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dreierlei Hinsicht. So wird den Trägern ein Abwehrrecht gegenüber Ein-griffen des Staates in die eigene Persönlichkeit gewährt und gleichzeitigder Staat dazu angehalten, die Träger aktiv vor Verletzung zu schützenund die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zufördern.31 Die Förderungspflicht hält den Staat dazu an, junge Menschenauf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft zu unterstützen unddiese Pflicht mittels konkretisierenden Rechtsnormen zu vollziehen.32Durch die verfassungsrechtliche Erfassung des Kindeswohls soll dasSchutzniveau der völkerrechtlichen Garantie verschärft und grundrecht-lich verankert sowie die körperliche, geistige und sittliche Entfaltung desKindes sichergestellt werden.33 Die systematische Einordnung desSchutzes von Kindern und Jugendlichen in den Grundrechtskataloguntermauert allerdings die Mischform dieser Norm. Einerseits besitztArt. 11 BV die Funktion, als Abwehrrecht vor Eingriffen des Staates indie eigene Persönlichkeit zu schützen. Diese Aufgabe lässt sich sowohlaus dem Wortlaut von Absatz 1 als auch aus der systematischen Einord-nung im Grundrechtskatalog ableiten.34 Nebst einem verfahrensrechtli-chen Teilgehalt sowie der in Art. 11 festgehaltenen Schutzpflicht desStaates stellt diese Norm auch ein programmatisches Optimierungsge-bot dar, welches die «rechtsdogmatische Multifunktion des Kindes-wohls» untermauert. Dadurch wird der Staat in Pflicht genommen, eineobjektive Dimension des Kindeswohls abzusichern und dieses innerhalbder durch das anwendbare Gesetzes- und Verordnungsrecht gestecktenGrenzen als Entscheidungsmassstab zu verwenden.35 Diese Förderungs-pflicht ist nicht zuletzt auch Grundlage des staatlichen Bildungsauftra-ges, welcher zum Ziel hat, ein Mindestmass an Bildung zu garantieren.Im Unterschied zur Schweiz kennt Liechtenstein keine spezielleVerfassungsnorm zum Schutz der Kinder und zur Förderung des Kin-deswohls.36 Beide Staaten sind heute aber völkerrechtlich verpflichtet,den Vorrang des Kindeswohls zu achten, wiewohl diese Verpflichtung210Bernhard Ehrenzeller31 Müller/Schefer, S. 807.32 Reusser/Lüscher, St. Galler Kommentar Art. 11 BV, Rz. 13 ff.33 Reich, S. 375; Hafner/Kühler, S. 920.34 Reich, ebenda, S. 378.35 Reich, ebenda, S. 380 ff.36 Zur Bedeutung des Kindeswohls im liechtensteinischen Familienrecht siehe: StGH2012/163.
noch nicht voll ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. So gibt Art. 3KRK vor: «Bei allen staatlichen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichvielob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialenFürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungs-organen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichts-punkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.»37Dieser Vorrang des Kindeswohls, der als wegleitender Grundsatz für dieAuslegung des nationalen Rechts zu verstehen ist, findet sich konkreti-sierend an verschiedenen Stellen der Konvention selbst wieder, welchedie Staaten zum Schutz des Kindeswohls verpflichten, so u. a. in Bezugauf Bildungsmassnahmen. Nach Art. 19 KRK treffen die Vertragsstaaten «alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bil-dungsmassnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher odergeistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshand-lung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechterBehandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Miss-brauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern odereines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Ver-treters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut».Elterliches Erziehungsrecht und Kindeswohl können in Konflikt gera-ten. In mehreren Entscheiden zu Art. 8 EMRK hat der EGMR demWohl des Kindes prinzipiellen Vorrang vor den Rechten der Eltern ein-geräumt.38 Der staatliche Bildungsauftrag ist dem Erziehungsrecht nichtnachgelagert, sondern gleichgeordnet.39 Sie ergänzen einander. Der Staatgreift dort ein, wo ein Mindestmass an Bildung unabdingbar für ein ver-antwortungsvolles Leben im modernen Alltag ist. Dieses Mindestmassbezeichnet Kägi-Diener als allgemeinen Standard, der vom Entwick-lungsstand und vom Charakter der gegenwärtigen Gesellschaft sowiederen Bedürfnis nach staatlicher Vermittlung von kulturellen Inhalten211Elternrecht auf religiöse Erziehung37 Schmahl, Art. 3 KRK, Rz. 3 ff.38 So jüngst im Fall Schneider, EuGRZ 2011, 565, Rn. 93; siehe auch Schmahl, Art. 18KRK, Rz. 7 (m. w. H.).39 Schmahl, Art. 18 KRK, Rz. 11.
und Techniken zur Lebensbewältigung abhängt.40 Dieser allgemeineStandard ist historisch gebunden und muss stets neu definiert werden.Auch das Bundesgericht hatte verschiedentlich Gelegenheit, imZusammenhang mit Dispensationsgesuchen vom Schulunterricht eineInteressenabwägung zwischen staatlichem Bildungsauftrag, religiösemErziehungsrecht der Eltern und Kindeswohl vorzunehmen. Das Gerichtbejahte eine Vorrangstellung der Rechte des Kindes dann, wenn dasWohl des Kindes und der öffentliche Bildungsauftrag durch die Befol-gung der Glaubensvorschriften konkret und in massgeblicher Weisebelastet wurden.41 Dies ist nach der bundesgerichtlichen Rechtspre-chung zum Beispiel der Fall, wenn die Gesundheit des Kindes bedrohtoder die Ausbildung des Kindes dermassen eingeschränkt würde, dassdie Chancengleichheit nicht mehr gewahrt wäre, respektive die Lernin-halte, die in der vorherrschenden Gesellschaftsordnung als unabdingbargelten, nicht mehr vermittelt würden.42 So hat das Bundesgericht eineVerpflichtung zur Teilnahme am Schwimmunterricht bejaht, da solcheLektionen, insbesondere im Kontext der Integration, stark an Bedeu-tung gewonnen haben. Die Teilnahme daran sei in der heutigen multi-kulturellen Schulrealität notwendig, um Parallelgesellschaften und Dis-kriminierung entgegenzuwirken.43 Beachtet werden müsse auch, dass dieSchule, so das Bundesgericht, ihre Leistung nicht im eigenen Interesse,sondern im Interesse der Schüler selbst erbringe. Die damit verfolgtenZiele stellen wichtige Faktoren des Kindeswohls dar und unterstreichendie immense Bedeutung des staatlichen Bildungsauftrages. Aus diesemGrund kann der Schulbesuch auch gegen den Willen der Eltern durch-gesetzt werden, wenn die Interessen der Eltern dem objektiven Wohl desKindes entgegenstehen.44 Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Dis-pensationen vom Unterricht wurde in der bisherigen Rechtsprechungprimär für einzelne Tage gewährt, um religiöse Ruhetage oder die Teil-nahme an religiösen Festen zu ermöglichen. Allerdings seien auch Dis-212Bernhard Ehrenzeller40 Kägi-Diener, St. Galler Kommentar zu Art. 19 BV, Rz. 30.41 BGE 119 Ia 178 Erw. 8a; jüngst dazu: Urteil des Bundesgerichts (2C_1079/2012)vom 11. 4. 2013.42 BGE 119 Ia 178 Erw. 8a.43 BGE 135 I 79 Erw. 7.1. Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichts wird allerdingsin der Lehre kontrovers behandelt. Vgl. Hafner/Kühler, S. 916 ff., Pt. 3. und 4.44 BGE 119 Ia 178 Erw. 7.d.
pensationen mit Schwierigkeiten behaftet, da sie die Familie vor dieWahl stellen, entweder einem staatlichen oder einem religiösen Gebotzuwiderzuhandeln, was die betroffenen Kinder ebenfalls stark belasteund somit dem Kindeswohl genauso entgegenstehen könne.45 Das Bun-desgericht betont deshalb bei Dispensationsgesuchen aus religiösenGründen die Notwendigkeit der Abwägung im Einzelfall, zeigt sich abersehr zurückhaltend bezüglich der Dispensation von ganzen Unterrichts-fächern und erklärt, dass dem obligatorischen Schulunterricht grund-sätzlich der Vorrang gegenüber der Einhaltung von religiösen Vorschrif-ten zukomme.46Der liechtensteinische Staatsgerichtshof hat sich bisher kaum zurReligionsfreiheit generell und zum Verhältnis Schule und elterlichesErziehungsrecht im Besonderen geäussert.47 Jüngst bot sich ihm im Rah-men der verfassungsrechtlichen Beurteilung eines – besonders gelager-ten, eine erzkatholische religiöse Gemeinschaft betreffenden – Gesuchesvon einheimischen Eltern um Dispensation der Kinder vom Schwimm -unterricht Gelegenheit dazu. Nach grundsätzlichen Überlegungen zurBedeutung des staatlichen Bildungsauftrages (siehe vorne Punkt II.2.)hielt er – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesge-richtes – im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung der Grundrechtsein-schränkung (Pflicht zum Besuch des Schwimmunterrichts) fest, dass derEingriff in die Religionsfreiheit von Eltern und Kindern auch unter demAspekt der Konfliktsituation der Kinder zu prüfen sei. Der Besuch desSchwimmunterrichts liege im Kindeswohl. Andererseits seien für einKind auch die Zugehörigkeit zur familiären Gemeinschaft und die Ein-bindung in das religiöse Familienleben sehr wichtig. Dies bedeute, dassder Schutz vor einem unauflösbaren Gewissens- und Loyalitätskonfliktebenfalls einen zentralen Gesichtspunkt des Kindeswohls darstelle. Esmüsse deshalb unter Abwägung aller Interessen entschieden werden, obdie Nichtdispensation vom Schwimmunterricht im konkreten Fall demKindeswohl nicht zuwiderlaufe. Unter Bezugnahme auf Herbert Wille213Elternrecht auf religiöse Erziehung45 Urteil des Bundesgerichts (2C_724/2011) vom 11. 4. 2012 und Bemerkungen dazuvon Kley, in: ZBl 12/2012, S. 679. Siehe auch das jüngste, die Praxis bestätigendeUrteil des Bundesgerichts zum Schwimmunterricht (2C_1079/2012) vom11. 4. 2013.46 So jüngst im Urteil des Bundesgerichts (2C_724/2011) vom 11. 4. 2012 Erw. 3.4.1.47 Vgl. Wille, Rz. 13.
und weitere Lehrmeinungen kommt der Staatsgerichtshof deshalb zumSchluss, dass die staatsbürgerliche Pflicht, am Schwimmunterricht teil-zunehmen, keinen absoluten Vorrang einnehmen könne. Aufgrund derbesonderen Verhältnisse des zu beurteilenden Falles vertritt das Gerichtdie Meinung, dass die psychische Belastung und das seelische Dilemmader Kinder den Zwang zu einer Teilnahme am Schwimmunterricht nichtzu rechtfertigen vermögen. Das Gericht hielt abschliessend aber auchfest, dass sich die Beurteilung des Kindeswohls im Zeitablauf verändernkönne und dass sich der Entscheid nur auf den Schwimmunterrichtbeziehe. Der Staatsgerichtshof äussere sich nicht zur Befreiung vonanderem Unterricht.48V. Der Sexualkundeunterricht im Schnittpunkt von staat lichem Bildungsauftrag, elterlichemErziehungsrecht und KindeswohlDie Frage, ob ein elterliches Dispensationsgesuch von ganzen Unter-richtsfächern oder in Bezug auf bestimmte Unterrichtsinhalte wie derSexualkunde mit dem Kindeswohl und dem Bildungsauftrag vereinbarist, haben weder der Staatsgerichtshof noch das Bundesgericht entschie-den. Der Bedeutung des Sexualkundeunterrichts im Rahmen des staatli-chen Bildungsauftrages ist deshalb nachzugehen.Nebst Art. 12 UNO-Pakt I, welcher sowohl die Schweiz wieLiechtenstein anhält, Massnahmen zur Vorbeugung, Behandlung undBekämpfung insbesondere von epidemischen … Krankheiten (wieAIDS) vorzunehmen, steht gegenwärtig in der Bundesversammlung dievom Bundesrat unterzeichnete Europaratskonvention zum Schutz vonKindern vor sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention)49 zur214Bernhard Ehrenzeller48 StGH 2012/130; abgedruckt auch in ZBl 8/2012, S: 441-447 mit kritischen «Bemer-kungen» von Andreas Kley (S. 448).49 Botschaft vom 4. Juli 2012 zur Genehmigung des Übereinkommens des Europaratszum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch(Lanzarote-Konvention) sowie zu seiner Umsetzung (Änderung des Strafgesetz-buchs), BBl 2012 7571; im Ständerat wurde die Europaratskonvention gutgeheissen(AB 2012 S. 1162 ff.), sie liegt derzeit zur Beratung im Nationalrat.
Genehmigung. Art. 6 der Konvention bezieht sich ausdrücklich auf dieSexualerziehung der Kinder. Danach trifft jede Vertragspartei«… die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Massnah-men, um sicherzustellen, dass Kinder während ihrer Schulzeit inGrund- und weiterführenden Schulen ihrem Entwicklungsstandentsprechend über die Gefahren sexueller Ausbeutung und sexuel-len Missbrauchs sowie über die Möglichkeiten, sich davor zuschützen, aufgeklärt werden. Diese Aufklärung erfolgt, soweitangemessen in Zusammenarbeit mit den Eltern, im Rahmen einerallgemeineren Aufklärung über Sexualität; dabei soll die Aufmerk-samkeit vor allem auf gefährliche Situationen, insbesondere solche,die sich durch die Nutzung der neuen Informations- und Kommu-nikationstechnologien ergeben, gerichtet werden.»In der Botschaft zur Ratifizierung dieser Konvention wird erläutert, dassdie Zuständigkeit zu solchen Massnahmen aufgrund von Art. 62 BV denKantonen zukommt und diese dabei durch verschiedene Präventions-programme vom Bund unterstützt werden.50 Der Fokus solcher Pro-gramme und der Massnahmen der Kantone soll dabei nicht nur auf derGesundheitsprävention sowie der sexuellen Misshandlung von Kindernund sämtlichen damit verbundenen Formen von Gewalt liegen, sondernauch auf dem an Bedeutung gewinnenden Umgang mit neuen Informa-tions- und Kommunikationstechnologien. Die Schweiz habe verschie-dene Verträge ratifiziert, die sie dazu anhalten, das primäre Erziehungs-recht der Eltern zu achten. Gleichzeitig werde sie in diesen Verträgenaber auch verpflichtet, das Wohl des Kindes bei sämtlichen Staatshand-lungen, die Kinder betreffen, ins Zentrum zu stellen und sexuellen Kin-desmissbrauch sowie Krankheiten wie AIDS durch Prävention zubekämpfen. Demnach wird auf internationaler Ebene – im Unterschiedzu den nationalen Rechtsgrundlagen – speziell die sich aus dem Kindes-wohl ergebende Förderungspflicht konkretisiert und Sexualkundeunter-richt als Teil des staatlichen Bildungsauftrages verstanden. Die Staaten215Elternrecht auf religiöse Erziehung50 Botschaft vom 4. Juli 2012 zur Genehmigung des Übereinkommens des Europaratszum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch(Lanzarote-Konvention) sowie zu seiner Umsetzung (Änderung des Strafgesetz-buchs), BBl 2012 7571 Ziff. 2.2.2 ff.
werden explizit zur Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindernaufgefordert. Während die Kinderrechtskonvention Bildungsmassnah-men als ein geeignetes Mittel zur Prävention hervorhebt, geht die Lan-zarote-Konvention einen Schritt weiter und garantiert ein explizitesRecht auf altersgerechten Sexualkundeunterricht. Auch die internationale Rechtsprechung hat sich mit der Frage derVorrangstellung des staatlichen Bildungsauftrags gegenüber dem religiö-sen Erziehungsrecht der Eltern im Zusammenhang mit Sexualkundeun-terricht befasst. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diesbezügliche Aussa-gen des EGMR auch für die Schweiz von Relevanz sind, da die Schweiz– anders als Liechtenstein – das erste Zusatzprotokoll der EMRK nichtratifiziert hat. Der Grund der Nichtratifizierung durch die Schweiz warallerdings Art. 2 Satz 1 dieses Protokolls, wonach niemandem das Rechtauf Bildung verwehrt werden darf.51 Der im Zusammenhang mit derProblematik viel bedeutendere Art. 2 Satz 2, wonach der Staat bei derAusübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unter-richts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten hat, warhingegen nicht das Beitrittshindernis. Dessen materieller Gehalt findetsich sowohl auf internationaler Ebene wie auch im nationalen Rechtwieder. Aus diesem Grund sind Äusserungen des EGMR zur vorliegen-den Rechtskollision zwischen dem staatlichen Bildungsauftrag und demErziehungsrecht der Eltern für die Schweiz sehr wohl beachtenswert.Dies gilt umso mehr, als der EGMR bei der Auslegung von Art. 2 des 1.ZP EMRK ausdrücklich einen Bezug zu Art. 8–10 EMRK herstellt.Dabei hält er vorerst fest, dass:«[…] die Konvention kein Recht garantiert, nicht mit Meinungenkonfrontiert zu werden, die den eigenen Überzeugungen wider-sprechen […]».52Generell bestehe kein Abwehrrecht, welches einen vor der eigenen Mei-nung zuwiderlaufenden Ansichten schützt. Wohl sind die religiösen undweltanschaulichen Überzeugungen der Eltern von der Schule, und somitvom Staat, zu respektieren. Doch ist auch zu berücksichtigen:53216Bernhard Ehrenzeller51 Vgl. Breitenmoser/Husheer, Rz. 1656.52 Urteil (EGMR) D. gegen Deutschland (Deutsche Übersetzung), vom 13. September2011; der Entscheid fasst die frühere Rechtsprechung des EGMR zusammen.53 Urteil (EGMR) D. gegen Deutschland.
«[…] In der Tat sind viele in der Schule unterrichtete Fächer(n)ohne mehr oder weniger ausgeprägte weltanschauliche Züge oderImplikationen nur schwer vorstellbar. Dasselbe gilt auch für reli-giöse Bezüge, wenn man bedenkt, dass es Religionen gibt, die einsehr weit gefasstes dogmatisches und moralisches Wertesystemhaben, das auf jede philosophische, kosmologische oder moralischeFrage Antworten hat oder haben könnte. […]»54Der Sexualkundeunterricht in der Schule hat allerding gewisse Vorgabenund Grenzen zu beachten: So sollen«[…] im Lehrplan enthaltene Informationen und Kenntnisse ineiner sachlichen, kritischen und pluralistischen Weise vermitteltwerden. Dem Staat ist es untersagt, eine Indoktrinierungsabsichtzu verfolgen, die als Nichtbeachtung der religiösen und weltan-schaulichen Überzeugungen der Eltern angesehen werden könnte.Hier liegt die Grenze, die nicht überschritten werden darf. […]»55Der EGMR erachtet den Sexualkundeunterricht explizit als Teil desstaatlichen Bildungsauftrages. Er bestätigte den Entscheid eines deut-schen Oberlandesgerichts, wonach der Erziehungsauftrag des Staatesnicht auf die Vermittlung von Wissen beschränkt sei, sondern sich geradeauch auf die Heranbildung gleichberechtigter und verantwortungsvollerStaatsbürger richte, die in der Lage sind, an den demokratischen Prozes-sen einer pluralistischen Gesellschaft teilzuhaben.56 Weiter hält er fest,dass Sexualunterricht nicht nur die Absicht verfolge, Schüler alters- undentwicklungsgemäss mit den biologischen, ethischen, sozialen und kul-turellen Fragen der Sexualität vertraut zu machen, um sie zur Entwick-lung eigener Wertvorstellungen und zu einem selbstbestimmtenUmgang mit der eigenen Sexualität zu befähigen, sondern auch präven-217Elternrecht auf religiöse Erziehung54 Urteil (EGMR) D. gegen Deutschland.55 Urteil (EGMR) D. gegen Deutschland.56 «[. . .] Er hat festgestellt, dass der Staat mit der Einführung eines solchen Systems dieIntegration von Kindern in die Gesellschaft sicherstellen und der Entstehung vonParallelgesellschaften vorbeugen wollte und dass diese Erwägungen mit der Recht-sprechung des Gerichtshofs zur Bedeutung des Pluralismus für die Demokratieübereinstimmen und in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten bei der Schaf-fung und Auslegung von Regeln für ihre Bildungssysteme fallen [. . .]», Urteil(EGMR), D. gegen Deutschland.
tiv sexuellen Missbrauch und Krankheiten wie AIDS bekämpfen, Min-derheiten integrieren und der Entstehung von religiösen oder weltan-schaulich motivierten Parallelgesellschaften entgegenwirken soll.57In die gleiche Richtung plädiert zudem der UNO-Report betref-fend das Grundrecht auf Bildung:«[…] There is no valid excuse for not providing people with thecomprehensive sexual education that they need in order to lead adignified and healthy life […]»58Auf internationaler Ebene wird das Kindeswohl im Kontext der Sexual-erziehung demnach eindeutig höher gestellt als die Religionsfreiheit derEltern, weil Sexualerziehung als integrierender Teil der Gesamterzie-hung von Kindern nicht einzig durch die Eltern erfolgen kann. Die staat-liche Bildungspflicht ist nicht exklusiv, sondern tritt vielmehr neben dieprimären Erziehungskompetenzen der Eltern. Diesen wird das Recht,ihre Kinder in Übereinstimmung mit ihren elterlichen, religiösen oderweltanschaulichen Überzeugungen zu leiten, dadurch aber nicht genom-men.59VI. Zusammenfassende WürdigungDer öffentliche Bildungsauftrag ist in der Schweiz wie in Liechtensteinverfassungsrechtlich wie völkerrechtlich abgestützt. Beiden «Bildungs-verfassungen»60 liegt – in Übereinstimmung mit den international aner-kannten Bildungszielen – ein sehr ähnliches Bildungs-, Erziehungs- undUnterrichtsverständnis zugrunde, das nicht nur auf die Vermehrung vonWissen und Können ausgerichtet ist, sondern ebenso der Vermittlungund Aneignung von Normen und Werthaltungen und der Förderung derPersönlichkeitsentwicklung und des Verantwortungsbewusstseins derjungen Menschen dient.61 Beide Verfassungen verpflichten die staatli-218Bernhard Ehrenzeller57 Urteil (EGMR) D. gegen Deutschland.58 UNO Report, S. 6.59 Urteil (EGMR) D. gegen Deutschland.60 Zum Begriff der «Bildungsverfassung» siehe: Ehrenzeller/Sahlfeld, St. Galler Kom-mentar Vorbemerkungen zu Art. 61a–68, Rz. 1 ff.61 Siehe zu diesen Begriffen und zum Bildungsverständnis: Plotke, S. 3 f.
chen Behörden im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu einem aus-reichenden oder genügenden Grundschulunterricht, dessen Ziele undInhalt in den entsprechenden Schulgesetzen festgelegt sind und in denLehrplänen näher konkretisiert werden. Verfassungsrechtlich wie völkerrechtlich anerkannt ist auch dasprimäre Recht der Eltern, ihre Kinder gemäss ihren religiösen und welt-anschaulichen Überzeugungen zu erziehen. Gleichzeitig verpflichtendiese Rechtsgrundlagen aber auch zur vorrangigen Gewährleistung desKindeswohls, verbunden mit einem entsprechenden staatlichen Schutzund Förderungsauftrag. Dabei stellt sich die Frage der Beziehung vonSchutz des Kindeswohls, elterlichem Erziehungsrecht und staatlichemBildungsauftrag. Aus der einschlägigen Lehre und Praxis ergibt sichdazu, dass auch das religiöse Erziehungsrecht der Eltern keinen absolu-ten Vorrang geniessen kann, sondern dass im Konfliktfall – im Interesseder objektiven Verwirklichung des Kindeswohls – der umfassende staat-liche Bildungsauftrag grundsätzlich vorgehen muss. Das Bundesgerichtwie auch der Staatsgerichtshof haben diesen Vorrang bei der Auslegungder Verfassung, im Zusammenhang mit der Befreiung vom Schwimmun-terricht aus religiösen Gründen, im Grundsatz bestätigt. Die beidenHöchstgerichte haben insbesondere die Bedeutung der ausreichendenGrundschulbildung für die Entwicklung der Kinder zu selbst- und sozi-alverantwortlichen Persönlichkeiten und zur sozialen, kulturellen undpolitischen Integration in die Gesellschaft betont. Unabhängig von der –auch nach der jüngsten Rechtsprechung möglichen und gebotenen –Interessenabwägung bei Dispensationsgesuchen im Einzelfall haben sichdie Gerichte kritisch-zurückhaltend geäussert zur Frage der Befreiungvon ganzen Unterrichtsfächern, da dies dem umfassenden staatlichenBildungsauftrag entgegenstehen würde. Mit Verfassung und internatio-nalen Verpflichtungen umso weniger vereinbar wäre, wenn – wie diesbeispielsweise die eingangs erwähnte Volksinitiative in Bezug auf denSexualkundeunterricht verlangt – bestimmte Bildungsinhalte aus religiö-sen oder weltanschaulichen Gründen gar nicht mehr vermittelt werdendürften. Ein Verbot von Bildungsmassnahmen zur Prävention von sexu-ellem Missbrauch und zur Förderung und zum Schutz der gesundheitli-chen Entwicklung des Kindes wäre mit dem öffentlichen Interesse aneinem Mindestmass an Sexualkundeunterricht, welcher für die persönli-che und soziale Entwicklung des Kindes in der heutigen Gesellschaft wieauch für ein von Achtung und Toleranz geprägtes Zusammenleben er -219Elternrecht auf religiöse Erziehung
forderlich ist, nicht vereinbar. Allerdings ergeben sich insbesondere ausder Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-rechte auch klare Grenzen des staatlichen Bildungsauftrags in Bezug aufdie Vermittlung von Bildungsinhalten im Bereich der Sexualkunde. Ver-pönt ist insbesondere ein Unterricht, der als Indoktrination zu qualifi-zieren oder als Anleitung zu bestimmten sexuellem Verhalten und alsMissachtung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen derEltern zu betrachten ist. Literatur und MaterialienLiteraturBreitenmoser Stephan / Husheer André, Europarecht, Band II, Zürich 2002.Ehrenzeller Bernhard, § 212: Glauben, Gewissen und Weltanschauung, in: Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa,Band VII/2: Grundrechte in der Schweiz und in Liechtenstein, Heidelberg/Zürich/St. Gallen 2007, S. 301 ff.Ehrenzeller Bernhard / Mastronardi Philippe / Schweizer Rainer J. / Vallender Klaus A.(Hrsg.), Schweizerische Bundesverfassung. Kommentar, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen2008 (zit.: Autor, St. Galler Kommentar zu Art. XXX, Rz. XXX).Fleiner Fritz, Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung in ihrem gegenseitigenVerhältnis im Rechte Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, VVDStRL, Ber-lin/Leipzig 1929.Gebert Pius, Das Recht auf Bildung nach Art. 13 des UNO-Paktes über wirtschaftliche,soziale und kulturelle Rechte und seine Auswirkungen auf das schweizerische Bil-dungswesen, Freiburg 1996.Grabenwarter Christoph / Pabel Katharina, Europäische Menschenrechtskonvention: EinStudienbuch, 5. Aufl., München/Basel/Wien 2012.Hafner Felix / Kühler Anne, Schuldispensation zwischen Religionsfreiheit und «bürgerli-chen Pflichten», AJP/PJA 2011, S. 913 ff.Kälin Walter / Malinverni Giorgio / Nowak Manfred, Die Schweiz und die UNO-Men-schenrechtspakte, Basel 1991.Müller Jörg Paul / Schefer Markus, Grundrechte in der Schweiz: im Rahmen der Bundes-verfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008.Pahud de Mortanges René (Hrsg.), Religiöse Neutralität. Ein Rechtsprinzip in der multi-religiösen Gesellschaft, Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, Zürich2008.Plotke Herbert, Schweizerisches Schulrecht, 2. Aufl., Bern 2003.Reich Johannes, Schutz der Kinder und Jugendlichen als rechtsnormatives und expressivesVerfassungsrecht, ZSR 2012 I S. 363 ff.Richli Paul, Chancengleichheit im Schul- und Ausbildungssystem als Problem des Staats-und Verwaltungsrecht, ZBl 1995, S. 197 ff.Sahlfeld Konrad, Aspekte der Religionsfreiheit: im Lichte der Rechtsprechung der EMRK-Organe, des UNO-Menschenrechtsausschusses und nationaler Gerichte, Zürich 2004.220Bernhard Ehrenzeller
Schmahl Stefanie, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen: Handkommentar,Baden-Baden 2013.Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Die interkantonale Ver-einbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS-Konkordat)vom 14. Juni 2007: Kommentar, Entstehungsgeschichte und Ausblick, Instrumente,Bern 2011 (zit.: Kommentar EDK zu HarmoS).Wille Herbert, Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit, in: Andreas Kley / Klaus A. Val-lender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012.MaterialienGrundsatzpapier Sexualität und Lehrplan 21, zuletzt besucht am 10. 6. 2013 <http://www.lehr plan.ch/content/grundsatzpapier-zum-themenkreis-sexualit%C3%A4 t-und- lehrplan-21> (zit.: Grundsatzpapier Sexualität & Lehrplan 21)Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), Die interkanto-nale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS-Kon-kordat) vom 14. Juni 2007, Kommentar, Entstehungsgeschichte und Ausblick, Instru-mente, Bern 2011Staatsgerichtshof (StGH) des Fürstentums Liechtenstein: Ausgewählte Entscheidungendes StGH sind veröffentlicht auf: <http://www.gerichtsentscheide.li>United Nations, Report of the United Nations Special Rapporteur on the right to educa-tion, A/65/162, 2010, zuletzt besucht am 10. 06. 2013, <http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N10/462/13/PDF/N1046213.pdf?OpenElement> (zit.:UNO Report).221Elternrecht auf religiöse Erziehung
Die Menschenwürdegarantie in der liechtensteinischen Verfassung – Rechtsnatur,Norm struktur, AussagegehaltWolfram HöflingI. EntstehungsgeschichteBis zum Jahre 2005 kannte die liechtensteinische Verfassung – mit ihrenunterschiedlichen dogmengeschichtlichen Schichten, europäischenÜberlagerungen (durch die EMRK) und vorsichtigen Erweiterungen1 –keine Garantienorm, die die Würde des Menschen unter verfassungs-rechtlichen Schutz nahm. Insofern kann das Fürstentum Liechtensteindurchaus als «Nachzügler» bezeichnet werden. Seit Mitte der 1970er-Jahre und erneut nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Sowjetim-periums war es in vielen europäischen Staaten zur Aufnahme einer Men-schenwürdenorm in die Verfassung gekommen.2 Die neue schweizeri-sche Bundesverfassung von 1999, die eine erhebliche Prägekraft fürLiechtenstein ausübt, stellte in Art. 7 BV die Menschenwürde an dieSpitze des Grundrechtskatalogs.3 In Liechtenstein wurde dies erst durchdas Verfassungsgesetz vom 27. November 2005 über die Abänderungder Verfassung vom 5. Oktober 1921 (Menschenwürde und Recht aufLeben) realisiert.4 Ungewöhnlich war dabei der Anlass für die Einfü-gung an der Spitze des Grundrechtskatalogs: Die Verfassungsänderung2231 Andreas Kley, Geschichtliche Entwicklung der Grundrechte in Liechtenstein, in:Kley/Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, 2012, S. 13 ff.; dies.,Grundrechte in Liechtenstein – europäischer Kontext und Geschichte, in: Liechten-stein-Institut (Hrsg.), 25 Jahre Liechtenstein-Institut (1986–2011), 2011, S. 233 ff.2 Siehe dazu Stephan Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich derRechtsordnungen, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbar-keit, 2009, S. 175 ff.3 Hier etwa Walter Haller, Menschenwürde, Recht auf Leben und persönliche Frei-heit, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland undEuropa, Bd. VII/2, 2007, § 209 Rn. 5.4 Siehe Liechtensteinisches Landesgesetzblatt Jahrgang 2005, Nr. 267, S. 101.
war Inhalt des Gegenvorschlags des Landtags zur Volksinitiative«Schutz des Lebens», die auf eine Änderung des Art. 14 LV zielte, inwelchem der Schutz des Lebens von der Empfängnis an bis zum natür-lichen Tod als oberste Aufgabe des Staates verankert werden sollte.5 Inder Volksabstimmung vom 25. und 27. November 2005 wurde die Ini-tiative verworfen und der Gegenvorschlag des Landtages angenommen.Der Auftakt zum IV. Hauptstück der Verfassung, der von den allgemei-nen Rechten und Pflichten der Landesangehörigen handelt, lautet nun-mehr: Art. 27bis Abs. 1: Die Würde des Menschen ist zu achten und zuschützen. Abs. 2: Niemand darf unmenschlicher oder erniedrigenderBehandlung oder Strafe unterworfen werden. Hieran schliesst der neueArt. 87ter an: Abs. 1: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Abs. 2: DieTodesstrafe ist verboten. Die Beratungen im Landtag spiegeln durchaus unterschiedlicheDeutungen und Erwartungen wider. So weist etwa der AbgeordneteMarkus Büchel nachdrücklich auf die Textidentität des Gegenvorschlagsmit Art. 7 der schweizerischen Bundesverfassung hin.6 Er fügt aberhinzu, zunächst hätten die Fraktionen der Fortschrittlichen Bürgerpar-tei (FBP) und der Vaterländischen Union (VU) eine Formulierunggewählt, welche derjenigen im deutschen Grundgesetz und in einigenKantonsverfassungen der Schweiz entsprochen habe. Dann sei allerdingsin den Diskussionen von verschiedenen Seiten vorgebracht worden, dieFormulierung «unantastbar» sei zu stark und könne den «Eindruckerwecken, der Staat müsse jederzeit einen umfassenden und absolutenSchutz der Menschenwürde bieten, was so nicht der Realität entsprä-che». Nicht einmal das Recht auf Leben sei so absolut formuliert. DerAbgeordnete Paul Vogt hielt dagegen die gefundene Formulierung für«eher schwach». Die Menschenwürde müsse ein unverrückbarer Mass-stab im Rechtsstaat sein.7 Auf die Landtagsdiskussion wird in anderemZusammenhang noch zurückzukommen sein, präsentiert sie doch –implizit oder explizit – etliche Versatzstücke des grundrechtsdogmati-schen Diskurses. 224Wolfram Höfling5 Siehe auch Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des FürstentumsLiechtenstein zum formulierten Initiativbegehren des Komitees «Für das Leben»zur Abänderung von Art. 14 der Landesverfassung, Nr. 40/2005.6 Landtagsprotokolle des Liechtensteinischen Landtags vom 21. September 2005,S. 846 (847).
II. Zur Rechtsnatur des Art. 27bis Abs. 1 LV: ObjektiveFundamentalnorm oder subjektives Grundrecht?Zu den Dauerthemen dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung umdie zutreffende Deutung von Menschenwürdegarantien gehört der Streitdarum, ob es sich insoweit (lediglich) um objektive Verfassungsrechts-sätze handelt oder ob sie (auch) als subjektive Rechtspositionen qualifi-ziert werden können.In seiner – soweit ersichtlich – bislang einzigen Entscheidung zuArt. 27bis Abs. 1 LV deutet der Staatsgerichtshof zunächst ebenfalls eineobjektiv-rechtliche Interpretation der Verfassungsnorm an. Unter expli-ziter Bezugnahme auf die Judikatur des Schweizerischen Bundesgerichtsführt der Staatsgerichtshof aus, die Bestimmung habe allgemein dieBedeutung eines Leitgrundsatzes für jegliche Staatstätigkeit und bilde alsinnerster Kern zugleich die Grundlage der Freiheitsrechte.8 Doch dieseAusführungen bedeuten keine Negierung des Charakters als eines sub-jektiv-öffentlichen Rechts: Zum einen spricht der Staatsgerichtshof auchvon einem «Auffanggrundrecht»,9 zum anderen prüft das Verfassungs-gericht das Vorbringen des Beschwerdeführers gegen seine (beschränkte)Entmündigung im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens,indem allein die Verletzung verfassungsmässig gewährleisteter Rechte10 –also: subjektiver Rechte – geltend gemacht werden kann.Und in der Tat ist Art. 27bis Abs. 1 LV eine Verfassungsbestim-mung, die ein subjektives Grundrecht verbürgt. Ausdrücklich formuliertsie die Verpflichtung, die Menschenwürde «zu achten und zu schützen».Damit greift die Verfassungsbestimmung die geradezu «klassische»Doppelfunktion der Grundrechte auf, nämlich Abwehrrechte gegenüberdem Staat zu sein und zugleich Schutzansprüche gegen den Staat aufSchutz vor privaten Übergriffen zu gewährleisten.11225Die Menschenwürdegarantie in der liechtensteinischen Verfassung7 A. a. O., S. 850 (852).8 Staatsgerichtshof 2009/18 Rn. 3.1.9 Dazu noch unten sub IV.10 Zu den EMRK-Grundrechten bzw. Rechten des Internationalen Paktes über bür-gerliche und politische Rechte sowie zu den EWR-Rechten als tauglicher Beschwer-degrund siehe Wolfram Höfling, Die Verfassungsbeschwerde zum Staatsgerichts-hof, 2003, S. 118 ff.11 Zu den Grundrechtsfunktionen näher Wolfram Höfling, Die liechtensteinischeGrundrechtsordnung, 1994, S. 47 ff.; ders., Die Grundrechtsordnung des Fürsten-
Neben dem zentralen subjektiv-rechtlichen Aussagegehalt erfülltder Menschenwürdesatz auch eine objektiv-rechtliche Funktion als «ar-chimedischer Punkt des Verfassungsstaates».12 Darüber hinausgehendbezieht sich die Menschenwürde als Relations- oder Kommunikations-begriff auf den Akt der Staats- bzw. Gemeinwesenfundamentierung: Diein der Präambel berufenen Subjekte der verfassungsgebenden Gewaltgründen den Staat um der Würde des Menschen willen auf die gegensei-tige Anerkennung als prinzipiell in gleicher Weise freie und in gleicherWeise würdige Mitglieder des Gemeinwesens. Menschenwürde meint indieser Solidargemeinschaft nicht nur gegenseitige Achtung des Lebens,der Unverletzlichkeit und der Freiheit, sondern wechselseitige Anerken-nung des anderen in seiner individuellen Eigenart.13 Die Menschenwür-degarantie ist auf diese Weise «Strukturnorm für Staat und Gesell-schaft».14 Die doppelte Stossrichtung der objektiv-rechtlichen Funktiondes Menschenwürdesatzes entspricht so der zweifachen subjektiv-recht-lichen Bedeutung: dem Achtungs- und dem Schutzanspruch.15III. NormstrukturDie Klärung der Rechtsnatur des Art. 27bis Abs. 1 LV bedeutet indesnoch keine Gewissheit über seine Normstruktur. Die damit aufgewor-fene Frage ist – was nicht immer beachtet wird – zu trennen von derje-nigen nach dem dogmatischen Aussagegehalt einschliesslich des Verhält-nisses der Menschenwürdegarantie zu den (anderen) Grundrechten.16 Siebetrifft das Thema, ob die Menschenwürdegarantie sowie die anderenGrundrechte dem «Spiel von Grund und Gegengrund»17 folgen, bei dem226Wolfram Höflingtums Liechtenstein, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.VII/2, 2007, § 230 Rn. 11 ff.12 Görg Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 142.13 Hasso Hofman, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (369 f.).14 Peter Häberle, HStR I, § 20 Rn. 59; ders., Menschenwürde und Verfassung am Bei-spiel von Art. 2 Abs. I der Verfassung Griechenlands von 1975, Rechtstheorie 11(1980), S. 389 (410 ff.); Hasso Hofmann, Menschenrechtliche Autonomieansprüche,JZ 1992, 165 (170 f.); vgl. ferner Art. 7 I BrandVerf.15 Zum Ganzen Wolfram Höfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 52.16 Dazu unten sub IV.17 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 289 f.
Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken gegenübergestelltund sodann auf der Ebene der Grundrechtsschrankenschranken diedivergierenden Interessen im Wege praktischer Konkordanz zum scho-nendsten Ausgleich gebracht werden.18 Bekanntlich geht die herr-schende, wenn auch nicht unumstrittene Interpretation des Menschen-würdesatzes des deutschen Grundgesetzes unter Verweis auf die For-mulierung «unantastbar» davon aus, dass Art. 1 Abs. 1 GG diesemAbwägungsprozess entzogen ist. Die Menschenwürde unterliegt keiner-lei Beschränkungsmöglichkeiten; die sachliche Reichweite des Tatbe-standes markiert zugleich die Verletzungsgrenze. Die Garantie der Men-schenwürde kann auch nicht durch Rückgriff auf andere Verfassungsgü-ter relativiert werden.19 Dies entspricht auch der Auffassung desBundesverfassungsgerichts.20Die Diskussion über dieses «Dogma der Unantastbarkeit»21 scheintals «Hintergrundbeleuchtung» auf in Redebeiträgen des AbgeordnetenPaul Vogt bei den Beratungen der Verfassungsänderung im Landtag. Erplädierte für eine alternative Textfassung des neuen Art. 27bis Abs. 1 LV,die sich an die Formulierung der Europäischen Grundrechtechartaanlehnt, die wiederum den grundgesetzlichen Wortlaut aufgreift. DenUnterschied zwischen der schliesslich verabschiedeten und der Alterna-tivfassung umschrieb er dahingehend: Der Antrag der FBP und VU for-muliere die Würde des Menschen als ein Recht, das interpretiert werdenkönne, das in seiner Geltung durch Gesetze relativiert und einge-schränkt, den Umständen angepasst werden könne. Der Alternativvor-schlag formuliere die Menschenwürde hingegen als Grundrecht, dasvom Staatsgerichtshof unmittelbar umgesetzt werden müsse und dasnicht durch Gesetze relativiert werden dürfe. Die Menschenwürde seiein unverrückbarer Massstab im Rechtsstaat.22227Die Menschenwürdegarantie in der liechtensteinischen Verfassung18 Zur Struktur der grundrechtlichen Argumentation Wolfram Höfling, Die liechten-steinische Grundrechtsordnung, S. 79 ff.19 Zur Diskussion etwa Wolfram Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Art. 1 Rn. 10 ff.20 Siehe BVerfGE 75, 369 (380); 93, 266 (293): «Die Menschenwürde … ist mit keinemEinzelgrundrecht abwägungsfähig»; ferner BVerfGE 107, 275 (284); 109, 279(313 ff.).21 Dazu vor allem der gleichnamige Sammelband, hrsgg. von Gröschner/Lembcke.22 Landtagsprotokolle des Liechtensteiner Landtags, 21. September 2005, S. 850 (852).– Der Alternativvorschlag erhielt in der Schlussabstimmung 6 Stimmen.
Nun wird der Vorstellung von einem abwägungsresistenten sub-jektiven Verfassungsrecht aber entgegengehalten, Grundrechte zeichne-ten sich gerade durch ihre Einschränkbarkeit aus, wozu aber dieAnnahme eines Absolutheitscharakters in krassem Gegensatz stehe.23Doch die Singularität einer dem Abwägungsprozess entzogenen Verfas-sungsnorm spricht nicht gegen ihren Grundrechtscharakter. Betrachtetman etwa das deutsche Grundgesetz, so wird deutlich, dass die behaup-tete Exzeptionalität nur eine relative ist. Die deutsche Verfassung kenntauch andere Beispiele «absoluter», d. h. abwägungsresistenter Garantien.Dies gilt etwa für Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG mit seinem Misshand-lungsverbot und Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG mit dem Zensurverbot. Diesesfindet sich, wenngleich in anderer Weise, auch in der liechtensteinischenVerfassung. Art. 40 2. Halbsatz LV enthält im Blick auf die Meinungs-freiheit eine spezifische Beschränkung der schrankenziehenden Hoheits-gewalt. Mit Ausnahme von öffentlichen Aufführungen und Schaustel-lungen verbietet er strikt jede Zensur. Würde also eine einfachgesetzlicheRegelung eine Meinungsäusserung von einer Vorgabekonformität odereiner Inhaltskontrolle abhängig machen, so wäre sie nicht erst nachMassgabe eines Abwägungsprozesses als ggf. verfassungswidrig zu qua-lifizieren; sie ist durch die spezifische Schrankenschrankenklausel desZensurverbotes definitiv untersagt. Entsprechende Eingriffsakte sinddurch die Verfassung also absolut verboten.24 Der neu eingefügteArt. 27ter Abs. 2, der die Todesstrafe verbietet, untersagt spezifischeEingriffe in das Lebensgrundrecht, nämlich Hinrichtungen, ebenfallsdefinitiv und ausnahmslos. Mit anderen Worten: Die Anerkennungunantastbarer, d. h. abwägungsresistenter Grundrechte bedeutet keines-wegs die Akzeptanz eines normlogischen Widerspruchs.25Für die Menschenwürde ist sie aus meiner Sicht aber darüberhinaus der Sache nach geboten: Wie sollte man sich es vorstellen, dass dieMenschenwürde bei der Abwägung mit anderen Rechtsgütern «den228Wolfram Höfling23 So etwa Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, 3. Aufl.2013, Art. 1 Rn. 124.24 Siehe dazu auch Wolfram Höfling, Schranken der Grundrechte, in: Kley/Vallender(Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, 2012, S. 83 (106 f.).25 Eingehend hierzu Wolfram Höfling, Unantastbare Grundrechte – Ein normlogi-scher Widerspruch?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbar-keit, 2009, S. 111 ff.
Kürzeren zieht»? Gibt es wirklich einen legitimen Gegengrund, der etwadie basale Gleichheit aller Menschen26 überspielen könnte? Wäre es vor-stellbar, dass der Staat die elementaren Bedingungen menschlicher Inte-grität und Identität im Interesse «höherer» Werte missachtet? Der Blickauf Art. 27bis Abs. 2 LV gibt jedenfalls bereichsspezifisch eine klare Ant-wort. Niemand darf unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungoder Strafe unterworfen werden – und dies gilt absolut.Gegen die Rekonstruktion der Normstruktur des Art. 27bis Abs. 1LV als eines abwägungsfesten Grundrechts kann auch nicht der – gegen-über der Europäischen Grundrechtecharta oder dem Grundgesetz –«schwächere» Normtext ins Feld geführt werden. Er ist insoweit keines-wegs eindeutig als Absage an das Unantastbarkeits-Dogma zu lesen. EinBlick in die schweizerische (Kommentar-)Literatur macht das deutlich.Die als Vorbild dienende Norm des Art. 7 BV wird durchaus so ver-standen, dass sie in ihrem Individualrechtsgehalt keine Beschränkungenduldet.27IV. AussagegehaltEs ist hier nicht der Ort, den dogmatischen Aussagegehalt der Men-schenwürdegarantie im Einzelnen zu rekonstruieren. Am besten nähertman sich dem Menschenwürdesatz durch eine Bestimmung jener Kern-zonen seines Gewährleistungsinhalts. Dabei lassen sich im Wesentlichenvier Dimensionen unterscheiden:28– Achtung und Schutz der körperlichen Integrität;– Sicherung menschengerechter Lebensgrundlagen;– Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit;– Wahrung der personalen Identität und Integrität.229Die Menschenwürdegarantie in der liechtensteinischen Verfassung26 Dazu als einem Gewährleistungselement des Menschenwürdesatzes etwa WolframHöfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 33 f.27 Siehe etwa Philippe Mastronardi, in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender(Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, 2008, Art. 7 Rn. 51.28 Siehe dazu Wolfram Höfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 19; ähnlich Klaus Stern, Staats-recht IV/1, S. 23; vgl. auch Peter Bussjäger, in: Kley/Vallender (Hrsg.), Grund-rechtspraxis in Liechtenstein, S. 113 (117).
Bereits diese Strukturierung unterstreicht, dass die Menschenwürdega-rantie mit den Gewährleistungsinhalten zahlreicher spezieller Grund-rechte in Zusammenhang steht.29 Um diese grundsätzliche Frage nachdem Verhältnis zu den anderen Grundrechten soll es im Folgendenabschliessend gehen.Der Staatsgerichtshof spricht in seiner bereits angeführten Ent-scheidung vom 15. September 2009 davon, Art. 27bis Abs. 1 LV sei ein«Auffanggrundrecht»30 und verneint konkret eine «spezifische» Betrof-fenheit der Menschenwürde.31 Weitgehend übereinstimmend charakteri-siert auch Peter Bussjäger Art. 27bis Abs. 1 LV als eine «Auffang-norm»32. Insoweit ähnele der Status der Norm jenem des Willkürver-bots, dem ja auch nach der ständigen Rechtsprechung desStaatsgerichtshofs der Charakter eines Auffanggrundrechts zukommt.33Vergleichbare Qualifikationen finden sich in der schweizerischen Litera-tur und Judikatur.34 So sieht etwa Philippe Mastronardi unter systemati-schen Aspekten einen Vorrang der speziellen Grundrechte des Rechtsauf Leben, der persönlichen Freiheit sowie des Rechts auf Hilfe in Not-lagen gegenüber der Menschenwürde, soweit die genannten speziellenGrundrechte deutlich umschriebene Schutzbereiche aufwiesen.35Indes lässt sich bezweifeln, ob diese Charakterisierung die beson-dere Normstruktur der Menschenwürdegarantie hinreichend zum Aus-druck bringt. Ohne Zweifel ist allerdings zunächst im Ausgangspunktzu Recht festgehalten, dass Grundrechtsnormen in der Regel Schutz-räume für bestimmte Ausschnitte der Lebenswirklichkeit hervorheben,während der Menschenwürdesatz – für die deutsche Dogmatik: ähnlichwie die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 und der allge-meine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG – nicht über einen sachlich230Wolfram Höfling29 So zu Recht auch Peter Bussjäger, a. a. O., S. 117.30 Staatsgerichtshof 2009/18, Rn. 3.1.31 A. a. O., Rn. 3.3; in Rn. 3.4 heisst es, der Beschwerdeführer rüge «spezifischereGrundrechte» wie insbesondere die persönliche Freiheit. 32 Siehe dazu Peter Bussjäger (Fn. 29).33 Zum Willkürverbot siehe auch Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grund-rechtsordnung, S. 220 ff. mit zahlreichen Nachweisen.34 Siehe als Beispiel BGE 132 I 54, wo die Menschenwürde ausdrücklich als Auffang-grundrecht für besonders gelagerte Konstellationen gekennzeichnet wird.35 Siehe Philippe Mastronardi, in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender(Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, 2008, Art. 7 Rn. 16.
eigengeprägten Normbereich verfügen. Vielmehr verweist das Schutzgut– Würde des Menschen – auf ein umfassendes Spektrum menschlicherSeins- und Verhaltensweisen. Art. 1 Abs. 1 GG schafft damit einen Ver-fassungsrechtssatz von «umfassender Allgemeinheit».36 Ebenso wie dieGleichheit bezieht sich die Würde auf den Modus einer Handlung; beideerfassen Relationen bzw. Handlungsumfelder in Beziehung zum jeweili-gen Träger des Grundrechts.37 Dabei kann jeder denkbare Lebenssach-verhalt den «Hintergrund» der konkreten Relationsproblematik abge-ben. Daraus folgt, dass die Menschenwürdegarantie in einem Verhältnisder partiellen Spezialität und Subsidiarität zu den besonderen Freiheits-und Gleichheitsgarantien der Verfassung steht. Mit anderen Worten:Wegen ihres Zugriffs auf spezifische Wirklichkeitsausschnitte sind dieseals vorrangige Massstabsnormen zu berücksichtigen. Allerdings bedeu-tet «Vorrangigkeit» hier nicht Subsidiarität im strengen Sinne. Vielmehrkann in der Verletzung einer speziellen Grundrechtsnorm – etwa desRechts auf Leben oder des Persönlichkeitsrechts – zugleich ein geson-dert festzustellender Verstoss gegen die Menschenwürdegarantie liegen.Eine schwere Beeinträchtigung eines anderweitig geschützten Grund-rechtsguts, die dem Menschen zugleich in radikaler Weise eine der ele-mentaren Existenz- oder Entfaltungsbedingungen verwehrt oder streitigmacht, kann auch eine Menschenwürdeverletzung darstellen. Schliess-lich bietet der Menschenwürdesatz des Art. 27bis Abs. 1 LV in dieserDeutung – ganz in Übereinstimmung auch mit der Judikatur des Staats-gerichtshofs – einen letzten Auffangschutz gegenüber solchen schwerenBeeinträchtigungen, die von keiner anderen Grundrechtsbestimmungerfasst werden.38V. SchlussbemerkungenDiese Überlegungen zur Menschenwürdegarantie der liechtensteini-schen Verfassung verstehen sich als ein erster, grundsätzlicher Beitrag zu231Die Menschenwürdegarantie in der liechtensteinischen Verfassung36 So schon Peter Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, 337(342).37 Siehe auch Alexander Blankenagel, Gentechnologie und Menschenwürde, KJ 1987,379 (386).38 Zum Ganzen Wolfram Höfling, in: Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 111 (113 f.).
erforderlichen bereichsspezifischen Entfaltungen. Vor allem bei einemEinbezug auch des Grundrechts auf Leben wären etwa Studien zu denGrundstrukturen und zentralen Massstäben des Medizin- und Gesund-heitsrechts ein lohnendes Unterfangen. Das Liechtenstein-Institut bietetdafür ohne Zweifel einen exzellenten Forschungsrahmen. Dies hat nichtzuletzt Herbert Wille mit zahlreichen Publikationen eindrucksvoll unterBeweis gestellt. Ihm sind diese Zeilen in bester Erinnerung an gemein-same Forschungsaufenthalte in herzlicher Verbundenheit gewidmet. 232Wolfram Höfling
III.SCHNITTSTELLEN VON ÖFFENTLICHEM UND PRIVATEM RECHT
Das ABGB von 1938 bis 1945:Auswirkungen auf Liechtenstein?Elisabeth Berger*Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch wurde 1811 in den «gesammtenDeutschen Erbländern der Oesterreichischen Monarchie» kundgemachtund trat am 1. Januar 1812 in Kraft.1 Kurz darauf war es dann im Fürs-tentum Liechtenstein soweit: Hier wurde das Allgemeine bürgerlicheGesetzbuch – ohne den nur für Österreich passenden territorialenZusatz – mit Fürstlicher Verordnung vom 18. Februar 1812 mit Geltungvom Tag der Kundmachung an in Kraft gesetzt.2 Während der örtlicheGeltungsbereich des ABGB innerhalb Österreich-Ungarns und seinerNachfolgestaaten einen sehr wechselhaften Verlauf aufwies,3 gab es dochauch eine Konstante: In Österreich und im Fürstentum Liechtensteinsteht das ABGB seit mehr als zwei Jahrhunderten in Kraft. In diesem235* Das liechtensteinische ABGB bildete das Thema meines Forschungsprojekts amLiechtenstein-Institut 2003–2006. Den Einstieg in die Materie erleichterte mir ganzwesentlich der folgende Beitrag des Jubilars: Die Neukodifikation des liechtenstei-nischen Privatrechts als Rezeptionsfrage ausländischen Rechts, in: Kurt Ebert(Hrsg.), Pro iustitia et scientia. Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Kohlegger,Wien 2001, S. 613 ff. Für die darin enthaltenen Anregungen bin ich Herbert Willeebenso dankbar wie für seinen Rat und seine Hilfe, die er mir während der Arbeitan meinem Projekt stets in liebenswürdiger Weise zukommen liess.1 Siehe den aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums 2011 von Wilhelm Brauneder heraus-gegebenen ABGB-Reprint: Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesamm-ten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Wien 1811. Grundle-gend zur Entwicklungsgeschichte des ABGB: Wilhelm Brauneder, Das AllgemeineBürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischenMonarchie von 1811, in: Gutenberg-Jahrbuch, 62. Jg., Mainz 1987, S. 205 ff.2 Abgedruckt in: Amtliches Sammelwerk der Liechtensteinischen Rechtsvorschriftenbis 1863, Vaduz 1971. Grundlegend zur Rezeptionsgeschichte: Carl von In derMaur, Die Rezeption des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchesin Liechtenstein, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen bürgerlichenGesetzbuches am 1. Juni 1911, Teil1/2. Halbbd., Wien 1911, S. 753 ff.3 Vgl. den Überblick bei Brauneder, wie Fn. 1, S. 246 ff.
langen Zeitraum wechselte die Intensität der Beziehungen zwischen denbeiden Zivilgesetzbüchern von engster Anlehnung bis hin zu gänzlicherAbwendung und neuerlicher schrittweiser Annäherung. Die in der fol-genden Darstellung in den Blick genommene Periode von 1938 bis 1945bedeutete zunächst eine Phase der Abwendung vom österreichischenABGB. Wie zu zeigen sein wird, werden die in der Zeit des Nationalso-zialismus erfolgten Abänderungen des österreichischen ABGB – aufdessen Ehe- und Familienrecht der Fokus der Betrachtung liegt – dasliechtensteinische ABGB nicht unberührt lassen. Dies erfolgt allerdingszeitversetzt und in einer Weise, die dem Charakter des liechtensteini-schen Privatrechts als «Mischrecht» entspricht.I. Das ABGB als verbindendes ElementDie 1812 erfolgte Übernahme österreichischen Justizrechts4 stand inengem Zusammenhang mit der von Fürst Johann I. kurz nach seinemRegierungsantritt in Angriff genommenen Modernisierung des Landesund der Neugestaltung seiner Verfassung und Verwaltung.5 Für eineenge Anlehnung an Österreich und dessen Rechtsordnung sprachenzum einen das traditionell enge Naheverhältnis des Hauses Liechten-stein zum Kaisertum Österreich und zum anderen das Bestreben desRegenten, in seinem gesamten Herrschaftsbereich ein einheitliches Rechtzu haben. Dafür war die Anpassung der liechtensteinischen Rechtslagean das in der Habsburgermonarchie geltende Recht erforderlich.6In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestaltete sich das auf dengemeinsamen Gesetzen beruhende Naheverhältnis zwischen den beidenStaaten besonders eng, weil ab 1819 alle in Österreich zu den rezipier ten236Elisabeth Berger4 Zugleich wurden auch die österreichische Allgemeine Gerichtsordnung von 1781und Österreichs Strafgesetzbuch von 1803 rezipiert.5 Dazu im Detail: Georg Schmidt, Fürst Johann I. (1760–1836): «Souveränität undModernisierung» Liechtensteins, in: Volker Press / Dietmar Willoweit (Hrsg.),Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung. Geschichtliche Grundla-gen und moderne Perspektiven, 2. Aufl. Vaduz-München 1988, S. 383 ff.6 Vgl. zum Folgenden ausführlich Elisabeth Berger, Rezeption im liechtensteinischenPrivatrecht unter besonderer Berücksichtigung des ABGB, 2. Aufl. Wien-Münster2011, S. 15 ff.
Gesetzen erlassenen Erläuterungen und Nachtragsverordnungen ohneweiteren Rechtsakt auch in Liechtenstein in Kraft traten. Ihr formalesEnde fand diese sogenannte «automatische Rezeption» 1843 mit derAnordnung, dass nur noch jene österreichischen Regelungen in Liech-tenstein in Geltung treten sollten, die zuvor vom Landesfürsten sanktio-niert und im Fürstentum publiziert worden waren. Diese sogenannte«autonome Rezeption» war mit dem souveränen fürstlichen Gesetzge-bungsrecht besser in Einklang zu bringen, änderte jedoch nur den for-malen, nicht aber den inhaltlichen Aspekt. Das heisst, dass zwar nuneigenständige liechtensteinische Gesetze erlassen wurden, allerdingsweiterhin in enger, überwiegend wörtlicher Anlehnung an das österrei-chische Vorbild. Wegen der Fortgeltung einer speziellen liechtensteini-schen Erbrechtsregelung7 war das Erbrecht des ABGB von der Geltungin Liechtenstein zunächst ausgenommen worden. Erst mit dem Inkraft-treten des Erbrechtspatents zu Jahresbeginn 1847 stand in Liechtensteindas gesamte ABGB in Geltung, allerdings – soweit es das Erbrecht betraf– mit leichten Änderungen gegenüber der österreichischen Fassung.8In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte eine zusätzlicheIntensivierung der nachbarschaftlichen Beziehungen durch denAbschluss eines Zollvertrags, der von 1852 bis 1919 in Geltung stand. Erbewirkte, dass zwischen Liechtenstein und Österreich ein vollkommenfreier Warenverkehr herrschte, während gegenüber der Schweiz Zoll-schranken bestanden. Ergänzt wurde diese Zollunion durch eine Wäh-rungsgemeinschaft sowie ein gemeinsames Postwesen. Neben den wirt-schaftlichen Aspekten hatte die Zollunion auch juristische Konsequen-zen für Liechtenstein, nämlich die Verpflichtung zur Übernahme allereinschlägigen österreichischen Rechtsvorschriften. Diese engen Ver-flechtungen mit der österreichischen Rechtsordnung bildeten im 19.Jahrhundert ein bestimmendes Element der staatlichen Existenz Liech-tensteins. 237Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?7 Siehe die von Landvogt Joseph Schuppler ausgearbeitete Erbfolge- und Verlassen-schaftsabhandlungsordnung aus 1809, abgedruckt in: Elisabeth Berger (Hrsg.), EineZivilrechtsordnung für Liechtenstein, RSWR 22, Frankfurt/Main etc. 1999, S. 43 ff.,Erläuterungen S. 23 ff.8 Fürstliche VO betr. die Einführung der §§ 531-824 ABGB, Erbrechtspatent Nr.3.877 vom 6. 4. 1846, in: Amtliches Sammelwerk, wie Fn. 2.
II. Die Abwendung Liechtensteins vom ABGBDer Erste Weltkrieg und seine politischen und wirtschaftlichen Konse-quenzen stellten für das zwischenstaatliche Verhältnis Österreichs undLiechtensteins eine gravierende Zäsur dar. Für Liechtenstein wurde dieLoslösung von Österreich zum Gebot der Selbsterhaltung.9 Nach derBeendigung der Zollgemeinschaft mit Österreich im August 1919 botsich als nächstliegende Alternative die Hinwendung zur Schweiz an, mitder 1923 ein Zollvertrag abgeschlossen wurde.10In einem engen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Loslö-sung von Österreich standen weitere Ereignisse, die das Ringen um dieSelbstständigkeit des Landes zum Ausdruck brachten. Was die Rechts-ordnung betraf, so hatte der Jurist Wilhelm Beck11 in seiner 1912 veröf-fentlichten Schrift «Das Recht des Fürstentums Liechtenstein» eineerhebliche Rückständigkeit und mangelnde Volkstümlichkeit festge-stellt. Er machte dafür die Abhängigkeit von Österreich und dessenGesetzgebung verantwortlich. Dass seine Kritik Gehör fand zeigte sichz. B. daran, dass die Teil-Novellen, die das österreichische ABGB zwi-schen 1914 und 1916 wesentlich erneuerten,12 in Liechtenstein nichtübernommen wurden. Wilhelm Beck erhielt vielmehr 1922 aufgrundeines Regierungswechsels die Gelegenheit, seine Forderungen nachmehr gesetzgeberischer Eigenständigkeit und Selbstständigkeit in die Tatumzusetzen. Zu seinen ambitioniertesten Plänen zählte das Vorhaben, dasABGB sowie das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch durch einfünfteiliges «Liechtensteinisches Zivilgesetzbuch» zu ersetzen.13 Als238Elisabeth Berger9 Vgl. zu den Hintergründen und Auswirkungen ausführlich Berger, wie Fn. 6,S. 35 ff.10 Vertrag über den Anschluss des Fürstentums Liechtenstein an das schweizerischeZollgebiet vom 29. 3. 1923, LGBl. Nr. 24/1923. Zu den Hintergründen des Zollan-schlusses vgl. Herbert Wille, Rechtspolitischer Hintergrund der vertraglichenBeziehungen Liechtensteins zur Schweiz in den Jahren 1918–1934, in: Jahrbuch desHistorischen Vereins für Liechtenstein 81/1981, S. 84 ff.11 Arthur Brunhart / Rupert Quaderer, Wilhelm Beck (1885–1936). Bilder aus seinemLeben und Schaffen, in: Vaterländische Union (Hrsg.), Die Schlossabmachungenvom September 1920, Vaduz 1996, S. 102 ff.12 Barbara Dölemeyer, Die Revision des ABGB durch die drei Teilnovellen von 1914,1915 und 1916, in: Ius Commune, Bd. VI, Frankfurt/Main 1977, S. 274 ff.13 Vgl. hierzu ausführlich Berger, wie Fn. 6, S. 51 ff.
Vorbild sollte das schweizerische Zivilrecht dienen. Das lag schon des-halb nahe, weil mit dem 1912 in Kraft getretenen Zivilgesetzbuch unddem erneuerten Obligationenrecht eine neue und moderne Zivilrechts-kodifikation existierte. Von dem geplanten Zivilgesetzbuch wurdenallerdings nur zwei Teile verwirklicht, und zwar das Sachenrecht aus1922 sowie das Personen- und Gesellschaftsrecht aus 1926. Die Fertig-stellung des Gesetzbuchs scheiterte vor allem daran, dass man sich überdie Neukodifikation des Schuldrechts nicht einig werden konnte. Dabeiging es vor allem darum, ob an der Rezeption schweizerischen Privat-rechts festgehalten werden sollte oder ob man stattdessen beim Obliga-tionenrecht des ABGB bleiben sollte. Diese Unschlüssigkeit des Gesetz-gebers blockierte die Fortsetzung der Privatrechtsreform und sorgtedafür, dass Liechtenstein mehr als vier Jahrzehnte lang am Status quoeines aus unterschiedlichen Rechtsordnungen stammenden «Misch-rechts» festhielt. Von den Änderungen, die dem österreichischen ABGBzwischen 1938 und 1945 widerfuhren, blieb die liechtensteinische Zivil-rechtsordnung daher vorerst unberührt.III. Das ABGB von 1938 bis 1945Am 13. März 1938 wurde mit dem Gesetz über die WiedervereinigungÖsterreichs mit dem Deutschen Reich14 der Anschluss an das DeutscheReich vollzogen.15 Für die sogenannte «Ostmark» bestimmte Art. II die-ses Gesetzes: 239Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?14 GBlÖ. 1938/1, und dRGBl. 1938 I, S. 237: Art. I. «Österreich ist ein Land des Deut-schen Reiches.»15 Vgl. zum Folgenden Herbert Hofmeister, Privatrechtsgesetzgebung für Österreichunter der Herrschaft des Nationalsozialismus, in: Ulrike Davy u.a. (Hrsg.), Natio-nalsozialismus und Recht, Wien 1990, S. 124 ff.; Sven Bielefeldt, Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen II. Rechtsvereinheitlichung im Privatrecht 1938-1945,RSWR 13, Frankfurt/Main etc. 1996, S. 15 ff.; Franz-Josef Meissel / BenjaminBukor, Das ABGB in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Constanze Fischer-Czermak u. a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre ABGB, Bd. I, Wien 2011, S. 17 ff.;Hans-Peter Haferkamp, «Österreichisches», «Deutsches» und «Nationalsozialisti-sches» in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum ABGB zwischen 1939 und1945, in: Barbara Dölemeyer / Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), 200 Jahre ABGB(1811–2011). Die österreichische Kodifikation im internationalen Kontext, Frank-furt/Main 2012, S. 159 ff.
«Das derzeit in Österreich geltende Recht bleibt bis auf weiteres inKraft. Die Einführung des Reichsrechts erfolgt durch den Führerund Reichskanzler oder den von ihm hierzu ermächtigten Reichs-minister.» Diese Vorschrift fand ihre Ergänzung im Ersten Erlass des Führers überdie Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich vom 15. März1938,16 nach dessen § 1 Abs. 2 die Reichsgesetze, die nach der Wieder-vereinigung verkündet wurden, auch für das Land Österreich geltensollten, sofern ihre Inkraftsetzung für Österreich nicht ausdrücklichvorbehalten war. In § 2 wurde geregelt, welche deutschen Gesetze ausder Zeit vor der Wiedervereinigung konkret in Österreich anzuwendenwaren,17 alle anderen erlangten keine Geltung. Das daraus resultierende Nebeneinander von deutschem und öster-reichischem Recht sollte – so der Plan – nur ein vorübergehenderZustand sein. Schon am 16./17. März 1938 trafen sich die Justizministerbeider Länder, um über die Art und Weise der Rechtsvereinheitlichungzu beraten.18 Aus mehreren Gründen wurde davon Abstand genommen,das österreichische ABGB aufzuheben und das deutsche BGB an dessenStelle zu setzen.19 Der Haupteinwand bestand darin, dass die National-sozialisten das 1900 in Kraft getretene BGB als «abstraktes» und «künst-liches Juristenwerk» ablehnten und beabsichtigten, es durch Teilkodifi-kationen zu ersetzen. Als Sofortmassnahme sollten «die im Reichebereits im wesentlichen abgeschlossenen, neuen nationalsozialistischenGesetzgebungswerke» wortident übernommen werden, da «gewisseRechtsfragen unverzüglich geklärt werden müssten». Demgemäss wur-den sogleich 1938 das Ehegesetz und das Testamentsgesetz20 gleichzeitigin Österreich und im Deutschen Reich in Geltung gesetzt und das Erb-240Elisabeth Berger16 dRGBl. 1938 I, S. 247.17 Z. B. das Reichsstatthaltergesetz vom 30. 1. 1935, dRGBl. I, S. 65.18 Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 26 ff.; Barbara Dölemeyer / Werner Schubert, Der Einflussdes ABGB auf Deutschland, in: Elisabeth Berger (Hrsg.), Österreichs AllgemeinesBürgerliches Gesetzbuch. Eine europäische Privatrechtskodifikation, Bd. III, Berlin2010, S. 374 ff.19 Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 20 ff.20 Vgl. hierzu Lothar Gruchmann, Die Entstehung des Testamentsgesetzes vom 31. 7. 1938: Nationalsozialistische «Rechtserneuerung» und Reformkontinuität, in:Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1985, S. 53 ff.; Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 83 ff.
hofrecht21 vom Altreich übernommen. In der Folge sollte in anderenRechtsmaterien schrittweise eine Rechtsangleichung durch eine «mehrauf die österreichischen Verhältnisse angepasste Sondergesetzgebung»erfolgen, wie es 1943 etwa im Kindschaftsrecht der Fall war. Die Schilderung der lebhaften Diskussionen zwischen österrei-chischen und deutschen Juristen über die Vor- und Nachteile von ABGBund BGB muss hier ausgeklammert bleiben,22 belegt aber, dass dasABGB durchaus einen Stellenwert als eigenständiges und solidesGesetzbuch hatte. 1939 brachten österreichische Juristen in der Akade-mie für Deutsches Recht seine Vorzüge in die Debatte um die Schaffungeiner neuen Zivilrechtskodifikation ein, dem sog. Volksgesetzbuch.23 ImFolgenden soll ein Überblick über die wesentlichen Einflussnahmennationalsozialistischer Gesetzgebung auf das Ehe- und Familienrechtdes ABGB gegeben werden. 1. Das Ehegesetz von 1938Das Eherecht im ABGB war konfessionell unterschiedlich ausgestaltet.Für die überwiegend katholische Bevölkerung gab es keine Zivilehe undes galt der Grundsatz der Unauflöslichkeit des Ehebandes, das nur durchden Tod eines Ehegatten aufgelöst werden konnte. Eine Möglichkeit zurTrennung war die sogenannte Scheidung von Tisch und Bett (§§ 93 ff.ABGB), die jedoch nur die Lebensgemeinschaft der Ehegatten beendete,das Eheband aber bestehen liess. Das kanonische Recht bot als Ausweglediglich die Ungültigerklärung der Ehe und die Dispens von einer zwargeschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe. Gemäss § 83 ABGB konnteaus wichtigen Gründen «um die Nachsicht von Ehehindernissen ange-sucht werden». Diese Bestimmung wurde ab 1919 von den Landesver-waltungsbehörden dazu herangezogen, um von Tisch und Bett getrenn-ten Katholiken mittels Nachsicht vom Ehehindernis des Ehebandes einestaatliche Eheschliessung zu ermöglichen. Dies führte bis 1934 in derPraxis zu einem sprunghaften Anstieg von sogenannten «Dispensehen».241Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?21 Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 59 ff.22 Vgl. hierzu Haferkamp, wie Fn. 15, S. 160 ff. m. w. N.; Dölemeyer / Schubert, wieFn. 18, S. 376 ff.23 Meissel / Bukor, wie Fn. 15, S. 22 ff.
Mit dem Inkrafttreten des Konkordats von 1934, das die Ehen vonKatholiken regelte, und dem im Burgenland ab 1922 geltenden ungari-schen Eherecht wurde die Lage noch komplizierter und das Eherechtdes ABGB zu einer mehr als reformbedürftigen Materie. Im Deutschen Reich war das Familienrecht des BGB durch ver-schiedene familienrechtliche Sondergesetze der Nationalsozialisten der-art zersplittert, dass eine Gesamterneuerung ebenfalls unabwendbargeworden war, wobei die Reform des Eherechts als vordringlich einge-stuft wurde.24 Nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten sollte derSchwerpunkt auf der Reform des Ehescheidungsrechts liegen, wasbereits 1937 zum Entwurf für ein Ehescheidungsgesetz geführt hatte.Durch den Anschluss Österreichs wurde jedoch auch die Erneuerungdes Eheschliessungsrechts notwendig, sodass die geplante deutsche Ehe-rechtsreform «dringlichst auf das Recht der Eheschliessung» ausgeweitetwerden sollte. Einer derartigen Teilreform des Eherechts wurde aller-dings ein nicht unerheblicher Widerstand entgegengebracht,25 galt siedoch als Blockade für die ursprünglich angestrebte Gesamtreform desEherechts zur Verwirklichung der nationalsozialistischen rassen- undbevölkerungspolitischen Zielsetzungen. Diesen zufolge lag der Sinn derEhe vor allem «in der Erzeugung und Aufzucht von Kindern» und demVorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum. Ehe und Familie galtenals «Grundlagen des völkischen Gemeinschaftslebens, von deren Kraftund Gesundheit Wert und Bestand der Volksgemeinschaft abhängen».26Das Resultat der Reformbestrebungen war das Gesetz zur Verein-heitlichung des Rechts der Eheschliessung und der Ehescheidung imLande Österreich und im übrigen Reichsgebiet, das sogenannte Ehege-setz (EheG) vom 6. Juli 1938.27 Es vereinheitlichte in seinem erstenAbschnitt das Recht der Eheschliessung, indem es an die Stelle der nicht-242Elisabeth Berger24 Vgl. zum Folgenden Lothar Gruchmann, Das Ehegesetz vom 6. Juli 1938, in: Zeit-schrift für Neuere Rechtsgeschichte 1989, S. 63 ff.; Hofmeister, wie Fn. 15, S. 130 ff.;Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 33 ff.25 Gruchmann, wie Fn. 24, S. 71 ff.26 Thilo Ramm, Eherecht und Nationalsozialismus, in: Guenter Doeker (Hrsg.), Klas-senjustiz und Pluralismus. Festschrift für Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag, Ham-burg 1973, S. 151 ff.27 dRGBl. 1938 I, S. 807. Zu dessen Entstehungsgeschichte vgl. Gruchmann, wieFn. 24, insb. S. 66 ff.; Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 35 ff.
staatlichen Eheschliessung generell die obligatorische Zivilehe setzte(§ 15 EheG). Wer die religiöse Zeremonie vor der staatlichen vornahm,machte sich gemäss § 100 EheG strafbar. Eine grundsätzliche Neuerungfür das österreichische Eherecht stellten auch die neuen gesetzlichenEheverbote dar, wozu insbesondere die Blutsverschiedenheit (§ 4EheG),28 der Mangel an Ehetauglichkeit (§ 5 EheG)29 und die Doppelehe(§ 24 EheG) zählten.Den zweiten Abschnitt bildeten die Normen betreffend die Ehe-scheidung.30 Neben die absoluten Scheidungsgründe – Ehebruch sowieVerweigerung der Fortpflanzung bzw. rechtswidrige Anwendung vonMitteln zur Verhinderung der Geburt – traten allgemeine Bestimmungenmit relativen Scheidungsgründen – sonstige schwere Eheverfehlungenund ehrloses oder unsittliches Verhalten –, die zu einer schuldhaftenZerrüttung der Ehe geführt haben mussten. Für die unverschuldeteScheidung der Ehe sah die Generalklausel des § 55 EheG einen neuenTatbestand vor, nämlich die «Auflösung der häuslichen Gemeinschaft».Demzufolge konnte es zu einer Scheidung der Ehe kommen, wenn«infolge einer tiefgreifenden unheilbaren Zerrüttung des ehelichen Ver-hältnisses die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechen-den Lebensgemeinschaft nicht zu erwarten» und zusätzlich die «häusli-che Gemeinschaft der Ehegatten seit drei Jahren aufgehoben» war. Dage-gen wurde dem schuldlosen Ehegatten ein Widerspruchsrecht gewährt,wenn der die Scheidung Fordernde die Zerrüttung ganz oder überwie-gend selbst verschuldet hatte. Der vierte Abschnitt des EheG enthielt Sondervorschriften fürÖsterreich, die die «Legalisierung» der Dispensehen regelten und diereibungslose Einführung des neuen Eherechts sichern sollten.31 § 109EheG bestimmte, dass die Dispens ebenso wie die Trennung nichtka-tholischer Ehen dem Bande nach nun als Scheidung der Ehe galten.Damit wollte man verhindern, dass bereits abgeschlossene Verfahrennach dem neuen Recht wiederholt werden mussten. Gemäss § 121 EheG243Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?28 Nach dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom15. 9. 1935, dRGBl. 1935 I, S. 1146.29 Nach dem Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom18. 10. 1935, dRGBl. 1935 I, S. 1246. 30 Gruchmann, wie Fn. 24, S. 78 ff.31 Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 42 ff.
galt eine Dispensehe unter der Bedingung als von Anfang an gültig, dasssie nicht bereits rechtskräftig als ungültig erklärt worden war. Die demABGB eigene Einrichtung der Scheidung von Tisch und Bett fand kei-nen Eingang in das neue EheG, da sie von den Nationalsozialisten «alsunvollkommene Lösung der Ehe» abgelehnt wurde. Anhängige Schei-dungsverfahren sollten daher nach neuem Recht fortgesetzt werden,wenn der Kläger es verlangte (§ 117 EheG), andernfalls war der Antragabzuweisen. Keine Anwendung fand das ABGB auch im Unterhaltsrecht imFalle der Scheidung.32 Da die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt «zuguns-ten der Volksgemeinschaft» auf die Beteiligung von Frauen am Arbeits-prozess angewiesen waren, betonte das EheG deren Verpflichtung,durch eigene Arbeit zu ihrem Unterhalt beizutragen (§ 66). Dem natio-nalsozialistischen Ideal des Führungsanspruchs des Ehemannes wurdeim EheG dadurch Rechnung getragen, dass die geschiedene Frau ihrenUnterhaltsanspruch verwirken sollte, «wenn sie sich nach der Scheidungeiner schweren Verfehlung gegen den Mann schuldig» machte oder«gegen seinen Willen einen ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandel»führte (§ 74 EheG). In Geltung blieben die Vorschriften des ABGB inHinblick auf das eheliche Güterrecht, das Verlöbnis und die allgemeinenRechtswirkungen der Ehe.33Das EheG 1938 und die zum EheG erlassenen Durchführungsver-ordnungen34 wurden 1945 – mit Ausnahme von nationalsozialistischemGedankengut35 – von der provisorischen Staatsregierung in Kraft belas-sen.36 Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln wurde sodann jahrzehnte-lang über eine Eherechtsreform diskutiert, wobei die Debattenbeiträgevon einer Teilrevision des ABGB bis zu einem neuen separaten Ehege-244Elisabeth Berger32 Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 44.33 Einen Überblick über die verbliebenen altösterreichischen Vorschriften des ABGB(§§ 44–46, 89–93, 98, 99, 107, 110, 117, 118, 121) gibt Rudolf Köstler, ÖsterreichsEherecht, 4. Aufl. Wien 1948, S. 49 ff.34 dRGBl. 1938 I, S. 923; dRGBl. 1938 I, S. 1323; dRGBl. 1941 I, S. 654; dRGBl. 1943I, S. 145.35 Dazu zählten z. B. die Eheverbote der Blutsverschiedenheit und der mangelndenEhetauglichkeit sowie der Scheidungsgrund der Unfruchtbarkeit.36 Gesetz über Massnahmen auf dem Gebiet des Eherechts, des Personenstandsrechtsund des Erbgesundheitsrechts vom 26. 6. 1945, öStGBl. 1945 Nr. 31.
setz reichten. Ungeachtet dessen sollte das Ehegesetz bis in die 1970er-Jahre unverändert in Geltung bleiben.372. Die Familienrechtsangleichungsverordnung von 1943Die Verordnung über die Angleichung familienrechtlicher Vorschriften(FAVO) vom 6. Februar 194338 diente dem Zweck, das österreichischeKindschaftsrecht dem deutschen Recht anzugleichen.39 In Art. II listetedie Verordnung die Abänderungen im ABGB auf, die sich auf die Fest-stellung der Abstammung sowie die Bestreitung der Ehelichkeit bezo-gen. Beides war damals schon Gegenstand nationalsozialistischerGesetzgebungsarbeiten gewesen, da «die Fragen der Abstammung fürdie Reinerhaltung des Blutes unserer Volksgemeinschaft» als entschei-dend galten.40 Die beabsichtigte Einführung des 1. Familienrechtsände-rungsgesetzes41 aus 1938 in Österreich scheiterte allerdings an demdamals bereits vorliegenden Entwurf eines Nichtehelichengesetzes, deraber im August 1940 von Hitler zurückgewiesen wurde.42Die am 1. März 1943 in Kraft getretene Angleichungsverordnungänderte in § 138 ABGB die zeitlichen Grenzen der Schwangerschaft ab,indem sie die Eheschliessung zum Anfangstermin machte und die Dauerder Schwangerschaft von 300 auf 302 Tage verlängerte. Die §§ 156 bis159 b ABGB betreffend die Bestreitung der Ehelichkeit des Kindesersetzten die bisherigen §§ 156 bis 159 a ABGB. Gemäss den neugefass-ten Bestimmungen musste der Ehemann dafür statt des bisherigen245Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?37 Einen kurzen Überblick über die Reformen bietet Bea Verschraegen, Entwicklun-gen des österreichischen Eherechts im 20. Jahrhundert – Zwischen Tradition undWandel, in: Festschrift 200 Jahre ABGB, wie Fn. 15, S. 678 ff. Siehe detaillierthierzu: Fritz Schwind, Das Familienrecht, 3. Aufl. Wien 1984, S. 7 ff.38 dRGBl. 1943 I, S. 80.39 Vgl. zum Folgenden Bielefeldt, wie Fn. 15, S. 53 ff.; Hofmeister, wie Fn. 15, S. 139 f.Siehe allgemein hierzu Matthias Neumayr, Die Entwicklung des Kindschaftsrechts,in: Festschrift 200 Jahre ABGB, wie Fn. 15, S. 495 ff.40 Dieses sowie die folgenden Zitate nach: Ernst Swoboda, Das österreichische allge-meine bürgerliche Gesetzbuch, Teil I, Wien 1944, S. 121 ff.41 dRGBl. 1938 I, S. 380.42 Werner Schubert, Der Entwurf eines Nichtehelichengesetzes vom Juli 1940 undseine Ablehnung durch Hitler, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1984,S. 1 ff.
Widerspruchs im ausserstreitigen Verfahrensweg eine Bestreitungsklagegegen das Kind erheben, deren Einbringungsfrist auf ein Jahr verlängertwurde. Sie begann in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Ehemann vonUmständen erfuhr, die für eine Unehelichkeit des Kindes sprachen. Dadie Vorschriften über das Bestreitungsrecht des Mannes allein nichtgenügten, «um die Reinerhaltung des deutschen Blutes vor der Vermi-schung mit fremdem Blut zu schützen», wurde nach deutschem Vorbild«ergänzend» ein Bestreitungsrecht des Staatsanwalts eingeführt. Diesemsollte unter bestimmten Voraussetzungen die Befugnis zur Bestreitungder Ehelichkeit zukommen (§ 158 FAVO). Um eine Verhinderung derKlärung von Abstammungsfragen im öffentlichen Interesse zu vermei-den, wurde in § 6 FAVO der Grundsatz der Amtswegigkeit eingeführt.Eine weitere Neuerung erfolgt durch § 7 FAVO, der die Duldungspflichtvon erb- und rassekundlichen Untersuchungen, insbesondere die Ent-nahme von Blutproben zwecks Feststellung der Blutgruppe, gesetzlichverankerte. Eine Weigerung ohne triftigen Grund konnte die Anord-nung zur zwangsweisen Vorführung nach sich ziehen.Die FAVO blieb – ebenso wie das EheG – nach dem Krieg in Kraft.Allerdings trat im Gefolge der politischen Änderungen an die Stelle desöffentlichen Interesses an rassischen Fragen die Frage des Kindeswohls.Im Gesetz über die Neuordnung des Kindschaftsrechts vom 30. Juni197743 stand dieses im Mittelpunkt der gesetzlichen Neuregelung. IV. Das Ehe- und Familienrecht im liechtensteinischen ABGB1. Das Ehegesetz von 1974Während in Österreich 1938 mit der Einführung des deutschen Ehe-rechts ein Grossteil der eherechtlichen Bestimmungen des ABGB aufge-hoben worden war, standen im Fürstentum Liechtenstein die Regelun-gen des ABGB in Kraft, und zwar im Wesentlichen in dessen Urfassungvon 1812. Die in Österreich vollzogenen eherechtlichen Änderungenmitzumachen wäre weder mit dem Rechtsempfinden der Bevölkerung246Elisabeth Berger43 öBGBl. 1977 Nr. 2377.
noch mit der vorherrschenden Dominanz des Katholizismus vereinbargewesen. Dass es in Liechtenstein so lange beim «altösterreichischenRecht des ABGB» blieb, veranlasste Franz Gschnitzer, den langjährigenPräsidenten des liechtensteinischen OGH, zu der Feststellung, dass sichhier «ein anderwärts verdrängter Rechtszustand finde, bei dem manbeobachten könne, wie er sich auf kleinstem Gebiet behauptet».44 Alssich jedoch die Situation im Ehe- und Familienrecht als zunehmendunvereinbar mit den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen erwies,entschloss man sich Ende der 1960er Jahre schliesslich doch zur Schaf-fung eines zeitgemässen Eherechts, welche im Zusammenhang mit einerRevision des gesamten Familienrechts erfolgen sollte.45Das erste Resultat der Reformbemühungen in dieser hochsensiblenRechtsmaterie war das Ehegesetz (EheG) 1974,46 bei dessen Ausgestal-tung die Eherechtsordnungen der Nachbarstaaten Österreich undSchweiz als Rezeptionsvorlagen herangezogen wurden. Das neue EheGbrachte zwei für Liechtenstein gravierende Neuerungen: die Einführungder obligatorischen Zivilehe und die Möglichkeit der Ehescheidung, diebis dahin in Liechtenstein für Katholiken ausgeschlossen gewesen war.Da an dem Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe weiterhin festgehal-ten wurde (Art. 73 Abs. 1 EheG), konstruierte der Gesetzgeber dieScheidung allerdings als Ausnahme, die nur unter ganz bestimmtenVoraussetzungen zugelassen wurde und nur bei einer totalen Zerstörungder Ehe als gerechtfertigt galt. Der Scheidung hatte ein Trennungsver-fahren vorauszugehen, das eine Trennung im streitigen Verfahren sowieeine dreijährige Trennungsfrist vorsah. Erst nach deren Ablauf konnteeine Scheidungsklage eingebracht werden. Ab der Rechtskraft des Schei-dungsurteils, das von dem scheidungsunwilligen Ehepartner durch einenWiderspruch gegen das Scheidungsbegehren allerdings noch um zweiweitere Jahre hinausgezögert werden konnte, bestand die Möglichkeitzur Wiederverehelichung.47 Konsequenterweise kannte das liechtenstei-247Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?44 Franz Gschnitzer, Liechtensteinisches Eherecht, in: Zeitschrift für das gesamteFamilienrecht 1955, S. 278 f. 45 Zur Entstehungsgeschichte des neuen Eherechts vgl. Berger, wie Fn. 6, S. 31 ff. 46 Ehegesetz (EheG) vom 13. 12. 1973, lLGBl. 1974 Nr. 20. Zu den dadurch bewirk-ten Neuerungen vgl. Herbert Wille, Das neue liechtensteinische Ehe-, Zivilstands-und Bürgerrecht, in: Zeitschrift für Zivilstandswesen 1975, S. 10 ff. 47 Peter Sprenger, Das Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht des FürstentumsLiechtenstein, Diss. Univ. Zürich, 1985, S. 77 ff.
nische Eherecht keine einverständliche Scheidung, über deren Einfüh-rung damals in Österreich im Zuge der Familienrechtsreform verhandeltwurde. Das EheG 1974 sah nur die Möglichkeit einer «einverständlichenTrennung» der Ehegatten vor, die eine Scheidung aber von vornhereinausschloss und nur die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaftohne die Möglichkeit einer neuerlichen Verehelichung zur Folge hatte. Die geschilderte Verknüpfung von Trennungs- und Scheidungsver-fahren wurde von der Regierung als «eine echt liechtensteinischeLösung» gepriesen, die zwar das traditionelle Prinzip der Verschuldens-scheidung beibehielt, dem Zerrüttungsprinzip aber in einer Art «Kom-promisslösung» durch die Aufnahme von Trennungsfristen eine gewisseBedeutung einräumte. Mit Ausnahme dieser spezifischen Besonderheithandelte es sich bei dem EheG um eine Kompilation von schweizeri-schen und österreichischen Rechtsvorschriften. Ganze Abschnitte desEherechts waren, grossteils wörtlich, aus dem ZGB übernommen wor-den. Das betraf vor allem die Bestimmungen über die Verlobung (Art. 4ff. EheG), über Ehefähigkeit und Ehehindernisse (Art. 9 ff. EheG) sowieüber die Verkündung und die Trauung (Art. 15 ff. EheG). Die Regelungder persönlichen Rechtswirkungen der Ehe (Art. 43 ff. EheG) entsprachdem ZGB vor der Familienrechtsreform und hielt an der Vorrangstel-lung des Mannes fest. Aus dem österreichischen Ehegesetz – ebenfalls inder Fassung vor der Familienrechtsreform – stammte vor allem das Tren-nungs- und Scheidungsfolgenrecht (Art. 79 ff. EheG).2. Die Ehe- und Familienrechtsreform von 1993Nach einer längeren Reformpause wurde 1982 im Landtag beschlossen,dass eine Reform des Ehe- und Familienrechts zwecks Verwirklichungdes Partnerschaftsprinzips und des Gleichberechtigungsgrundsatzesunumgänglich notwendig geworden war.48 Da die Schaffung eines eigen-ständigen liechtensteinischen Familienrechts nicht in Betracht kam,stellte die Regierung im Vorfeld Überlegungen an, welches von den bei-den Nachbarrechten als Rezeptionsgrundlage dienen sollte. Die Rechts-tradition sprach für die modifizierte Übernahme des zwischen 1960 und248Elisabeth Berger48 Zu den Details der Reform: Berger, wie Fn. 6, S. 145 ff. m. w. N.
1978 umfassend reformierten österreichischen Familienrechts. Da aberin der Vergangenheit im Eherecht auch schweizerisches Recht rezipiertworden war, wurde dafür plädiert, im Interesse der Rechtskontinuität andas bestehende Recht anzuknüpfen und an der jeweiligen bisherigenRezeptionsgrundlage festzuhalten. Diese Überlegungen gaben den Aus-schlag dafür, der Revision des liechtensteinischen Ehe- und Familien-rechts weitestgehend das österreichische Recht zugrundezulegen.Zugleich wurde aber das ZGB überall dort als Rezeptionsvorlage heran-gezogen, wo man sich schon bisher daran orientiert hatte. Darüberhinaus liess man sich die Option offen, die ausländischen Rechtsnormenin Einzelfällen an die speziellen liechtensteinischen Verhältnisse anzu-passen.49Bei der Neuregelung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehestanden vor allem die Normen des ZGB Pate (Art. 43 ff. EheG). Demschweizerischen Recht entstammten darüber hinaus auch die in modifi-zierter Form in das EheG eingefügten Eheschutzbestimmungen (Art. 49a-h EheG). Dem österreichischen Recht hingegen wurden die im Zugeder Familienrechtsreform neugeschaffenen Normen betreffend die «Ab-geltung der Mitwirkung eines Ehegatten im Erwerb des anderen» ent-nommen (Art. 46 a-c EheG) und auch bei der Gestaltung der güterrecht-lichen (Art. 89 a-s EheG) und unterhaltsrechtlichen Regelungen (Art. 82ff. EheG) diente das österreichische Ehegesetz als Vorbild. Soweit die Fa-milienrechtsreform Änderungen im ABGB erforderlich machte – vor al-lem was das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und das Verhältniszwischen den Ehegatten betraf –, dienten die entsprechenden Bestim-mungen des österreichischen ABGB als Rezeptionsvorlage. 3. Die Trennungs- und Scheidungsrechtsreform von 1999Obgleich bei der 1993 in Kraft getretenen Revision des Ehe- und Fami-lienrechts das Trennungs- und Scheidungsrecht explizit ausgenommenworden war, hatte es im Verlauf der Verhandlungen um die Reform desEherechts immer wieder Forderungen nach einer Lockerung der Ehe-auflösungsbarrieren gegeben. Das zweistufige Eheauflösungsverfahren249Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?49 Berger, wie Fn. 6, S. 170 ff.
wurde ebenso kritisiert wie die langen Trennungsfristen. Statt der aufdem Verschuldensprinzip beruhenden Trennungsgründe sollte eineGeneralnorm auf Zerrüttungsbasis geschaffen werden, um vom gelten-den Recht provozierte Auswüchse zu verhindern, wie z. B. die Führungvon «Scheinprozessen» vor Gericht, um eine Scheidung der Ehe zuerreichen. Mit Nachdruck wurde vor allem die Einführung der Konven-tionalscheidung verlangt, die es in Österreich schon seit 1978 gab undderen Einführung in der Schweiz unmittelbar bevorstand. 1995 wurdedie Regierung explizit aufgefordert, die seit Langem bestehende Diskre-panz zwischen Gesetz und Rechtswirklichkeit zu beenden und eine ein-vernehmliche Ehescheidung ohne Verschuldensausspruch zu ermögli-chen. Begründet wurde diese Forderung unter anderem damit, dassLiechtenstein nahezu das einzige europäische Land sei, das seinenBewohnern keine einvernehmliche Auflösung der Ehe ermöglicht.50Nach eingehender Prüfung der Rechtssituation in den Nachbar-staaten gelangte die Regierung zu der Entscheidung, dass bei der Revi-sion des liechtensteinischen Ehegesetzes auf das ZGB zurückgegriffenwerden sollte, weil es mit den liechtensteinischen Reformplänen eher imEinklang stand. Als Rezeptionsgrundlage bei der Revision des Tren-nungs- und Scheidungsrecht diente daher sowohl bei der Neugestaltungdes Scheidungsrechts als auch bei jener des nun verschuldensunabhängiggeregelten Ehegattenunterhalts das schweizerische Recht.51 Die wesent-lichste Neuerung bestand – wie erwähnt – in der Aufgabe des Verschul-densprinzips. Es wurden zwei Scheidungsmöglichkeiten vorgesehen, dieallesamt auf dem Zerrüttungsprinzip basieren und frühestens ein Jahrnach dem Abschluss der Ehe geltend gemacht werden können: Zumeinen die Scheidung auf gemeinsames Begehren, die es ermöglicht, einegescheiterte Ehe unter Berücksichtigung des gemeinsamen Willens derEhegatten ohne unnötige Hindernisse aufzulösen; zum anderen dieScheidung auf einseitiges Begehren, die die Scheidung auf Klage nachmindestens dreijährigem Getrenntleben umfasst, sowie – subsidiär – dieScheidung auf Klage wegen Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Ehe.Trotz grundlegender Kritik und weitgehender praktischer Bedeutungs-losigkeit wurde das Rechtsinstitut der Ehetrennung beibehalten, um250Elisabeth Berger50 Vgl. hierzu und zum Folgenden Berger, wie Fn. 6, S. 196 ff.51 lLGBl. 1999 Nr. 28.
jenen Ehepaaren entgegenzukommen, die aus religiösen Gründen an derUnauflöslichkeit der Ehe festhalten wollen. V. SchlussbemerkungenIn einem Kleinstaat wie dem Fürstentum Liechtenstein mit seinenbeschränkten Ressourcen stellt sich nicht die Frage, «ob» rezipiert wird,sondern «wie» rezipiert wird. Das liechtensteinische ABGB stellt für dieErforschung der Rechtsrezeption ein ganz besonders geeignetes Studi-enobjekt dar, da es sich infolge seiner mehr als 200-jährigen Rezeptions-geschichte als «kleinstaatenspezifisches Mischrecht» präsentiert. Dasheisst, dass es sich vor allem aus österreichischem und schweizerischemRecht zusammensetzt, ergänzt um adaptiertes sowie eigenständigesliechtensteinisches Recht. Von den österreichisch-deutschen Rechtsangleichungsbestrebun-gen, die zwischen 1938 und 1945 auch im Bereich des Ehe- und Famili-enrechts erfolgten, war die liechtensteinische Privatrechtsordnung erstab den 1970er-Jahren betroffen. Bereinigt um nationalsozialistischesGedankengut und rasserechtliche Vorschriften war das Eherecht inÖsterreich 1945 in Kraft geblieben.52 Seit den 1970er-Jahren mehrfachabgeändert diente es ebenso wie das ABGB dem Fürstentum Liechten-stein partiell als Vorbild für dessen Ehe- und Familienrechtsreformen.Die bislang letzte grosse ABGB-Reform wurde von der liechtensteini-schen Regierung 2007 angesichts des 2012 bevorstehenden Jubiläums«200 Jahre ABGB» veranlasst. Die Reformschritte betrafen zunächst dasSachwalterrecht53 und in Verbindung damit die Schaffung eines neuenAusserstreitgesetzes.54 Eine Ergänzung zu diesen Reformen bildete dieSchaffung eines Patientenverfügungsgesetzes, als dessen Vorbild dasösterreichische Patientenverfügungsgesetz55 herangezogen wurde. Einbesonders grosses und aufwendig vorbereitetes Unterfangen stellte251Das ABGB von 1938 bis 1945: Auswirkungen auf Liechtenstein?52 Gesetz über Massnahmen auf dem Gebiet des Eherechts, des Personenstandsrechtsund des Erbgesundheitsrechts, öStGBl. 1945 Nr. 31.53 G über die Abänderung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches vom16. 3. 2010, lLGBl. Nr. 122.54 Ausserstreitgesetz vom 25. 11. 2010, lLGBl. Nr. 454.55 öBGBl. 2006 I Nr. 55, in Kraft seit 1. 6. 2006.
schliesslich das Gesetzespaket über die eingetragene Partnerschaftgleichgeschlechtlicher Paare dar,56 wobei das ABGB hier vor allem imErbrecht von Änderungen und Ergänzungen betroffen war. Die Vor-gangsweise bei den angeführten Reformschritten entsprach der mittler-weile akzeptierten und weitgehend perfektionierten Rezeptionspraxis,der vorwiegend österreichisches und schweizerisches Recht als Grund-lage dienen. 252Elisabeth Berger56 Gesetz vom 16. 3. 2011 über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicherPaare, lLBGl. Nr. 350. Zeitgleich damit trat das Gesetz vom 16. 3. 2011 über dieAbänderung des ABGB, lLGBl. Nr. 366, in Kraft.
Kirchenaustritt: eine schweizerischePraxisänderung, die keine sein kannGiusep Nay*Nach Art. 15 Abs. 3 und 4 der schweizerischen Bundesverfassung (BV)hat jede Person «das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutretenoder anzugehören», und «niemand darf gezwungen werden, einer Reli-gionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören». Was soll aber in den schweizerischen Kantonen, die die Kirchenund andere Religionsgemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkennen,gelten, wenn eine Person erklärt, allein aus der öffentlich-rechtlich aner-kannten kirchlichen Körperschaft der Landes- oder Kantonalkirche undihren Kirchgemeinden auszutreten? In ständiger Rechtsprechungbezeichnete das schweizerische Bundesgericht eine solche Erklärung alsunzulässig. Es änderte jedoch vor Kurzem diese Praxis und erklärte esals verfassungswidrig, einen solchen sogenannten partiellen Kirchenaus-tritt nicht zuzulassen. In einem neuesten Entscheid wurde diese Ände-rung der Rechtsprechung bestätigt, gleichzeitig jedoch erklärt, es liegebei einer derartigen Erklärung nach staatlichem Recht ein vollständigerund nicht bloss ein partieller Austritt vor, auch wenn die Person im Falleder römisch-katholischen Kirche erkläre, der nach kanonischem Rechtverfassten Kirche weiterhin angehören zu wollen. Hingegen wird es alsrechtsmissbräuchlich bezeichnet, wenn diese Person dann die kirchli-chen Dienstleistungen weiterhin regelmässig in Anspruch nimmt. 253* Der Verfasser dankt Sabine Demel, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Fakultät für Katho-lische Theologie, Universität Regensburg, und Daniel Kosch, Generalsekretär derRömisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz, für ihr kritisches Gegenlesenund den wertvollen Meinungsaustausch.
I. Die langjährige konstante Praxis des BundesgerichtsIn einem Entscheid aus dem Jahre 20021 hatte sich das Bundesgerichtaufgrund der rechtlichen Regelung in der Verfassung der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern mit der Erklärung einerPerson zu befassen, lediglich aus der Kirchgemeinde bzw. Landeskircheauszutreten, sich aber weiterhin der römisch-katholischen Kirche zuge-hörig zu fühlen (sogenannter partieller Kirchenaustritt). § 12 dieser Ver-fassung lautet:«Wer nach kirchlicher Ordnung der römisch-katholischen Kircheangehört, gilt für Landeskirche und Kirchgemeinden als Katholikinoder Katholik, solange sie oder er dem zuständigen Kirchenrat amgesetzlich geregelten Wohnsitz nicht schriftlich erklärt hat, derrömisch-katholischen Konfession nicht mehr anzugehören.»Das Bundesgericht entschied, gewiss könne eine Person nicht verpflich-tet werden, auch eine Austrittserklärung bezüglich der Religionsgemein-schaft abzugeben, es sei jedoch nicht verfassungswidrig, die vorliegendeAustrittserklärung als unvollständig und damit unbeachtlich zu betrach-ten. Es habe bereits in einem Entscheid 1876 festgehalten, dass Art. 49aBV nur von «Religionsgenossenschaften» (Art. 15 BV von «Religions-gemeinschaften») spreche und dass die Befreiung von den Kirchensteu-ern den Austritt aus der Religionsgenossenschaft selbst bedinge, wohin-gegen der Austritt aus der Kirchgemeinde allein nicht genüge. 1908 habees sodann eine kantonale Regelung, die für die steuerrechtliche Aner-kennung einen Austritt nicht nur aus der Kirchgemeinde, sondern ausder Religionsgenossenschaft überhaupt forderte, als nicht gegen Art. 49aBV verstossend betrachtet. Die in Art. 15 BV und Art. 9 EMRK garan-tierte Glaubens- und Gewissensfreiheit umfasse unter anderem dasRecht, die Religion frei zu wählen, einer Religionsgemeinschaft beizu-treten, anzugehören, aus ihr aber auch jederzeit auszutreten. Die vonden kantonalen Kirchenbehörden mit Blick auf die Kirchenverfas-sung/LU vertretene Position respektiere diese Freiheit. Der Beschwer-deführerin stehe es nämlich frei, der römisch-katholischen Religionsge-meinschaft weiterhin anzugehören oder aus ihr auszutreten. Bekenne sie254Giusep Nay1 BGE 129 I 68.
sich aber zu dieser Religionsgemeinschaft, die im Kanton Luzern alsöffentlich-rechtliche Institution anerkannt sei, sei sie auch an die inso-weit vorgesehene Organisation gebunden. Denn nach dem schweizeri-schen Verfassungsverständnis könnten die Kantone gestützt auf Art. 72Abs. 1 BV die Organisation und die Mitgliedschaft in den von ihnenanerkannten Kirchen regeln. Die angeführte Bestimmung der landes-kirchlichen Verfassung verknüpfe für die im Kanton Luzern wohnhaftenPersonen das Bekenntnis zur römisch-katholischen Religionsgemein-schaft bzw. Konfession mit der Mitgliedschaft in der römisch-katholi-schen Landeskirche und der entsprechenden Kirchgemeinde (sogenann-ter Nexus). Eine solche Verknüpfung müsse jedenfalls solange als zuläs-sig gelten, als die Organe der Religionsgemeinschaft eine Verknüpfungnicht ablehnten, sondern sie – allenfalls stillschweigend – akzeptierten,wovon hier auszugehen sei. Es wäre auch in gewissem Sinne wider-sprüchlich, der Kirchgemeinde seines Wohnsitzes nicht angehören zuwollen, wohl aber der entsprechenden kirchlichen Organisation. Per-sönliche Konflikte verliehen noch nicht von Verfassungs wegen dasRecht, aus einem Verband nur teilweise auszutreten; das gelte im Bereichder Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht anders als in anderen Grund-rechtsbereichen. Auch unter Gesichtspunkten des Rechtsmissbrauchswäre nur schwer zu rechtfertigen, weshalb eine aus der Kirchgemeindeund der Landeskirche ausgetretene Person weiterhin die Dienste derKirchenorgane beanspruchen können sollte, nachdem sie mit ihremAustritt bewirkt habe, dass sie an diese Leistungen nichts mehr beizu-steuern habe.2II. Die Praxisänderung von 2007In einem wiederum aus dem Kanton Luzern stammenden Fall hatte sichdas Bundesgericht 2007 mit einer Erklärung folgenden Wortlauts zubefassen: «Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Organisation‹Katholische Kirchgemeinde Luzern›». Es entschied,3 die Erklärung des255Kirchenaustritt: unhaltbare Praxisänderung2 BGE 129 I 68 E. 3 S. 70 ff. mit Hinweis auf die BGE 2 S. 388 E. 5 396, 10 S. 320 E.3 S. 324, 34 I 41 E. 11 und 12 S. 52 f., 52 I 108 E. 3 S. 118 f.3 BGE 134 I 75 E. 4.2 S. 77 und E. 6 S. 79.
Austritts aus der Landeskirche genüge. Art. 15 Abs. 4 BV schliesse – alsAusprägung der sogenannten negativen Religionsfreiheit – das Rechtein, aus einer Kirche oder Religionsgemeinschaft auszutreten. Insoweitmüsse der Staat dafür sorgen, dass derjenige, welcher einer Religionsge-meinschaft nicht mehr angehören wolle, aus ihr austreten könne undhernach nicht der zwangsweisen Durchsetzung von Mitgliedschafts-pflichten ausgesetzt werde. Das gelte auch dann, wenn die betreffendeGlaubensgemeinschaft nach ihrem internen Recht keine Austrittsmög-lichkeit vorsehe. Der Austritt müsse jederzeit möglich sein. Wenn dieLandeskirche für einen wirksamen Kirchenaustritt die ausdrücklicheErklärung der austrittswilligen Person verlange, dass sie der römisch-katholischen Kirche, Konfession oder Religionsgemeinschaft nicht mehrangehöre und eine lediglich auf die Kirchgemeinde oder Landeskirchebezogene Austrittserklärung nicht genügen lasse, bedeute dies, dass sichder Austrittswillige explizit von der römisch-katholischen Kirche lossa-gen müsse. Diese Kirche sei selber Teil des katholischen Glaubensbe-kenntnisses. Es werde vom Austrittswilligen somit ein bekenntnishafterAkt erwartet. Bestehe aber – wie hier – neben der Glaubensgemeinschafteine staatskirchenrechtliche Organisation, so müsse es genügen, dass nurder Austritt aus der Letzteren erklärt werde. Denn im weltlichenRechtsverkehr sei in einem solchen Fall nur der Austritt aus der staatli-chen Zugehörigkeitsordnung massgebend. Mit der Erklärung des Aus-tritts aus dieser – in casu aus der Landeskirche – könne bereits gewähr-leistet werden, dass Mitgliedschaftspflichten künftig nicht mehr zwangs-weise durchgesetzt würden; unter anderem sei für die Zeit ab derAustrittserklärung die Kirchensteuer nicht mehr geschuldet. Zusätzlichebekenntnishafte Erklärungen seien nach dem Gesagten für einen Kir-chenaustritt nicht notwendig. Für das Erfordernis einer auch auf dierömisch-katholische Kirche, Religionsgemeinschaft oder Konfessionbezogenen Erklärung gebe es keinen zwingenden Grund. Daher sei die-ses Erfordernis mit der Religionsfreiheit nicht zu vereinbaren (vgl. auchArt. 36 Abs. 2 und 3 BV). Welche religiösen, innerkirchlichen Konse-quenzen der erklärte Austritt habe, namentlich ob noch Ansprüche aufLeistungen der Religionsgemeinschaft bestünden, sei nicht vom Staat,sondern von der jeweiligen Religionsgemeinschaft selber zu beantwor-ten.256Giusep Nay
III. Der neueste Bundesgerichtsentscheid von 20121. In einem Urteil des Bundesgerichts vom 9. Juli 20124 ging es um dieAustrittserklärung der gleichen Person mit dem gleichen Wortlaut wieim Fall, der im Entscheid von 2007 beurteilt wurde, jedoch unterBerücksichtigung ihrer weiteren Erklärung, weiterhin der römisch-katholischen Weltkirche angehören zu wollen. Die dargelegte Praxisänderung von 2007 war in einem obiterdictum erfolgt. Trotz dieser Änderung war die Beschwerde abgewiesenworden, weil die Erklärung als in Bezug auf den Austritt allein aus derKirchgemeinde oder auch der Landeskirche nicht genügend klarbetrachtet wurde. Das war jedoch ein Versehen, denn in § 13 Abs. 2 dermassgeblichen landeskirchlichen Verfassung ist ausdrücklich geregelt,wer einer Kirchgemeinde angehöre, sei zugleich Mitglied der Landeskir-che. Wer aus der Kirchgemeinde austritt, tritt damit ohne Weiteres auchaus der Landeskirche aus.2. Im Bundesgerichtsentscheid von 2012 ging das Bundesgerichteinerseits davon aus, die Vorinstanz habe zu Recht festgestellt, das Zielder Beschwerdeführerin sei ein Austritt aus der Staatskirche, aber einVerbleiben in der Weltkirche; das habe sie auch in ihrer Beschwerde anden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das erste Bun-desgerichtsurteil ausgeführt. Anderseits sah es als nicht bewiesen an,dass die Beschwerdeführerin auch die theologischen und seelsorgerli-chen Leistungen der römisch-katholischen Weltkirche weiterhin bean-spruchen und nur Kirchensteuern einsparen wolle; die Beweislast dafürtreffe die staatskirchenrechtlichen Behörden.53. Gegenüber der Änderung der Rechtsprechung von 2007 war breitKritik vorgebracht worden. Das Bundesgericht führt diese6 in seinem257Kirchenaustritt: unhaltbare Praxisänderung4 Prozess-Nr. 2C_406/2011, siehe: <http://www.bger.ch/index/juridiction/jurisdiction-inherit-template/jurisdiction-recht-kostenpflichtige-suche-redirect.htm>.5 E. 5 des Urteils. 6 Es verweist auf: Yvo Hangartner, Staatskirchenrechtliche Grundsatzfragen –Bemerkungen aus Anlass von Leitentscheiden des Kantonsgerichts Basel-Land-schaft und des Bundesgerichts, AJP 2008, S. 989 f.; Giusep Nay, Bemerkungen zuBGE 134 1 75, AJP 2008, S. 1162 f.; ders., Développements structurels dans la juris-prudence et la législation étatiques en Suisse, in: Libero Gerosa / René Pahud de
Entscheid von 2012 wie folgt an: Es sei eingewendet worden, das Bun-desgericht übersehe, dass nach römisch-katholischem Verständnis dienach kanonischem Recht verfasste Weltkirche und die nach staatlichemRecht organisierte römisch-katholische Landeskirche des KantonsLuzern zusammengehörten und deshalb nur ein integraler Austritt ausbeiden Formen der Kirche möglich sei. Ein blosser Austritt aus derrömisch-katholischen Landeskirche sei ausgeschlossen, da diese öffent-lich-rechtliche Körperschaft für die Katholiken nicht Kirche sei. Wegendes einheitlichen Kirchenbegriffs müsse sich der Austritt vielmehr not-wendigerweise auch auf die römisch-katholische Weltkirche beziehen.Darin liege kein unverhältnismässiger Eingriff in die Religionsfreiheit,da sich der Austretende nicht im eigentlichen Sinne vom Glauben lossa-gen, sondern lediglich feststellen müsse, dass er nicht mehr römisch-katholisch sei.74. Wer aus der Kirche austrete, führt das Bundesgericht sodann in sei-ner Urteilsbegründung aus, entledige sich der Rechte und Pflichten, dieer nach staatlichem Recht gegenüber der Kirche habe. Der Austritt nachstaatlichem Recht erstrecke sich damit von vornherein nur auf die Kir-che, soweit sie als privat- oder öffentlich-rechtliche juristische Personam staatlichen Rechtsverkehr teilnehme. Ob der Ausgetretene weiterhineiner unsichtbaren oder einer rein nach geistlichem Recht verfassten Kir-che angehöre, sei aus staatlicher Sicht unbeachtlich. Beziehe sich derAustritt aber nach staatlichem Recht nur auf diese weltliche Seite, müsseer auch nur in diesem Umfang erklärt werden. Mehr zu verlangen, seiauch mit Blick auf die römisch-katholische Kirche unnötig. Denn eineAustrittserklärung, die sich auf die staatliche Organisation der Kirchebeziehe, weise die erforderliche inhaltliche Klarheit auf, um im weltli-chen Bereich Rechtswirkungen zu erzeugen. Die Verfassung derrömisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern regle die Mit-gliedschaft für den weltlichen Rechtsverkehr. Dementsprechend bezö-gen sich auch die Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft alleinauf diese Körperschaft. Das habe zur Folge, dass es genüge, wenn sich258Giusep NayMortanges (éds.), Eglise catholique et Etat en Suisse, 2010, S. 19 ff.; vgl. auch UrsJosef Cavelti, Der Kirchenaustritt nach staatlichem Recht, in: Louis Carlen (Hrsg.),Austritt aus der Kirche – Sortir de l’église, 1982, S. 92.7 E. 7 des Urteils.
eine Austrittserklärung auf diese staatskirchenrechtliche Organisationals weltliches Kleid der römisch-katholischen Kirche beziehe. Es treffezwar zu, dass die Begründung der Mitgliedschaft voraussetze, dass diebetreffende Person nach kanonischem Recht der römisch-katholischenKirche angehöre (§ 12 der zitierten Kirchenverfassung). Das Argumentin der angeführten Kritik, auch das Austrittsrecht müsse sich nach derinnerkirchlichen Ordnung richten und setze wegen des erwähnten ein-heitlichen katholischen Kirchenbegriffs einen integralen Austritt voraus,sei nicht stichhaltig. Die Religionsfreiheit garantiere die Austrittsmög-lichkeit aus der staatskirchenrechtlichen Organisation – im Unterschiedzum Eintritt – aus beliebigen Gründen und unabhängig von der inner-kirchlichen Ordnung. Eine Anknüpfung an das kanonische Recht würdeden Austritt ja auch gänzlich verunmöglichen, weil dieses einen solchennicht kenne. Aus diesen Gründen sei an der neuen Rechtsprechung festzuhalten,wonach ein Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Organisation alsgültig anzusehen sei und nicht zusätzlich ein Austritt auch aus derrömisch-katholischen Konfession verlangt werden dürfe. Gegen dieseBeurteilung sei eingewendet worden,8 dass sie die geltende staatskir-chenrechtliche Ordnung zu unterlaufen drohe und das kirchliche Selbst-bestimmungsrecht der Katholiken übermässig einschränke. Das Ausei-nanderfallen von staatskirchenrechtlicher und innerkirchlicher Mitglied-schaft werde allerdings nicht erst durch die kritisierte Rechtsprechungbegründet, sondern ergebe sich aus dem Umstand, dass das kanonischeRecht keinen Kirchenaustritt vorsehe und damit bei Austritten unver-meidlicherweise zu zwei Kategorien von Mitgliedern – den staatlicher-seits Ausgetretenen und den Nichtausgetretenen – führe. Die Religions-freiheit stehe der Übernahme der innerkirchlichen Unauslöschlichkeitder Mitgliedschaft entgegen und setze damit dem kirchlichen Selbstbe-stimmungsrecht notwendigerweise eine Schranke. Die Verweigerungeines blossen Austritts aus der staatskirchenrechtlichen Organisationwürde zu einer verfassungswidrigen Zwangsmitgliedschaft all jenerKatholiken führen, die – möglicherweise auch aus Glaubensgründen –259Kirchenaustritt: unhaltbare Praxisänderung8 Dazu wird verwiesen auf: Hangartner, a. a. O., S. 990; Nay, a. a. O., S. 1162; DieterKraus, Schweizerisches Staatskirchenrecht – Hauptlinien des Verhältnisses von Staatund Kirche auf eidgenössischer und kantonaler Ebene, 1993, S. 179 f.; Andreas Kley,Kirchenaustritt – Austritt woraus?, recht 2008, S. 172 f.