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II. Volksrechte in Deutschland? Eine HerausforderungDie «Stimme des Volkes», welche die Demokratie zum Ausdruck brin-gen soll, kann sich verschieden äussern: «direkt» oder durch staatlicheOrgane «repräsentiert».8 Die meisten Verfassungen der Welt sind «reprä-sentativ», nur wenige sind dagegen auf nationaler Ebene «direkt»-demo-kratisch gestaltet. Als Paradebeispiel des ersten Typus sei die Bundesre-publik Deutschland (auf Bundesebene), als eines des zweiten Typs nach-folgend die Schweiz genannt.Ich versuche hier – mit gebotener Zurückhaltung – die Thesen zuvertreten, dass es an der Zeit wäre, dass sich die Bundesrepublik ver-mehrt direkt-demokratisch konstituiert, sich die Demokratie «demokra-tisiert». Ich glaube, dass dadurch die Akzeptanz der politischen Ent-scheidungen in Deutschland erhöht würde. Bisherige Anläufe, direkt-demokratische Institutionen ins Grund-gesetz einzufügen, sind gescheitert.9 Hauptargument gegen solcheReformen waren – so wird fast refrainartig wiederholt – schlechte Erin-nerungen an die Weimarer Zeit. Die Verfassunggebende Nationalver-sammlung hatte seinerzeit, 1919, als «Korrektiv gegen einseitige Parla-mentsherrschaft und Parteiherrschaft», Beteiligungsrechte des Volkes ander Gesetzgebung vorgesehen, die aber nie richtig zum Tragen kamen.Heute liegt Weimar weit zurück. Deutschland ist aber, um mit den Wor-ten von Georges Burdeau zu sprechen, noch immer mehr eine «démo-cratie gouvernée» als eine «démocratie gouvernante». Es schiene mir, ausder Perspektive eines Aussenstehenden, richtig, im deutschen Staatsrechtdie direkt-demokratischen Elemente auszubauen, um auf diese Weise dieAkzeptanz politischer Entscheide zu erhöhen. Was für Gründe könntennun dafür sprechen, den Status quo zu ändern? Ich nenne vier Gesichts-punkte, und viele mehr liessen sich anführen. 110Daniel Thürer8 Näheres bei Daniel Thürer, Deliberative Demokratie und Abstimmungsdemokratie– Zur Idee der demokratischen Gerechtigkeit im europäisch-staatlichen Spannungs-feld, in: ders., Kosmopolitisches Staatsrecht – Grundidee Gerechtigkeit, Band 1,Zürich und Berlin 2005, S. 41 ff.9 Vgl. hierzu Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk – Das Versagen derPolitik, 2. Aufl., München 2009, S. 359 ff.; Otmar Jung, Grundgesetz und Volksent-scheid – Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Ratesgegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994.
1. Wandel und InformationsgesellschaftDie Gesellschaft hat sich, so das Argument, in den letzten Jahrzehntenfundamental gewandelt. Den Bürgern sind, so scheint mir, in der moder-nen Bildungs- und Informationsgesellschaft grundsätzlich Sachverstandund Unbefangenheit zuzutrauen, auch über grundlegende, komplexepolitische Sachfragen unmittelbar mitzuentscheiden. Sind die deutschenBürger, so frage ich mich, im Grunde genommen nicht unterfordert,wenn sie sich darauf beschränken müssen, alle vier Jahre entweder«rechts», «links» oder «Mitte» zu wählen? Jean-Jacques Rousseau hattesich seinerzeit über die Engländer mokiert, die nur einmal alle paar Jahreeigentlich frei seien, nämlich dann, wenn sie die Mitglieder des Unter-hauses wählten. Heute fällt aber auch das Wahlrecht weitgehend insLeere. Es beschränkt sich in Deutschland, etwas überspitzt ausgedrückt,darauf, zwischen den an Fernsehduellen präsentierten Spitzenkandida-ten und ihren Parteien zu optieren und in der Folge nicht als «Volk»,sondern als «Publikum» das politische Spektakel in den Medien mitzu-verfolgen. Sollten oder könnten sich die Menschen aber nicht, als mün-dige Bürger, vermehrt «in ihre eigenen Anliegen einmischen» (MaxFrisch) und ihre Stimme zur Geltung bringen, um Missbräuche zu ver-hindern und zu korrigieren, Werte zu setzen, die Richtung des weiterenpolitischen Geschehens zu beeinflussen, Gemeinwohl- und Gerechtig-keitsanliegen zu fördern oder zu bestimmen oder einzelne Sachfragen zulösen?2. Erzieherisch-integrierende Wirkung Direkt-demokratische Rechte hätten, ins Grundgesetz eingefügt, wohlnicht dieselbe Breite und prägende Kraft, wie dies in der Schweiz tradi-tionellerweise der Fall ist. Dennoch könnten sie dazu beitragen, dieKluft zwischen Staatsmacht und Bürger zu verringern. Sie hätten insbe-sondere einen staatsbürgerlich-erzieherischen Wert. Natürlich ist es so,dass gerade in Staaten mit einem weit ausgebauten demokratischen Sys-tem Bürger oft der Urne fernbleiben, und oft sind sie nur ungenügendinformiert. Auch sind wir weit vom Idealbild der Demokratie entfernt,wie es Perikles in der bereits genannten Gefallenenrede entworfen hatte,wonach die demokratische Kultur den Sinn für das Schöne und den111Sine ira et studio oder: cum ira et studio
Geist mit wirksamer Tat zu verbinden vermöge, und auch in staatlichenDingen keiner ohne Urteil sei. Die Wirklichkeit der Abstimmungsde-mokratie zeigt, im Gegensatz zum Idealbild der Demokratie, in deröffentlichen Meinungsbildung auch häufig einen Mangel an deliberativerQualität. Immerhin ergäbe aber, bemerkte der Schweizer StaatsrechtlerJean-François Aubert, die Annahme, dass sich von 20 Stimmbürgern inder Schweiz nur einer die Mühe gäbe, sich über die Vorlagen ins Bild zusetzen, 200 000 Bürger, die über Staatsgeschäfte informiert wären; diedemokratischen Rechte seien aber «un excellent moyen d’éducation civi-que et d’intégration au pays». Dasselbe gälte auch, «mutatis mutandis»,für Deutschland.3. Qualität des DeliberationsprozessesDie Güte der Demokratie bemisst sich mitunter an der Qualität derDeliberationsprozesse. Grundsätzlich lässt sich wohl festhalten, dass dieBehörden sorgfältiger und eingehender deliberieren, ihre Argumenteverständlicher darlegen und dass die Gesetze einfacher gestaltet werden,wenn Beschlüsse in einer zweiten Runde der demokratischen Willens-bildung noch der Volksabstimmung unterstehen und vor einer breitenÖffentlichkeit noch erörtert werden müssen. In unserem Zusammen-hang ist aber vor allem auch die Tatsache bedeutsam, dass – wie sich derseinerzeit in Tübingen und später in Zürich lehrende Staatsrechtler FritzFleiner ausdrückte – die Volksinitiative als «Antrag des Volkes an dasVolk» den Gedanken des Verfassungsdialogs institutionell verkörpert:des von den Initianten lancierten Vorschlags einer Gruppe von Bürgernan die Gesamtheit der Mitbürger, wobei die Behörden sich im Wesentli-chen mit der Rolle eines Schiedsrichters begnügen oder sich, mittelsGegenvorschlägen oder Abstimmungsempfehlungen, selbst in denAbstimmungsvorgang einschalten.4. Finanzwirtschaftliche VorzügeNicht zu missachten sind sodann die finanziellen Aspekte der direktenDemokratie. Es ist evident und empirisch erhärtet, dass Volksrechte ten-denziell eine sparsame und effiziente Wahrnehmung der öffentlichen112Daniel Thürer
Angelegenheiten durch die Behörden sowie relativ niedrige Staatsquotenund eine geringe Verschuldung der öffentlichen Hand begünstigen, wäh-rend die Volksvertreter eher der Versuchung von «Beglückungsvorla-gen» (Theodor von Eschenburg), ja sogar einer sich selbst begünstigen-den Kastenbildung zu erliegen scheinen. In der Schweiz ist das Finanz-referendum, das zwar nicht der Bund, aber alle Kantone kennen, ein«Sparinstrument» par excellence. In Deutschland haben die Finanzpro-bleme angesichts der Eurokrise andere, schwindelerregende Dimensio-nen angenommen, und was ich bisher sagte, mag vor dem neuesten,finanzpolitischen Hintergrund vielleicht als idyllisch vorkommen. Den-noch glaube ich, dass mehr Demokratie Deutschland davor hätte bewah-ren können, in unermessliche Verschuldung abzugleiten, und es ist mei-nes Erachtens ein grosses Verdienst des Bundesverfassungsgerichts, hierzumindest einer weitestgehenden Erosion der finanzpolitischen Kompe-tenzen des Bundesparlamentes einen Riegel geschoben zu haben. III. Direkte Demokratie in der Schweiz: Modell, aber korrekturbedürftigDie direkte Demokratie hat sich in der Schweiz im Grossen und Ganzenbewährt. Sie ist Teil der Identität des Landes, seiner «raison d’être». Siekann aus der Schweiz nicht weggedacht werden. Sie hat beachtlicheResultate produziert. Ich denke etwa an folgende Reformen des Staats-systems, die ihren Ursprung in bahnbrechenden Volksinitiativen hatten:– Einführung des Proporzsystems für die Wahl des Nationalrates(1919);– Abschaffung des im Zweiten Weltkrieg bestehenden Vollmachten-regimes und «Rückkehr zur Demokratie» (1947);– Entstehung des Kantons Jura (1979), der aus einer in derGeschichte des Selbstbestimmungsrechts einmaligen, fast uhrwerk-mässig ablaufenden Kaskade von Plebisziten hervorgegangen ist;– Beitritt zu den Vereinten Nationen (2002): eine Initiative, die mass-geblich auch von Studentinnen und Studenten getragen war.Interessant ist auch etwa, dass Projekte wie die Neugestaltung des Bahn-hofes von Zürich trotz vieler Fragwürdigkeiten nie zu politischen Zer-reissproben führten. Ein Grund war wohl, dass einzelne Teilentscheide113Sine ira et studio oder: cum ira et studio
unter Einbezug direkt Interessierter von den zuständigen Behörden imBund gefällt wurden und andere Teilentscheide in Kanton und Gemein-den dem (obligatorischen oder fakultativen) Finanzreferendum unter-standen. Auf diese Weise wurden Etappe für Etappe, in Bund, Kantonund Gemeinden betroffene Kreise direkt oder indirekt in die Projekt-planung und Projektumsetzung einbezogen und möglichen Projektgeg-nern Gründe zur späteren Opposition von vornherein entzogen. Bemer-kenswert ist ferner, dass sich das Bundesparlament, als Folge einerVolksinitiative (der sogenannten «Abzockerinitiative»), nun mit Ände-rungen im Aktienrecht zur Bekämpfung missbräuchlicher, exzessiverEntlöhnung von Managern befasst, die weit über die ursprünglich vor-gesehenen Revisionen hinausgehen.Es sind allerdings in letzter Zeit auch «Entgleisungen» (wie ichmeine) direkt-demokratischer Entscheide zu verzeichnen. Ich denkeetwa an die Annahme einer Volksinitiative, durch die der Bau von (wei-teren) Minaretten in der ganzen Schweiz verboten werden sollte (2009);zwei Staatsrechtler reagierten allerdings, indem sie das Projekt lancier-ten, den Minarettartikel in der Bundesverfassung durch einen Toleranz -artikel zu ersetzen.10 Ich denke auch etwa an die sogenannte Ausschaf-fungsinitiative mit ihren undifferenzierten Vorschriften zur Ausweisunggewisser schematisch umschriebener Kategorien von Ausländern; in die-sem Fall formulierte das Parlament einen sogenannten Gegenvorschlag.Es sollte damit von der Möglichkeit zum Entscheid über Alternativfra-gen Gebrauch gemacht werden: einer interessanten Spielart direkt-demokratischer Entscheidverfahren. Im vorliegenden Fall wurde –bedauerlicherweise – der Text der Volksinitiative angenommen; der Sta-tus quo und der Gegenvorschlag fanden im Jahr 2010 keine Mehrheit inVolk und Ständen.Wir müssen in der Schweiz nun Verfahren suchen, mit denenVolksinitiativen verhindert werden können, die Grundprinzipien der«rule of law» widersprechen. Es sollte dabei, wie ich meine, nicht vorallem um eine Sicherung des Vorrangs des Völkerrechts als solchengehen. Vielmehr sollten elementare Prinzipien, die der Rechtsstaatlich-114Daniel Thürer10 Jörg Paul Müller und Daniel Thürer, Toleranz als Bedingung religiöser Freiheit imZusammenleben fehlbarer Menschen, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht2011/I, S. 287 ff.
keit als solcher immanent sind und ihr Kohärenz verleihen, den Volks-entscheiden Mass und Schranken vorgeben. Ich denke etwa, neben denGrundrechten, an Grundprinzipien jeden Rechtssystems wie das Will-kürverbot oder das Verhältnismässigkeitsprinzip. Es ginge hier, näherbetrachtet, auch nicht eigentlich um «Schranken» der direkten Demo-kratie, denn die genannten Prinzipien gehören zum Grundkonsens desRechtsstaates, dem das Volk in der Verfassung Ausdruck gegeben hat.11Da Volksinitiativen – zweckentfremdet – immer häufiger zur Pro-paganda für partikuläre politische Ziele und zur medienwirksamenMobilisierung der Bevölkerung missbraucht werden, besteht die Gefahrreisserischer, unsachlicher und unausgewogener Initiativtexte, die alssolche nicht in eine Verfassung gehören.Entscheidungen in der Demokratie müssen nicht nur «akzeptabel» sein,sie müssen auch der «Vernunft» entsprechen. Thomas Paine, der ein-flussreiche Vordenker der amerikanischen Verfassung, sprach seinerzeitvon «common sense» als einer Verbindung von «interest, reason andsentiment», und er schrieb: «However prejudice may warp out wills, orinterest darken our understanding, the simple voice of nature and reasonwill say, it is right.»12 Recht bedeutet im Gegensatz zu den Naturwis-senschaften aber nicht, wie John Rawls darlegte, «scientific truth outthere», sondern vielmehr «institutionalizing public reason», um dieMenschen in die Lage zu versetzen, friedlich zusammenzuarbeiten undihre individuelle und demokratische Selbstentwicklung zu verwirkli-chen, dies als ein «public good».13 Direkt-demokratische Institutionen115Sine ira et studio oder: cum ira et studio11 Vgl. Daniel Thürer, Völkerrechtliches Ius Cogens und Volkssouveränität schweize-rischer Prägung – Suche nach einem neuen «archimedischen Punkt», in: AndreaGood / Bettina Platipodis (Hrsg.), Direkte Demokratie, Festschrift für AndreasAuer, Bern 2013, S. 439 ff.; ders., Direkte Demokratie: eine Form des Widerstands?,in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Widerstand, Beiträge auf der 13. SpeyererDemokratietagung vom 27./28. Oktober 2011, Schriftenreihe der HochschuleSpeyer, Bd. 215, 2012; ders., Integrative Beziehung von Völkerrecht und Landes-recht. Zu einem neuen, wegweisenden Entscheid des schweizerischen Bundesge-richts (im Erscheinen begriffen).12 Thomas Paine, Common Sense – Of the Origin and Design of Government inGeneral – With concise Remarks on the English Constitution, in: Mark Philip,Rights of Man – Common Sense and Other Political Writings, Oxford 2008, S. 7.13 So Ernst-Ulrich Petersmann, International Economic Law in the 21st Century:Need for Stronger «Democratic Ownership» and Cosmopolitan Reforms, Manus-
sind allerdings nicht immer ein taugliches Mittel, um «common sense»und «common reason» zu fördern. Deutschland sollte dem «commonsense» seiner Bürger mehr Raum geben und Vertrauen schenken. Umge-kehrt meine ich, dass die Schweiz ernsthaft Verfahren prüfen soll, derdem Verfassungsrecht immanenten «public reason» und «political fair-ness» effektiver zur Nachachtung zu verhelfen.Direkte Demokratie ist aber getragen von politischen Rechten derBürger, den sogenannten Volksrechten. Im Zentrum steht der «Aktivbür-ger», der «citoyen actif», wie er von Sieyès – man lese den aufschlussrei-chen Aufsatz von Alois Riklin14 – im Laufe der Französischen Revolu-tion so prägnant umschrieben wurde. «Vernunft» appelliert an den Intel-lekt. Demokratie aber bedeutet auch «Empörung» («indignation»),«Engagement» («compassion») und «Solidarität» («fraternité» in derDiktion der Französischen Revolution).15 Herbert Wille verkörpertebeide Seiten der direkten Demokratie: die intellektuelle und die affektive.Das Feld ist offen für viele spannende Diskussionen über weitereEntwicklungen der Demokratie im Rahmen des Staatsrechtes, des Euro-parechts und des Völkerrechts. Francis Fukuyama fand: «The alternativenarrative is out there, waiting to be born».16116Daniel Thürerkript 2012, S. 1; John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge Mass., revised edition1999, S. 3.14 Sieyès und die Helvetik, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Band 131 (2012)I, Heft 3, S. 233–254.15 Vgl. etwa Daniel Thürer, Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feu-dalismen, Zürich und St. Gallen 2011, S. 17. 16 Francis Fukuyama, The Future of History – Can Liberal Democracy Survive theDecline of the Middle Class?, in: Foreign Affairs January/February 2012, S. 61.
Besonderheiten der RechtskontrolleSiegbert MorscherI. EinführungDer Jubilar hat sich von der – ich meine: sehr «gehobenen» – Praxiskommend frühzeitig mit wissenschaftlichen Fragestellungen befasst undseine Berufslaufbahn als Mitglied der scientific community beendet.1Deshalb möchte ich ihm einen Beitrag zu seinem runden Geburtstagwidmen, der nicht nur praktisch und rechtsdogmatisch, sondern auchrechtstheoretisch von zentraler Bedeutung ist, und zwar für die konkreteAusgestaltung des rechtsstaatlichen Bauprinzips jeder Staatsverfassung.II. Rechtstheoretischer RahmenDen folgenden Ausführungen lege ich theoretische Annahmen zu -grunde, wie sie insbesondere von der Reinen Rechtslehre,2 namentlichder Wiener Rechtstheoretischen Schule Hans Kelsens entwickelt wur-den.31171 Als letztlich doch Aussenstehender möchte ich nicht darüber spekulieren, inwieweitfür diese Entwicklung auch «Zwangselemente» im Gefolge der erfolgreichenBeschwerde beim EGMR (s. EGMR 28. 10. 1999, EuGRZ 2000, 475 ff. = ÖJZ 2000,647 ff.) massgeblich gewesen sein mögen. Für die Wissenschaft vom öffentlichenRecht war und ist es jedenfalls ein Glücksfall.2 Siehe namentlich Weyer und die Brünner Schule, dazu etwa Kubes/Weinberger(Hrsg.), Die Brünner rechtstheoretische Schule, Bd. 5 der Schriftenreihe des HansKelsen-Instituts (1980) sowie weitere Bände der genannten Schriftenreihe.3 Siehe dazu Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) sowie Walter, Der Aufbau der Rechts-ordnung2 (1974).
A. Ein zentrales Element derselben bildet die Lehre vom Stufenbauder Rechtsordnung.4 Danach ist das Recht – jedenfalls des Staates vonheute – nicht ein System gleichrangiger Normen, sondern durch ver-schiedene Stufen gekennzeichnet. Dabei ist jedenfalls der Stufenbau nachder rechtlichen Bedingtheit und nach der derogatorischen Kraft zuunterscheiden.5B. Staatsverfassungen pflegen zwar strikt zwischen Rechtserzeugungund Rechtsanwendung/Vollziehung zu unterscheiden, eine Rechtsord-nung vermag aber diese theoretische Differenzierung nicht voll umzu-setzen. Jeder Akt der Rechtsanwendung enthält deshalb auch rechtser-zeugende Elemente.6 In Anlehnung an Merkl ist es üblich geworden,vom «doppelten Rechtsantlitz»7 solcher rechtsdogmatisch der Vollzie-hung zuzuordnenden Akte zu sprechen.C. Jede Rechtsordnung, insbesondere die heutige ist gekennzeichnetdurch Kompliziertheit, aber auch durch systematische Verknüpfung dereinzelnen Elemente, wobei auch Zuständigkeits-, Verfahrens- undinhaltliche Regelungen teils ineinandergreifen. Das führt zur Einsicht,dass es menschliches Bemühen übersteigt bzw. übersteigen würde,8 alleBedingungen des Zustandekommens eines Zwangsaktes vollständig zubeschreiben.9118Siegbert Morscher4 Wie Kelsen selbst hervorhebt, hat wichtige Bausteine dazu Merkl beigetragen, siehedazu Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht (1927), S. 157 ff.; ders., Prolegomenaeiner Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: FS Kelsen (1931), S. 252 ff., die zuletztgenannte Arbeit wieder abgedruckt in: Klecatsky/Marcic (†)/Schambeck (Hrsg.),Die Wiener rechtstheoretische Schule2 (2010), Bd. 2 S. 1071 ff.5 Siehe Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung2, S. 53 ff.; Koja, Allgemeines Verwal-tungsrecht3 (1996), S. 73 ff.; Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss desösterr. Bundesverfassungsrechts10 (2007), S. 3 f.6 Siehe Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 172; Kelsen, Reine Rechtslehre2,S. 240 und passim; Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung2, S. 45.7 Siehe neben Fn. 6 insbesondere Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, JBl 1918,S. 425 ff., 444 ff. und 463 ff., wieder abgedruckt in: Klecatsky/Marcic (†)/Schambeck(Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule2, Bd. 1 S. 893 ff.8 Dies, sofern man versuchen sollte, dennoch das Problem zu bewältigen.9 Siehe wiederum insbesondere Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung2, S. 18.
III. Einordnung in den Stufenbau der RechtsordnungA. Auch die Einrichtungen der Rechtskontrolle lassen sich in den Stu-fenbau einer Rechtsordnung einordnen. Angesichts der «Unableitbar-keit der Stufenordnung der derogatorischen Kraft aus jener der rechtli-chen Bedingtheit»10 ist das hinsichtlich beider Sichtweisen nicht nurmöglich, sondern differenzierend erforderlich.B. Dies gilt sowohl für jene Rechtsvorschriften, welche die verwal-tungs- bzw. gerichts-«internen» Einrichtungen der Rechtskontrollekonstituieren, wie auch jene, die die «Fremdkontrolle» ausmachen.Am alltäglichen Beispiel von Berufungsentscheidungen in Verwal-tungssachen soll dies kurz skizziert werden. Mit Blick auf die rechtlicheBedingtheit sind sie – ebenso wie die erstinstanzliche Bescheiderlassung– auf Grundlage von Bundes- bzw. auch Landesverfassungs- und ein-fachgesetzlichem Recht ergangene Akte der Vollziehung.11 Gleiches giltauch aus Sicht des derogatorischen Ranges. Um dem Prinzip «Obersticht Unter» zum Durchbruch zu verhelfen, reicht aber wohl die Ein-führung des Grundsatzes «lex posterior derogat legi priori»12 nicht. Viel-mehr ist anzunehmen, dass aus Sicht des derogatorischen Ranges inner-halb der Verwaltungsvollzugsebene zu differenzieren wäre: Berufungs-bzw. nunmehr Beschwerde-Entscheidungen käme höherer Rang zu alserstinstanzlichen.13C. Besonders vielschichtig ist das Differenzierungserfordernis bezüg-lich der einzelnen Zuständigkeiten des österreichischen VfGH bzw. des119Besonderheiten der Rechtskontrolle10 So die Überschrift des letzten Teiles von Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung2,S. 67 f.11 Bis zum Ablauf des 31. 12. 2013 ausgehend von Verwaltungsbehörden, dann vonden Landesverwaltungsgerichten bzw. vom Bundesverwaltungs- bzw. Bundesfi-nanzgericht – insofern geht damit das Element des «Internen» verloren.12 Nicht – wie zunächst von Kelsen erwogen – als rechtstheoretisches Prinzip, sondernals aus der positiven Rechtsordnung abgeleiteter Normbefehl.13 Ähnlich wie etwa bei Durchführungsverordnungen auf Grundlage des Art. 18Abs. 2 B-VG bzw. Art. 92 Abs. 2 der FL Verfassung (siehe etwa Stotter, Die Ver-fassung des Fürstentums Liechtenstein2 [2004], S. 526 ff.), wo etwa im Universitäts-recht Verordnungen auf Grundlage von Verordnungen üblich sind; besonders aus-geprägt ist dieses Phänomen auf dem Sektor der Raumordnung (überörtliche unddann noch die reich gegliederte örtliche).
StGH. Ich möchte das anhand des Art. 138 Abs. 2 B-VG und desArt. 144 Abs. 1 B-VG kurz vorführen.1. Nach der rechtlichen Bedingtheit handelt es sich bei Wahrnehmungder Kompetenz des VfGH als Kompetenzfeststellungsinstanz gemässArt. 138 Abs. 2 B-VG um ein Urteil eines Gerichtes auf Grundlage derBundesverfassung und bundesgesetzlicher Anordnungen, also um einenAkt der Vollziehung.Bedenkt man aber dessen derogatorische Kraft, steht er nicht nurauf der Stufe eines – einfachen – Bundesgesetzes, sondern es kommt ihmder Rang von Bundesverfassungsrecht zu; der VfGH wird hier (sogar)als «positiver Bundesverfassungsgesetzgeber» tätig, da er das Ergebnisseiner Kognition in einem – allgemein verbindlichen, auf Verfassungs-stufe angesiedelten – Rechtssatz zusammenzufassen hat.142. Für die Zuständigkeit des VfGH, Bundes- bzw. Landesgesetze aufihre Verfassungsmässigkeit überprüfen und ggf. aufheben zu können,gilt aus Sicht der rechtlichen Bedingtheit das Gleiche wie bei III.C.1.(Art. 138 Abs. 2 B-VG). Gleiches gilt für die Gesetzesprüfungskompe-tenz des FL StGH auf Grundlage des Art. 104 Abs. 2 FL Verfassungi. V. m. dem StGHG.15Nach seiner derogatorischen Kraft ist das Urteil aber – jedenfallsim Falle einer Gesetzesaufhebung – auf Gesetzesstufe, bei Prüfung vonVerfassungsgesetzen – siehe VfSlg 16.327/2001 – auf Verfassungsstufeanzusiedeln.IV. Präjudizialität von RechtsvorschriftenDieses Thema soll anhand der Gesetzesprüfung abgehandelt werden.Gleiche bzw. zumindest ganz ähnliche Konstellationen liegen bei der120Siegbert Morscher14 Siehe im Einzelnen etwa Morscher, Zur Kompetenzfeststellung gemäß Art. 138Abs. 2 B-VG, ÖJZ 1996, S. 881 ff.15 Siehe etwa Herbert Wille, Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht aufder Grundlage der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes (1999) S. 75 und passim;Stotter, Die Verfassung (Fn. 13), S. 569 ff. und 749 ff.; siehe auch Tobias MichaelWille, Liechtensteinisches Verfassungsprozessrecht (2007).
Prüfung von Verordnungen bzw. Wiederverlautbarungsakten vor, dochkann dies hier nicht im Einzelnen behandelt werden.Nochmals sei hervorgehoben, dass – abgesehen von den Grenzfäl-len Voraussetzung der Grundnorm und Vollstreckung des Zwangsaktes– aus rechtstheoretischer Sicht «jeder Rechtsakt zugleich die Anwen-dung einer höheren Norm und die durch diese Norm bestimmte Erzeu-gung einer niederen Norm» ist.16A. Österreich17In Anwendung genereller Rechtsnormen – im Sinne der von Walter vor-geschlagenen Terminologie: Rechtsvorschriften – «erfolgt die Erzeugungder individuellen Normen durch richterliche Entscheidungen und Ver-waltungsbescheide.»161.a. Das Modell der österr. Verfassungsgerichtsbarkeit18 wurde im Bun-des-Verfassungsgesetz19 vom 1. 10. 1920, BGBl. 1920/1, in extremstemSprach-Minimalismus und unübertreffbarer Klarheit20 in Art. 140 Abs. 1B-VG formuliert; diese Verfassungsbestimmung lautete wie folgt:121Besonderheiten der Rechtskontrolle16 Kelsen, Reine Rechtslehre2, S. 240.17 Siehe insbesondere Walter, Verfassung und Gerichtsbarkeit (1960), S. 137 ff.; ders.,Österreichisches Bundesverfassungsrecht (1972), S. 736 f., 747 f.; Klecatsky/Mor-scher, Das österreichische Bundesverfassungsrecht3 (1982), S. 659 ff.; Schäffer,Art. 140 B-VG, Rz. 58, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht;Spielbüchler, «… anzuwenden hätte, …», in: FS Adamovich (2002), S. 743 ff.; Rohr-egger, Art. 140 B-VG, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesver-fassungsrecht, S. 65 ff. (Rz. 113 ff.); Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundrissdes österreichischen Bundesverfassungsrechts10, S. 535 ff. (Rz. 1158).18 Siehe die Hinweise etwa bei Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss desösterreichischen Bundesverfassungsrechts10, S. 496 ff.; Gamper, Staat und Verfas-sung2 (2010), S. 179 f; hervorheben möchte ich insbesondere Kelsen, Wesen undEntwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 ff.; Cappelletti,Judicial Review in the Contemporary World (1971), S. 69 ff.; Korinek, Die Verfas-sungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff.;Öhlinger, Die Entstehung und Entfaltung des österreichischen Modells der Verfas-sungsgerichtsbarkeit, in: FS Adamovich (2002), S. 581 ff.; Häberle, Funktion undBedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005,S. 685 ff.19 B-VG.20 Das wegen seiner klaren Sprache und Systematik vielgerühmte ABGB erscheintdemgegenüber trotz seiner Aufgeklärtheit und seines Rationalismus fast als ge -schwätzig.
«Der Verfassungsgerichtshof erkennt über Verfassungswidrigkeitvon Landesgesetzen auf Antrag der Bundesregierung, über Verfas-sungswidrigkeit von Bundesgesetzen auf Antrag einer Landesre-gierung, sofern aber ein solches Gesetz die Voraussetzung einesErkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes bilden soll, von Amtswegen.»21Der für den Kontext zentrale Verfassungstext stellte also darauf ab, obein Bundes- oder Landesgesetz bzw. ein Teil eines solchen «die Voraus-setzung» eines Erkenntnisses des VfGH bilden soll.1.b. Zwar nicht von allem Anfang an, jedoch in weiterer Folge stelltedie Rechtsprechung des VfGH – offenkundig in Anlehnung an die ver-fassungsrechtlichen Regelungen der Art. 89, 139 und 140 B-VG betref-fend Gerichtsanträge – darauf ab, ob er – nämlich der VfGH – eine «ver-dächtige Norm» «anzuwenden hätte».221.c. Durch die B-VG-Novelle BGBl. 1975/302 «erfolgte eine verbaleBerücksichtigung dieser Rechtsprechung und eine systematische Verein-heitlichung mit Art. 89 B-VG.»23Damit wurde zwar der Wortlaut der Bundesverfassung nichtunwesentlich verändert, in der Sache ist aber hinsichtlich der Präjudizia-lität24 «alles gleich geblieben». Was schon für sich allein zu denken gebenmuss, ist doch der Wortlaut einer Rechtsvorschrift, namentlich auf Verfassungsstufe, Anfangs- und Endpunkt juristischer Interpretations-künste. Besonders deutlich wird damit aber, dass der Sinngehalt gesetz-geberischer Akte (fast) immer nur aus dem historischen Kontext er -schliess bar ist. 122Siegbert Morscher21 Dazu Kelsen/Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (1922),S. 258 ff.22 Das ist im Einzelnen gar nicht so leicht nachzuverfolgen, hilfreich jedoch Wer-ner/Klecatsky, Das österreichische Bundesverfassungsrecht (1961), S. 250 ff., 261 ff.;Klecatsky, Das österreichische Bundesverfassungsrecht2 (1973), S. 456 ff., 472 ff.;Klecatsky/Morscher, Das österreichische Bundesverfassungsrecht3 (1982), S. 643 ff.,659 ff.; zum aktuellen Stand Schäffer und Rohregger in Fn. 17.23 So Klecatsky/Morscher (Fn. 22), S. 659.24 Dieses Wort findet sich in der Bundesverfassung nicht.
2. Nun soll auf die Präjudizialität gesetzlicher Regelungen bei amts-wegigen Gesetzesprüfungsverfahren eingegangen werden. Denn hierzeigen sich Besonderheiten, die bei Gesetzesprüfungsanträgen vonGerichten zwar teilweise auch auftreten – dies gilt jedenfalls für Geset-zesprüfungsanträge des VwGH aufgrund von Bescheidbeschwerden25 –,aber in gleicher Weise zu lösen sind wie die hier zu behandelnde Frage.2.a. Bescheidbeschwerden gemäss Art. 144 B-VGa.a. Diese werden nicht nur deshalb an die Spitze gestellt, weil sie einenganz erheblichen Teil der vom VfGH zu erledigenden Fälle betreffen,sondern weil anhand deren ein spezifisches rechtsstrukturelles Problemzutage tritt.Was die Zahl der Bescheidbeschwerden betrifft, so handelte es sichbei ihnen über Jahrzehnte um ca. drei Viertel der vor den VfGHgebrachten Fälle; eingerechnet waren dabei auch die so genannten Asyl-fälle.Mit Art. I Z 35 des BVG BGBl. I 2008/2 wurde Art. 144a B-VGneu geschaffen, wonach der VfGH über Beschwerden gegen Entschei-dungen des Asylgerichtshofes26 zu entscheiden hat, soweit derBeschwerdeführer durch die Entscheidung in einem verfassungsgesetz-lich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung bestimmter rechts-widriger genereller Akte in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.b.b. Durch die «Vorschaltung» eines spezifischen «Sonder-Verwal-tungsgerichtshofes» ergeben sich nicht nur neue und spezifische rechts-strukturelle Besonderheiten, vielmehr ergibt sich im Hinblick auf die123Besonderheiten der Rechtskontrolle25 Nicht gilt dies für Säumnisbeschwerden; wozu es zu bemerken gilt, dass mir keinFall bekannt ist, in welchem der VwGH aufgrund einer Säumnisbeschwerde beimVfGH einen Gesetzesprüfungsantrag gestellt hat. Bei «Weisungsbeschwerden» (Art. 81a Abs. 4 B-VG i. V. m. dem letzten Satz desArt. 130 Abs. 1 B-VG) dürfte die Präjudizialitätsproblematik gleich liegen wie beiBescheidbeschwerden.Hinsichtlich der Zuständigkeit des VwGH gemäss § 11 AHG dürfte im Ergebnisdas Gleiche gelten, obwohl nur eine Feststellung der Rechtswidrigkeit einesBescheides, nicht jedoch dessen Aufhebung infrage kommt. Insofern besteht imÜbrigen eine Parallele zur Praxis des VfGH, in bestimmten Fällen – insbesonderebei langer Verfahrensdauer – allein mit Feststellung vorzugehen.26 Mit Art. I Z 28 des im Text genannten BVG wurde Abschnitt B (Art. 129c bis 129fB-VG) betreffend den Asylgerichtshof in das B-VG eingefügt.
Aufteilung in «übliche» und in Asyl-Beschwerdesachen ein völlig verän-dertes statistisches Bild:272009 282010 292011 302012neu anhängig gesamt 5489 5133 4400 4643Art. 144 B-VG 1596 1800 1514 1593(29,08%) (35,07%) (34,41%) (34,31%)Art. 144a B-VG 3449 2911 2578 2770(62,83%) (56,71%) (58,59%) (59,66%)Mehr als 90 Prozent der an den VfGH herangetragenen Fälle betreffensomit nunmehr Beschwerden.c.c. Der transitorische Charakter mancher Verfassungsbestimmung istgeradezu evident, zumal in Österreich, dessen Bundesverfassung mehrals «beweglich»31 gilt. Gemäss Art. 1 Z 78 der Verwaltungsgerichts -barkeits-Novelle 201232 entfällt nämlich Art. 144a B-VG, und zwar mit1. Jänner 2014.33Es erübrigt sich daher, näher auf die sich hier34 aus Art. 144a B-VGergebende Konstellation einzugehen.d.d. Nach der jahrzehntelangen ständigen Rechtsprechung desVfGH und des adaptierten Wortlautes des Art. 144 Abs. 1 B-VG ist beiaus Anlass von Bescheidbeschwerden amtswegig eingeleiteten Gesetzes-prüfungsverfahren massgeblich, ob der VfGH eine gesetzliche Regelung«anzuwenden hätte».35Rechtsanwendung bedeutet rechtstheoretisch aber die Erzeugungneuen, niedrigrangigeren Rechts auf Grundlage höherrangiger Normen,124Siegbert Morscher27 Tätigkeitsbericht VfGH 2009, S. 34.28 Tätigkeitsbericht VfGH 2010, S. 49.29 Tätigkeitsbericht VfGH 2011, S. 55.30 Tätigkeitsbericht VfGH 2012, S. 58.31 Siehe etwa Gamper, Staat und Verfassung2, S. 34 und 58 ff.; zu meiner Studienzeitwar in Anlehnung insbesondere an Duguit von «biegsamer» Verfassung die Rede.32 BGBl. I 2012/51.33 Siehe Art. I Z 84 sub Z 6, letzter Satz des genannten BG.34 Siehe jedoch zur rechtsstrukturellen Frage nach dem verletzten Recht, wonach Art.144a B-VG eine allgemeinere Bedeutung zukommt.35 Gemäss Art. I Z 69 der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. 2012/51,bleibt es auch ab 1. 1. 2014 insofern «beim Alten».
hier auf Gesetzesstufe, so wie das etwa durch Bescheide erfolgt. Rechts-theoretisch betrachtet wenden zwar Verwaltungsbehörden36 die jeweili-gen Gesetze an.37 Der VfGH selbst hat diese von den Verwaltungsbe-hörden angewendeten Gesetzesbestimmungen – betreffend die Zustän-digkeit organisatorischer, verfahrensmässiger und inhaltlicher Art –gerade nicht in der spezifischen Bedeutung des Wortes anzuwenden.Vielmehr hat er die Rechtsanwendung durch die belangte Behörde zukontrollieren und unter bestimmten weiteren Voraussetzungen gegebe-nenfalls aufzuheben.38Die von der belangten Behörde angewandten gesetzlichen Rege-lungen sind also vom VfGH nicht anzuwenden, vielmehr ist von ihm zuprüfen, ob die Behörde in deren Anwendung verfassungsgesetzlichgewährleistete Rechte des Beschwerdeführers verletzt hat oder nicht.39In der Literatur und Rechtsprechung ist in diesem Zusammenhanggelegentlich von «unmittelbarer» Anwendung die Rede.40Man könnte das wohl so umschreiben, dass der VfGH eine Geset-zesvorschrift quasi «verpackt», «verschachtelt» also auf einer Metaebeneanzuwenden hätte.Es bleibt festzuhalten, dass der Bundesverfassungsgesetzgeberinsofern von der relativ präzisen Begriffsbildung der Rechtstheorie – aufGrundlage jahrzehntelanger Rechtsprechung des VfGH – abgewichenist und unter Anwendung mehr als nur den engeren Begriff versteht. Dasist zwar zulässig, aber gewiss gerade nicht wünschenswert.Sicher ist aber auch, dass der diesbezügliche Text der Bundesver-fassung unter Berücksichtigung der Entstehungszusammenhänge kei-nesfalls im Sinne der engeren Bedeutung, wie ihn die Rechtstheorie zuverstehen pflegt, ausgelegt werden dürfte; denn diesfalls würde ja über-haupt die Gesetzesprüfungskompetenz des VfGH weginterpretiert und125Besonderheiten der Rechtskontrolle36 In ihrer hierarchischen – durch Über- und Unterordnung mittels Weisung gekenn-zeichneten – Struktur ebenso zusammengefasst wie durch den Rechtsmittelzug.37 Siehe insbesondere auch Rohregger (Fn. 17), Rz. 122, wo zu Recht darauf abgestelltwird, ob ein behördliches Verfahren vorgeschaltet ist oder nicht.38 Gleiches gilt für den VwGH bei Bescheidbeschwerden, anderes für Säumnisbe-schwerden und die übrigen Gerichte.39 Oder aber der Beschwerdeführer wegen Anwendung bestimmter rechtswidrigergenereller Rechtsnormen in seinen Rechten verletzt wurde.40 Siehe Schäffer (Fn. 17), S. 69.
damit das Modell der österr. Verfassungsgerichtsbarkeit in seinem Erfin-derland nullifiziert werden.e.e. Ein besonderes Problem ist auch darin zu erblicken, dass derVfGH im Falle des Erfolges einer Beschwerde in der Regel denbekämpften Bescheid aufzuheben hat; in bestimmten Fällen kommt esnur zur Feststellung der Grundrechtsverletzung.Bei der letzteren Gruppe ist aber das rechtserzeugende Element derRechtsanwendung gleichermassen zu beurteilen wie bei Feststellungsbe-scheiden und -urteilen; zumindest ist der Zweifelsfall – soweit möglich –beseitigt.Hinsichtlich der üblichen – zunächst genannten – Gruppe dürfteder Schlüssel darin liegen, den Begriff der Rechtserzeugung bei Rechts-anwendung weit zu fassen. Danach ist unter Rechtserzeugung nicht nurdie Schaffung von neuem und die Abänderung bestehenden Rechts, son-dern auch dessen Beseitigung zu verstehen. Dahinter verbirgt sich aller-dings ein Paradoxon zum Begriff Anwendung im hier verstandenen Sinn.f.f. Ohne Zweifel hat der VfGH in Beschwerdeverfahren aber auchbestimmte Rechtsvorschriften in der spezifischen Bedeutung des Wortesanzuwenden, und zwar – allerdings nur zum Teil – «exklusiv».41 Es sinddies die Bestimmungen der Bundesverfassung zum VfGH als solchem,dazu hier Art. 144 B-VG und die Regelungen des VfGG.Anzuwenden sind vom VfGH aber insbesondere und in ganz zen-traler Weise die Regelungen der gesamten Bundesverfassung, namentlichaber die Grundrechte. Dies aber nicht «exklusiv», denn diese Pflichttrifft alle Staatsorgane und zum Teil – «Drittwirkung» ist der Link –auch Private.g.g. Durch die grundsätzliche Umgestaltung des österr. Rechtsschutz-systems durch die mehrfach erwähnte Verwaltungsgerichtsbarkeits-No-velle 2012 ändert sich im Grunde an der Bedeutung des Art. 144 Abs. 1 B-VG nichts. Laut Art. I Z 77 werden sich ab 1. Januar 2014 solche Be-schwerden nicht mehr gegen Bescheide von Verwaltungsbehörden,sondern gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes zu wenden ha-126Siegbert Morscher41 Siehe Rohregger (Fn. 17), Rz. 122.
ben. Den Verwaltungsgerichten kommt aber nicht eine spezifische, mitKassation bewehrte Rechtskontrolle, sondern eine reformatorische Rollein der Sache zu – so wie wir es rechtsstrukturell schon bisher mit den Ver-waltungsbehörden hatten; ein Verfahren ist also «vorgeschaltet».2.b. Zu den übrigen Kompetenzen des VfGH sei in extremer Kürzefestgehalten:In den Fällen des Art. 137 (Kausalgerichtsbarkeit), 138 Abs. 2, 141(Wahlgerichtshof, sofern der VfGH unmittelbar angerufen werdenkonnte) und Art. 142 f. (Staatsgerichtsbarkeit) B-VG hat der VfGH diejeweiligen Rechtsvorschriften rite anzuwenden.Anderes gilt für die Kompetenzen des VfGH nach Art. 138 Abs. 1und Art. 141 B-VG, sofern sich die Wahlanfechtung gegen Akte derWahlbehörden wendet; hier gilt sinngemäss das zu den BeschwerdenVorgetragene.B. Fürstentum Liechtenstein1. Gemäss Art. 104 Abs. 2 der Verfassung des Fürstentums Liechten-stein42 fällt in die Kompetenz des StGH «weiter die Prüfung der Verfas-sungsmässigkeit von Gesetzen …».43 Art. 18 Abs. 1 lit. c des Gesetzesüber den Staatsgerichtshof (StGHG)44 ordnet an, dass diese Prüfung vonAmts wegen zu erfolgen hat, wenn und soweit der StGH ein ihm ver-fassungswidrig erscheinendes Gesetz oder einzelne seiner Bestimmun-gen in einem bei ihm anhängigen Verfahren «anzuwenden hat».Die Formulierung ist etwas weniger vorsichtig als die österrei-chische, die immerhin im Konjunktiv abgefasst ist und insofern deutli-cher zum Ausdruck bringt, dass der VfGH die «verdächtige» Gesetzes-stelle noch nicht angewendet haben darf.45127Besonderheiten der Rechtskontrolle42 Liechtensteinisches LGBl. 1921/15 i. d. F. des LGBl. 2003/186.43 Siehe dazu im Einzelnen insbesondere Herbert Wille (S. 172 ff.) und Stotter(S. 749 ff.), aber auch Tobias Michael Wille in den in Fn. 15 zitierten Arbeiten; Letz-terer stellt a. a. O. S. 178 in Anlehnung an die Praxis des deutschen BVerfG auf die«Entscheidungserheblichkeit» ab – siehe dazu übrigens auch Rohregger in Fn. 17(Rz. 117).44 Liechtensteinisches LGBl. 2004/32.45 Gleiches gilt sowohl in Österreich als auch in Liechtenstein für Gerichtsanträge,hinsichtlich derer jeweils Analoges angeordnet ist.
2. Der Jubilar hat in diesem Zusammenhang auf eine – nicht veröf-fentlichte – Entscheidung des StGH aufmerksam gemacht, wonach eineRechtsvorschrift von ihm geprüft werden könne, da deren Verfassungs-mässigkeit «Voraussetzung» seiner Entscheidung in einem anderen ver-fassungsgerichtlichen Verfahren sei.46Wie oben dargetan, verwendete Art. 140 Abs. 1 B-VG in seinerStammfassung eben diesen Begriff «Voraussetzung». Das BVG BGBl.1975/302 passte den Wortlaut an die Rechtsprechung des VfGH an, derauf die Anwendung abgestellt hatte; diese Novelle war mit 1.Juli 1976 inKraft getreten.47 Der StGH stellte demnach auf den zwischenzeitlichausser Kraft gesetzten ursprünglichen Wortlaut im B-VG ab.3. Angesichts des faktisch identen Wortlautes der österr. Regelungund jener in Liechtenstein ist nicht näher zu begründen, sondern nurresümierend zusammenzufassen, dass bezüglich der stufenbaumässigenEinordnung das zu Österreich Ausgeführte auch für Liechtenstein gilt.C. Weitere ParallelenOben wurde ausgeführt, dass es menschliches Bemühen übersteigenwürde, alle Bedingungen des Zustandekommens eines Zwangsaktes zuidentifizieren und zu beschreiben; juristisches Handwerk bzw. juristi-sche Kunst müssen damit leben, sozusagen die jeweils bedeutsamen Ele-mente herauszugreifen. Wegen der damit zwingend vorgegebenen Un-Präzision darf es daher nicht wundern, dass die Präjudizialitätsentschei-dungen sowohl des VfGH48 wie auch des StGH eine gewisse Oszillationaufweisen49, aber auch teilweise kritisch beurteilt werden – hinsichtlichdes StGH insbesondere auch vom Jubilar.50128Siegbert Morscher46 Siehe Herbert Wille, Die Normenkontrolle (Fn. 15), S. 169 (Fn. 180); a. a. O. S. 172übrigens Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Präjudizialität.47 Siehe Art. II Abs. 1 der im Text genannten B-VG-Novelle.48 Siehe dazu oben.49 Siehe etwa die Rechtsprechung des VfGH zur Frage Regel/Ausnahme, dargestelltetwa bei Spielbüchler und Rohregger (beide Fn. 17), nunmehr aber wohl «zurück-nehmend» etwa VfGH 9. 10. 2012, B 539/12, VfSlg 19.683.50 Siehe Herbert Wille, Die Normenkontrolle (Fn. 15), S. 173 f.
II.GRUNDRECHTSSCHUTZ IN LIECHTENSTEIN
Verfassungs- und Grundrechtsauslegung in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes* **Tobias Michael WilleI. EinleitungDie Auslegung, Anwendung und Bewahrung der Grundrechte zählenunbestritten zu den wichtigsten Aufgaben des Staatsgerichtshofes. Siespielen denn auch in seiner Rechtsprechung eine zentrale Rolle. Der vor-liegende Beitrag, der sich als Skizze versteht, analysiert die Spruchpraxisdes Staatsgerichtshofes im Lichte der Grundrechtstheorien und derMethoden der Grundrechtsauslegung.II. Ausgangslage1. Grundrechte1.1 BegriffsumschreibungNach einem allgemeinen Begriffsverständnis sind Grundrechte funda-mentale Rechtspositionen des Menschen, die mit einer gewissen Unver-brüchlichkeit ausgestattet und durchsetzbar sind.1 Sie haben ihre geistigeWurzel in der Idee der Würde des Menschen2 und gewährleisten grund-131* Diesen Beitrag widme ich meinem Vater zu seinem 70. Geburtstag.** Ich danke Dr. Hugo Vogt für wertvolle Anregungen.1 Berka, Grundrechte, S. 11, Rz. 20.2 Siehe generell zur Bedeutung der Menschenwürde für die Freiheitsrechte auchunlängst StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 3,wo der Staatsgerichtshof unter Verweis auf Art. 7 BV, der im Wortlaut mit Art. 27bisAbs. 1 LV identisch ist, hervorhebt, dass diese Bestimmung allgemein die Bedeutungeines Leitgrundsatzes für jegliche Staatstätigkeit hat und als innerster Kern zugleichdie Grundlage der Freiheitsrechte bildet sowie deren Auslegung und Konkretisie-rung dient. So auch schon StGH 2009/18, Urteil vom 15. September 2009, <www.ge
legende bzw. fundamentale, existenzielle Rechte des Einzelnen gegen-über dem Staat.3 Gemeinhin wird zwischen Grund- und Menschenrech-ten unterschieden. Der Geltungsgrund der Menschenrechte liegt entwe-der im Naturrecht oder im Völkerrecht, sodass sich unabhängig von sei-ner Staatsangehörigkeit jeder Mensch auf sie berufen kann, weshalb auchvon Jedermannsrechten die Rede ist.4 Grundrechte (leges fundamenta-les) sind dagegen vor dem Hintergrund ihrer verfassungsgeschichtlichenEntwicklung gesehen, insbesondere des Konstitutionalismus, der denStaatsbürgern gewisse Bürgerrechte zusicherte, staatliche Rechte, dieverfassungsrechtlich garantiert sind.5 Aufgrund ihres persönlichenSchutzbereiches handelt es sich dabei oft um Staatsbürgerrechte. Je nachAusgestaltung des persönlichen Geltungsbereiches können sie auchJedermannsrechte bzw. Menschenrechte sein. Auch wenn aufgrund derInternationalisierung des Menschenrechtsschutzes tendenziell dieGrundrechte zu Menschenrechten ausgebaut wurden bzw. werden, wiesich dies auch in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes widerspie-gelt,6 so ist das Konzept der Bürgerrechte, insbesondere mit Blick auf die132Tobias Michael Willerichts entscheide.li>, Erw. 3.1; siehe auch StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1.3 Siehe für die Schweiz beispielsweise Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 66,Rz. 205 und für Österreich Schambeck, Theorie, S. 83. Zum Begriff und der deut-schen Entwicklung der Grundrechte siehe etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte,S. 13, Rz. 43; zur Unterscheidung zwischen dem Begriff der Grundrechtsnorm unddemjenigen des Grundrechts siehe Alexy, Theorie, S. 39 f.; aus der Rechtsprechungdes Staatsgerichtshofes siehe etwa StGH 1998/10, Urteil vom 3. September 1998,LES 1999, S. 218 (223, Erw. 1), wo der Staatsgerichtshof betont, dass Grundrechte«primär Schutzrechte gegen den Staat» sind.4 Siehe Berka, Grundrechte, S. 14 f., Rz. 27.5 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 15, Rz. 28. So lautet die Überschrift des IV. Hauptstü-ckes der LV (Grundrechtskatalog) nach wie vor: «Von den allgemeinen Rechten undPflichten der Landesangehörigen», wobei unter dem von der Verfassung verwende-ten Begriff «Landesangehörige» alle Personen mit liechtensteinischem Landesbür-gerrecht ohne Unterschied des Geschlechts zu verstehen sind (LGBl. 1971 Nr. 22).Die Verfassung von 1921 knüpft wortgleich an den Titel des Zweiten Hauptstückesder Konstitutionellen Verfassung von 1862 an.6 So dehnte der Staatsgerichtshof vor allem nach der Ratifizierung der EMRK im Jahr1982 den persönlichen Geltungsbereich der in der LV garantierten Grundrechtesukzessive auch auf Ausländer aus. Siehe zu dieser Entwicklung in der Rechtspre-chung des Staatsgerichtshofes Hoch, Schwerpunkte, S. 82 f. mit Rechtsprechungs-nachweisen. Aus der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes siehe StGH 2000/33,Entscheidung vom 5. Dezember 2000, nicht veröffentlicht, Erw. 3.1; StGH 2004/84,
politischen Mitwirkungsrechte, noch nicht ganz überholt.7 Aber auchdie in Art. 28 Abs. 1 und 2 LV8 ausdrücklich nur den Landesangehörigenvorbehaltene Niederlassungsfreiheit ist nach wie vor nicht auf Ausländeranwendbar.9 Daran hat auch der Beitritt Liechtensteins zum EWR-Abkommen im Jahre 1995 nichts geändert.101.2 Landesverfassung (LV) Auch wenn der Staatsgerichtshof in seiner Rechtsprechung, insbesonderein seinen Urteilserwägungen,11 regelmässig von Grundrechten spricht,12so verwendet weder die liechtensteinische Verfassung noch die einfache133Verfassungs- und GrundrechtsauslegungUrteil vom 28. November 2005, <www.stgh.li>, Erw. 2.1; StGH 2005/13, Urteilvom 31. März 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3.1; StGH 2008/3, Urteilvom 4. November 2008, nicht veröffentlicht, Erw. 3.4; StGH 2013/9, Urteil vom 2. Juli 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 4.1.7 So Berka, Grundrechte, S. 15, Rz. 28.8 Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober 1921, LGBl. 1921 Nr. 15i. d. g. F.9 Vgl. Hoch, Schwerpunkte, S. 82 f.; siehe auch Wanger, Niederlassungsfreiheit,S. 152 f., Rz. 14 ff., der darauf hinweist, dass dies keine liechtensteinische Besonder-heit ist, denn das Gleiche gelte auch in anderen Staaten wie beispielsweise derSchweiz (Art. 24 BV), in Deutschland (Art. 11 GG) oder in Österreich (Art. 4 und6 StGG). Aus der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes siehe StGH 1997/19,Urteil vom 5. September 1997, LES 1998, 269 (272, Erw. 2.1); StGH 2000/33, Ent-scheidung vom 5. Dezember 2000, nicht veröffentlicht, Erw. 3.1; StGH 2004/84,Urteil vom 28. November 2005, <www.stgh.li>, Erw. 2.1; StGH 2005/13, Urteilvom 31. März 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3.1 und StGH 2008/3,Urteil vom 4. November 2008, nicht veröffentlicht, Erw. 3.4.10 Hoch, Schwerpunkte, S. 83.11 Im Urteilstenor spricht der Staatsgerichtshof jedoch von verfassungsmässig bzw.von durch die EMRK oder andere internationale Übereinkommen gewährleistetenRechten; siehe statt vieler: StGH 2004/58, Urteil vom 4. November 2008, <www.gerichtsentscheide.li>; StGH 2007/137, Urteil vom 9. Dezember 2008, <www.gerichtsentscheide.li>; StGH 2008/69, Urteil vom 9. Dezember 2008, <www.gerichtsentscheide.li>; StGH 2009/93, Urteil vom 1. Dezember 2009, <www.gerichtsentscheide.li>; StGH 2011/84, Urteil vom 24. Oktober 2011, <www.gerichtsentscheide.li>; StGH 2012/56, Urteil vom 11. Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>; StGH 2013/2, Urteil vom 14. Mai 2013, <www.gerichtsentscheide.li>. 12 Siehe statt vieler: StGH 1995/34, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1997, S. 78 (82 f.,Erw. 2.1 ff.); StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998, LES 1999, S. 20 (24, Erw. 2);StGH 1998/10, Urteil vom 3. September 1998, LES 1999, S. 218 (223, Erw. 1); StGH2000/45, Entscheidung vom 25. Oktober 2000, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.2.2; StGH 2008/60, Urteil vom 30. September 2008, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 3.2; StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichts ent sc heide.li>, Erw. 3.1.
Rechtsordnung den Begriff «Grundrecht» bzw. «Grundrechte». Die LVspricht vielmehr noch ähnlich wie das österreichische StGG, in dem dieRede von den «allgemeinen Rechten der Staatsbürger» ist,13 «Von den all-gemeinen Rechten und Pflichten der Landesangehörigen».14 Im Zusam-menhang mit dem Grundrechtsschutz verwendet die LV dann allerdingsin Anlehnung an das österreichische Vorbild den formalen Begriff des«verfassungsmässig» gewährleisteten Rechtes (Art. 104 Abs. 1 LV, Art. 1Abs. 2 Bst. a und Art. 15 Abs. 1 StGHG).15 Das österreichische B-VG,das ebenfalls an keiner Stelle den Terminus «Grundrecht» verwendet,16spricht in streng positivistischem Sinne von «verfassungsgesetzlich» ge-währleisteten Rechten (Art. 144 B-VG; § 82 Abs. 2 VfGG).171.3 Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes1.3.1 Materieller GrundrechtsbegriffIn seiner früheren Rechtsprechung18 verstand der Staatsgerichtshof wie-derum wohl in Anlehnung an die Judikatur des österreichischen Verfas-sungsgerichtshofes19 unter einem verfassungsmässig gewährleistetenRecht im Sinne eines formellen, positivistisch geprägten Grundrechts-verständnisses20 «jedes subjektive Recht auf Grund einer Norm im Ver-134Tobias Michael Wille13 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 15, Rz. 29.14 So die Überschrift des IV. Hauptstückes der LV; siehe schon vorne Fn. 5.15 Vgl. dazu auch Höfling, Grundrechtsordnung, S. 22.16 Vgl. Schambeck, Theorie, S. 83 f.; siehe auch Berka, Grundrechte, S. 15, Rz. 29.17 Siehe StGH 2004/45, Urteil vom 29. November 2004, <www.stgh.li>, Erw. 2.1;Schambeck, Theorie, S. 84 vermutet, dass der Begriff «Grundrechte» für die Schöp-fer des B-VG vielleicht zu sehr mit präpositiven bzw. naturrechtlichen Aspektenverknüpft war, sodass man bewusst die streng positivistische Formulierung «verfas-sungsgesetzlich gewährleistete Rechte» gewählt habe.18 Einlässlich zur Entwicklung der Grundrechtsprechung des StaatsgerichtshofesHoch, Schwerpunkte, S. 66 ff.19 So qualifiziert der österreichische Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlichgewährleistete Rechte «subjektive Rechte, die durch eine im Verfassungsrang ste-hende Rechtsnorm eingeräumt sind», was immer dann der Fall ist, wenn ein hin-längliches individualisiertes Parteiinteresse an der Einhaltung einer objektiven Ver-fassungsnorm besteht. Machacek, Verfahren, S. 50 unter Verweis auf VfSlg 12.838/1991 und 17.507/2005 sowie Berka, Verfassungsrecht, S. 384, Rz. 1161; vgl. dazuauch Schambeck, Theorie, S. 83 f.20 Siehe dazu schon einlässlich Hoch, Schwerpunkte, S. 66 ff.; eingehender dazu wei-ter hinten S. 154 ff.
fassungsrang».21 Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhundertswandte sich der Staatsgerichtshof, wesentlich beeinflusst durch dieEMRK, die in Liechtenstein im Jahre 1982 in Kraft getreten ist,22 zueinem materiellen Grundrechtsverständnis hin. Er prüfte Grundrechts-eingriffe, insbesondere bei den klassischen Freiheitsrechten, wie derEigentumsgarantie23 und der Handels- und Gewerbefreiheit24, sowie beiden ideellen Grundrechten, wie der Meinungsäusserungsfreiheit25,fortan verstärkt im Sinne einer «modernen Grundrechtsdoktrin», d. h.nach den in der Schweiz und in Deutschland schon länger fest etablier-ten materiellen Prüfungskriterien.26 Gemäss diesem materiellen Grund-rechtsverständnis anerkennt der Staatsgerichtshof heute jedenfalls auchsolche Menschen- bzw. Grundrechte als «verfassungsmässig» gewähr-leistete Rechte im Sinne von Art. 104 Abs. 1 LV und Art. 15 Abs. 1StGHG, zu deren Schutze er nach Art. 104 Abs. 1 LV und Art. 1 Abs. 2Bst. a StGHG berufen ist, die auf einem Staatsvertrag, wie etwa derEMRK, beruhen und zwar unabhängig davon, ob diese Menschen- bzw.Grundrechte bzw. der sie verbürgende Staatsvertrag innerstaatlich, d. h.formell im Verfassungsrang27 stehen.28 Der Staatsgerichtshof begründetdies damit, dass den Materialien zum Staatsgerichtshofgesetz29 klar zuentnehmen sei, dass auch Grundrechte, die auf Staatsvertragsrecht basie-135Verfassungs- und Grundrechtsauslegung21 StGH 1978/4, Entscheidung vom 12. Juni 1978, LES 1981, S. 1 (2); vgl. auch StGH1984/14, Urteil vom 28. Mai 1986, LES 1987, S. 36 (38, Erw. 1); siehe dazu auchHöfling, Grundrechtsordnung, S. 22.22 LGBl. 1982 Nr. 60.23 Vgl. StGH 2005/23, Urteil vom 27. September 2005, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 2.2; StGH 2011/24, Urteil vom 6. Februar 2012, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 5.1; StGH 2012/110, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsen tscheide.li>, Erw. 3.1.24 Vgl. StGH 1997/29, Entscheidung vom 4. September 1998, nicht veröffentlicht,Erw. 3.1; vgl. auch Frick, Handels- und Gewerbefreiheit, S. 218 ff.25 Vgl. StGH 1994/8, Urteil vom 4. Oktober 1994, LES 1995, S. 23 (26, Erw. 3).26 Siehe Hoch, Schwerpunkte, S. 71 ff.; vgl. auch Kley, Entwicklung, S. 25, Rz. 25 undHöfling, § 230, S. 805, Rz. 26; zu den materiellen Prüfungskriterien eingehend wei-ter hinten S. 154 ff.27 Zum Diskussionsstand betreffend die Rangordnung der EMRK in der liechtenstei-nischen Rechtsordnung siehe Wille T., Verfassungsprozessrecht, S. 260 ff.28 Vgl. dazu Wille T., Verfassungsprozessrecht, S. 64 ff.; siehe auch Villiger, Quellen,S. 39 f., Rz. 14 ff.29 Gesetz vom 27. November 2003 über den Staatsgerichtshof, LGBl. 2004 Nr. 32,Inkrafttreten: 20. Januar 2004. Es ersetzt das Gesetz vom 5. November 1925 überden Staatsgerichtshof, LGBl. 1925 Nr. 8.
ren, direkt als verfassungsmässig gewährleistete Rechte im Sinne vonArt. 15 Abs. 1 StGHG vor dem Staatsgerichtshof geltend gemacht wer-den können sollen. Bei ihnen handele es sich nämlich ebenso wie bei denin Art. 15 Abs. 2 StGHG namentlich aufgeführten, durch internationaleÜbereinkommen garantierten Individualrechten, materiell um Grund-rechte wie bei denen, die explizit in der Verfassung gewährleistet sind.30Dies entspreche auch dem Willen des Verfassunggebers.31 Insoweit fallender materielle Begriff des Grund- oder Menschenrechts und der formelleBegriff des verfassungsmässig gewährleisteten Rechts weitgehendzusammen.321.3.2 EWR-Recht bzw. EWR-GrundfreiheitenDer Staatsgerichtshof erachtet in langjähriger Praxis auch das EWR-Recht als verfassungsändernd bzw. -ergänzend, sodass die EWR-Rechts-widrigkeit von Gesetzen und Verordnungen beim Staatsgerichtshofgerügt werden kann, wobei das EWR-Recht seinerseits nicht gegen«Grundprinzipien und Kerngehalte der Grundrechte der Landesverfas-sung» verstossen darf. Daran hat nach der Rechtsprechung des Staatsge-richtshofes auch die Verfassungsrevision von 200333 nichts geändert.34Der Staatsgerichtshof qualifiziert denn auch nach gefestigter Praxis dieEWR-Grundfreiheiten als verfassungsmässig gewährleistete Rechte,deren Verletzung mit Individualbeschwerde gemäss Art. 15 StGHGbeim Staatsgerichtshof angefochten werden kann.35136Tobias Michael Wille30 StGH 2004/45, Urteil vom 29. November 2004, <www.stgh.li>, Erw. 2.1; siehe auchWille T., Verfassungsprozessrecht, S. 69 und Villiger, Quellen, S. 39, Rz. 15.31 StGH 2004/45, Urteil vom 29. November 2004, <www.stgh.li>, Erw. 2.1.32 Vgl. für Österreich Berka, Grundrechte, S. 16, Rz. 31.33 Siehe Art. 104 Abs. 2 LV i. d. F. LGBl. 2003 Nr. 186.34 StGH 2010/63, Urteil vom 28. November 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 2.5 mitweiteren Rechtsprechungsnachweisen; siehe auch StGH 2011/200, Urteil vom 7.Februar 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.1 und Erw. 3.2; StGH 2011/170,Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 2.1 und Erw. 3.2; StGH2011/104, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 2.1 und Erw.4.1; StGH 2004/45, Urteil vom 29. November 2004, <www.stgh.li>, Erw. 2.1; kri-tisch zu dieser Kontrollkompetenz Höfling, § 230, S. 796 f., Rz. 10, der eine ent-sprechende innerstaatliche Zuständigkeitsregelung bemängelt.35 StGH 2004/45, Urteil vom 29. November 2004, <www.stgh.li>, Erw. 2.2; vgl. auchStGH 2005/13, Urteil vom 31. März 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3.2;StGH 2007/98, Urteil vom 29. September 2008, nicht veröffentlicht, Erw. 6.1; StGH2008/141, Urteil vom 30. November 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.2.
Darüber hinaus prüft der Staatsgerichtshof EWR-Recht bzw. sichdirekt darauf stützendes Landesrecht in aller Regel36 nicht auf seine Ver-fassungsmässigkeit,37 da dies, so der Staatsgerichtshof38, «zumindestimplizit im Widerspruch insbesondere zu Art. 7 EWRA stünde, wonachdas EWR-Recht für die Vertragsparteien verbindlicher Teil des inner-staatlichen Rechts ist oder in solches umgesetzt werden muss». Aus demVorrang des EWR-Rechts folgt sohin zwangsläufig nicht nur der Vor-rang des positiv normierten EWR-Rechts, sondern auch von dessenAuslegung durch den EFTA-Gerichtshof, weshalb der Staatsgerichtshofkonsequenterweise in aller Regel auch die Verfassungskonformität derRechtsprechung des EFTA-Gerichtshofes nicht zu überprüfen hat.39Der EFTA-Gerichtshof betonte bei der ersten sich bietenden Gele-genheit, dass auch das EWR-Recht Grundrechte enthält und dass dieEMRK und die Rechtsprechung des EGMR dabei eine wichtige Rollespielen.40 So sind nach der Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofes dieVorschriften des EWR-Abkommens und die Verfahrensvorschriften desÜGA im Lichte der EMRK auszulegen, wobei die Bestimmungen derEMRK und die Urteile des EGMR wichtige Quellen sind, um die Reich-weite dieser Rechte zu fixieren.41 In diesem Sinne hat auch der Staatsge-137Verfassungs- und Grundrechtsauslegung36 Im Sinne seiner in Fn. 34 f. angegebenen Rechtsprechung ist wohl davon auszuge-hen, dass der Staatsgerichtshof seine Zurückhaltung gegenüber dem EWR-Rechtdann aufgibt, wenn dieses den Grundprinzipien und Kerngehalten der Grundrechteder LV widerspricht.37 Der Staatsgerichtshof hat aber gemäss Art. 22 f. StGHG jedenfalls generell die Mög-lichkeit, im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens Staatsverträge aufihre Verfassungsmässigkeit zu prüfen. Erkennt der Staatsgerichtshof im Rahmeneines solchen Normprüfungsverfahrens auf Antrag eines Gerichtes oder einer Ver-waltungsbehörde bzw. von Amtes wegen, dass ein Staatsvertrag oder einzelne seinerBestimmungen mit der Verfassung unvereinbar sind, hebt er gemäss Art. 23 StGHGihre innerstaatliche Verbindlichkeit auf.38 StGH 2011/200, Urteil vom 7. Februar 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.3.2; siehe auch StGH 2011/170, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht,Erw. 3.2; StGH 2011/104, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht, Erw.4.1. 39 StGH 2011/200, Urteil vom 7. Februar 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.3.2; siehe auch StGH 2011/170, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht,Erw. 3.2; StGH 2011/104, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht, Erw.4.1. 40 Vgl. Baudenbacher, Grundfreiheiten, S. 851, Rz. 113; siehe auch StGH 2013/42,Urteil vom 2. September 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 4.4.41 Siehe Baudenbacher, Grundfreiheiten, S. 852, Rz. 114.
richtshof hervorgehoben, dass sowohl das EWR-Recht als auch das EU-Recht grundrechtskonform zu handhaben sind.42 Was die Anwendbar-keit der Europäischen Grundrechtecharta betrifft, so hat der Staatsge-richtshof in StGH 2012/157 unlängst ausgeführt, «dass der blosseUmstand, dass der Beschwerdeführer auch in einem Mitgliedstaat derEuropäischen Union eine berufliche Niederlassung hat, nicht hinreichenkann, die unmittelbare Anwendbarkeit der Europäischen Grundrechte-charta auch im EWR zu bewirken».431.3.3 Ungeschriebene GrundrechteNeben den in der Verfassung und in den internationalen Übereinkom-men bzw. Staatsverträgen positivierten Grund- und Menschenrechtenkreierte der Staatsgerichtshof Ende der Neunzigerjahre des vorigenJahrhunderts in schöpferischer und verfassungsgestaltender Weise44ungeschriebenes Verfassungsrecht, indem er das Willkürverbot zumeigenständigen ungeschriebenen Grundrecht erklärte45 und sich dabei inAnlehnung an die Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichtes zuden ungeschriebenen Grundrechten46 weiter vorbehielt, «für den Einzel-nen fundamentale, im Verfassungstext nicht erwähnte Rechtsschutzbe-dürfnisse direkt als ungeschriebene Grundrechte anzuerkennen, anstattsie aus thematisch mehr oder weniger verwandten positiv normiertenGrundrechten abzuleiten».47 Als weitere ungeschriebene Grundrechte,deren Verletzung selbständig beim Staatsgerichtshof geltend gemacht138Tobias Michael Wille42 StGH 2013/42, Urteil vom 2. September 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 4.4.43 StGH 2012/157, Urteil vom 25. März 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 2.44 So Kley, Kommentar, S. 256.45 Vgl. Wille H., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52; siehe dazu auch Vogt, Willkürver-bot, S. 336 ff.46 Hoch, Schwerpunkte, S. 78; vgl. auch Vogt, Willkürverbot, S. 344 f.47 StGH 1998/45, LES 2000, 1 (6, Erw. 4.4); zur Kritik an dieser Rechtsprechung ausder Sicht der Gewaltenteilung siehe Wille H., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52 f.,der insbesondere beanstandet, dass der Staatsgerichtshof bei der Anerkennung vonungeschriebenen Grundrechten «in die Funktionen des Verfassungsgesetzgebersübergreift bzw. als Ersatzverfassungsgesetzgeber auftritt». Vgl. dazu auch Vogt,Will kürverbot, S. 349 ff., der unter dem Aspekt der Bindungswirkung zu bedenkengibt, dass unklar ist, inwieweit der Staatsgerichtshof einen anerkannten, ungeschrie-benen Verfassungsrechtssatz wieder aufgeben kann, wenn die Voraussetzungen fürdessen Geltung entfallen sind.
werden kann, anerkennt der Staatsgerichtshof u. a. das Legalitätsprinzipim Abgaberecht48 sowie das Grundrecht auf Existenzsicherung.492. GrundrechtskatalogAus den vorstehenden Ausführungen wird offensichtlich, dass die inLiechtenstein geltende Grundrechtsordnung auf verschiedenen Quellenaufbaut, die die Grundrechte gewährleisten:50 Einerseits die völkerrecht-lich bzw. staatsvertraglich verbürgten Grund- und Menschenrechte undandererseits die landesrechtlich bzw. innerstaatlich gewährleistetenGrundrechte, wobei dabei wiederum zwischen geschriebenen und unge-schriebenen Grundrechten zu unterscheiden ist. Mit Blick auf die Ver-fassung gilt es allerdings darauf hinzuweisen, dass der StaatsgerichtshofBestimmungen ausserhalb des IV. Hauptstücks (Art. 27bis ff. LV)51 nurausnahmsweise Grundrechtscharakter zuerkennt,52 da die individuellenGrundrechte und -pflichten unbestrittenermassen im IV. Hauptstückenthalten sind.53 In ständiger Praxis betrachtet der Staatsgerichtshofjedoch auch die im V. Hauptstück der Verfassung aufgeführten politi-schen Beteiligungsrechte sowie die im VIII. Hauptstück geregelte139Verfassungs- und Grundrechtsauslegung48 StGH 2000/39, Entscheidung vom 11. Juni 2001, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.4c; StGH 2002/66, Urteil vom 17. November 2003, nicht veröffentlicht, Erw. 2;StGH 2009/181, Urteil vom 18. Mai 2010, nicht veröffentlicht, Erw. 3.2; StGH2010/70, Urteil vom 20. September 2010, nicht veröffentlicht, Erw. 3.2; StGH2012/175, Urteil vom 25. März 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 2; einlässlich dazuWille H., Verwaltungsrecht, S. 651 sowie ders., Legalitätsprinzip, S. 489 ff., Rz. 3 ff.;vgl. auch Vogt, Willkürverbot, S. 354 ff.49 StGH 2004/48, Urteil vom 21. Februar 2005, <www.stgh.li>, Erw. 2.1 ff.; siehe dazuauch Vogt, Willkürverbot, S. 356 ff., der darauf hinweist, dass das ungeschriebeneGrundrecht auf Existenzsicherung gegenüber dem aus Art. 24 Abs. 1 LV abgeleite-ten Grundrecht auf Freilassung des Existenzminimums im Steuerrecht abzugrenzenist (Fn. 124).50 Siehe dazu auch Villiger, Quellen, S. 34 ff., Rz. 1 ff.51 Es sind dies die im IV. Hauptstück der Verfassung erwähnten Art. 27bis–44. Einegenaue Auflistung dieser Rechte findet sich bei Villiger, Quellen, S. 34 f., Rz. 3.52 StGH 2004/63, Urteil vom 10. Mai 2005, <www.stgh.li>, Erw. 2.7.1; vgl. auch StGH2000/8, Entscheidung vom 11. Juni 2001, Erw. 3.1; siehe dazu auch Höfling, Verfas-sungsbeschwerde, S. 115 f. mit Rechtsprechungsnachweisen.53 StGH 1997/24, Entscheidung vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5;StGH 1997/25, Entscheidung vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5.
Gemeindeautonomie als Grundrechte.54 Zu Art. 16 Abs. 8 LV hat derStaatsgerichtshof zwar ausgeführt, dass diese Bestimmung trotz ihrerZugehörigkeit zum III. Hauptstück der LV über die Staatsaufgabendurchaus die Struktur eines Freiheits- bzw. Abwehrrechts gegenüberdem Staat im Sinne der klassischen Grundrechte aufweist. Er liess aberletztlich die Frage offen, ob allein aus dem Wortlaut dieser Bestimmungein Grundrecht abgeleitet werden könne, denn ein grundrechtlicherAnspruch auf freie Errichtung und Betrieb von Privatschulen ergebesich in jedem Fall aus dem Recht auf Bildung gemäss Art. 2 des 1. ZPEMRK.55 Darüber hinaus leitete er aus Art. 24 Abs. 1 LV ein Grundrechtauf «Freilassung eines Existenzminimums» bei der Besteuerung ab, daswie ein klassisches Grundrecht klagbar und justiziabel ist.56 Die inArt. 27bis Abs. 1 LV verankerte Menschenwürde57 qualifiziert derStaatsgerichtshof unter Bezugnahme auf die Judikatur und Lehre in derSchweiz, deren Bundesverfassung (Art. 7) im Jahre 2005 als Rezeptions-vorlage gedient hat, als Auffanggrundrecht.58 Ihr kann nur für besondersgelagerte Fälle ein eigenständiger Grundrechtsgehalt zukommen.59 Es isthier auch darauf hinzuweisen, dass sich jedenfalls in der Praxis oftmalsvölkerrechtliche Grundrechtsgewährleistungen, wie etwa diejenigen derEMRK oder des UNO-Pakts II, mit denjenigen der Landesverfassungweitgehend decken bzw. nicht über den von der LV garantierten Grund-rechtsschutz hinausgehen.60140Tobias Michael Wille54 Vgl. StGH 1995/34, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1997, S. 78 (82 f., Erw. 2.2); StGH1997/24, Entscheidung vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5; StGH1997/25, Urteil vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5.55 StGH 1995/34, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1997, S. 78 (83, Erw. 2.3 f.).56 StGH 1997/24, Entscheidung vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5;StGH 1997/25, Urteil vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5; siehe dazuauch Wille H., Verwaltungsrecht, S. 625 f. und ders., Legalitätsprinzip, S. 490 f., Rz. 5.57 Einlässlich zum Schutz der Menschenwürde Bussjäger, Menschenwürde, S. 114 ff.,Rz. 1 ff.58 StGH 2009/18, Urteil vom 15. September 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.3.1; StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 3; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1; vgl.auch StGH 2012/183, Urteil vom 10. Dezember 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 6.1.59 StGH 2009/18, Urteil vom 15. September 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.3.1; StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 3; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1.60 Vgl. StGH 2007/95, Urteil vom 4. November 2008, nicht veröffentlicht, Erw. 6;StGH 2010/141, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 3; StGH
3. Grundrechtsarten Allgemein werden heute die Grundrechte in Freiheitsrechte, Gleich-heitsrechte, Verfahrensgarantien, politische Rechte und soziale Grund-rechte eingeteilt.614. Geltung der Grund- und MenschenrechteDie Frage nach dem eigentlichen Geltungs- bzw. Verpflichtungsgrundder Grund- und Menschenrechte ist hier nicht näher zu klären. Auf dieseFrage wurden im Laufe der Geschichte unterschiedliche Antwortengefunden und auch heute wird sie von verschiedenen rechtsphilosophi-schen Lehren unterschiedlich beantwortet. Solange jedenfalls, wie inLiechtenstein, die Grund- und Menschenrechte verfassungsrechtlichund völkerrechtlich garantiert sind, leitet sich ihre Verbindlichkeit ausdem positiven Recht ab, und zwar unabhängig von der Anerkennungoder Verneinung ihrer naturrechtlichen Geltung.62Unter der Geltung eines positivierten Grundrechtskataloges gehtes sohin wie in der Jurisprudenz generell um die Interpretation autorita-tiver Formulierungen des geschriebenen Rechts.63 Dies gilt im Besonde-ren auch für die Grundrechte, denn die meisten Grundrechtskatalogesind in erheblichem Masse normativ offen formuliert. Für die einzelnenGrundrechtsbestimmungen sind daher oftmals gerade ihre fragmentari-141Verfassungs- und Grundrechtsauslegung2011/81, Beschluss vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3; StGH2011/32, Urteil vom 15. Mai 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3; StGH2012/21, Urteil vom 10. Dezember 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 2.1; StGH2012/100, Urteil vom 14. Mai 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4 ff. So kon-statieren denn auch Wille/Beck, EMRK, S. 231, dass die EMRK grösstenteils mitdem liechtensteinischen Grundrechtskatalog identisch ist.61 Einlässlich dazu für Österreich Berka, Grundrechte, S. 53 ff., Rz. 92 ff. und für dieSchweiz Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 71 f., Rz. 209 ff.; Ossenbühl,Interpretation, S. 2100 ff., spricht in diesem Zusammenhang auch von «verschiede-nen Dimensionen» bzw. von fünf Bedeutungsinhalten der Grundrechte, wonach dieGrundrechte als Abwehrrechte, wertentscheidende Grundsatznormen, institutio-nelle Gewährleistungen, Teilhaberechte und Anspruchsgrundlagen verstanden wer-den.62 Vgl. für Österreich Berka, Grundrechte, S. 17, Rz. 32 f.63 Vgl. Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 47 und ders., Grundrechtsordnung, S. 39.
sche Wortfassung, die summarische Kürze und sprachliche Gestaltung,die viele Deutungen zulässt, charakteristisch.64 Trotz ihrer «sprachlichenOffenheit und Ideologieanfälligkeit» drängt sich auf, dass die Grund-rechte im Rechtsanwendungsprozess mittels juristischer Methodik kon-kretisiert werden.65 Die Hauptaufgabe bei der Sinnermittlung der relativabstrakten und offen formulierten Grundrechtsnormen steht dabeigemäss Art. 104 Abs. 1 LV66 i. V. m. Art. 1 Abs. 2 Bst. a StGHG in ers-ter Linie dem Staatsgerichtshof als «Hüter der Verfassung bzw. derGrundrechte»67 zu, wobei letztlich alle ordentlichen Gerichte und Ver-waltungsbehörden je nach konkreter Fallkonstellation die Grundrechteanzuwenden haben.68 Nach Art. 54 StGHG binden nämlich Entschei-dungen des Staatsgerichtshofes alle Behörden des Landes und derGemeinden sowie alle Gerichte. In den Fällen einer Normprüfunggemäss der Art. 19, 21 und 23 StGHG entfaltet der jeweilige Urteils-spruch des Staatsgerichtshofes nach Art. 54 StGHG zudem eine allge-meinverbindliche Wirkung.69 Auch wenn der Staatsgerichtshof nur aufeinen entsprechenden Antrag bzw. auf ein entsprechendes Rechts-schutzgesuch hin und nie von sich aus tätig werden und damit Hoheits-142Tobias Michael Wille64 Höfling, Grundrechtsordnung, S. 39; siehe auch Schambeck, Theorie, S. 85 f.; Berka,Grundrechte, S. 68, Rz. 113; Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 150, Rz. 2;Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529 und Alexy, Theorie, S. 15 f.; vgl. aberauch Huber, Konkretisierung, S. 197, der sich insbesondere gegen die Bezeichnungder Grundrechte als «lapidare Generalklauseln» wehrt. Er hält dieser Formulierungentgegen, dass die Grundrechte mit Ausnahme des allgemeinen Gleichheitssatzeskeine Generalklauseln, sondern Normen mit «sogar gesteigert sachhaltigen Norm-bereichen» sind. Ebenso ist es nach ihm auch missverständlich, den Wortlaut derGrundrechtsbestimmungen als «lapidar» anzusehen, wenn dieses Beiwort ungefährso viel bedeuten soll wie «kraftvoll», «wuchtig» oder dergleichen.65 Berka, Grundrechte, S. 69, Rz. 114.66 Vgl. StGH 2002/67, Entscheidung vom 9. Dezember 2002, <www.stgh.li>, Erw. 1.1,wo der Staatsgerichtshof allerdings noch auf der Grundlage des alten, mittlerweileausser Kraft getretenen StGHG festhält, dass er aufgrund des Art. 104 LV und desArt. 11 StGHG als erste und einzige Instanz zur Entscheidung über Beschwerdenzum Schutz der verfassungsmässigen Rechte der Bürger und zur Prüfung der Ver-fassungsmässigkeit der Gesetze und Regierungsverordnungen zuständig ist. Vgl.auch StGH 2011/80, Beschluss vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 7 und StGH 2011/81, Beschluss vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5.67 Siehe dazu Höfling, Grundrechtsordnung, S. 32 ff.68 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 69, Rz. 114; siehe zur Subsidiarität der Verfassungs-bzw. Individualbeschwerde StGH 2004/58, Urteil vom 4. November 2008,
akten anderer Staatsorgane immer nur kontrollierend entgegentretenkann,70 so sind dennoch aufgrund der Bindungswirkung seiner Ent-scheidungen die verfassungs- und grundrechtstheoretischen Äusserun-gen des Staatsgerichtshofes von besonderer Bedeutung und für dasjeweils herrschende Verfassungs- und Grundrechtsverständnis prä-gend.71 Solche grundsätzlichen Erwägungen zum allgemeinen Charakterund zur normativen Intention der Verfassung im Allgemeinen und derGrundrechte im Speziellen kommen allerdings in der Rechtsprechungdes Staatsgerichtshofes, wie Wolfram Höfling72 1994 bemerkte, nur sel-ten vor. Er bemängelte konkret, dass eine ausdrücklich formulierte, kon-sistente Grundrechts- und Verfassungstheorie fehle. Der Staatsgerichts-hof beziehe prinzipielle Positionen vielmehr nach Massgabe pragmati-scher Gesichtspunkte, was wiederum dazu führe, dass je nachKonfliktfall unterschiedliche Verfassungsverständnisse zum Vorscheinkommen würden.73III. Grundrechtstheorien1. AllgemeinesDa die Grundrechtsnormen offen formuliert und aus gesetzestechni-scher Sicht einen durchaus fragmentarischen Charakter74 aufweisen,erfordern sie allgemeine Auslegungs- und Anwendungsregeln, die ein143Verfassungs- und Grundrechtsauslegung<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4.3; StGH 2008/46, Beschluss vom 30. Juni 2008,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3 f.; StGH 2011/159, Urteil vom 14. Mai 2012,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 1.2; vgl. auch StGH 2001/26, Entscheidung vom18. Februar 2002, <www.stgh.li>, Erw. 11; siehe dazu auch Wille T., Verfassungs-prozessrecht, S. 258 mit rechtsvergleichenden Hinweisen; allgemein zur Grund-rechtsbindung jeglicher Ausübung öffentlicher Gewalt siehe Höfling, Grundrechts-ordnung, S. 68 ff.; vgl. auch Bussjäger, Beschwerde, S. 859, Rz. 4.69 Siehe dazu auch Wille T., Verfassungsprozessrecht, S. 57.70 Vgl. Wille T., Verfassungsprozessrecht, S. 57.71 Vgl. Höfling, Grundrechtsordnung, S. 42 und Schambeck, Theorie, S. 86; siehe zurverfassungsrechtlichen Leitfunktion des Staatsgerichtshofes auch Wille T., Verfas-sungsprozessrecht, S. 57 f. mit Rechtsprechungsnachweisen.72 Höfling, Grundrechtsordnung, S. 42.73 Dazu und zur heutigen Lage auch noch weiter hinten S. 153 ff.74 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529.
bestimmtes Vorverständnis voraussetzen. Solche Regeln werden von derallgemeinen Grundrechtsdogmatik oder in allgemeinen Grundrechtsleh-ren aufgestellt. Werden dabei generelle Aussagen über Grundrechte sys-tematisch zusammengefasst, so kann auch von einer Grundrechtstheoriegesprochen werden.75 Darunter ist «eine systematisch orientierte Auf-fassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung unddie inhaltliche Reichweite der Grundrechte» zu verstehen.76 Sie istgrundsätzlich auf eine bestimmte Staatsauffassung oder Verfassungs-theorie fokussiert.77 Der Nutzen solcher allgemein gehaltener Grund-rechtstheorien und ihr Verhältnis zum geschriebenen Rechtsstoff istallerdings nicht unumstritten. Insbesondere besteht die Gefahr, dassbestimmte generelle Einsichten allen Grundrechten, unabhängig vonihrer konkreten rechtlichen Ausgestaltung und ohne Unterschied, alsleitende Theorie «übergestülpt» werden.78Während etwa in Österreich in weiten Teilen79 die sogenannte libe-rale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie vorherrschend ist,wurden insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre verschiedene,das liberale Grundrechtsverständnis modifizierende Theorien entwi-ckelt.80 In seinem 1974 veröffentlichen Aufsatz «Grundrechtstheorieund Grundrechtsinterpretation» stellte der deutsche StaatsrechtslehrerErnst-Wolfgang Böckenförde81 fünf82 Grundrechtstheorien vor, die erim Wesentlichen als alternative Theorien versteht und deren Anwendungin der Praxis sehr unterschiedliche Ergebnisse zeitigen können.83 Bei die-sen fünf Theorien handelt es sich um die «liberale (bürgerlich-rechts-staatliche)», die «institutionelle», die «demokratisch-funktionale», die144Tobias Michael Wille75 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 78 f., Rz. 129.76 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529.77 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529.78 Siehe Berka, Grundrechte, S. 79, Rz. 129; vgl. auch Stern, Staatsrecht, S. 1679 f.79 Das gilt auch für diejenigen Grundrechte, die nach 1867 in die Verfassung aufge-nommen wurden. Siehe Schambeck, Theorie, S. 87.80 Vgl. Schambeck, Theorie, S. 87 f.81 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529 ff.82 Neben den fünf Grundrechtstheorien von Ernst-Wolfgang Böckenförde finden sichin der deutschen Staatsrechtslehre auch noch andere Einteilungsversuche. Siehedazu den Überblick bei Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 50 ff.83 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 79, Rz. 130; einlässlich dazu Böckenförde, Grund-rechtstheorie, S. 1529 ff.; siehe dazu auch sogleich.
«sozialstaatliche» Grundrechtstheorie sowie um die «Werttheorie derGrundrechte».841.1 Die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie Nach dieser Grundrechtstheorie sind die Grundrechte Freiheitsrechtedes Einzelnen gegenüber dem Staat. Als staatsbezogene Abwehrrechtesind sie dazu bestimmt, wichtige Bereiche individueller und gesellschaft-licher Freiheit gegenüber der Staatsmacht zu sichern.85 Ob und zu wel-chen Zwecken die Grundrechtsträger von ihren Rechten Gebrauchmachen, ist dabei nicht relevant, da die liberale Freiheit immer nur eineFreiheit «von» (gewissen Beschränkungen), aber niemals eine Freiheit«zu» (vorgegebenen Zwecken) ist.86 Der Staat ist zudem nicht verpflich-tet, die Realisierung der grundrechtlichen Freiheit zu garantieren bzw.zu gewährleisten, denn die tatsächliche Realisierung der rechtlichgewährleisteten Freiheit bleibt als logische Folge aus dem Abwehr- undAusgrenzungscharakter der Grundrechte der individuellen und gesell-schaftlichen Initiative überlassen. Die Grundrechte schützen nämlicheinen Bereich individueller und gesellschaftlicher Freiheit vor staatlicherBeeinträchtigung und Eingriffsreglementierung und erhalten ihn so alseinen vorstaatlichen, sodass die Aktualisierungskompetenz bei den Ein-zelnen und der Gesellschaft selbst liegt.87 Diese Grundrechtstheorie, diebesser als Grundverständnis der meisten Grundrechte gekennzeichnetwird, führt letztlich zu einer Auslegung der Grundrechte als Abwehr-rechte gegen staatliche Eingriffe.88 Sie steuert damit zweifellos die Inter-pretation der Grundrechte massgebend.891.2 Die institutionelle GrundrechtstheorieBei der institutionellen Grundrechtstheorie haben die Grundrechtenicht primär den Charakter staatsbezogener Abwehrrechte des Einzel-145Verfassungs- und Grundrechtsauslegung84 Siehe dazu eingehend Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529 ff.85 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 80, Rz. 131 und Böckenförde, Grundrechtstheorie,S. 1530.86 Berka, Grundrechte, S. 80, Rz. 131; vgl. auch Böckenförde, Grundrechtstheorie,S. 1530 f.87 Siehe Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1531.88 So Stern, Staatsrecht, S. 1682.89 Stern, Staatsrecht, S. 1682.
nen zur Sicherung eines Bereiches individueller und gesellschaftlicherFreiheit, in dem der Einzelne, rechtlich gesehen, nach subjektivem Belie-ben handeln kann. Sie bilden vielmehr objektive Ordnungsprinzipienfür die Lebensbereiche, die von ihnen geschützt werden. Sie entfaltenund verwirklichen sich in normativen Regelungen institutioneller Art,die von der Ordnungsidee des Grundrechtes getragen sind und als sol-che die Lebensverhältnisse prägen. Sie nehmen aber gleichzeitig dieSachgegebenheiten der Lebensverhältnisse, für die sie gelten, in sich aufund verleihen ihnen dadurch normativen Gehalt.90Die Grundrechtsinterpretation im Sinne der institutionellenGrundrechtstheorie führt etwa dazu, dass ein erheblich weitergehenderSpielraum für eine gesetzliche Normierung und Ausgestaltung dergrundrechtlichen Schutzbereiche eröffnet wird als nach der liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtstheorie. Das Gesetz erscheint dabei nichtprimär als ein Instrument, das die grundrechtliche Freiheit beschränktund in sie eingreift, sondern vielmehr die grundrechtliche Freiheitermöglicht und verwirklicht.91 Sie wird damit zu einer Freiheit, die aufbestimmte Ziele hin orientiert ist, konkret auf die Realisierung des insti-tutionell-objektiven Sinns der Freiheitsgewährleistung.92 Dadurch kannsie im Wege der institutionellen Sinnerfüllung zur Pflicht werden.93Gehört nämlich zum Sinn der rechtlichen Freiheit eine «Aufgabe», so istes nur folgerichtig, wenn die Erfüllung dieser Aufgabe auch vonseitendes Staates durch entsprechende Regelungen unterstützt, die Nichterfül-lung dagegen durch staatliche Eingriffe oder eine Reduzierung bzw.Ablehnung des Freiheitsschutzes sanktioniert wird.941.3 Die Werttheorie der GrundrechteDiese Theorie geht zurück auf die Integrationslehre Rudolf Smends. DieGrundrechte legen dabei grundlegende Gemeinschaftswerte fest. Sienormieren «ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem, durch das die Ein-zelnen einen ‹materialen Status› erhalten, sich sachlich als ein Volk und146Tobias Michael Wille90 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1532.91 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1532; siehe auch Berka, Grundrechte, S. 80,Rz. 132.92 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1532.93 Berka, Grundrechte, S. 80, Rz. 132.94 Siehe Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1532.
zu einem Volk von nationaler Eigenart integrieren (sollen)».95 Gleich wiebei der institutionellen Grundrechtstheorie haben die Grundrechtedaher primär den Charakter objektiver Normen und nicht subjektiverAnsprüche. Den objektiven Gehalt erhalten die Grundrechte als Aus-fluss der Wertgrundlage des staatlichen Gemeinwesens und Ausdruckeiner Wertentscheidung, die dieses Gemeinwesen für sich selbst trifft.Dies wirkt sich auf den Inhalt der grundrechtlichen Freiheit aus, diejeweils Freiheit zur Realisierung der in den Grundrechten ausgedrück-ten Werte und im Rahmen der durch die Grundrechte insgesamt aufge-stellten Wertordnung ist.96 Die rechtlichen Folgen für die Grundrechts-interpretation lassen sich über weite Strecken mit denen der institutio-nellen Grundrechtstheorie vergleichen, weil es in beiden Fällen um eineObjektivierung und inhaltliche Ausrichtung der grundrechtlichen Frei-heit geht, wobei der Wertcharakter und die Wertbeziehung der Grund-rechte einige zusätzliche Momente hervorbringen.97 Als Werte gedeutet,sind die Grundrechte jedenfalls auf eine unbedingte Realisierung ange-legt, weshalb sie den Gesetzgeber zu einer bestmöglichen Optimierungder in ihnen angelegten Wertentscheidungen verpflichten.98Die Werttheorie hat insbesondere durch die (ältere) Judikatur desdeutschen Bundesverfassungsgerichtes Bedeutung erlangt. Sie war einwichtiger Ansatz, um die damals noch sehr umstrittene «Drittwirkung»der Grundrechte zu begründen.99 Später ist das deutsche Bundesverfas-sungsgericht, nachdem in der Literatur zahlreiche kritische Stimmen aufdie Gefahren der Argumentation mit Werten aufmerksam gemacht hat-ten, mit der überwiegenden Auffassung der Lehre in eine «Theorie» ein-geschwenkt, die den Grundrechten nicht nur subjektiv-rechtliche, son-dern auch objektiv-rechtliche Gehalte zugesteht.100 Auch wenn sich etwader österreichische Verfassungsgerichtshof nicht explizit auf die Wert-theorie beruft, finden sich in seinen Entscheidungen, insbesondere inseiner «sehr dynamischen Rechtsprechung zum Gleichheitsgrundsatz»147Verfassungs- und Grundrechtsauslegung95 Siehe Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1533.96 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1533.97 Siehe dazu und einlässlich zu diesen zusätzlichen Momenten Böckenförde, Grund-rechtstheorie, S. 1533 f.98 Siehe Berka, Grundrechte, S. 81, Rz. 133.99 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 80 f., Rz. 133.100 Siehe Stern, Staatsrecht, S. 1685.
vermehrt «wertende» Überlegungen.101 Solche sind auch in der Judika-tur des Staatsgerichtshofes zum allgemeinen Gleichheitssatz und zumWillkürverbot anzutreffen.1021.4 Die demokratisch-funktionale GrundrechtstheorieDie demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie versteht die Grund-rechte von ihrer öffentlichen und politischen Funktion her. Die Grund-rechte erhalten ihren Sinn und ihre grundsätzliche Bedeutung als konsti-tuierende Faktoren eines freien Prozesses demokratischer «Staats - her vorbringung», der von unten nach oben verläuft, und «eines demo-kratischen Prozesses politischer Willensbildung».103 Die Gewährunggrundrechtlicher Freiheitsbereiche verfolgt in erster Linie das Ziel, dieseProzesse zu ermöglichen und zu schützen. Die Grundrechte stehen demEinzelnen nicht zur freien Verfügung, sondern sind ihm als Glied derGemeinschaft und damit auch im öffentlichen Interesse eingeräumt.1041.5 Die sozialstaatliche GrundrechtstheorieGemäss der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie haben die Grund-rechte nicht nur einen negativ-ausgrenzenden Charakter, sondern ver-mitteln zugleich soziale Leistungsansprüche an den Staat.105 Gewährleis-tungsinhalt ist nicht nur die rechtlich-abstrakte, sondern die reale Frei-heit. Aus dem einzelnen Grundrecht folgt die Verpflichtung des Staates,die notwendigen sozialen Voraussetzungen zu schaffen, um einerseitsdie grundrechtliche Freiheit zu gewährleisten und andererseits dem Ein-zelnen grundrechtliche Ansprüche auf solche staatlichen Leistungen148Tobias Michael Wille101 So Schambeck, Theorie, S. 88 mit Rechtsprechungsnachweisen. Nach ihm erschwertjedoch gerade die Inhomogenität der Grundrechte, die das Grundrechtssystemnicht als «innere Einheit» erleben lassen, die Anwendung der Werttheorie in Öster-reich (S. 89); allgemein kritisch zur Rezeption dieses GrundrechtsverständnissesHoloubek, Gewährleistungspflichten, S. 126 ff. 102 Siehe dazu Vogt, Willkürverbot, S. 31, 86 und 187 ff. mit Rechtsprechungsnachwei-sen.103 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1534.104 Berka, Grundrechte, S. 81, Rz. 134; siehe zu den weitreichenden Folgen dieserGrundrechtstheorie auf die Grundrechtsinterpretation eingehend Böckenförde,Grundrechtstheorie, S. 1535.105 Siehe Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1536; vgl. auch Berka, Grundrechte,S. 81, Rz. 135 und Schambeck, Theorie, S. 88.
bzw. auf Teilhabe an staatlichen bzw. vom Staat geschaffenen Einrich-tungen einzuräumen, die der Realisierung grundrechtlicher Freiheit die-nen.106 Diese Grundrechtstheorie wirkt sich auf die Grundrechtsinter-pretation anders aus, als dies bei den bisher vorgestellten Grundrechts-theorien der Fall ist, jedoch keineswegs weniger einschneidend.1071.6 Die «verfassungsgemässe» GrundrechtstheorieDie bisher skizzierten Grundrechtstheorien greifen jeweils bestimmteArgumentationsmuster auf, die insbesondere in der deutschen Grund-rechtspraxis entwickelt wurden, und zeigen eindrücklich die Vielfaltunterschiedlicher Ansätze, mit denen sich die Praxis den Grundrechtenannähert, um Lösungen für bestimmte Problemlagen zu finden. Darinliegt letztlich auch der Wert einer solchen Systematisierung.108 Ernst-Wolfgang Böckenförde109 bemängelt denn auch, dass diese unterschied-lichen Grundrechtstheorien beliebig verwendet werden. Er stellt dahernicht nur aus pragmatischen, sondern auch aus verfassungstheoretischenGründen die Frage nach der «verfassungsgemässen Grundrechtstheo-rie», «um die ausufernde Variationsbreite der Grundrechtsinterpretationwieder zu begrenzen». Diese Fragestellung setzt allerdings voraus bzw.basiert auf der Annahme, dass der Grundrechtsteil einer Verfassungzwangsläufig von einer einzigen Ordnungsvorstellung beherrscht seinmuss. Eine solche Annahme ist indes fragwürdig und wird zu Recht kri-tisiert.110 Wie bereits dargelegt, sind die vorstehend erwähnten Grund-rechtstheorien nicht durchwegs miteinander unvereinbar, sondernbeleuchten teilweise nur unterschiedliche Facetten der Grundrechte.Zudem darf bezweifelt werden, ob sich die Grundrechte, die schon posi-tivrechtlich mit sehr unterschiedlichen Inhalten ausgestaltet sind, auf-grund ihres äusserst breiten Spektrums «über einen theoretischen Kammscheren lassen».111149Verfassungs- und Grundrechtsauslegung106 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1536 und Berka, Grundrechte, S. 81,Rz. 135.107 Siehe dazu einlässlich Böckenförde, S. 1536.108 Siehe Berka, Grundrechte, S. 81, Rz. 135.109 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1537.110 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 82, Rz. 135.111 Siehe Berka, Grundrechte, S. 82 f., Rz. 135.
1.7 Die Grundrechtstheorie Robert AlexysRobert Alexy112 hat auf der Grundlage der Praxis des deutschen Bun-desverfassungsgerichtes eine weitere Grundrechtstheorie entwickelt. Sieunterscheidet zwischen «Regeln» und «Prinzipien» und geht auf RolandDworkin, konkret auf dessen 1977 erschienene Publikation «TakingRights Seriously» (auf deutsch: «Bürgerrechte ernstgenommen»),113zurück.114 Diese Differenzierung stellt für Robert Alexy den Schlüsselzur Lösung zentraler Probleme der Grundrechtsdogmatik dar. DieRegeln sind dabei Normen, die stets entweder nur erfüllt oder nichterfüllt werden können. Sie verbieten also ein bestimmtes Verhalten oderverbieten es nicht. Prinzipien sind hingegen Optimierungsgebote, die inunterschiedlichem Masse erfüllt sein können. Während sich Grund-rechte sehr oft als Prinzipien präsentieren, weil noch nicht von vornehe-rein feststeht, welches Verhalten – beispielsweise eine bestimmte staatli-che Beschränkung – mit ihnen vereinbar ist oder nicht, was erst in einemAbwägungsprozess zu ermitteln ist, können Regeln sodann erst alsErgebnis der Abwägungsentscheidung formuliert werden, wobeigewisse Grundrechte von vornherein etwas regelhafter bestimmt seinkönnen.115Diese Prinzipientheorie, d. h. die Deutung der Grundrechte alsPrinzipien, hängt eng mit der Geltung des Verhältnismässigkeitsgrund-satzes zusammen,116 der für das liechtensteinische Recht einerseits posi-tivrechtlich, beispielsweise in den materiellen Gesetzesvorbehalten derEMRK, normiert ist und andererseits von der Rechtsprechung desStaatsgerichtshofes auch als allgemeiner (Verfassungs-)Grundsatz aner-kannt ist.117 Kollidiert nun ein Grundrecht mit einem gegenläufigenGrundrecht oder einem objektiven Rechtsgut, wie beispielsweise demSchutz der Gesundheit, liegt nach dieser Theorie ein Prinzipienkonflikt150Tobias Michael Wille112 Alexy, Theorie.113 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 54 ff. und S. 145 ff., zitiert nach Berka, Grundrechte,S. 82, Fn. 17.114 Siehe Berka, Grundrechte, S. 82, Rz. 136.115 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 82, Rz. 136.116 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 82, Rz. 137.117 Siehe StGH 2003/24, Urteil vom 15. September 2003, <www.stgh.li>, Erw. 3.2; vgl.auch StGH 2011/193, Urteil vom 2. Juli 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 3.7; StGH2011/194, Urteil vom 2. Juli 2013, nicht veröffentlicht, Erw. 3.7; siehe auch Vogt,Willkürverbot, S. 214 und S. 351, insbesondere Fn. 112.
vor, der nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit aufzulösen ist.Konkret ist zu untersuchen, ob die fragliche staatliche Massnahme geeig-net, erforderlich und verhältnismässig ist, was letztlich zu einer Abwä-gungsentscheidung führt.1182. Praxis des StaatsgerichtshofesDer Staatsgerichtshof hat sich in seiner Judikatur wie auch das deutscheBundesverfassungsgericht auf keine bestimmte Grundrechts- und Ver-fassungstheorie festgelegt.119 Nur vereinzelt finden sich grundsätzlicheAussagen zum allgemeinen Charakter der Grundrechte.120 Diesgeschieht insbesondere im Zusammenhang mit den klassischen Frei-heits- bzw. Abwehrrechten der persönlichen Freiheit gemäss Art. 32LV121 und der in Art. 34 LV verankerten Eigentumsgarantie122. In StGH1994/2123 hält der Staatsgerichtshof etwa im Sinne der liberalen (bürger-lich-rechtsstaatlichen) Grundrechtstheorie fest, dass Grundrechte demSchutz wichtiger Freiheitspositionen dienen und nicht auf Einschrän-kungen ausgedehnt werden sollen, die als Neben- oder Folgewirkungendes Staatshandelns auftreten. Dies gelte insbesondere dann, wenn dieMassnahme im Hinblick auf das jeweilige Grundrecht keine die freiheit-liche Betätigungsmöglichkeit einschränkende Intensität aufweist. Wei-ters betont er in StGH 1995/12,124 dass der Gesetzgeber kein Rechtsin-151Verfassungs- und Grundrechtsauslegung118 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 82, Rz. 137.119 Siehe Höfling, Grundrechtsordnung, S. 42; für Deutschland siehe Lerche, Stil undMethode, S. 345, der von einer wohltuenden Theorienvorsicht spricht und Stern,Staatsrecht, S. 1680. So auch Berka, Grundrechte, S. 81 f., Rz. 135 für den dieGrundrechte aufgrund ihrer unterschiedlichen Inhalte «nicht über einen theoreti-schen Leisten geschlagen werden können».120 In StGH 1998/10, Urteil vom 3. September 1998, LES 1999, S. 218 (223, Erw. 1),betont der Staatsgerichtshof beispielsweise ganz allgemein, dass Grundrechte tat-sächlich primär Schutzrechte gegen den Staat sind.121 Allgemein und einlässlich zu Art. 32 LV Beck/Kley, Freiheit, S. 131 ff., Rz. 1 ff.122 Ausführlich zur Eigentumsgarantie Wille H., Verwaltungsrecht, S. 27 ff. und jüngstVallender/Vogt, Eigentumsgarantie, S. 689 ff., Rz. 1 ff. 123 StGH 1994/2, Entscheidung vom 4. Dezember 1995, nicht veröffentlicht, Erw. 4unter Verweis auf Marcel Bolz, Das Verhältnis von Schutzobjekt und Schranken derGrundrechte, Zürich 1991, S. 50 ff.124 StGH 1995/12, Urteil vom 31. Oktober 1995, LES 1996, S. 55 (59, Erw. 5.1).
stitut schaffen darf, das den Einzelnen in einem Ausmass begrenzt, dasfür jeden privatrechtlichen Vertrag die Nichtigkeit zur Folge hätte. DieUnauflöslichkeit der einverständlich getrennten Ehe verstosse deshalbgegen Art. 32 Abs. 1 LV. Ebenso müssen Gesetze, die das Eigentum ein-engen, berücksichtigen, dass Art. 34 Abs. 1 LV eine freiheitliche Eigen-tumsordnung voraussetzt. Die Institution des Privateigentums muss inihrer Substanz gewahrt bleiben und es dürfen keine unverhältnismässi-gen Eigentumsbeschränkungen erfolgen.125Einflüsse der Werttheorie der Grundrechte und der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie sind in StGH 1994/8 zu registrieren.In dieser Entscheidung führt der Staatsgerichtshof im Zusammenhangmit der in Art. 40 LV und Art. 10 EMRK garantierten Meinungsfrei-heit126 aus, dass im Hinblick auf die Wertentscheidungen der Verfassungund der EMRK, die der Meinungsfreiheit in einer demokratischenGesellschaft eine zentrale Bedeutung beimisst, der strafrechtlichenBestimmung des § 248 Abs. 1 StGB127 ein enger Anwendungsbereichzuzuschreiben ist. Weiters hält er fest, dass das Grundrecht der freienMeinungsäusserung für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung128konstitutiv ist, denn es ermögliche erst die ständige Auseinandersetzung,den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es sei in gewis-sem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.129 Gerade die ideellenGrundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit sind also Vorausset-zungen zur Erkenntnis der Wahrheit, Mittel der Erziehung zur geistigenToleranz und Hilfe gegen die Neigung zur Unterdrückung unbequemer,unbeliebter oder unorthodoxer Meinungen. Sie sind auch als Informati-152Tobias Michael Wille125 StGH 1996/29, Urteil vom 24. April 1996, LES 1998, S. 13 (17, Erw. 2.5).126 Eingehend zum Grundrecht der Meinungsfreiheit Hoch, Meinungsfreiheit,S. 195 ff., Rz. 1 ff.127 § 248 Abs. 1 StGB lautet: «Wer auf eine Art, dass die Tat einer breiten Öffentlich-keit bekannt wird, in gehässiger Weise das Fürstentum Liechtenstein beschimpftoder verächtlich macht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen.»128 Dies ist eine für die liechtensteinische Staatsordnung zu weitgehende Formulierung,die die monarchischen Elemente ausklammert.129 StGH 1994/8, Urteil vom 4. Oktober 1994, LES 1995, S. 23 (26 f., Erw. 4 mit Ver-weis auf BVerGE 7, 208); siehe dazu auch StGH 2008/80, Urteil vom 25. Juni 2009,nicht veröffentlicht, Erw. 5, wo der Staatsgerichtshof darauf hinweist, dass Art. 40erster Halbsatz LV als umfassendes Meinungsgrundrecht nicht nur als zentralesAbwehrgrundrecht von zentraler Bedeutung ist. Die freie Meinungsäusserung liegeauch in jedem demokratisch verfassten Gemeinwesen im öffentlichen Interesse.
ons- und Kontrollrechte die Grundlagen eines freien und demokrati-schen Entscheidungsprozesses und stellen Mittel des Minderheiten-schutzes, Begrenzungen des Mehrheitswillens zugunsten der Ideenunpopulärer Minderheiten dar.130Wenn Wolfram Höfling131 aus liechtensteinischer und Ernst-Wolf-gang Böckenförde132 aus deutscher Sicht Kritik äussern, wonach sich derStaatsgerichtshof bzw. das deutsche Bundesverfassungsgericht nicht aufeine Grundrechts- und Verfassungstheorie festlegen lassen, so ist dage-gen prinzipiell einzuwenden, dass Gerichte keine Theorien entwerfen.133Sie gewähren Rechtsschutz und lösen einzelne Fälle.134 Neben diesemEinwand gibt es noch andere Gründe, die zumindest Skepsis hervorru-fen, was die Eignung des Staatsgerichtshofes als «Theorienproduzent»angeht.135 So ist das gerichtliche Verfahren auch funktional nicht in derLage, sich in den Dienst wissenschaftlicher Theoriebildung zu stellen.Während die Wissenschaft frei ist und versucht, Ausschnitte aus derRealität zu verallgemeinern und in einer Theorie zu beschreiben, dientdas gerichtliche Verfahren der Würdigung des Besonderen. Theoriebil-dung engt die Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichtes ein und ver-hindert den pragmatischen Interessenausgleich im Einzelfall.136 In diesem Sinne bezieht denn auch der Staatsgerichtshof, wie WolframHöfling137 konstatiert, «prinzipielle Positionen nach Massgabe pragma-153Verfassungs- und Grundrechtsauslegung130 StGH 1994/8, Urteil vom 4. Oktober 1994, LES 1995, S. 23 (26 f., Erw. 4 unterBezugnahme auf Luzius Wildhaber, Menschen- und Minderheitenrechte in dermodernen Demokratie, Basel 1992, S. 12).131 Höfling, Grundrechtsordnung, S. 42. Nach ihm sucht man vergeblich nach einerexplizit formulierten konsistenten Grundrechts- und Verfassungstheorie in derRechtsprechung des Staatsgerichtshofes.132 Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1536 ff.133 Ähnlich gestaltet sich die Lage nach Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesver-fassungsrecht, S. 68, Rz. 134 auch für Österreich. Sie kritisieren, dass die Interpre-tationspraxis des Verfassungsgerichtshofes seit Jahren ohne erkennbare methodi-sche Linie ist.134 Siehe Vosskuhle, Staatstheorie, S. 371.135 Vgl. Vosskuhle, Staatstheorie, S. 371 ff. Seine Ausführungen beziehen sich auf dieFrage, ob es eine bzw. die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichtes gibt. Sie las-sen sich rechtsvergleichend auch auf den Staatsgerichtshof übertragen. Auch diesbe-züglich ist zu fragen, ob sich aus seiner Praxis eine bzw. die Grundrechts- bzw. Ver-fassungstheorie herleiten lässt.136 Siehe Vosskuhle, Staatstheorie, S. 372.137 Höfling, Grundrechtsordnung, S. 42.
tischer Gesichtspunkte». Wissenschaftliche Tätigkeit, für die Flexibilitätund kreative Unruhe notwendig sind, passt denn auch nicht zu zentra-len Handlungsmaximen richterlicher Tätigkeit, die sowohl eine geset-zeskonforme Lösung des Einzelfalles anstrebt als auch Stabilität undRechtssicherheit schaffen will.1383. Methodischer Ansatz des StaatsgerichtshofesDie Entwicklung der Grundrechtsinterpretation des Staatsgerichtshofesverlief aufgrund seines methodischen Ansatzes ähnlich wie diejenige inÖsterreich,139 von einem formellen Grundrechtsverständnis hin zueinem materiellen Grundrechtsverständnis.140 Er wandte in vermehrtemMasse teleologische und systematische Auslegungsmethoden an, deneneine materielle Sicht des Gesetzesvorbehaltes zugrunde liegt. Der Staats-gerichtshof orientierte sich in der Folge nicht so sehr an einer bestimm-ten Grundrechts- und Verfassungstheorie, sondern vielmehr allgemeinan einem materiellen Grundrechtsverständnis, das fortan seine Praxisbestimmte.Ausschlaggebend dafür war insbesondere die EMRK, die fürLiechtenstein im Jahre 1982141 in Kraft trat und die für zahlreicheGrundrechte materielle Eingriffsschranken statuiert.142 Sie entsprechenim Ergebnis weitgehend dem Erfordernis des überwiegenden öffentli-chen Interesses und des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes.143 Vor allemfür Eingriffe in die klassischen Grund- und Freiheitsrechte sind diemateriellen Prüfungskriterien, die zusätzlich noch die Kern- oder154Tobias Michael Wille138 Vgl. Vosskuhle, Staatstheorie, S. 372.139 Vgl. Schambeck, Theorie, S. 90 und Holoubek, Interpretation, S. 43 ff.140 Vgl. auch Höfling, Grundrechtsordnung, S. 43, der von einem interpretationsme-thodischen Entwicklungsprozess spricht, wonach sich ähnlich wie in Österreichauch für Liechtenstein eine stärker inhaltsbezogene, teleologisch geprägte Grund-rechtsauslegung registrieren lässt. Nach Jestaedt, Grundrechtsrevolution, S. 107,wirkt sich die Verbindung von Systemgedanke einerseits und Teleologisierung derGrundrechte andererseits als «Wachstumshormon» der Grundrechtsdogmatik aus.141 LGBl. 1982 Nr. 60.142 Siehe Hoch, Schwerpunkte, S. 71 ff.143 Vgl. Hoch, Schwerpunkte, S. 72.
Wesensgehaltsgarantie144 einschliessen, seit Mitte der Achtzigerjahre desvorigen Jahrhunderts in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofesetabliert,145 sodass neben den starken Einflüssen der EMRK auf seineRechtsprechung nicht zu übersehen ist, dass er auch Teile der deutschenund schweizerischen Grundrechtsdoktrin übernommen hat. Insbeson-dere findet sich in seiner Rechtsprechung bei den klassischen Freiheits-und Abwehrrechten, wie der Handels- und Gewerbefreiheit, der Eigen-tumsgarantie und der persönlichen Freiheit, regelmässig der vom deut-schen Bundesverfassungsgericht entwickelte «Dreischritt der Grund-rechtsprüfung»146 – Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung147 –,wobei der Staatsgerichtshof in seiner Praxis nicht oft alle drei Schritteexakt nachvollzieht. Er setzt vielmehr regelmässig, d. h. ohne sich näherdamit zu befassen bzw. ohne konkrete Erwägungen anzustellen, denSchutzbereich des jeweils zu prüfenden Grundrechts als tangiert undden Eingriff in dasselbe als gegeben voraus, denn er wendet sich, insbe-sondere bei den Verfahrensgrundrechten und dem Recht auf persönlicheFreiheit nicht selten unter Verwendung der entsprechenden Grund-rechtsformel direkt der Rechtfertigungsprüfung zu. Konkret prüft derStaatsgerichtshof dann gemäss den «in der Schweiz und in Deutschland155Verfassungs- und Grundrechtsauslegung144 In StGH 2008/60, Urteil vom 30. September 2008, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 3.2, weist der Staatsgerichtshof jedoch darauf hin, dass es kaum eindeutige Kri-terien gibt, um den Kerngehalt der einzelnen Grundrechte zu bestimmen, wobei esjedoch klar ist, dass der Kerngehalt eines Grundrechts nur in krassen Ausnahmefäl-len betroffen sein kann.145 Siehe statt vieler: StGH 1997/19, Urteil vom 5. September 1997, LES 1998, 269(273 f., Erw. 3.2 f.); StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998, LES 1999, S. 20 (25 ff.,Erw. 5.1 ff.); StGH 2000/41, Entscheidung vom 10. April 2001, nicht veröffentlicht,Erw. 2.1; StGH 2002/86, Entscheidung vom 14. April 2003, nicht veröffentlicht,Erw. 3; StGH 2006/53, Urteil vom 17. September 2007, <www.gerichts entscheide.li>, Erw. 3; StGH 2011/80, Beschluss vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4 ff.; StGH 2011/203, Urteil vom 15. Mai 2012, nicht veröffent-licht, Erw. 5.2; StGH 2012/110, Urteil vom 4. Februar 2013, nicht veröffentlicht,Erw. 3.1; StGH 2012/193, Urteil vom 14. Mai 2013, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 5.2; vgl. auch Hoch, Schwerpunkte, S. 71 ff.146 So Ipsen, Grundzüge, S. 266, der anmerkt, dass dieser Dreischritt der Grundrechts-prüfung in Deutschland inzwischen kanonischen Rang hat und in Lehrbücherngeradezu als durch das Grundgesetz selbst vorgegeben erscheint. Er selbst stellt die-sen kanonischen Dreischritt von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung infrageund versucht ihn durch drei Ebenen – die Tatbestands-, die Einwirkungs- und dieRechtfertigungsebene – zu ersetzen (S. 266 ff.).147 Siehe dazu auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, S. 3, Rz. 9 und S. 54 ff., Rz. 212 ff.
schon seit langem fest etablierten materiellen Prüfungskriterien»148 noch,ob es für den jeweiligen von ihm ohne nähere Erklärung vorausgesetz-ten Grundrechtseingriff eine gesetzliche Grundlage gibt, ob dafür einüberwiegendes öffentliches Interesse gegeben ist und ob der Eingriff imSinne einer differenzierten Verhältnismässigkeitsprüfung geeignet,erforderlich und zumutbar ist sowie letztlich, ob der Kerngehalt desGrundrechts gewahrt bleibt.149 Allerdings variiert die Praxis des Staats-gerichtshofes auch hier, denn er geht nicht immer exakt nach diesemPrüfschema vor.150Anders verfährt der Staatsgerichtshof bei den sogenannten Verfah-rens- bzw. Justizgrundrechten bzw. Verfahrensgarantien,151 für die, je-denfalls soweit ersichtlich, die Frage nach der Anwendung dieser mate-riellen Prüfungskriterien nicht geklärt ist. Während der Staatsgerichtshofbei der Prüfung einer Verletzung des Beschwerderechtes gemäss Art. 43LV, das auch den Anspruch auf Zugang zum Gericht beinhaltet,152 insbe-sondere im Zusammenhang mit gesetzlichen Rechtsmittelausschlüssendie materiellen Prüfungskriterien des öffentlichen Interesses, der Ver-hältnismässigkeit und des Kerngehaltes anwendet,153 finden sich diese156Tobias Michael Wille148 Hoch, Schwerpunkte, S. 71.149 Vgl. StGH 2002/86, Entscheidung vom 14. April 2003, nicht veröffentlicht, Erw.2 ff.; StGH 2009/93, Urteil vom 1. Dezember 2009, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 7 ff.; StGH 2010/131, Urteil vom 28. März 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 3.3 ff.; StGH 2011/21, Urteil vom 18. Mai 2011, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 2 ff. 150 StGH 2000/8, Entscheidung vom 11. Juni 2001, nicht veröffentlicht, Erw. 7 ff.;StGH 2000/41, Entscheidung vom 10. April 2001, nicht veröffentlicht, Erw. 2.1 ff.;StGH 2009/93, Urteil vom 1. Dezember 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.7.1 ff.; StGH 2009/149, Urteil vom 30. November 2009, <www.gerichtsents ch eide.li>, Erw. 2.1 f.; StGH 2011/21, Urteil vom 18. Mai 2011, <www.gerichtsents cheide.li>, Erw. 2 ff.; StGH 2011/35, Urteil vom 24. Oktober 2011, <www.gerichts entscheide.li>, Erw. 2 ff.; StGH 2011/80, Beschluss vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4 ff.; StGH 2011/155, Urteil vom 28. Juni 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3 ff.151 Allgemein zur Bedeutung und Geltung der Verfahrensgrundrechte Wille T., Verfas-sungsprozessrecht, S. 249 ff.; siehe dazu auch Grabenwarter/Pabel, Menschen-rechtskonvention, S. 383, Rz. 1.152 Siehe Wille T., Beschwerderecht, S. 518 ff., Rz. 18 f.153 Vgl. statt vieler: StGH 2009/4, Urteil vom 17. September 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 1.2.4 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen; StGH 2009/200,Urteil vom 9. August 2010, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3; StGH 2010/80,
Prüfungskriterien in der Rechtsprechung, soweit ersichtlich, bei der Prü-fung anderer Verfahrensgarantien, wie etwa dem Anspruch auf rechtli-ches Gehör oder generell den Ansprüchen nach Art. 6 EMRK, nicht häu-fig.154 Unlängst hat der Staatsgerichtshof jedoch in StGH 2011/10,155 so-weit überblickbar, erstmals im Rahmen einer «differenzierten Prüfung»einer Verletzung des Rechts auf den ordentlichen Richter nach der «Ver-fahrensverfügungsformel»156 untersucht, ob für den zu beurteilendenEingriff in das Recht auf den ordentlichen Richter eine «genügende ge-setzliche Grundlage» vorliege und ob dieser sowohl im öffentlichen Inte-resse als auch verhältnismässig sei.157 Nach Hugo Vogt158 spricht beimAnspruch auf rechtliches Gehör aufgrund seines umfassenden sachlichenGewährleistungsbereiches nichts dagegen, die vorstehend genanntenEingriffsschranken bzw. Prüfungskriterien auch auf ihn anzuwenden. Inder Lehre wird jedoch allgemein im Zusammenhang mit den Verfahrens-garantien nach Art. 6 EMRK die Auffassung vertreten, dass die Katego-rien von Eingriff in das Grundrecht und Rechtfertigung des Eingriffs, dieder Grundrechtsprüfung von Freiheitsrechten zugrunde liegen, sichnicht auf diese übertragen lassen.159 Dies wird insbesondere damit be-157Verfassungs- und GrundrechtsauslegungUrteil vom 29. November 2010, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.4; StGH2010/131, Urteil vom 28. März 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 3.4.2; siehe dazuauch eingehend Wille T., Beschwerderecht, S. 531 f., Rz. 35 f. Grabenwarter/Pabel,Grundsatz, S. 717, Rz. 164 sprechen in diesem Zusammenhang für die Teilgarantiedes Art. 6 EMRK auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gerichtvon einer der Rechtfertigungsprüfung der Grundrechte aus Art. 8 bis Art. 11EMRK vergleichbaren Prüfstruktur. 154 Vgl. StGH 2003/24, Urteil vom 15. September 2003, <www.stgh.li>, Erw. 4 ff.;StGH 2005/13, Urteil vom 31. März 2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 7 ff.und Erw. 10 ff.; StGH 2007/138 und StGH 2008/35, Urteil vom 26. Mai 2008,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4.1 ff.; StGH 2009/93, Urteil vom 1. Dezember2009, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4.1; StGH 2011/35, Urteil vom 24. Okto-ber 2011, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1 f. und Erw. 7 ff.; StGH 2011/148,Urteil vom 14. Mai 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5 ff.155 StGH 2011/10, Urteil vom Urteil vom 29. August 2011, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.3.1.156 Siehe dazu Wille T., Richter, S. 362 ff., Rz. 36 ff.157 Einlässlich zu den einzelnen Rechtsprechungsformeln des Staatsgerichtshofes beider Prüfung einer Verletzung des Rechts auf den ordentlichen Richter Wille T.,Richter, S. 362 ff., Rz. 36 ff.158 Vogt, Anspruch, S. 588 ff., Rz. 35 ff.159 Grabenwarter/Pabel, Grundsatz, S. 717, Rz. 163.
gründet, dass die Verfahrensgrundrechte stärker normgeprägt sind als dieüberkommenen Abwehrrechte. Aufgrund ihres Charakters als Teilhabe-rechte sind die Verfahrensgrundrechte in erster Linie daraufhin zu prü-fen, ob das Verhalten der Staatsorgane mit dem Grundrecht vereinbar ist.Das Grundrecht selbst gibt dabei den jeweils grundrechtsspezifischenPrüfungsaufbau vor. Für Abwägungsprozesse bleibt regelmässig nur we-nig Raum, da die autonome Auslegung der einschlägigen Rechtsbegriffedurch den EGMR und die Subsumption unter die von der EMRK vorge-gebenen Teilaspekte eines europäischen Prozessrechts im Vordergrundstehen.160 Gleichwohl hat die Praxis des EGMR in jüngerer Zeit im Wegeder Abwägungsprozesse über den Grundsatz der Verhältnismässigkeitauch die Verfahrensgrundrechte erfasst.161 Offen für Abwägungspro-zesse, und zwar regelmässig zulasten der Wortlautinterpretation, ist derEGMR beim Gebot angemessener Verfahrensdauer, beim Ausschluss derÖffentlichkeit oder im Zusammenhang mit der Frage, ob die Verfahrens-hilfe zu gewähren ist. Doch auch Fragen, ob im Verfahren die Waffen-gleichheit und die Fairness gewahrt wurden oder ob genügende Siche-rungen beim Zeugenbeweis bestanden, gehören neben dem Anspruch aufein unabhängiges Gericht inzwischen zum Einzugsbereich einer Verhält-nismässigkeitsprüfung.162 Christoph Grabenwarter und Thilo Ma-rauhn163 erblicken für die konventionsrechtlichen Schutzstandards eineernsthafte Gefahr insbesondere darin, dass die entsprechenden Abwä-gungsvorgänge deutlich weniger strukturiert sind und dass vermehrtnoch verstärkt einzelfallbezogene Kriterien angewendet werden.In der Schweiz zeigt sich ein ähnliches Bild. Während Teile derLehre sowie die Gesetzesmaterialien164 davon ausgehen, dass die inArt. 36 BV aufgezählten und von der Rechtsprechung und Lehre entwi-ckelten Kriterien, damit ein Freiheitsrecht eingeschränkt werden darf(gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit undRespektierung des Kerngehaltes), nicht auf die Verfahrensgrundrechte158Tobias Michael Wille160 Vgl. Grabenwarter/Marauhn, Grundrechtseingriff, S. 375, Rz. 62 f.161 Siehe Grabenwarter/Marauhn, Grundrechtseingriff, S. 375 f., Rz. 64 mit Rechtspre-chungsnachweisen.162 Vgl. Grabenwarter/Marauhn, Grundrechtseingriff, S. 375 f., Rz. 64.163 Grabenwarter/Marauhn, Grundrechtseingriff, S. 376, Rz. 64.164 Vgl. Botschaft des Bundesrates BBl 1997 I 194 f.
anzuwenden sind,165 werden sie vom Schweizer Bundesgericht in seinerRechtsprechung auch für andere Grundrechte als die Freiheitsrechte,allerdings nicht in schematischer, sondern differenzierender Weise,herangezogen.166 Abgestuftere Ansätze werden vereinzelt auch in derLiteratur vertreten.167 Insbesondere sind etwa beim rechtlichen Gehör,konkret beim Akteneinsichtsrecht, Einschränkungen zum Schutzeöffentlicher Interessen und von Grundrechten Dritter durchaus denkbarund auf gesetzlicher Ebene auch vorgesehen.168IV. Methoden der Grundrechtsauslegung 1. AllgemeinesNach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes ist letztlich «jederText auslegungsbedürftig und die Erkenntnis, dass ein Wortlaut ‹klar› ist,erübrigt nicht etwa die Auslegung, sondern ist selbst schon das Ergebniseines Auslegungsvorganges».169 Demzufolge ist auch eine Rechtsnormimmer auslegungsfähig.170 Wie jede Rechtsanwendung, ist auch dieRechtsprechung des Staatsgerichtshofes durch das Verhältnis zur Fragebestimmt, nach welchen methodischen Grundlagen Rechtserkenntnisund gestützt darauf in der Folge Rechtsanwendung zu erfolgen hat.171159Verfassungs- und Grundrechtsauslegung165 Vgl. Keller, Garantien, S. 660 f., Rz. 53, insbesondere Fn. 164.166 Vgl. Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 97, Rz. 303.167 Siehe dazu und zum Stand der Diskussion Vogt, Anspruch, S. 588, Rz. 35, insbe-sondere Fn. 112 und Keller, Garantien, S. 660 f., Rz. 53 sowie Häfelin/Haller/Kel-ler, Bundesstaatsrecht, S. 96 f., Rz. 302 f.168 Vgl. Keller, Garantien, S. 661, Rz. 53; für Liechtenstein siehe beispielsweise § 30Abs. 2 StPO und dazu Wille T., Verteidigung, S. 456 ff., Rz. 19 ff. mit Rechtspre-chungsnachweisen; vgl. auch Vogt, Anspruch, S. 583 ff., Rz. 26 ff. mit Rechtspre-chungsnachweisen. In Deutschland wird davon ausgegangen, dass das rechtlicheGehör nicht unter einem Gesetzesvorbehalt steht und daher gesetzlicher Beschrän-kungen zugänglich ist, wenn diese ihrerseits dem effektiven Rechtsschutz und derRechtssicherheit dienen. Siehe Degenhart, Art. 103 GG, S. 2046 f., Rz. 12 ff.169 StGH 2006/35, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.stgh.li>, Erw. 3.2; siehe auchStGH 2000/32, Entscheidung vom 17. September 2001, <www.gerichtsentschei de.li>, Erw. 2.4.170 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1.171 Siehe für Österreich Holoubek, Interpretation, S. 43.