesellschaft auf den gewaltbereiten NeosalafismusRauf Ceylan und Michael Kiefer, 2017 Interner Link: Jihadismus. Ideologie, Prävention und DeradikalisierungThomas Schmidinger, 2016 Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven Jens Ostwaldt Islamische und migrantische Vereine gelten als mögliche Akteure in der Extremismusprävention. Sie befinden sich dabei in einem Spannungsfeld von gesellschaftlicher Erwartung auf der einen Seite und der Verantwortung gegenüber der eigenen Community auf der anderen Seite. Der Band bietet auf Grundlage einer bundesweiten qualitativen Interviewstudie konkrete Handlungsempfehlungen für die präventive Praxis und die politische Bildung. 5/2020 | Wochenschau Verlag | 384 Seiten | Broschur: 39,90 Euro | PDF: 31,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention Im ersten Teil des Sammelbandes werden die Begriffe Religion und Radikalisierung kritisch erörtert. Im zweiten Teil werden empirische Fallstudien zu den Social Media-Kanälen einer Gruppe jugendlicher Salafisten vorgestellt. Der dritte Teil schließt mit Vergleichsstudien zur Rolle islamistischer Bildmedien auf Facebook sowie zur Radikalisierungsprävention in Justizvollzugsanstalten. Das "Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention" vereinigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Bielefeld und Osnabrück und betrachtet das Themenfeld aus islamwissenschaftlicher, soziologischer und theologischer Perspektive. 1/2020 | Institut für islamische Theologie | 220 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: repositorium.ub-uni-osnabruek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Handbuch Extremismusprävention Hrsg.: Brahim Ben Slama, Uwe E. Kemmesies Das Handbuch Extremismusprävention informiert im ersten Teil über die Grundlagen verschiedener Phänomenbereiche, über Radikalisierungsprozesse sowie über unterschiedliche Ansätze der Evaluation. In einem Praxisteil werden verschiedene Aspekte der Umsetzung von Prävention aufgezeigt. Im dritten Teil geht es um gesamtgesellschaftliche Ansätze, wie zum Beispiel die Rolle von Moscheen oder der politischen Bildung in der Extremismusprävention. 2020 | Bundeskriminalamt | 755 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: bka.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen Hrsg.: Christopher Daase, Nicole Deitelhoff, Julian Junk Auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums, aber auch in religiösen Milieus radikalisieren sich Personen und stellen demokratische Werte und Institutionen infrage. Der Band gibt einen Überblick über die zentralen Aspekte dieses Phänomens: die Radikalisierung von Individuen, von Gruppen und von Gesellschaften, Deradikalisierung, Online- Radikalisierung und Präventionsmaßnahmen. Es werden zahlreiche Handlungsempfehlungen für Politik und Zivilgesellschaft formuliert. 8/2019 | campus Verlag | 295 Seiten | Kartoniert: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: campus.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Gewalt und Radikalität Hrsg.: Erich Marks, Helmut Fünfsinn Der Deutsche Präventionstag hat einen Band mit Beiträgen zum 23. Deutschen Präventionstag veröffentlicht, der im Mai 2018 in Dresden stattfand. Darunter unter anderem folgende Themen: "Prävention im Bereich des religiös begründeten Extremismus", "Prävention von Radikalisierung in NRW-Justizvollzugsanstalten" sowie "Psychotherapeutische Beiträge zur Extremismus-Prävention". 8/2019 | Forum Verlag Godesberg | 420 Seiten | Paperback: 29,00 Euro | E-Book: 17,99 Euro | Download einzelner Beiträge: kostenfrei Zum kostenfreien Download der einzelnen Beiträge auf Externer Link: praeventionstag.de Zur Bestellung auf Externer Link: hugendubel.info Interner Link: Zum Anfang der Seite "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen". Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe Michael Kiefer, Jörg Hüttermann, Bacem Dziri, Rauf Ceylan, Viktoria Roth, Fabian Srowig, Andreas Zick Die Forscherinnen und Forscher haben WhatsApp-Chat-Protokolle einer militanten, salafistischen Jugendgruppe ausgewertet. Diese bieten einen Einblick in die gruppeninterne Dynamik junger Salafisten und ermöglichen es, Radikalisierungsprozesse zu rekonstruieren. Ziel der Studie war es, die Protokolle aus einer interdisziplinären Perspektive zu analysieren und Handlungsempfehlungen zu formulieren. 6/2018 | Springer VS | 396 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite "Sie haben keinen Plan B". Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und Intervention Hrsg.: Jana Kärgel Warum radikalisieren sich junge Menschen? Was macht islamistische Ideologien so attraktiv? Was kann man ihnen entgegensetzen? Fachleute aus der Präventionspraxis, der Wissenschaft und den Sicherheitsbehörden leuchten in dem Sammelband Möglichkeiten und Grenzen der Radikalisierungsprävention aus. 11/2017 | Bundeszentrale für politische Bildung | 412 Seiten | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierungsprävention in der Praxis. Antworten der Zivilgesellschaft auf den gewaltbereiten Neosalafismus Rauf Ceylan und Michael Kiefer Rauf Ceylan und Michael Kiefer analysieren in ihrem Praxishandbuch die vorhandenen Probleme und zeigen auf, welche Voraussetzungen für eine funktionierende Radikalisierungsprävention erfüllt sein müssen. Darüber hinaus bieten sie einen Überblick über die westeuropäische Präventionslandschaft und stellen wegweisende Konzepte und Initiativen vor. 8/2017 | Springer VS | 160 Seiten | Softcover: 49,99 Euro | PDF: 39,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Jihadismus. Ideologie, Prävention und Deradikalisierung Thomas Schmidinger Das kompakte Buch ist als Einführung ins Thema gedacht. Es soll praktische Hinweise vermitteln für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Schule und Sozialarbeit sowie für Eltern, deren Kinder sich dschihadistischen Gruppen zuwenden. Das Buch basiert nicht nur auf einer politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, sondern auch auf der Beratungspraxis mit zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 8/2016 | Mandelbaum Verlag | 126 Seiten | Broschur: 14,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: mandelbaum.at Interner Link: Zum Anfang der Seite 2. Radikalisierung und Prävention im Internet Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Die Attraktion des Extremen. Radikalisierungsprävention im NetzHrsg.: Andrea Keller, Andreas Büsch, Sandra Bischoff, Gunter Geiger, 2021 Interner Link: Radikalisierung im Cyberspace. Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen InternetDr. Mahmud El-Wereny, 2020 Interner Link: Propaganda und Prävention Hrsg.: Josephine B. Schmitt, Julian Ernst, Diana Rieger. Hans-Joachim Roth, 2020 Interner Link: Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und PraxisHrsg.: Sally Hohnstein, Maruta Herding, 2017 Die Attraktion des Extremen. Radikalisierungsprävention im Netz Hrsg.: Andrea Keller, Andreas Büsch, Sandra Bischoff, Gunter Geiger Wie kann Bildungsarbeit auf die Anziehungskraft extremistischer Propaganda reagieren? Im Fokus des Bandes stehen Strategien zur Erregung von Aufmerksamkeit im Internet. Fachleute aus Praxis und Wissenschaft zeigen, wie Jugendhilfe, Polizei, Schule, Sozialarbeit und Medienpädagogik auf die daraus resultierenden Herausforderungen reagieren können. 2021 | Wochenschau Verlag | 96 Seiten | Print: 14,99 Euro | PDF: 13,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung im Cyberspace. Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Internet Dr. Mahmud El-Wereny Islamwissenschaftler Mahmud El-Wereny möchte mit seiner Forschung die Frage beantworten, ob die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Raum zur islamistischen Radikalisierung beiträgt. Er regt dazu an, Jugendliche für kritische Mediennutzung zu sensibilisieren sowie Alternativangebote zur salafistischen Propaganda zu schaffen. 10/2020 | transcript Verlag | 280 Seiten | Print: 60,00 Euro | PDF: 59,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: transcript-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Propaganda und Prävention Hrsg.: Josephine B. Schmitt, Julian Ernst, Diana Rieger. Hans-Joachim Roth Der Sammelband stellt Fachkräften der Bildungsarbeit Unterrichtsmaterialien sowie Hintergrundinformationen zur Verfügung. Damit soll Medienkritikfähigkeit gefördert werden. Darüber hinaus möchte das Buch einen Beitrag leisten zum wissenschaftlichen Diskurs über Online-Propaganda, ihre Strategien, ihre Verbreitung und ihre Rezeption sowie über Gegenstrategien und -maßnahmen. Für das Buch arbeiteten unter anderem Fachleute aus der Wissenschaft sowie des Bundeskriminalamts, der Bundeszentrale für politische Bildung, von ufuq.de und von jugendschutz.net zusammen. 2020 | Springer VS | 655 Seiten | Softcover: 49,99 Euro | PDF: 39,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis Hrsg.: Sally Hohnstein, Maruta Herding Im Sammelband werden Befunde zu derzeitigen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und (gewaltorientiertem) Islamismus im Kontext digitaler Medien vorgestellt. Außerdem bieten Praktikerinnen und Praktiker Einblicke in ihre Arbeit, Sie reflektieren, welche Anforderungen aus den rechtsextremen und islamistischen Aktivitäten im Netz für pädagogische Akteure entstehen. Und sie beschreiben, welche pädagogischen Gegenstrategien bislang erprobt werden. 2017 | DJI | 290 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 3. Salafismus, Dschihadismus und Terrorismus Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im SalafismusUmut Akkus, Ahmet Toprak, Deniz Yilmaz, Vera Götting, 2020 Interner Link: Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – TaktikStefan Goertz, 2019 Interner Link: Dschihadistinnen. Faszination MärtyrertodHassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman, 2018 Interner Link: Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, HandlungsempfehlungenHrsg.: Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk, Harald Müller, 2016 Interner Link: Salafismus und Dschihadismus in DeutschlandHrsg.: Janusz Biene, Julian Junk, 2016 Interner Link: Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer MobilisierungBehnam T. Said, 2016 Interner Link: Der Dschihad und der Nihilismus des WestensJürgen Manemann, 2015 Interner Link: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und RadikalisierungspräventionRauf Ceylan, Michael Kiefer, 2013 Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im Salafismus Umut Akkus, Ahmet Toprak, Deniz Yilmaz, Vera Götting Warum fühlen sich Mädchen und junge Frauen einer restriktiven Ideologie zugehörig, die eine strenge Geschlechtertrennung praktiziert? Das Forschungsprojekt „Die jugendkulturelle Dimension des Salafismus aus der Genderperspektive" ist dieser Frage nachgegangen. Für das Projekt wurden Einzel- sowie Gruppeninterviews mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 27 Jahren aus unterschiedlichen Städten in NRW durchgeführt. 2020 | Springer VS | 170 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik Stefan Goertz Stefan Goertz analysiert die sicherheitspolitischen Bedrohungen Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus und stellt diese anhand aktueller Beispiele dar. 6/2019 | C. F. Müller | 223 Seiten | Softcover: 27,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: otto-schmidt.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman Zahlreiche junge Frauen im Westen und in muslimischen Ländern gaben ihr bisheriges Leben auf, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Wie, wo und von wem wurden diese jungen Frauen rekrutiert? Welche psychologischen, kulturellen und sozialen Faktoren treiben sie an, sich dem Gedankengut einer dschihadistischen Organisation zu unterwerfen? Die Studie der jordanischen Islamismusexperten Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman basiert auf einer Analyse der „IS“-Ideologie und seines Frauenbildes sowie auf Statistiken und Quellen, die Auskunft über die Anzahl und den Werdegang von Dschihadistinnen geben. 8/2018 | Dietz Verlag | 304 Seiten | Broschur: 22,00 Euro | E-Book: 17,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: dietz-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen Hrsg.: Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk, Harald Müller Der Band beleuchtet die organisatorischen Strukturen der salafistischen Bewegung in Deutschland sowie ihre transnationale Vernetzung. Wie rekrutieren die Bewegungen ihre Mitglieder? Und wie rechtfertigen sich insbesondere Dschihadisten? Die Autorinnen und Autoren bewerten laufende Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen und schlagen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Dabei betrachten sie nicht nur sicherheitspolitische Fragen, sondern nehmen in interdisziplinärer Perspektive Salafismus und Dschihadismus auch als gesellschaftliche Herausforderung ernst. 12/2016 | campus Verlag | 301 Seiten | Kartoniert: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: campus.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus und Dschihadismus in Deutschland Hrsg.: Janusz Biene, Julian Junk Der Sammelband enthält rund zwanzig Beiträge zu verschiedenen Aspekten des Phänomens, verfasst von Fachleuten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien. Neben ideologischen Grundlagen der Bewegung werden unter anderem salafistische Narrative und anti-salafistische Gegennarrative thematisiert. Zudem geht es darum, aus welchen Gründen sich Individuen und Gruppen radikalisieren sowie um die Bedingungen erfolgreicher Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Die Beiträge sind im Dezember 2015 und Januar 2016 im Sicherheitspolitik-Blog erschienen. 2/2016 | Sicherheitspolitik-Blog | 164 Seiten | Softcover: 9,99 Euro | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien PDF-Download auf Externer Link: publikationen.ub.uni-frankfurt.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer Mobilisierung Behnam T. Said Aus Sicht von Behnam Said stellt ein enormer Korpus kriegstreiberischer Lieder den vielleicht bemerkenswertesten Ausdruck einer dschihadistischen Kultur dar. Diese wurden bislang so gut wie kaum erforscht, so dass viele Fragen zu den „Naschid" genannten Gesängen bislang offen blieben. Wo liegen die Anfänge dieser islamistisch-militanten Hymnen? Wie sind sie vor dem Hintergrund einer grundsätzlich kritischen bis ablehnenden Haltung der islamischen Gelehrsamkeit zur Musik zu verstehen? Welchen Beitrag leisten diese Lieder für den Dschihadismus und was erzählen sie uns über die Bewegung? 2016 | Ergon | 361 Seiten | Softcover: 48,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: nomos-shop.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Jürgen Manemann Warum übt der Dschihadismus auf junge Menschen in der westlichen Welt eine so große Faszination aus? Jürgen Manemann geht den Ursachen für diese Anziehungskraft auf den Grund, indem er den Blick auf die kulturellen Krisen westlicher Gesellschaften richtet: auf Gefühle der Leere, der Sinn- und Hoffnungslosigkeit und ihre Folgen – in Form von Resignation, Ressentiment und Zynismus. Der Dschihadismus präsentiert sich als Gegenmittel. Er wirkt jedoch krisenverschärfend, da er die Unfähigkeit verstärkt, das Leben zu bejahen. Er produziert Empathieunfähigkeit, Hass und blinde Gewalt. Aus Sicht des Autors müssen die westlichen Gesellschaften Gegenkräfte entwickeln, indem sie eine konsequente Politik der Anerkennung und der Leidempfindlichkeit verfolgen und so den Sinn für eine Kultur der Humanität wieder stärken. 10/2015 | transcript Verlag | 136 Seiten | Taschenbuch: 14,99 Euro | PDF: 12,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: transcript-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention Rauf Ceylan, Michael Kiefer Der Band möchte einen kompakten Überblick über die historischen Wurzeln und die politisch-theologischen Ideologien des Neo-Salafismus geben. Als zweiter Themenschwerpunkt werden spezifische Präventionsmaßnahmen für den islamischen Religionsunterricht, für die Jugend- und Gemeindearbeit vorgestellt und kritisch eingeordnet sowie auf die Defizite in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Präventionsarbeit hingewiesen. 2013 | Springer VS | 168 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | E-Book: 13,48 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite 4. Soziale Arbeit, Kinder- & Jugendarbeit, Pädagogik Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Salafismus. Soziale Arbeit und RadikalisierungspräventionDavid Yuzva Clement, 2020 Interner Link: Konflikte, Radikalisierung, Gewalt. Hintergründe, Entwicklungen und Handlungsstrategien in Schule und Sozialer ArbeitRainer Kilb, 2020 Interner Link: Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem ExtremismusHrsg.: Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Honstein, Björn Milbradt, 2020 Interner Link: Jugendextremismus als Herausforderung der Sozialen Arbeit. Eine vergleichende Analyse vom jugendlichen Rechtsextremismus und IslamismusMehmet Koc, 2019 Interner Link: Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und JugendhilfeHrsg.: Michaela Glaser, Anja Frank, Maruta Herding, 2018 Interner Link: Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher GemeinschaftenAnja Gollan, Sabine Riede, Stefan Schlang, 2018 Interner Link: Islamismus als pädagogische HerausforderungKurt Edler, 2017 Interner Link: Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische PerspektivenHrsg.: Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel, 2017 Interner Link: Demokratische ResilienzKurt Edler, 2017 Interner Link: Radikaler Islam im JugendalterHrsg.: Maruta Herding, 2013 Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Salafismus. Soziale Arbeit und Radikalisierungsprävention David Yuzva Clement In dem Band geht es darum, wie pädagogische Fachkräfte Jugendlichen helfen können, konstruierte Unterschiedlichkeitsbilder zu hinterfragen. Weiterhin geht es darum, wie sich pädagogische Fachkräfte in der offenen Kinder- und Jugendarbeit mit Hinwendungsprozessen von Jugendlichen zum Salafismus auseinandersetzen können. 6/2020 | Springer VS | 488 Seiten | Softcover: 54,99 Euro | PDF: 42,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Konflikte, Radikalisierung, Gewalt. Hintergründe, Entwicklungen und Handlungsstrategien in Schule und Sozialer Arbeit Rainer Kilb Rainer Kilb betrachtet Konflikte, Radikalisierung und Gewalt zunächst getrennt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten abzugrenzen. Anschießend setzt er sie in Beziehung zueinander, um ausgewählte Handlungsansätze und Strategien im Umgang mit ihnen zu analysieren. Daraus leitet Kilb Ansätze zur Beilegung von Konflikten sowie zur Prävention von Radikalisierung und Gewalt ab. 05/2020 | Beltz Verlag | 339 Seiten | Broschur: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus Hrsg.: Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Honstein, Björn Milbradt Die Autorinnen und Autoren diskutieren, welche Rolle Religion in Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen spielt und wie Religion in der Prävention und in der Distanzierungsarbeit eingesetzt werden kann. Dazu werden Forschungsergebnisse dargestellt, die das Deutsche Jugendinstitut in den Projekten „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ (AFS) und „Programmevaluation Demokratie Leben!“ gewonnen hat. 2020 | DJI | 176 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Jugendextremismus als Herausforderung der Sozialen Arbeit. Eine vergleichende Analyse vom jugendlichen Rechtsextremismus und Islamismus Mehmet Koc Mehmet Koc führt eine vergleichende Analyse von jugendlichem Rechtsextremismus und Islamismus durch. Er zeigt auf, welchen Herausforderungen die Soziale Arbeit ausgesetzt ist und wie diese fachlich bearbeitet werden können. 2019 | Tectum Verlag | 114 Seiten | Broschur: 32,00 Euro | E-Book: 25,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: nomos-shop.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und Jugendhilfe Hrsg.: Michaela Glaser, Anja Frank, Maruta Herding Der Sammelband kombiniert Erkenntnisse aus der Jugendforschung mit Erfahrungen der sozialen und pädagogischen Praxis. Aus jugend- und jugendhilfeorientierter Perspektive werden Forschungsbefunde zu Hintergründen und Motiven von Jugendlichen diskutiert, die sich islamistisch-extremistischen Angeboten zuwenden. Zudem werden die Erfahrungen und Herausforderungen der sozialen und pädagogischen Arbeit mit diesen Jugendlichen aufgezeigt. Die Beiträge konzentrieren sich auf praxisrelevante Erklärungsansätze zum Phänomen sowie auf Ansatzpunkte für fachliches Handeln. 9/2018 | Beltz Verlag | 168 Seiten | Print: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften Anja Gollan, Sabine Riede, Stefan Schlang Die Publikation greift das Thema „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ aus zwei Perspektiven auf: der juristischen und der pädagogischen. Im ersten Teil werden die rechtlichen Grundlagen dargestellt und anhand konkreter Gerichtsentscheidungen erläutert. Der zweite Teil behandelt religiös-weltanschaulich geprägte Erziehungskonzepte und -praktiken, die zu einer Kindeswohlgefährdung führen können. 2018 | AJS NRW & Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. | 128 Seiten | Print: 14,50 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: ajs.nrw Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamismus als pädagogische Herausforderung Kurt Edler Was kann die Schule tun, wie können Eltern und Lehrkräfte reagieren, wenn sich Schülerinnen und Schüler radikal gegen unsere Gesellschaft und Verfassung bekennen? Wenn sie Sympathie für den Terrorkrieg des „Islamischen Staats" äußern? Kurt Edler bietet Fallbeispiele, praktische Tipps und Erfahrungswissen aus seiner Zusammenarbeit mit Schulleitungen, Verfassungsschutz, polizeilichem Staatsschutz, Jugendarbeit, muslimischen Verbänden sowie Fachkräften der interkulturellen Bildung und Gewaltprävention. 2017 | Kohlhammer Verlag | 114 Seiten | Kartoniert: 24,00 Euro | PDF: 21,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: kohlhammer.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven Hrsg.: Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel In den Texten des Sammelbandes wird Salafismus als Phänomen einer Jugendkultur untersucht. Zunächst werden die theologisch-historischen Hintergründe des Salafismus beschrieben. Die Texte im zweiten Teil befassen sich mit der Attraktivität dieser Jugendkultur sowie ihren medialen und subkulturellen Mustern. Im dritten Abschnitt werden schließlich Prävention und Deradikalisierung in den Fokus genommen. Das Buch wendet sich an Fachkräfte aus der Religions- und Sozialpädagogik, Jugendforscher und -forscherinnen sowie Personen, die in der Jugendhilfe tätig sind. 2017 | Springer VS | 194 Seiten | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Demokratische Resilienz Kurt Edler Kann sich schon beim Kind eine Widerstandsfähigkeit gegen Radikalisierung entwickeln? Diese Frage beantwortet der frühere Pädagoge und Lehrerfortbildner Kurt Edler vor dem Hintergrund der Bedrohung von Menschenrechten und Demokratie. Er skizziert in aller Kürze die vorpolitischen Formen der Beeinflussung und greift auf seine langjährigen Erfahrungen in der Extremismusprävention zurück, um daraus Handlungsempfehlungen für eine grundrechtsklare pädagogische Praxis abzuleiten. 2017 | Wochenschau Verlag | 48 Seiten | Print: 9,80 Euro | PDF: 9,80 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikaler Islam im Jugendalter Hrsg.: Maruta Herding Der Sammelband dokumentiert die Ergebnisse eines Expertenhearings, das das Deutsche Jugendinstitut im Jahr 2012 veranstaltet hat. Die Autorinnen und Autoren gehen auf Erscheinungsformen und ursächliche Erklärungsmuster für radikalen Islam bei Jugendlichen ein oder befassen sich mit dem gesellschaftlichen Kontext von Radikalisierungsprozessen. Zudem wird das Phänomen in wissenschaftliche und öffentliche Debatten eingeordnet. Konkret geht es in den einzelnen Beiträgen um den Stand der Forschung im Themenfeld, Migrationshintergrund und biografische Belastungen, die Bedeutung der Jugendphase, Frauen in dschihadistischen Strukturen, das niederländische Hofstad-Netzwerk, britische Identitätspolitik, Auswirkungen von Terrorismusverdacht und um den Gesichtsschleier in Europa. 2013 | DJI | 176 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 5. Politische Bildung & Anti-Diskriminierungsarbeit Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Angebote, Bedarfe und LeerstellenJens Borchert, Maren Jütz, Diana Beyer, 2020 Interner Link: Politische Bildung im Kontext von Islam und IslamismusHrsg.: Stefan E. Hößl, Lobna Jamal, Frank Schellenberg, 2020 Interner Link: Das Religiöse ist politisch: Plädoyer für eine religionssensible politische BildungHrsg.: Siegfried Grillmeyer, Karl Weber, 2019 Politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Angebote, Bedarfe und Leerstellen Jens Borchert, Maren Jütz, Diana Beyer Die Studie untersucht Chancen, Voraussetzungen und Herausforderungen für politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Sie nimmt sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden in den Blick und geht der Frage nach, wie politische Bildung im Strafvollzug dazu beitragen kann, dass das Leben nach der Haft gelingt. 09/2020 | Beltz Verlag | 220 Seiten | Broschiert: 29,95 Euro | PDF: 27,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de Auch erhältlich in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus Hrsg.: Stefan E. Hößl, Lobna Jamal, Frank Schellenberg Der Sammelband beschäftigt sich mit kontrovers diskutierten Fragen zu politischer Bildung im Kontext von Islam und Islamismus sowie antimuslimischem Rassismus. Auch die Vielfalt muslimischer Lebenswelten und identitätsbezogener Entwürfe sowie die Gefahren von Stigmatisierungen werden beleuchtet. 8/2020 | Bundeszentrale für politische Bildung | 432 Seiten | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Religiöse ist politisch: Plädoyer für eine religionssensible politische Bildung Hrsg.: Siegfried Grillmeyer, Karl Weber Religiöse Vielfalt wird in der öffentlichen Diskussion immer wieder als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert. Religiöse Einstellungen und der Umgang mit religiöser Vielfalt sind auch für junge Menschen Thema. Der Sammelband, der von Siegfried Grillmeyer und Karl Weber herausgegeben wurde, nimmt Bezug auf aktuelle Studien, begründet die Notwendigkeit einer religionssensiblen politischen Bildung und erörtert konkrete Perspektiven für die politische Bildungspraxis. 2/2019 | Echter Verlag | 120 Seiten | Broschur: 5,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: echter.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. 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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-07-19T00:00:00"
"2021-08-04T00:00:00"
"2023-07-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/337739/fachbuecher/
Für Fachleute: Was wissen wir über Radikalisierungsprozesse? Wie kann Präventionsarbeit gelingen? Welche Rolle spielt das Internet? Was kennzeichnet Islamismus, Salafismus und Dschihadismus?
[ "Radikalisierung", "Literatur", "Islamismus", "Extremismus", "Salafismus", "Dschihadismus", "Fachliteratur Extremismus", "Fachbücher", "Präventionsarbeit", "Prävention" ]
30,292
Ungezählte Opfer | Rechtsextremismus | bpb.de
Heidenheim, ein Freitagabend im Dezember 2003. Viktor Filimonow (15), Waldemar Ickert (16) und Aleksander Schleicher (17) stehen in einer Traube Jugendlicher vor dem Eingang der Diskothek K2, irgendwann kommt Leonhard Sch. (17) hinzu. Der ist ein bekannter Rechtsextremist mit kahlgeschorenem Kopf und Bomberjacke, sie selbst sind Spätaussiedler, ein paar Jahre zuvor mit ihren Eltern aus Russland in die baden-württembergische Kleinstadt gezogen. An selber Stelle hatte Leonhard Sch. Wochen zuvor einen Punk zusammengeschlagen und hat deshalb Hausverbot in der Disko, der Türsteher weist ihn ab. An diesem Abend, wenige Tage vor Weihnachten, werden die Spätaussiedler seine Opfer. Wegen einer Lappalie beginnt ein Streit, plötzlich zieht Sch. ein Messer, blitzschnell sticht er mit dessen 20 Zentimeter langen Klinge allen dreien direkt ins Herz – so wie er es in seiner Clique oft geübt hatte. Filimonow und Ickert sind sofort tot, Schleicher stirbt wenig später im Krankenhaus. Das Landgericht Ellwangen verurteilt Sch. im Juli 2004 zu neun Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags. Zwar sei der Verlauf der Auseinandersetzung ohne das fremdenfeindliche Weltbild des Angeklagten nicht erklärbar, räumen die Richter ein, die direkte Tat jedoch halten sie für nicht rassistisch motiviert. Die Staatsanwaltschaft hingegen spricht bis heute explizit von einem "Kapitalverbrechen mit rechtsextremem Hintergrund", Opferinitiativen sehen es genauso. 63 Menschen kamen nach Angaben des Bundesinnenministeriums seit 1990 in Deutschland durch rechte Gewalt zu Tode – Viktor Filimonow, Waldemar Ickert und Aleksander Schleicher zählen nicht dazu. Unabhängige Recherchen, etwa von Opferberatungsstellen oder Journalisten, kommen auf viel höhere Zahlen – auf bis zu 183 Tote. Nicht nur bei der Zahl der Getöteten sind die Diskrepanzen beträchtlich, immer wieder steht die Öffentlichkeit vor widersprüchlichen Angaben: In Brandenburg beispielsweise meldete das Innenministerium für 2012 58 rechte Gewalttaten – der Verein Opferperspektive e.V. hingegen registrierte 95 solcher Delikte. Die bundesweite Statistik verzeichnete für 2012 knapp 850 Fälle, doch nichtstaatliche Beobachter haben im gleichen Jahr allein in Ostdeutschland 626 rechte Gewalttaten dokumentiert. Immer wieder gab und gibt es heftigen Streit um derartige Zahlen, und der Fall Heidenheim ist typisch: Brachte Leonhard Sch. die drei Jugendlichen um, weil sie nicht in sein rassistisches Weltbild passten? Oder handelte es sich lediglich um alltägliche Jugendgewalt – und waren daran nur zufällig ein Rechtsextremist und drei Russlanddeutsche beteiligt? Gehören die drei Toten in die offiziellen Listen zu Todesopfern rechter Gewalt? Oder doch nicht? Seit vielen Jahren wird deutschen Behörden vorgeworfen, sie hätten Probleme, Gewalt von rechts als solche zu erkennen. Spätestens im November 2011 bestätigte sich dies auf erschreckende Weise, als bekannt wurde, dass die rechtsterroristische Gruppe "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) mehr als ein Jahrzehnt lang mordend und raubend durchs Land gezogen war. Doch die Grundfrage bleibt: Steckt dahinter ein grundsätzliches Problem? Hat der Staat auf dem rechten Auge womöglich eine Sehschwäche? Wer nach Gründen sucht für die großen Diskrepanzen in den Statistiken, muss ziemlich tief eintauchen in die Arbeit von Polizei und Justiz und mehr als ein Jahrzehnt zurückblicken. Bis Anfang der 2000er Jahre definierten die Behörden rechte Gewalt sehr eng: Sie zählten nur rechtsextremistische Taten, also solche, die – dem sicherheitspolitischen Extremismusbegriff folgend – direkt auf die Abschaffung des Staates oder seiner freiheitlich-demokratischen Grundwerte zielten. Viele Angriffe etwa von Skinheads auf Migranten oder Punks fielen schon rein methodisch durch dieses Raster; außerdem war in den neuen Bundesländern direkt nach der Wende die Polizei oft nicht arbeitsfähig, vielerorts wurde Rechtsextremismus auch bewusst verharmlost. Im Ergebnis sprachen die Behörden im Laufe der neunziger Jahre von lediglich 22 Toten. Die Journalistin Heike Kleffner arbeitete damals für die Frankfurter Rundschau. Ständig habe sie über schwere Gewalttaten von Neonazis vor allem in Ostdeutschland geschrieben, erinnert sie sich, und es sei "quasi Normalzustand" gewesen, dass die Sicherheitsbehörden keinen rechten Hintergrund sahen. Nach langen Recherchen veröffentlichte sie im September 2000 gemeinsam mit Frank Jansen vom Berliner Tagesspiegel eine eigene Opferliste – mit 93 Namen. Rasch räumte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) "Erfassungsdefizite" ein und gab nach einer Überprüfung im November eine korrigierte Zahl bekannt: Nun enthielt die offizielle Statistik immerhin 36 Opfer. Nach ausführlichen Beratungen reformierten die Innenminister aus Bund und Ländern dann die komplette Zählmethodik. Seit 1. Januar 2001 wird nicht mehr von "rechtsextremistischen" Taten gesprochen, sondern von "politisch rechts-motivierter Kriminalität", kurz: "PMK rechts". Die neue Definition soll alle Taten erfassen, die aufgrund typischer extrem rechter Ressentiments begangen werden – auch wenn sie sich nicht gegen den Staat richten und keiner geschlossenen Ideologie folgen. In die Statistik müssen nun Delikte einfließen, wenn – so die etwas sperrige Formulierung – "die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status" gerichtet hat. Im Klartext: Ein rassistisch motivierter Angriff soll in die Statistik einfließen, auch wenn der Täter kein Mitglied der rechtsextremistischen NPD ist. Und wird ein Obdachloser von jemandem zusammengeschlagen, der ihn für minderwertig hält, zählt das ebenfalls. Neue Zählkriterien, aber immer noch viele Schwierigkeiten Die Realität der Gewalt von rechts kann diese neue Zählweise zweifellos besser erfassen. "Insgesamt als erfolgreich" wurden die neuen Kriterien denn auch von einer Expertenkommission der Bundesregierung im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht 2006 gelobt. Doch eine gründliche Neubewertung von Altfällen anhand der weitergefassten Definition gab es nur in einigen Ländern. In manchen Fällen scheiterte eine Nachprüfung schon daran, dass in der Zwischenzeit Ermittlungsakten vernichtet worden waren. Gelegentlich ist auch das Argument zu hören, nach einem abgeschlossenen Gerichtsverfahren dürften staatliche Stellen die bereits abgeurteilten Taten gar nicht mehr neu bewerten, weil das als Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit verstanden werden könne. Jedenfalls tauchen besonders viele Altfälle nicht in den Statistiken auf. Die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Zählungen ist für die Zeit vor der Reform am größten, bis 2001 zählen unabhängige Stellen 84 Tote mehr als der Staat. Für die Jahre 2001 bis 2012 beträgt die Differenz aber immer noch beträchtliche 40 – etliche Schwierigkeiten bestehen also offenbar weiter: So werden die Statistiken von der Polizei geführt und sind sogenannte Eingangsstatistiken – das heißt, Meldungen erfolgen, sobald ein Fall in einer Dienststelle eingeht. Der Sinn dahinter ist, möglichst aktuelle Zahlenwerke zu erhalten. Doch gerade politische Hintergründe einer Tat zeigen sich oft erst später, im Laufe der Ermittlungen oder gar erst in der irgendwann folgenden Gerichtsverhandlung. Theoretisch sollten solche Fälle dann nachgemeldet werden, in der Praxis scheint das nicht immer zu klappen. Eine weitere Fehlerquelle liegt wohl auch bei der Justiz. Eigentlich sollten Gerichtsprozesse die Tatmotive detailliert aufklären, im Urteil festhalten und natürlich bei der Strafzumessung berücksichtigen. Doch spricht man mit Juristen, so ist immer wieder zu hören, dass sich überlastete Richter oft davor scheuen, rechte Motivationen aufzuarbeiten. Dies bedeutet zum einen viel Arbeit, obendrein erhöhe es das Revisionsrisiko. Der zuständige Senat am Bundesgerichtshof (BGH), erklärt Klaus Przybilla, ehemaliger Jugendrichter am Landgericht Potsdam, beanstande häufig Begründungen für das Mordmerkmal "sonst aus niedrigen Beweggründen", worunter rechtsmotivierter Hass fällt – es liege nahe, dass diese Spruchpraxis des BGH zu einer "Zurückhaltung der Richter" führe. Ein anderer pensionierter Richter (der dem Autoren namentlich bekannt ist) formuliert es so: "Viele Kollegen schreiben lieber ein sicheres Körperverletzungsurteil als ein möglicherweise wackliges Mordurteil." Zudem scheint es regionale Unterschiede zu geben, in verschiedenen Ländern wird verschieden gezählt. Das lässt sich kaum ändern, weil im föderalen System grundsätzlich die einzelnen Bundesländer und ihre Landeskriminalämter für die Statistik zuständig sind, das Bundeskriminalamt (BKA) und das Innenministerium in Berlin fassen lediglich die gemeldeten Fälle zusammen. Zwar gibt es beim BKA eine "Arbeitsgruppe Qualitätssicherung" für die PMK-Statistik, die gemeinsam mit Vertretern der Länder eine bundesweit einheitliche Anwendung der Kriterien sicherstellen soll – aber mehr als appellieren kann sie nicht. Und manche Schwierigkeit liegt auch in der Natur der Sache: Die Polizei kann nur Delikte zählen, die angezeigt werden – erfahrungsgemäß wenden sich manche Opfer rechter Angriffe aber nur an unabhängige Beratungsstellen. Außerdem sei die Einschätzung eines Motivs ja die individuelle Entscheidung eines Polizisten, erklärt Hans-Gerd Jaschke, Professor am Bereich Polizei der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, und dieser subjektive Faktor werde durch die Formulierung der amtlichen Erfassungskriterien noch betont: Es gehe darum, von "Umständen" oder "Einstellungen" auf etwas "zu schließen". Experten wie er berichten auch, dass Tatmotive für Ermittler häufig zweitrangig sind – haben sie den Täter, ist für sie der Fall abgeschlossen. Immer wieder zeigt sich aber auch, dass viele Polizisten selbst zwölf Jahre nach Einführung der neuen PMK-Definition noch die alten Extremismus-Zählkriterien im Kopf haben. Besonders häufig übersehen die Behörden Angriffe auf Obdachlose oder andere sozial Benachteiligte – dies legt jedenfalls ein Vergleich der staatlicherseits erfassten und nicht erfassten Todesopfer nahe: Von den ausländerfeindlichen Taten, die Journalisten von Tagesspiegel und anderen Zeitungen ermittelten, fehlen "nur" etwa 50 Prozent in den offiziellen Statistiken; Tote aus sozialen Randgruppen, etwa Obdachlose oder Behinderte, wurden hingegen zu mehr als 70 Prozent nicht erfasst. Dabei sind gerade sie es, die in den vergangenen zehn Jahren zunehmend von rechten Tätern angegriffen worden sind. Was sich Polizisten unter rechts motivierter Gewalt vorstellen, wird (wie auch bei der breiten Öffentlichkeit) nach wie vor von rassistischen oder auch antisemitischen Angriffen bestimmt – dass eine sozialdarwinistische Verachtung von angeblich minderwertigem Leben ein wichtiges Element extrem rechten Denkens darstellt und deshalb in die reformierten Zählkriterien aufgenommen wurde, ist ihnen offenbar wenig bewusst. Nach mehr als einem Jahrzehnt Praxiserfahrung müsste man die Reform eigentlich gründlich evaluieren, meint beispielsweise der Berliner Polizeiprofessor Hans-Gerd Jaschke. Doch Pläne dafür gibt es nach Auskunft der Innenministerkonferenz derzeit nicht. Als Resultat all solcher Probleme tauchen die drei in Heidenheim getöteten Spätaussiedler in der offiziellen Statistik nicht auf. Ebenso wenig der geistig Behinderte Hans-Joachim Sbrzesny, den 2008 zwei betrunkene Rechtsextreme in einem Park in Dessau (Sachsen-Anhalt) erschlugen, oder der alkoholkranke Obdachlose André K., der 2011 in Oschatz (Sachsen) zu Tode geprügelt wurde. Auch Peter Siebert fehlt, der im April 2008 im bayerischen Memmingen von einem polizeibekannten Rechtsextremisten erstochen wurde, nachdem er sich mehrfach über das Abspielen rechtsextremer Musik beschwert hatte. In Polizeivernehmungen gab der Täter ein politisches Motiv zu. Doch in der eintägigen Verhandlung vor dem Landgericht Memmingen spielte es keine Rolle, was das Gericht im Rückblick bedauert. Weil aber die Hintergründe nicht im Urteil erwähnt wurden, fand die Tat keinen Eingang in die bayerische PMK-Statistik. Auf unabhängigen Listen von Opfern rechter Gewalt hingegen tauchen alle genannten Toten auf, etwa in den Fallsammlungen, die der Tagesspiegel in Fortsetzung seiner 2000er Recherchen gemeinsam mit der Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht hat. Die Journalisten (zu denen auch der Autor dieses Textes gehört) betonten, sich dabei streng an die offiziellen PMK-Zählkriterien gehalten zu haben – und doch kamen sie statt der aktuell staatlich anerkannten 63 auf insgesamt 152 Todesopfer seit der Wiedervereinigung. Eine Wanderausstellung der Künstlerin Rebecca Forner und des Potsdamer Vereins Opferperspektive, die seit 2002 bundesweit gezeigt wird, macht 169 Fälle publik. Eine weitere Statistik führt die Amadeu Antonio Stiftung, benannt nach einem 1990 im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelten Angolaner; sie verzeichnet sogar 183 Opfer. Der Stiftung genügt es, so die dortige Definition, "wenn plausible Anhaltspunkte" für rechtsextreme und rassistische Motive vorliegen. Mitgezählt würden beispielsweise Fälle, wo der oder die Täter nachweislich aus rechtsextremen Milieus stammten und ein anderes Tatmotiv auch bei gründlicher Sichtung aller Quellen "nicht erkennbar ist". Den Sicherheitsbehörden wäre dies zu wenig, sie verlangen für eine Einstufung das Vorliegen konkreter Beweise statt das Fehlen gegenteiliger Belege. Doch Stiftungs-Geschäftsführer Timo Reinfrank verteidigt seine Zählung: "Betrachtet man nur isoliert die reine Tat, dann sind viele schlicht nicht erklärbar." Für eine umfassende Bewertung müsse man stets auch die Vorgeschichte zwischen Opfer und Täter mit in den Blick nehmen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung zählt übrigens auch die zehn Menschen mit, die 1996 beim Brandanschlag auf ein Lübecker Flüchtlingsheim ums Leben kamen. Gegen drei verdächtige junge Rechte war damals eher nachlässig ermittelt worden, stattdessen hatte sich die Polizei früh auf einen Hausbewohner als Täter konzentriert, der aber später freigesprochen wurde. Nach der Erfahrung des NSU-Desasters, wo den türkisch- und griechisch-stämmigen Opfern hartnäckig mafiöse Verbindungen unterstellt und nur beiläufig nach rassistischen Tätern gesucht wurde, fordert die Stiftung eine Wiederaufnahme der Ermittlungen. Kritik an ihren Statistiken wiesen die Behörden lange zurück Seit dem Jahr 2000, also seit Beginn der öffentlichen Debatten um die Statistiken, hatten Bund und Länder nach und nach bereits 15 weitere Tote nachträglich in ihre Opferlisten aufgenommen. Doch grundsätzliche Kritik an der Zählweise wiesen die Innenministerien mehrfach zurück. Beispielsweise hieß es im September 2011 in einer Antwort der Regierung auf eine Bundestagsanfrage der Linkspartei, das Bild von Straftaten "im Phänomenbereich 'Politisch motivierte Kriminalität – rechts'" sei "realistisch und umfassend". Es gebe keinen Grund, die Arbeit der Sicherheitsbehörden "in Zweifel zu ziehen" – knapp zwei Monate später flog der NSU auf und das Erschrecken über das Versagen des Staates war groß. Untersuchungsausschüsse und Expertenkommissionen nahmen ihre Arbeit auf. Und die Innenminister versprachen, noch einmal flächendeckend nach alten Gewalttaten zu suchen, bei denen ebenfalls eine nicht erkannte rechte Motivation vorliegen könnte. Ergebnisse gibt es bisher lediglich aus drei ostdeutschen Bundesländern. Der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) erkannte Anfang 2012 zwei Tote nachträglich an, die zuvor nur auf inoffiziellen Listen genannt waren. Das schwarz-rot regierte Sachsen-Anhalt meldete im Mai 2012 als Resultat einer internen Prüfung von Innen- und Justizministerium drei Fälle für die offizielle Statistik nach. Die Landesregierung hat ihre jüngste Untersuchung in der 44-seitigen Broschüre "Rechts motiviert? Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in Sachsen Anhalt" dokumentiert. Trotz aller Fortschritte belegt diese einmal mehr, dass die Behörden ihre eigene Definition rechtsmotivierter Gewalt kaum verstehen: Dort werden Taten gegen Sozialschwache oder auch Homosexuelle mehrfach als nicht rechts klassifiziert, weil es Abneigungen gegen diese Gruppen auch in der Allgemeinbevölkerung gebe. Hass auf Obdachlose sei "zwar zweifellos Beleg für eine menschenverachtende Gesinnung", heißt es da beispielsweise, "aber nicht zwangsläufig nur auf ein rechtes Weltbild zurückzuführen". Und weiter: "Ressentiments gegenüber obdachlosen, alkoholkranken oder sonst abweichend von der üblicherweise akzeptierten Norm lebenden Menschen sind in allen Gesellschaftsschichten bis ins bürgerliche Milieu hinein und in allen politischen Weltanschauungen anzutreffen." Dies stimmt sicherlich – doch wurden die neuen PMK-Kriterien im Jahr 2001 ja gerade deshalb eingeführt, um nicht mehr nur Täter mit geschlossenem rechtsextremistischem Weltbild erfassen zu können, sondern auch Delikte, die auf einzelne Elemente der Ideologie zurückgehen. Dass auch Normalbürger Ressentiments gegen Randgruppen pflegen, zeigt nur, wie erschreckend weit diese verbreitet sind – aber nicht, dass der Ursprung solcher Ungleichwertigkeitsvorstellung rechtsaußen liegt. Am weitesten geht Brandenburg, wo im März 2013 eine detaillierte Untersuchung von mehr als 30 Altfällen startete. Innenminister Dietmar Woidke (SPD) hat unabhängigen Wissenschaftlern des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums dafür unter anderem zugesichert, sämtliche Archive von Polizei und Justiz zu öffnen. "Ich gehe davon aus", sagte Woidke bereits bei Projektstart, "dass wir deutlich mehr als die [bislang offiziell anerkannten] neun Todesopfer rechter Gewalt hatten". Gezielt sollen die Experten nach Gründen suchen, warum in den vergangenen 20 Jahren bestimmte Fälle durchs Raster fielen – einiges davon ist mit Sicherheit auch auf andere Länder übertragbar, die für 2015 erwarteten Ergebnisse der Studie dürften deshalb auch bundesweit von Interesse sein. Externer Link: http://www.pnn.de/brandenburg-berlin/733888/ Externer Link: http://rcms.opferperspektive.org/Presse/1144.html Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/politik/bundesinnenminister-innenminister-friedrich-zahl-der-rechten-gewalttaten-2012-gestiegen/7975426.html Externer Link: http://www.miteinander-ev.de/index.php?page=61&modaction=detail&modid=468 Externer Link: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-09/przybilla-richter-rechtsextreme-gewalttaten Externer Link: http://www.zeit.de/todesopfer-rechter-gewalt Externer Link: http://www.opfer-rechter-gewalt.de/ Externer Link: http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/ Externer Link: http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/erinnerungen/januar/zehn-tote-beim-brandanschlag-auf-ein-asylbewerberheim-in-luebeck/ Ministerium für Inneres und Sport/Ministerium für Justiz und Gleichstellung (Hrsg.): Rechts motiviert? Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in Sachsen Anhalt. Magdeburg 2013, S. 14
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"2021-06-23T00:00:00"
"2013-04-22T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/158530/ungezaehlte-opfer/
Tag für Tag werden in Deutschland Menschen Opfer rechter Gewalt – neben Migranten oft auch Homosexuelle, Obdachlose und andere Minderheiten. Und immer wieder sehen sich die Sicherheitsbehörden mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würden viele der Betro
[ "Rechtsextremismus", "Opfer rechtsextremer Gewalt", "PMK", "politisch motivierte Gewalt rechts", "Opfer", "Deutschland" ]
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Die Rolle Irans als Unterstützer islamistischer Gruppen | Islamismus | bpb.de
In Ägypten herrschte noch der inzwischen gestürzte Husni Mubarak und Khaled Mashal, Vorsitzender des Politbüros der palästinensisch-islamistischen "Hamas", war gar nicht gut auf diesen zu sprechen: Zu Besuch in Teheran schimpfte er im Dezember 2009 in einer Moschee: Es sei doch eine Schande, dass es (arabische) Staaten gebe, die von den USA Hilfe und Unterstützung bekommen oder die mit Israel in Sicherheitsfragen kooperieren. Es sei die Pflicht der Muslime, zusammenzuarbeiten und es sei unnatürlich, wenn ein arabisches oder islamisches Land auf der Seite Israels stehe. Was den Iran betreffe, so stehe dieser klar auf Seiten der Palästinenser, von Gaza und der Hamas. "Einige Leute werfen uns vor, dass wir vom Iran unterstützt werden. Es ist uns eine Ehre, die Unterstützung des Iran zu bekommen..." So offen und verblümt ist selten zu hören gewesen, dass der Iran "Hamas" unterstützt. Khaled Mashal, der seit Jahren in Damaskus residiert und eigentlicher Führer der "Hamas" ist, sprach zwar nicht von Waffen, Munition und anderer Technologie. Dass die von ihm angesprochene "Unterstützung" sich nicht auf schöne Worte der Solidarität begrenzt, gilt vielen aber seit langem als sicher. In erster Linie natürlich Israelis und Amerikanern, inzwischen auch Türken: Wiederholt wurden bereits Waffen abgefangen, die sich auf dem Weg in den Gazastreifen befanden: Einmal auf dem östlichen Mittelmeer, ein anderes Mal auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel, die an den Gazastreifen angrenzt. Israelische Flugzeuge haben auch schon Waffenschmuggler im Sudan bombardiert, die angeblich iranische Waffen von einem sudanesischen Hafen nach Ägypten und dann in den Gazastreifen transportieren wollten. Die Türkei wiederum hat einmal ein iranisches Flugzeug zur Landung gezwungen und iranische LKWs beschlagnahmt, mit denen unerlaubt – weil nicht deklariert - Waffen transportiert wurden. Es ist unklar, für wen diese Waffen bestimmt waren, aber der Empfänger war mit Sicherheit kein Staat, sondern eine dem Iran nahestehende Organisation. Wenn nicht die palästinensische "Hamas", dann die libanesische "Hisbollah". Beide Organisationen sind seit Jahren die wichtigsten Verbündeten des Iran im Nahen Osten. Obwohl sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Hamas ist ein Zweig der sunnitischen Muslimbruderschaft, die ihrerseits eher ablehnend und feindselig dem Iran und den Schiiten gegenübersteht. Der Zweck aber heiligt die Mittel: Hamas war in den letzten Jahren immer mehr von seinen traditionellen Freunden auf der Arabischen Halbinsel abgeschnitten und Ägypten behinderte unter Präsident Mubarak auch mehr oder weniger entschlossen den Schmuggel von Waffen und Munition in den Hamas-beherrschten Gazastreifen. Anders bei Hisbollah: Seine schiitische Bevölkerungsmehrheit machte den Libanon schon bald nach der Revolution 1979 attraktiv für Teheran. Der Traum, dass der Libanon eine islamische Republik nach iranischem Vorbild werden könnte, war in Teheran aber bereits dem Trost gewichen, dass man in der Hisbollah doch wenigstens einen treuen Verbündeten direkt an der Grenze zum verhassten Israel habe. Da begannen die Unruhen des "Arabischen Frühling": Die Teheraner Führung schöpfte neue Hoffnung, dass nun doch die ganze Region dem politischen Islam zuwenden und damit die Vorhersagen von Revolutionsführer Khomeini sich bewahrheiten werden. Eine Fehleinschätzung, wie der Verlauf der Unruhen verdeutlichen sollte. Nicht nur, dass sich in Nordafrika keine Machtübernahme durch die Islamisten abzeichnete: Von einigen pro-iranischen Erklärungen abgesehen war dort wenig Interesse an einer Intensivierung der Beziehungen zu Teheran zu spüren. Und in Syrien geriet die bisherige iranische Strategie ganz besonders ins Wanken: Syrien ist das einzige arabische Land, das seit Jahren mit dem Iran liiert ist. Der Grund hierfür ist die Isolation der alawitischen Führungsminorität in Damaskus und das Interesse des Iran, Syrien als Durchgangsland zur libanesischen Hisbollah zu nutzen. Mit dem Ausbruch der Unruhen, vor allem aber der heftigen Reaktion der Regierung in Syrien geriet genau dies in Gefahr: Syrische Oppositionelle – wie der ehemalige Außenminister und Vizepräsident Abdul Halim Khaddam – behaupten aus dem Exil, dass der Iran und Hisbollah Damaskus offen bei der Niederschlagung der Proteste helfen. Selbst wenn es dafür keine Beweise gibt, so steht doch fest, dass beide nur zu gut wissen, dass ein Sturz des Regimes in Damaskus zu ihrem Nachteil wäre. Sollte es einen Machtwechsel in Damaskus geben, dann nur zu einem sunnitisch beherrschten Regime, das die engen Beziehungen zu Teheran sicher nicht fortsetzen würde. Schon allein deswegen nicht, weil es enger verbunden wäre mit Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten am Persischen Golf – die sich bereits verärgert von Assad abgewandt haben und deren Beziehungen zum Iran sich in den Monate des "Arabischen Frühling" rapide verschlechtert haben. Ein Grund für diese Verschlechterung sind die Entwicklungen in Bahrain: Der Iran unterstützt die dort lebende schiitische Bevölkerungsmehrheit zwar in ihrer Forderung nach mehr Freiheit und Bürgerrechten. Für ihren Vorwurf, der Iran betreibe die gezielte Übernahme des (einst zu Persien gehörenden) Königreiches, sind Saudis und Emiratis aber jeden Beweis schuldig geblieben. Und Teheran unterließ es vernünftigerweise, mit Kriegsschiffen vor die Küste Bahrains zu fahren, um die Demonstranten dort wenigstens symbolisch zu unterstützen. Der "Arabische Frühling" hat dem Iran deswegen nicht die zunächst erhofften Vorteile erbracht. Nicht nur, weil die islamischen Gruppen dort - zunächst zumindest - nicht willens oder in der Lage waren, nun die lange reklamierte Führungsrolle zu übernehmen. Sondern auch, weil der in den letzten Jahren weithin überwunden geglaubte Zwist zwischen Sunniten und Schiiten über Konfliktpunkte wie Bahrain und Syrien wieder ausgebrochen ist und dem Iran beim Versuch schadet, Einfluss auf den Gang der Dinge zu nehmen. Wenn es darum ging, Amerikanern und Israelis die Stirn zu bieten, dann konnte Teheran sich mit den markigen Sprüchen seiner Führung durchaus die Anerkennung der arabischen Massen erwerben, sobald aber der alte religiöse Streit zwischen Sunniten und Schiiten ins Spiel kommt, dann bricht das alte Misstrauen und die alte Ablehnung der Araber gegenüber dem Iran wieder aus, die Mubaraks Außenminister, Ahmad Abu El Gheit, einst zusammenfasste: Die Iran sei nun einmal kein arabisches Land und er verfolge andere Ziele in der Region als die Araber.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2011-10-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36393/die-rolle-irans-als-unterstuetzer-islamistischer-gruppen/
Seit Jahren sind die islamistischen Gruppen Hamas und Hisbollah die wichtigsten Verbündeten des Iran im Nahen Osten. Beide sollen dem Gottesstaat helfen, seinen Einfluss in der Region zu vergrößern. Mit Erfolg?
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Analyse: Wahlen in den Separatistengebieten | Ukraine-Analysen | bpb.de
Einleitung In den von den Separatisten ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die jeweils die von den Separatisten kontrollierten Teile der entsprechenden ukrainischen Regionen umfassen, sind am 2. November 2014 Wahlen durchgeführt worden. Es wurden jeweils ein Präsident sowie ein Parlament gewählt. Dabei erhielten die amtierenden Ministerpräsidenten jeweils die Stimmenmehrheit. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommissionen der beiden Volksrepubliken stimmten bei der Präsidentenwahl im Donezker Separatistengebiet 75 % für Aleksandr Sachartschenko und im Luhansker 63 % für Igor Plotnizki. Die Parteien der Wahlgewinner erhielten jeweils über zwei Drittel der Stimmen bei der Parlamentswahl. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommissionen wurden in der Donezker Volksrepublik 1 Mio. Stimmen abgegeben, in der Luhansker Volksrepublik 0,6 Mio. An der Durchführung der Wahlen gibt es zwei zentrale Kritikpunkte. Die Wahlen widersprechen ukrainischem Recht und der Friedensvereinbarung Da die Ukraine ein Zentralstaat ist, sind die Kompetenzen der Regionen klar begrenzt. Gemäß Artikel 118 der ukrainischen Verfassung werden Gouverneure vom ukrainischen Präsidenten ernannt. Der Präsident hat auch das Recht Beschlüsse der Gouverneure, die ukrainischem Recht widersprechen, zu annullieren. Gleichzeitig sind die Volksrepubliken als solche mit ukrainischem Recht nicht vereinbar, da die Verfassung in Artikel 92 explizit festlegt, dass die die territoriale Struktur der Ukraine ausschließlich durch vom nationalen Parlament verabschiedete Gesetze geregelt wird. Nach ukrainischem Recht sind die Separatistengebiete dementsprechend Bestandteil der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Für eine legale Teilnahme an der Politik müssten die Separatisten bei Wahlen zu regionalen und lokalen Parlamenten kandidieren. Eine Ausnahme wurde vom ukrainischen Parlament in Reaktion auf die Minsker Friedensverhandlungen genehmigt. Bei den Minsker Friedensverhandlungen haben sich Vertreter von OSZE, Ukraine und Russland sowie der Separatisten aus Donezk und Luhansk am 5.9.2014 auf ein Protokoll geeinigt, dass als Punkt 9 vorsieht: "Gewährleistung der Durchführung vorgezogener Lokalwahlen in Übereinstimmung mit dem ukrainischen Gesetz 'Über die befristete Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in bestimmten Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk' (Gesetz über den besonderen Status)." Dieser Punkt ist hier vollständig und wörtlich übersetzt. Der in den unten widergegebenen Stellungnahmen des russischen Außenministeriums und des Vertreters der Separatisten behauptete Zeitraum für die Durchführung von Wahlen in den Separatistengebieten ist im Protokoll an keiner Stelle genannt. Die Festlegung der Regeln durch Kiew, d. h. durch ein vom ukrainischen Parlament verabschiedetes Gesetz, die der Separatistenführer bestreitet, steht hingegen eindeutig im Protokoll. Das im Protokoll vorgesehene Gesetz wurde vom ukrainischen Parlament am 16. September 2014 verabschiedet. Das Gesetz sieht für die Separatistengebiete Wahlen zu regionalen und lokalen Parlamenten sowie Bürgermeisterwahlen für den 7. Dezember 2014 vor. Die in den Separatistengebieten gewählten Volksvertreter sollen dann – so die Bestimmungen des Gesetzes – die Ausgestaltung von Politik mit dem ukrainischen Zentralstaat verhandeln. Ohne über Details des Gesetzes diskutieren zu müssen, kann ganz klar festgehalten werden, dass das Gesetz einen eindeutigen Wahltermin vorsieht, der nicht eingehalten wurde und dass die Wahl von Parlamenten und Bürgermeistern, nicht aber von Präsidenten der Volksrepubliken im Gesetz vorgesehen ist. Auch in Details verletzen die Wahlen ukrainisches Recht, etwa wenn in der Donezker Volksrepublik Ausländern mit Wohnsitz in Donezk oder 16- und 17-Jährigen das Wahlrecht zugesprochen wird, was der ukrainischen Verfassung widerspricht, die nur volljährigen ukrainischen Staatsbürgern das Wahlrecht einräumt. Wie die OSZE in ihrer unten aufgeführten Stellungnahme beklagt, haben sich die Separatisten einer Diskussion der strittigen Punkte verweigert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Wahlen in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk nach ukrainischem Recht illegal sind. Sie können damit nur dann anerkannt werden, wenn die Volksrepubliken nicht mehr als Teil der Ukraine gesehen werden. Die Unabhängigkeitsreferenden der beiden Volksrepubliken vom Mai 2014 sind jedoch von keinem Staat der Welt anerkannt worden. Russland hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Beziehung zwischen den Volksrepubliken und dem ukrainischen Zentralstaat eine inner-ukrainische Angelegenheit sei. Hieraus würde sich logisch ergeben, dass die ukrainische Verfassung und ukrainische Gesetze gelten – was ja auch im Minsker Protokoll explizit vorgesehen ist – und die Wahlen in den Volksrepubliken damit illegal sind. Die Wahlen wurden demokratischen Standards nicht gerecht Unabhängig von der Frage, ob die Wahlen legal sind oder nicht, kann ihr demokratischer Charakter bewertet werden. Zwei grundlegende Defizite machen es dabei unmöglich, die Wahlen als demokratischen Standards entsprechend zu bezeichnen. Erstens fehlen korrekte Wählerverzeichnisse und mehrfache Stimmabgaben bzw. gefälschte Stimmabgaben für abwesende Personen sind damit nicht feststellbar. Als Grundlage für die Abgabe eines Stimmzettels wurde von den Wahlbehörden die Vorlage einer Meldebescheinigung verlangt. Aufgrund des bewaffneten Konfliktes in der Region haben sich jedoch erhebliche Ab- und Zuwanderungen ergeben, die nicht vollständig erfasst sind. Nach Schätzungen der UN sind etwa 0,6 Mio. Menschen aus den Kampfgebieten in der Ostukraine geflohen. Nach russischen Angaben halten sich 1 Mio. Ukrainer mehr als im Vorjahr in Russland auf. Das von der Donezker Volksrepublik kontrollierte Territorium hatte vor Konfliktbeginn insgesamt etwa 2 Mio. Einwohner, das Gebiet der Luhansker Volksrepublik etwa 1,5 Mio. Es ist also davon auszugehen, dass etwa 15 % bis 30 % der Bevölkerung die Separatistengebiete längerfristig verlassen haben und deshalb an den Wahlen nicht teilnehmen konnten. Gleichzeitig hält sich eine große Zahl russischer Staatsbürger als Kämpfer in den Separatistengebieten auf. Umstritten ist nicht ihre Anwesenheit, sondern die Frage, ob sie als Angehörige der russischen Armee oder als Privatpersonen an den Kämpfen teilnehmen. Die Separatisten hatten wiederholt bestätigt, dass bis zu ein Drittel ihrer Kämpfer keine ukrainische Staatsbürgerschaft besitze. Nach Angaben der Wahlkommission der Donezker Volksrepublik dürfen diese auch an den Wahlen teilnehmen, sofern sie in der Region registriert sind. Das Fehlen eines vollständigen Wählerregisters macht die mehrfache Stimmabgabe in verschiedenen Wahlbezirken möglich, wie beim Referendum im Mai vielfach dokumentiert wurde. Außerdem wird die gefälschte Stimmabgabe für geflohene Wähler möglich. Hinzu kommt, dass in der Donezker Volksrepublik Neuwähler ohne Personalausweis nur unter Vorlage von Geburtsurkunde und Meldebescheinigung an den Wahlen teilnehmen können. Beide Dokumente enthalten keine Fotos und machen deshalb eine Überprüfung der Identität der entsprechenden Wähler unmöglich. Zusätzlich erlaubte die Donezker Volksrepublik die Abstimmung per Internet, für die das Senden einer gescannten Version der Meldebescheinigung an die Wahlbehörde ausreichend war. Bei diesem Verfahren ist es gar nicht mehr möglich festzustellen, ob der Inhaber der Dokumente auch selber abstimmt. Nach Angaben der Donezker Wahlkommission stimmten mehrere 10.000 Wähler per Internet ab. Maßnahmen zur Bekämpfung von Manipulationen, entweder durch die Farbmarkierung der Daumen bei der Stimmenabgabe oder auch durch den großflächigen Einsatz von neutralen Wahlbeobachtern wurden von den Wahlbehörden der Separatisten nicht genutzt. Insgesamt waren nach Angaben der Separatisten 51 ausländische Wahlbeobachter im Einsatz, viele von ihnen mit einem rechtsradikalen Hintergrund. Bei den ukrainischen Parlamentswahlen im Oktober hingegen hatte allein die OSZE knapp 700 Beobachter entsandt. Insgesamt waren mehrere Tausend Wahlbeobachter im Einsatz. Noch entscheidender für die fehlende demokratische Qualität aber ist, dass die Wähler eigentlich keine Wahl hatten. Für das Präsidentenamt in der Donezker Volksrepublik kandidierten nur drei Vertreter der Separatisten: der derzeitige Ministerpräsident, der stellvertretende Vorsitzende des Separatisten-Parlaments sowie ein Separatisten-Kämpfer. Bei den Parlamentswahlen der Donezker Volksrepublik traten zwei Parteien an. Die erste Partei unterstützt den Ministerpräsidenten (und neu gewählten Präsidenten), die zweite Partei seinen Vorgänger als Volksgouverneur des Donbass. Die in der Volksrepublik neu-gegründete Kommunistische Partei wurde wegen Fehlern bei der Dokumentation nicht zur Wahl zugelassen. Ebenfalls nicht zugelassen wurden drei Parteien von Vertretern verschiedener Gruppierungen der Separatisten. Bei den Parlamentswahlen 2012 hatte die Partei der Regionen in Donezk 65 % erhalten. Die Kommunisten waren mit 19 % in der Region zweitstärkste Kraft. Die jetzt als pro-ukrainisch (oder pro-westlich) bezeichneten Parteien kamen gemeinsam auf 11 %. Bei Umfragen hatte über Jahre hinweg nie mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Region separatistische Bestrebungen unterstützt. Es ist also kaum davon auszugehen, dass die Separatisten jetzt wirklich allein das gesamte Wählerspektrum in der Region abdecken. Genau wie beim Referendum im Mai ist es aber jetzt auch bei den Wahlen im November 2014 nicht mehr möglich, ein realistisches Abstimmungsergebnis für die Separatistengebiete zu rekonstruieren. Lesetipps: Bericht der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti über die Wahlmodalitäten und die Kandidaten (auf Russisch): Externer Link: http://ria.ru/world/20141102/1031349893.html Mitteilung der Wahlergebnisse auf der Website der Donezker Volksrepublik (auf Russisch), Externer Link: http://dnr-news.com/dnr/7038-purgin-otmena-vyborov-v-dnr-nevozmozhna.html Kommentar von Anton Shekhovtsov zu ausländischen Wahlbeobachtern (auf Englisch): Externer Link: http://anton-shekhovtsov.blogspot.de/2014/11/fake-monitors-observe-fake-elections-in.html Interner Link: Eine Dokumentation des Minsker Protokolls und des Interner Link: Gesetzes zu den Wahlen in den Separatistengebieten findet sich in der Interner Link: Ukraine-Analyse Nr. 136.
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Von Heiko Pleines, Bremen
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-11-07T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/194647/analyse-wahlen-in-den-separatistengebieten/
Die Wahlen in der Ostukraine Anfang November wurden international vielfach kritisiert. Doch unabhängig von der Frage, ob die Wahlen legal sind oder nicht, kann ihr demokratischer Charakter bewertet werden. Zwei grundlegende Defizite machen es dabei u
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Altersaufbau, Geburtenentwicklung und Lebenserwartung | Datenreport 2021 | bpb.de
Altersaufbau Die Zahl der Geburten beeinflusst unmittelbar den Altersaufbau der Bevölkerung. Außerdem besteht eine Wechselwirkung zwischen der Stärke eines Altersjahrgangs und den Geburten sowie Sterbezahlen: Zum einen beeinflusst die Stärke der einzelnen Altersjahrgänge die Zahl der Geburten und Sterbefälle in bestimmten Zeiträumen. Gleichzeitig wirken sich wiederum die Veränderungen von Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit auch auf die Stärke der jeweiligen Jahrgänge aus. Langfristig führen solche Veränderungen zu einer Verschiebung der Anteile der Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung. Ein zusätzlicher Faktor ist die Zu- und Abwanderung, da meist junge Erwachsene zu- oder abwandern. In Deutschland führen diese verschiedenen Faktoren insgesamt dazu, dass die Gruppe der Kinder und Jugendlichen kleiner wird und die Gruppe der Menschen im Rentenalter wächst, während sich der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter – derzeit – wenig verändert. Entgegen diesem Trend erhöhte sich 2015 und 2016 infolge der starken Zuwanderung von jungen Menschen der Anteil der Kinder und Jugendlichen leicht. Den Altersaufbau der Bevölkerung und dessen Veränderungen veranschaulicht Abbildung 1. Dabei zeigt sich deutlich, wie die Basis der Bevölkerungspyramide – also die neuen Generationen – schmaler wird, während die stärksten Jahrgänge zwischen 50 und 60 Jahre alt sind. Info 2Bevölkerungspyramide Um den Altersaufbau der Be­völkerung zu veranschaulichen, verwendet die Statistik eine ­grafische Darstellungsform, die als Bevölkerungs­pyramide bezeichnet wird, auch wenn sie – für Deutschland betrachtet – längst keine Pyramidenform mehr hat. So gleicht sie heute optisch eher einer "zerzausten Wetter­tanne", wie sie einmal bildhaft beschrieben wurde. Eine interaktive Bevölkerungs­pyramide auf Externer Link: www.destatis.de ermöglicht es, die Veränderung der ­Altersstruktur im Zeitraum zwischen 1950 und 2060 zu verfolgen und ­dabei einen bestimmten Geburtsjahrgang zu beobachten. Die Anwendung basiert auf den Ergebnissen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland. Entwicklung der Altersstruktur (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Im Jahr 2019 betrug in Deutschland der Anteil der Heranwachsenden (unter 20-Jährige) an der Bevölkerung 18 %. Auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (hier: 20 bis 64 Jahre) entfielen 60 % und der Seniorenanteil (65-Jährige und Ältere) lag bei 22 %. Rund 7 % der Bevölkerung waren hochbetagt, das heißt 80 Jahre oder älter. Der Jugendquotient (Zahl der unter 20-Jährigen je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren) lag bei 31 und somit unter dem Altenquotienten (Zahl der 65-Jährigen und Älteren je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren) mit 36. Im Jahr 1950 lag der Jugendquotient noch bei 51 und der Altenquotient bei 16. Seit 2006 übersteigt der Altenquotient jedoch den Jugendquotienten (siehe auch Interner Link: Abschnitt 1.1.4). Um den Altersaufbau der Be­völkerung zu veranschaulichen, verwendet die Statistik eine ­grafische Darstellungsform, die als Bevölkerungs­pyramide bezeichnet wird, auch wenn sie – für Deutschland betrachtet – längst keine Pyramidenform mehr hat. So gleicht sie heute optisch eher einer "zerzausten Wetter­tanne", wie sie einmal bildhaft beschrieben wurde. Eine interaktive Bevölkerungs­pyramide auf Externer Link: www.destatis.de ermöglicht es, die Veränderung der ­Altersstruktur im Zeitraum zwischen 1950 und 2060 zu verfolgen und ­dabei einen bestimmten Geburtsjahrgang zu beobachten. Die Anwendung basiert auf den Ergebnissen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland. Entwicklung der Altersstruktur (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Info 3Jugendquotient, Altenquotient und Gesamtquotient Neben der absoluten Zahl der Bevölkerung in einem bestimmten Alter ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Altersgruppen ein Charakteristikum des Alterungs­prozesses. Wird der Be­völkerung im erwerbsfähigen Alter die jüngere Bevölkerung – für deren Aufwachsen, Erziehung und ­Ausbildung gesorgt werden muss – gegenübergestellt, so ergibt sich der Jugend­quotient. Wird die Zahl der Personen im Renten­alter, also der potenziellen Empfänger von Leistungen der Rentenversicherung oder anderer Alterssicherungssysteme, auf die Zahl der Personen im Erwerbs­alter bezogen, ergibt sich der Alten­quotient. Beide Quotienten zusammen addieren sich zum Gesamt­quotienten. Dieser zeigt auf, in welchem Ausmaß die mittlere Altersgruppe sowohl für die ­jüngere als auch für die ältere Bevölkerung, die beide nicht im Erwerbsleben stehen, im weitesten Sinne zu sorgen hat. Für die ­Abgrenzung des erwerbs­fähigen Alters wird hier die Altersspanne von 20 bis 64 Jahren gewählt, da in dieser Lebensphase die meisten Menschen erwerbstätig sind. Beim Altersaufbau gibt es ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen dem früheren Bundesgebiet und den neuen Bundesländern (jeweils ohne Berlin). So lag 2019 der Anteil der Seniorinnen und Senioren in den neuen Bundesländern bereits bei 26 % (21 % im früheren Bundesgebiet), der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 20 Jahren fiel mit 17 % dagegen niedriger aus (19 % im früheren Bundesgebiet). In Berlin lebten Ende 2019 verhältnismäßig weniger Seniorinnen und Senioren (19 %), dagegen war der Anteil der 20- bis 64-Jährigen mit 63 % höher als im restlichen Bundesgebiet. In Deutschland werden etwa 5 % mehr Jungen als Mädchen geboren. Im Jahr 2019 kamen im Durchschnitt auf 100 neugeborene Mädchen 105 Jungen. Da Männer statistisch gesehen nicht so alt werden wie Frauen, verändern sich die Anteile von Frauen und Männern mit den Alters gruppen. Einen weiteren Faktor stellt die Zuwanderung dar, weil junge Männer im Vergleich zur in Deutschland lebenden Bevölkerung unter den Zuwanderern über repräsentiert sind. Dies führt dazu, dass bis zu einem Alter von 57 Jahren der Männeranteil überwiegt und der Männer überhang am stärksten in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen ist. In der Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen befinden sich ungefähr gleich viele Männer wie Frauen. In den höheren Altersgruppen überwiegen dann zunehmend Frauen: In der Gruppe der 60- bis 69-Jährigen sind es 52 %, bei den 70- bis 79-Jährigen 54 % und bei den 80-jährigen oder älteren Personen sogar 62 %. Gründe für den geringeren Männeranteil in den höchsten Altersgruppen sind neben der höheren Lebenserwartung von Frauen auch heute noch die starken Männerverluste durch den Zweiten Weltkrieg. Mit den nachlassenden demografischen Auswirkungen des Krieges steigt mittlerweile aber auch der Anteil der Männer an den Hochbetagten (27 % im Jahr 2000; 38 % im Jahr 2019). Geburtenentwicklung Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Deutschland durch hohe Geburtenzahlen geprägt. Ab 1947 wurden deutlich mehr Geburten als Sterbefälle registriert. Der darauffolgende Babyboom wandelte sich Ende der 1960er- Jahre zu einem starken Rückgang der Geburten. Die Zahl der lebend geborenen Kinder ging vom Höchststand im Jahr 1964 (1,36 Millionen) bis auf 782.000 im Jahr 1975 zurück. Danach gab es von 1976 bis 1990 einen Anstieg der jähr lichen Geburtenzahlen von 798.000 auf 906.000. Seit 1997 (812.000 Geburten) war wieder ein kontinuierlicher Geburtenrückgang zu beobachten. Im Jahr 2005 wurden erstmals unter 700.000 Kinder geboren und im Jahr 2011 wurde mit 663.000 Neugeborenen die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 registriert. Im Jahr 2019 lag die Zahl der Geburten mit 778.000 wieder deutlich höher. Der Geburtenrückgang bewirkte, dass seit 1972 jedes Jahr weniger Kinder geboren wurden als Menschen starben. Im Jahr 2019 war die Anzahl der Geborenen um 161.000 kleiner als die Zahl der Sterbefälle. Neben der absoluten Zahl der Bevölkerung in einem bestimmten Alter ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Altersgruppen ein Charakteristikum des Alterungs­prozesses. Wird der Be­völkerung im erwerbsfähigen Alter die jüngere Bevölkerung – für deren Aufwachsen, Erziehung und ­Ausbildung gesorgt werden muss – gegenübergestellt, so ergibt sich der Jugend­quotient. Wird die Zahl der Personen im Renten­alter, also der potenziellen Empfänger von Leistungen der Rentenversicherung oder anderer Alterssicherungssysteme, auf die Zahl der Personen im Erwerbs­alter bezogen, ergibt sich der Alten­quotient. Beide Quotienten zusammen addieren sich zum Gesamt­quotienten. Dieser zeigt auf, in welchem Ausmaß die mittlere Altersgruppe sowohl für die ­jüngere als auch für die ältere Bevölkerung, die beide nicht im Erwerbsleben stehen, im weitesten Sinne zu sorgen hat. Für die ­Abgrenzung des erwerbs­fähigen Alters wird hier die Altersspanne von 20 bis 64 Jahren gewählt, da in dieser Lebensphase die meisten Menschen erwerbstätig sind. Geburtenhäufigkeit im Zeitverlauf Die Zahl der geborenen Kinder hängt einerseits von der Anzahl potenzieller Eltern und andererseits von der relativen Geburtenhäufigkeit (Fertilität) der Frauen ab. Die Veränderung der Geburtenhäufigkeit von Jahr zu Jahr wird mit der zusammengefassten Geburtenziffer (total fertility rate, TFR) gemessen. In Westdeutschland verringerte sich diese ab Mitte der 1960er-Jahre stark und stabilisierte sich ab Ende der 1970er-Jahre auf niedrigem Niveau. Die zusammengefasste Geburtenziffer betrug hier fast 40 Jahre lang rechnerisch 1,3 bis 1,4 Kinder je Frau; im Jahr 2014 erreichte sie erstmals wieder knapp 1,5 Kinder je Frau. In der ehemaligen DDR war es in den 1970er-Jahren auch zu einem starken Rückgang der Geburtenhäufigkeit gekommen, dem aber bald ein Anstieg folgte. Bis Mitte der 1980er-Jahre verringerte sich die Geburtenhäufigkeit hier wieder. Anfang der 1990er-Jahre kam es nach der deutschen Vereinigung zu einem vorübergehend starken Einbruch der Geburtenzahlen in den neuen Ländern, der mit den Unsicherheiten des Transformationsprozesses zusammenhing. Seit 1995 stieg die zusammengefasste Geburtenziffer in den ostdeutschen Flächenländern fast kontinuierlich. Im Jahr 2019 betrug sie in West- und Ostdeutschland (ohne Berlin) jeweils 1,56 Kinder je Frau. Da in Berlin aber die Geburtenhäufigkeit deutlich niedriger war (1,41 Kindern je Frau), lag die Ziffer für Gesamtdeutschland mit 1,54 Kindern je Frau unterhalb dieses Niveaus. Eine höhere Geburtenziffer hatte es zuletzt 1972 gegeben. Endgültige Kinderzahl je Frau Wie sich Veränderungen in der Geburtenhäufigkeit auf die durchschnittliche Zahl der Kinder auswirken, die Frauen im Lauf ihres Lebens bekommen, zeigt die endgültige Kinderzahl je Frau. Die in den 1930er-Jahren geborenen Frauen – zum Großteil die Mütter der Babyboom-Generation – haben durchschnittlich mehr als zwei Kinder geboren. Ihre Familiengründungsphase fiel in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er- und 1960er-Jahre. Bereits bei den in den 1930er-Jahren geborenen Frauen zeichnete sich jedoch ein Rückgang der endgül tigen Kinderzahl je Frau ab. Besonders schnell sank diese zwischen den Geburtsjahrgängen 1934 und 1944, als immer weniger Frauen sich für ein viertes oder weiteres Kind entschieden haben. Anschließend stabilisierte sich die Kinderzahl je Mutter bei rund zwei Kindern. Zugleich stieg aber der Anteil der Frauen, die kein Kind geboren haben (zur Entwicklung der Kinderlosigkeit siehe Interner Link: Kapitel 2.4). Die zunehmende Kinderlosigkeit hat zu einem kontinuierlichen Rückgang der endgültigen Kinderzahl je Frau beige tragen, die bei den Frauen des Jahrgangs 1968 ihren historischen Tiefststand mit knapp 1,5 Kindern je Frau erreicht hat. Die in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre geborenen Frauen haben bereits bis zum Jahr 2019 – im Alter zwischen 39 und 48 Jahren – durchschnittlich mehr Kinder geboren als Frauen des Jahrgangs 1968. Hierfür sind im Wesentlichen zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen nahm die Geburtenhäufigkeit der Frauen im Alter ab 30 Jahren deutlich zu. Unter insgesamt günstigen wirtschaftlichen und familienpolitischen Rahmenbedingungen wurden die bis dahin noch nicht erfüllten Kinderwünsche realisiert. Zum anderen hat sich die Fertilität dieser Jahrgänge im jüngeren gebärfähigen Alter bis 29 Jahre stabilisiert. Einer der Gründe für diese Stabilisierung sind die Zuwanderinnen, die bei der Geburt ihrer Kinder tendenziell jünger als die deutschen Frauen sind. Zeitpunkt der Familiengründung Der Trend zur späteren Familiengründung kennzeichnet wesentlich das Geburtenverhalten der letzten vier Jahrzehnte. Der Anteil der Frauen, die noch vor ihrem 30. Geburtstag das erste Kind bekommen, nimmt weiter ab. Anfang der 1970er-Jahre waren Frauen im früheren Bundesgebiet bei der ersten Geburt durchschnittlich etwa 24 Jahre alt, im Jahr 2019 waren sie 30 und damit sechs Jahre älter. Die ostdeutschen Frauen waren bis zum Ende der 1980er-Jahre bei der ersten Geburt im Durchschnitt mit 23 Jahren sehr jung. Nach der deutschen Vereinigung stieg das Alter bei der Familiengründung in den neuen Ländern umso schneller. Im Jahr 2019 bekamen die Frauen in Ostdeutschland ihr erstes Kind durchschnittlich im Alter von rund 29 Jahren, also sechs Jahre später als noch im Jahr 1989. Im bundesdeutschen Durchschnitt waren 2019 die Mütter beim ersten Kind 30 Jahre alt. Damit verengt sich zu nehmend die Lebensphase, in der Frauen Familien gründen und weitere Kinder zur Welt bringen können. Eine der Folgen dieser Entwicklung ist die Zunahme der Geburten bei Frauen im Alter ab 40 Jahren. Zwischen 2000 und 2019 stieg der Anteil der Babys mit Müttern im Alter ab 40 Jahren von 2,1 auf 4,5 %. Erste Geburten sind aber im Alter ab 40 Jahren immer noch relativ selten. Lediglich 2,8 % der ersten Kinder wurden 2019 von Frauen im Alter ab 40 Jahren geboren. Ab dem Alter von 42 Jahren waren es lediglich 1,0 %. Zunahme der Geburten durch ausländische Mütter Neben den Veränderungen im Geburtenverhalten allgemein beeinflusst zunehmend auch die Fertilität der Zuwanderinnen (hier: Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit) das Geburtengeschehen in Deutschland. Der Anteil der ausländischen Frauen an den Frauenjahrgängen war bei den frühen 1960er-Jahrgängen mit 9 % halb so hoch wie bei den 1970er-Jahrgängen mit 18 %. Seit 2014 stieg außerdem die Anzahl der potenziellen Mütter aus Ländern mit relativ hoher Kinderzahl je Frau. Ausgehend von den Erfahrungen der früheren Wanderungsbewegungen ist allerdings damit zu rechnen, dass die Fertilität in den ersten Jahren nach der Flucht aus Kriegs- und Krisengebieten besonders stark ansteigt und nach einigen Jahren abnehmen wird. Zwischen 2016 und 2019 sank die Geburtenziffer bei ausländischen Frauen von 2,28 auf 2,06 Kinder je Frau. Lebenserwartung Die Lebenserwartung ist in den vergangenen 150 Jahren beträchtlich gestiegen. Hierbei spielte die Verringerung der Säuglings- und Kindersterblichkeit lange eine entscheidende Rolle. Im Deutschen Reich betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Zeitraum 1871/1881 für neugeborene Jungen 35,6 Jahre und für neugeborene Mädchen 38,5 Jahre. Aber schon Zehnjährige, die das Säuglings- und Kleinkindalter mit besonders hohen Sterberisiken hinter sich ließen, hatten eine weitere Lebenserwartung von 46,5 Jahren (Jungen) beziehungsweise 48,2 Jahren (Mädchen). Nach den Er gebnissen der aktuellen Sterbetafel 2017/ 2019 betrug die Lebenserwartung neu geborener Jungen 78,6 und die der Mädchen 83,4 Jahre. Auch die fernere Lebenserwartung in höheren Altersjahren ist stark gestiegen. So hatten beispielsweise 65-jährige Männer 1871/1881 im Durchschnitt noch 9,6 Jahre zu leben. In den Jahren 2017/2019 waren es 17,9 Jahre. Bei den Frauen ist diese Steigerung noch stärker ausgeprägt: Lag der Wert für den Zeitraum 1871/1881 bei 10,0 Jahren, so konnten 65-jährige Frauen 2017/2019 durchschnittlich 21,1 weiteren Lebensjahren entgegensehen. Von den Frauen, die 2019 starben, war fast ein Drittel 90 Jahre oder älter. Mindestens 100 Jahre alt waren rund 4.300 der gestorbenen Frauen und etwa 710 verstorbene Männer.
Article
Claire Grobecker, Elle Krack-Roberg, Olga Pötzsch, Bettina Sommer
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/bevoelkerung-und-demografie/329474/altersaufbau-geburtenentwicklung-und-lebenserwartung/
Die Zahl der Geburten beeinflusst unmittelbar den Altersaufbau der Bevölkerung. Außerdem besteht eine Wechselwirkung zwischen der Stärke eines Altersjahrgangs und den Geburten sowie Sterbezahlen.
[ "Datenreport", "Altersaufbau", "Geburtenentwicklung", "Lebenserwartung", "Veränderungen im Geburtenverhalten", "Fertilität von Zuwanderinnen" ]
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Wirtschaftssystem und ökonomische Entwicklung | Russland | bpb.de
Einleitung Die Entwicklung der Marktwirtschaft in Russland erhielt ihre entscheidenden Impulse Anfang 1992, als der amtierende Ministerpräsident Jegor Gajdar eine umfassende Liberalisierung der Wirtschaft einleitete. Allerdings hatten marktwirtschaftliche Strömungen schon viele Jahre früher eingesetzt, war doch bereits die administrative Planwirtschaft der Sowjetunion mit marktökonomischen Elementen unterschiedlicher Art und Spannweite durchsetzt gewesen. Sie reichten von Kolchosmärkten bis zur illegalen Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen in einer immer weiter ausufernden Schattenwirtschaft. Für den Wandel des ökonomischen Systems hatten diese Prozesse zwei wesentliche Konsequenzen: Es entstanden gesellschaftliche Netzwerke, die Aufbau, Funktionsmechanismen und Leistungspotenzial der zukünftigen Marktwirtschaft nachhaltig bestimmen sollten, und es entwickelte sich ein Unternehmertum, das seine Einkünfte aus Renten (Einkommen ohne produktive Leistung) erzielte und das Unterlaufen offizieller Rechtsregeln zu einem seiner Handlungsprinzipien machte. Der marktwirtschaftliche Wandel musste und muss sich in Russland unter schwierigen Bedingungen vollziehen, denn er findet im Rahmen einer grundlegenden Umgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Gesamtsystems statt. Hierzu gehören insbesondere die Schrumpfung vom Imperium zur Regionalmacht, der Wechsel des politischen Systems von der Diktatur zur Demokratie sowie der soziale Wandel von einer totalitär überformten zu einer pluralistischen Gesellschaft. Ökonomischer Erfolg stellt sich nur ein, wenn es zu einem vorteilhaften Zusammenspiel mit den drei anderen zentralen Veränderungsprozessen kommt. Die Schwierigkeiten bei der Neugestaltung der Wirtschaftsverhältnisse in Russland waren und sind auch auf die politisch-gesellschaftlichen Altlasten des untergegangenen administrativen Sozialismus zurückzuführen, die gravierend und bisher allenfalls teilweise überwunden sind. Dazu zählen die beträchtlichen Macht- und Autoritätsdefizite der Führung, die schwache Ausbildung demokratischer Kräfte, etwa politischer Parteien, sowie die unzureichende Entwicklung von Institutionen und einer effektiven gesellschaftlichen Selbstorganisation, wie sie zur Regelung von Konflikten in demokratisch verfassten Marktwirtschaften unverzichtbar sind. Die lange Dauer der administrativen Planwirtschaft im Zusammenwirken mit Prägungen aus vorsowjetischer Zeit hat die ökonomische Kultur, Wahrnehmung, Wertung und das Verhalten breiter Bevölkerungsgruppen nachhaltig beeinflusst. Allerdings haben sich inzwischen die Einstellungen zur Marktwirtschaft verändert: Umfrageergebnisse deuten auf eine zunehmende Akzeptanz des wirtschaftlichen Systemwechsels hin, und es entstand mittlerweile auch eine umfangreiche aktive Unternehmerschicht in kleineren, mittleren und größeren Betrieben. Sie umfasst alle Wirtschaftszweige, insbesondere aber jene, die im sowjetischen Wirtschaftssystem kaum Raum zur Expansion gefunden hatten wie Dienstleistungen, der Finanzbereich und konsumnahe Sektoren. Ein besonderes Hindernis für den Umgestaltungsprozess bildete die materielle Strukturerbschaft der sowjetischen Planwirtschaft. Sie hinterließ eine sektoral und regional ungleichgewichtige Wirtschaftsstruktur mit einer permanenten Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen des Landes im Interesse kurzfristiger Machtentfaltung. Die wichtigsten Stichwörter in diesem Zusammenhang sind: übermäßig aufgeblähter Staatssektor; überdimensionierte Schwer- und Rüstungsindustrie; politisch bestimmte Standortwahl; hoher Konzentrationsgrad der Produktion mit zahlreichen natürlichen und technologischen Monopolen sowie unmoderne, überalterte Produktionsanlagen infolge unterlassener Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen. Dazu kamen unwirtschaftliche, extensive Beschäftigungsverhältnisse, die in der Transformationsphase zunehmende Arbeitslosigkeit vorprogrammierten, sowie eine zurückgestaute Inflation, die sich nach der Liberalisierung der meisten Preise zu Beginn der neunziger Jahre in einer Preisexplosion entlud. Auch die Konzentration des sowjetischen Außenhandels auf den Wirtschaftsbereich des "Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW, 1990 aufgelöst), der die Ostblockstaaten sowie Kuba, die Mongolei, Nordkorea und Vietnam umfasste, und ihre Schwerpunkte im Rohstoff- und Energiesektor belasten die russische Wirtschaft trotz der inzwischen vor allem in regionaler Hinsicht eingetretenen Veränderungen bis heute. Elemente des Systemwechsels Der offizielle Start in die Marktwirtschaft erfolgte mit Beginn des Jahres 1992 auf der Grundlage des von Präsident Boris Jelzin im Oktober 1991 vorgelegten Reformprogramms mit den beiden zentralen Hauptzielsetzungen "Liberalisierung" und "Privatisierung". Die Verfassung von 1993 setzte dann den konstitutionellen Rahmen für eine marktwirtschaftliche Ordnung, die zwar soziale Züge tragen soll, aber keinerlei Ansätze zeigt, "dritte Wege" mit Mischungen markt- und planwirtschaftlicher Elemente festzuschreiben. Die seit Reformbeginn bestehende marktwirtschaftliche Grundtendenz ist auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen: den spontanen, nicht mehr aufhaltbaren Charakter eines "Systemwechsels von unten"; das Fehlen politisch vertretbarer und zugleich praktikabler Alternativen; die auf marktwirtschaftliche Strukturen angelegten internationalen Rahmenbedingungen und das Eigentums-, Einfluss- und Machtinteresse der alten (aus der sowjetischen Planwirtschaft kommenden) und neuen (vielfach aus der akademischen Intelligenz stammenden) ökonomischen Eliten Russlands. Diese Stabilität marktwirtschaftlicher Ausrichtung bedeutete freilich keine Kontinuität in der Wirtschaftspolitik, und die angestrebte ökonomische Konsolidierung scheiterte trotz periodischer Erfolge zunächst immer wieder. So folgte zwar auf Niedergang und Inflation am Beginn der Transformation Mitte der neunziger Jahre eine Phase der Stabilisierung von Währung und wirtschaftlicher Entwicklung, die bis 1997 anhielt. Dann kam es, verursacht durch ein großes Haushaltsdefizit, übersteigerte Zinszahlungen für kurzfristige Staatsanleihen und ein extrem spekulatives Verhalten der Banken zur Finanz- und Wachstumskrise vom August 1998, die Russland wieder zurückwarf, andererseits aber zu den Voraussetzungen für den seit 1999 anhaltenden Aufschwung beitrug. Der Westen hat in diesem wechselvollen Wirtschaftsprozess eine zwiespältige Rolle gespielt. Dies gilt sowohl für Staaten wie die USA und Deutschland sowie für die Europäische Union und die Gruppe der sieben wichtigsten Industriestaaten (G7) als auch für die Weltwirtschaftsorganisationen Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Kredite wurden oft unter politischen Gesichtspunkten gewährt - etwa, um 1996 die Wiederwahl Jelzins als Präsident Russlands zu sichern -, und die finanzierende wie beratende Einflussnahme von IWF und Weltbank orientierte sich zu sehr am Modell des "Washingtoner Konsenses". Dieses Modell, in den neunziger Jahren für Schwellen- und Entwicklungsländer erarbeitet, setzte auf Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung. Es berücksichtigte dabei aber nur unzureichend, dass institutioneller Wandel, der Umbau der Strukturen und die Veränderung der russischen Wirtschaftskultur mit ihrer zentralen Bedeutung für Motivation, Normenverständnis und ökonomisches Verhalten mehr Zeit beanspruchten. Fortschritt, Grenzen und Probleme der marktwirtschaftlichen Transformation zeigen sich vor allem in den drei zentralen Reformsegmenten Liberalisierung, Privatisierung und Aufbau eines marktwirtschaftlichen Prinzipien entsprechenden Steuersystems. Liberalisierung Die Liberalisierung der Preise und Löhne, die in der sowjetischen Planwirtschaft weitgehend administrativ geregelt waren, sowie die Aufhebung der planwirtschaftlichen Mengenregulierungen für Produktion sowie Binnen- und Außenhandel standen am Beginn der russischen Transformationspolitik. Die entsprechenden Richtlinien traten (mit bestimmten Ausnahmen, vor allem im Energiebereich) im Januar 1992 in Kraft und galten zunächst für ganz Russland. Seit März 1992 wurden den Regionen jedoch Vollmachten erteilt, die Liberalisierungsprogramme nach ihren Vorstellungen zu modifizieren. Daraufhin führten viele von ihnen neue Preisregelungen ein, die mit teilweise erheblichen Subventionen verbunden waren. Eine beträchtliche regionale Preisdifferenzierung war die Folge, und auch die bald einsetzenden Versuche des Zentrums, die Kontrolle über den Liberalisierungsprozess durch neue normative Regelungen zurückzugewinnen, konnten die Alleingänge der einzelnen Föderationssubjekte nicht unterbinden. Auch für die anderen Liberalisierungsbereiche wie Löhne und Außenhandelsregelungen entwickelten sich regionale Unterschiede, die teils auf Sonderkonzessionen der russischen Zentralregierung, teils auf Eigenmächtigkeiten der regionalen Exekutiven beruhten. Insgesamt entstand ein Gemisch von unklaren Zuständigkeiten zwischen zentralrussischen Organen und Regionalorganen, instabilen und widersprüchlichen Gesetzgebungsakten sowie wechselnden Konstellationen im Machtverhältnis von Zentrum und Regionen. Diese Gemengelage behinderte lange Zeit eine homogene und transparente Marktwirtschaft und soll seit Beginn der Präsidentschaft Putins durch neue, für ganz Russland geltende und die Einheit des Wirtschaftsraums sichernde marktwirtschaftliche Reformen überwunden werden. Dem verstärkten Abbau reglementierender Vorschriften stehen allerdings die alten - "natürlichen", das heißt auf Kontrolle über Naturressourcen beruhenden - Monopole des Rohstoff- und Energiesektors entgegen, deren Reform nur schleppend verläuft, sowie der insgesamt zunehmende Konzentrationsgrad der russischen Wirtschaft. Gegenwärtig kontrollieren wenige große Eigentümergruppen (Jukos, Gasprom, Lukojl, Surgutneftegas, Sibneft, RAO EES Rossii, Norilskij nikel und Mobilnyje telesistemy) etwa 85 Prozent der Umsätze der privaten Kapitalgesellschaften Russlands. Innerhalb dieser Gruppen geht der Konzentrationsprozess weiter. So hat Jukos inzwischen die Mehrheitsanteile an Sibneft erworben. Privatisierung Der quantitative Erfolg des russischen Privatisierungsprogramms war beträchtlich. Durch die Mitte 1992 einsetzende "kleine" Privatisierung ging die Mehrzahl der kleinen Staatsbetriebe in private Hände über, vornehmlich durch Ausschreibung und direkten Verkauf. Daneben kam es zu zahlreichen Neugründungen kleiner Betriebe, vor allem im Dienstleistungsbereich. Auch die "große" Privatisierung (Privatisierung der staatlichen Mittel- und Großbetriebe) hat seit Ende 1992 rasche Fortschritte erzielt. Nachdem zunächst eine Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften erfolgt war, kam es zur formalen Privatisierung ganzer Betriebe oder Betriebsanteile. Der Beitrag des privaten Sektors zum russischen Bruttoinlandsprodukt wird inzwischen auf insgesamt 70 Prozent geschätzt. Trotz der Erfolge gibt es weiterhin zahlreiche, teilweise gravierende Schwachpunkte. Sie sind bedingt teils durch ungünstige systempolitische, wirtschaftsstrukturelle und makroökonomische Rahmenbedingungen, teils durch konservative Verhaltensstrukturen (marktfremde ökonomische Kultur). Eine Ursache liegt zudem im prekären Verhältnis zwischen Privatisierung und der Verbreitung aller Arten von Kriminalität in einem breiten Spektrum von Steuerhinterziehung über Korruption und Schutzgelderpressung bis zum Einsatz physischer Gewalt mit Mord als extremer Steigerung. Auch der Macht- und Einflussaspekt des Eigentums trägt dazu bei, dass die Privatisierung von Staatsbesitz im Gegensatz zu anderen Reformvorhaben unter der Präsidentschaft Putins nur langsam vorangekommen ist. Allerdings wurde im Herbst 2001 ein neues Bodengesetz verabschiedet, das Kauf, Verkauf und Beleihung von industriell genutzten Flächen prinzipiell erlaubt. Wenn sich die Regelungen dieses Gesetzes auch nur auf circa zwei Prozent der Gesamtfläche des Landes beziehen, so kommt ihnen doch eine beträchtliche Signalwirkung zu, denn damit wird zum ersten Mal seit 1917 privates Eigentum an Grund und Boden de iure wieder zugelassen. Ein neues Gesetz über staatliches und kommunales Eigentum soll die Grundlage für einen neuen Privatisierungsschub bis zum Jahre 2008 bilden. Bankwesen Die Banken in Russland haben zunehmende ökonomische Bedeutung für die marktwirtschaftliche Transformation, aber auch Schattenseiten von organisatorischen Mängeln und Dysfunktionen bis hin zur Durchmischung mit kriminellen Verhaltensweisen und organisiertem Verbrechen. Das russische Bankwesen entwickelte sich bis zu seinem Niedergang in der Finanzkrise vom August 1998 zunächst zügig und im Wesentlichen nach dem Vorbild westlicher zweistufiger Banksysteme. Seine aktuellen Probleme bestehen vor allem im zu geringen Kreditangebot für langfristige Investitionen, in nach wie vor hohen Kreditrisiken sowie in einer immer noch unzureichenden Professionalität. Gegenwärtige Reformpläne zur Gesundung des russischen Banken- und Finanzsektors sehen beschleunigte Konkursverfahren für insolvente Finanzinstitute, eine striktere Kontrolle der Großbanken und ein modernisiertes Zahlungssystem für den Interbankenverkehr vor. Das Hauptproblem für eine Reform des Banken- und Finanzsektors dürfte aber nach wie vor darin bestehen, die verabschiedeten Gesetze in der Praxis durchzusetzen, ihre Einhaltung durch die Banken zu kontrollieren und die zuständigen Kontrollbehörden sowie die verantwortlichen Rechtsprechungsorgane zu einer effizienten und neutralen (das heißt korruptionsfreien) Arbeitsweise zu befähigen. Steuersystem Das Gelingen der marktwirtschaftlichen Transformation wird wesentlich von der Leistungsfähigkeit des Steuersystems beeinflusst. Die Basis hierfür legte ein Gesetz, das Anfang 1992 in Kraft trat. Zu den wichtigsten Einnahmequellen der öffentlichen Haushalte wurden die Mehrwertsteuer, die Gewinnsteuer der Betriebe, die Einkommenssteuer und vermehrt spezielle Verbrauchssteuern wie beispielsweise auf Tabak, Alkohol und Benzin. Eine formelle Finanzverfassung, die die Einnahmequellen regelt und die Finanzbeziehungen zwischen den Staatsorganen auf den verschiedenen Verwaltungsebenen Russlands bestimmt (Finanzausgleich), wurde jedoch nicht erlassen. Statt dessen gab es eine Fülle einzelner, oft isolierter normativer Akte zur Steuergestaltung (Gesetze, Präsidentenerlasse und Regierungsverordnungen) vor allem auf nationaler, aber auch auf regionaler Ebene. Konsistenz, Stabilität und Verlässlichkeit der Abgaben- und Umverteilungsregelungen konnten damit nicht erreicht werden, und Steuerreformen wurden unabwendbar. Der erste, allgemeine Teil eines neuen Steuergesetzes ist bereits seit dem 1. Januar 2000 in Kraft. Der zweite Teil, der die konkrete Festlegung der einzelnen Steuern enthalten soll, befindet sich im Prozess der Realisierung. Mit Beginn des Jahres 2003 ist zum Beispiel die Umsatzsteuer abgeschafft worden und eine vereinfachte Besteuerung von Kleinbetrieben in Kraft getreten. Die russische Regierung verfolgt mit ihren Steuerreformplänen im Wesentlichen drei Ziele: Das Steuersystem soll institutionell konsistenter, transparenter und einheitlicher gestaltet werden. Die Wirtschaft soll durch eine Reduzierung der Steuerlastquote angekurbelt und die Bereitschaft der Unternehmer gesteigert werden, der gesetzlichen Steuerpflicht auch nachzukommen, um sichere und planbare öffentliche Finanzen zu gewährleisten. Mit einer stärkeren steuerlichen Belastung der Rohstoffsektoren zu Gunsten des verarbeitenden Gewerbes soll auch ein strukturpolitischer Effekt erzielt werden. Die Steuerreform kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn das neue Steuerrecht auch konsequent angewandt wird. Ein Blick auf die Praxis der letzten Jahre zeigt, dass es hier erhebliche Probleme gibt: Steuerzahlungen sind verhandelbar, Steuerbeamte erweisen sich oft als korrupt, Steuerzahlungen in Form von Güterlieferungen beeinträchtigen den Nutzen der Steuer, manche Unternehmer weichen in die Schattenwirtschaft aus und entziehen sich dadurch generell der Steuerpflicht. Damit das neue Steuergesetz wirksam werden kann, müssen auch hier gesellschaftliche, juristische und ökonomische Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wirtschaftspolitik unter Putin Putin strebt einen neuen Stil in der Wirtschaftspolitik an und bemüht sich, neue programmatische Inhalte durchzusetzen. Doch die bisherigen Ansätze sind widersprüchlich. Einerseits ließen seine eigenen Stellungnahmen sowie das von der Regierung unter Federführung von Wirtschaftsminister German Gref im Jahre 2000 vorgelegte umfangreiche Programm zur Neuorientierung der Wirtschaftspolitik (über einen Zeitraum von zehn Jahren) erkennen, dass ordnungspolitische Maßnahmen zur festeren Verankerung der Marktwirtschaft in Zukunft eine größere Rolle spielen sollen. Dazu gehören Reformen des Steuer- und Bankwesens sowie der Unternehmen, insbesondere durch verbesserte Insolvenzregeln, der Abbau administrativer Hemmnisse für neue Betriebe und Investitionen (auch für Ausländer), die Verbesserung der Eigentumsrechte, Fortschritte beim Bodenrecht sowie die Förderung des Wettbewerbs durch Monopolkontrolle. Diese ordnungspolitischen Maßnahmen sollen stabilitätspolitisch flankiert werden durch eine Inflationskontrolle, den Abbau des Haushaltsdefizits und die Reduzierung der Staatsquote. Andererseits sind struktur- und industriepolitische Maßnahmen vorgesehen, mit denen bestimmte Wirtschaftszweige - einerseits Teile der Schwer- und Rüstungsindustrie, andererseits Bereiche der Landwirtschaft - punktuell gefördert werden sollen. Die Weiterentwicklung und Festigung der Marktwirtschaft erfordert neben einer langfristigen Konsolidierung der politischen Autorität der Führung auch klare ordnungspolitische Ziele, das heißt die Verbesserung des institutionellen Rahmens der russischen Wirtschaft und die Absage an interventionistische Versuchungen. Die politisch-ökonomische Stabilisierung Russlands hängt aber auch davon ab, dass die russische Gesellschaft, insbesondere die politisch einflussreiche und ökonomisch strukturbestimmende Wirtschaftselite, zu einem neuen sozialen Konsens findet. Bislang ist keine die verschiedenen Gesellschaftsschichten verbindende Vorstellung eines "russischen Gemeinwohls" vorhanden, und die einflussreichen ökonomischen Akteure agieren in einem stark rentenorientierten, ja ausbeuterischen Verhalten mehr gegeneinander als miteinander. Zwar sind bei den politischen Akteuren Handlungsbereitschaft und innerhalb der russischen Eliten Anzeichen eines Umlernens erkennbar, doch wirken strukturelle Kontinuitäten und kulturelle Prägungen konservierend auf den politisch-gesellschaftlichen Status quo und verleiten zur Zuflucht in ein permanentes, ad hoc definiertes, unprofiliertes und ineffizientes "Durchwursteln". QuellentextUmweltprobleme und Umweltpolitik Auf dem Papier ist der Umweltschutz in Russland stark. Das Recht des Bürgers auf eine gesunde Umwelt wurde 1993 in die Verfassung der Russischen Föderation aufgenommen. Auch die Vorschriften zur Umweltfolgenabschätzung oder zu Umweltabgaben sind zum Teil schärfer als in Deutschland. Aber die Realität sieht ganz anders aus. Russland leistet zwar in mehrfacher Hinsicht einen hohen Nettobeitrag zur europäischen und globalen Umweltqualität: So sind riesige Gebiete praktisch vom Menschen unberührt; 65 Prozent des russischen Hoheitsgebiets werden kaum wirtschaftlich genutzt; Russland umfasst über 20 Prozent der weltweiten Wasserressourcen und 22 Prozent aller Wälder der Erde. Doch gelten etwa 15 Prozent der Landesfläche als ökologische Katastrophengebiete. Die von Russland verursachte Umweltverschmutzung hat in vielen Fällen eine grenzüberschreitende und globale Dimension erreicht, und der Großteil der Menschen in Russland lebt unter miserablen Umweltbedingungen. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung nutzt Trinkwasser, das nicht den internationalen Mindeststandards entspricht. Erkrankungen wie Cholera, Typhus und Hepatitis A, die mit dem Wasser übertragen werden, sind daher wieder auf dem Vormarsch. [...] Ein Großteil der landwirtschaftlich genutzten Böden ist mit Schadstoffen belastet; in der Folge weisen 30 bis 50 Prozent aller Lebensmittel gesundheitsschädigende Rückstände auf. Laut offiziellen Angaben leben etwa 67 Prozent der Bevölkerung in Gebieten mit einer Schadstoffbelastung der Luft oberhalb der geltenden Grenzwerte. In 40 Städten mit insgesamt rund 23 Millionen Einwohnern überschritt die Luftbelastung im Jahr 2000 die zulässigen Grenzwerte zeitweise um mehr als das Zehnfache. Das Entsorgungssystem für Industrie- und Haushaltsabfälle in Moskau und anderen Großstädten reicht nicht aus: 1,8 Milliarden Tonnen Giftmüll haben sich angesammelt, die jährliche Zuwachsrate liegt bei 108 Millionen Tonnen. Etwa 19 Prozent der Siedlungsflächen weisen Schwermetallkonzentrationen auf, die über den geltenden Grenzwerten liegen. Mineralölfirmen lassen in Russland jedes Jahr etwa 28 Millionen Tonnen Rohöl auslaufen - dies entspricht sieben Prozent der gesamten Ausbeute. Zum Vergleich: Die Menge Rohöl, die durch die Havarie der "Exxon Valdez" 1989 in die Gewässer Alaskas gelangte, war geringer als die Menge, die jeden Tag Russlands Tundra, Seen, Flüsse, Sümpfe und Wälder belastet. Die Förderverluste aus der russischen Erdgasgewinnung werden auf 50 Prozent geschätzt. Das hierbei freigesetzte und ungenutzte Methangas heizt das Weltklima zusätzlich auf. Berühmt-berüchtigt ist die Halbinsel Kola im Norden Russlands, die als die weltweit größte nukleare Müllhalde gilt. Dutzende alter Atom-U-Boote rosten an den Piers vor sich hin oder liegen irgendwo am Grund der Barents-See. Allein die russische Nordmeer-Flotte produziert jährlich etwa 2500 Kubikmeter flüssigen und rund 1000 Kubikmeter festen radioaktiven Müll, der oftmals auf alten umgebauten Tankschiffen oder einfach unter freiem Himmel gelagert wird. [...] Journalisten und Medien, die allzu kritisch über Umweltsünden berichten, riskieren mehr als nur eine Rüge: Der Präsident der russischen Umweltorganisation "Green World", Oleg Bodrow, wurde Mitte Februar dieses Jahres (2002 - Anm. d. Red.) von einem Unbekannten auf dem Nachhauseweg außerhalb von St. Petersburg brutal zusammengeschlagen, nachdem er in den Monaten zuvor immer wieder auf Gesetzesverstöße beim Betrieb von Atomkraftwerken und bei der illegalen Beseitigung von Atommüll aufmerksam gemacht hatte. [...] Das Umweltbewusstsein der russischen Bevölkerung ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einerseits gibt es eine in Sachen Umweltschutz hoch sensibilisierte Minderheit, auf der anderen Seite die große Mehrheit, die sich an keiner Umweltverschmutzung stört. [...] Das im Umweltschutzgesetz verankerte Abgabensystem soll zwar einen Anreiz zum Sparen und zur Schadstoffminimierung bieten, doch vermag es dies kaum, da die Höhe der Abgaben seit zehn Jahren nicht mehr an die Inflationsrate von inzwischen über 900 Prozent angepasst wurde. [...] Die Ziele der russischen Umweltpolitik, die im "Mittelfristigen Wirtschaftsentwicklungsprogramm für die Russische Föderation 2002 bis 2004" formuliert sind, klingen vernünftig. So sollen ökonomische Anreize für den Umweltschutz ausgebaut, das Verursacherprinzip durchgesetzt, ressourcen- und energiesparende Techniken gefördert und neue Finanzierungsmechanismen geschaffen werden. Russland soll eine aktive Rolle in der internationalen Umweltpolitik spielen. Die Europäische Kommission nimmt in ihrem aktuellen Konzept für die Umweltzusammenarbeit mit Russland hierauf Bezug. [...] Gefördert werden Umweltschutzinvestitionen und Projekte, der Know-how-Transfer im Bereich Umweltmanagement und Verwaltungsmodernisierung durch Expertenaustausch, Politikberatung, Training und Netzwerkbildung. Hierzu gibt es eine große Anzahl von Abkommen, Gremien und gemeinsamen Arbeitsgruppen zwischen Russland und der EU. [...] Bis zu 20 Milliarden Euro soll Russland in den nächsten zehn Jahren über seine G-8-Mitgliedschaft für die Entsorgung von Atommüll aus Atomwaffen erhalten.[...] Hans-Christoph Neidlein, "Ein Fass ohne Boden?", in: Internationale Politik 10/2002, S. 49 ff. Konjunktur und ökonomische Struktur Ausgewählte Wirtschaftsindikatoren 1996 bis 2003 Ungeachtet vieler ungelöster institutioneller Fragen steht die russische Wirtschaft seit 1999 im Zeichen eines im fünften Jahr anhaltenden Aufschwungs. Er hat die wichtigsten Bereiche der Sozialproduktentstehung wie Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistungen und Außenhandel ebenso erfasst wie den Konsum und die Investitionen sowie die Unternehmensgewinne, die Löhne und Gehälter. Dieser Aufschwung wirkte sich gleichermaßen auf die reale wie die monetäre Entwicklung aus und beeinflusste die Außenwirtschaft Russlands positiv. Auch die Arbeitslosigkeit ist etwas zurückgegangen. Das Wachstum verlief jedoch nicht gleichmäßig. Es vollzog sich in den einzelnen Sektoren unterschiedlich intensiv, so beispielsweise in der Industrie vorrangig im Energiesektor, und wies zudem eine schwankende Gesamtdynamik auf. Nach einem bereits guten, wenn auch unausgewogenen Start im Jahre 1999 stellte sich 2000 als ausgesprochenes Boomjahr heraus: Bei der gesellschaftlichen Wertschöpfung nahmen das Bruttoinlandsprodukt um zehn Prozent, die Industrieproduktion um fast zwölf Prozent, die Bruttoanlageinvestitionen um 17,4 Prozent und der private Verbrauch um 9,3 Prozent zu. In den Jahren 2001 und 2002 folgte eine Wachstumsverlangsamung, im Jahre 2003 eine erneute Beschleunigung, die vor allem vom Export und der Kapitalbildung getragen wird. Die positive russische Wirtschaftsentwicklung seit 1999 hat für das Land, seine Führung sowie sein internationales Umfeld eine erhebliche Bedeutung. Zum ersten Mal seit 1990 sind wirkliche Verbesserungen eingetreten, Russland erscheint nicht mehr als "abgekoppeltes Transformationsland", Meinungsumfragen ermittelten hohe Zustimmungswerte für den Präsidenten, und es ergeben sich neue Spielräume für Reformen. Auch die internationale Reputation der Russländischen Föderation, wie sie in verschiedenen "Ratings" internationaler Bewertungs- und Beratungsinstitutionen zum Ausdruck kommt, hat sich bemerkenswert erhöht. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Aufschwung von einem niedrigen Niveau ausging (Basiseffekt) und er bisher noch nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung in der veralteten Substanz der russischen Wirtschaft geführt hat. Es ist bisher auch nur teilweise gelungen, die sozialen, regionalen und sektoralen Disproportionen zu überwinden, die die Entwicklung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft bis in die Gegenwart mit negativen sozialen und politischen Auswirkungen begleitet haben. Die Struktur der russischen Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren kaum moderner geworden, teilweise nahm ihre Unausgeglichenheit zu, wobei eine starke Interdependenz zwischen sektoraler und regionaler Wirtschaftsstruktur und Außenwirtschaftsstruktur wirksam geworden ist. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich zwar die Anteile der Industrie (von 35 Prozent auf 32 Prozent) und der Landwirtschaft (von 8,5 Prozent auf sieben Prozent) reduziert, während der Dienstleistungsanteil von 50 Prozent auf 55 Prozent anstieg. Innerhalb des Industriesektors nahm die traditionelle "Schwerindustrielastigkeit" jedoch dramatisch zu. Brennstoffindustrie und Metallurgie vergrößerten ihre Anteile, während der Beitrag "moderner" Industriezweige wie Maschinenbau und Konsumgütererzeugung rückläufig war. Dies fand seine Entsprechung auch in der Struktur der Außenwirtschaft. Generell beruht der russische Außenhandel - wie zuvor der sowjetische - auf einer komplementären statt (wie für reife Industrieländer typisch) auf einer substitutiven Grundlage, das heißt, es werden Energie und Rohstoffe gegen Fertigprodukte wie Maschinen und Konsumgüter gehandelt und die Eingliederung Russlands in die intraindustrielle Arbeitsteilung bleibt relativ gering. Auf der Exportseite hat sich das traditionelle Übergewicht der Energie- und Metallexporte weiter erhöht. Der Anteil der beiden Produktgruppen an den russischen Ausfuhren stieg im vergangenen Jahrzehnt von knapp 60 auf circa 70 Prozent an. Gleichzeitig verlagerte sich die ökonomische Dynamik Russlands auf die zentralen und nordwestlichen Gebiete des Landes, die sowohl von der Erweiterung des Dienstleistungssektors als auch von der Dominanz der Rohstoff- und Energiewirtschaft profitierten. Auch in Westsibirien und der Wolgaregion haben nur Gebiete, in denen Erdöl und Erdgas gefördert werden, ihre Anteile am Bruttoinlandsprodukt steigern können. Insgesamt bilden sich in Russland neue ökonomische Kernregionen. Die Dynamik der Märkte führt zu Bedeutungsverlusten peripherer Räume wie Ostsibirien und der Ferne Osten, was wiederum mit sozialen Fragen für die dort lebende Bevölkerung verbunden ist und Wanderungsimpulse auslöst. Die trotz anhaltender Disproportionen bemerkenswerte Erholung der russischen Wirtschaft beruht zum einen auf exogenen, das heißt von der eigenen Wirtschaft unabhängigen Faktoren. Hier spielte vor allem die für Russland günstige Entwicklung des Weltrohölpreises eine Rolle, die nicht nur die Gewinnsituation im Energiesektor, sondern auch Staatshaushalt und Devisenreserven positiv beeinflusst hat. Bedeutsam war auch der starke Wertverlust des Rubels infolge der Finanzkrise von 1998 sowie der sich krisenbedingt einstellende massive Einbruch der Reallöhne um circa 30 Prozent. Alle genannten Faktoren reduzierten die Produktionskosten, begünstigten Staatseinnahmen und Unternehmensgewinne, belebten die Exporte, ließen die Importe stark zurückgehen und schafften Spielräume für die Expansion heimischer Märkte und Investitionen. In der russischen Landwirtschaft sorgten gute Witterungsbedingungen in vier aufeinander folgenden Jahren (1999-2002) für gute Resultate. Die Kostenbelastung durch den Tschetschenienkrieg schlug demgegenüber ökonomisch kaum zu Buche. Gewiss hat auch ein Putin-Effekt, eine Mischung aus Rhetorik und Manipulation der öffentlichen Meinung, entschiedenem Auftreten und ersten wirtschaftspolitischen Schritten, neben der verbesserten ökonomischen Lage zu einer spürbar optimistischen Atmosphäre beigetragen, die das Verhalten der Unternehmen bei der einen oder anderen Investitionsentscheidung beeinflusst haben mag. Insgesamt reicht das inzwischen in der Russländischen Föderation geschaffene institutionelle Gefüge aus, um die russische Wirtschaft auf Marktsignale reagieren zu lassen. Der große Wirtschaftsraum wächst aufgrund gestärkter zentraler Autorität, anlaufender Reformen und erfolgreicher Remonetarisierung der Wirtschaft nach der Finanzkrise vom August 1998 wieder zusammen und lässt einen Nachfragesog entstehen, auf den das Angebot mit Produktions- und Investitionsausweitungen reagiert. Ohne Ausbau und Festigung marktwirtschaftlicher Institutionen sowie von Instrumenten einer ordnungspolitisch adäquaten und den russischen Bedingungen angepassten Prozess- und Strukturpolitik dürften eine größere Stetigkeit der Wachstumsdynamik und mehr Gleichgewicht in den Entwicklungsproportionen aber kaum zu erreichen sein. Damit bleibt die Frage nach dem Fortschritt der ökonomischen Systemtransformation in Russland auf der Tagesordnung. Auf dem Papier ist der Umweltschutz in Russland stark. Das Recht des Bürgers auf eine gesunde Umwelt wurde 1993 in die Verfassung der Russischen Föderation aufgenommen. Auch die Vorschriften zur Umweltfolgenabschätzung oder zu Umweltabgaben sind zum Teil schärfer als in Deutschland. Aber die Realität sieht ganz anders aus. Russland leistet zwar in mehrfacher Hinsicht einen hohen Nettobeitrag zur europäischen und globalen Umweltqualität: So sind riesige Gebiete praktisch vom Menschen unberührt; 65 Prozent des russischen Hoheitsgebiets werden kaum wirtschaftlich genutzt; Russland umfasst über 20 Prozent der weltweiten Wasserressourcen und 22 Prozent aller Wälder der Erde. Doch gelten etwa 15 Prozent der Landesfläche als ökologische Katastrophengebiete. Die von Russland verursachte Umweltverschmutzung hat in vielen Fällen eine grenzüberschreitende und globale Dimension erreicht, und der Großteil der Menschen in Russland lebt unter miserablen Umweltbedingungen. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung nutzt Trinkwasser, das nicht den internationalen Mindeststandards entspricht. Erkrankungen wie Cholera, Typhus und Hepatitis A, die mit dem Wasser übertragen werden, sind daher wieder auf dem Vormarsch. [...] Ein Großteil der landwirtschaftlich genutzten Böden ist mit Schadstoffen belastet; in der Folge weisen 30 bis 50 Prozent aller Lebensmittel gesundheitsschädigende Rückstände auf. Laut offiziellen Angaben leben etwa 67 Prozent der Bevölkerung in Gebieten mit einer Schadstoffbelastung der Luft oberhalb der geltenden Grenzwerte. In 40 Städten mit insgesamt rund 23 Millionen Einwohnern überschritt die Luftbelastung im Jahr 2000 die zulässigen Grenzwerte zeitweise um mehr als das Zehnfache. Das Entsorgungssystem für Industrie- und Haushaltsabfälle in Moskau und anderen Großstädten reicht nicht aus: 1,8 Milliarden Tonnen Giftmüll haben sich angesammelt, die jährliche Zuwachsrate liegt bei 108 Millionen Tonnen. Etwa 19 Prozent der Siedlungsflächen weisen Schwermetallkonzentrationen auf, die über den geltenden Grenzwerten liegen. Mineralölfirmen lassen in Russland jedes Jahr etwa 28 Millionen Tonnen Rohöl auslaufen - dies entspricht sieben Prozent der gesamten Ausbeute. Zum Vergleich: Die Menge Rohöl, die durch die Havarie der "Exxon Valdez" 1989 in die Gewässer Alaskas gelangte, war geringer als die Menge, die jeden Tag Russlands Tundra, Seen, Flüsse, Sümpfe und Wälder belastet. Die Förderverluste aus der russischen Erdgasgewinnung werden auf 50 Prozent geschätzt. Das hierbei freigesetzte und ungenutzte Methangas heizt das Weltklima zusätzlich auf. Berühmt-berüchtigt ist die Halbinsel Kola im Norden Russlands, die als die weltweit größte nukleare Müllhalde gilt. Dutzende alter Atom-U-Boote rosten an den Piers vor sich hin oder liegen irgendwo am Grund der Barents-See. Allein die russische Nordmeer-Flotte produziert jährlich etwa 2500 Kubikmeter flüssigen und rund 1000 Kubikmeter festen radioaktiven Müll, der oftmals auf alten umgebauten Tankschiffen oder einfach unter freiem Himmel gelagert wird. [...] Journalisten und Medien, die allzu kritisch über Umweltsünden berichten, riskieren mehr als nur eine Rüge: Der Präsident der russischen Umweltorganisation "Green World", Oleg Bodrow, wurde Mitte Februar dieses Jahres (2002 - Anm. d. Red.) von einem Unbekannten auf dem Nachhauseweg außerhalb von St. Petersburg brutal zusammengeschlagen, nachdem er in den Monaten zuvor immer wieder auf Gesetzesverstöße beim Betrieb von Atomkraftwerken und bei der illegalen Beseitigung von Atommüll aufmerksam gemacht hatte. [...] Das Umweltbewusstsein der russischen Bevölkerung ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einerseits gibt es eine in Sachen Umweltschutz hoch sensibilisierte Minderheit, auf der anderen Seite die große Mehrheit, die sich an keiner Umweltverschmutzung stört. [...] Das im Umweltschutzgesetz verankerte Abgabensystem soll zwar einen Anreiz zum Sparen und zur Schadstoffminimierung bieten, doch vermag es dies kaum, da die Höhe der Abgaben seit zehn Jahren nicht mehr an die Inflationsrate von inzwischen über 900 Prozent angepasst wurde. [...] Die Ziele der russischen Umweltpolitik, die im "Mittelfristigen Wirtschaftsentwicklungsprogramm für die Russische Föderation 2002 bis 2004" formuliert sind, klingen vernünftig. So sollen ökonomische Anreize für den Umweltschutz ausgebaut, das Verursacherprinzip durchgesetzt, ressourcen- und energiesparende Techniken gefördert und neue Finanzierungsmechanismen geschaffen werden. Russland soll eine aktive Rolle in der internationalen Umweltpolitik spielen. Die Europäische Kommission nimmt in ihrem aktuellen Konzept für die Umweltzusammenarbeit mit Russland hierauf Bezug. [...] Gefördert werden Umweltschutzinvestitionen und Projekte, der Know-how-Transfer im Bereich Umweltmanagement und Verwaltungsmodernisierung durch Expertenaustausch, Politikberatung, Training und Netzwerkbildung. Hierzu gibt es eine große Anzahl von Abkommen, Gremien und gemeinsamen Arbeitsgruppen zwischen Russland und der EU. [...] Bis zu 20 Milliarden Euro soll Russland in den nächsten zehn Jahren über seine G-8-Mitgliedschaft für die Entsorgung von Atommüll aus Atomwaffen erhalten.[...] Hans-Christoph Neidlein, "Ein Fass ohne Boden?", in: Internationale Politik 10/2002, S. 49 ff. Ausgewählte Wirtschaftsindikatoren 1996 bis 2003
Article
Hans-Hermann Höhmann
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-09-13T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/russland-281/9437/wirtschaftssystem-und-oekonomische-entwicklung/
Anfang 1992 erfolgte der offizielle Start Russlands in die Marktwirtschaft mit Privatisierung und Liberalisierung. Ein großes Hindernis ist das materielle Strukturerbe der sowjetischen Planwirtschaft.
[ "Informationen zur politischen Bildung 281 Russland", "Wirtschaftssystem in Russland", "marktwirtschaftliche Transformation in Russland in den neunziger Jahren", "Wirtschaftspolitik in Russland", "Konjunktur in Russland 1999 bis 2003" ]
30,297
Ablauf und Filmgespräch | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de
Hinweise für Coaches und Lehrende Das Screening der beiden Filme, zuerst Rebel Without a Cause – Denn sie wissen nicht, was sie tun und danach Berlin – Ecke Schönhauser, ist das zentrale Element des Programms. Die Sichtung wird von einem Coach moderiert. Sollte das Screening von einem/r Lehrenden geleitet werden, übernimmt diese/r die Rolle des Coachs und sollte sich entsprechend in die Filme einarbeiten. Ein einleitendes, gemeinsames Vorgespräch wird das Vorwissen der Schüler/innen noch einmal gezielt bündeln und ergänzen. Die Einführung zu den Filmen selbst (jeweils etwa 10-15 Minuten) beinhaltet Beobachtungsaufgaben. Die weiterführenden Informationen zu den Filmen, die der/die Lehrende im Vorfeld erhalten hat, sollten nur auszugsweise vorgestellt werden, da die originäre Begegnung der Jugendlichen mit den Filmen im Vordergrund steht. Nach den Filmen findet ein ausführliches Nachgespräch (ca. 40-60 Minuten) statt, das den Schüler/innen einen Bezug zu den Filmen und auch zu ihrer eigenen Sicht auf Themen, Zeit der Handlung und weitere Filme ermöglicht. Vor dem Screening der Filme können wichtige Punkte zur Geschichte und den Filmen der 1950er-Jahre sowie zum Beruf des/der Schauspielers/Schauspielerin, des Filmschauspielers als Star oder Idol und zu den beteiligten Filmschaffenden gesammelt werden (ca. 10-15 Minuten). Mögliche Beobachtungsaufgaben In welchen Situationen und an welchen Orten werden die Jugendlichen im Film gezeigt? Welche unterschiedlichen Charaktere und Typen von Jugendlichen werden gezeigt? Achten Sie bei diesen Szenen auf die visuelle Gestaltung: Beschreiben Sie das Produktionsdesign (Schauplätze, Einrichtungen, Gegenstände, Autos). Stellen Sie die Besonderheiten der Kleidung, Frisuren und des Make-Ups dar. Was ist daran typisch für die 1950er? Wie wird das Verhältnis der Jugendlichen zu den Erwachsenen und ihrer Welt dargestellt? Gibt es unterschiedliche Formen von Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen? Achten Sie auf Konfliktsituationen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen sowie Konfliktszenen der Jugendlichen untereinander. Wie werden emotional anrührende Szenen oder Liebeszenen dargestellt? Achten Sie bei diesen Szenen auf die visuelle Gestaltung: Welche Einstellungsgrößen und welches Bildformat werden verwendet? Welche Kamerafahrten und -schwenks erkennen Sie? Wie werden Farbe beziehungsweise Licht und Schatten eingesetzt? Achten Sie auch auf die Tonebene: Welche Bedeutung hat die gesprochene Sprache? Gibt es unterschiedliche Formen von Sprache bei Jugendlichen und Erwachsenen? Wann und in welcher Form werden Geräusche und Musik eingesetzt? Welche Schauspieler/innen fanden Sie besonders eindrücklich? Beschreiben Sie, was Sie an ihren Darstellungen besonders gelungen fanden. Vergleichen Sie die Situation und das Auftreten der Jugendlichen und Erwachsenen mit der Situation heute. Kennen Sie aktuelle Filme, bei denen Jugendliche im Mittelpunkt stehen? In welcher Form wird darin das Leben von Teenagern dargestellt? Ablauf des Screenings Screening: Rebel Without a Cause – Denn sie wissen nicht, was sie tun 111 Minuten Gespräch nach der ersten Filmsichtung (ca. 10-15 Minuten) Die folgenden Fragen und Gesprächsvorschläge können auch im abschließenden Nachgespräch diskutiert und in Vergleich zum zweiten Film erörtert werden: persönliche Einschätzung der Schüler/innen Darstellung der Jugend- und Erwachsenenwelt (Verhaltensweisen, Erscheinungsbild) Darstellung der 1950er-Jahre im Vergleich zu heute (Produktionsdesign) Schauplatz Los Angeles (Stadtstruktur, Vorortsiedlungen) Funktion und Darstellung von Konfliktszenen (Polizeiwache, Jim Starks erster Schultag, Messerkampf, Autorennen, häusliche Konflikte, Szenen in der verlassenen Villa, Showdown mit der Polizei) Farb- und Lichtgestaltung, Bildkomposition (Farben mit Symbolcharakter, Breitleinwandverfahren) Kameraführung, Kameraperspektive (Schräglage bei den Konfliktszenen, Aufsicht, wenn Jim die Schule betritt; Auf- und Untersicht bei den familiären Szenen in der Villa) Musik- und Tongestaltung (Jims Anfangssummen, Musik von Rosenman bei verschiedenen Szenen) dramaturgischer Aufbau (24-Stunden-Einteilung, Autorennen als Höhe- und Wendepunkt in der Mitte des Films) Charakterisierung und Beziehungen der Haupt- und Nebenfiguren Schauspielerwahl und Formen der schauspielerischen Charakterisierung Jugendliche im Film im Vergleich zu heute (persönliche Bezüge, Bezug zu anderen Filmen) Fragerunde (Q&A) Kurze Pause vor dem zweiten Screening Screening: Berlin – Ecke Schönhauser 81 Minuten Gespräch nach der zweiten Filmsichtung, speziell zum Film und im Vergleich mit dem ersten Film (ca. 45-60 Minuten) persönliche Einschätzung der Schüler/innen Darstellung der Jugend- und Erwachsenenwelt (Verhaltensweisen, Erscheinungsbild) Darstellung der 1950er im Vergleich zu heute (Produktionsdesign) Schauplatz Berlin als geteilte Stadt (Schauplätze in Berlin Ost und West, Kriegsfolgen, Wohnsituation, Kino und Tanzlokale als Ausweichort) Funktion und Machart von Konfliktszenen (Szene unter der Hochbahn, Konflikt im häuslichen Umfeld, Verhörsituationen, Szene der Passübergabe in Berlin-West, Szenen im Auffanglager) Lichtgestaltung, Bildkomposition (dokumentarischer Charakter durch Verwendung von Schwarz-Weiß) Kameraführung, Kameraperspektive (Stadt- und Menschenansichten, Einbettung der Figuren in die Schauplätze) Musik- und Tongestaltung (Alltagsgeräusche, Einsatz von Realmusik, Filmmusik als Untermalung) propagandistische Elemente (Stufen von Dieters "Läuterung", Darstellung der Volkspolizei, Darstellung von Berlin-West; Motivation der Jugendlichen, von Ost nach West zu gehen) Charakterisierung und Beziehungen der Haupt- und Nebenfiguren Schauspielerwahl und Formen der schauspielerischen Charakterisierung Jugendliche im Film im Vergleich zu heute (persönliche Bezüge, Bezug zu anderen Filmen) Vergleich der Lebenssituation der Jugendlichen in beiden Filmen Schauspielertypus und Filmcharakter von James Dean und Ekkehard Schall im Vergleich Voraussetzungen, die einen Schauspieler zum Star oder Idol machen (Vergleich der Protagonisten Dean und Schall und Vergleich zu Schauspieler/innen anderer Filmepochen) Produktionsbedingungen der beiden Filme (amerikanisches Studiosystem, DEFA, Budget) Vergleich aktueller Jugendfilme mit den beiden gezeigten abschließende Fragerunde (Q&A)
Article
Dr. Martin Ganguly
"2022-02-25T00:00:00"
"2016-07-25T00:00:00"
"2022-02-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/231594/ablauf-und-filmgespraech/
Vor dem Screening der Filme können wichtige Punkte zur Geschichte und den Filmen der 1950er-Jahre sowie zum Beruf des/der Schauspielers/Schauspielerin, des Filmschauspielers als Star oder Idol und zu den beteiligten Filmschaffenden gesammelt werden.
[ "Jugend in den 1950ern", "Rebel Without a Cause", "Berlin – Ecke Schönhauser", "USA", "DDR" ]
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Monatsrückblick – August 2020 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Interner Link: Asylzahlen weiterhin deutlich unter Vorjahresniveau Interner Link: Streit um Landesprogramme zur humanitären Aufnahme von Geflüchteten Interner Link: Seenotrettung – auch im Ärmelkanal Interner Link: Mehr Geflüchtete in Privatwohnungen: Ergebnisse einer Studie des BAMF Interner Link: Was vom Monat übrig blieb… Asylzahlen weiterhin deutlich unter Vorjahresniveau Die Zahl der im ersten Halbjahr in Deutschland Externer Link: gestellten Asylanträge liegt deutlich unter den Vorjahren. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden im ersten Halbjahr 2020 (Januar bis Ende Juni) 54.798 Asylanträge verzeichnet, davon waren 47.309 Erstanträge und 7.489 Folgeanträge. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2019 waren insgesamt 165.938 Anträge gestellt worden, 2018 waren es 185.853. Im Juli 2020 stellten 7.588 Personen erstmals einen Antrag auf Asyl in Deutschland. Dies sind rund 38 Prozent weniger als im selben Monat im Vorjahr (Juli 2019: 12.298). Anträge wurden am häufigsten durch Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan gestellt. Auch die Anzahl der Folgeanträge lag mit 1.277 fast 30 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor (Juli 2019: 1.810). Streit um Landesprogramme zur humanitären Aufnahme von Geflüchteten Die Bundesländer Berlin und Thüringen erwägen eine gemeinsame Klage gegen den Bund, nachdem ihnen das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) Ende Juli das notwendige Einvernehmen für landeseigene Programme zur Aufnahme von Geflüchteten verweigert hatte. Die beiden durch rot-rot-grüne Koalitionen (SPD, Linke, Grüne) regierten Länder hatten eigene Programme zur humanitär begründeten Aufnahme von 500 Personen in Thüringen und 300 Personen in Berlin aus Interner Link: griechischen Flüchtlingslagern aufgelegt. Beide Länder hatten wiederholt ihre Aufnahmebereitschaft über die Zusagen des Bundes hinaus bekräftigt. Die Bundesregierung hatte entschieden, insgesamt 243 kranke Kinder und ihre Familien aus Griechenland zu übernehmen. Landeseigene Programme zur Aufnahme von Geflüchteten bedürfen Externer Link: nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 23) des "Einvernehmens" mit dem BMI. Dieses hat das Ministerium mit Hinweis auf die "Wahrung der Bundeseinheitlichkeit" bei der Aufnahme Geflüchteter abgelehnt. Während bei den Landesprogrammen aus humanitären Gründen direkt Aufenthaltstitel erteilt würden, durchlaufen Schutzsuchende bei Bundesprogrammen ein ergebnisoffenes Asylverfahren. Da die Dauer und Erfolgsaussichten einer gemeinsamen Klage unklar sind, streben einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen die Einrichtung einer Bund-Länder-Konferenz zu Regelung von Aufnahmeprogrammen an. Zudem wollen einige SPD-geführte Länder sowie die Regierung Nordrhein-Westfalens das direkte Gespräch mit Bundesinnenminister Horst-Seehofer (CDU) suchen. Dieser signalisierte Ende des Monats dafür seine Bereitschaft, betonte aber, dass die Entscheidung über die Aufnahme von Geflüchteten aus seiner Sicht eine Bundesangelegenheit sei. Zugleich wiederholte er seine Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik im Rahmen derer die Entscheidung über Asyl an die EU-Außengrenzen verlagert werden soll. Seenotrettung – auch im Ärmelkanal Immer mehr Migrantinnen und Migranten versuchen, über den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Seit Jahresbeginn sollen etwa 4.000 Menschen die Meerenge mit kleinen Booten überquert haben. Alleine im August hätten rund 1.500 Personen so die britische Küste erreicht, berichtet unter anderem die BBC. Die britische Regierung warf den französischen Behörden vor, die illegalen Überfahrten über den Ärmelkanal nicht entschieden genug zu bekämpfen. Die etwa 35 Kilometer lange Strecke gilt aufgrund ihres hohen Schiffahrtaufkommens als gefährliche Passage. Immer wieder rettet die französische Küstenwache Personen, die im Ärmelkanal in Not geraten. So wurden am 14. August 38 Menschen, unter ihnen insgesamt zehn Kinder aus Schlauchbooten gerettet, die nördlich der französischen Stadt Sangatte nahe Calais im Wasser trieben. Tags darauf wurden 31 Personen aus nicht seetauglichen Booten aufgenommen. Mitte des Monats verstärkte die britische Regierung die militärische Präsenz von Marine und Luftwaffe im Ärmelkanal. Bereits seit Herbst 2019 gibt es zudem ein Übereinkommen zwischen Frankreich und Großbritannien zur Sicherung der Grenzregion, in dessen Rahmen Großbritannien die französische Grenzschutzpolizei finanziell unterstützt. Der Grenzschutz im Ärmelkanal spielt auch für die zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU eine Rolle. Mit dem Ende einer Übergangsperiode nach dem Brexit verlässt das Land ab 2021 auch das Interner Link: Dublin-Abkommen, das Rückführungen innerhalb der EU regelt. Mehr Geflüchtete in Privatwohnungen: Ergebnisse einer Studie des BAMF Eine Studie des Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) hat die aktuelle Externer Link: Wohnsituation Geflüchteter in Deutschland untersucht. Auf Grundlage einer repräsentativen Befragung kommen die Autorinnen und Autoren zu dem Ergebnis, dass 2018 rund 75 Prozent der in Deutschland lebenden Geflüchteten in Privatwohnungen lebten – 21 Prozentpunkte mehr als noch 2016. Erklärt wird das unter anderem mit der Zahl der neu ankommenden (meist zunächst in Interner Link: Sammelunterkünften untergebrachten) Flüchtlingen, die 2018 deutlich geringer war. Die Studie legt auch offen, dass mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) nach eigenen Angaben bei der Wohnungssuche Hilfe erhielten. Bezüglich der Wohnlage zeigt sich, dass – ähnlich wie in den Vorjahren – rund 72 Prozent der Geflüchteten in Privatwohnungen 2018 in städtischen Regionen lebten. Die befragten Personen lebten in erster Linie in Mehrfamilienhäusern in Haushalten mit durchschnittlich 4,1 Personen und einer Wohnfläche von 28 m² pro Person. (Zum Vergleich: Laut Statistischem Bundesamt standen 2018 in privaten Haushalten in Deutschland im Durchschnitt rund 46 m² pro Person zur Verfügung.) Die durchschnittliche Miete wurde mit 682 Euro beziffert – etwa 13,5 Prozent mehr als drei Jahre zuvor. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Rund 38 Prozent der Befragten mussten bei der Wahl ihres Wohnsitzes Interner Link: behördliche Auflagen berücksichtigen (Residenzpflicht). Besonders hoch war dieser Anteil unter den Geduldteten, von denen nur drei Prozent ihren Wohnort frei wählen konnten. Dies hat Auswirkungen darauf, ob die Menschen in privaten Wohnungen oder Gemeinschaftsunterkünften leben: Nur 30 Prozent derjenigen, deren Wohnsitz Auflagen unterliegt, lebten 2018 in einer Privatwohnung. Was vom Monat übrig blieb… Mitte August ertranken 45 Personen vor der libyschen Küste. 37 weitere Personen konnten gerettet werden. Externer Link: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und die internationale Organisation für Migration (IOM) sprachen vom größten Schiffsunglück vor der libyschen Küste 2020 und kritisierten die rechtliche und logistische Einschränkung der Seenotrettung. Die Wiedereinführung der bayerischen Grenzpolizei im Frühjahr 2018 verstößt in Teilen gegen die Bayerische Landesverfassung. Das hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof Externer Link: Ende August entschieden. Die bayerische Grenzpolizei war durch Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) eingeführt worden und sollte vor allem Zuwanderung kontrollieren. Der Verfassungsgerichtshof dagegen argumentierte, Grenzschutz sei Aufgabe des Bundes, daher dürfe die bayerische Grenzpolizei nur im Rahmen der Amtshilfe für die eigentlich zuständige Bundespolizei agieren. 2019 wurden deutlich mehr Menschen aus Deutschland ausgewiesen als in den Vorjahren. Dies geht aus den Externer Link: Antworten der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage von Abgeordneten der LINKEN hervor. Wurden 2018 insgesamt 7.408 Personen ausgewiesen, waren es 2019 11.081 Ausweisungen. Bei einer Ausweisung wird einer Person ohne deutsche Staatsangehörigkeit der Aufenthaltstitel entzogen – z.B. dann, wenn angenommen wird, dass sie eine Straftat begangen hat. Alle Monatsrückblicke zur Migrationspoltitik finden Sie Interner Link: in unserer Übersicht.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-09-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/315236/monatsrueckblick-august-2020/
Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa.
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