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2. Verfassungsrechtliche VorgabenIn einem internationalen Vergleichsrahmen zählt die liechtensteinischeVerfassung wie die österreichische Bundesverfassung grundsätzlich zujener Kategorie von Verfassungen, die selbst zwar Interpretationsmass-stäbe, wie etwa die in Art. 14 ff. LV normierten Staatszielbestimmungenbzw. -aufgaben,172 jedoch keine positivierten Interpretationsregeln ent-halten.173 In Art. 104 Abs. 1 LV lässt sich zwar eine Interpretationsregelin einem weiten Sinne erkennen. Sie stellt aber keinesfalls eine Ausle-gungsmethode dar. Nach dieser Bestimmung ist der Staatsgerichtshof u. a. zuständig, Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichten und denVerwaltungsbehörden zu entscheiden.1743. Klassischer AuslegungskanonFehlen positivrechtliche Interpretationsregeln bzw. -methoden, fragt essich, nach welchen Auslegungsregeln bzw. -methoden die Verfassungund damit auch die Grundrechte legitimerweise interpretiert werdenkönnen,175 denn Grundrechtsinterpretation ist Teil der Verfassungsinter-pretation, wobei die Grundrechtsauslegung auch ihre Besonderheitenaufweist.176160Tobias Michael Wille172 Vgl. dazu beispielsweise StGH 1995/34, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1997, S. 78(82 f., Erw. 2.2); StGH 1997/24, Urteil vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht,Erw. 5; StGH 1997/25, Urteil vom 30. Januar 1998, nicht veröffentlicht, Erw. 5;StGH 2009/181, Urteil vom 18. Mai 2010, nicht veröffentlicht, Erw. 3.1; StGH2010/70, Urteil vom 20. September 2010, nicht veröffentlicht, Erw. 3.1. 173 Siehe für Österreich Gamper, Regeln, S. 101; vgl. auch Schäffer, Verfassungsinter-pretation, S. 57.174 Vgl. für Österreich Gamper, Regeln, S. 101.175 Vgl. für Österreich Schäffer, Verfassungsinterpretation, S. 57 f.176 Siehe Häberle, Grundrechtsgeltung, S. 916. Nach Ossenbühl, Interpretation, S. 2105sind jedenfalls die vertrauten methodischen Ansätze für die Auslegung einfacherGesetze auf die Grundrechtsinterpretation nicht ohne Weiteres übertragbar, zumin-dest nicht durchwegs verwertbar und keinesfalls ausreichend. Siehe dazu für dieSchweiz auch allgemein Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 149 ff. sowie Biaggini,Verfassungsinterpretation, S. 116; für Österreich vgl. Berka, Grundrechte, S. 72,Rz. 118.
Wird die Sinnhaftigkeit der Rechtsordnung und damit auch dieMöglichkeit, den Gehalt von Verfassungsbestimmungen durch Ausle-gung zu ermitteln, bejaht, so kann die unterbliebene Anordnung beson-derer Interpretationsregeln wohl nur dahingehend verstanden werden,dass der Verfassungsgesetzgeber die Verfassung «nach den üblichenRegeln» gedeutet wissen will.177 Dieses Verständnis zeigt sich denn auchin der Praxis des Staatsgerichtshofes.178 Danach ist das nach den aner-kannten Regeln ausgelegte Gesetz relevant.179 Der Staatsgerichtshofbedient sich im Rahmen seiner Konkretisierungsarbeit des Systems derherkömmlichen Interpretationsregeln, wie sie im Wesentlichen von Savi-gny entwickelt worden sind.180 Auch in der Schweiz folgt die Verfas-sungsauslegung grundsätzlich denselben methodischen Regeln wie dieAuslegung des einfachen Rechts.181 Ebenso steht heute in Österreichunstreitig fest, dass bei der Auslegung der Grundrechte alle juristischenAuslegungsmethoden heranzuziehen sind.182 Zu diesem klassischenMethodenkanon (grammatikalische, historische, systematische undteleologische Auslegung) treten in der Praxis des Staatsgerichtshofesnoch die rechtsvergleichende und die für die Verfassungsgerichtsbarkeitbesonders wichtige verfassungskonforme Auslegung183 hinzu.184161Verfassungs- und Grundrechtsauslegung177 So für Österreich Schäffer, Verfassungsinterpretation, S. 58.178 Illustrativ StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw.8 ff. und StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 5 ff.179 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 8 und StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5.180 Siehe Höfling, Grundrechtsordnung, S. 44; vgl. auch Kley, Grundriss, S. 101; fürDeutschland siehe etwa Herdegen, Verfassungsinterpretation, S. 875; aus der Recht-sprechung des Staatsgerichtshofes siehe statt vieler: StGH 2012/67, Urteil vom 30.Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 8 ff. und StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5 ff.; allgemein zur kanonischenVerfassungsinterpretation siehe Gamper, Regeln, S. 57 ff. 181 Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 149, Rz. 1; siehe auch Biaggini, Verfassungsin-terpretation, S. 116.182 Berka, Grundrechte, S. 72, Rz. 118.183 Die verfassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung ist ein Anwendungsfall dersystematischen Auslegung. Siehe StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012,nicht veröffentlicht, Erw. 11.2 und StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2; vgl. auch Kley, Grundriss, S. 87 sowie wei-ter hinten S. 170 ff.184 StGH 2005/78, Urteil vom 15. Mai 2007, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5; vgl.auch StGH 2010/104, Urteil vom 30. November 2010, <www.gerichtsentschei
3.1 Die grammatikalische Auslegung (Verbalinterpretation)Ausgehend von der Rechtsnorm stellt die grammatikalische Auslegungauf den Wortlaut, Wortsinn und Sprachgebrauch der Worte im Textzu-sammenhang ab.185 Dabei ist unter Sprachgebrauch in aller Regel der all-gemeine Sprachgebrauch zu verstehen,186 wobei auch der juristisch-tech-nische Sprachgebrauch in Betracht kommt.187 Massgebliches Elementder Verbalinterpretation ist der Gesetzestext.188 Ihre Grenzen findet einevom Wortlaut abweichende Auslegung nach der Rechtsprechung desStaatsgerichtshofes allerdings dort, «wo eine solche geeignet wäre, dasdemokratische Gesetzgebungsverfahren zu beeinträchtigen».189 Diesbe-züglich ist zu beachten, dass sich der Stimmbürger und die Stimmbürge-rin gerade im Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen darauf verlas-sen können müssen, dass aus dem Gesetzestext die wesentlichen Aus-wirkungen einer Regelung ersichtlich sind, um ihnen zu ermöglichen,dass sie sich eine echte Meinung über die Opportunität, ein Referendumzu ergreifen, bilden können.190Der Wortlaut einer Rechtsnorm bildet jedoch nicht die Grenze derAuslegung.191 Dementsprechend ist nach der Rechtsprechung des Staats-162Tobias Michael Willede.li>, Erw. 3.3.1; StGH 2011/181, Urteil vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.2.185 Vgl. Kley, Grundriss, S. 84; Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 31, Rz. 91sowie StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 8;StGH 2012/75, Urteil vom 11. Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.3.3; StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 6.186 Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 31, Rz. 91; siehe auch StGH 2012/67,Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, S. 15, Erw. 8 und StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 6.187 Vgl. Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 153, Rz. 6.188 Siehe Kley, Grundriss, S. 84 f. und Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 31,Rz. 94.189 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 8; StGH2012/75, Urteil vom 11. Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3;StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 6.190 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 8; StGH2012/75, Urteil vom 11. Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3;StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 6mit weiteren Rechtsprechungshinweisen.191 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 8; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 6.
gerichtshofes selbst eine Auslegung entgegen dem Wortlaut nicht ausge-schlossen und kann ohne Weiteres im Einklang mit dem Willkürverbotsein. Im Extremfall kann sich umgekehrt sogar eine wortlautkonformeAuslegung als geradezu willkürlich erweisen.192 Vom Wortlaut einerGesetzesbestimmung ist daher dann abzuweichen, wenn dieser nicht denwahren Sinn wiedergibt. Dies ist dann der Fall, wenn die dem Wortlautentsprechende Auslegung zu Ergebnissen führt, die der Gesetzgebernicht gewollt haben kann und die gegen die Gerechtigkeit und dieRechtsgleichheit verstossen.193 Nach der Rechtsprechung des Staatsge-richtshofes können wie nach der Praxis des Schweizer Bundesgerichtesnur triftige Gründe eine Auslegung entgegen dem Wortlaut rechtferti-gen.194 Im Unterschied zum Schweizer Bundesgericht setzt der Staatsge-richtshof in seiner Praxis allerdings der Auslegung entgegen dem Wort-laut beim Straf- und beim Steuerrecht Grenzen, d. h. dort, wo das Lega-litätsprinzip195 als eigenständiges Grundrecht anerkannt ist und demWortlaut somit eine vorrangige Bedeutung zukommt.196 Eine weitereAusnahme besteht nach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes imsachlichen Gewährleistungsbereich des grundrechtlichen Beschwerde-rechts gemäss Art. 43 LV. In Bestätigung der einschlägigen Rechtspre-chung des Obersten Gerichtshofes postuliert der Staatsgerichtshof einegenerelle Vermutung zugunsten einer Rechtsmittelmöglichkeit, sodass163Verfassungs- und Grundrechtsauslegung192 StGH 2011/181, Urteil vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.2;vgl. auch StGH 2011/6, Urteil vom 1. Juli 2011, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.2.3; StGH 2010/104, Urteil vom 30. November 2010, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 3.3.1.193 Vgl. Kley, Grundriss, S. 85 unter Bezugnahme auf BGE 103 Ia 117, 103 Ia 480, 108Ia 80, 120 Ib 195 ff.; vgl. auch StGH 1995/31, Entscheidung vom 3. Mai 1999, nichtveröffentlicht, Erw. 2c; StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3 und StGH 2010/104, Urteil vom 30. Novem-ber 2010, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3.1.194 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1;StGH 2010/104, Urteil vom 30. November 2010, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 3.3.1; StGH 2007/72, Urteil vom 17. September 2007, <www.stgh.li>, Erw. 4.2;für die Schweiz siehe Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 31, Rz. 92.195 Einlässlich zum strafrechtlichen Legalitätsprinzip Wille T., Keine Strafe, S. 407 ff.,Rz. 1 ff.; zum Legalitätsprinzip im Abgaberecht siehe ausführlich Wille H., Legali-tätsprinzip, S. 485 ff., Rz. 1 ff. und vorne S. 138 f.196 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1;vgl. auch StGH 1995/31, Entscheidung vom 3. Mai 1999, nicht veröffentlicht, Erw. 2c.
eine Gesetzesauslegung entgegen dem Wortlaut auch im Lichte diesesspezifischen Grundrechts weitestgehend ausgeschlossen ist.1973.2 Die historische oder zeitgemässe AuslegungDie historische Auslegung stellt auf den Sinn einer Norm ab, der zurZeit ihrer Entstehung als zutreffend angesehen wurde. Eine Norm sollso gelten, wie sie vom Gesetzgeber ursprünglich vorgesehen wordenist.198 Bei der subjektiv-historischen Auslegung ist daher der subjektiveWille des historischen Gesetzgebers massgeblich.199 Er darf insbesonderebei neueren Erlassen nicht übergangen werden.200 So nimmt denn auchdie subjektiv-entstehungszeitliche Interpretation bei den liechtensteini-schen Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts eine Vorrangstellung ein,wenn es sich um jüngere Gesetze handelt, deren Entstehung sich in denGesetzesmaterialien einwandfrei nachweisen lässt.201 Der subjektiv-his-torischen Auslegung sind jedoch dort Schranken gesetzt, wo keinebestimmte Vorstellung eindeutig als herrschender Wille des Gesetzge-bers nachgewiesen werden kann.202 Eine weitere Einschränkung machtder Staatsgerichtshof bei referendumspflichtigen Erlassen, da dem Wort-laut insofern ein besonderes Gewicht zukommt, als dieser im für dieStimmbürger und Stimmbürgerinnen ersichtlichen Kontext verständlichund nachvollziehbar sein muss. Gerade in der Referendumsdemokratiedarf eine Auslegung einer Norm, die für Dritte, die nicht am Gesetzge-bungsprozess beteiligt sind, offensichtlich ist, nicht ohne Weiteres unterBezugnahme auf die Gesetzesmaterialien umgestossen werden. Vor die-sem Hintergrund erscheint es dem Staatsgerichtshof angezeigt, die his-torische Auslegung in solchen Fällen zurückhaltend anzuwenden.203164Tobias Michael Wille197 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1.198 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 9 und StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 7; sieheauch Kley, Grundriss, S. 88 und Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 33,Rz. 101.199 Vgl. Kley, Grundriss, S. 88.200 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 9 und StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, S. 17, Erw. 7.201 Siehe dazu Kley, Grundriss, S. 89 mit Rechtsprechungsnachweisen.202 Vgl. Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 35, Rz. 107.203 StGH 1998/37, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 2001, S. 69 (71, Erw. 2.4); vgl.auch StGH 1997/42, Urteil vom 18. Juni 1998, LES 1999, S. 89 (94, Erw. 2.3); StGH
Dies gilt allerdings, präzisiert der Staatsgerichtshof,204 «nicht im selbenAusmass für die systematische und die teleologische Auslegung, da dieseim Gegensatz zur historischen Auslegung direkt am Gesetzestext erfol-gen kann».In der Regel ist die historisch-subjektive Auslegung nach denAbsichten des historischen Gesetzgebers für die Grundrechte wenigertragreich. Der Grund dafür liegt darin, dass jedes Grundrecht als Ant-wort auf eine neue Gefährdungslage des Menschen entstanden ist unddaher auch «seine spezifische Funktion und seinen speziellen Schutzbe-reich» hat. Die inhaltliche Reichweite der spezifischen Grundrechtekann demnach nicht abschliessend geklärt werden, da der Staatsgerichts-hof auch die Möglichkeit haben muss, neu auftretenden Gefährdungsla-gen des Menschen durch geänderte Grundrechtsinterpretationen Rech-nung zu tragen.205 Sowohl der österreichische Verfassungsgerichtshof alsauch der EGMR greifen denn auch nur ausnahmsweise auf die spärli-chen Materialien zum StGG bzw. auf die Travaux Préparatoires zurEMRK zurück.206Bei der objektiv-historischen Interpretation ist die Bedeutung, dieeiner Norm durch die allgemeine Betrachtung zur Zeit ihrer Entstehunggegeben wurde, entscheidend. Es wird nicht allein auf den subjektivenWillen des historischen Gesetzgebers abgestellt, sondern auf den Sinnder Norm vor dem Hintergrund des damaligen allgemeinen Verständ-nisses. Bei konsequenter Anwendung führt sowohl die subjektiv-histo-rische als auch die objektiv-historische Auslegungsmethode zu einergewissen Erstarrung bzw. Versteinerung der Rechtsordnung.207Einer Erstarrung der Rechtsordnung wirkt die zeitgemässe bzw.geltungszeitliche Auslegung entgegen.208 Sie stellt auf das Normver-ständnis und die Verhältnisse ab, wie sie gegenwärtig, d. h. zur Zeit derRechtsanwendung, gegeben sind. Massgebendes Element ist der Sinn165Verfassungs- und Grundrechtsauslegung2000/45, Entscheidung vom 25. Oktober 2000, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.5; StGH 2001/8, Entscheidung vom 17. September 2001, <www.stgh.li>, Erw. 4.1.204 StGH 2000/45, Entscheidung vom 25. Oktober 2000, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 5; siehe auch StGH 1997/42, Urteil vom 18. Juni 1998, LES 1999, S. 89 (94,Erw. 2.3).205 Vgl. Vogt, Willkürverbot, S. 379 und S. 391.206 Siehe Berka, Grundrechte, S. 73, Rz. 121.207 Siehe dazu Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 35 f., Rz. 110 ff.208 Vgl. Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 156, Rz. 13.
einer Norm, wie er uns heute im Rahmen der geltungszeitlichenUmstände erscheint. Eine solche Norminterpretation steht in einemSpannungsverhältnis zur historischen Auslegung.209 In technischen,einem starken Wandel unterworfenen Bereichen gewinnt die zeitge-mässe Auslegung jedoch immer mehr an Gewicht. Sehr oft ist sie dabeimit Überlegungen der teleologischen Auslegung verbunden.210 Geradeauch Grundrechte lassen sich durch Aktualisierung des Schutzzwecksund Erweiterung des Schutzbereiches an veränderte Verhältnisse anpas-sen.211 Grundrechte sind als bewusst und gewollt nicht technisch formu-lierte Rechtsnormen offen für eine Anpassung an gewandelte rechtlicheund soziale Bedingungen. Nur die Möglichkeit einer solchen Anpassunggewährleistet, dass die Grundrechte letztlich nicht «leerlaufen» und sichnicht in historischen Reminiszenzen an frühere Bedrohungen erschöp-fen.212 Die Berücksichtigung des sozialen Wandels bei der Auslegung derGrundrechte ist jedenfalls dann unausweichlich und legitim, wenn sichihre Gewährleistungsfunktion erhalten soll.213 Die Weiterentwicklungvon Grundrechtsnormen mittels geltungszeitlicher Auslegung findetaber ihre Grenzen teils bei der Justiziabilität eines anzuerkennendenAnspruchs, teils beim Schutzzweck des zu erweiternden Grundrechts.2143.3 Die systematische AuslegungBei der systematischen Auslegung wird der Sinn der Rechtsnorm durchihr Verhältnis zu anderen Rechtsnormen und durch den systematischenZusammenhang bestimmt, in dem sie sich in einem Gesetz präsentiert.215166Tobias Michael Wille209 Vgl. Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 36, Rz. 114 f.210 Siehe Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 38, Rz. 119.211 Vgl. Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 156, Rz. 14.212 Berka, Grundrechte, S. 74, Rz. 122. 213 Siehe Berka, Grundrechte, S. 74, Rz. 122. In diesem Sinne betont auch der Staatsge-richtshof in StGH 1984/14, Urteil vom 28. Mai 1986, LES 1987, S. 36 (38, Erw. 1),die Umschreibung der verfassungsmässig gewährleisteten Rechte sei regelmässigbewusst so flexibel gehalten, damit sich eine Auslegung aufdränge, die es gestatte,allen wesentlichen Schutzbedürfnissen von Verfassungswesentlichkeit gerecht zuwerden. 214 Vgl. dazu Tschannen, Verfassungsauslegung, S. 156, Rz. 14 unter Verweis auf BGE121 I 367 E. 2b, c S. 371 ff.215 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11 undStGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9;siehe auch Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 32, Rz. 97.
Massgebend ist hierbei der systematische Aufbau eines Gesetzes. Wich-tige Hinweise geben insbesondere die Systematik der Titel, Untertitelund Marginalien.216 Mit Blick auf die Grundrechte kann die systemati-sche Auslegung vor allem den Zusammenhang zwischen den einzelnenGrundrechten, aber auch ihre Stellung im Sinnzusammenhang dergesamten Verfassung erhellen.217 Besondere Bedeutung erhält die syste-matische Interpretation bei der Anwendung jener Grundrechte, diesowohl in der LV als auch in der EMRK gewährleistet sind, da hier ausden verschiedenen Normtexten letztlich mittels Auslegung einheitlicheGrundrechte zu bilden sind.218 Sonderfälle der systematischen Ausle-gung sind die verfassungs- und die völkerrechtskonforme Auslegung.219Die liechtensteinischen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts verwendendie systematische Auslegung in ständiger Praxis.2203.4 Die teleologische AuslegungDie teleologische Auslegung stellt auf den Sinn und Zweck ab, der miteiner Rechtsnorm verbunden ist. Der Wortlaut einer Bestimmung sollnicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den Zielvorstellungen desGesetzgebers betrachtet werden.221 Relevant ist hierbei aber nicht alleinder Zweck, den der historische Gesetzgeber einer Norm gegeben hat.Der Zweck einer Rechtsnorm kann sich vielmehr in gewissem Rahmenverändern und von zeitgebundenen historischen Vorstellungen lösen.Insofern kann sich die teleologische Interpretation je nach Fall auchsowohl mit der historischen als auch mit der zeitgemässen Auslegungverbinden. Es ist jedoch immer zu beachten, dass der Zweck in derNorm oder im betreffenden Gesetz bereits enthalten sein muss, denn es167Verfassungs- und Grundrechtsauslegung216 Vgl. Kley, Grundriss, S. 85 f. und Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 33,Rz. 98.217 Vgl. Berka, Grundrechte, S. 72, Rz. 120.218 Siehe für Österreich Berka, Grundrechte, S. 73, Rz. 120.219 Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 33, Rz. 98; siehe auch Kley, Grundriss,S. 86 ff. sowie sogleich hinten S. 170 ff. und StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober2012, nicht veröffentlicht, S. 21, Erw. 11.2 und StGH 2012/176, Urteil vom 4. Feb-ruar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2.220 Kley, Grundriss, S. 86 mit Rechtsprechungsnachweisen.221 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 10 undStGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 8.;siehe auch Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 38, Rz. 120 f. und Kley,Grundriss, S. 91.
wäre nicht zulässig, normfremde Zwecke in die Norm hinein zu inter-pretieren.222 Der teleologischen Auslegung kommt grosse praktischeBedeutung zu.223 So sind es letztlich auch teleologische Auslegungs-aspekte gewesen, die den Staatsgerichtshof zu der Feststellung veranlassthaben, die Grundrechte dürften nicht durch zu weitgehende Einschrän-kungen ausgehöhlt werden.224 Vor allem Aspekte einer teleologischenGrundrechtsinterpretation im Sinne einer «dynamischen und evoluti-ven» Auslegung prägen die Rechtsprechung der Strassburger Instanzen.Die Menschenrechte und Grundfreiheiten der Konvention sind danachim Lichte der wandelbaren sozialen und politischen Gegebenheitendynamisch zu entwickeln. Zudem ist unter Berücksichtigung dieserUmstände ein effektiver Grundrechtsschutz (effet utile) zu gewährleis-ten.225 Dieser Gedanke findet sich auch in der Rechtsprechung desStaatsgerichtshofes, insbesondere im Zusammenhang mit dem in Art. 43LV normierten Beschwerderecht.226 Mit diesem soll, so der Staatsge-richtshof,227 «effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden». Auch zeigtnach ihm228 Art. 17 StGHG in Übereinstimmung mit Art. 104 LV, «mitaller Klarheit, dass der Rechtsschutz gegenüber Entscheidungen deröffentlichen Gewalt, [. . .] effektiv gewährleistet werden soll.»3.5 Die komparative Auslegung (Rechtsvergleichung)Aufgrund der Tatsache, dass Liechtenstein einen grossen Teil der gesetz-lichen Regelungen von seinen Nachbarstaaten Österreich und Schweizrezipiert hat bzw. nach wie vor rezipiert oder solche Regelungen kraftstaatsvertraglicher oder faktischer Übernahme in Liechtenstein Geltung168Tobias Michael Wille222 Siehe Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 38, Rz. 121 f.; vgl. auch Kley,Grundriss, S. 91.223 Kley, Grundriss, S. 91.224 Vgl. Höfling, Grundrechtsordnung, S. 45.225 Siehe dazu Berka, Grundrechte, S. 74, Rz. 123.226 Siehe Wille T., Beschwerderecht, S. 517 ff., Rz. 17 f. mit Rechtsprechungsnachwei-sen.227 StGH 2008/63, Urteil vom 31. März 2009, <www.stgh.li>, Erw. 9.2; vgl. auch StGH2001/26, Entscheidung vom 18. Februar 2002, <www.stgh.li>, Erw. 6 ff. und StGH2010/141, Urteil vom 19. Dezember 2011, nicht veröffentlicht, Erw. 5.3.228 StGH 2008/63, Urteil vom 31. März 2009, <www.stgh.li>, Erw. 9.2.229 Häberle, Grundrechtsgeltung, S. 916 ff., stellte im Jahre 1989 die These auf, dass imVerfassungsstaat unserer Entwicklungsstufe die Grundrechtsvergleichung zurunverzichtbaren – «fünften» – Auslegungsmethode wird.
haben, spielt die Rechtsvergleichung als eigentliche fünfte Auslegungs-methode229 in Liechtenstein eine gewichtige Rolle.230 So hat der Staatsge-richtshof zur Rechtsvergleichung in StGH 2000/1231 grundlegend festge-halten: «Grundsätzlich ist es durchaus zulässig, dass Gerichte im Rechts-findungsprozess unter anderem auch Rechtsvergleiche anstellen. Diesgilt insbesondere für einen Kleinstaat wie Liechtenstein, welcher zahl-reiche Rechtsnormen von seinen Nachbarstaaten übernommen hat undselbst nur über eine zwangsläufig wenig umfangreiche Rechtsprechungverfügt. Jedenfalls für den Kleinstaat ist es deshalb durchaus gerechtfer-tigt, die Rechtsvergleichung als eigentliche ‹fünfte Auslegungsmethode›zu bezeichnen.» Damit stimmt auch die Rechtsprechung des Staatsge-richtshofes zur grundrechtlichen Begründungspflicht überein, wonachdie Anforderungen, die der Staatsgerichtshof an die Begründung einerEntscheidung stellt, deren Grundlage rezipiertes Recht ist, nicht hochsind, solange sich die entscheidende Instanz an die Vorgaben des Rezep-tionslandes hält.232 Für die Anwendung der EMRK gilt generell, dass fürderen Auslegung und Handhabung durch die innerstaatlichen Organedie Rechtsprechung der Strassburger Instanzen richtungweisend ist.233Darüber hinaus entspricht es einer langjährigen Tradition,234 dasssich der ordentliche «Fünfer-Senat» des Staatsgerichtshofes aus dreiLiechtensteiner235 Richtern sowie einem Schweizer und einem Österrei-169Verfassungs- und Grundrechtsauslegung230 Einlässlich dazu Kley, Grundriss, S. 94 ff.; vgl. auch Höfling, Grundrechtsordnung,S. 46 f.; aus der Rechtsprechung siehe beispielsweise StGH 2005/78, Urteil vom 15.Mai 2007, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5. Die Judikatur des österreichischenVerfassungsgerichtshofes zeigt sich hingegen im Umgang mit der rechtsvergleichen-den Auslegungsmethode sehr zurückhaltend. Sie kommt nur sehr sporadisch vorund erweist sich auch nicht immer als konsistent. Siehe dazu Gamper, Regeln,S. 273 ff. Biaggini, Verfassungsinterpretation, S. 116, konstatiert für die Schweiz,dass immer häufiger auf die Verfassungsvergleichung als «Quelle der Inspiration»zurückgegriffen wird.231 StGH 2000/1, Entscheidung vom 7. Juni 2000, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.5.1.232 Siehe dazu Wille T., Begründungspflicht, S. 559, Rz. 18 mit Rechtsprechungsnach-weisen.233 StGH 1994/8, Urteil vom 4. Oktober 1994, LES 1995, S. 23 (25 f., Erw. 2).234 Vgl. Kley, Grundriss, S. 94 f.; siehe auch Höfling, Grundrechtsordnung, S. 46.235 Ähnlich setzt sich seit ca. zehn Jahren auch der ordentliche «Fünfer-Senat» des Ver-waltungsgerichtshofes zusammen. Art. 102 Abs. 1 LV bestimmt nämlich entspre-chend u. a., dass der Verwaltungsgerichtshof aus fünf Richtern und fünf Ersatzrich-tern besteht. Die Mehrheit der Richter muss das liechtensteinische Landesbürger-
cher Richter zusammensetzt. Dasselbe gilt auch für die ordentlicheGerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen, wo neben liechtensteinischenRichtern auch Österreicher und Schweizer als Richter amten.3.6 Die verfassungskonforme AuslegungDie verfassungskonforme Auslegung ergibt sich aus der Überordnungder Verfassung und der Einheit der Rechtsordnung.236 Sie ist in derRechtsprechung des Staatsgerichtshofes seit Langem anerkannt237 undsteht nicht nur dem Staatsgerichtshof zu, sondern obliegt jedem Gerichtbzw. jedem rechtsanwendenden Organ.238 Aufgabe der verfassungskon-formen Auslegung ist, die Verfassungswidrigkeit einer Norm zu vermei-den, insoweit dies mit den der Rechtsprechung zur Verfügung stehendenMitteln möglich ist.239 Der Begriff der verfassungskonformen Auslegungsollte daher nur dann und immer nur dann angewendet werden, wenn eseine verfassungswidrige Auslegungsvariante gibt, es also um die Ent-scheidung zwischen dieser und einer verfassungskonformen Ausle-gungsvariante geht.240 Im System der juristischen Methodenlehre stehtdie verfassungskonforme Auslegung nicht auf einer Stufe mit den her-kömmlichen, «klassischen» Auslegungskanones und tritt nicht als einweiterer Kanon241 neben diese. Es handelt sich bei ihr um eine «beson-dere Erscheinungsform der systematischen242 und der objektiv-teleolo-170Tobias Michael Willerecht besitzen. Dasselbe gilt gemäss Art. 105 LV für den Staatsgerichtshof, wobeiArt. 105 LV zusätzlich normiert, dass auch der Präsident des Staatsgerichtshofes dasliechtensteinische Landesbürgerrecht besitzen muss.236 Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 45, Rz. 148.237 Vgl. Höfling, Grundrechtsordnung, S. 45 f.238 StGH 2001/26, Entscheidung vom 18. Februar 2002, <www.stgh.li>, Erw. 11.239 Vgl. Canaris, Auslegung, S. 153 und Lerche, Stil und Methode, S. 358; siehe auchStGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11.2 undStGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.9.2.240 So ausdrücklich Canaris, Auslegung, S. 154.241 In StGH 2001/26, Entscheidung vom 18. Februar 2002, <www.stgh.li>, Erw. 11führt der Staatsgerichtshof aus, dass der «Grundsatz der verfassungskonformenAuslegung» den Kanon der klassischen Auslegungselemente (grammatikalische,historische, teleologische, systematische Auslegung) ergänzt, sodass jedes Ausle-gungsergebnis auch im Lichte der Grundrechte zu überprüfen ist.242 Es entspricht der herkömmlichen Auffassung, die verfassungskonforme Auslegungder systematischen Auslegung zuzuordnen. Dagegen gibt es im deutschen verfas-sungsrechtlichen Schrifttum eine Tendenz, die Eigenständigkeit der verfassungs-
gischen Auslegung, deren Sonderstellung darin besteht, dass sie Vor-rang243 vor den übrigen Auslegungskriterien geniesst und also nicht mitdiesen abzuwägen ist.»244 Bringen die anerkannten Auslegungsmethodenkeine eindeutigen Ergebnisse hervor, ist nach der Rechtsprechung desStaatsgerichtshofes die verfassungskonforme Auslegung heranzu zie -hen.245 Anlass zu einer solchen Auslegung besteht immer dann, wenneine Gesetzesbestimmung im Rahmen ihres Wortlautes unterschiedlicheDeutungen ermöglicht, wobei nicht alle mit dem Verfassungs- und Völ-kerrecht übereinstimmen bzw. eine Deutung zulassen, bei der sich keinWiderspruch zum höherrangigen Recht ergibt.246Der verfassungskonformen Auslegung sind freilich Grenzengesetzt.247 Die interpretative Umdeutung einer Bestimmung im Zuge derverfassungskonformen Auslegung ist nach der Rechtsprechung desStaatsgerichtshofes untersagt.248 Er hat seine ältere Rechtsprechung prä-zisiert und festgehalten: «Wenn nämlich der Wortlaut einer Bestimmungklar ist und auch dem offensichtlichen Willen des historischen Gesetz-171Verfassungs- und Grundrechtsauslegungkonformen Interpretation stärker zu betonen und diese von der «verfassungsorien-tierten» Auslegung zu unterscheiden. Siehe Canaris, Auslegung, S. 142, der dafürplädiert, auf den Begriff der verfassungsorientierten Auslegung zu verzichten(S. 154). Vgl. dazu auch Vosskuhle, Theorie und Praxis, S. 180, der die verfassungs-konforme Auslegung als einen «eigenständigen, wenn auch keineswegs immer ein-deutig abgrenzbaren Unterfall» der verfassungsorientierten Auslegung qualifiziert.243 Vgl. dazu auch StGH 2001/26, Entscheidung vom 18. Februar 2002, <www.stgh.li>,Erw. 11, wo der Staatsgerichtshof betont, dass bei verschiedenen möglichen Ausle-gungen eines Gesetzes derjenigen der Vorrang zu geben ist, die dem Sinn und Geistdes betroffenen Grundrechtes am ehesten gerecht wird.244 Canaris, Auslegung, S. 154. Nach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes stelltdie verfassungskonforme Auslegung einen Anwendungsfall der systematischenAuslegung dar. Siehe StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffent-licht, Erw. 11.2; StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2; so auch für die Schweiz Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaats-recht, S. 45, Rz. 148; vgl. auch Kley, Grundriss, S. 86.245 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11.2; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2; sieheauch StGH 1993/5, Urteil vom 16. Dezember 1993, LES 1994, S. 39 (40 f., Erw. 4.2).246 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11.2; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2.247 Vgl. einlässlich dazu für die Schweiz Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht,S. 46 ff., Rz. 154 ff.; vgl. auch Lerche, Stil und Methode, S. 358. 248 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11.2; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2.
gebers entspricht, kann darüber in der Regel auch dann nicht durch ver-fassungskonforme Interpretation bzw. Lückenfüllung hinweggegangenwerden, wenn sich diese gesetzliche Regelung aufgrund einer Verfas-sungsänderung nachträglich als verfassungswidrig erweist.»249 Unlängsthat sich der Staatsgerichtshof auf ein Erkenntnis des österreichischenVerfassungsgerichtshofes gestützt und ausgeführt: «Wenn sowohl aufGrund des Wortlautes als auch der Entstehungsgeschichte eines Geset-zes diesem ein eindeutig bestimmter Sinn beizumessen ist, so scheideteine gegenteilige, sei es auch verfassungskonforme Deutung des Geset-zes aus.»250 Eine Norm ist verfassungskonform auszulegen, soweit nichtder klare Wortlaut und der Sinn der Gesetzesbestimmung oder dererkennbare Wille des historischen Gesetzgebers etwas anderes gebieten.In entsprechender Weise sind die Rechtssätze völkerrechtskonform zuinterpretieren, was namentlich für die EMRK gilt.251 Ist allerdings eineverfassungs- bzw. völkerrechtskonforme Auslegung nicht möglich, istdie verfassungswidrige Norm vom Staatsgerichtshof aufzuheben.252172Tobias Michael Wille249 StGH 1996/36, Urteil vom 24. April 1997, LES 1997, S. 211 (215, Erw. 8); siehe auchStGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11.2; StGH2012/75, Urteil vom 11. Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3;StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 9.2;vgl. dazu auch StGH 1995/12, Urteil vom 31. Oktober 1995, LES 1996, S. 55 (60,Erw. 5.3); StGH 1997/34, Urteil vom 2. April 1998, LES 1999, S. 67 (69, Erw. 3.1).250 StGH 2012/75, Urteil vom 11. Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.3.3 unter Bezugnahme auf VfSlg 19.341/2011; vgl. auch für Deutschland Roellecke,Prinzipien, S. 25 unter Verweis auf BVerfGE 18, 97 (111); 18, 38 (41).251 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 11.2 undStGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.9.2; beide jeweils mit Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung BGE 123I 112 E. 2a; vgl. auch Kley, Grundriss, S. 88 und StGH 2000/27, Entscheidung vom19. Februar 2001, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.1.252 StGH 2000/65, Entscheidung vom 12. Juni 2001, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw.2.4; in diesem Sinne auch die Vorgehensweise in StGH 2012/75, Urteil vom 11.Dezember 2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3 ff.
V. Allgemeine Auslegungsgrundsätze 1. «Methodenpluralismus»253 und GüterabwägungDer Staatsgerichtshof bekennt sich in ständiger Rechtsprechung zumsogenannten Methodenpluralismus.254 Die grammatikalische Auslegunghat zwar noch eine «relative Priorität». Dies trifft aber nur mehr inso-weit zu, als die Wortlautauslegung zwangsläufig den Ausgangspunkt derAuslegungstätigkeit darstellt. Davon abgesehen nimmt die Wortlautaus-legung gegenüber der Auslegung nach der systematischen Stellung derNorm – allenfalls ergänzt durch die rechtsvergleichende und verfas-sungskonforme Auslegung – keinen Vorrang ein. Es gibt heute aner-kanntermassen keine allgemeingültige Hierarchie der Auslegungsmetho-den mehr,255 da allein schon die Entscheidung, ob der Wortlaut einer173Verfassungs- und Grundrechtsauslegung253 In der Schweizer Lehre stiess der vom Schweizer Bundesgericht seit 1984 verwen-dete Begriff des «Methodenpluralismus» auf viel Kritik. Siehe Biaggini, Verfas-sungsinterpretation, S. 117. Nach ihm ist der Begriff zwar tatsächlich unglücklichgewählt, das vom Bundesgericht praktizierte Vorgehen jedoch grundsätzlich sach-gerecht, sodass man es vielleicht besser als höchstrichterlichen «Methodenpragma-tismus» bezeichnen sollte (S. 117). Siehe allgemein zum Meinungsstreit um die rich-tige Auslegungsmethode und zum Rangverhältnis der klassischen Auslegungsme-thoden im Zusammenhang mit Verfassungs- und Grundrechtsbestimmungen Stern,Staatsrecht, S. 1655 ff.254 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1;vgl. auch StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentsch eide.li>, Erw. 5; StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht,Erw. 7; StGH 2011/181, Urteil vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 2.2; StGH 2010/104, Urteil vom 30. November 2010, <www.gerichtsent sch eide.li>, Erw. 3.3.1; StGH 2005/78, Urteil vom 15. Mai 2007, <www.gerichtsentsch ei de.li>, Erw. 5; StGH 2000/45, Entscheidung vom 25. Oktober 2000, <www.g erichtsentscheide.li>, Erw. 5; StGH 1998/37, Urteil vom 22. Februar 1999, LES 2001,69 (71, Erw. 2.4); StGH 1998/14, Urteil vom 4. September 1998, LES 1999, S. 226(230 f., Erw. 3.2.2); StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998, LES 1999, S. 20 (26 f.,Erw. 5.3.3).255 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1;vgl. auch StGH 2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.geric hts ent scheide.li>, Erw. 5; StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht,Erw. 7; StGH 2011/181, Urteil vom 26. März 2012, <www.gerichtsentsche ide.li>,Erw. 2.2; StGH 2011/25, Urteil vom 26. September 2011, <www.gerichtse ntscheide.li>, Erw. 2.3.1; StGH 2010/158, Urteil vom 29. März 2011, nicht veröffent-licht, Erw. 2.3; StGH 2010/104, Urteil vom 30. November 2010, <www.gerichts entscheide.li>, Erw. 3.3.1; StGH 2005/78, Urteil vom 15. Mai 2007, <www.gerichtsent
Bestimmung für den jeweiligen Anwendungsfall einen klaren Sinnergibt, sich grundsätzlich erst aus dem Kontext, d. h. unter Berücksich-tigung einer oder mehrerer weiterer Auslegungsmethoden treffen lässt.Aus diesem Grund sind im Sinne eines «Methodenpluralismus» alle fürden jeweiligen Einzelfall relevanten Auslegungsmethoden zu berück-sichtigen und deren einander allenfalls widersprechende Ergebnisse imRahmen einer umsichtigen Güterabwägung zu gewichten.2562. «Praktische Konkordanz»Ähnlich geht der Staatsgerichtshof auch in Fällen vor, in denen sichgegenläufige Grundrechtsinteressen gegenüberstehen. Nach der Recht-sprechung des Staatsgerichtshofes gilt es dann «im Sinne einer ‹prakti-schen Konkordanz› [. . .] zwischen den entgegenstehenden Interessen derbetroffenen Grundrechtsträger abzuwägen».257 Konkret sind solche174Tobias Michael Willescheide.li>, Erw. 5; StGH 2000/45, Entscheidung vom 25. Oktober 2000,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 5; StGH 2000/32, Entscheidung vom 17. Sep-tember 2001, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.4; StGH 1998/37, Urteil vom 22.Februar 1999, LES 2001, 69 (71, Erw. 2.4); StGH 1998/14, Urteil vom 4. September1998, LES 1999, S. 226 (230 f., Erw. 3.2.2); StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998,LES 1999, S. 20 (26 f., Erw. 5.3.3); StGH 1995/31, Entscheidung vom 3. Mai 1999,nicht veröffentlicht, Erw. 2c; siehe auch Baur, Normenvielfalt, S. 17 f.256 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.1;vgl. auch StGH 2011/181, Urteil vom 26. März 2012, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 2.2; StGH 2011/25, Urteil vom 26. September 2011, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.3.1; StGH 2010/158, Urteil vom 29. März 2011, nicht veröffent-licht, Erw. 2.3; StGH 2010/104, Urteil vom 30. November 2010, <www.gerichtsents cheide.li>, Erw. 3.3.1; StGH 2001/8, Entscheidung vom 17. September 2001,<www.stgh.li>, Erw. 4.1; StGH 2000/32, Entscheidung vom 17. September 2001,<www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.4; StGH 1998/14, Urteil vom 4. September1998, LES 1999, S. 226 (230 f., Erw. 3.2.2); StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998,LES 1999, S. 20 (26 f., Erw. 5.3.3).257 StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.4unter Bezugnahme auf Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bun-desrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rz. 72; vgl. auch StGH2005/7, Urteil vom 14. Dezember 2009, nicht veröffentlicht, Erw. 3.2; StGH 2010/8,Urteil vom 21. September 2010, nicht veröffentlicht, Erw. 3.3 und StGH 2011/57,Urteil vom 29. November 2011, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.1; siehe zumPrinzip der praktischen Konkordanz auch Kley, Grundriss, S. 101 f., der anmerkt,dass dieser Begriff in der juristischen Literatur und teilweise auch in der Judikatureinen eigentlichen Siegeszug angetreten hat.
Grundrechtskonflikte «unter angemessener Berücksichtigung der einan-der entgegenstehenden Grundrechtsinteressen in einem umsichtigenAbwägungsprozess (‹praktische Konkordanz›) zu lösen».258 Das Prinzipder praktischen Konkordanz untersagt zwar nicht, vorrangig auf einAuslegungselement abzustellen. Es verbietet aber die einseitige Argu-mentationsweise, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, welche Rechtsgü-ter betroffen sind. Letztlich ist freilich einzuräumen, dass das Prinzipder praktischen Konkordanz den Verfassungs- bzw. Grundrechtsinter-preten nicht exakt anleitet. Es impliziert bei der Abwägung verfassungs-rechtlich geschützter Güter ein sehr vages Verhältnismässigkeitsgebot.2593. Grundrechtskonkurrenz260Der Staatsgerichtshof hat sich in seiner Entscheidung zu StGH1997/33261 der neueren schweizerischen Praxis zur Grundrechtskonkur-renz angeschlossen. Danach wird die Freiheitsbeschränkung zunächstnach Massgabe des im Vordergrund stehenden Grundrechts, d. h. desGrundrechts, das die Rechtsposition des Beschwerdeführers spezifischerschützt, überprüft. Das Ergebnis ist sodann in Rücksicht auf das andereGrundrecht zusätzlich zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Tref-fen beispielsweise die Eigentumsgarantie und die Handels- und Gewer-befreiheit aufeinander, so ist eine Interessenabwägung zwischen derHandels- und Gewerbefreiheit und dem öffentlichen Interesse vorzu-nehmen, dem die Eigentumsbeschränkung dienen will.262175Verfassungs- und Grundrechtsauslegung258 StGH 2010/8, Urteil vom 21. September 2010, nicht veröffentlicht, Erw. 3.3.259 So Kley, Grundriss, S. 101.260 Siehe zum Begriff Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 103, Rz. 318; einge-hend zum Problem der Grundrechtskonkurrenzen Vogt, Willkürverbot, S. 379 ff.;zur Grundrechtskonkurrenz aus deutscher Sicht siehe einlässlich Stern, Staatsrecht,S. 1366 ff.261 StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998, LES 1999, S. 20 (24 f., Erw. 3).262 StGH 1997/33, Urteil vom 2. April 1998, LES 1999, S. 20 (24 f., Erw. 3); siehe auchVogt, Willkürverbot, S. 381 f.
4. Lückenfüllung und qualifiziertes Schweigen des GesetzgebersEs entspricht auch ständiger Praxis des Staatsgerichtshofes, dass eineAuslegung grundsätzlich nicht den klaren Willen des Gesetzgebers aus-ser Acht lassen darf.263 Eine Norm soll so gelten, wie sie der Gesetzge-ber vorgesehen hat. Namentlich darf bei neueren Erlassen der Wille deshistorischen Gesetzgebers nicht missachtet werden.264 Dies gilt auch hin-sichtlich eines qualifizierten Schweigens des Gesetzgebers, über dasnicht durch Auslegung oder Füllung einer planwidrigen Lücke hinweg-gegangen werden kann.265 Erweisen sich Bestimmungen, deren Wortlautklar ist und offensichtlich auch dem Willen des Gesetzgebers entspre-chen, sodass sie nicht auf dem Wege der Interpretation bzw. Lückenfül-lung ausgespart werden dürfen, als verfassungswidrig, so sind sie gege-benenfalls im Interesse der Rechtssicherheit vielmehr als verfassungs-widrig aufzuheben.266 Der Staatsgerichtshof begründet dies damit, dassdie Bürger und Bürgerinnen darauf vertrauen können müssen, dassGesetze so gelten, wie sie nach den anerkannten Auslegungsmethodenauszulegen sind.267 Wird hingegen eine Lückenfüllung vorgenommen, sohat diese stets in verfassungskonformer Weise zu erfolgen.268Der Staatsgerichtshof selbst ist nicht an ein allenfalls verfassungs-widriges gesetzgeberisches Schweigen gebunden. So erklärt er, dass einsolches qualifiziertes Schweigen zwar eine gerichtliche Lückenfüllung176Tobias Michael Wille263 StGH 2011/187, Urteil vom 28. Juni 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 3.3; StGH2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.2; StGH2008/60, Urteil vom 30. September 2008, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 4.2.264 StGH 2012/67, Urteil vom 30. Oktober 2012, nicht veröffentlicht, Erw. 9; StGH2012/176, Urteil vom 4. Februar 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 7.265 StGH 2002/67, Entscheidung vom 9. Dezember 2002, <www.stgh.li>, Erw. 1.2; vgl.auch StGH 2006/24, Urteil vom 2. Oktober 2006, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 3.2.266 Vgl. StGH 2007/72, Urteil vom 17. September 2007, <www.stgh.li>, Erw. 4.2; indiesem Sinne auch die Vorgehensweise in StGH 2012/75, Urteil vom 11. Dezember2012, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 3.3 ff.267 StGH 2007/72, Urteil vom 17. September 2007, <www.stgh.li>, Erw. 4.2 mit Ver-weis auf StGH 1996/36, Urteil vom 24. April 1997, LES 1997, 211 (215, Erw. 8).268 StGH 2002/56, Entscheidung vom 18. November 2002, <www.stgh.li>, Erw. 3.3;vgl. auch StGH 2013/2, Urteil vom 14. Mai 2013, <www.gerichtsentscheide.li>,Erw. 2.3; allgemein zur Lückenfüllung siehe Kley, Grundriss, S. 102 ff. und Baur,Normenvielfalt, S. 18 ff.
verhindere. Da er aber selbst eine positive Gesetzesnorm nach Art. 19StGHG als verfassungswidrig aufheben könne, könne er sich umso mehrüber ein von ihm als verfassungswidrig qualifiziertes gesetzgeberischesSchweigen hinwegsetzen und eine verfassungskonforme Lückenfüllungvornehmen.269177Verfassungs- und Grundrechtsauslegung269 StGH 2013/2, Urteil vom 14. Mai 2013, <www.gerichtsentscheide.li>, Erw. 2.3 mitweiteren Rechtsprechungsnachweisen.
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Einheitliche Eingriffskriterienfür alle Grundrechte?Hilmar HochI. EinleitungDer Staatsgerichtshof hatte wie der österreichische Verfassungsgerichts-hof teilweise noch bis Anfang der 1990er-Jahre ein eher restriktivesGrundrechtsverständnis. Entsprechend erachtete er die mit den meistenGrundrechten der Landesverfassung1 verbundenen Gesetzesvorbehalteals weitgehend formelle Schranken; gesetzgeberische Eingriffe in dieseGrundrechte waren zulässig, sofern sie nur vor dem Willkürverbotstandhielten.2Wesentlich beeinflusst durch die für Liechtenstein im Jahre 1982 inKraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)3 mitihren bei verschiedenen Konventionsrechten ausdrücklich vorgesehenenmateriellen Eingriffskriterien verschärfte auch der Staatsgerichtshof dieAnforderungen für Grundrechtseingriffe.4 Danach sind den vom1831 Anders als der Staatsgerichtshof spricht die Landesverfassung allerdings nicht von(tendenziell nicht auf Landesangehörige beschränkten) «Grundrechten», sondernverwendet den Begriff «verfassungsmässig gewährleistete Rechte»; siehe WolframHöfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, LPS Bd. 20, Vaduz 1994,S. 22; Kuno Frick, Die Gewährleistung der Handels- und Gewerbefreiheit nachArt. 36 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, Freiburg/Schweiz 1998,S. 147. 2 Siehe Hilmar Hoch, Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtsprechungdes Staatsgerichtshofes, in: Herbert Wille (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit imFürstentum Liechtenstein, LPS Bd. 32, Vaduz 2001, S. 65 (67 ff.), mit weiteren Lite-ratur- und Rechtsprechungsnachweisen; siehe auch Wolfram Höfling, Schrankender Grundrechte, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxisin Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 83 (87 Rz. 5 ff.).3 LGBl. 1982/60.4 Siehe hierzu auch den Beitrag von Peter Bussjäger, Der Staatsgerichtshof und dieEuropäische Menschenrechtskonvention, in diesem Band.
Gesetzgeber aufgestellten Grundrechtsschranken im Lichte des zuschützenden Grundrechts ihrerseits inhaltliche Schranken gesetzt (soge-nannte «Schranken-Schranken»).5 Diese vom Staatsgerichtshof in seinerneueren Rechtsprechung angewandten materiellen Prüfungskriterien fürGrundrechtseingriffe entsprechen der schon seit Langem in der Schweizetablierten Eingriffsdogmatik. Demnach muss sich ein Grundrechtsein-griff zunächst auf eine gesetzliche Grundlage stützen lassen, wobeischwere Grundrechtseingriffe eine klare gesetzliche Grundlage erfor-dern. Zum anderen ist das Übermassverbot zu beachten, d. h. der Eingriff muss verhältnismässig und im überwiegenden öffentlichen Inte-resse sein;6 schliesslich darf der Kerngehalt des Grundrechts nicht ver-letzt werden.7 Damit hat der Staatsgerichtshof die Grundrechtsschran-ken-Schranken des Übermassverbots und der Kerngehaltsgarantie imErgebnis als ungeschriebenes Verfassungsrecht anerkannt.8Da bei den einzelnen Grundrechten der Landesverfassung unter-schiedliche Grundrechtsschranken formuliert sind oder solche teilweiseauch ganz fehlen, stellt sich die Frage, ob dies einen Einfluss auf daserwähnte Prüfungsschema für Grundrechtseingriffe hat bzw. haben soll.Zudem fragt es sich, ob dieses Prüfungsschema über die Freiheitsrechtehinaus zur Prüfung der Zulässigkeit von Eingriffen in Verfahrens- odersogar in sämtliche Grundrechte geeignet ist. Diesen beiden Fragen sollim vorliegenden Festschriftbeitrag nachgegangen werden. In Anbetrachtder für das liechtensteinische Staats- und Verwaltungsrecht geradezu flä-chendeckenden Publikationsliste des Jubilars kann es nicht überraschen,dass zur Beantwortung dieser Fragen wesentlich auch auf diesen Funduszurückzugreifen sein wird.184Hilmar Hoch5 Siehe Höfling, Schranken, S. 86 Rz. 2 f. und S. 88 Rz. 6 sowie Hoch, Schwerpunkte,S. 73 jeweils mit weiteren Nachweisen. 6 Der Staatsgerichtshof verwendet diese Begriffe synonym; vgl. Höfling, Schranken,S. 103 f. Rz. 41 Fn. 113.7 Siehe zum Ganzen Hilmar Hoch, Kriterien der Einschränkung von Grundrechtenin der Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit (Landesbericht Liechtenstein/XIII.Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte Nikosia), EuGRZ 2006, S. 640(641) sowie Hoch, Schwerpunkte, S. 72, jeweils mit zahlreichen Rechtsprechungs-nachweisen. 8 Siehe Hoch, Schwerpunkte, S. 78 f.; Hoch, Kriterien, S. 641; Hugo Vogt, Das Will-kürverbot und der Gleichheitsgrundsatz in der Rechtsprechung des liechtensteini-schen Staatsgerichtshofes, LPS Bd. 44, Schaan 2008, S. 335.
II. Die Grundrechtsschranken der Landesverfassung und die StGH-Praxis1. Unterschiedliche Schrankenregelung der LandesverfassungDa Grundrechte von der Verfassung garantiert werden oder auch alsungeschriebene Rechte jedenfalls auf Verfassungsstufe stehen, könnensie grundsätzlich nur unmittelbar durch Verfassungsnormen selbst odermittelbar auf der Grundlage solcher Verfassungsnormen eingeschränktwerden. Verfassungsmittelbare Grundrechtsschranken stellen insbeson-dere die sogenannten Gesetzesvorbehalte dar. Sind diese inhaltlich nichtnäher bestimmt, handelt es sich um einfache, anderenfalls um qualifi-zierte Gesetzesvorbehalte. Ausserdem können Grundrechte auch vorbe-haltlos gewährleistet sein.9 Die Landesverfassung kennt sowohl Grund-rechte mit verfassungsunmittelbaren und -mittelbaren Schranken alsauch vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Ohne Vorbehalt formuliert sind Art. 27bis LV (Menschenwürdeund Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oderStrafe), Art. 27ter LV (Recht auf Leben; Verbot der Todesstrafe), Art. 31Abs. 1 und 2 LV (allgemeiner Gleichheitssatz; Geschlechtergleichheit)10;Art. 33 Abs. 1 und 3 LV (Recht auf den ordentlichen Richter und Rechtauf Verteidigung), Art. 34 LV (Eigentumsgarantie)11; Art. 37 Abs. 1 LV(Glaubens- und Gewissensfreiheit), Art. 38 LV (Eigentum an Kultusge-genständen) und auch die Begründungspflicht gemäss Art. 43 Satz 3 LV. 185Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?9 Ausführlich hierzu Wolfram Höfling, Schranken, S. 90 Rz. 11 ff.10 Unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt steht allerdings der Teilgehalt auf gleichenZugang aller Landesangehörigen zu den öffentlichen Ämtern gemäss Art. 31 Abs. 1Satz 2 LV; siehe hierzu Andreas Kley / Hugo Vogt, Rechtsgleichheit und Grundsatzvon Treu und Glauben, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grund-rechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 249 (282 Rz. 60). Der inArt. 31 Abs. 3 LV enthaltene Verweis auf Staatsverträge bzw. Gegenrecht hinsicht-lich der Rechte der Ausländer ist heute insbesondere aufgrund des Einflusses derEMRK obsolet; siehe Ralph Wanger, Staatsangehörigkeit, ebenfalls in: Kley/Vallen-der, Grundrechtspraxis, S. 621 (633 f. Rz. 24) sowie Hoch, Schwerpunkte, S. 82 f.11 In Art. 35 LV findet sich zwar ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt mit Bezug zuArt. 34 LV, nämlich zur Entschädigungspflicht bei Enteignungen; siehe zu dieser«Wertgarantie» Herbert Wille, Liechtensteinisches Verwaltungsrecht. AusgewählteGebiete, LPS Bd. 38, Schaan 2004, S. 40 f. (55 f. und 94 ff.) sowie Klaus A. Vallen-der / Hugo Vogt, Eigentumsgarantie, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.),Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 689 (712 Rz. 41).
Verfassungsunmittelbare Grundrechtsschranken enthalten Art. 29LV (politische Rechte), Art. 37 Abs. 2 2. Satz LV (Kultusfreiheit fürnichtkatholische Konfessionen) und Art. 40 LV (Meinungsfreiheit).Art. 29 Abs. 1 LV gewährleistet die politischen Rechte «nach denBestimmungen dieser Verfassung»; in Abs. 2 werden für die politischenRechte auf Landesebene auch inhaltliche Voraussetzungen vorgegeben(Vollendung des 18. Lebensjahres, ordentlicher inländischer Wohnsitz,keine Einstellung im Wahl- und Stimmrecht).12 In Art. 37 Abs. 2 undArt. 40 LV wird jeweils die Sittlichkeit als Grundrechtsschrankegenannt; in Art. 37 Abs. 2 LV zusammen mit der «öffentlichen Ord-nung»; in Art. 40 LV kombiniert mit einem Gesetzesvorbehalt («inner-halb der Schranken des Gesetzes und der Sittlichkeit»), welcher inhalt-lich noch näher qualifiziert wird («… eine Zensur darf nur bei öffentli-chen Aufführungen und Schaustellungen gegenüber stattfinden»). Schliesslich enthält die Landesverfassung – neben einzelnen schonerwähnten qualifizierten – auch zahlreiche einfache, somit inhaltlichnicht eingeschränkte Gesetzesvorbehalte. Es sind dies Art. 28 LV (Nie-derlassungs- und Vermögenserwerbsfreiheit); Art. 32 LV (Freiheit derPerson, Hausrecht, Brief- und Schriftengeheimnis)13; Art. 33 Abs. 2 LV(keine Strafe ohne Gesetz); Art. 36 LV (Handels- und Gewerbefrei-heit)14; Art. 41 LV (Vereins- und Versammlungsfreiheit); Art. 42 LV(Petitionsrecht); Art. 43 LV Satz 1 und 2 LV (Beschwerderecht). Dieser Überblick zeigt, dass die Grundrechtsschrankenregelungder Landesverfassung jeglicher nachvollziehbaren Systematik entbehrt –186Hilmar Hoch12 Analog zur Unterscheidung zwischen einfachem und qualifiziertem Gesetzesvorbe-halt kann der Vorbehalt in Art. 29 Abs. 1 LV als «einfacher» und derjenige in Abs. 2als «qualifizierter Verfassungsvorbehalt» bezeichnet werden.13 Art. 32 Abs. 2 LV enthält solche Gesetzesvorbehalte allerdings nur hinsichtlich Ver-haftung bzw. Haft, Hausdurchsuchung, Durchsuchung von Personen oder Durch-suchung bzw. Beschlagnahmung von Briefen und Schriften. Ausführlich hierzuStGH 1997/19, LES 1998, 269 (274 Erw. 3.2); auf diese Entscheidung wird im nach-folgenden Abschnitt ausführlich eingegangen.14 In Satz 2 dieser Bestimmung erfolgt zwar eine Qualifizierung des Gesetzesvorbe-halts hinsichtlich der «Zulässigkeit ausschliesslicher Handels- und Gewerbeprivile-gien für eine bestimmte Zeit»; diese wörtlich aus der konstitutionellen Verfassungvon 1862 übernommene Regelung hatte allerdings von Anfang an keine praktischeRelevanz; siehe Frick, Gewährleistung, S. 29 f.; vgl. auch Klaus A. Vallender, Han-dels- und Gewerbefreiheit, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grund-rechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 723 (735 Rz. 23).
was wiederum deren sinnvolle praktische Handhabung von Anfang anerschwerte. Schwierigkeiten bereiteten dabei gerade auch die teilweisefehlenden Grundrechtsschranken, so primär bei der Eigentumsgaran-tie.15 Spezifische Konkretisierungsprobleme stellten sich zudem bei denwenig griffigen verfassungsunmittelbaren Grundrechtsschranken inArt. 37 und 40 LV.16 Schliesslich stellte sich je länger, desto mehr dieFrage, ob die einfachen Gesetzesvorbehalte als Freipass für den Gesetz-geber zur Aushöhlung der betreffenden Grundrechte verstanden werdendurften. 2. StGH-Schrankenrechtsprechung im Spiegel der LiteraturAngesichts des Schrankenwirrwarrs der Landesverfassung hat derStaatsgerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung den gordischenKnoten mittels einer «geltungszeitliche[n] Auslegung im Lichte einesmodernen Grundrechtsverständnisses»17 durchschlagen: Der Staatsge-richtshof bricht damit «die komplizierte Schrankensystematik der Lan-desverfassung»18 einheitlich auf die im Wesentlichen auch für dieEMRK-Freiheitsrechte gemäss deren Art. 8 bis 11 vorgegebenen mate-riellen Grundrechtseinschränkungskriterien herunter. Wie erwähnt,wendet er dabei das auch in der Schweiz seit Jahrzehnten übliche Prü-fungsschema für Grundrechtseingriffe an – und anerkennt dieses imErgebnis als ungeschriebenes Verfassungsrecht.So bewertet der Staatsgerichtshof in seinem leading case zu denGrundrechtsschranken der Landesverfassung aus dem Jahre 1997 dieselektive Schrankenregelung von Art. 32 Abs. 2 LV19 wie folgt: 187Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?15 Siehe insbesondere StGH 1960/8-10, ELG 1955–1961, 151. Auf diese Entscheidungwird ebenfalls im nachfolgenden Abschnitt ausführlich eingegangen.16 Vgl. Herbert Wille, Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit, in: Andreas Kley /Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan2012, S. 169 (190 Rz. 44); Höfling, Schranken, S. 91 Rz. 16; zum Begriff der «öffent-lichen Sittlichkeit» siehe auch Wille, Verwaltungsrecht, S. 473 f.17 StGH 1997/19, LES 1998, S. 269 (274 Erw. 3.2).18 So Hugo Vogt, Aktuelle Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofeszum Anspruch auf rechtliches Gehör, Jus & News 2010/1, S. 7 (18).19 Siehe vorne Fn. 13.
«Offensichtlich nennt die[se] Schrankenregelung [. . .] besondersschwerwiegende Eingriffe in die Persönlichkeits- und Privatsphäre,für welche der historische Verfassungsgeber den Gesetzesvorbehaltbesonders betonen wollte [. . .] Generell ist zu berücksichtigen, dassbei der Schaffung der Landesverfassung vor über 70 Jahren erst aufeine im Vergleich zu heute rudimentäre Grundrechtsdoktrinzurückgegriffen werden konnte. Diesbezüglich ist die Rechtslagemit derjenigen in der Schweiz vergleichbar, wo der Wortlaut zahl-reicher Grundrechte sogar noch aus dem letzten Jahrhundertstammt. Insoweit erscheint eine geltungszeitliche Interpretationder Schrankennormen der Landesverfassung im Lichte einesmodernen Grundrechtsverständnisses angebracht – dies etwa imGegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, deren Grundgesetznach dem 2. Weltkrieg entstanden ist und wo dem Wortlaut dereinzelnen Schrankenregelungen entsprechend grösseres Gewichtzukommt …».20Demnach müssen einerseits gesetzgeberische Eingriffe auch in solcheGrundrechte, welche unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt stehen,dem Übermassverbot genügen. Andererseits kann der Gesetzgeber indiesem Rahmen auch in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte ein-greifen21 – sofern diese nicht ausnahmsweise als absolut gewährleistetund damit als eingriffsresistent zu qualifizieren sind.22Diese StGH-Rechtsprechung wird in der Literatur überwiegendbefürwortet.23 Eine andere Meinung vertritt jedoch Wolfram Höfling –188Hilmar Hoch20 StGH 1997/19, LES 1998, S. 269 (274 Erw. 3.2); siehe hierzu Marzell Beck / AndreasKley, Freiheit der Person, Hausrecht sowie Brief- und Schriftengeheimnis, in:Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein,LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 131 (141 f. Rz. 23). Zu dieser StGH-Entscheidung istanzumerken, dass damals noch die alte schweizerische Bundesverfassung von 1874in Kraft war. 21 Siehe Hoch, Schwerpunkte, S. 73.22 Siehe zu dieser besonderen Grundrechtskategorie S. 196.23 Siehe Wille, Verwaltungsrecht, S. 40 f., 44 f.; Wille, Glaubensfreiheit, S. 169 (190Rz. 44); Hilmar Hoch, Meinungsfreiheit, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender(Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 195 (204Rz. 11); Hoch, Schwerpunkte, S. 72 f.; Hoch, Kriterien, S. 641; Vallender/Vogt,Eigentumsgarantie, S. 712 f. Rz. 42; Vogt, Rechtsprechung, S. 18; Vogt, Anspruch,S. 589 f. Rz. 37; Vogt, Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung, überspitzter For-
allerdings ohne auf die neuere einschlägige StGH-Rechtsprechung ein-zugehen.24 Höfling propagiert nach wie vor25 eine weitgehend wortge-treue Auslegung der Grundrechtsschrankenregelung der Landesverfas-sung. So bemerkt er zur vorbehaltlos gewährleisteten Eigentumsgarantiegemäss Art. 34 Abs. 1 LV: «Diese Konzeption kann man durchaus als wenig folgerichtig ein-stufen; sie ergibt sich allerdings aus dem klaren Wortlaut der Ver-fassung.»26In der von Höfling herangezogenen früheren Rechtsprechung zurEigentumsgarantie führte der Staatsgerichtshof unter anderem Folgen-des aus: «Wenn auch die liechtensteinische Verfassung es nicht ausdrücklichsagt, sind mit dem Eigentum und insbesondere mit dem Eigentuman Grund und Boden auch soziale Verpflichtungen verbunden [. . .]Der Eigentümer von Grund und Boden muss sich daher Verfü-gungsbeschränkungen, die aus Gründen der Wohlfahrt der Allge-meinheit gegeben sind, gefallen lassen [. . .] Gemäss Art. 14 der Verfassung ist oberste Aufgabe des Staates die Förderung dergemeinsamen Volkswohlfahrt und der Staat hat daher auch die189Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?malismus, ebenfalls in: Kley/Vallender, Grundrechtspraxis, S. 593 (603 f. Rz. 15 f.);Markus Wille, Petitionsrecht, ebenfalls in: Kley/Vallender, Grundrechtspraxis,S. 235 (242 Rz. 12); Tobias Michael Wille, Beschwerderecht, ebenfalls in: Kley/Val-lender, Grundrechtspraxis, S. 505 (521 Rz. 21); Tobias Michael Wille, Liechtenstei-nisches Verfassungsprozessrecht, LPS Bd. 43, Schaan 2007, S. 352 und 516 f.;Beck/Kley, Freiheit, S. 141 ff. Rz. 23.24 Höfling stützt sich insbesondere auf die StGH-Entscheidung 1960/8-10, ELG1955–1961, 151 (155); siehe Höfling, Schranken, S. 93 Rz. 20. Diese Rechtsauffas-sung teilt wohl auch Peter Nägele, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: AndreasKley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52,Schaan 2012, S. 215 (224 Rz. 19).25 Siehe auch schon Höfling, Grundrechtsordnung, S. 83 ff.; vgl. auch Gerard Batliner,Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskon-vention, in: Peter Geiger / Arno Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein: Kleinheit undInterdependenz, LPS Bd. 14, Vaduz 1990, S. 91 (141 ff.). Damals gab es die erwähnteneuere StGH-Rechtsprechung allerdings noch nicht. 26 Höfling, a. a. O.; vgl. dagegen Vallender/Vogt, Eigentumsgarantie, S. 712 f. Rz. 42und Wille, Verwaltungsrecht, S. 40 und 45; siehe auch schon Josef Alexander Fehr,Grundverkehrsrecht und Eigentumsgarantie im Fürstentum Liechtenstein, Schaan1984, S. 207.
Aufgabe, den Grundverkehr zu überwachen und Beschränkungenzu verfügen, wenn dadurch Interessen der Allgemeinheit verletztwerden.»27Höfling sieht in dieser früheren StGH-Rechtsprechung zu Recht eineParallele zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts:Indem nämlich der Staatsgerichtshof zur Herleitung einer ungeschriebe-nen Schrankenklausel auf verfassungsrechtlich statuierte Grundsätze,wie eben Art. 14 LV, zurückgreife, bediene er sich weitgehend des grund-rechtsdogmatischen Topos des kollidierenden Verfassungsrechts, derauch dem Bundesverfassungsgericht zur Legitimierung von Beschrän-kungen vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte diene.28Doch ist dieser Argumentation mit den Erwägungen des Staatsge-richtshofes in der StGH-Entscheidung 1997/19 – dem schon erwähntenleading case zu den Grundrechtsschranken der Landesverfassung – ent-gegenzuhalten, dass letztere ein Vierteljahrhundert älter als das deutscheGrundgesetz und entsprechend noch einem weitgehend formellenGrundrechtsverständnis verpflichtet ist. Tatsächlich deckt sich derGrundrechtskatalog der Landesverfassung auch in der Diktion sogarnoch weitgehend mit der konstitutionellen Verfassung von 1862.29 Des-halb erscheint bei den Schrankenbestimmungen der Landesverfassung,anders als beim Grundgesetz, eine dem Wortlaut weniger verpflichtete,primär geltungszeitliche Auslegung – oder eben die Anerkennung ent-sprechenden ungeschriebenen Verfassungsrechts – gerechtfertigt,wodurch sich ein Rückgriff auf kollidierende Verfassungsbestimmungenerübrigt.190Hilmar Hoch27 StGH 1960/8-10, a. a. O.; siehe hierzu auch Wille, Verwaltungsrecht, S. 44 f.28 Höfling, Schranken, S. 93 Rz. 20; siehe schon Höfling, Grundrechtsordnung, S. 87und S. 177 f. und die dortigen Nachweise; vgl. auch Wille, Verwaltungsrecht, S. 44 f.Zur entsprechenden Leitentscheidung BVerfGE 28, 243 (261) siehe Höfling,Schranken, S. 91.29 Ausführlich Frick, Gewährleistung, S. 27 f.; siehe dort auch S. 217, wo Frick mit die-sem Argument den einfachen Gesetzesvorbehalt von Art. 36 LV relativiert. Ähnlichveraltet sind die Grundrechtsschranken der österreichischen Bundesverfassung,deren Grundrechtskatalog mit dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechteder Staatsbürger im Kern auf das Jahr 1867 zurückgeht; siehe Robert Walter / HeinzMayer / Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Österreichisches Bundesverfassungsrecht,10. Aufl., Wien 2007, S. 21 Rz. 47 sowie Walter Berka, Verfassungsrecht, 4. Aufl.,Wien/New York 2012, S. 8 f. Rz. 28.
Die von Höfling propagierte, eng am Wortlaut orientierte Ausle-gung der Schrankenregelung der Landesverfassung führt allerdings inder Praxis kaum zu einem anderen Ergebnis als die neuere StGH-Recht-sprechung. Was zunächst die verfassungsunmittelbaren Schrankenbetrifft, so kommt der Bezugnahme auf die «Sittlichkeit» in Art. 40 LVkeine praktische Bedeutung zu;30 und in Art. 37 Abs. 2 2. Satz LV gehtdieser Begriff in der «öffentlichen Ordnung» und dem damit angespro-chenen Polizeigüterschutz auf31 – welcher wiederum mit den Grund-rechtseingriffskriterien des öffentlichen Interesses und der Verhältnis-mässigkeit korreliert.32 Bei den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrech-ten muss gemäss Höfling zwar auf «kollidierendes Verfassungsrecht»zurückgegriffen werden, um auch hier Grundrechtsschranken zu recht-fertigen. Da sich dafür aber nicht nur konkurrierende Grundrechte, son-dern auch der Wohlfahrtsartikel 14 LV eignet,33 läuft dies erneut auf dasGrundrechtseingriffskriterium des öffentlichen Interesses hinaus.Zudem betont auch Höfling, dass die «qualifizierten Gesetzesvorbehalteder EMRK … die einfachen Gesetzesvorbehalte der Landesverfassung(anreichern) und … den Grundrechtsschutz (verstärken)».34 Durch die-sen Rückgriff auf die Grundrechtseingriffskriterien der EMRK lassensich schliesslich auch die zahlreichen einfachen Gesetzesvorbehalte derLandesverfassung auf das vom Staatsgerichtshof angewandte Prüfungs-schema reduzieren. Somit deckt sich die Rechtsauffassung von Höfling, wie erwähnt,im Resultat mit der seit Längerem ständigen StGH-Rechtsprechung zuden Grundrechtsschranken der Landesverfassung, sodass dessen unter-191Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?30 Vgl. Hoch, Meinungsfreiheit, S. 203 Rz. 10. Rechtsvergleichend verweist Höflingauf die (ebenfalls) fehlende praktische Relevanz der Sittenklausel des Art. 2 Abs. 1des deutschen Grundgesetzes; siehe Höfling, Schranken, S. 91 Rz. 15 Fn. 39. 31 Wille, Glaubensfreiheit, S. 190 Rz. 44; Herbert Wille, Wie regelt das liechtensteini-sche Recht die Religionsfreiheit und das Verhältnis von Kirche und Staat?, in: Her-bert Wille / Georges Baur (Hrsg.), Staat und Kirche: Grundsätzliche und aktuelleProbleme, LPS Bd. 26, Vaduz 1999, S. 79 (95); vgl. auch Wille, Verwaltungsrecht,S. 473 f.32 Siehe Wille, Verwaltungsrecht, S. 539 ff.33 Siehe Höfling, Schranken, S. 94, mit Verweis insbesondere auf StGH 1960/8-10(siehe zu dieser Entscheidung vorne Fn. 15).34 Höfling, Schranken, S. 95, mit Verweisen auf Batliner, Rechtsordnung, S. 97 (143)sowie Höfling, Grundrechtsordnung, S. 89; vgl. auch Nägele, Vereins- und Ver-sammlungsfreiheit, S. 224 Rz. 19.
schiedlichem dogmatischem Ansatz letztlich wenig praktische Bedeu-tung zukommt.35III. Klassisches Prüfungsschema nicht nur für Eingriffe in Freiheitsrechte?1. Aktuelle Diskussion in der schweizerischen LehreLange Zeit war in der modernen Grundrechtsdogmatik weitgehendunbestritten, dass das etablierte Prüfungsschema für Grundrechtsein-griffe (gesetzliche Grundlage/Übermassverbot/Kerngehaltsgarantie) auf«klassische» Grundrechte, somit auf Freiheitsrechte zugeschnitten sei.36Aber insbesondere der diese Grundrechtseingriffskriterien einheitlichregelnde Art. 36 der neuen schweizerischen Bundesverfassung von199937 hat eine Diskussion darüber angestossen, inwieweit das Prü-fungsschema für Eingriffe in Freiheitsrechte auch auf andere Grund-rechte anwendbar ist. Der Basler Staatsrechtler Markus Schefer hat die-ser Frage eine eigene Monografie gewidmet, worin er dezidiert die Uni-versalität von Art. 36 BV betont.38 Allerdings muss auch Schefer diesesUniversalitätspostulat insofern relativieren, als er das Prüfungsschemabei Leistungs- und Verfahrensrechten sowie bei der Rechtsgleichheitund beim Willkürverbot stark modifiziert.39 Die restliche schweizerische192Hilmar Hoch35 Vgl. aber immerhin hinten Fn. 65.36 Siehe etwa Jörg Paul Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie,Bern 1982, S. 96 ff. mit weiteren Nachweisen.37 Art. 36 BV (SR 101) lautet wie folgt:«1Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage.Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Aus-genommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.2Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oderdurch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.3Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.4Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.»38 Markus Schefer, Die Beeinträchtigung von Grundrechten. Zur Dogmatik vonArt. 36 BV, Bern 2006, insbes. S. 9 ff.39 Siehe Schefer, Beeinträchtigung, S. 99 ff.; vgl. hierzu auch Ulrich Häfelin / WalterHaller / Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 8. Aufl., Zürich 2012,S. 97 Rz. 303.
Lehre sieht das einheitliche Prüfungsschema im Wesentlichen nach wievor auf die Freiheitsrechte beschränkt.402. Ausweitung der einschlägigen StGH-Rechtsprechung?In Liechtenstein ist diese Diskussion jüngst von Hugo Vogt aufgegriffenworden, der die Anwendung des Prüfungsschemas für Grundrechtsein-griffe auch auf verfassungsrechtliche Verfahrensgrundrechte propagiert.Vogt beruft sich dabei ausser auf Schefer auch auf die StGH-Rechtspre-chung.41Tatsächlich hat der Staatsgerichtshof dieses Prüfungsschema schonin den 1990er-Jahren über die traditionellen Freiheitsrechte hinaus auchauf solche Verfahrensgrundrechte ausgedehnt, bei denen er den sachli-chen Geltungsbereich ähnlich wie bei den Freiheitsrechten als genügendklar abgegrenzt erachtete; konkret beim Beschwerderecht und beimAkteneinsichtsrecht als Teilgehalt des Anspruchs auf rechtlichesGehör.42 Wenn ein solcher sachlicher Geltungsbereich, in den auch tat-sächlich «eingegriffen» werden könnte, (noch) fehlt, ist das Eingriffs-prüfungsschema nicht oder nur sehr eingeschränkt anwendbar.43193Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?40 Siehe etwa Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 97 Rz. 303 (mit Verweis aufdie Erläuterungen zu Art. 36 BV im BBl 1997 I 194 f.) sowie Regina Kiener / Wal-ter Kälin, Grundrechte, Bern 2007, S. 77 f.; weitere Literaturnachweise bei Schefer,S. 9 Fn. 4 und Vogt, Anspruch, S. 588 Fn. 112; für Österreich siehe etwa Berka, Ver-fassungsrecht, S. 420 f. Rz. 1277 ff. 41 Vogt, Rechtsverweigerung, S. 603 f. Rz. 15; Vogt, Anspruch, S. 588 ff. Rz. 35 ff.;Vogt, Rechtsprechung, S. 17 ff.42 Siehe Hoch, Schwerpunkte, S. 74 mit Verweis auf StGH 1995/11, LES 1996, 1 (5 f.Erw. 2.3.2) (Beschwerderecht); StGH 1991/8, LES 1992, 96 (98 Erw. 5.6) sowieStGH 1998/6, LES 1999, 173 (176 Erw. 3.1) (Akteneinsichtsrecht); ebenso zumAkteneinsichtsrecht für die Schweiz Kiener/Kälin, Grundrechte, S. 78. In StGH2005/30 deutet der Staatsgerichtshof allerdings an, dass alle von Art. 6 EMRKgarantierten Verfahrensrechte unter Anwendung des einheitlichen Prüfungsschemaseingeschränkt werden könnten; doch wird dies nicht weiter ausgeführt und die Ent-scheidung ist auch isoliert geblieben; siehe StGH 2005/30 Erw. 2.1 (<www.stgh.li>)und hierzu Tobias Michael Wille, Recht auf Verteidigung, in: Andreas Kley / KlausA. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012,S. 435 (451 Rz. 14).43 Vgl. Hoch, Schwerpunkte, S. 74; siehe für die Schweiz Häfelin/Haller/Keller, Bun-desstaatsrecht, S. 96 f. Rz. 302; für Österreich siehe Berka, Verfassungsrecht, S. 420 f.
Vogt spricht sich nun, wie erwähnt, dafür aus, das einheitliche Ein-griffsprüfungsschema über das Akteneinsichtsrecht und das Beschwer-derecht hinaus auf alle Verfahrensgrundrechte auszudehnen; er erwähntdabei explizit den Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Rechtsver-weigerungs- und das Rechtsverzögerungsverbot. Allerdings lässt Vogtoffen, wie als Voraussetzung hierfür der sachliche Geltungsbereich die-ser weiteren Verfahrensgrundrechte konkret zu umreissen wäre.44Im Bezug auf den Anspruch auf rechtliches Gehör räumt Vogt imGegenteil ein, dass dieses Grundrecht «[a]ls Verfahrensgrundrecht [. . .]darauf angewiesen ist, durch (einfachgesetzliches) Prozessrecht [. . .]umgesetzt zu werden. Damit bezieht der Anspruch auf rechtlichesGehör seinen materiellen Gehalt sehr stark auch von den einfachgesetz-lichen Bestimmungen».45 Entsprechend geht auch die inhaltlicheUmschreibung dieses Grundrechts nur so weit, dass «der Verfahrensbe-troffene eine dem Verfahrensgegenstand und der Schwere der drohendenSanktion angemessene Gelegenheit erhält, seinen Standpunkt zu vertre-ten».46 Damit ist aber noch keine einheitliche Abgrenzung des sachlichenGeltungsbereichs des rechtlichen Gehörs möglich, da dessen Inhalt jenach Verfahren und drohender Sanktion variieren kann. Anders ist dies eben nur beim Akteneinsichtsrecht als Teilgehaltdes Anspruchs auf rechtliches Gehör: Wer Partei in einem Zivil-, Straf-oder Verwaltungsverfahren ist,47 hat grundsätzlich das Recht, alle Ver-fahrensakten zu kennen.48 Wenn in diesen genügend klar umrissenensachlichen Geltungsbereich des Akteneinsichtsrechts eingegriffen wer-den soll, muss der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruhenund unter Einhaltung des Übermassverbots, somit unter Anwendungdes einheitlichen Eingriffsprüfungsschemas erfolgen.49 Gleiches gilt im194Hilmar HochRz. 1277 sowie – spezifisch zu den Verfahrensgrundrechten – Walter/Mayer/Kucs -ko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht, S. 630 f. Rz. 1339.44 Siehe Fn. 41.45 Vogt, Anspruch, S. 570 Rz. 8 mit rechtsvergleichenden Hinweisen.46 Siehe StGH 2003/90, LES 2006, 89 (91 Erw. 2.1) sowie Vogt, Anspruch, S. 573Rz. 11 und Wille, Verfassungsprozessrecht, S. 338 f. 47 Vogt, Anspruch, S. 583 Rz. 26. Dritten steht dagegen nur das allgemeine Informati-onsrecht gemäss Informationsgesetz offen; siehe StGH 2009/107, Erw. 5.1, undhierzu Hilmar Hoch, Archivrecht und Grundrechte, LJZ 2011, 28 (29 Fn. 8). 48 Vogt, Anspruch, S. 583 f. Rz. 27 mit Verweis auf StGH 2011/69, Erw. 2.2.3.49 Siehe Vogt, Anspruch, S. 584 Rz. 30; Wille, Verfassungsprozessrecht, S. 78.
Übrigen für das Beschwerderecht gemäss Art. 43 LV. Hier lässt sich dersachliche Geltungsbereich dahingehend umreissen, dass jede Verfügungoder Entscheidung bis zur letzten Instanz angefochten werden kann;entsprechend stellt eine Rechtsmitteleinschränkung oder gar ein Rechts-mittelausschluss einen zu rechtfertigenden Grundrechtseingriff dar.50Auch in Bezug auf das Verbot der formellen Rechtsverweigerungund der Rechtsverzögerung führt Vogt, wie erwähnt, nicht aus, wie eini-germassen klar abgegrenzte sachliche Geltungsbereiche für diese beidenGrundrechte aussehen sollten.51 Hinsichtlich des Rechtsverzögerungs-verbots erstaunt dies von vornherein nicht. Denn dieses Grundrechtwird recht kasuistisch angewandt, weil die vier vom Staatsgerichtshofaus der Strassburger Rechtsprechung übernommenen Prüfungskrite-rien52 für jeden Fall individuell anzuwenden sind. Beim Rechtsverweige-rungsverbot ist die Sachlage etwas anders. Soweit die Rechtsverweige-rung im Rechtsmittelverfahren erfolgt, ergibt sich teilweise eine Über-schneidung mit dem Beschwerderecht gemäss Art. 43 LV.53 Insofern istauch hier das einheitliche Prüfungsschema anwendbar. Ansonsten erge-ben sich insbesondere Überschneidungen des Rechtsverweigerungsver-bots mit dem Recht auf den ordentlichen Richter gemäss Art. 33 Abs. 1LV;54 in diesem Bereich erscheint das Prüfungsschema jedoch wiederumwenig geeignet, da das Recht auf den ordentlichen Richter «weder dasRecht auf ein bestimmtes Verfahren noch auf eine bestimmte Entschei-dung»55 gewährleistet und somit auch hier ein klar konturierter sachli-cher Geltungsbereich fehlt. 195Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?50 Siehe Wille, Beschwerderecht, S. 521 Rz. 21.51 Siehe Vogt, Rechtsverweigerung, S. 604 Rz. 15 in fine und S. 611 Rz. 31.52 Es sind dies das Verhalten des Beschwerdeführers, die Komplexität des Verfahrens,die Behandlung des Falles durch die (inländischen) Behörden sowie dessen Bedeu-tung für den Beschwerdeführer; siehe hierzu Vogt, Rechtsverweigerung, S. 607 ff.Rz. 22 f. mit Rechtsprechungsnachweisen.53 Siehe etwa StGH 2004/9, Erw. 2.2 (<www.gerichtsentscheide.li>) sowie Vogt,Rechtsverweigerung, S. 601 f. Fn. 32.54 StGH 2004/15, Erw. 2.2; StGH 2003/37, Erw. 2.1.55 Siehe StGH 2002/9, Erw. 3 und hierzu Tobias Michael Wille, Recht auf den ordent-lichen Richter, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis inLiechtenstein, Schaan 2012, S. 331 (351 Rz. 22) mit weiteren Rechtsprechungsnach-weisen. Vgl. aber immerhin StGH 2011/10, Erw. 2.3 (<www.gerichtsentscheide.li>),wo der Staatsgerichtshof ausnahmsweise dem einheitlichen Prüfungsschema zu fol-gen scheint; dies ist aber, soweit ersichtlich, ein Einzelfall geblieben; siehe auchTobias Michael Wille, a. a. O., S. 372 f. Rz. 48.
Diese Ausführungen zeigen, dass bei der Anwendung der einheit-lichen Grundrechtseingriffskriterien über die Freiheitsrechte hinaus aufweitere Grundrechte Zurückhaltung angezeigt ist. Entsprechend erweistsich die StGH-Rechtsprechung mit ihrer selektiven Ausweitung derAnwendung dieser Kriterien auf das Beschwerderecht und auf denAnspruch auf Akteneinsicht als gerechtfertigt. Wenn sich allerdings dersachliche Geltungsbereich weiterer Grundrechte in der zukünftigenEntwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung genügend konkre-tisieren sollte, kann sich allenfalls auch eine weitergehende Anwendungdes einheitlichen Prüfungsschemas als sinnvoll erweisen.563. Ein Sonderfall: Eingriffsresistente GrundrechteEinen aufschlussreichen Sonderfall stellen die absolut gewährleistetenund somit eingriffsresistenten57 Grundrechte dar, weil für diese von denklassischen Grundrechtseingriffskriterien von vornherein nur die Kern-gehaltsgarantie relevant ist: Ihr sachlicher Geltungsbereich fällt nämlichmit diesem Eingriffskriterium zusammen. Es handelt sich dabei einer-seits um verschiedene in der Landesverfassung explizit gewährleisteteGrundrechte58 – wobei diese vorbehaltlose Gewährleistung hier eben(als Ausnahme von der sonstigen StGH-Praxis) zum Nennwert zu neh-men ist; andererseits gehören dazu auch ungeschriebene Grundrechte.Auf diese eingriffsresistenten Grundrechte soll im Folgenden noch kurzeingegangen werden.Zu dieser Grundrechtskategorie gehört zunächst das in der StGH-Praxis wichtigste Grundrecht, nämlich das ungeschriebene Willkürver-bot. Dieses beansprucht als universeller Mindeststandard an Gerechtig-196Hilmar Hoch56 Zur entsprechenden Dynamik etwa der schweizerischen Grundrechtsprechungsiehe schon Müller, Elemente, S. 96 ff.57 Höfling spricht in diesem Zusammenhang auch von «abwägungsresistenten»Grundrechtsgewährleistungen. Er weist zudem darauf hin, dass der früher auchvom Staatsgerichtshof verwendete Begriff der «absoluten Grundrechte» mehrdeutigist: Während der Staatsgerichtshof darunter auch die von ihm sehr wohl als ein-schränkungsfähig erachtete Eigentumsgarantie subsumierte, versteht die österrei-chische Verfassungsrechtslehre unter diesem Begriff nur eingriffsresistente Grund-rechte; siehe Höfling, Schranken, S. 92 f. Rz. 17 f.58 Siehe vorne, S. 185.
keit in der ganzen Rechtsordnung absolute Geltung und kann deshalbnicht weiter eingeschränkt werden.59Nach traditioneller und nach wie vor vorherrschender Auffassunggilt auch der Gleichheitssatz gemäss Art. 31 Abs. 1 LV als eingriffsresis-tent. Wenn demnach eine sachliche Differenzierung zwischen Ver-gleichsfällen möglich ist, ist eine Ungleichbehandlung gerechtfertigtbzw. muss im umgekehrten Fall eine Gleichbehandlung erfolgen; sonstist dieses Grundrecht verletzt.60 Nach der gegenteiligen Auffassung hatauch im Rahmen der Gleichheitsprüfung eine der Verhältnismässigkeits-prüfung ähnliche Abwägung zwischen den für und gegen eine Gleichbe-handlung sprechenden Interessen zu erfolgen.61Absolut gewährleistet sind auch der Schutz der Menschenwürde,das Verbot der Todesstrafe sowie das Verbot unmenschlicher Strafen(inkl. Folterverbot) gemäss Art. 27bis LV.62 Kein absolut eingriffsresis-197Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?59 Siehe Hoch, Schwerpunkte, S. 74 mit Verweis auf Daniel Thürer, Das Willkürverbotnach Art. 4 BV, ZSR NF Bd. 106 (1987, II. Hbd.), S. 413 (452 f.) sowie Müller, Ele-mente, S. 478; siehe auch Vogt, Willkürverbot, S. 357 f. und Schefer, Gewährleistung,S. 113 mit Verweis auf die abweichende Meinung von Felix Uhlmann, Das Willkür-verbot (Art. 9 BV), Bern 2005, Rz. 305 ff.60 Dies ist wohl auch nach wie vor die Auffassung des Staatsgerichtshofes; sieheKley/Vogt, Rechtsgleichheit, S. 262 f. Rz. 22 f. mit zahlreichen Rechtsprechungs-nachweisen; siehe aber immerhin auch die anschliessende Fussnote.61 Ausführlich hierzu René Wiederkehr, Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen:Gilt Art. 36 BV auch bei der Einschränkung der Rechtsgleichheit?, AJP 4/2008, S. 394(396 f. und 409 f.); vgl. zudem Schefer, Beeinträchtigung, S. 110 ff. sowie Kley/Vogt,Rechtsgleichheit, S. 260 f. Rz. 20 f., welche auch in den StGH-Entscheidungen2003/67 (Erw. 4.1) und 2011/23 (Erw. 6.2) Andeutungen für eine Verhältnismässig-keitsabwägung im Rahmen der Gleichheitsprüfung sehen. Gemäss diesen beidenStGH-Entscheidungen ist analog zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfas-sungsgerichts (siehe dazu Höfling, Grundrechtsordnung, S. 206 mit Verweis aufBVerfGE 55, 72 [88, 91] und 70, 230 [239 f.]) die Ungleichbehandlung zweier Gruppenvon Normadressaten unzulässig, wenn zwischen diesen «keine Unterschiede von sol-cher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtferti-gen könnten …». Tatsächlich erfolgte allerdings in beiden StGH-Fällen keinerlei Ver-hältnismässigkeitsprüfung. Kritisch zu einer derartigen Ausweitung des Gleichheits-satzes Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, S. 98 Rz. 303b mit Verweis auf WalterKälin, ZBJV 147 (2011) 753: Gemäss Kälin «führt ein solcher ‹Import von Kriteriendes öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit in das Rechtsgleichheitsge-bot› zwar zu einer strengeren Prüfung und erhöht damit den Grundrechtsschutz, ver-kennt aber gleichzeitig die gewaltenteilige … Funktion des Rechtsgleichheitsgebotsund höhlt damit die Rollenverteilung zwischen Richter und Gesetzgeber aus.»62 Siehe Höfling, Schranken, S. 92 f. Rz. 18 f.; vgl. auch Häfelin/Haller/Keller, Bun-desstaatsrecht, S. 106 Rz. 326. Zum Folterverbot gemäss Art. 3 EMRK siehe Chris-
tentes Grundrecht ist dagegen das – zwar ebenfalls ohne Gesetzesvorbe-halt gewährleistete63 – Recht auf Leben gemäss Art. 27ter Abs. 1 LV. Fürdieses Grundrecht müssen hinsichtlich des staatlichen Rechts auf Selbst-verteidigung sowie bei Notwehr und Nothilfe implizite Grundrechts-schranken64 und in diesem Rahmen auch das Übermassverbot und dieKerngehaltsgarantie gelten.65Nicht einschränkbar sind schliesslich einzelne grundrechtlicheLeistungsansprüche, sofern sie nicht direkt mit Interessen Dritter kolli-dieren können;66 so das ungeschriebene Grundrecht auf Existenzsiche-rung67 und als Reflex hiervon auch das steuerfreie Existenzminimumgemäss Art. 24 Abs. 1 LV.68198Hilmar Hochtoph Grabenwarter / Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl., Wien 2012, S. 163 Rz. 26. Die Todesstrafe ist gemäss Art. 2 Abs. 1 Satz 2EMRK dagegen an sich zulässig, wird aber im Zusammenhang mit den Gewährleis-tungen des 6. und 13. Zusatzprotokolls von der Strassburger Rechtsprechung als inFriedenszeiten EMRK-widrig erachtet; siehe Grabenwarter/Pabel, Menschen-rechtskonvention, S. 150 f. Rz. 7 ff.63 Vgl. S. 185. 64 Siehe Peter Bussjäger, Der Schutz der Menschenwürde und des Rechts auf Leben,in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein,LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 113 (125 f. Rz. 29 ff.).65 Vgl. zur analogen Schrankenregelung in Art. 2 Abs. 2 EMRK Grabenwarter/Pabel,Menschenrechtskonvention, S. 151 f. Rz. 11 ff.; restriktiver wohl Höfling, Schran-ken, S. 93 Rz. 19, wonach Einschränkungen des Rechts auf Leben nur nach Mass-gabe kollidierenden Verfassungsrechts möglich seien, wobei Höfling einzig dieBefreiung von Geiseln als Beispiel anführt; siehe generell zu dessen stärkererGewichtung des Verfassungswortlauts im Bezug auf Grundrechtsschranken S. 187. 66 Solche Kollisionen sind etwa beim Grundrecht auf unentgeltlichen Primarschulun-terricht gemäss Art. 16 Abs. 3 LV möglich; so wenn ein Kind den Unterricht störtund deshalb zeitweise vom Schulunterricht suspendiert werden muss; siehe Häfe -lin / Haller / Keller, Bundesstaatsrecht, S. 98 Rz. 303a und Schefer, Beeinträchti-gung, S. 101. Allgemein zu diesem Grundrecht siehe Höfling, Grundrechtsordnung,S. 146 mit weiteren Nachweisen. 67 Vgl. Schefer, Gewährleistung, S. 102; Häfelin / Haller / Keller, Bundesstaatsrecht,S. 98 Rz. 303a. Generell zum Grundrecht auf Existenzsicherung siehe den leadingcase StGH 2004/48, Erw. 2.2 f. (<www.stgh.li>) sowie Hoch, Kriterien, S. 40; Vogt,Willkürverbot, S. 356 f. und Herbert Wille, Legalitätsprinzip im Abgaberecht, in:Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein,LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 485 (489 Fn. 18). 68 Siehe zu diesem Grundrecht StGH 2000/39, LES 2004, S. 43 (56 Erw. c/aa); sieheauch Wille, Legalitätsprinzip, S. 488 ff. Rz. 2 ff. und Hoch, Kriterien, S. 640.
IV. FazitAbschliessend können die beiden eingangs gestellten Fragen kurz wiefolgt beantwortet werden:– Der Staatsgerichtshof hat die im Wesentlichen noch auf die konsti-tutionelle Verfassung von 1862 zurückgehenden unterschiedlichenGrundrechtsschranken der Landesverfassung in seiner neuerenRechtsprechung zu Recht durch das einheitliche Eingriffsprü-fungsschema (genügende gesetzliche Grundlage; öffentliches Inte-resse/Verhältnismässigkeit/Kerngehaltsgarantie) ersetzt. Demnachwerden einerseits auch gesetzgeberische Eingriffe in Grundrechte,welche unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt stehen, auf ihreVerhältnismässigkeit überprüft; andererseits braucht auch zurRechtfertigung von Eingriffen in durch die Landesverfassung vor-behaltlos gewährleistete Grundrechte nicht (mehr) auf kollidie-rende Verfassungsnormen zurückgegriffen zu werden.– Eine generelle Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieses ein-heitlichen Eingriffsprüfungsschemas auf Verfahrensrechte oder garauf sämtliche Grundrechte erweist sich als weder sinnvoll nochpraktikabel. Am wenigsten geeignet ist dieses Schema für dieGruppe der eingriffsresistenten Grundrechte. Gerechtfertigterscheint dessen Anwendung indessen aus heutiger Sicht auf ein-zelne Verfahrensrechte; konkret auf das Akteneinsichts- und dasBeschwerderecht, wie dies vom Staatsgerichtshof auch seit Länge-rem praktiziert wird.199Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?
Das Elternrecht auf religiöse Erziehung der Kinder im Spannungsfeld von staatlichemBildungsauftrag und Kindeswohl am Beispiel des SexualkundeunterrichtesBernhard Ehrenzeller*I. EinleitungFragen der Religionsfreiheit und des Verhältnisses von Kirche und Staatim Fürstentum Liechtenstein bilden ein Kernthema der wissenschaftli-chen Arbeiten des Jubilars. Dabei hat er sich nicht gescheut, auch ingrundsätzlichen und heiklen Fragen differenziert Stellung zu beziehen.Er gilt denn auch als führender liechtensteinischer Experte auf diesemGebiet.1Der nachfolgende Beitrag greift diesen roten Faden auf und befasstsich mit einem Thema aus dem Bereich von Schule und Religionsfreiheit.Konkret geht es um die Stellung des Sexualkundeunterrichts in der obli-gatorischen Schule. Dieses Thema hat in letzter Zeit, vor allem imZusammenhang mit der derzeit stattfindenden Diskussion über dieNeugestaltung der Lehrpläne, erhebliche Aufmerksamkeit in derÖffentlichkeit erfahren. In der Schweiz ist das Thema sogar Gegenstandeiner Volksinitiative zum Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten undPrimarschule.2 Nach Ansicht der Initianten droht mit dem vorgesehenenobligatorischen Sexualkundeunterricht eine verfrühte Sexualisierung der201* Herrn Kaspar Ehrenzeller, B.A. HSG (Law & Economics), Lehrstuhlassistent,danke ich herzlich für die wertvolle Unterstützung bei der Erarbeitung dieses Bei-trages. Ebenso danke ich Herrn Matthias Schmidle, BLaw HSG, ebenfalls Lehr-stuhlassistent, für seine Abklärungen zum liechtensteinischen Recht.1 Davon zeugt u. a. seine jüngste Kommentierung der Glaubens-, Gewissens- undKultusfreiheit in: Kley/Vallender, S. 169 ff.2 Die Initiative befindet sich noch im Stadium der Unterschriftensammlung; sieheVorprüfung der Eidgenössischen Volksinitiative «Schutz vor Sexualisierung in Kin-dergarten und Primarschule» (BBl 2012 5834). Sie hat folgenden Wortlaut:Art. 11 Absätze 3–7 BV (neu)3. Sexualerziehung ist Sache der Eltern.
Kinder. Dadurch werde den Eltern das Recht auf sexuelle Erziehungihrer Kinder faktisch weggenommen. Die Diskussion ist grundsätzlicher Natur. Nachfolgend soll des-halb am Beispiel des Sexualkundeunterrichts das – im schweizerischenwie im liechtensteinischen Recht zutage tretende – grundsätzliche Span-nungsfeld zwischen staatlichem Bildungsauftrag, religiösem Erziehungs-recht der Eltern und dem Kindeswohl aufgezeigt werden. In einem ersten allgemeinen Teil wird – für beide Staaten – der staatlich und inter-nationalrechtlich definierte Bildungsauftrag dem elterlichen Erziehungs-recht gegenübergestellt und die Frage behandelt, inwieweit das Kindes-wohl im Konfliktfall dem elterlichen Erziehungsrecht vorgeht. In einemzweiten Teil wird dieser Konfliktfall am Beispiel des Sexualkundeunter-richts näher betrachtet. Schliesslich folgt eine zusammenfassende Wür-digung.II. Der staatliche Bildungsauftrag1. In der SchweizDas Schulwesen ist Sache der Kantone (Art. 62 Abs. 1 BV). Der Bun-desverfassungsgeber erteilt ihnen jedoch in Art. 62 Abs. 2 BV – als Pen-dant zum Grundrechtsanspruch in Art. 19 BV – den Auftrag, für einenausreichenden Grundschulunterricht zu sorgen, der allen Kindern offensteht und somit dem Gebot der religiösen Neutralität verpflichtet ist.3Dieser Unterricht ist obligatorisch und untersteht staatlicher Leitung202Bernhard Ehrenzeller4. Unterricht zur Prävention von Kindsmissbrauch kann ab dem Kindergartenerteilt werden. Dieser Unterricht beinhaltet keine Sexualkunde.5. Freiwilliger Sexualkundeunterricht kann von Klassenlehrpersonen an Kinder undJugendliche ab dem vollendeten neunten Altersjahr erteilt werden.6. Obligatorischer Unterricht zur Vermittlung von Wissen über die menschlicheFortpflanzung und Entwicklung kann von Biologielehrpersonen an Kinder undJugendliche ab dem vollendeten zwölften Altersjahr erteilt werden.7. Kinder und Jugendliche können nicht gezwungen werden, weitergehendem Sexu-alkundeunterricht zu folgen.3 Siehe dazu: Kley, St. Galler Kommentar zu Art. 15 BV, Rz. 14 ff.; Ehrenzeller, Glau-ben, Gewissen und Weltanschauung, § 211, Rz. 29 ff.; Pahud de Mortanges; Richli,S. 202 ff.
und Aufsicht. Wie der ausreichende Grundschulunterricht ausgestaltetsein muss, gibt der Bundesgesetzgeber nicht direkt vor. Er überlässtdiese Konkretisierungsaufgabe seit jeher den Kantonen.4 In Art. 62 Abs.4 BV verpflichtet er aber die Kantone seit dem Erlass der neuen Bil-dungsverfassung im Jahre 2006, das Schulwesen in Bezug auf bestimmteEckwerte zu harmonisieren, so u. a. betreffend die Schulpflicht, dieSchulstrukturen und die Bildungsziele. Es verbleibt somit Sache derKantone, wenn auch in gemeinsamer Koordination, die Bildungszielestufengerecht zu bestimmen. Die Kantone sind frei, eine über Abs. 4hinausgehende Harmonisierung vorzunehmen, was im Rahmen derInterkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatori-schen Schule (HarmoS-Konkordat) auch erfolgt ist.5 Nach Art. 3 Har-moS erwerben und entwickeln alle Schülerinnen und Schüler in der obli-gatorischen Schule grundlegende Kenntnisse und Kompetenzen sowiekulturelle Identität, welche es ihnen erlauben, lebenslang zu lernen undihren Platz in Gesellschaft und Berufsleben zu finden (Absatz 1). Teil desobligatorischen Unterrichts ist auch eine Gesundheitserziehung, die derFörderung des physischen und psychischen Wohlbefindens dient(Absatz 2 lit. e). Die Schülerinnen und Schüler sollen – im Sinne einerübergreifenden Zielsetzung – in ihrer Entwicklung zu eigenständigenPersönlichkeiten, beim Erwerb sozialer Kompetenzen sowie auf demWeg zu verantwortungsvollem Handeln gegenüber Mitmenschen undUmwelt unterstützt werden (Absatz 3). Gerade mit letzter Umschrei-bung orientiert sich das Konkordat stark am Sozialgestaltungsauftragvon Art. 41 Abs. 1 lit. g) BV.6 Konkretisiert werden diese Bildungsziele203Elternrecht auf religiöse Erziehung4 Der Bund hat sich nie als ermächtigt betrachtet, ein Ausführungsgesetz zu den bun-desrechtlichen Anforderungen an die obligatorische Schule zu erlassen (vgl. Fleiner,S. 10–12).5 Abrufbar unter: <http://edudoc.ch/record/24711/files/HarmoS_d.pdf>; siehe dazu:Ehrenzeller/Schott, St. Galler Kommentar zu Art. 62 BV, Rz. 46 ff.; KommentarEDK zu HarmoS (m. w. H. zu Literatur und Materialien).6 Dazu Kägi-Diener, St. Galler Kommentar zu Art. 19 BV, Rz. 19 ff. Danach kommtdiesem Bildungsauftrag eine subjektive und eine objektive Bedeutung zu: In sub-jektiver Hinsicht soll die Grundschulbildung die Persönlichkeitsentwicklung desEinzelnen in intellektueller wie auch sozialer Hinsicht vorantreiben. Aus objektivenGesichtspunkten kommt dem Grundschulunterricht dagegen eine integrative, wirt-schaftliche sowie demokratisch-staatsrechtliche Bedeutung zu. Die integrativeFunktion der schulischen Grundbildung in der heutigen multikulturellen Gesell-schaft ergibt sich daraus, dass die Schule in ihrer Funktion als Quelle der modernen
im Rahmen von Bildungsstandards (Art. 7) und den Lehrplänen, diegemäss Art. 8 HarmoS sprachregional harmonisiert und koordiniertwerden sollen. Lehrpläne, Lehrmittel und Evaluationsinstrumente sowieBildungsstandards müssen aufeinander abgestimmt werden.7 Gestütztauf diese Grundlagen ist das Grundsatzpapier zum Themenkreis Sexua-lität und Lehrplan 21 erarbeitet worden.8 Derzeit, bis zum Erlass desLehrplanes 21,9 sind immer noch die kantonalen Lehrpläne für denGrundschulunterricht massgebend.10 Zusammengenommen ergibt sichalso der staatliche Bildungsauftrag in der Schweiz aus Zielvorgaben derBundesverfassung, den kantonalen Schulgesetzen und Lehrplänen, demHarmoS-Konkordat und – gestützt darauf – den (noch zu erlassenden)interkantonal koordinierten Lehrplänen, die ihrerseits wiederum vonden Kantonen eingeführt werden müssen.2. In LiechtensteinAuch die liechtensteinische Landesverfassung (LV) enthält Vorgabenzum Erziehungs- und Bildungswesen. Nach Art. 15 LV wendet der Staatdem Erziehungs- und Bildungswesen seine besondere Sorgfalt zu. Die-ses ist so einzurichten und zu verwalten, dass aus dem Zusammenwirkenvon Familie, Schule und Kirche der heranwachsenden Jugend eine reli-giös-sittliche Bildung, vaterländische Gesinnung und künftige beruflicheTüchtigkeit zu eigen wird. Das gesamte Erziehungs- und Unterrichts-wesen steht gemäss Art. 16 LV, unbeschadet der Unantastbarkeit derkirchlichen Lehre, unter staatlicher Aufsicht (Absatz 1). Im Rahmen derallgemeinen Schulpflicht sorgt der Staat dafür, dass der obligatorische204Bernhard Ehrenzellerpolitischen und zugleich der kulturellen sowie der ökonomischen Gemeinschaftagiert. Ein hoher Bildungsstand der Bevölkerung ist auch für eine prosperierendeVolkswirtschaft unabdingbar und essentiell für eine Demokratie, die auf die Mit-wirkung verantwortungsvoller, informierter Bürger angewiesen ist.7 Kommentar EDK zu HarmoS, S. 23 ff.8 Grundsatzpapier Sexualität & Lehrplan 21.9 Derzeit läuft die Vernehmlassung zum Lehrplan 21 bei den interessierten Kreisen.Siehe dazu die entsprechende Medienmitteilung vom 28. 6. 13 der D-EDK, abruf-bar unter: <http://www.lehrplan.ch/sites/default/files/2013-06-26_medienmitteilung_def_o_sperrfrist.pdf>.10 Vgl. dazu: Plotke, S. 5 ff.
Unterricht in den Elementarfächern in genügendem Ausmass in denöffentlichen Schulen unentgeltlich unterrichtet wird (Absätze 2 und 3).Diese Formulierung gleicht Art. 27 Abs. 2 der alten Bundesverfassung,wonach die Kantone für genügenden Primarunterricht zu sorgen haben.Die liechtensteinische Verfassung kennt jedoch keinen Art. 19 BV ent-sprechenden Grundrechtsanspruch auf genügenden Elementarunter-richt. Hingegen hat Liechtenstein, anders als die Schweiz, das 1. Zusatz-protokoll zur EMRK ratifiziert.11 Dessen Art. 2 statuiert ein Recht aufBildung.Das liechtensteinische Schulgesetz (SchulG)12 umschreibt in Art. 1die Aufgabe der Schule. Danach dienen die öffentlichen Schulen imZusammenwirken mit Familie und Kirche der Bildung und Erziehungder heranwachsenden Jugend. In diesem Sinne fördern sie die harmoni-sche Entwicklung der intellektuellen, sittlichen und körperlichen Kräftedes jungen Menschen und sind bestrebt, ihn nach christlichen Grundsät-zen zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und den beruf-lichen Anforderungen des Lebens gewachsenen Menschen und Glieddes Volkes und Staates zu erziehen. Auch der liechtensteinische Staats-gerichtshof betont in einem jüngeren Entscheid die grosse Bedeutungdes als ganzheitlich zu verstehenden Bildungsauftrages, welcher zumZiel hat, dass die Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung auchsoziale Kompetenzen sowie verantwortungsvolles Verhalten gegenüberMitmenschen erlernen. Die Schulbildung trage wesentlich zur Persön-lichkeitsentwicklung bei.13Die Fürstliche Regierung erlässt in Form einer Verordnung dieLehrpläne, welche die allgemeinen Bildungsziele sowie die Lernzieleund Lerninhalte auf den einzelnen Schulstufen und in den einzelnenFachbereichen und Fächern zu enthalten hat (Art. 8).14 Auf der Grund-lage des Lehrplans bestimmt das Schulamt die Lehrmittel (Art. 10). Einespezifische Bestimmung, Art. 117 SchulG, gilt der obligatorischen205Elternrecht auf religiöse Erziehung11 LGBl. 1995, Nr. 208. 12 LGBl. 1972, Nr. 7.13 StGH 2012/130, E. 3.2.3.14 Sämtliche Lehrpläne sind auf der Internetseite des Schulamtes abrufbar unter:<http://www.llv.li/llv-sa-amtsgeschaefte-lehrplaene>. Im Teilbereich «Mensch- undUmwelt» finden sich unter verschiedenen Aspekten Ausführungen zum Sexualkun-deunterricht.
Gesundheitspflege in der Schule. Diese umfasst u. a. die Förderung desGesundheitsbewusstseins der Schüler, die Entwicklung und Förderungvon Massnahmen zur Verhütung von Krankheiten und Unfällen (Abs. 1). Diesem Auftrag haben die Lehrpläne in einer auf die Schulstu-fen abgestimmten Weise Rechnung zu tragen (Abs. 2). Art. 17 des schweizerischen HarmoS-Konkordates sieht vor, dassdas Fürstentum Liechtenstein dieser interkantonalen Vereinbarung bei-treten kann. Es stehen ihm in diesem Fall alle Rechte und Pflichten einesVereinbarungskantons zu. Die Regierung hat im Rahmen einer parla-mentarischen Anfrage allerdings erklärt, dass ein Beitritt Liechtensteinsnicht in Betracht gezogen werde. Das Land würde sich dadurch einsei-tig zu stark an die Entwicklung in der Schweiz binden. Eine Orientie-rung an den schweizerischen Bildungsstandards sei zwar möglich, dochverfolge Liechtenstein eine eigenständige Bildungsstrategie.153. Internationalrechtliche VorgabenDie Schweiz wie auch das Fürstentum Liechtenstein sind Vertragsstaa-ten des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kultu-relle Rechte (UNO-Pakt I)16 und des Übereinkommens über die Rechtedes Kindes (Kinderrechtskonvention: KRK).17 Art. 13 Abs. 1 UNO-Pakt I umschreibt im Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung eingemeinsames Verständnis, wonach Bildung auf die volle Entfaltung dermenschlichen Persönlichkeit und das Bewusstsein ihrer Würde gerichtetsein und die Achtung vor Menschenrechten und Grundfreiheiten stär-ken muss. In die gleiche Richtung, allerdings noch weiterführender unddas Kind als eigenständigen Rechtsträger auf Bildung bezeichnend,18206Bernhard Ehrenzeller15 Antwort von Regierungsrat Hugo Quaderer auf die Kleine Anfrage des Landtags-abgeordneten Gerold Büchel, anlässlich der Landtagssitzung vom 16./17. März2010. Liechtenstein ist als assoziiertes Mitglied ständiger Gast (ohne Stimmrecht)bei der Plenarversammlung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erzie-hungsdirektoren (EDK). Die Formulierung in Art. 17 HarmoS-Konkordat ent-spricht der üblichen Formel, wie sie auch in andern interkantonalen Verträgen ver-ankert ist.16 SR 0.103.1; LGBl. 1999, Nr. 57.17 SR 0.107; LGBl. 1996, Nr. 163.18 Schmahl, Art. 28/29 KRK, Rz. 19 ff., 26 ff.
weisen Art. 28/29 KRK (Recht auf Bildung/Bildungsziele). So stimmennach Art. 29 Abs. 1 KRK die Vertragsstaaten darin überein, dass die Bil-dung des Kindes u. a. darauf gerichtet sein muss, «dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität,seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Wer-ten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, ausdem es stammt, sowie vor andern Kulturen als der eigenen zu ver-mitteln» (lit. c);«das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freienGesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz,der Gleichberechtigung der Geschlechter … vorzubereiten» (lit. d).III. Das Elternrecht auf religiöse Erziehung ihrer Kinder Die Bundesverfassung – anders als beispielsweise Art. 6 Abs. 2 GG –kennt kein ausdrückliches Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder,auch nicht bezogen auf deren religiöse Erziehung. Dennoch ist diesesRecht verfassungsrechtlich anerkannt. Lehre und Praxis leiten das gene-relle elterliche Erziehungsrecht aus Art. 13 BV (Recht auf Familienle-ben) und das spezifische Recht auf religiöse Erziehung aus der Religi-onsfreiheit (Art. 15 BV) ab.19 In diesem Sinne sieht Art. 303 ZGB vor,dass die Eltern über die religiöse Erziehung der Kinder verfügen. DasZGB anerkennt somit das natürliche und primäre Recht der Eltern, dieKinder ihrer Überzeugung gemäss zu erziehen.20Im Gegensatz zur Schweiz verweist Art. 15 LV ausdrücklich aufdas Zusammenwirken von Familie und Schule. Ein allgemeiner grund-rechtlicher Anspruch der Eltern auf Erziehung der Kinder ergibt sichdaraus noch nicht, zumal sich das Recht auf Familienleben nicht direktaus der Verfassung ergibt, sondern sich auf Art. 8 EMRK abstützt.21Dagegen ist das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit inArt. 37 LV verankert, woraus sich, auch im Zusammenhang mit Art. 15LV, das elterliche Recht auf die religiöse Erziehung der Kinder ableiten207Elternrecht auf religiöse Erziehung19 Vgl. Plotke, S. 482; Sahlfeld, S. 330.20 Plotke, S. 475.21 Vgl. StGH 2011/155, Erw. 3.1.
lässt.22 Eine analoge Bestimmung zu Art. 303 ZGB kennt das liechten-steinische ABGB nicht.Massgebend für die Auslegung des elterlichen Erziehungsrechts istauch Art. 2 Satz 2 des 1. Zusatzprotokolls (1. ZP EMRK). Liechtensteinhat dieses Zusatzprotokoll – im Gegensatz zur Schweiz – ratifiziert. Wiesich zeigen wird, entfaltet aber Art. 2 Satz 2 1. ZP EMRK zumindestindirekt auch für die Schweiz Wirkungen. Nach dieser Bestimmung hatder Staat«… bei der Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehungund des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht derEltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechendihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungensicherzustellen».23Die Bestimmung selbst vermittelt den Eltern kein subjektives Recht aufErziehung ihrer Kinder. Dieses ergibt sich aber aus der Bindung desStaates, bei der Ausgestaltung des Bildungswesens das Elternrechtgemäss Art. 2 Satz 2 des 1. ZP EMRK zu achten. Nach der Rechtspre-chung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)besteht dieses Erziehungsrecht im Recht, die Kinder aufzuklären und siezu beraten, ihnen gegenüber die natürlichen elterlichen Funktionen alsErzieher auszuüben oder sie in Übereinstimmung mit ihren religiösenoder philosophischen Überzeugungen zu leiten.24Eine weitere Verankerung findet das religiöse Erziehungsrecht derEltern in Art. 13 Abs. 3 UNO-Pakt I, welcher auch für die Schweiz ver-bindlich ist. Danach verpflichten sich die Vertragsstaaten,«die Freiheit der Eltern … zu achten … die religiöse und sittlicheErziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenenÜberzeugungen sicherzustellen».Auch wenn das Bundesgericht den UNO-Pakt I als Ganzes als nichtdirekt anwendbar betrachtet,25 so gehen doch massgebliche Vertreter der208Bernhard Ehrenzeller22 StGH 2012/130; so auch Wille, Rz. 37.23 Art. 2 Zusatzprotokoll Nr. 1 EMRK.24 Grabenwarter/Pabel, § 22 Rz. 85, 92.25 Vgl. Schweizer, St. Galler Kommentar, Vorbemerkungen zu Art. 7–36 BV, Rz. 18.
Lehre davon aus, dass zumindest einzelne Bestimmungen des Paktes, soder erwähnte Absatz 3, genügend konkretisiert sind, um dem Einzelneneinen justiziablen Anspruch zu verschaffen.26Die gleiche Verpflichtung ergibt sich auch aus – dem als direkt an-wendbar anerkannten und gleichlautenden – Art. 18 Abs. 4 des Interna-tionalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II).27Die Bestimmung zeigt im Übrigen auch auf, dass das religiöse Erzie-hungsrecht direkter Ausfluss aus der Religionsfreiheit der Eltern ist.Dass die Erziehung der Kinder in der primären Verantwortung –als Recht und Pflicht – der Eltern liegt, ergibt sich auch aus Art. 18 KRK.Danach bemühen sich die Vertragsstaaten – wozu auch die Schweiz undLiechtenstein zählen28 – nach besten Kräften, «die Anerkennung des Grundsatzes sicherzustellen, dass beideElternteile gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung desKindes verantwortlich sind. … Dabei ist das Wohl des Kindes ihrGrundanliegen.»29Diese Bestimmung stellt nun einen ausdrücklichen Bezug her zwischendem elterlichen Erziehungsrecht und dem Kindeswohl als «obersteRichtschnur» der elterlichen Erziehung und Pflege.30 Auf diesen Zusam-menhang ist im Folgenden näher einzugehen.IV. Der Vorrang des KindeswohlsDie völkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutz des Kindeswohls, ins-besondere die Kinderrechtskonvention, veranlassten den schweizeri-schen Verfassungsgeber dazu, das Wohl des Kindes auch auf Verfas-sungsebene zu schützen. Art. 11 BV schützt Kinder und Jugendliche in209Elternrecht auf religiöse Erziehung26 Plotke, S. 88; Kälin/Malinverni/Nowak, S. 145; Gebert, S. 122.27 SR 0.103.2; LGBl. 1999, Nr. 58.28 Die Schweiz hat den bei der Ratifizierung der KRK angebrachten (unechten) Vor-behalt zu Art. 5 KRK (betr. elterlichem Erziehungsrecht) am 23. März 2004 zurück-gezogen (AS 1998 2098). 29 Zum gemeinsamen Sorgerecht der Eltern siehe StGH 2012/163 (mit rechtsverglei-chenden Hinweisen).30 Schmahl, Art. 18 KRK, Rz. 9 (mit Verweis auf BVerfGE 60, 79 [88] und BVerfGE,29.1.2010 – 1 BvR 374/09, Rn. 33).