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EGMR bei der Überprüfung der Verfahrensdauer im Einzelfall heran-zieht. Sie bilden für sich jedoch keine Messlatte, da ausschlaggebend fürdie Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer letztlichimmer die konkrete Konstellation des Einzelfalles ist.»61In Orientierung am case law des EGMR wurde beispielsweise eineVerfahrensdauer, die «geteilt durch die Zahl der Instanzen eineinhalb biszwei Jahre ergibt», nicht beanstandet.62 Allerdings kann auch eine Inak-tivität des Staatsgerichtshofes selbst den Anspruch verletzen, wenn derStaatsgerichtshof selbst über eine unangemessen lange Dauer nicht ent-schieden hat. In einem solchen Fall erfolgte die Grundrechtsverletzungnicht durch die angefochtene Entscheidung, daher erfolgt im Spruch desUrteils des Staatsgerichtshofes die Feststellung, dass eine Grundrechts-verletzung durch den Staatsgerichtshof selbst erfolgt ist.633.4 VerteidigungsrechteArt. 33 Abs. 3 LV gewährleistet dem Angeschuldigten das Recht der Ver-teidigung. Dieses sehr vage formulierte Recht wird vom Staatsgerichts-hof im Lichte der detaillierteren Bestimmungen des Art. 6 EMRK, ins-besondere des Abs. 3, interpretiert.64In seiner jüngeren Rechtsprechung hat sich der Staatsgerichtshofbeispielsweise hinsichtlich der Beiziehung eines Dolmetschers im Straf-verfahren sowie der Übersetzung von Aktenstücken aus dem Gerichts-akt an der Rechtsprechung des EGMR orientiert.65Das Recht auf Verfahrenshilfe bzw. Pflichtverteidigung wird imStrafverfahren aus Art. 33 Abs. 3 LV abgeleitet und dieser Anspruch imLichte der Reichweite der Garantien des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK beur-teilt. Der Anspruch reicht daher (nur) soweit, als dies im Interesse derRechtspflege erforderlich ist und der Angeklagte oder Beschuldigteeinen Verteidiger nicht aus eigenen Mitteln bezahlen kann.6660Peter Bussjäger61 StGH 2005/52.62 StGH 2010/29.63 StGH 2005/52; StGH 2005/7; StGH 2005/13; StGH 2005/43; StGH 2004/58.64 StGh 2010/116; näher Tobias Michael Wille, Recht auf wirksame Verteidigung, in:Andreas Kley/Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPSBd. 52, Schaan 2012, S. 438 mit weiteren Nachweisen.65 StGH 2010/116; StGH 2010/161.66 StGH 2010/23.
Das Recht auf Verteidigung findet nur im Strafverfahren, nichtjedoch im Strafrechtshilfeverfahren, Anwendung.67 Der Staatsgerichts-hof verweist in StGH 2008/37 pauschal auf die «Strassburger Rechtspre-chung», ohne diese im Einzelnen darzulegen.68 Tatsächlich bezieht sichdiese Rechtsprechung auf einen Auslieferungsfall,69 wobei ein Grössen-schluss durchaus dazu führt, dass, wenn schon im Rahmen der Ausliefe-rung kein Recht auf Verteidigung besteht, dies noch viel weniger beisonstigen, weitaus weniger in die Persönlichkeitsrechte eingreifendenRechtshilfemassnahmen der Fall ist. Angesichts der dynamischen Wei-terentwicklung, in der sich das Verfahren der Rechts- und Amtshilfe inEuropa insgesamt befindet und der Notwendigkeit, die Fairness desStrafverfahrens «als Ganzes» zu betrachten,70 stellt sich aber dennoch dieFrage, inwieweit diese Rechtsprechung entweder vonseiten des EGMRoder des Staatsgerichtshofes früher oder später eine Änderung erfährt.713.5 Zwischenresümee: Ein Dialog der GrundrechtsebenenDie hier vorgestellten Fallbeispiele veranschaulichen das Einwirken derEMRK auf die liechtensteinische Grundrechtsdoktrin: Dank derEMRK-freundlichen Judikatur des Staatsgerichtshofes werden die liech-tensteinischen Grundrechte im Lichte der vergleichbaren Regelungender EMRK interpretiert. Die liechtensteinische Grundrechtspraxis hältdadurch den Anschluss an die europäische Entwicklung. Andererseitswerden aber weiterreichende Garantien des liechtensteinischen Grund-rechtskataloges nicht aufgegeben, die EMRK bildet vielmehr einen Min-61Der Staatsgerichtshof und die Europäische Menschenrechtskonvention67 Dazu näher Wille, Verteidigung, S. 442 mit weiteren Nachweisen.68 StGH 2008/37, Erw. 4.1. Eine solche Darstellung erfolgt auch nicht in StGH2006/95, Erw. 2.1, auf welche Entscheidung der Staatsgerichtshof in StGH 2008/37verweist.69 Vgl. Villiger, Menschenrechtskonvention, S. 255 Rz. 401, auf welchen StGH2006/61, Erw. 2.1, verweist. Vgl. auch Wille, Verteidigung, S. 443; Theo Vogler,Art. 6 EMRK, in: Katharina Pabel/Stefanie Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kom-mentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln 1986, Rz. 247.70 Die Wendung «als Ganzes» beruht auf ständiger Rechtsprechung (vgl. Hans-HeinerKühne, Art. 6 EMRK, in: Katharina Pabel/Stefanie Schmahl (Hrsg.), Internationa-ler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln 2009, Rz. 361mit weiteren Nachweisen).71 Vgl. dazu auch Wille, Verteidigung, S. 443 f.
deststandard des Grundrechtsschutzes, der in vielen Fällen durch denliechtensteinischen Grundrechtskatalog überschritten wird.72Es kommt somit zu einem Dialog der Grundrechtsebenen, der zueiner Konvergenz des Grundrechtsschutzes führt, ohne dass bereitserreichte Standards aufgegeben werden.IV. Sind die völkerrechtlichen Vorbehalte Liechtensteinsgegenüber der EMRK noch angebracht und notwendig?Das Fürstentum Liechtenstein hat anlässlich der Ratifikation der EMRKinsgesamt fünf Vorbehalte angebracht.73 Die Zulässigkeit der Vorbehaltewurde in der Literatur zum Teil bejaht, ihre Rücknahme oder Ein-schränkung aber jedenfalls empfohlen,74 zum anderen Teil aber als«rechtlich zweifelhaft» und «ganz besonders fragwürdig» kritisiert.75Aufgrund verschiedener Zurücknahmen der Vorbehalte sind heutelediglich die zu Art. 6 EMRK ausgesprochenen Vorbehalte zur Öffent-lichkeit des Verfahrens und der Urteilsverkündung in verschiedenenVerfahren76 sowie zu Art. 8 EMRK77 formell aufrecht. Allerdings sind62Peter Bussjäger72 Gemäss Art. 53 EMRK darf die Konvention nicht so ausgelegt werden, alsbeschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in denGesetzen eines Mitgliedstaats oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertrags-partei er ist, anerkannt werden. Diese Vorschrift belässt den Verfassungen der Mit-gliedstaaten Spielraum, ein höheres Schutzniveau als nach der EMRK zu garantie-ren (vgl. Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechts-konvention, 5. Aufl., München 2012, S. 13 Rz. 14).73 Vgl. Claudia Westerdiek, Die Vorbehalte Liechtensteins zur Europäischen Men-schenrechtskonvention, EuGRZ 1983, S. 549.74 Vgl. Westerdiek, Vorbehalte, S. 551.75 Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention,2. Aufl., Kehl – Strassburg – Arlington 1996, Art. 64, Rz. 1; siehe auch TobiasMichael Wille, Liechtensteinisches Verfassungsprozessrecht, LPS Bd. 43, Schaan2007, S. 383.76 Dies betrifft folgenden Vorbehalt: Gemäss Art. 64 der Konvention setzt das Fürs-tentum Liechtenstein den Vorbehalt, dass die Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 derKonvention bezüglich der Öffentlichkeit des Verfahrens und der Urteilsverkün-dung nur in jenen Grenzen gelten sollen, die von Grundsätzen abgeleitet werden,die derzeit in folgenden liechtensteinischen Gesetzen zum Ausdruck kommen: Gesetz vom 10. Dezember 1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichenRechtsstreitigkeiten, LGBl. 1912 Nr. 9/I;
die meisten der im Vorbehalt zu Art. 6 EMRK angeführten gesetzlichenVorschriften mittlerweile ausser Kraft getreten und durch neue Gesetzeersetzt worden wie etwa das Staatsgerichtshofgesetz. Vorbehalte müssensich allerdings nach Art. 57 EMRK auf ein zur betreffenden Zeit imjeweiligen Staat geltendes Gesetz beziehen und können solche, die erstspäter in Kraft treten, nicht miteinschliessen.78Vom Vorbehalt erfasst ist jedoch weiterhin das Gesetz über die all-gemeine Landesverwaltungspflege (LVG).79 Diesbezüglich hat derEGMR zwar jüngst die Gültigkeit des Vorbehalts bestätigt,80 die Bedeu-tung der Entscheidung sollte jedoch aus folgenden Gründen nicht über-schätzt werden: Der Staatsgerichtshof betrachtet in seiner nunmehr ständigenRechtsprechung das Öffentlichkeitsprinzip ungeachtet des ausgespro-chenen Vorbehalts als einen wesentlichen Teilgehalt der Garantie eines63Der Staatsgerichtshof und die Europäische MenschenrechtskonventionGesetz vom 10. Dezember 1912 über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und dieZuständigkeit der Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen, LGBl. 1912 Nr. 9/II;Gesetz vom 31. Dezember 1913 betreffend die Einführung einer Strafprozessord-nung, LGBl. 1914 Nr. 3;Gesetz vom 21. April 1922 betreffend das Rechtsfürsorgeverfahren, LGBl. 1922Nr. 19;Gesetz vom 21. April 1922 über die allgemeine Landesverwaltungspflege, LGBl.1922 Nr. 24;Gesetz vom 5. November 1925 über den Staatsgerichtshof, LGBl. 1925 Nr. 8;Gesetz vom 30. Januar 1961 über die Landes- und Gemeindesteuern, LGBl. 1961Nr. 7;Gesetz vom 13. November 1974 über den Grundstückserwerb, LGBl. 1975 Nr. 5.Die gesetzlichen Bestimmungen des Jugendstrafverfahrens:im Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen vom 27. Mai 1852,Amtliches Sammelwerk der Liechtensteinischen Rechtsvorschriften bis 1863;im Gerichtsorganisationsgesetz vom 7. April 1922, LGBl. 1922 Nr. 16;im Gesetz vom 1. Juni 1922 betreffend Abänderung des Strafrechtes, der Strafpro-zessordnung und ihrer Nachtrags- und Nebengesetze, LGBl. 1922 Nr. 21;im Gesetz vom 23. Dezember 1958 über den Schutz und die Wohlfahrt der Jugend,LGBl. 1959 Nr. 8.77 Gemäss Art. 64 der Konvention setzt das Fürstentum Liechtenstein den Vorbehalt,dass das in Art. 8 der Menschenrechtskonvention garantierte Recht auf Achtung desFamilienlebens für Ausländer nach Grundsätzen geregelt wird, die derzeit in derVerordnung vom 9. September 1980 (LGBl. 1980 Nr. 66) zum Ausdruck kommen.78 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, S. 320 Rz. 3; Wille, Verfassungsprozessrecht, S. 384.79 Gesetz vom 21. April 1922, LGBl. 1922 Nr. 24.80 18. Juli 2013, Application no. 56422/09, Schädler-Eberle vs. Liechtenstein.
fairen Verfahrens und zählt es zu den Grundlagen des Rechtsstaates.81Mit anderen Worten: Der Vorbehalt wird in der Praxis des Staatsge-richtshofes nicht mehr angewendet, sondern es wird geprüft, ob der Ver-waltungsgerichtshof im Beschwerdefall sein Ermessen, ob eine mündli-che Verhandlung durchgeführt wird oder nicht, im Einklang mit dengrundrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK ausgeübt hat.82Hinsichtlich Art. 8 EMRK wurde auch in dem vom formell auf-rechten Vorbehalt erfassten Bereich eine «Ausstrahlungswirkung» vonArt. 8 EMRK angenommen und dieser im Einzelfall nicht angewendetund es zunächst noch offengelassen, ob die neuere Rechtsentwicklungdem seinerzeitigen Vorbehalt die Grundlage entzogen hatte.83 Bereits inStGH 2006/484 erklärte der Staatsgerichtshof jedoch, dass der Vorbehaltauf der Grundlage der Strassburger Rechtsprechung «keine Geltungmehr beanspruchen kann.» Damit wurde der Vorbehalt zu Art. 8 EMRKvom Staatsgerichtshof selbst de facto ausser Kraft gesetzt.Es ist daher davon auszugehen, dass die verbliebenen Vorbehalte zuArt. 6 und 8 EMRK obsolet sind. Sie werden vom Staatsgerichtshofnicht mehr angewendet und sollten von Liechtenstein gegenüber denVertragspartnern auch offiziell zurückgezogen werden.V. Staatsgerichtshof, EFTA-Gerichtshof und die Europäische GrundrechtechartaAls nationales Verfassungsgericht eines EWR-Mitgliedstaates orientiertsich der Staatsgerichtshof keineswegs nur an der Rechtsprechung desEGMR. Auch die Judikatur des EFTA-Gerichtshofes ist eine wesentli-che Rechtsquelle.Der Staatsgerichtshof judiziert in ständiger Rechtsprechung denVorrang des EWR-Rechtes.85 Dieser beinhaltet nicht nur den Vorrang64Peter Bussjäger81 StGH 2007/91, Erw. 5.1.82 In diesem Sinne StGH 2007/112, Erw. 2.5.1.83 StGH 2004/60, Erw. 6.84 StGH 2006/4, Erw. 2.2.85 Vgl. StGH 1996/34 = LES 1998, S. 74 (80); StGH 2004/45, Erw. 2.1.
des positiv normierten EWR-Rechtes, sondern auch dessen Auslegungdurch den EFTA-Gerichtshof.86 Der Vorrang des EWR-Rechtes reichtallerdings nach Auffassung des Staatsgerichtshofes nur so weit, alsdadurch nicht gegen «Grundprinzipien und Kerngehalte der Grund-rechte der Landesverfassung verstossen wird.»87 Ein solcher Fall istjedoch nur in krassen Ausnahmen denkbar, sodass die Verfassungskon-formität einer Entscheidung des EFTA-Gerichtshofes oder einer EWR-Norm in der Praxis nicht zu prüfen ist.88Die EWR-Grundfreiheiten werden vom Staatsgerichtshof als ver-fassungsmässig gewährleistete Rechte anerkannt.89 In seiner Spruchpra-xis orientiert sich der Staatsgerichtshof daher, wie erwähnt, auch amEFTA-Gerichtshof, wie insbesondere in einer Reihe von Entscheidun-gen90 deutlich wurde, in denen die EWR-Konformität der Regelungender ZPO hinsichtlich der sogenannten «aktorischen Kaution» (insbe-sondere § 57) unter Hinweis auf Entscheidungen des EFTA-Gerichts-hofes91 bestätigt wurde. Insoweit diese Rechtsprechung klar ist und/oderdas anzuwendende EWR-Recht keine Zweifel offenlässt, verzichtet derStaatsgerichtshof allerdings auf die Vorlage des Falles an den EFTA-Gerichtshof zwecks Erstattung eines Gutachtens.92Was die Grundrechtecharta betrifft, so gilt diese lediglich innerhalbder Europäischen Union und entfaltet im EWR keine unmittelbare65Der Staatsgerichtshof und die Europäische Menschenrechtskonvention86 StGH 2011/200, Erw. 3.2; gleichlautend StGH 2011/177, 2011/175, 2011/174,2011/173, 2011/172, 2011/170, 2011/169, 2011/147, 2011/132, 2011/104, jeweilsErw. 3.2.87 StGH 2008/36, Erw. 2.1.88 Siehe die Ausführungen des Staatsgerichtshofes in den in Fussnote 86 erwähntenFällen.89 StGH 2004/45, Erw. 2.1; StGH 2007/98, Erw. 6.1; 90 Vgl. StGH 2011/200, Erw. 3.291 Entscheidung des EFTA-Gerichtshofes vom 17. Dezember 2010, in der RechtssacheE-5/10 = LES 2010, S. 5 mit Kommentar von Manfred Walser; siehe hierzu auchPhilipp Lennert/Daniel Heilmann, Die Auslegung der aktorischen Kaution imLichte des Allgemeinen Europäischen Diskriminierungsverbotes in Art. 4 desAbkommens zum Europäischen Wirtschaftsraum: Besprechung Urteil des EFTA-Gerichtshofes vom 17. Dezember 2010, Rechtssache E-5/10, LJZ 2011, 25 ff. sowieChristian Kohler, Liechtenstein, cautio iudicatum solvi und Lugano-Übereinkom-men: No End of a Lesson?, Jus & News 2/2011, 153 ff.92 Vgl. etwa StGH 2006/76, Erw. 5; StGH 2011/123, Erw. 3.1; StGH 2011/177, Erw. 5.
Rechtswirkung.93 Der Staatsgerichtshof hat denn auch bereits ausge-sprochen, dass «der blosse Umstand, dass der Beschwerdeführer auch ineinem Mitgliedstaat der Europäischen Union eine berufliche Niederlas-sung hat, nicht hinreichen kann, die unmittelbare Anwendbarkeit derEuropäischen Grundrechtecharta auch im EWR zu bewirken».94Dessen ungeachtet könnte die Grundrechtecharta «Ausstrahlungs-wirkung» – um einen vom Staatsgerichtshof immer wieder verwendetenTerminus aufzugreifen – auch auf dessen Rechtsprechung entfalten.Zudem ist eine wechselseitige Beeinflussung der Judikatur von EuGHund EGMR in der Praxis festzustellen,95 wobei der Staatsgerichtshof anentsprechende Entscheide des EGMR gebunden wäre. Auch der EFTA-Gerichtshof könnte Bestimmungen der Grundrechtecharta als allge-meine Rechtsgrundsätze interpretieren, die auch auf das EWR-Rechteinwirken. Solche Entwicklungen wären für den Staatsgerichtshof eben-falls relevant, wenn er EWR-Recht direkt oder im Zuge von EWR-Rechtsumsetzungen anzuwenden hat.VI. Zusammenfassung: Die Konvergenz desGrundrechtsschutzes in LiechtensteinDie auf Österreich und den VfGH bezogene Feststellung ChristophGrabenwarters, wonach die Berücksichtigung der EMRK und der dazuergangenen Rechtsprechung des EGMR «als konsolidiert gelten kannund in festen Bahnen verläuft»,96 kann auch für Liechtenstein und den66Peter Bussjäger93 Gemäss Art. 6 Abs. 1 EUV werden durch die Bestimmungen der Charta die in denVerträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert. DieseBestimmung findet sich inhaltsgleich in Art. 51 Abs. 2 GRC wieder.94 StGH 2012/157, Erw. 2.95 Vgl. dazu etwa Walter Berka, Grundrechtsschutz durch EuGH und EGMR – Kon-kurrenz oder Kooperation?, ÖJZ 2006, S. 876 ff.; illustrativ auch Theo Öhlinger,Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa: Das Zusammenspiel von EGMR,EuGH und VfGH im Lichte des Verfassungsentwurfs der Europäischen Union, in:Wolfram Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung(2005), S. 123 ff.96 Christoph Grabenwarter, Europäische Grundrechte in der Rechtsprechung des Ver-fassungsgerichtshofes, JRP 2012, S. 299 ff. (S. 304).
StGH Geltung beanspruchen. Wie der österreichische VfGH97 öffnetsich auch der StGH der Rechtsprechung des EGMR und zitiert dessenEntscheidungen. Wo die liechtensteinische Verfassung einen weiterrei-chenden Grundrechtsschutz gewährleistet, bleibt dieser erhalten, imÜbrigen konkretisieren die Bestimmungen der EMRK und ihre Inter-pretation durch den EGMR die in einer anderen Zeitepoche entstande-nen, häufig mit recht offenen Schranken formulierten gleich gerichtetenGrundrechte der liechtensteinischen Verfassung. Auch in Liechtensteinfindet somit statt, was in der Europäischen Union als Konvergenz desGrundrechtsschutzes bezeichnet wird: Eine Harmonisierung desGrundrechtsschutzes, ohne dass dadurch nationale Besonderheiten undErrungenschaften aufgegeben werden müssten.Die weitere Entwicklung wird die Ausstrahlung europäischerGrundrechte auf die nationale Ebene wohl eher noch verstärken. DieOffenheit des Staatsgerichtshofes gegenüber der EMRK und der Recht-sprechung des EGMR sind gute Voraussetzungen dafür, dass das kleineLiechtenstein mit der europäischen Rechtsentwicklung im Grundrechts-bereich Schritt halten kann. Mit seinen vielen wissenschaftlichen Arbei-ten hat im Übrigen gerade auch Herbert Wille dazu wichtige Beiträgegeleistet.67Der Staatsgerichtshof und die Europäische Menschenrechtskonvention97 Grabenwarter, Grundrechte, S. 299.
Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EuropäischenGerichtshofs für Menschen rechte* **Hugo VogtI. Einleitung 1. Allgemeines Seit 1978 ist Liechtenstein Mitglied des Europarates. Die Konventionvom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grund-freiheiten (EMRK) hat es am 8. September 1982 ratifiziert; diese tratnoch am gleichen Tag in Kraft.1 Der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte (EGMR) hat bis Ende 2013 bei fünf Individualbeschwerdennach Art. 34 EMRK gegen das Fürstentum Liechtenstein eine Konven-tionsverletzung festgestellt. Es handelt sich hierbei um die Fälle Willegegen Liechtenstein2, Frommelt gegen Liechtenstein3, Steck-Risch u. a.69* Der Verfasser dankt lic. rer. soc. Manuel Frick, stellvertretender Ständiger Vertreterbeim Europarat, und lic. iur. Hubert Wachter, juristischer Mitarbeiter im Amt fürJustiz, für wertvolle Hinweise bezüglich der Suche von Rechtsprechung und Geset-zesmaterialien zu den Liechtenstein betreffenden Fällen des Europäischen Gerichts-hofs für Menschenrechte (EGMR). Ein weiterer Dank gilt Robin Schädler, Dokto-rand der Menschenrechte, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und wert-volle Anregungen.** Mit Urteil im Fall Wille gegen Liechtenstein hatte der EGMR 1999 erstmals einerIndividualbeschwerde gegen Liechtenstein Folge gegeben. Diese Entscheidung undFolgeentscheidungen sollen zum Anlass genommen werden, zu untersuchen, aufwelche Weise Liechtenstein betreffende, dem Beschwerdeführer stattgebendeUrteile des EGMR innerstaatlich durchgesetzt werden.1 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. Novem-ber 1950, LGBl. 1982, Nr. 60. 2 Wille gegen Liechtenstein, Urteil vom 28. Oktober 1999, Nr. 28396/95, abrufbarunter <www.echr.coe.int>; deutsche Übersetzung abgedruckt in NJW 2001, Heft16, S. 1195 ff., sowie in ÖJZ 2000, S. 647 ff. (= LJZ 2000, S. 105 ff.).3 Frommelt gegen Liechtenstein, Urteil vom 24. Juni 2004, Nr. 49158/99, abrufbarunter <www.echr.coe.int>; deutsche Übersetzung abgedruckt in LES 2005, S. 121 ff.
gegen Liechtenstein4, von Hoffen gegen Liechtenstein5 sowie Schädleru. a. gegen Liechtenstein6. Im Urteil Wille gegen Liechtenstein hat derEGMR eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit nach Art. 10EMRK und einen Verstoss gegen das Recht auf Beschwerde nach Art. 13EMRK festgestellt und damit zum ersten Mal einer Individualbe-schwerde gegen Liechtenstein Folge gegeben.7 Aufgrund dieses Urteilsdes EGMR hat der Gesetzgeber den Begriff der «öffentlichen Gewalt»ins Staatsgerichtshofgesetz vom 27. November 2003 aufgenommen.8 Da -70Hugo Vogt4 Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein,Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00, abruf-bar unter <www.echr.coe.int>; deutsche Übersetzung abgedruckt in LES 2006,S. 53 ff.5 Von Hoffen gegen Liechtenstein, Urteil vom 27. Juli 2006, Nr. 5010/04, abrufbarunter <www.echr.coe.int/echr>; deutsche Übersetzung abgedruckt in LES 2007,S. 61 ff.6 Schädler u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 21. Oktober 2010, Nr. 32763/08,abrufbar unter <www.echr.coe.int/echr>; deutsche Übersetzung abgedruckt in LES2011, S. 97 ff.7 Wille gegen Liechtenstein, Urteil vom 28. Oktober 1999, Nr. 28396/95, abrufbarunter <www.echr.coe.int>; deutsche Übersetzung abgedruckt in NJW 2001, Heft16, S. 1195 ff., sowie in ÖJZ 2000, S. 647 ff. (= LJZ 2000, S. 105 ff.).8 Vgl. Gesetz vom 27. November 2003 über den Staatsgerichtshof (StGHG), LGBl.2004, Nr. 32. Art. 15 Abs. 1 StGHG lautet: «Der Staatsgerichtshof entscheidet überBeschwerden, soweit der Beschwerdeführer behauptet, durch eine enderledigendeletztinstanzliche Entscheidung oder Verfügung der öffentlichen Gewalt in einemseiner verfassungsmässig gewährleisteten Rechte oder in einem seiner durch inter-nationale Übereinkommen garantierten Rechte, für die der Gesetzgeber ein Indivi-dualbeschwerderecht ausdrücklich anerkannt hat, verletzt zu sein.» Demgegenüberkonnten nach dem Gesetz vom 5. November 1925 über den Staatsgerichtshof,LGBl. 1925, Nr. 8, Individualbeschwerden lediglich gegen letztinstanzliche Ent-scheidungen oder Verfügungen eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde erho-ben werden. Art. 23 Abs. 1 des Gesetzes vom 5. November 1925 über den Staatsge-richtshof lautete: «Wegen Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte durcheine Entscheidung oder Verfügung, durch ein Gericht oder eine Verwaltungsbe-hörde, sei es infolge unrichtiger Anwendung eines Gesetzes oder einer Verordnungoder infolge von Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder einer Verordnung, oderGesetzeswidrigkeit einer Verordnung, kann beim Staatsgerichtshof nach Erschöp-fung des Instanzenzuges innerhalb vierzehn Tagen nach Zustellung der Entschei-dung oder Verfügung Beschwerde erhoben werden.» (Vgl. dazu auch BuA, 45/2003,S. 9 f. und S. 39 f.). Daher existierte im Jahre 1997 für Herbert Wille keine inner-staatliche Beschwerdemöglichkeit gegen die Entscheidung des Fürsten, ihn nichtzum Präsidenten der Verwaltungsbeschwerdeinstanz zu ernennen (vgl. dazu Willegegen Liechtenstein, Urteil vom 28. Oktober 1999, Nr. 28396/95, Ziff. 72 ff., abge-druckt in NJW 2001, Heft 16, S. 1198 f.).
durch besteht seither eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit gegensämtliche Hoheitsakte, somit gegen hoheitliche Akte der Gerichte undVerwaltungsbehörden, aber auch gegen solche des Landesfürsten unddes Landtages, insoweit diese Hoheitsakte unmittelbar gegen verfas-sungsmässig gewährleistete Rechte einzelner Personen verstossen.9Zunächst sollen die vorstehend genannten fünf Urteile des EGMR kurzdargestellt werden. 2. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen das Fürstentum Liechtenstein a) Wille gegen LiechtensteinDer Beschwerdeführer hielt im Jahre 1995 einen Vortrag im Liechten-stein-Institut mit dem Thema «Wesen und Aufgaben des Staatsgerichts-hofes». Er vertrat dabei die Ansicht, dem Staatsgerichtshof komme beieinem Auslegungsstreit zwischen Fürst (Regierung) und Landtag dieKompetenz zu, über die Auslegung der Verfassung zu entscheiden. Inder Folge teilte der Fürst dem Beschwerdeführer mit einem Brief vom27. Februar 1995 mit, dass dessen Aussagen eindeutig gegen die Verfas-sung verstossen würden und er diesen nicht mehr für ein öffentlichesAmt ernennen werde. Als der Landtag den Beschwerdeführer nachAblauf der Amtszeit im Frühjahr 1997 dem Fürsten wiederum für eineweitere Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz vor-71Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR9 Vgl. BuA, 45/2003, S. 12 und S. 39 f. Vgl. auch StGH 2005/97, Entscheidung vom1. September 2006, Erw. 1.1, abrufbar unter <www.stgh.li>; siehe auch Wille T.,S. 73. Siehe hierzu auch den Anhang zur Resolution ResDH(2004)84 des Minister-komitees des Europarates vom 22. Dezember 2004, abrufbar unter <wcd.coe. in t/ViewDoc.jsp?id=806725&Site=COE#P1282_124547>. Die Individualbeschwerdenach Art. 15 Abs. 1 StGHG dient der Prüfung von hoheitlichen Individualakten,«die einen unmittelbaren Eingriff in die Grundrechte des betreffenden Beschwerde-führers darstellen» (BuA, 45/2003, S. 40). Nicht vor dem Staatsgerichtshof ange-fochten werden können hingegen «die verschiedenen insbesondere in der Verfas-sung vorgesehenen Interorganakte bzw. Hoheitsakte, die nicht gegen den Einzelnengerichtet sind (sogenannte Regierungsakte oder gerichtsfreie Hoheitsakte), wiebspw. Ernennungen, Gesetzesinitiativen des Landtags oder der Regierung, Miss-trauensvotum, Landtagsauflösung, diverse Landtagsbeschlüsse usw.» (BuA,45/2003, S. 40 f.).
schlug, lehnte der Fürst die neuerliche Ernennung des Beschwerdefüh-rers zum Präsidenten der Verwaltungsbeschwerdeinstanz ab.10Der EGMR hält dazu fest, beim Beschwerdeführer habe es sich zuder Zeit, als er den fraglichen Vortrag hielt, um einen hochrangigenRichter gehandelt. Daher könne vom Beschwerdeführer Zurückhaltungbei der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung erwartet wer-den, um die Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung nichtinfrage zu stellen. Dies würde dem Beschwerdeführer aber nicht verbie-ten, sich zu kontroversen akademischen Fragen, die zugleich eine politi-sche Dimension hätten, zu äussern. Die Ansichten des Beschwerdefüh-rers seien überdies nicht unhaltbar gewesen, würden diese doch von vie-len Personen in Liechtenstein geteilt. Darüber hinaus habe sich derBeschwerdeführer weder über laufende Verfahren geäussert, noch Per-sonen oder öffentliche Institutionen kritisiert, noch hohe Amtsträgeroder den Fürsten beleidigt. Der Eingriff (Brief des Fürsten vom 27. Feb-ruar 1995) sei daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwen-dig gewesen und verletze Art. 10 EMRK.11Der EGMR stellt darüber hinaus fest, es sei auch Art. 13 EMRKverletzt. So habe die Beschwerde Handlungen des Fürsten zum Gegen-stand gehabt, und es sei der Regierung nicht gelungen nachzuweisen,dass es in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs seit 1925 schoneinen Fall gegeben hätte, in dem eine Beschwerde gegen den Fürsten zurEntscheidung zugelassen worden sei. Die Regierung habe daher auchnicht belegen können, dass schon einmal eine Beschwerde an den Staats-gerichtshof wirksam gewesen sei.1272Hugo Vogt10 Zum Sachverhalt siehe Wille gegen Liechtenstein, Urteil vom 28. Oktober 1999, Nr.28396/95, abgedruckt in NJW 2001, Heft 16, S. 1195. Die Entscheidung ist aus-zugsweise auch abrufbar auf der Homepage des Österreichischen Instituts für Men-schenrechte unter <www.menschenrechte.ac.at/docs/99_6/99_6_04>.11 Wille gegen Liechtenstein, Urteil vom 28. Oktober 1999, Nr. 28396/95, abgedrucktin NJW 2001, Heft 16, S. 1195 ff. (1198), auszugsweise auch abrufbar auf der Home-page des Österreichischen Instituts für Menschenrechte unter <www.menschenrechte.ac.at/docs/99_6/99_6_04>.12 Wille gegen Liechtenstein, Urteil vom 28. Oktober 1999, Nr. 28396/95, abgedrucktin NJW 2001, Heft 16, S. 1195 ff. (1198), auszugsweise auch abrufbar auf der Home-page des Österreichischen Instituts für Menschenrechte unter <www.menschen r echte.ac.at/docs/99_6/99_6_04>.
b) Frommelt gegen Liechtenstein Hintergrund der Rechtssache Frommelt gegen Liechtenstein warenErmittlungen in einem Wirtschaftsstrafverfahren. Die Staatsanwaltschafthatte beantragt, die gegen den Beschwerdeführer bereits bestehendeUntersuchungshaft wegen der Komplexität des Falls bis auf ein Jahr zuverlängern. Der Untersuchungsrichter unterstützte diesen Antrag derStaatsanwaltschaft. Dem Beschwerdeführer wurde keine Gelegenheitgegeben, dazu eine Stellungnahme abzugeben, und in der Folge ordnetedas Obergericht in nichtöffentlicher Sitzung die Verlängerung derUntersuchungshaft des Beschwerdeführers an.13Der EGMR stellt eine Verletzung des Art. 5 EMRK fest und führtdazu aus, das Obergericht habe die Frage der Verlängerung der Unter-suchungshaft in nichtöffentlicher Sitzung und in Abwesenheit desBeschwerdeführers geprüft, wogegen die Rechtsprechung des EGMRverlange, dass bei der Prüfung der Rechtmässigkeit der Untersuchungs-haft eine Anhörung stattzufinden habe. Darüber hinaus sei es im vorlie-genden Fall um eine beträchtliche Dauer der Haftverlängerung desBeschwerdeführers, nämlich um ein halbes Jahr, gegangen. Es sei zu ent-scheiden gewesen, ob die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Wieder-holungsgefahr fortbestanden hätten, und seit der letzten Haftprüfungs-verhandlung seien überdies zwei Monate vergangen gewesen. Die Tatsa-che, dass das Obergericht keine Anhörung durchgeführt habe, erscheineumso gravierender, da dem Beschwerdeführer keine Gelegenheit zurStellungnahme zu den Anträgen des Untersuchungsrichters und desStaatsanwalts betreffend die Verlängerung der Maximaldauer seiner Hafteingeräumt worden sei. Daher habe das Verfahren beim Obergericht dasRecht auf Waffengleichheit der Parteien verletzt. Da auch der ObersteGerichtshof in der Folge keine mündliche Anhörung des Beschwerde-führers durchgeführt habe, seien die Verfahrensfehler nicht geheilt wor-den.1473Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR13 Zum Sachverhalt siehe Frommelt gegen Liechtenstein, Urteil vom 24. Juni 2004, Nr.49158/99, abgedruckt in LES 2005, S. 121 ff.14 Frommelt gegen Liechtenstein, Urteil vom 24. Juni 2004, Nr. 49158/99, abgedrucktin LES 2005, S. 121 ff. (123 f.).
c) Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein Die Entscheidung Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein betraf einen vonder Gemeinde Schellenberg erlassenen Beschluss über die Festsetzungdes Zonenplans, der Grundstücke der Beschwerdeführer als Nichtbau-land auswies. Bis zu jenem Zeitpunkt waren die fraglichen Grundstückenoch in keinem Zonenplan erfasst gewesen. Im anschliessenden verwal-tungsgerichtlichen Verfahren brachte die Gemeinde Schellenberg alsBeschwerdegegnerin vor der Verwaltungsbeschwerdeinstanz eineGegenäusserung ein, in der sie unter anderem die Behauptung derBeschwerdeführer bestritt, die benachbarten Grundstücke seien imZonenplan als Bauland ausgewiesen worden. Diese Stellungnahme derGemeinde wurde den Beschwerdeführern nicht zugestellt.15Der EGMR stellt hierzu fest, das Recht auf ein faires Verfahren desArt. 6 Abs. 1 EMRK setze zwingend voraus, dass den Beschwerdefüh-rern die Gelegenheit geboten werde, von der Stellungnahme der Gegen-partei, im gegenständlichen Fall also von der Stellungnahme derGemeinde Schellenberg, Kenntnis zu erlangen und sich zu dieser äussernzu können. Da den Beschwerdeführern diese Möglichkeit nicht einge-räumt worden sei, seien diese in ihrem Anspruch auf ein faires Verfahrennach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden.16d) Von Hoffen gegen LiechtensteinGegen den Beschwerdeführer waren im Jahre 1994 wegen Anlagebe-trugsvorwürfen zwei strafrechtliche Untersuchungsverfahren eröffnetworden. Im Strafverfahren verurteilte das Landgericht den Beschwerde-führer wegen zweifachen schweren Betruges zu einer fünfjährigen Frei-heitsstrafe. Das Obergericht erhöhte das Strafmass auf neun Jahre, derOberste Gerichtshof reduzierte das Strafmass in letzter Instanz auf achtJahre. Die dagegen erhobene Individualbeschwerde des Beschwerdefüh-rers blieb ohne Erfolg. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs wurdedem Beschwerdeführer schliesslich am 5. März 2004 zugestellt.1774Hugo Vogt15 Zum Sachverhalt siehe Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai2005, Nr. 63151/00, abgedruckt in LES 2006, S. 53 ff.16 Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00, abge-druckt in LES 2006, S. 53 ff (57 f.).17 Zum Sachverhalt siehe von Hoffen gegen Liechtenstein, Urteil vom 27. Juli 2006,Nr. 5010/04, abgedruckt in LES 2007, S. 61 ff.
Der EGMR führt aus, dass das Strafverfahren gegen den Beschwer-deführer angefangen habe, als die Voruntersuchung bezüglich des Sach-verhalts eingeleitet worden sei, welcher schliesslich zur rechtskräftigenVerurteilung des Beschwerdeführers im gegenständlichen Verfahrengeführt habe. Die Voruntersuchung sei am 4. Mai 1994 eröffnet worden,und das Verfahren habe schliesslich geendet, als dem Beschwerdeführerdas Urteil des Staatsgerichtshofs zugestellt worden sei, mithin am 5. März 2004. Die Gesamtdauer des Verfahrens mit neun Jahren undzehn Monaten aufgrund Verzögerungen während der Voruntersuchungmüsse als übermässig lang bezeichnet werden und habe gegen das Rechtdes Beschwerdeführers auf ein Verfahren innert angemessener Frist ver-stossen.18e) Schädler u. a. gegen LiechtensteinDie Bevölkerung der Gemeinde Triesenberg hatte im Februar 2000 einenZonenplan durch ein Referendum angenommen. Nach diesem fiel dergrössere Teil eines Grundstücks, das im Miteigentum der Beschwerde-führer steht, nicht in die Bauzone. Die Beschwerdeführer bestritten dieRechtmässigkeit des Zonenplans sowie des Verfahrens, mit dem diesergenehmigt worden war, und versuchten, durch alle innerstaatlichenInstanzen zu erreichen, dass das betreffende Grundstück vollständig alsBauland ausgewiesen werde.19Der EGMR stellt zunächst fest, dass das gegenständliche Verfahrenvor der Gemeinde Triesenberg, der liechtensteinischen Regierung undder Verwaltungsbeschwerdeinstanz ohne unzulässige Verzögerungdurchgeführt worden sei. Dagegen habe es vor dem Staatsgerichtshofüber vier Jahre und vier Monate gedauert. Der EGMR attestiert demStaatsgerichtshof, dass das Verfahren komplex gewesen sei und dass dieanwaltlich vertretenen Beschwerdeführer durch die Einreichungumfangreicher Stellungnahmen und Anträge selbst für einige Verfah-rensverzögerungen verantwortlich seien. Diese umfangreichen Stellung-nahmen und Anträge hätten es im Interesse der Rechtspflege notwendig75Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR18 Siehe von Hoffen gegen Liechtenstein, Urteil vom 27. Juli 2006, Nr. 5010/04, abge-druckt in LES 2007, S. 61 ff. (63 ff.).19 Zum Sachverhalt siehe Schädler u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 21. Oktober2010, Nr. 32763/08, abgedruckt unter LES 2011, S. 97 ff.
gemacht, die Beratungen vor dem Staatsgerichtshof zweimal zu verta-gen. Trotz alldem sei die lange Gesamtdauer des Verfahrens vor demStaatsgerichtshof nicht zu rechtfertigen. So seien nach der öffentlichenVerhandlung des Staatsgerichtshofs über ein Jahr und sieben Monate biszur schriftlichen Urteilszustellung vergangen. Im Ergebnis habe das Ver-fahren im gegenständlichen Fall unverhältnismässig lange gedauert unddie Beschwerdeführer in ihrem von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiertenRecht auf ein Verfahren innert angemessener Frist verletzt.203. Folgen der das Fürstentum Liechtenstein betreffenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte In der Rechtssache Wille gegen Liechtenstein erkannte der EGMR aufeine Verletzung der Freiheit der Meinungsäusserung nach Art. 10EMRK. Der EGMR sprach dem Beschwerdeführer eine Entschädigungnach Art. 41 EMRK als Ersatz für den immateriellen Schaden in Höhevon CHF 10 000 zu und gewährte ihm den Ersatz von Kosten und Aus-lagen. Aufgrund dieses Urteils des EGMR hat der Gesetzgeber in derFolge, wie bereits ausgeführt, den Begriff der «öffentlichen Gewalt» insStaatsgerichtshofgesetz vom 27. November 2003 aufgenommen, sodassseither eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit gegen sämtlicheHoheitsakte besteht, wenn diese unmittelbar verfassungsmässig gewähr-leistete Rechte einzelner Personen verletzen.21 Auffällig ist, dass dieserFall aber darüber hinaus keine weitergehenden Folgen zeitigte. Die Ent-scheidung des EGMR führte insbesondere nicht dazu, dass die konven-tionswidrige Entscheidung, die Weigerung des Fürsten, den Beschwer-deführer neuerlich zum Präsidenten der Verwaltungsbeschwerdeinstanzzu ernennen, korrigiert worden wäre.22 In Frommelt gegen Liechtenstein76Hugo Vogt20 Schädler u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 21. Oktober 2010, Nr. 32763/08,abgedruckt unter LES 2011, S. 97 ff. (100 f.).21 Vgl. dazu Fussnote 9.22 Siehe dazu auch Kley, Landesbericht Liechtenstein, S. 55. Andreas Kley führt dortaus, der Fürst müsste seine EMRK-widrige Entscheidung zurücknehmen, und aufdem Wege der Verfassungsänderung müsste eine Wiederholung einer solchen Kon-stellation [das Fehlen einer innerstaatlichen Beschwerdemöglichkeit gegen individu-ell konkrete Akte des Fürsten] verhindert werden. Letzteres ist inzwischen gesche-
hat der EGMR eine Verletzung der persönlichen Freiheit des Beschwer-deführers festgestellt, weil der Beschwerdeführer vom Obergericht vorder Verlängerung der Untersuchungshaft auf ein Jahr nicht angehörtworden sei. Dies führte dazu, dass das Obergericht die einschlägigenBestimmungen der Strafprozessordnung im Anschluss an dieses UrteilEMRK-konform auslegte, wonach ein Verfahrensbetroffener nunmehr77Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMRhen, indem der Begriff der öffentlichen Gewalt ins Staatsgerichtshofgesetz vom 27.November 2003 aufgenommen wurde. Siehe hierzu auch die ResolutionResDH(2004)84 des Ministerkomitees des Europarates vom 22. Dezember 2004,abrufbar unter <wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=806725&Site=COE#P1282_124547>.Das Ministerkomitee des Europarates scheint dort davon auszugehen, dass die vonder liechtensteinischen Regierung ergriffenen Massnahmen, nämlich die Gesetzes-revision zur Verhinderung gleichartiger Konventionsverletzungen und die Bezah-lung einer Entschädigung nach Art. 41 EMRK, als ausreichend anzusehen sind.Allerdings hat das Ministerkomitee des Europarates im Gegensatz zu den weiterenLiechtenstein betreffenden Fällen (Frommelt gegen Liechtenstein, Steck-Risch u. a.gegen Liechtenstein, von Hoffen gegen Liechtenstein sowie Schädler u. a. gegenLiechtenstein) nicht ausdrücklich ausgesprochen, dass das Verfahren zur Überwa-chung des Vollzuges dieses Urteils abgeschlossen sei. Zu erwähnen ist in diesemZusammenhang auch die Rechtssache Paksas gegen Litauen (Urteil vom 6. Januar2011, Nr. 34932/04, abrufbar unter <www.echr.coe.int>; deutsche Übersetzungauch abrufbar unter <www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20110106_AUSL000_000BSW34932_0400000_000/JJT_20110106_AUSL000_000BSW34932_0400000_000.pdf>).Dort hat der EGMR ebenfalls lediglich eine Entschädigung in Geldzugesprochen und von der betroffenen Regierung nicht verlangt, dass sie weitereMassnahmen ergreift. Der Hintergrund war der Folgende: Der BeschwerdeführerRolandas Paksas, vormaliger Präsident der Republik Litauen, war wegen Miss-brauch der Amtsstellung im Zusammenhang mit der Verleihung der litauischenStaatsbürgerschaft an einen russischen Geschäftsmann des Amtes enthoben worden.Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wurde mangels Beweisen eingestellt. Daslitauische Parlament, der Seimas, beschloss in der Folge eine Gesetzesänderung,wonach Personen, die ihres Amtes enthoben worden waren, dauerhaft und unabän-derlich von der Mitgliedschaft im Parlament ausgeschlossen wurden. Der EGMRprüfte diese Regelung und kommt zum Ergebnis, dass der dauerhafte und unabän-derliche Ausschluss von der Möglichkeit bei Parlamentswahlen zu kandidieren,nicht verhältnismässig sei und gegen Art. 3, 1. Zusatzprotokoll zur EMRK ver-stosse. Der EGMR spricht in diesem Urteil zugleich aus, die Feststellung der Kon-ventionsverletzung stelle schon eine ausreichende Entschädigung für den erlittenenimmateriellen Schaden des Beschwerdeführers dar. Demgegenüber scheint diesesErgebnis, wonach die Feststellung der Konventionsverletzung und der Zusprucheiner Entschädigung als ausreichend anzusehen sind, im Lichte der neueren Judika-tur des EGMR nicht als zwingend. So hatte der EGMR in der Rechtssache Volkovgegen Ukraine die Rechtmässigkeit der Entlassung eines Richters des OberstenGerichtshofes wegen angeblicher schwerwiegender disziplinarrechtlicher Verfeh-
anzuhören war, wenn über eine Haftverlängerung zu entscheiden war.23In weiterer Folge hat der Gesetzgeber die Regelungen zur Untersu-chungshaft der Strafprozessordnung grundlegend novelliert und diemündliche sowie die kontradiktorische Haftverhandlung ins Gesetz auf-genommen.24Abgesehen von diesen beiden Fällen hat der EGMR in Bezug aufLiechtenstein bisher ausschliesslich Verstösse gegen Verfahrensgarantienfestgestellt. In Steck-Risch gegen Liechtenstein erkannte der EGMR aufeine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, da den Beschwer-deführern eine Stellungnahme der Gegenpartei nicht zugestellt wordenwar. Der Staatsgerichtshof fordert in seiner jüngeren Rechtsprechungnunmehr, dass den Verfahrensbetroffenen jede neue Urkunde und jedeneue Stellungnahme, die vor der jeweiligen Entscheidung von derBehörde zu den Akten genommen wird, auch zur Äusserung vorgelegt78Hugo Vogtlungen zu untersuchen. Der EGMR stellt eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRKsowie des Art. 8 EMRK fest und spricht aus, dass der Beschwerdeführer schnellst-möglich wieder als Richter einzusetzen sei. Es heisst in der genannten Entschei-dung: «Having said that, the Court cannot accept that the applicant should be left ina state of uncertainty as regards the way in which his rights should be restored. TheCourt considers that by its very nature, the situation found to exist in the instantcase does not leave any real choice as to the individual measures required to remedythe violations of the applicant’s Convention rights. Having regard to the very excep-tional circumstances of the case and the urgent need to put an end to the violationsof Articles 6 and 8 of the Convention, the Court holds that the respondent State shallsecure the applicant’s reinstatement in the post of judge of the Supreme Court at theearliest possible date.» (Volkov gegen Ukraine, Urteil vom 9. Januar 2013, Nr.21722/11, abrufbar unter <www.echr.coe.int>, Ziff. 208. Die deutsche Übersetzungdieser Entscheidung ist auch abrufbar auf der Homepage des ÖsterreichischenInstituts für Menschenrechte unter <www.menschenrechte.ac.at/fileadmin/Dokumente/NLMR_2013-01_Probe.pdf>. Ferner findet sich die Entscheidung auszugs-weise und mit Kommentierung auch auf der Homepage des Hugo Sinzheimer Insti-tuts für Arbeitsrecht unter <www.hugo-sinzheimer-institut.de/?id=1234)>.23 Siehe dazu die Ausführungen im Anhang zur Resolution CM/ResDH(2007)55 desMinisterkomitees vom 20. April 2007, abrufbar unter <wcd.coe.int/View Doc.jsp?id=1121643&Site=COE#P3527_21759>.24 Vgl. LGBl. 2007, Nr. 292. Siehe dazu auch BuA, 49/2007, S. 43, wo es heisst: «DerCharakter der Haftverhandlung mit der verpflichtenden Anhörung des Beschuldig-ten kann auch als Umsetzung des Urteils des EGMR im Fall Frommelt gg. [gegen]Liechtenstein verstanden werden, wonach die fehlende Anhörung des Untersu-chungsgefangenen in einer Verhandlung zur Überprüfung der Untersuchungshafteine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK darstellt.»
wird.25 Der EGMR hat in zwei weiteren Fällen – von Hoffen gegenLiechtenstein und Schädler u. a. gegen Liechtenstein – eine Verletzungdes Rechts auf ein Verfahren innert angemessener Frist festgestellt. DieseEntscheidungen erforderten keine weitergehenden Massnahmen iminnerstaatlichen Recht. Das Ministerkomitee des Europarates hat dennauch jeweils umgehend den korrekten Vollzug dieser beiden Urteile ineiner Resolution festgestellt.26II. Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte1. Formelle und materielle RechtskraftNach Art. 34 EMRK kann der EGMR u. a. von jeder natürlichen Personmit einer Beschwerde angerufen werden, wenn die Person behauptet,durch eine der Vertragsparteien in einem von der EMRK oder einemZusatzprotokoll zur EMRK anerkannten Recht verletzt zu sein.27 DerEGMR entscheidet mit Urteil über die (inhaltliche) Begründetheit einerIndividualbeschwerde nach Art. 34 EMRK. Die Urteile des EGMR wer-den gemäss Art. 42 EMRK i. V. m. Art. 44 EMRK endgültig, mit ande-79Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR25 Vgl. etwa StGH 2010/40, Urteil vom 20. September 2010, Erw. 2.2, abrufbar unter<www.gerichtsentscheidungen.li>. Vgl. hierzu auch Wille T., S. 349; siehe auchVogt, Hugo, Anspruch auf rechtliches Gehör, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender(Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS 52, Schaan 2012, S. 565 ff. (571 f.).Zu Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein siehe die Resolution ResDH(2006)73, desMinisterkomitees des Europarates vom 20. Dezember 2006, abrufbar unter<wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1079767&Site=&BackColorInternet=B9BDEE&BackColorIntranet=FFCD4F&BackColorLogged=FFC679#P509_31520>.26 Vgl. für von Hoffen gegen Liechtenstein die Resolution CM/ResDH(2008)54 desMinisterkomitees vom 25. Juni 2008, abrufbar unter <wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1313897&Site=CM#P2043_112919>. Siehe für Schädler u. a. gegen Liechten-stein die Resolution CM/ResDH(2011)125 des Ministerkomitees des Europaratesvom 14. September 2011, abrufbar unter <wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id= 1832325&Site =CM#P3970_240926>. Vgl. dazu aber auch Fussnote 75.27 Neben natürlichen Personen sind auch nicht staatliche Organisationen und Perso-nengruppen legitimiert, eine Individualbeschwerde an den EGMR zu erheben.
ren Worten gesagt, formell rechtskräftig.28 Diese Urteile sind damit nichtmehr anfechtbar, sodass ein Weiterzug an eine höhere Instanz ausge-schlossen ist.29Die Urteile des EGMR erwachsen auch in materielle Rechtskraft.So verpflichtet Art. 46 Abs. 1 EMRK die Vertragsparteien in allenRechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des EGMRzu befolgen.30 Diese Befolgungspflicht (die materielle Rechtskraft) giltfür die Parteien des Verfahrens («Wirkung inter partes»).31 Das heisst,ein Urteil des EGMR bindet nur den bzw. die Beschwerdeführer undden am Verfahren beteiligten Vertragsstaat. Für die weiteren an einemVerfahren nicht beteiligten Vertragsstaaten entfaltet ein Urteil desEGMR dagegen keine materielle Rechtskraft, sondern hat lediglich eine«Orientierungswirkung».32Die materielle Rechtskraft ist zudem in sachlicher Hinsicht auf denBeschwerdegenstand begrenzt. So erstreckt sich die Bindungswirkung80Hugo Vogt28 Vgl. Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, S. 1719 f., Rz. 37; Cremer,Bindungswirkung, S. 690; Meyer-Ladewig, S. 385, Rz. 1 und S. 393, Rz. 13; Gra-benwarter/Pabel, EMRK, S. 102, Rz. 2. Siehe auch StGH 2006/111, Urteil vom 3.Juli 2007, Erw. 4.1, S. 39 f., abrufbar unter <www.stgh.li>. 29 Vgl. Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, S. 1719 f., Rz. 37; Cremer,Bindungswirkung, S. 690; Meyer-Ladewig, S. 385, Rz. 1 und S. 393, Rz. 13; Gra-benwarter/Pabel, EMRK, S. 102, Rz. 2.30 Vgl. Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, S. 1726 f., Rz. 56 ff.; Gra-benwarter/Pabel, EMRK, S. 102, Rz. 2; Meyer-Ladewig, S. 393 f., Rz. 13 ff. Hans-Joachim Cremer hält dazu fest, die Pflicht eines Vertragsstaates, ein Urteil desEGMR befolgen zu müssen, könnte anstatt als Rechtskraftwirkung eines Urteils desEGMR auch einfach als Vertragspflicht aufgefasst werden. Vgl. Cremer, Entschei-dung und Entscheidungswirkung, S. 1727, Rz. 57.31 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 102 f. Rz. 2 f.; Ress, S. 350; Cremer, Entschei-dung und Entscheidungswirkung, S. 1726 ff. Rz. 56 f. 32 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 106, Rz. 8. Die Orientierungswirkung oder«Präjudizwirkung» [Luzius Wildhaber, Erfahrungen mit der Europäischen Men-schenrechtskonvention, ZSR 1979, S. 229 ff. (355), zitiert nach Grabenwarter/Pabel,EMRK, S. 106, Rz. 8] liegt darin, dass die in einem Verfahren nicht beteiligten Ver-tragsstaaten in Gesetzgebung und Rechtsprechung die Urteile des EGMR berück-sichtigen. Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 106, Rz. 8. Eingehend zur Wirkungder Urteile des EGMR für die an einem Verfahren nicht beteiligten Vertragsstaatensiehe Frank Czerner, Inter partes-versus erga omnes-Wirkung der EGMR-Judikatein den Konventionsstaaten gemäss Art. 46 EMRK. Eine Problemanalyse auch ausstrafverfahrensrechtlicher Perspektive, Archiv des Völkerrechts (AVR), Band 46,2008, S. 345 ff.
eines Urteils des EGMR nur auf den gerügten Konventionsverstoss,über den mit Urteil abgesprochen worden ist.33 Schliesslich sind die zeit-lichen Grenzen der materiellen Rechtskraft zu beachten. Das heisst,wenn sich der Sachverhalt gegenüber der vom Beschwerdeführer ange-fochtenen innerstaatlichen Entscheidung bis zum Zeitpunkt des Urteilsdes EGMR wesentlich geändert hat, «ist das Urteil des EGMR nichtmehr ohne Weiteres bindend».34 Das nationale Gericht oder die natio-nale Behörde hat in diesem Fall zu prüfen, «worin der Konventionsver-stoss nach dem Urteil gelegen hat, und inwieweit eine geänderte Tatsa-chenbasis eine Anwendung des Urteils nicht oder nur in modifizierterForm erlaubt».352. Beendigungspflicht und Wiedergutmachungspflicht bei einer Konventionsverletzung Die Befolgungspflicht des Art. 46 EMRK bedeutet zunächst, dass seitensdes verurteilten Staates nicht behauptet werden kann, das Verfahren,wegen dem eine Verurteilung durch den EGMR erfolgte, sei in Überein-stimmung mit der Konvention abgelaufen.36 Dies gilt sowohl auf völ-kerrechtlicher Ebene als auch für den Bereich des innerstaatlichen81Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR33 Vgl. Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, S. 1727, Rz. 58; Meyer-Ladewig, S. 395, Rz. 20. Siehe dazu auch Rohleder, S. 40 ff.34 Meyer-Ladewig, S. 395, Rz. 21. Siehe dazu auch Rohleder, S. 42 ff.35 Meyer-Ladewig, S. 395, Rz. 21. Vgl. auch Cremer, Entscheidung und Entschei-dungswirkung, S. 1727 f. Rz. 58; Frowein, S. 603, Rz. 3. Im Urteil Görgülü gegenDeutschland hat der EGMR wegen der Verweigerung des Sorge- und Umgangs-rechts des Kindsvaters mit seinem Kind eine Verletzung des Art. 8 EMRK festge-stellt und ausgesprochen, dass dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mitseinem Kind ermöglicht werden müsse (vgl. dazu Görgülü gegen Deutschland,Urteil vom 26. Februar 2004, Nr. 74969/01, Ziff. 64, abrufbar unter <www.echr.coe.int>.) Es ist allerdings zu bedenken, dass sich das Urteil des EGMR nur auf dieTatsachen zum Zeitpunkt der letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheidungbeziehen konnte. Sollte in der Zwischenzeit die Entscheidungsgrundlage geänderthaben, so zum Beispiel, weil der Beschwerdeführer straffällig geworden ist, hätteder EGMR diese neue Tatsache nicht berücksichtigen können, und die Entschei-dung des EGMR wäre modifiziert umzusetzen gewesen. Vgl. dazu Frowein, S. 605,Rz. 10. 36 Vgl. Haidenhofer, S. 804. Siehe auch StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw.4.1, S. 40, abrufbar unter <www.stgh.li>.
Rechts. Daher dürfen auch Verwaltungsbehörden und Gerichte im Rah-men der Vollziehung nicht die Ansicht vertreten, die vom EGMR fest-gestellte Konventionsverletzung liege nicht vor.37 Stellt der EGMR einenVerstoss gegen die EMRK fest, hat der betroffene Vertragsstaat daher diePflicht, die Konventionsverletzung zu beenden.38 Das heisst, der verur-teilte Staat hat «alle notwendigen generellen und/oder individuellenMassnahmen zu ergreifen, um die Verletzung schnellstmöglich zu been-den».39 Der betroffene Vertragsstaat hat zudem darauf hinzuwirken, dassin Zukunft gleichartige Konventionsverletzungen unterbleiben.40 Ist dieKonventionsverletzung durch die Anwendung eines innerstaatlichenGesetzes erfolgt, so hat der Vertragsstaat das nationale Recht zu82Hugo Vogt37 Vgl. Haidenhofer, S. 804, mit Hinweis auf die österreichische Rechtsprechung. Sieheauch Polakiewicz, S. 227 ff.; Okresek, Rz. 13. Zurückhaltend Hass, S. 72 ff., die aus-führt, dass durch ein Urteil des EGMR in erster Linie der verurteilte Vertragsstaatverpflichtet werde und eine weitergehende Bindungswirkung der Urteile nur völ-kerrechtlich begründet werden könne.38 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 103, Rz. 3; Meyer-Ladewig, S. 396, Rz. 25.Eingehend zur Beendigungspflicht siehe Rohleder, S. 66 ff.39 Haidenhofer, S. 805. Hinsichtlich genereller Massnahmen siehe die Piloturteile: Bro-niowski gegen Polen, Urteil vom 22. Juni 2004, Nr. 31443/96, abrufbar unter<www.echr.coe.int>; sowie Hutten-Czapska gegen Polen, Urteil vom 19. Juni 2006,Nr. 35014/97, abrufbar unter <www.echr.coe.int>. Zur Beendigungspflicht sieheAssanidse gegen Georgien, Urteil vom 8. April 2004, Nr. 71503/01, abrufbar unter<www.echr.coe.int/echr>, Ziff. 202 f. Der EGMR hat dort festgestellt: «As regardsthe measures which the Georgian State must take [. . .], subject to supervision by theCommittee of Ministers, in order to put an end to the violation that has been found,the Court reiterates that its judgments are essentially declaratory in nature and that,in general, it is primarily for the State concerned to choose the means to be used inits domestic legal order in order to discharge its legal obligation under Article 46 ofthe Convention, provided that such means are compatible with the conclusions setout in the Court’s judgment [. . .]. This discretion as to the manner of execution of ajudgment reflects the freedom of choice attached to the primary obligation of theContracting States under the Convention to secure the rights and freedoms guaran-teed (Article 1) [. . .]. However, by its very nature, the violation found in the instantcase does not leave any real choice as to the measures required to remedy it. [. . .]. Inthese conditions, having regard to the particular circumstances of the case and theurgent need to put an end to the violation of Article 5 § 1 and Article 6 § 1 of theConvention [. . .], the Court considers that the respondent State must secure the appli-cant’s release at the earliest possible date.» Die Entscheidung ist auszugsweise indeutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 2004, 268 ff. (275). Vgl. hierzu auchGrabenwarter/Pabel, EMRK, S. 105 f., Rz. 7; siehe auch Pietrowicz, S. 52 f.40 Vgl. Haidenhofer, S. 805.
ändern.41 Dies ist dann notwendig, wenn eine EMRK-konforme Ausle-gung eines Gesetzes ausscheidet. So hat etwa das Urteil des EGMR inFrommelt gegen Liechtenstein zunächst dazu geführt, dass das Oberge-richt in der Folge die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessord-nung EMRK-konform auslegte.42 Liegt ein konventionswidrigerZustand wegen der Untätigkeit des Gesetzgebers vor, hat dieser diePflicht, Regelungen zu erlassen, die den konventionswidrigen Zustandbeenden.43 Dies trifft auf Wille gegen Liechtenstein zu, wo das Urteil desEGMR eine solche Rechtsänderung notwendig machte. Daher hat derGesetzgeber den Begriff der «öffentlichen Gewalt» ins Staatsgerichts-hofgesetz vom 27. November 2003 neu aufgenommen, sodass seithereine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit gegen sämtliche Hoheits-akte existiert, wenn diese unmittelbar verfassungsmässig gewährleisteteRechte einzelner Personen verletzen.4483Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR41 Vgl. Meyer-Ladewig, S. 400 f., Rz. 41; siehe auch Frowein, S. 604, Rz. 7; Graben-warter, Wirkungen, S. 860 f.; Okresek, Rz. 14 f.42 Siehe dazu die Ausführungen im Anhang zur Resolution CM/ResDH(2007)55 desMinisterkomitees vom 20. April 2007, abrufbar unter <wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id= 112 1643&Site=COE#P3527_21759>. Es heisst dort: «It may be noted that theLiechtenstein Code of Criminal Procedure (StPO) does not require a detainee to beheard prior to a decision to prolong his detention to the maximum period of one yearunder paragraph 138 section 2 StPO. However, given the severity of such a decisionand the requirement of the case-law of the European Court, the respondent state hasinformed the Secretariat that it has changed its procedural practice accordingly. Be-fore the third Senate of the superior court (Fürstliches Obergericht), which is re-sponsible for such decisions, decides to prolong a pre-trial detention, the detainee isgiven the opportunity to comment either directly or via his legal representative.» Inweiterer Folge hat der Gesetzgeber die Regelungen zur Untersuchungshaft der Straf-prozessordnung grundlegend novelliert und die mündliche und kontradiktorischeHaftverhandlung ins Gesetz aufgenommen. Vgl. dazu Fussnote 24.43 Vgl. Grabenwarter, Wirkungen, S. 860 f.44 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass in weiterer Folge die Richterbe-stellung im Rahmen der Verfassungsrevision des Jahres 2003 grundsätzlich neu gere-gelt worden ist. Art. 96 Abs. 1 LV lautet: «Für die Auswahl von Richtern bedienensich Landesfürst und Landtag eines gemeinsamen Gremiums. In diesem Gremiumhat der Landesfürst den Vorsitz und den Stichentscheid. Er kann ebenso viele Mit-glieder in dieses Gremium berufen wie der Landtag Vertreter entsendet. [. . .] DieRegierung entsendet das für die Justiz zuständige Regierungsmitglied. [. . .] Kandi-daten können nur mit Zustimmung des Landesfürsten vom Gremium dem Landtagempfohlen werden. Wählt der Landtag den empfohlenen Kandidaten, dann wirddieser vom Landesfürsten zum Richter ernannt.» Aufgrund dieser Bestimmung
Ferner trifft den Vertragsstaat die Verpflichtung, den Schaden, deneine Person durch die Konventionsverletzung erlitten hat, wiedergutzu-machen. Er hat die betroffene Person so weit wie möglich wieder in jeneLage (zurück) zu versetzen, in der sie sein würde, wenn gegen die Kon-vention nicht verstossen worden wäre.45 Der EGMR spricht in diesemZusammenhang von «restitutio in integrum». Ist die Naturalrestitutionmöglich, besitzt diese gegenüber einer Entschädigung in Geld Vorrang.46In der Lehre herrscht weitgehend Einigkeit darin, dass einer Ent-scheidung des EGMR eine kassatorische Wirkung oder eine die Rechts-kraft des innerstaatlichen Urteils durchbrechende Wirkung nichtzukommt.47 Darüber hinaus ist aber umstritten, ob aus der Befolgungs-pflicht des Art. 46 Abs. 1 EMRK auch eine Verpflichtung abgeleitet wer-den kann, wonach die Vertragsstaaten im Falle einer Konventionsverlet-zung im innerstaatlichen Recht ein Wiederaufnahmeverfahren durch-führen müssen (siehe dazu sogleich nachfolgend unter Punkt III).4884Hugo Vogtwird ein Kandidat, der dem Fürst nicht genehm ist, dem Landtag gar nicht erst zurWahl vorgeschlagen. Das Problem, wonach ein Richter zwar vom Parlamentgewählt, aber vom Fürsten nicht ernennt wird, kann sich daher gar nicht mehr stel-len. Es ist damit ausgeschlossen, dass ein vom Fürsten abgelehnter Bewerber über-haupt ein Anfechtungsobjekt erhält, wogegen dieser Beschwerde erheben könnte.Dies hat dann aber zur Folge, dass potenzielle Richteramtskandidaten in allfälligenkritischen Äusserungen zum Fürsten Zurückhaltung üben, um ihre Wahlchancennicht zu beeinträchtigen («chilling effect»). Diese Ausführungen gelten vorbehalt-lich Art. 96 Abs. 2 LV, wonach der Landtag, wenn dieser den vom Gremium emp-fohlenen Kandidaten ablehnt, und sich keine Einigung über einen neuen Kandida-ten erzielen lässt, einen Gegenkandidaten vorzuschlagen und eine Volksabstimmunganzuberaumen hat. Art. 96 Abs. 2 LV erscheint aber nur schwer umsetzbar, sodassdiese Bestimmung kaum eine praktische Bedeutung erlangen dürfte. Allgemein zumProblem des abschreckenden Effektes («chilling effect») im Zusammenhang mit derMeinungsäusserungsfreiheit siehe auch Mosley gegen Vereinigtes Königreich, Urteilvom 10. Mai 2011, Nr. 48009/08, abrufbar unter <www.echr.coe.int>; deutscheÜbersetzung auch abrufbar unter <www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Justiz&Dokumentnummer=JJT_20110510_AUSL000_000BSW48009_0800000_000>.45 Vgl. Haidenhofer, S. 805 f. Siehe ausführlich dazu auch Heckötter, S. 50 ff.46 Vgl. Haidenhofer, S. 805 f.; Meyer-Ladewig, S. 396, Rz. 25, mit Hinweis auf dieRechtsprechung. Zur älteren Rechtsprechung des EGMR betreffend die «restitutioin integrum» siehe auch Villiger, S. 480 ff.47 Vgl. Walter, S. 1686, Rz. 53; Schindler, S. 275 f. Für Liechtenstein siehe auch Kley,Landesbericht Liechtenstein, S. 54. Vgl. ferner StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli2007, Erw. 4.2 und Erw. 5, S. 40, abrufbar unter <www.stgh.li>.48 Vgl. Walter, S. 1686, Rz. 53; Schindler, S. 275 f.
III. Möglichkeit der Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens nach Feststellung einerKonventions verletzung durch den EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte1. Lehre und Rechtsprechung zu Art. 46 EMRK Die Lehre lehnt es noch mehrheitlich ab, aus der Befolgungspflicht desArt. 46 Abs. 1 EMRK auch eine Verpflichtung des Vertragsstaates abzu-leiten, wonach ein innerstaatliches Verfahren nach Feststellung einerKonventionsverletzung durch den EGMR wieder aufgenommen werdenmüsste.49 Als Argument wird dazu Art. 41 EMRK angeführt, welcherdie gerechte Entschädigung für die von einer Konventionsverletzungbetroffenen Personen regelt. Nach Art. 41 EMRK spricht der EGMRnämlich im Falle einer Konventionsverletzung der verletzten Partei einegerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist und das innerstaat-liche Recht dem Vertragsstaat nur eine unvollkommene Wiedergutma-chung für die Folgen dieser Verletzung gestattet. Daraus schliessen etwaEckhard Pache und Joachim Bielitz, dass die Vertragsstaaten damit das«Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materiellerGerechtigkeit»50 nicht durch die EMRK regeln wollten, sondern dessenRegelung den Vertragsstaaten vorbehalten wollten. Daraus folge, dassdie EMRK auch keine Verpflichtung der Vertragsstaaten aufweise,wonach ein abgeschlossenes Gerichts- oder Verwaltungsverfahren nach85Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR49 Vgl. Polakiewicz, S. 128 ff.; Pache/Bielitz, S. 326 ff.; Heckötter, S. 250 ff.; Okresek,Rz. 9; Cremer, Bindungswirkung, S. 691; Papier, S. 2; Pietrowicz, S. 45 f. und S. 64 f.;Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 104, Rz. 5; Grabenwarter, Wirkungen, S. 860. Soschreibt Christoph Grabenwarter: «Eine völkerrechtliche Verpflichtung der Mit-gliedstaaten zur Anpassung ihrer Rechtsordnungen in dem Sinne, dass jeder Kon-ventionsverletzung im Rahmen des tatsächlich Möglichen durch eine Wiederher-stellung rechtmässiger Zustände Rechnung getragen werden kann, lässt sich ausArt. 41 EMRK nicht ableiten. Daraus folgt im Besonderen, dass die EMRK auchkeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält, ein abgeschlossenes Gerichts- oderVerwaltungsverfahren nach einer Verurteilung durch den EGMR wieder aufzuneh-men. Die Einführung entsprechender die Rechtskraft durchbrechender Wiederauf-nahmetatbestände wurde zwar vom Ministerkomitee empfohlen und wird auch inUrteilen des EGMR immer wieder angesprochen, steht aber im Übrigen im Ermes-sen der Mitgliedstaaten.» (Grabenwarter, Wirkungen, S. 860) 50 Pache/Bielitz, S. 327.
einer Verurteilung durch den EGMR wieder aufgenommen werdenmüsste.51Es gibt inzwischen aber auch gewichtige Stimmen, die fordern,dass die Vertragsstaaten die Möglichkeit zur Wiederaufnahme einesinnerstaatlichen Verfahrens nach Feststellung einer Konventionsverlet-zung durch den EGMR vorsehen müssten. So führt Jochen Frowein aus,aufgrund der neueren Judikatur des EGMR sei davon auszugehen, dassdie Vertragsstaaten insbesondere bei Strafverfahren Wiederaufnahme-möglichkeiten schaffen müssten.52 Christian Walter geht noch weiterund meint, Art. 46 EMRK verpflichte die Vertragsstaaten dazu, Wieder-aufnahmeverfahren durchzuführen, wenn andernfalls eine Wiedergut-machung nicht möglich sei. Daher müssten in diesen Fällen generellrechtskräftig abgeschlossene Verfahren, und zwar nicht nur Strafverfah-ren, wieder aufgenommen werden können. Dies könne direkt ausArt. 46 EMRK abgeleitet werden, und eine fehlende Wiederaufnahme-möglichkeit könne als Verstoss gegen die Pflicht, die Urteile des EGMRzu befolgen, angesehen werden.53 Ferner hat auch das Ministerkomiteedes Europarates eine Empfehlung abgegeben, wonach die Vertragsstaa-ten in der innerstaatlichen Rechtsordnung die Möglichkeit der Wieder-aufnahme eines Verfahrens nach Feststellung einer Konventionsverlet-zung durch den EGMR schaffen sollten.54 86Hugo Vogt51 Vgl. Pache/Bielitz, S. 327 ff., die aber aus rechtspolitischer Sicht die Aufnahme vonRegelungen zur Wiederaufnahme von Verfahren in die nationalen Rechtsordnungenbefürworten. Siehe hierzu insbesondere Pache/Bielitz, S. 332.52 Siehe Frowein, S. 607, Rz. 14 f.53 Vgl. Walter, S. 1686, Rz 53. Vgl. hinsichtlich einer Pflicht zur Wiederaufnahme einesinnerstaatlichen Verfahrens auch Haidenhofer, S. 806. Gernot Haidenhofer fordert,dass ein Wiederaufnahmeverfahren in jenen Fällen durchzuführen ist, wenn «eineWiederaufnahme des Verfahrens die geeignetste und eine nicht unverhältnismässigaufwändige Massnahme zur vollständigen Wiedergutmachung darstellt».54 Vgl. Empfehlung Nr. R (2000) 2 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten überdie Überprüfung oder Wiederaufnahme bestimmter Verfahren auf innerstaatlicherEbene im Anschluss an Urteile des EGMR. Es heisst dort: Das Ministerkomitee [. . .]«regt die Vertragsparteien insbesondere an, ihre innerstaatlichen Rechtssysteme zuüberprüfen, um sicherzustellen, dass geeignete Möglichkeiten der Wiedererwägungeines Falles, einschliesslich der Wiederaufnahme eines Verfahrens, in den Fällenbestehen, in denen der Gerichtshof eine Verletzung der EMRK festgestellt hat,besonders insofern: i) die verletzte Partei wegen der innerstaatlichen Entscheidung weiterhin an sehrschwerwiegenden Folgen leidet, die mit der gerechten Entschädigung nicht beho-
Demgegenüber besteht nach der Rechtsprechung des EGMR einesolche Pflicht bisher nicht.55 In diesem Sinne hat der EGMR auch etwain der Entscheidung Steck-Risch gegen Liechtenstein festgestellt, esobliege «in erster Linie dem betroffenen Staat [. . .], die Mittel zu wählen,die in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung heranzuziehen sind, umseinen rechtlichen Verpflichtungen gem. [gemäss] Art 46 der Konven-tion nachzukommen, soweit diese Mittel mit den Schlussfolgerungen imU [Urteil] des Gerichtshofs vereinbar»56 seien. Die erwähnte Freiheithinsichtlich der Art der Vollstreckung eines Urteils spiegele «die Wahl-freiheit wieder, die an die Hauptpflicht der Vertragsstaaten gemäss derKonvention gebunden» sei, «nämlich die garantierten Rechte und Frei-heiten zu sichern».57 Der EGMR hat in der Entscheidung Steck-Rischaber zugleich darauf hingewiesen, dass er «unter sehr aussergewöhnli-chen Umständen» nicht davor zurückschrecke, «individuelle Abhilfe-massnahmen» anzuordnen.58 Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR in87Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMRben, sondern nur durch Wiedererwägung oder Wiederaufnahme des Verfahrensbeseitigt werden können, undii) aus dem Urteil des Gerichtshofs hervorgeht, dass a) die angefochtene innerstaatliche Entscheidung materiell in Widerspruch zurEMRK steht oder b) die festgestellte Verletzung auf Verfahrensfehler oder [Verfahrens]-mängelzurückgeht, die derart schwer wiegen, dass ernsthafte Zweifel am Ausgang des ange-fochtenen innerstaatlichen Verfahrens bestehen.» Empfehlung Nr. R (2000) 2, indeutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 2004, S. 808 f. (809). Vgl. dazu auchGrabenwarter/Pabel, EMRK, S. 104, Rz. 5; Hass, S. 82 f.55 Vgl. Saidi gegen Frankreich, Urteil vom 20. September 1993, Nr. 14647/89, Ziff. 47,abrufbar unter <www.echr.coe.int>, wo es heisst: «The Court notes that the Con-vention does not give it jurisdiction to direct the French State to open a new trial[. . .] or to adopt one of the other measures sought by the applicant.» Vgl. dazu auchWalter, S. 1685, Rz 53. Siehe auch etwa die Erkenntnis des österreichischen Verfas-sungsgerichtshofs VfSlg 18.952/2009. Dort führt der Verfassungsgerichtshof aus:«Ein verfassungsrechtliches Gebot, wonach in jedem Fall einer vom EGMR festge-stellten Konventionsverletzung das innerstaatliche Verfahren wiederaufzunehmenist, kann aus der EMRK hingegen nicht abgeleitet werden [. . .]. Der EGMR selbsthat nur bei schwerwiegenden Verfahrensverletzungen ausgesprochen, dass eineWiederaufnahme erforderlich sei [. . .].»56 Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00,Ziff. 73, abgedruckt in LES 2006, S. 53 ff. (59).57 Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00,Ziff. 73, abgedruckt in LES 2006, S. 53 ff. (59).58 Steck-Risch u. a. gegen Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00,Ziff. 73, abgedruckt in LES 2006, S. 53 ff. (59). In diesem Sinn hat der EGMR in der
Zukunft dazu übergehen wird, aus Art. 46 EMRK generell die Ver-pflichtung der Vertragsstaaten auf Wiederaufnahme eines innerstaatli-chen Verfahrens abzuleiten.592. Wiederaufnahmeregelungen im RechtsvergleichDie Schweiz hat in Art. 122 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht(BGG) gesetzlich einen Wiederaufnahmetatbestand verankert.60 Dieserfindet sich auch in der Zivilprozessordnung, in der Strafprozessordnungsowie im Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren. Demnach kanndie Revision wegen Verletzung der EMRK oder der dazu ergangenenProtokolle unter den kumulativen Voraussetzungen verlangt werden,wenn der EGMR in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass dieEMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind; wenn eine Ent-schädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen;und wenn die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen.61In die österreichische Strafprozessordnung hat der Gesetzgebermit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1996 neu den § 363a StPO einge-fügt.62 Stellt der EGMR in einem Urteil eine Verletzung der Konvention88Hugo VogtRechtssache Assanidse gegen Georgien ausgesprochen, dass der Beschwerdeführerunverzüglich aus der Haft zu entlassen sei. Vgl. Assanidse gegen Georgien, Urteilvom 8. April 2004, Nr. 71503/01, abrufbar unter <www.echr.coe.int/echr>,Ziff. 202 f. Siehe hierzu Fussnote 39.59 Vgl. dazu auch Peukert, S. 538, Rz. 1 mit Hinweisen zur Rechtsprechung. WolfgangPeukert weist dort darauf hin, dass der EGMR im Falle von schwerwiegenden Ver-fahrensverletzungen die Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens für ange-messen erachte.60 Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) vom 17. Juni2005 (Stand am 1. Juli 2013), SR 173.110, abrufbar unter <www.admin.ch>.61 Für das Zivilverfahren vergleiche Art. 328 Abs. 2 der Schweizerischen Zivilprozess-ordnung (ZPO) vom 19. Dezember 2008 (Stand am 1. Mai 2013), SR 272, für dasStrafverfahren siehe Art. 410 Abs. 2 der Schweizerischen Strafprozessordnung(StPO) vom 5. Oktober 2007 (Stand am 1. Mai 2013), SR 312 und für das Verwal-tungsverfahren siehe Art. 66 Abs. 2 lit. d des Bundesgesetzes über das Verwaltungs-verfahren (VwVG) vom 20. Dezember 1968 (Stand am 1. Mai 2013), SR 172.021. DieGesetze sind abrufbar unter <www.admin.ch>. 62 BGBl. Nr. 762/1996, abrufbar unter <www.ris.bka.gv.at>. Siehe eingehend dazuSusanne Reindl-Krauskopf, Kommentar zu §§ 363 a-c, in: Helmut Fuchs/Eckart
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder eines ihrerZusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Straf-gerichts fest, ist demnach ein Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern,als nicht auszuschliessen ist, dass die Verletzung für den Betroffeneneinen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Ent-scheidung ausüben konnte. Über die Erneuerung des Verfahrens ent-scheidet der Oberste Gerichtshof.63 Hingegen kennt die österreichischeRechtsordnung für das Verwaltungsverfahren und das Zivilverfahrennicht die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Ver-fahrens nach Feststellung einer Konventionsverletzung durch denEGMR.Nach deutschem Strafprozessrecht ist die Wiederaufnahme einesdurch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten desVerurteilten zulässig, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK oderihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzungberuht.64 Dieselbe Regelung enthält auch die deutsche Zivilprozessord-nung (§ 580 Ziff. 8 deutsche ZPO).65 Ferner hat gemäss § 51 des Verwal-tungsverfahrensgesetzes die Behörde auf Antrag des Betroffenen überdie Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes89Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMRRatz (Hrsg.), Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, 136. Lieferung (Stand:August 2010), Wien 2010. Vgl. auch Okresek, Rz. 11.63 Vgl. dazu auch Lamiss Khakzadeh-Leiler, Die Grundrechte in der Judikatur desObersten Gerichtshofs, Forschungen aus Staat und Recht, Band 161, Wien 2011,S. 359 ff.; siehe auch Dietmar Jahnel, Bestandsschutz und Durchsetzung der Grund-rechte, § 201, Rz. 1 ff. (87 f.), in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Hand-buch der Grundrechte, Band VII/1, Heidelberg 2009. Vgl. ferner Walter Berka, DieGrundrechte: Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich, Wien/New York1999, S. 189, Rz. 328 f.64 Siehe § 359 Ziff. 6 der Strafprozessordnung (StPO) in der Fassung der Bekanntma-chung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Art. 2 Abs. 9 desGesetzes vom 6. Juni 2013 (BGBl. I S. 1482) geändert worden ist, abrufbar unter<www.gesetze-im-internet.de/index.html>.65 § 580 Ziff. 8 der Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.Dezember 2005 (BGBl. I S. 3202; 2006 I S. 431; 2007 I S. 1781), die zuletzt durchArt. 2 des Gesetzes vom 25. April 2013 (BGBl. I S. 935) geändert worden ist. Die-ser lautet: «Die Restitutionsklage findet statt, wenn der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz derMenschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und dasUrteil auf dieser Verletzung beruht.» Das Gesetz ist abrufbar unter <www.gesetze-im-internet.de/index.html>. Vgl. auch Ehlers, S. 77, Rz. 104.
zu entscheiden, wenn die Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580der Zivilprozessordnung gegeben sind.663. Rechtslage in Liechtenstein In rechtsvergleichender Sicht zeigt sich, dass etwa in Deutschland,Österreich und der Schweiz jeweils Wiederaufnahmeregelungen nachFeststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR existieren.Demgegenüber kennt die liechtensteinische Rechtsordnung bisher keinevergleichbare Lösung, wonach ein innerstaatliches Verfahren nach Fest-stellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR wieder aufzu-nehmen wäre.67 So hatte der Verwaltungsgerichtshof im Anschluss andas Urteil des EGMR zur Rechtssache Steck-Risch u. a. gegen Liechten-stein einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrensabgelehnt, obwohl der EGMR für das zugrunde liegende Verfahren eineKonventionsverletzung festgestellt hatte.68 Der Verwaltungsgerichtshofprüfte, ob die Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrensnach Art. 104 f. LVG oder einer Wiedereinsetzung in den vorigen Standvorlägen, und verneinte dies.69 Der Staatsgerichtshof hatte diesen90Hugo Vogt66 Siehe § 51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachungvom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 31.Mai 2013 (BGBl. I S. 1388) geändert worden ist, abrufbar unter <www.gesetze-im-internet.de/index.html>. Vgl. auch Ehlers, S. 77, Rz. 104.67 Vgl. schon Kley, Landesbericht Liechtenstein, S. 55.68 Vgl. dazu S. 74.69 Vgl. Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Oktober 2006 zu VGH2005/75, S. 5 ff., nicht veröffentlicht. Der Verwaltungsgerichtshof prüfte die Wie-deraufnahmegründe des Art. 104 Abs. 1 LVG i. V. m. § 498 ZPO und des Art. 104Abs. 2 LVG sowie die amtswegigen Wiederaufnahmegründe des Art. 105 LVG. Erkommt schliesslich zu folgendem Ergebnis: «Die Feststellung einer Verletzung derEuropäischen Menschenrechtskonvention ist weder im LVG noch in den anderenliechtensteinischen Verfahrensgesetzen als Grund für eine Wiederaufnahme ange-führt. Auch aus Art. 46 EMRK lässt sich keine Pflicht zur Wiederaufnahme ablei-ten. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschiedenhat, lasse sich aus der Konvention nicht eine Pflicht des betroffenen Staates zur Wie-deraufnahme des Verfahrens oder zur Durchführung irgendwelcher Verwaltungs-massnahmen ableiten [. . .]. In diesem Sinne hat der EGMR in seiner dem jetzigenVerfahren zugrunde liegenden Entscheidung den Antrag der Antragsteller auf An -
Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs in StGH 2006/111 zu prüfen undhält fest, der Verwaltungsgerichtshof habe in vertretbarer Auslegungzum Ergebnis gelangen können, dass das liechtensteinische Gesetzes-recht für Urteile oder Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs oder desStaatsgerichtshofs keine Wiederaufnahme des Verfahrens vorsehe, wennder EGMR in einem endgültigen Urteil auf eine Konventionsverletzungerkannt habe.70 Mit den Worten des Staatsgerichtshofs gesprochen: «[. . .] denn bei einem Urteil des EGMR, mit dem ein Verfahrens-verstoss durch ein liechtensteinisches Gericht festgestellt wird,handelt es sich nicht um einen der klassischen Wiederaufnahme-gründe, namentlich offensichtlich nicht um eine neue Tatsache oderum ein neues Beweismittel, sondern, wie das treffend formuliertwurde, um ‹eine neue rechtliche Beurteilung› [. . .]».71Der Staatsgerichtshof hält in dieser Entscheidung weiter fest, die neuerechtliche Beurteilung durch den EGMR stelle in Liechtenstein bisherkeinen Wiederaufnahmegrund dar. Art. 41 EMRK erlaube es, dass «dieVertragsstaaten ‹gerade mit Rücksicht auf das Institut der Rechtskraftund den hohen Rang, der ihm in den innerstaatlichen Rechtsordnungenallgemein beigemessen› wird, ‹rechtskräftige Entscheidungen, von denen91Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMRordnung der Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens abgelehnt. Er führteaus, dass es in erster Linie dem betroffenen Staat obliege, die Mittel zu wählen, diein seiner innerstaatlichen Rechtsordnung heranzuziehen seien, um seinen rechtli-chen Verpflichtungen gemäss Art. 46 der Konvention nachzukommen, soweit dieseMittel mit den Schlussfolgerungen im Urteil des Gerichtshofs vereinbar seien.»(Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Oktober 2006 zu VGH 2005/75,S. 8 f., nicht veröffentlicht). Ferner hält der Verwaltungsgerichtshof in der genann-ten Entscheidung Folgendes fest: Da der EGMR lediglich einen Verfahrensfehlerfestgestellt hätte, würde eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur dann zu prüfensein, wenn neue Aspekte, welche im Urteil, das gegen die Konvention verstosse,nicht berücksichtigt worden seien. Eine solche Konstellation sei gegenständlichnicht gegeben (vgl. Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Oktober 2006zu VGH 2005/75, S. 9, nicht veröffentlicht, mit Ausführungen zur Rechtsprechungdes österreichischen Verwaltungsgerichtshofs und des schweizerischen Bundesge-richts).70 Vgl. StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 41, abrufbar unter<www.stgh.li>.71 StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 41, abrufbar unter <www.stgh.li>mit Hinweis auf Schindler, S. 284.
festgestellt worden ist, dass sie unter Verstoss gegen das Völkerrechtzustande gekommen sind, unangetastet [. . .] lassen.›»72Zugleich führt der Staatsgerichtshof in der Entscheidung StGH2006/111 aber auch Folgendes aus: «Gesetzgeberisch ist das Ergebnis für diejenigen Fälle unbefriedi-gend, in denen die Wiederaufnahme zur Abhilfe erforderlich ist. Esist aber weder Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes noch desStaatsgerichtshofes, hier anstelle des demokratischen Gesetzgebersgesetzgeberisch tätig zu werden. Mittlerweile sieht bereits eineReihe von Staaten spezielle Revisionsgründe für den Fall vor, dassein Urteil des EGMR eine Verletzung der EMRK feststellt. Einensolchen Revisionsgrund kennt z. B. das deutsche Recht in § 359 Nr.6 StPO [. . .], das österreichische Recht in § 363a StPO [. . .] oder das[. . .] schweizerische Recht in Art. 122 Bundesgerichtsgesetz vom17. Juni 2005 [. . .]. Gerade die schweizerische Lösung zeigt, dass esfür den Gesetzgeber unterschiedliche Lösungen für die Regelungder Wiederaufnahme (Revision) gibt. So hat der Gesetzgeber imRahmen der Justizreform den Art. 139a OG inhaltlich nicht telquel in das Bundesgerichtsgesetz übernommen, sondern die Revi-sionsvoraussetzungen geändert. So schliesst Art. 122 BGG dieRevision aus, wenn materielle Interessen auf dem Spiel stehen unddie Konventionsverletzung nur mit einer Entschädigung gutgemacht werden kann. Demnach müssen die Gesuchsteller Ent-schädigungsansprüche ausschliesslich vor dem EGMR geltendmachen. Bisherige von Art. 139a OG i. V. m. Art. 41 EMRK ver-ursachte Doppelspurigkeiten sollen damit vermieden werden [. . .].Der Staatsgerichtshof lässt auch die Frage offen, ob aus demGleichheitssatz (Art. 31 LV) eine Pflicht zur Wiederaufnahmeabzuleiten wäre, wenn anders das Ergebnis unter Gerechtigkeits-aspekten schockierend wäre. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.Dies insbesondere deshalb nicht, weil der EGMR explizit feststellt,dass zwischen dem von ihm erkannten Verfahrensverstoss und den92Hugo Vogt72 StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 44, abrufbar unter <www.stgh.li>mit Verweis auf BVerfGE, Beschluss vom 11. Oktober 1985-2BvR 336/85-EuGRZ1985, S. 654 ff. (655), letzterer wiederum mit umfangreichen Nachweisen zur deut-schen Lehre.
von den Beschwerdeführern im Verfahren vor dem EGMR bean-tragten Ersatz für Schaden kein ursächlicher Zusammenhang (‹nocausal link›) besteht und sämtliche den Beschwerdeführern imZusammenhang mit der festgestellten Verletzung von Art. 6 Abs. 1EMRK entstandenen Prozesskosten entschädigt sind.»73Im Ergebnis bedeutet dies, dass nach der Rechtsprechung des Staatsge-richtshofs keine Pflicht besteht, wonach Vertragsstaaten für den Fall,dass der EGMR in einem Urteil eine Konventionsverletzung feststellt,die Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens vorzusehen hät-ten. Die Erlassung entsprechender innerstaatlicher Regelungen stehtvielmehr im Ermessen des Gesetzgebers. Dennoch hält sich der Staats-gerichtshof die Möglichkeit offen, eine solche Pflicht auf Wiederauf-nahme des innerstaatlichen Verfahrens direkt aus der Verfassung, näm-lich aus Art. 31 LV, abzuleiten, um einschreiten zu können, wenn dasErgebnis ansonsten «unter Gerechtigkeitsaspekten schockierend» wäre.Es ist zu klären, welche Fälle der Staatsgerichtshof hier im Blick hat. Zunächst ist zu bedenken, dass die Wiederaufnahme des inner-staatlichen Verfahrens nicht bei jedem konventionswidrigen Gerichtsur-teil oder Verwaltungsakt eine angemessene Lösung darstellt.74 Insbeson-dere wenn der EGMR wegen einer überlangen Verfahrensdauer einenVerstoss gegen Art. 6 EMRK feststellt, würde durch die Wiederauf-nahme des Verfahrens dessen rechtskräftiger Abschluss nur weiter ver-zögert werden.75 Ferner hat in einem Mehrparteienverfahren nicht nurder Beschwerdeführer grundrechtliche Ansprüche, sondern auch derjeweilige Verfahrensgegner einen Anspruch darauf, dass die verwal-tungsbehördliche oder gerichtliche Entscheidung innert angemessener93Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR73 StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 44 f., abrufbar unter<www.stgh.li>.74 Vgl. Ress, S. 351.75 Vgl. Ress, S. 351. Georg Ress hält fest, dass bei Zivilverfahren, für die der EGMReine überlange Verfahrensdauer festgestellt habe, eine materielle Entschädigung desBeschwerdeführers als ausreichend angesehen werden könne. Handelt es sich umstrukturelle Probleme, kann der EGMR in diesen Fällen neben einer Entschädigungauch aussprechen, dass ein Vertragsstaat generelle Massnahmen zu ergreifen hat umin Zukunft überlange Verfahren zu vermeiden. Siehe hierzu etwa das PiloturteilRumpf gegen Deutschland, Urteil vom 2. September 2010, Nr. 46344/06, abrufbarunter <www.echr.coe.int>.
Frist ergeht.76 Typischerweise trifft dies auf zivilgerichtliche Verfahrenzu, in denen der Verfahrensgegner regelmässig ein grosses Interessedaran hat, dass der Rechtsstreit innert angemessener Frist beendet wirdund eine formell und materiell rechtskräftige Entscheidung auch beste-hen bleibt.77 Die generelle Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Ver-fahrens nach Feststellung einer Konventionsverletzung durch denEGMR erscheint für Zivilverfahren daher nicht zweckmässig. Kann hin-gegen die Konventionsverletzung durch eine Entschädigung nicht aus-reichend wiedergutgemacht werden, ist auch für Zivilverfahren die Wie-deraufnahme des Verfahrens zu erwägen.Demgegenüber besitzt das Institut der materiellen Rechtskraft inVerwaltungsverfahren eine geringere Bedeutung. So ist etwa nachArt. 106 Abs. 1 lit. a LVG der Widerruf einer Verfügung zugunsten einerPartei zulässig, wenn der Widerruf zur Wahrung ihrer «durch zwingen-des öffentliches Recht geschützten Ansprüche und Interessen»78 erfolgt.Daher könnte überlegt werden, ob eine konventionswidrige Verfügungeiner Verwaltungsbehörde allenfalls gestützt auf diese Bestimmung desLandesverwaltungspflegegesetzes zurückgenommen werden kann,wenn keine öffentlichen Interessen und keine privaten Interessen Drit-ter dagegen sprechen.79 Dieser Gedanke findet aber weder in der Ent-scheidung des Staatsgerichtshofes StGH 2006/111 noch im Beschluss desVerwaltungsgerichtshofes zu VGH 2005/75 Beachtung.80 Stehen in94Hugo Vogt76 Vgl. Hugo Vogt, Aktuelle Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtsho-fes zum Anspruch auf rechtliches Gehör, in: Jus & News 2010, S. 7 ff. (16). Sieheauch StGH 2007/88, Entscheidung vom 24. Juni 2009, Erw. 2.1 ff., abrufbar unter<www.gerichtsentscheidungen.li>. Siehe hierzu auch Papier, S. 3. Hans-JürgenPapier führt dort aus, dass sich eine schematische Umsetzung der Entscheidung desEGMR dann verbiete, wenn ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis vorliege undeine Vielzahl von Parteiinteressen gegeneinander abzuwägen seien, wie dies etwa imFamilienrecht und im Recht zum Schutz der Persönlichkeit oftmals der Fall sei.77 Vgl. Papier, S. 3. Vgl. auch Pietrowicz, S. 46.78 Kley, Grundriss, S. 129 f.79 Zur Möglichkeit der Aufhebung und Abänderung von Verwaltungsakten siehe fürdie Schweiz Schindler, S. 282 f. Vgl. ferner Villiger, S. 500 ff.80 Vgl. aber die Überlegungen von Andreas Kley zu Art. 106 Abs. 1 lit. a LVG. Dieserhält Folgendes fest: In Fällen, in denen eine Verfügung zugunsten eines Betroffenen«zur Wahrung seiner durch zwingendes öffentliches Recht geschützten Ansprücheund Interessen» zurückgenommen würde, spräche der Grundsatz der Rechtssicher-heit und des Vertrauensschutzes nicht gegen den Widerruf, da der Widerruf denVerfügungsadressaten besser stellen würde. Vgl. Kley, Grundriss, S. 129 f.
einem Verwaltungsverfahren divergierende Parteiinteressen von Priva-ten einander gegenüber, gilt auch für Verwaltungsverfahren, dass derVerfahrensgegner ein beachtenswertes Interesse daran hat, dass eine for-mell und materiell rechtskräftige Entscheidung auch bestehen bleibt.81Grundlegend anders stellt sich die Interessenlage in Strafverfahrenoder Verwaltungsstrafverfahren dar. Aufgrund der Schwere der Sanktionerhält das Interesse des Beschuldigten, wonach das Verfahren erneuertwird, gegenüber allfälligen Interessen des Staates oder privater Dritteram Fortbestand einer formell und materiell rechtskräftigen Entschei-dung, die einer Wiederaufnahme entgegenstehen könnten, ein überwie-gendes Gewicht.82 Dennoch erscheint es auch hier nicht in jedem Fallgeboten, dass ein Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt wird.83 Stelltder EGMR in einem Urteil eine Verletzung des Art. 6 EMRK fest, etwaweil eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, könnte die vom EGMRfestgestellte Konventionsverletzung als nachträglicher Strafmilderungs-grund berücksichtigt werden.84 Nach § 34 Abs. 2 StGB liegt nämlich ein95Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR81 Siehe hierzu auch VBI 2000/31, Entscheidung vom 6. September 2000, LES 2000,S. 180 (183), wo die Verwaltungsbeschwerdeinstanz festhält: «Eine Verfügung oderE [Entscheidung] darf nur dann widerrufen (zurückgenommen) werden, wenn dieAbwägung der Interessen an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts dieInteressen an der Wahrung der Rechtssicherheit überwiegen. Ein Widerruf kommtgrundsätzlich dann nicht in Frage, wenn die frühere E [Entscheidung] ein subjekti-ves Recht begründet oder wenn die E [Entscheidung] in einem Verfahren ergangenist, in welchem die sich gegenüberstehenden Interessen allseitig zu prüfen undgegeneinander abzuwägen waren, oder wenn der Private von einer ihm durch diefragliche Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat. Aberauch in diesen Fällen ist ein Widerruf möglich, und zwar dann, wenn er durch einbesonders gewichtiges öffentliches Interesse geboten ist [. . .]».82 Vgl. auch Ress, S. 351.83 Vgl. Pietrowicz, S. 46.84 Vgl. Ress, S. 351, der aber für das Strafrecht bei einer Verurteilung des EGMR imbetroffenen Vertragsstaat generell die Wiederaufnahme des Verfahrens befürwortet.Vergleiche dazu für die österreichische Rechtsprechung auch etwa VfSlg19.011/2010, wo der VfGH hinsichtlich einer Verwaltungsstrafe ausspricht, indemdie belangte Behörde die überlange Verfahrensdauer nicht festgestellt und nichtstrafmildernd berücksichtigt habe, habe sie das Gesetz bei der Strafbemessung ineiner dem Art. 6 Abs. 1 EMRK widersprechenden Weise angewendet. Siehe auchetwa VfSlg 17.821/2006 betreffend die überlange Dauer eines Disziplinarverfahrensgegen einen Rechtsanwalt, welche von den Disziplinarbehörden bei der Verhängungder Disziplinarstrafe unzutreffenderweise nicht als Milderungsgrund berücksichtigtworden ist. Siehe ferner VfSlg 18951–18952/2009.
Strafmilderungsgrund vor, wenn das gegen den Täter geführte Verfahrenaus einem nicht von ihm oder seinem Verteidiger zu vertretenden Grundunverhältnismässig lange gedauert hat.85 Dieser Strafmilderungsgrundkann auch bei Vorliegen einer formell und materiell rechtskräftigen Ent-scheidung nachträglich berücksichtigt werden.86 Zudem ist denkbar, imStrafrecht und im Verwaltungsstrafrecht bei geringer Schuld des Betrof-fenen die überlange Verfahrensdauer als Verfahrenshindernis anzusehen,sodass das Verfahren einzustellen ist.87 Das hauptsächliche Problembesteht nach Ansicht des Verfassers darin, dass in Strafverfahren, in96Hugo Vogt85 Dieser spezielle Strafmilderungsgrund wurde durch LGBl. 2006/100 in das Strafge-setzbuch eingefügt. Im BuA Nr. 99/2005, S. 73 f. heisst es dazu: «Nimmt [. . .] dieDauer des Strafverfahrens ein Ausmass an, das als ‹unangemessen› anzusehen ist, sokann der Beschuldigte bei der Europäischen Kommission und dem EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte Beschwerde führen und auch eine ‹gerechte Ent-schädigung› nach Art. 50 EMRK beanspruchen, doch kann nach derzeitiger liech-tensteinischer Rechtslage daraus kein Anspruch auf Strafmilderung oder gar aufEinstellung des Verfahrens oder Freispruch abgeleitet werden. Daran ändert auchder Umstand nichts, dass ein längeres Wohlverhalten zwischen Tat und Verurteilunggrundsätzlich einen Milderungsgrund im Sinn des geltenden § 34 Ziff. 18 StGB dar-stellt, weil dessen Anwendung unter Berücksichtigung der österreichischen Judika-tur nur in sehr beschränktem Ausmass, nämlich erst ab ungefähr fünf Jahren inBetracht kommt, und etwa dann nicht, wenn der Täter sofort nach der Tat in Ver-folgung gezogen wurde und sich in Haft befunden hat und die späte Aburteilungder Tat bloss auf die Dauer des Verfahrens zurückzuführen ist. [. . .] Ein Beschuldig-ter ist jedoch während eines längeren Strafverfahrens beträchtlichen psychischenBelastungen ausgesetzt und muss während dessen Anhängigkeit häufig erheblicherechtliche, wirtschaftliche oder persönliche Nachteile in Kauf nehmen. Es erscheintdaher ebenso einsichtig wie billig, wenn eine Verzögerung, die zu einer längeren alsder für die Behandlung eines Straffalles im Allgemeinen erforderlichen Verfahrens-dauer geführt hat, vom Gericht als Milderungsgrund in Rechnung gestellt wird.Dabei soll nicht so sehr auf ein ‹Verschulden› der in Betracht kommenden Behör-den, sondern vor allem auf das Ergebnis der Verzögerung, also die tatsächliche(Mehr-)Belastung des Beschuldigten abgestellt werden. Ein ähnlicher Standpunktwird im Übrigen auch von der deutschen Lehre überwiegend vertreten.»86 In diesem Fall entscheidet das Gericht, das in erster Instanz erkannt hat, nach Erhe-bung der für die Entscheidung massgebenden Umstände mit Beschluss. Vgl. § 251StPO i. V. m. § 34 Abs. 2 StGB. Für die vergleichbare österreichische Rechtslagesiehe § 410 StPO i. V. m. § 34 Abs. 2 StGB.87 Vgl. Ress, S. 352, mit Hinweis auf die Entscheidung des LG Düsseldorf vom 26. Au-gust 1987 in: NStZ 1988, S. 427. Es wird auch die Meinung vertreten, dass wenn eineinnerstaatliche Entscheidung noch nicht vollstreckt worden sei, die Entscheidungdes EGMR, mit der eine Konventionsverletzung festgestellt werde, ein Vollstre-ckungshindernis für die innerstaatliche Entscheidung darstelle. Vgl. Ehlers, S. 77,Rz. 105.
denen der EGMR eine Konventionsverletzung wegen der überlangenVerfahrensdauer feststellt, die Strafe bis zum Zeitpunkt des Urteils-spruchs des EGMR – bis auf wenige Ausnahmen – bereits verbüsst wor-den sein dürfte. Das Urteil mit dem der EGMR die Konventionsverlet-zung feststellt, kommt dann für den Betroffenen zu spät, als dass für ihnder nachträgliche Strafmilderungsgrund noch zum Tragen kommenkönnte. Das Urteil des EGMR kann dann lediglich noch die Verletzungdes Anspruchs auf ein faires Verfahren feststellen und dient damit in ers-ter Linie der – zumindest teilweisen – Rehabilitierung eines Verfahrens-betroffenen. Allfällige Amtshaftungsansprüche könnten in Betrachtkommen.88 Stellt der EGMR einen Konventionsverstoss fest, bietet instrafrechtlichen und verwaltungsstrafrechtlichen Verfahren oftmals nurein Wiederaufnahmeverfahren eine adäquate Abhilfe für den von einemKonventionsverstoss Betroffenen. Die Ausführungen des Staatsgerichts-hofs in StGH 2006/111 sind deshalb wohl vor diesem Hintergrund zusehen, wonach allenfalls aufgrund des allgemeinen Gleichheitssatzes desArt. 31 LV eine Pflicht zur Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Ver-fahrens abzuleiten sei, «wenn anders das Ergebnis unter Gerechtigkeits-aspekten schockierend wäre».89 Im Lichte dieser Rechtsprechung würdedies heissen, dass der Staatsgerichtshof in Einzelfällen die Wiederauf-nahme auch ohne bestehende einfachgesetzliche Regelungen direkt97Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR88 Zur Geltendmachung allfälliger Amtshaftungsansprüche muss neben einem bezif-ferbaren Schaden auch ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten der verant-wortlichen Organe vorliegen (vgl. dazu Art. 3 AHG. Siehe auch StGH 2011/115,Entscheidung vom 27. März 2012, Erw. 5.3, abrufbar unter <www.gerichtsentscheidungen.li>). Zu bedenken ist zudem, dass sich der EGMR gemäss Art. 35 Abs. 1EMRK mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichenRechtsbehelfe befassen kann. Daher richtet sich eine Beschwerde an den EGMRpraktisch durchwegs gegen Entscheidungen des Staatsgerichtshofes (Siehe für dasdeutsche Verfassungsrecht auch Meyer-Ladewig, S. 335 ff., Rz. 7 ff.; Wolfgang Peu-kert: Kommentar zu Art. 35 EMRK, in: Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert(Hrsg.): Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar, 3. Aufl.,Kehl am Rhein 2009, S. 495 ff. (506, Rz. 26)). Allerdings kann gemäss Art. 5 Abs. 3AHG aus einem Erkenntnis des Staatsgerichtshofes ein Ersatzanspruch nicht abge-leitet werden. Deshalb kommt einer allfälligen Amtshaftung in diesem Zusammen-hang keine praktische Bedeutung zu. Allgemein zur Amtshaftung siehe HerbertWille, Liechtensteinisches Verwaltungsrecht. Ausgewählte Gebiete, LPS 38, Schaan2004, S. 177 ff.89 StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 45, abrufbar unter <www.stgh.li>.
gestützt auf Art. 31 LV zulassen würde. Dass der Staatsgerichtshof in derVergangenheit schon ohne eine ausdrückliche gesetzliche GrundlageWiederaufnahmeverfahren ermöglicht hat, zeigt sich auch etwa in StGH2012/16. Dort hat er – trotz der fehlenden (expliziten) Regelung desRechtsbehelfs der Wiederaufnahme – für die kleine Rechtshilfe eineamtswegige Wiederaufnahme des Verfahrens bis zur tatsächlichen Aus-folgung beschlagnahmter Unterlagen für möglich angesehen und damitim Wege der Gesetzesanalogie praeter legem einen amtswegigen Wie-deraufnahmegrund geschaffen.904. Ausblick In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob aus Art. 46 EMRK auchdas Recht auf Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens abge-leitet werden kann, wenn ein Urteil des EGMR umgesetzt werden soll.98Hugo Vogt90 Es verbietet sich aber ein undifferenziertes Heranziehen dieser Entscheidung StGH2012/16 zur Begründung auch der Möglichkeit der Wiederaufnahme innerstaatli-cher Verfahren, für den Fall, dass der EGMR eine Konventionsverletzung festge-stellt hat. Ein wesentlicher Unterschied liegt nämlich darin, dass in Rechtshilfever-fahren die Abweisung eines Rechtshilfeersuchens nur formelle und keine materielleRechtskraft hat. Einer Wiederaufnahme in Rechtshilfeverfahren steht damit jeden-falls keine innerstaatliche materiell rechtskräftige Entscheidung entgegen. Siehehierzu StGH 2012/16, Entscheidung vom 28. Juni 2012, Erw. 6, S. 6 f., nicht veröf-fentlicht. Der Staatsgerichtshof führt dort aus: «Nach Auffassung des Staatsge-richtshofes muss trotz der fehlenden (expliziten) Regelung des Rechtsbehelfs derWiederaufnahme für die kleine Rechtshilfe jedenfalls eine amtswegige Wiederauf-nahme des Verfahrens bis zur tatsächlichen Ausfolgung beschlagnahmter Unterla-gen möglich sein. Dies erscheint auch deshalb gerechtfertigt, weil der Abweisungeines Rechtshilfeersuchens nur formelle, aber keine materielle Rechtskraftzukommt, d. h. [das heisst] der ersuchte [richtig: ersuchende] Staat kann jederzeitein neues Rechtshilfeersuchen stellen [. . .]. Entsprechend erscheint es angezeigt, dassumgekehrt der Rechtshilferichter immerhin von Amts wegen ein formell abge-schlossenes Rechtshilfeverfahren wiederaufnehmen kann, wenn wesentliche ihmzur Kenntnis gelangte Nova dies nahelegen. Hingegen ist dem offensichtlichen Wil-len des Gesetzgebers, das Rechtshilfeverfahren zu beschleunigen [. . .], dahingehendRechnung zu tragen, dass kein entsprechendes Antragsrecht besteht. Denn damitwäre die Gefahr beträchtlicher Verfahrensverzögerungen verbunden. So aber kannder Rechtshilferichter einen entsprechenden Antrag als blosse Anzeige entgegen-nehmen und braucht nur darauf einzutreten, wenn er die vorgelegten Nova auch alswesentlich erachtet.»
Nach Stand der Diskussion verlangt Art. 46 Abs. 1 EMRK sowohl nachRechtsprechung des EGMR als auch nach herrschender Lehre nicht,dass die Wiederaufnahme eines Verfahrens stattfindet, wenn ein Urteildes EGMR eine Konventionsverletzung feststellt.91 De lege lata bestehtalso keine Verpflichtung zur Wiederaufnahme innerstaatlicher Verfah-ren. Es ist dem Staatsgerichtshof aber darin zuzustimmen, dass dasErgebnis des Fehlens eines Wiederaufnahmeverfahrens für diejenigenFälle unbefriedigend ist, in denen die Wiederaufnahme zur Abhilfe einerEMRK-Verletzung erforderlich ist. Es erscheint de lege ferenda wün-schenswert, für solche Fälle Regelungen zur Wiederaufnahme eines Ver-fahrens in die liechtensteinischen Prozessordnungen aufzunehmen. Esist aber wohl nicht geboten, dass der Gesetzgeber für sämtliche Verfah-ren (etwa: die Zivilprozessordnung, das Ausserstreitverfahren, die Straf-prozessordnung, das Landesverwaltungspflegegesetz) einen einheitli-chen Wiederaufnahmetatbestand schaffen müsste. Lediglich für dasStrafverfahren und Verwaltungsstrafverfahren drängt sich die Wieder-aufnahme eines formell und materiell rechtskräftig abgeschlossenen Ver-fahrens auf. Aufgrund der Schwere der Sanktion erfordert das Interessedes Betroffenen, dass das Verfahren in diesen Fällen erneuert wird. AlsMassstab kann die Empfehlung Nr. R (2000) 2 des Ministerkomitees die-nen.92 Demnach ist die Wiederaufnahme eines Verfahrens vorzusehen,wenn die verletzte Partei wegen der innerstaatlichen Entscheidung wei-terhin an sehr schwerwiegenden Folgen leidet, die mit der gerechtenEntschädigung nicht behoben werden können, und aus dem Urteil desGerichtshofs hervorgeht, dass die angefochtene innerstaatliche Entschei-dung entweder materiell im Widerspruch zur EMRK steht oder die fest-gestellte Verletzung auf schwerwiegende Verfahrensfehler oder Verfah-rensmängel zurückgeht, sodass ernsthafte Zweifel am Ausgang des ange-fochtenen innerstaatlichen Verfahrens bestehen.Der Staatsgerichtshof hatte bisher noch keinen Antrag auf Wieder-aufnahme eines Strafverfahrens zu beurteilen, nachdem ein rechtskräftigVerurteilter erfolgreich eine Beschwerde an den EGMR geführt hätte.9399Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR91 Vgl. dazu S. 85 ff. 92 Vgl. dazu Fussnote 54.93 Die Entscheidung StGH 2011/133 betraf hingegen einen Antrag auf Wiederauf-nahme des Strafverfahrens gegen einen Landrichter durch die Beschwerdeführer als
Er hat aber in StGH 2006/11 angedeutet, dass er allenfalls die Wieder-aufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens direkt gestützt auf den allge-meinen Gleichheitssatz des Art. 31 LV zulassen würde, «wenn andersdas Ergebnis unter Gerechtigkeitsaspekten schockierend wäre».94 Diese100Hugo VogtPrivatbeteiligte eines Strafverfahrens. Diesem Verfahren vorausgegangen war, dassdie Beschwerdeführer im Oktober 2009 bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige ge-gen den genannten Landrichter stellten, wobei die Staatsanwaltschaft aber die Vorer-hebungen gemäss § 22 Abs. 1 2. Satz StPO einstellte. In späterer Folge brachten dieBeschwerdeführer gestützt auf diverse Beschwerdegründe eine Beschwerde beimEGMR ein (Bekerman gegen Liechtenstein, Beschwerde Nr. 15994/10). Der EGMRkam daraufhin zum Ergebnis, dass das zugrunde liegende liechtensteinische Verfah-ren überlang gedauert habe und machte den Parteien den Vorschlag einer gütlichenEinigung der Sache durch Zahlung einer Genugtuung in der Höhe von EUR 6000.00durch das Land Liechtenstein. Das Land Liechtenstein akzeptierte diesen Ver-gleichsvorschlag. Nachdem die Beschwerdeführer das Vergleichsangebot abgelehnthatten, verpflichtete sich das Land Liechtenstein durch einseitige Erklärung zur Zahlung des genannten Geldbetrages. Es kam deshalb gemäss Art. 37 Abs. 1 Bst. c EMRK am 29. November 2011 zu einer teilweisen Streichung dieser Beschwerdeaus der Liste. Vgl. dazu Bekerman gegen Liechtenstein, Beschwerde Nr. 15994/10,abrufbar unter <www.echr.coe.int>. Die Beschwerdeführer verlangten anschliessendim April 2011 vom Staatsgerichtshof die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegenden Landrichter. Der Staatsgerichtshof hält in der Entscheidung StGH 2011/133 fest:«Die Beschwerdeführer begründen den geltend gemachten Anspruch auf Wieder-aufnahme des Strafverfahrens damit, dass Liechtenstein hinsichtlich des wieder auf-zunehmenden Verfahrens vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen einer EMRK-Verletzung verurteilt worden sei. Hierzu ist zunächst festzuhalten,dass der entsprechende Fall mit EMRK-Entscheidung vom 29. November 2011 (Nr.15994/10) gemäss Art. 37 Abs. 1 Bst. c EMRK ohne Verurteilung Liechtensteins er-ledigt wurde. Zwar kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte(EGMR) zum Schluss, dass das betreffende Verfahren überlang gewesen sei; doch er-achtete er die von ihm vorgeschlagene und von Liechtenstein akzeptierte Entschädi-gung von EUR 6000.00 als angemessene Verfahrenserledigung, auch wenn die Be-schwerdeführer dies abgelehnt hatten. Abgesehen davon hat der liechtensteinischeGesetzgeber bisher keinen Wiederaufnahmegrund aus Anlass einer Verurteilungdurch den EGMR vorgesehen und auch aus Art. 46 EMRK leitet der EGMR keineentsprechende einzelstaatliche Pflicht ab [...]» (StGH 2011/133, Entscheidung vom28. Juni 2012, Erw. 4.3, abrufbar unter <www.gerichtsentscheidung en.li>). Diese la-pidare Erklärung des Staatsgerichtshofes verbieten aber weitreichende dogmatischeÜberlegungen. Dem Staatsgerichtshof ging es aufgrund des speziellen Sachverhalts,der «querulatorischen Beschwerdeführer» und deren unzähligen gerichtlichen Ein-gaben in erster Linie wohl darum deren Vorbringen «abzuklemmen». Bezeichnen-derweise findet auch eine Auseinandersetzung des Staatsgerichtshofes mit seinen inStGH 2006/111 zu Art. 46 EMRK getätigten Ausführungen nicht statt.94 StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 45, abrufbar unter <www.stgh.li>.
Aussage des Staatsgerichtshofs ist wohl so zu deuten, dass er bei Vorlie-gen einer Konventionsverletzung in Einzelfällen die Wiederaufnahmeeines innerstaatlichen Verfahrens auch ohne bestehende einfachgesetzli-che Regelungen direkt gestützt auf Art. 31 LV zulassen würde. Er stelltinsoweit die Einzelfallgerechtigkeit über dogmatische Überlegungen. Esbleibt abzuwarten, wie der Staatsgerichtshof in Fällen entscheiden wird,wenn die vom EGMR festgestellte Konventionsverletzung durch eineEntschädigung nicht ausreichend wiedergutgemacht werden kann (sobeispielsweise bei einem EMRK-widrigen Freiheitsentzug). In rechts-vergleichender Sicht zeigt sich, dass hier für die einzelnen Verfahrensar-ten auch verschiedene Regelungen denkbar sind; in erster Linie ist daherder Gesetzgeber gefordert, tätig zu werden.95IV. Durchsetzung von Ansprüchen auf eine gerechteEntschädigung nach Art. 41 EMRKArt. 41 EMRK regelt den Anspruch auf gerechte Entschädigung. Unterder Voraussetzung, dass der EGMR eine Konventionsverletzung fest-stellt und dass das innerstaatliche Recht des beteiligten Vertragsstaatesnur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Ver-101Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR95 Der Staatsgerichtshof sollte sich insbesondere davor hüten, für sämtliche Verfah-rensarten die generelle Möglichkeit der Wiederaufnahme zuzulassen. Gegen einesolche Tendenz spricht aber schon das Urteil StGH 2006/111. Der Staatsgerichtshofdeutet darin an, dass er die Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens ohneVorliegen einer expliziten gesetzlichen Regelung lediglich in Ausnahmefällen zulas-sen könnte, nämlich wenn «anders das Ergebnis unter Gerechtigkeitsaspekten scho-ckierend wäre» (StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 45, abrufbarunter <www.stgh.li>). Im Übrigen hat der Staatsgerichtshof in ebendieser Entschei-dung StGH 2006/111 festgehalten, dass es nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs sei,«anstelle des demokratischen Gesetzgebers gesetzgeberisch tätig zu werden» (StGH2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5, S. 44, abrufbar unter <www.stgh.li>). ZurProblematik des Staatsgerichtshofs als Ersatzgesetzgeber siehe Herbert Wille, Ver-fassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein – Entstehung, Ausgestaltung,Bedeutung und Grenzen, in: Herbert Wille (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit imFürstentum Liechtenstein, 75 Jahre Staatsgerichtshof, LPS 32, Vaduz 2001, S. 9 ff.(S. 51 f.); Herbert Wille, Probleme des gesetzgeberischen Unterlassens in der Ver-fassungsrechtswissenschaft/Landesbericht Liechtenstein für die XIV. Konferenz derEuropäischen Verfassungsgerichte, 2008 in Vilnius (Litauen), EuGRZ 2009, 2009,S. 441 ff.
letzung gestattet, spricht der EGMR der verletzten Partei eine gerechteEntschädigung zu, wenn dies notwendig ist. Der EGMR hält sich abernicht an den Wortlaut, wonach eine Entschädigung nur zuzusprechenist, wenn das innerstaatliche Recht des betroffenen Vertragsstaates eineWiedergutmachung nicht gewährt. Er spricht vielmehr auch dann Ent-schädigungen nach Art. 41 EMRK zu, wenn nach innerstaatlichemRecht eine Entschädigung möglich ist.96 Insoweit der EGMR einer voneiner Konventionsverletzung betroffenen Partei eine Entschädigungnach Art. 41 EMRK zuspricht, handelt es sich um ein Leistungsurteil.97Ziel der Entschädigung nach Art. 41 EMRK ist es, dass die betroffenePartei möglichst so gestellt wird, als wenn die Konventionsverletzungnicht geschehen wäre.98 Hinsichtlich der innerstaatlichen Durchsetzungdieses Leistungsurteils gelten wiederum die Rechtswirkungen desArt. 46 EMRK. Das Leistungsurteil ist formell und materiell rechtskräf-tig. Die Vertragsparteien haben es zu befolgen.99 Zu berücksichtigen istallerdings, dass Urteile des EGMR in § 1 der Exekutionsordnung nichtals Exekutionstitel aufgeführt werden. Sollte das Land Liechtenstein ineinem Fall seiner Zahlungspflicht tatsächlich nicht nachkommen, müsstedie Zwangsvollstreckung direkt gestützt auf Art. 46 EMRK erfolgen.100Der wesentliche Unterschied zum Spruch des EGMR über eine Kon-ventionsverletzung besteht darin, dass einer Entscheidung über die Ent-schädigung nach Art. 41 EMRK jedenfalls keine rechtskräftige inner-staatliche Entscheidung entgegensteht. Darüber hinaus existieren auch102Hugo Vogt96 Vgl. Dörr, S. 1777, Rz. 14; Peukert, S. 540 f., Rz. 3; Meyer-Ladewig, S. 365, Rz. 4.97 Vgl. Dörr, S. 1809, Rz. 105, mit Hinweisen zur Lehre.98 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 96 f., Rz. 4. Für den Fall, dass die Vertrags-staaten bei der Zahlung der gerechten Entschädigung nach Art. 41 EMRK säumigsind, nimmt der EGMR in seinen Urteilsspruch auch Verzugszinsen auf. Vgl. Peu-kert, S. 594, Rz. 98.99 Vgl. Dörr, S. 1810, Rz. 109. Vgl. dazu auch S. 79 ff.100 Für die vergleichbare Rechtslage in Österreich siehe Heinrich Zens, Die Vollstre-ckung der Urteile des EGMR in Österreich, abrufbar unter <www.verdif.de/tagung en/trento/oesterreichischer-vortrag>. Dieser führt dort aus: «Die Exekution vomEGMR zugesprochener Entschädigungen nach Art. 41 EMRK erscheint in Öster-reich nur von theoretischer Bedeutung, da seitens des Staates regelmässig Zahlunggeleistet wird. Festzustellen ist allerdings, dass Urteile des EGMR in § 1 der Exe-kutionsordnung nicht als Exekutionstitel genannt sind, sodass es fraglich erscheint,ob im gedachten Falle der Nichtleistung auferlegter Entschädigungen durch denösterreichischen Staat unmittelbar gerichtliche Exekution geführt werden könnte.»
keine überwiegenden privaten oder öffentlichen Interessen, die gegeneine Zwangsvollstreckung eines die «gerechte Entschädigung» betreffen-den Urteilsspruchs des EGMR gestützt auf Art. 46 EMRK sprechenwürden. Im Übrigen wäre es aber rechtspolitisch sinnvoll, die Exekuti-onsordnung um eine Bestimmung zu ergänzen, wonach Leistungsurteiledes EGMR ebenfalls vollstreckbar sind.LiteraturverzeichnisZitierweise: Ohne besonderen Hinweis werden die angeführten Werke mit dem Namendes Verfassers beziehungsweise der Verfasserin zitiert. Werke und Beiträge, die nur ein-mal verwendet wurden, wurden jeweils in der betreffenden Fussnote vollständig wie-dergegeben.Cremer, Hans-Joachim: Entscheidung und Entscheidungswirkung, in: Rainer Grote /Thilo Marauhn (Hrsg.): EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen unddeutschen Grundrechtsschutz, Tübingen 2006, S. 1704 ff. (zit.: Cremer, Entscheidungund Entscheidungswirkung).Cremer, Hans-Joachim: Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen. Anmerkung zumGörgülü-Beschluss des BVerfG vom 14.10.2004, EuGRZ 2004, S. 683 ff. (zit.: Cremer,Bindungswirkung).Dörr, Oliver: Entschädigung und Schadenersatz, in: Rainer Grote / Thilo Marauhn(Hrsg.): EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschenGrundrechtsschutz, Tübingen 2006, S. 1772 ff. Ehlers, Dirk: Allgemeine Lehren der EMRK, in: Dirk Ehlers (Hrsg.): Europäische Grund-rechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., Berlin 2009.Frowein, Jochen Abr.: Kommentar zu Art. 46 EMRK, in: Jochen Abr. Frowein / WolfgangPeukert (Hrsg.): Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar,3. Aufl., Kehl am Rhein 2009, S. 602 ff.Grabenwarter, Christoph / Pabel, Katharina: Europäische Menschenrechtskonvention, 5.Aufl., München – Basel – Wien 2012 (zit.: Grabenwarter/Pabel, EMRK).Grabenwarter, Christoph: Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte – am Beispiel des Falls M. gegen Deutschland, Juristenzeitung (JZ)2010, S. 857 ff. (zit.: Grabenwarter, Wirkungen).Haidenhofer, Gernot: Die Pflicht zur Umsetzung von Urteilen des EGMR, in: ÖJZ2012/88, S. 803 ff.Hass, Solveig: Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Charak-ter, Bindungswirkung und Durchsetzung, Frankfurt am Main 2006.Heckötter, Ulrike: Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und derRechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte, Köln/Berlin/München 2007.Kley, Andreas: Die Beziehungen zwischen dem Liechtensteinischen Staatsgerichtshof undden übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen, einschliesslich der diesbezügli-chen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane (Landesbe-richt Liechtenstein), in: EuGRZ 2004, S. 43 ff. (zit.: Kley, Landesbericht Liechtenstein).Kley, Andreas: Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, LPS 23, Vaduz 1998(zit.: Kley, Grundriss).103Innerstaatliche Durchsetzung der Entscheidungen des EGMR
Meyer-Ladewig, Jens: Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar,3. Aufl., Baden-Baden 2011.Okresek, Wolf: Art. 46 EMRK, in: Karl Korinek / Michael Holoubek (Hrsg.): Österrei-chisches Bundesverfassungsrecht, Band 3, 1. Lfg., Wien 1999.Pache, Eckhard / Bielitz, Joachim: Verwaltungsprozessuale Wiederaufnahmepflicht kraftVölker- oder Gemeinschaftsrechts?, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl), Heft 62006, S. 325 ff.Papier, Hans-Jürgen: Umsetzung und Wirkung der Entscheidungen des EuropäischenGerichtshofes für Menschenrechte aus der Perspektive der nationalen deutschenGerichte, EuGRZ 2006, S. 1 ff.Peukert, Wolfgang: Kommentar zu Art. 41 EMRK, in: Jochen Abr. Frowein / WolfgangPeukert (Hrsg.): Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar,3. Aufl., Kehl am Rhein 2009, S. 536 ff.Pietrowicz, Marike: Die Umsetzung der zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangenen Urteile desEGMR in der russischen Föderation, Berlin 2010, Schriftenreihe zum OsteuropäischenRecht Band 15.Polakiewicz, Jörg: Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte – Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht undVölkerrecht, Band 112, Berlin/Heidelberg/New York 1992.Ress, Georg: Wirkung und Beachtung der Urteile und Entscheidungen der StrassburgerKonventionsorgane, EuGRZ 1996, S. 350 ff.Rohleder, Kristin: Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System. Unter beson-derer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht undEuropäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Neue Schriften zum Staatsrecht, Band4, Baden-Baden 2009. Schindler, Dietrich: Die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen der europäischenMenschenrechtsorgane, in: Max Kummer / Hans Ulrich Walder: Festschrift zum 70.Geburtstag von Max Guldener, Zürich 1973, S. 273 ff.Villiger, Mark E.: Die Wirkungen der Entscheide der EMRK-Organe im innerstaatlichenRecht, namentlich in der Schweiz, ZSR, Band 104/I. (1985), S. 469 ff.Walter, Christian: Nationale Durchsetzung, in: Rainer Grote / Thilo Marauhn (Hrsg.):EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechts-schutz, Tübingen 2006, S. 1659 ff.Wille, Tobias Michael: Liechtensteinisches Verfassungsprozessrecht, LPS 43, Schaan 2007.(zitiert: Wille, T.).104Hugo Vogt
Sine ira et studio oder: cum ira et studio –Überlegungen zu direktdemokratischenInstitutionen in der Schweiz und in Deutschland Daniel ThürerHerbert Wille bin ich zum ersten Mal begegnet, als er Justizminister undStellvertretender Regierungschef in Liechtenstein war. Dann verfolgteich mit grosser Anteilnahme sein persönlich-politisches Schicksal, das im«Entscheid Wille» des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechteeine würdige rechtliche Beurteilung gefunden hat. Und schliesslich habeich Herbert Wille immer wieder am Liechtenstein-Institut getroffen,und ich habe seine Schriften gelesen.1 Immer bin ich einem Mann begeg-net, der – wie ich meine – zwei Tugenden ausstrahlte: Er ist ein seriös-1051 Herbert Wille hat sehr bemerkenswerte Schriften zum liechtensteinischen Verfas-sungsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht (EWR) geschrieben. Die Schriftenbestechen durch Präzision und Schlichtheit des Stils. Schwerpunkte bilden etwa dasReligionsrecht und die Verfassungsgeschichte. Ich greife, in chronologischer Rei-henfolge, nur einige Titel heraus. Herbert Wille, Glaubens-, Gewissens- und Kul-tusfreiheit, in: Andreas Kley / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis inLiechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, S. 169 ff.; ders., Liechtenstein, in: WernerDaum u. a. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahr-hundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bonn 2012,S. 1077 ff.; ders., Zur Reform des Liechtensteinischen Staatskirchenrechts: Grundla-gen und organisatorische Ausgestaltung, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.): 25 JahreLiechtenstein-Institut (1986–2011), LPS Bd. 50, Schaan 2011, S. 21 ff.; ders., DasAbkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum und seine Auswirkungen aufdas liechtensteinische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, in: Thomas Bruha / Zol-tán Tibor Pállinger / Rupert Quaderer (Hrsg.), Liechtenstein – 10 Jahre im EWR,Bilanz, Herausforderungen, Perspektiven, LPS Bd. 40, Schaan 2005, S. 108 ff.; ders.,Liechtensteinisches Verwaltungsrecht, Ausgewählte Gebiete, in: LPS Bd. 38, Vaduz2004; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein – Entstehung,Ausgestaltung, Bedeutung und Grenzen, in: LPS Bd. 32, Vaduz 2001; ders., Verfas-sungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, 75 Jahre Staatsgerichtshof, in:LPS Bd. 32, Vaduz 2001; ders., Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Rechtauf der Grundlage der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, in: LPS Bd. 27,Vaduz 1999; ders., Die Bürgergenossenschaft, in: Balzner Neujahrsblätter 1999,S. 19 ff.; ders., Das Verhältnis von Staat und Kirche, in: Liechtensteiner Volksblattvom 5. Februar 1998.
sorgfältig denkender und arbeitender Jurist, der «sine ira et studio»grundsätzliche und brennende rechtliche Fragen identifiziert, analysiertund beurteilt. Sachlichkeit bedeutet bei ihm aber auch, im Sinne von MaxWeber, Leidenschaft; Herbert Wille hat sich als Jurist auch «cum ira etstudio» für die Belange des Rechts eingesetzt, was kein Paradox ist. Fürmich verkörpert Herbert Wille diese zwei Seiten des rechtlichen Enga-gements in seiner Person auf eindrückliche Weise. Dieser Herbert Wille gewidmete Aufsatz befasst sich mit Fragender Demokratie. Demokratie scheint weltweit im Begriff, zum «onlygame in town» zu werden. Demokratie bedeutet zunächst, im Jargon der«good governance», einfach «accountability», d. h. Verantwortlichkeitoder Rechenschaftspflicht der Regierenden gegenüber den Regierten.Staatsrechtlich wird Demokratie ganz allgemein als Staatsform verstan-den, die das Volk repräsentiert. Liechtenstein ist aber einen Schritt wei-ter gegangen als die bloss repräsentative Demokratie. Das Land gehört,neben der Schweiz und – in mehr oder weniger ausgeprägtem Masse –den sechzehn deutschen Bundesländern, zu den ganz wenigen Ländernder Welt mit direkt-demokratischen, freilich durch die Macht des Fürs-ten «konditionierten» (Gerard Batliner) Institutionen.2 Zudem hatteLiechtenstein die Vision und den Mut, weltweit das Selbstbestimmungs-recht der Völker3 zu thematisieren, die ihm immanenten Gehalte zuergründen und entsprechende Forderungen auf der politischen Bühnezu lancieren.4 Das Thema der direkten Demokratie greife ich hier aufAnstoss Liechtensteins5 vor allem unter Bezugnahme auf die Bundesre-106Daniel Thürer2 Gerard Batliner, Der Konditionierte Verfassungsstaat – Die Auslegungsregel desArt. 7 lit. d LVG für liechtensteinische Verfassungsrichter, in: Herbert Wille (Hrsg.):Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, 75 Jahre Staatsgerichtshof,LPS Bd. 32, Vaduz 2011, S. 109–138.3 Vgl. etwa Daniel Thürer und Thomas Burri, Self-determination, in: Rüdiger Wol-frum (ed.), Encyclopedia of Public International Law, Heidelberg 2012, S. 113 ff.;vgl. bereits Daniel Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Mit einemExkurs zur Jurafrage, Bern 1976.4 In Princeton wurde zur Analyse und zur weiteren Entwicklung des Selbstbestim-mungsrechts von Liechtenstein ein Institut geschaffen, das unter der Leitung vonProf. Wolfgang Danspeckgruber steht. Vgl. die interessante Homepage<http://lisd.princeton.edu/events/talks/talks2008_09.html>.5 Verschiedentlich habe ich mich auch in Publikationen mit Liechtenstein auseinan-dergesetzt. Vgl. etwa die Aufsätze «Recht, Gericht, Gerechtigkeit», in: Daniel Thü-rer, Kosmopolitisches Staatsrecht – Grundidee Gerechtigkeit, Band 1, Zürich und
publik Deutschland und die Schweiz auf, mit denen ich – nachdem ichals Mitglied des Staatsgerichtshofes während fast einem Jahrzehnt faszi-nierende Arbeit für Liechtenstein leisten durfte – zurzeit gerade beschäf-tigt bin. Ich beginne meinen kurzen Beitrag mit einigen Hinweisen aufmeine politische, subjektive, erlebnismässige Haltung zur direktenDemokratie und befasse mich dann mit Fragen der direkten Demokratiein Deutschland und der Schweiz.I. GrunderlebnisseWichtig scheint mir also zunächst, die Grundeinstellung («mindset»),das prägende «Vorverständnis»6 des Betrachters offenzulegen; sie bildendie subjektiven Prämissen zum Verständnis der Ergebnisse, zu denen ergelangt, und zu den Dispositionen, die er trifft. Erkenntnisse sind in denGeisteswissenschaften auch persönlichkeitsbedingt, eingebettet in dieLebensgeschichte des Betrachters.Wer also ist der Gratulant, fragt sich die Leserin oder der Leser, wasist seine Werte- und Erfahrungswelt? Lassen Sie mich nur auf zwei Epi-soden hinweisen, die seinerzeit, bewusst und unbewusst, mein politi-sches Weltbild mit-prägten. Sie mögen Ihnen vielleicht naiv, biedererscheinen, aber sie sind da. Gemeinsamkeiten mit dem Erlebnishori-zont von Herbert Wille sind unverkennbar.Erlebnis Eins: Ich bin in einem Landsgemeindekanton aufgewach-sen. Jedes Jahr, am letzten Sonntag im April, traten die Bürger – es warenwohl gegen 10 000 Männer (später kamen die Frauen dazu) – unter offe-nem Himmel zusammen, um über Verfassung, Gesetze, Staatsrechnung,107Sine ira et studio oder: cum ira et studioBerlin 2005, S. 439 ff.; ders., Liechtenstein und die Völkerrechtsordnung, in: ders.Perspektive Schweiz – Übergreifendes Verfassungsdenken als Herausforderung –Ein Kleinstaat im völkerrechtlichen Spannungsfeld zwischen Singularität undmoderner rechtlicher Integration, Zürich 1998, S. 249 ff.; ders., The Perception ofSmall States: Myth and Reality, in: ders., Perspektive Schweiz – Übergreifendes Ver-fassungsdenken als Herausforderung, Zürich 1998, S. 239 ff.; ders., Jurisprudenz –Kunst oder Wissenschaft?, in: Alois Riklin / Luzius Wildhaber / Herbert Wille(Hrsg.), Kleinstaat und Menschenrechte – Festgabe für Gerard Batliner, Basel undFrankfurt a. M. 1993, S. 537 ff.6 Vgl. Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frank-furt 1972.
Budget, wichtige Bauvorhaben etc. zu beschliessen. Die Versammlungwurde durch ein feierliches Lied (das «Landsgemeindelied») eröffnet,das die Bürger gemeinsam sangen, und durch Eidesleistungen vonBehörden und Bürgern.7 Die Landsgemeindemänner trugen, als Stimm-ausweis und Symbol ihrer Bürgerpflichten, eine Waffe auf sich. Auf demDegen meines Vaters war «suum cuique» eingraviert, auf dem meineneine Stelle aus der Gefallenenrede des Perikles: «to eudaimon to eleu -theron» («sehet das Glück in der Freiheit»). Mein Vater war der Mei-nung, dass es nicht schade, wenn einige Stimmbürger auch über dieGerech tigkeitsformel von Justinian oder das Freiheitsbekenntnis desgrossen Staatsmanns von Athen Bescheid wüssten. Die Landsgemeinde,von der ich hier spreche, ist mittlerweile abgeschafft. Die Urform derdeutsch-genossenschaftlichen, aber auch im Staatsbild Rousseaus ver -ankerten (und der Schweiz zum Teil durch Frankreich nach der Revolu-tion aufoktroyierten) unmittelbaren Demokratie hat aber das Denkenüber Demokratie von vielen Schweizern bis auf den heutigen Taggeprägt. Die Stimmbürger, die ich noch immer vor Augen sehe, waren keine«Wutbürger» der heute verbreiteten Art, sie waren auch keine helden-haften «Mutbürger», sie waren einfach «ordinary people», mit einem«ordinary mind»; keine Experten, keine Philosophen, keine «Nobel-108Daniel Thürer7 An der Landsgemeinde des Nachbarkantons, Appenzell Innerrhoden, wurden infeierlicher Form Eide des «Landammanns» und des «Landvolkes» geleistet. Diebesonders eindrucksvollen Formeln lauten wie folgt: Der stillstehende Landammann verliest folgende Eidesbelehrung: «Im Namen der Dreifaltigkeit. Amen.Ein jeder, der einen Eid zu schwören hat, soll wohl bedenken, welch ernste und ver-antwortungsvolle Sache dies ist. Er hat die drei Schwurfinger emporzuhalten, dieihn an die drei göttlichen Personen, zu denen er schwört, erinnern. Wenn nunjemand so gewissenlos wäre, einen falschen Eid, einen Meineid zu schwören oderetwas, das er eidlich versprochen und beschworen hat, nachher nicht zu halten, sosolle er wissen, dass er eines der schwersten Verbrechen beginge.Wer wissentlich falsch schwört, der ruft Gott zum Zeugen der Lüge an, der verach-tet die Gerechtigkeit Gottes und macht sich schrecklicher Strafen schuldig, in die-sem und im jenseitigen Leben.Erstlich soll der Landammann schwören, die Ehre Gottes, sowie des Landes Nutzund Ehre zu fördern und den Schaden zu wenden, Witwen und Waisen und sonstmänniglich zu schirmen und zum Rechten verhelfen zu wollen, so gut er könne undes ungefähr vermöge, jedermann zu richten, wie es ihm befohlen wird, nach denRechten, wie sie ihm sein Gewissen weist, weder durch Wertgaben, Freundschaften,Feindschaften noch anderer Sachen willen, nur nach den Rechten und um den Lohn,
preisträger», aber viele waren mit dem Instinkt ausgestattet, relativ ver-nünftige, sinnvolle Entscheide zu treffen für die Gestaltung ihrer alltäg-lichen, realen Lebenswelt.Das zweite Grunderlebnis, das seinerzeit mein Demokratiever-ständnis beeinflusste, geht auf die 68er-Zeit zurück. Ich gehörte in unse-rer Gemeinde einem Zirkel von Studenten, zum Teil studentischenFunktionären, an, die fasziniert Marcuse lasen, viel über Dutschke dis-kutierten, fieberhaft die Studentenrevolten in Paris verfolgten. Wirwaren der Meinung, dass unsere Gemeinde wie der Staat insgesamt vonMachenschaften unsichtbarer Eliten von Machthabern geleitet war, undwir klagten das System der «Ausbeutung» in einer Gemeindeversamm-lung an, dies im Namen der «Arbeiter» und anderer «Unterdrückter».Der Gemeindepräsident («Hauptmann» genannt), selbst ein Industriel-ler, fand, dass wir mit unseren Attacken die «falsche Adresse» gewählthätten, und er lud uns – entwaffnend – zur Mitwirkung in einer Bürger-kommission ein, welche die Schaffung eines Gemeindeparlaments undeiner Gemeindezeitung prüfen solle, um so mit vereinten Kräften demUnwesen des geheim wirkenden «Establishment» auf den Leib zurücken. Meine Lehre aus dieser Erfahrung war, wie heilsam, wirklich-keitsnah und gerechtigkeitsfördernd es ist, den Weg von der Ideologiezur Institution zu beschreiten.109Sine ira et studio oder: cum ira et studioder darauf gesetzt ist. Desgleichen soll er von keinem Fürsten noch Herrn keinerleibesondere Pension, Schenkung oder Gaben nehmen, denn in den Landsäckel.»Der regierende Landammann spricht mit erhobenen Schwurfingern dem stillste-henden Landammann die folgende Schwurformel nach:«Das hab ich wohlverstanden, wie es mir vorgelesen und eröffnet worden ist. Daswill ich wahr und stets halten, treulich und ungefährlich. Also bitte ich, dass mirGott und die Heiligen helfen. Amen.»Der regierende Landammann verliest folgende Eidesbelehrung: «Ebenso sollen die Landleute hinwiederum schwören, die Ehre Gottes, die Ehre desLandammanns und des Landes Nutz und Ehre zu fördern und den Schaden zu wen-den und ein Ammann und dessen Gericht und Rat zu schirmen, dem Ammann undseinen Boten gehorsam zu sein, wozu jedermann aufgefordert wird, dass er es halteund ein Genüge leiste nach besten Kräften. Es sollen die Landleute auch in den Eidnehmen und schwören, dass sie von keinem Fürsten noch Herrn keine besonderePension, Schenkungen, Miet oder Gaben nehmen wollen, es sei denn in den Land-säckel.»Die Landleute sprechen mit erhobenen Schwurfingern dem regierenden Landam-mann die folgende Schwurformel nach: «Das hab ich wohl verstanden, wie es mirvorgelesen und eröffnet worden ist. Das will ich wahr und stets halten, treulich undungefährlich. Also bitte ich, dass mir Gott und die Heiligen helfen. Amen.»