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Türkeistämmige in Deutschland. Heimatlos oder überall zuhause? | Fremd in der Heimat? | bpb.de
Von den gegenwärtig rund 17 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bilden die Türkeistämmigen mit knapp drei Millionen – nach den (Spät-)Aussiedlern – die größte Gruppe. Etwa die Hälfte von ihnen ist eingebürgert. Sie sind jedoch, was Teilhabe- und Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben betrifft, häufig an hinterster Stelle. Obwohl ihre Migrationsgeschichte bis 1961 zurückreicht, erscheinen sie der Mehrheitsgesellschaft offenbar noch immer als "fremd" und befremdlich. Ihre nach wie vor starken Herkunftsbezüge werden gelegentlich als "mangelnde Integrationsbereitschaft" gedeutet. Aber auch die Türkeistämmigen selbst bewerten das Integrationsgeschehen in Deutschland weniger positiv als andere Zuwanderergruppen, wie zuletzt das "Integrationsbarometer" vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) gezeigt hat. Um dies genauer zu verstehen, ist ein Blick in die herkunftskulturellen Voraussetzungen der Türkeistämmigen hilfreich. Unterschiedliche Prägungen Die Türkei gehört zweifellos zu einem der widersprüchlichsten Länder des Nahen Ostens beziehungsweise Südosteuropas. Zwar hat sie sich durch den Ausbau wirtschaftsliberaler Programme seit 1983 stark nach Westen geöffnet und konnte unter der Regierung der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei) bis etwa 2012/13 ein starkes Wirtschaftswachstum verzeichnen, aber all diese Entwicklungen haben landesweit kaum zu einem kulturellen Wertewandel in Richtung mehr Liberalität und Toleranz für Diversität geführt. Im Gegenteil: Spätestens seit 1994 hat es im türkischen Parteienspektrum einen deutlichen Rechtsruck gegeben. Ab Mitte der 1990er Jahre – also noch vor der AKP-Machtübernahme 2002 – ist die türkische Gesellschaft stärker religiös und konservativ geworden. Die AKP hat diese Tendenzen bereitwillig aufgegriffen und insbesondere im Bildungswesen weiter ausgebaut. Wie extrem die Gegensätze in der Türkei und ihrer Entwicklung sind, zeigt allein der Blick auf die sehr unterschiedlichen Alphabetisierungs- und Geburtenraten in den verschiedenen Landesteilen: Während im Osten und Südosten der Türkei (in den Provinzen Van und Şanlıurfa) gerade einmal gut zwei Drittel der Bevölkerung lesen und schreiben können, liegt die Alphabetisierungsrate im Westen der Türkei (etwa in den Metropolen Istanbul und Izmir) weit über 90 Prozent. Gleichzeitig bekommt eine Frau in Van durchschnittlich rund sechs Kinder, in Izmir dagegen 1,75, was nur leicht über dem entsprechenden Wert in westeuropäischen Großstädten liegt. Darüber hinaus wurde in einer Vielzahl von Studien eine hohe Religiosität in der Türkei nachgewiesen; dem "Werteatlas der Türkei" zufolge, der auf den Daten des World Value Surveys basiert, gehört die türkische Bevölkerung weltweit zu den religiösesten. Während sich beispielsweise 1990 etwa 75 Prozent der Türkinnen und Türken als religiös definierten, waren es 2011 bereits 85 Prozent. In detaillierten Auswertungen lässt sich auch hier die große regionale Variation feststellen: Je weiter östlich die Landesteile liegen, desto höher ist der Grad der Religiosität. Diese Befunde sind relevant, um die je unterschiedlichen sozialstrukturellen Prägungen und Orientierungen auch in Deutschland einordnen und verstehen zu können, die – zumindest in der ersten, noch selbst zugewanderten Generation – nicht ganz aufgegeben wurden. Insbesondere der wirtschaftliche Aufschwung und die damit gestiegene politische Bedeutsamkeit des Landes haben dazu geführt, dass das Herkunftsland für in Deutschland lebende Türkeistämmige als Identifikationsquelle immer attraktiver wurde, vor allem dann, wenn mit längerer Aufenthaltsdauer keine bessere Einbindung und Akzeptanz in der hiesigen Gesellschaft einhergegangen sind. Denn Menschen haben das Bedürfnis, Teil eines starken "Wir" zu sein; bei fehlenden Identifikationsangeboten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird diese dann gegebenenfalls in einer "starken Türkei", in einem "starken Islam" oder anderem gesucht. Darüber hinaus sind mit der Migration auch die zentralen Konfliktlinien der türkischen Gesellschaft, die sich in politischer, ethnischer und religiöser Ausprägung zeigen, auch nach Deutschland "importiert" worden; genauer gesagt, sind sie natürliche Folge bestehender transnationaler Bezüge von Menschen auch nach einer Migration. Diese finden regelmäßig ihren Niederschlag etwa im Umfeld von Wahlkampfveranstaltungen türkischer Politiker in Deutschland, nach militärischen Einsätzen der türkischen Armee im Südosten des Landes sowie in den vergangenen Monaten nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 in Auseinandersetzung mit staatsnahen Institutionen wie dem Moscheeverband DITIB (Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion) und inkriminierten Gruppen wie der Gülen-Bewegung. Die erste Konfliktdimension liegt in den Spannungen zwischen laizistischen und religiösen Türken, deren Ursprung auf die Republikgründung 1923 zurückzuführen ist. Damals wurde von einer westlich orientieren Elite Laizismus verordnet, der von einem Großteil der Bevölkerung mehr oder weniger widerwillig angenommen wurde. Die heute regierende AKP ist seit einigen Jahren – im Bewusstsein ihrer Machtfülle – dabei, diese Verhältnisse wieder umzudrehen. Die zweite Konfliktdimension ist die ethnische zwischen Türken und Kurden, die mit dem lange Zeit hochgehaltenen Selbstverständnis des türkischen Staates als ethnisch homogene Nation zu tun hat. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen sind ethnische Kurden, was in etwa ihrem Bevölkerungsanteil in der Türkei entspricht. Ihre genaue Zahl ist schwer zu erfassen, weil diese nach Staatsangehörigkeit und nicht nach ethnischen Selbstdefinitionen erfolgt. Darüber hinaus leben in Deutschland auch Kurden aus anderen Staaten, etwa aus Syrien, Iran und Irak, die sich hier politisch und sozial für Belange des kurdischen Volkes in der Türkei engagieren. Die dritte Konfliktdimension ist die stets latente Spannung in der unterschiedlichen Deutung des Islam und den daraus abgeleiteten Lebensformen zwischen Aleviten und Sunniten. Schätzungen zufolge sind etwa zwei Drittel der Türkeistämmigen in Deutschland sunnitische Muslime, etwa 12 bis 15 Prozent sind Aleviten; die anderen gehören entweder kleineren konfessionellen Richtungen an oder sind konfessionslos. Während die türkischen Sunniten innerhalb der islamischen Rechtsschulen der hanefitischen Tradition folgen, sind kurdische Muslime aus der Türkei beispielsweise in ihrer religiösen Praxis stärker von der schafiitischen Tradition geprägt. Bei einem genaueren Blick wird also deutlich, dass die im Alltag verwendete, vermeintlich eindeutige kategoriale Zuordnung von Menschen zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Herkunft brüchig wird. Auch etwaige Annahmen, dass mit einer Auswanderung in ein anderes Land Menschen im Laufe ihres Lebens ihre im herkunftskulturellen oder familiären Kontext erworbenen Kompetenzen, Kenntnisse und Orientierungen ablegen und eine "neue Sozialisation" durchlaufen, verkennen die "Mächtigkeit" früher Habitualisierungen; und sie übersehen die grundlegenden Befunde der Transnationalismusforschung. Denn Zuwanderer sind in ihrem Alltag häufig in mindestens doppelte soziale und kulturelle Bezugsnetze involviert, manchmal auch in transnationale Netzwerke, die jenseits von Aufnahme- und Entsendeland liegen – wenn etwa Türkeistämmige aus Deutschland heraus Netzwerke nach Belgien, Frankreich, Großbritannien oder in die USA unterhalten. Eine Analyse der Daten des Sozio-oekonomischen Panels hat gezeigt, dass mehr als drei Viertel der Türkeistämmigen aus der ersten Generation seit ihrer Ankunft in Deutschland mindestens einmal im Jahr die Türkei besucht haben; etwa 77 Prozent hatten Angehörige im Ausland. Diese intensiven transnationalen Beziehungen haben einen markanten Einfluss auf den mentalen Haushalt der Türkeistämmigen. Religiosität In einer Vielzahl empirischer Studien wird zum einen die hohe Relevanz der Religion für die Identitätsentwürfe Türkeistämmiger deutlich, die zunächst als eine das Selbst stabilisierende Ressource anzuerkennen ist. Zum anderen führt die gelebte Religiosität innerhalb der Gruppe der Türkeistämmigen aber zu Spaltungen beziehungsweise zu einer deutlichen Differenzierung der individuellen Wertestruktur. Dies soll im Folgenden anhand einiger empirischer Studien und Befunde exemplarisch aufgezeigt werden. Die Psychologen Jürgen Raithel und Joachim Mrazek haben in einer repräsentativen Studie, für die sie über 2100 "biodeutsche" und türkeistämmige Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren befragten, festgestellt, dass für die Identitätsdefinition "biodeutscher" Jugendlicher neben der primär nationalen Identität (deutsch) die sozialräumliche Verortung (etwa als Kölner, Berliner, Duisburger) und dann aber schon eine überregionale Zugehörigkeit (Europäer, Weltbürger) zentral ist. Die religiöse Dimension spielt für sie kaum eine Rolle, nur etwa acht Prozent gaben die Kategorie "Christ" an. Bei den türkeistämmigen Jugendlichen ergibt sich ein deutlich anderes Bild: Auch ihnen ist primär die national-ethnische (türkisch) Zugehörigkeit wichtig (94 Prozent), gefolgt von der Kategorie "Muslim" (86 Prozent) und dann aber bemerkenswerterweise von der Kategorie "Ausländer" (72 Prozent). Das Gefühl, nicht Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, bildet also eine Kernkomponente ihrer Identität. Generell fühlen sich die türkeistämmigen Jugendlichen mehr "türkisch" als "biodeutsche" Jugendliche sich "deutsch" fühlen, wobei sich bei letzteren hinsichtlich der nationalen Identifikation markante Bildungseffekte zeigen: Hauptschüler empfinden sich eher als "deutsch", Gymnasiasten fühlen sich eher als "Weltbürger". Für die Türkeistämmigen lassen sich diesbezüglich hingegen kaum Bildungseinflüsse nachweisen. Stattdessen sind bei ihnen hinsichtlich der religiösen Dimension Bildungseffekte festzustellen: Türkeistämmige Hauptschüler fühlen sich eher als Muslime, Gymnasiasten etwas weniger. In einer früheren Studie von 2011 mit türkeistämmigen Zuwanderern, Türken in der Türkei und "Biodeutschen" habe ich gezeigt, dass eine aktiv gelebte Religiosität die Wertewelt von Türken (in der Türkei) und türkeistämmigen in Deutschland deutlich stärker trennt als dies innerhalb der ethnisch deutschen Gruppe der Fall ist. Religiosität ist demnach für "Biodeutsche" eher eine private, spirituelle Angelegenheit, die andere Wertauffassungen nur unwesentlich berührt. Für die Gruppe der Türkeistämmigen und Türken (in Deutschland und in der Türkei) lässt sich hingegen zeigen, dass in der Religion eine die Wertestruktur deutlich prägende Kraft liegt. Bereits 2009 ist in einer soziologischen Studie mit Blick auf die allgemeine Religiosität von Türkeistämmigen eine über Generationen hinweg vorzufindende Stabilität festgestellt worden, die weitestgehend unabhängig von sozialen Schichtmerkmalen ist. Auch hat das Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) von 2000 bis 2013 eine Relevanzzunahme muslimischer Religiosität dokumentiert: Der Anteil der "eher" bis "sehr" Religiösen ist in diesem Zeitraum von 56,7 Prozent auf knapp 82 Prozent angestiegen. Zugleich gab es eine markante Abnahme der "weniger" Religiösen um gut 40 Prozentpunkte auf etwa 18 Prozent. Schließlich ist ein Befund aus Österreich zu nennen: Trotz sozioökonomischer Angleichungsprozesse – für die jüngere Generation etwa ist eine gewisse Aufwärtsmobilität feststellbar –, gibt es eine hohe Wertetransmission zwischen den Generationen beziehungsweise ein Festhalten an den Werten der Herkunftskultur der Eltern. Dies bestätigt die schon ältere Erkenntnis, dass bestimmte religionsspezifische Dogmen in der Migrationssituation recht stabil sind, auch wenn in der individuellen Lebensführung eine deutliche Abnahme der Verbindlichkeit religiöser Normen zu beobachten ist. Das heißt im Klartext: Die Jugendlichen bezeichnen sich zum Beispiel als Muslime und kennen eventuell auch einige islamische Gebote und Dogmen, sind in ihrem Alltag – etwa, was das tägliche Gebet, das Fasten im Ramadan oder anderes betrifft – jedoch kaum davon geleitet. Insofern ist hier geboten, die Annahmen klassischer Modernisierungs- und Wertewandeltheorien mit Blick auf Migrationssituationen neu zu konzeptualisieren. Für türkeistämmige Zuwanderer, die als eine große Gruppe von Diskriminierungen, Entwertungserlebnissen und Rückweisungen im sozialen Alltag betroffen sind, kann Religion die Funktion einer symbolischen Heimat annehmen, die neben der Orientierung im alltäglichen Handeln auch ein Gefühl transzendentalen Schutzes und Geborgenheit vermittelt. Politisches Zuhause? Menschen mit Migrationshintergrund bilden für die politischen Parteien in Deutschland ein immer wichtiger werdendes Potenzial; ihre spezifischen Bedürfnisse, Wünsche, Haltungen und Einstellungen sowie deren Dynamiken zu kennen, kann künftig wahlentscheidend sein. Über alle Zuwanderergruppen hinweg lässt sich festhalten, dass diese ihr politisches Zuhause eher in der SPD gefunden haben, mit deutlichem Vorsprung vor den Unionsparteien: 40,1 Prozent geben eine Präferenz für die Sozialdemokraten an, 27,6 neigen eher zu CDU/CSU. Bündnis 90/Die Grünen (13,2 Prozent) und Die Linke (11,3 Prozent) liegen fast gleichauf dahinter. Allerdings gibt es markante Unterschiede zwischen den beiden größten Zuwanderergruppen, den (Spät-)Aussiedlern und den Türkeistämmigen: Während die Gruppe der (Spät-)Aussiedler mit 45,2 Prozent nach wie vor deutlich die Union favorisiert, ist bei den Türkeistämmigen die SPD mit 69,8 Prozent die beliebteste Partei, dahinter folgen Bündnis 90/Die Grünen mit 13,4 Prozent, Die Linke mit 9,6 Prozent und schließlich die CDU/CSU mit 6,1 Prozent. Haben wir es bei den Türkeistämmigen also mit einer überaus linksliberalen Gesinnung zu tun, die zugleich, wie oben gezeigt, nationalistisch und religiös geprägt ist? Wie ist dieser Widerspruch zwischen psychologischem Profil und Parteipräferenz zu erklären? Hierfür ist die Analyse des Wahlverhaltens mit Blick auf türkische Parteien hilfreich, wie sie sich sowohl bei den Stimmabgaben zum türkischen Parlament 2015 (Juni und November) als auch bei der Präsidentschaftswahl 2014 gezeigt hat – und sich beim bevorstehenden Referendum im April 2017 vermutlich erneut zeigen wird. Hier sehen wir eine hohe Präferenz für die gegenwärtig in der Türkei regierende AKP, die je nach Bundesland unter den in der Türkei Wahlberechtigten bei 50 bis 70 Prozent liegt, und somit etwas höher als bei den Wählerinnen und Wählern in der Türkei, was Deutschland zu einem begehrten Wahlkampfort für türkische Politiker macht. Mit deutlichem Abstand folgt als zweitstärkste Kraft mit rund 16 Prozent die Unterstützung für die oppositionelle HDP (Halkların Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker), eine politisch eher linksliberale und den Kurden nahestehenden Partei. Die türkischen Sozialdemokraten der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi; Republikanische Volkspartei), sind in der Türkei gegenwärtig mit etwa 26 Prozent die zweitstärkste Partei, scheinen jedoch in der Gunst der Türkeistämmigen in Deutschland mit Werten um die 15 Prozent nur eine geringere Rolle zu spielen. Hält man nun die Präferenzen der Türkeistämmigen für die deutschen Parteien dagegen, ergibt sich also ein in doppelter Hinsicht vollkommen umgekehrtes Bild: spiegelverkehrt zur Präferenz einheimischer deutscher Wähler und spiegelverkehrt zur Präferenz der Parteien in der Türkei. Auch wenn ein Großteil der Türkeistämmigen eingebürgert und de jure im Besitz vollständiger Rechte ist, lässt sich die Dominanz der SPD und der Grünen stark auf die Parteiprogramme beziehungsweise auf die Haltung der Parteien zum Beispiel zu Integration, Minderheitenrechten oder doppelter Staatsbürgerschaft zurückführen. Insofern kann bei den türkeistämmigen Wählern in Deutschland durchaus von einer pragmatischen, das Eigeninteresse kalkulierenden Positionierung gesprochen werden. Die parteipolitischen Präferenzen mit Blick auf die Türkei hingegen lassen sich in erster Linie mit den unterschiedlichen Migrationswellen erklären: In der ersten Phase der Migration, von 1961 bis 1973, rekrutierten sich die damaligen "Gastarbeiter", die danach schrittweise ihre Familien nachholten, eher aus der ländlichen Bevölkerung, die weitestgehend konservativ-islamisch geprägt war. In Deutschland organisierten sie sich über landsmannschaftliche Vereine (oft als "Kulturvereine") sowie über Moscheevereine, die gegenwärtig politisch eher zum Wählerreservoir der regierenden AKP zählen. Diese konservativ-religiösen Haltungen werden weitestgehend in den Familien an die nachfolgenden Generationen tradiert; generell ist die intergenerationale Wertetransmission bei Zuwanderern stark ausgeprägt. In der zweiten größeren Migrationswelle, während und nach dem Militärputsch von 1980 sowie nach den lang andauernden Unruhen im Südosten der Türkei in den 1990er Jahren, kamen verstärkt Menschen mit einer eher politisch linken Gesinnung oder aus den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten und suchten in Deutschland Asyl. Gegenwärtig stellen neben (hier aufgewachsenen) linksliberalen Intellektuellen insbesondere kurdische und auch alevitische Gemeinden (aus ihrer historischen Spannung zum sunnitischen Islam) die größten Unterstützungspotenziale für die HDP und haben eine kritische Haltung zur AKP. Die türkische Sozialdemokratie – unter anderem mit der Betonung des Laizismus sowie der Atatürk’schen Reformen – bietet für die Türkeistämmigen in Deutschland kein scharfes Profil; ihre Themen (wie etwa der Laizismus) berühren die Lebenswelt der Türkeistämmigen weniger, ihr Adressatenkreis ist eher eine westlich, weltlich und städtisch orientierte Elite in der Türkei. Am Beispiel dieses scheinbar widersprüchlichen Wahlverhaltens lässt sich die mehrfache Gespaltenheit der türkeistämmigen Zuwanderer nachvollziehen: Auf der einen Seite gibt es eine starke religiös-konservative Orientierung, die den Islamisierungstendenzen in der Türkei zumindest wohlwollend gegenübersteht, aber hier die stärksten Ausgrenzungserlebnisse macht und zu Recht mehr Teilhabe und Gleichberechtigung einfordert; auf der anderen Seite gibt es eine linksliberale Orientierung, die den politischen Entwicklungen in der Türkei höchst kritisch gegenübersteht, zugleich aber auch skeptisch ist, was ein stärkeres Empowerment von Muslimen in Deutschland betrifft, weil sie diese als "rückständig" und "vormodern" deutet. Eine Balance wäre hier eher mit einer Orientierung an Menschenrechten und allgemeinen Gleichheitsgrundsätzen herzustellen, jenseits von nationaler und religiöser Orientierung. Emotionale Heimat? Häufig wird die identifikative Integration, das "Sich-Deutsch-Fühlen" als Krönung einer gelungenen Integration betrachtet und insbesondere von den Nachfolgegenerationen – spätestens ab der dritten Generation – von der Mehrheitsgesellschaft auch erwartet. Die prominente Betonung herkunftskultureller Identitätsmerkmale wird im öffentlichen Diskurs hingegen als Zeichen gescheiterter Integration, manchmal gehässig auch als "Integrationsresistenz" oder "Integrationsverweigerung" gedeutet. In der Integrationsforschung hat sich jedoch seit Langem die Erkenntnis durchgesetzt, dass weder eine Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft eine Rückweisung der Verbundenheit mit der Herkunftskultur bedeutet, noch die Identifikation mit der Herkunftskultur eine Ablehnung der Aufnahmegesellschaft markiert. Loyalitäten und Identifikationen sind kein Nullsummenspiel. Zuwanderer können in ihrem sozialen Alltag je nach Lebenssituation zwischen den verschiedenen kulturellen Bezugs- und Orientierungssystemen wechseln – etwa Mehrfachintegrationen und Mischidentitäten aufweisen –, ohne dass dies als ein Zeichen von Pathologie oder sozialer Exklusion beziehungsweise Selbstexklusion zu werten ist. Die im Unterton meist gehässige Rede von "Parallelgesellschaften" verkennt, dass trotz unterschiedlicher politisch-religiöser Ausrichtungen und Orientierungen von Einheimischen und Zuwanderern beziehungsweise deren Nachkommen im alltäglichen Zusammenleben tatsächlich vielfältige freundschaftliche Beziehungen sowie Nachbarschaften bestehen und diese von beiden Seiten auch explizit gewünscht sind. Um eine empirische Orientierung über die Stärke und Zusammenhänge der Identifikationen beziehungsweise Beheimatungen Türkeistämmiger zu bekommen, sollen im Folgenden einige repräsentative Daten vorgestellt werden, die das ZfTI 2015 in einer Mehrthemenbefragung in Nordrhein-Westfalen erhoben hat. Als ein Indikator des Zugehörigkeitsgefühls, der auch eine bikulturelle Identifikation abbilden kann, wurde die Frage nach der heimatlichen Verbundenheit mit Deutschland, der Türkei oder mit beiden Ländern gestellt: Eine heimatliche Verbundenheit allein zu Deutschland empfinden demnach 18 Prozent der Befragten; weitere 30 Prozent sehen sowohl Deutschland als auch die Türkei als ihre Heimat (Abbildung). Zusammengefasst hat also knapp die Hälfte der Türkeistämmigen Heimatgefühle für Deutschland. Dagegen sehen 47 Prozent nur die Türkei als ihre Heimat; vier Prozent fühlen sich nirgends zu Hause. Betrachtet man die heimatliche Verbundenheit im Zeitverlauf, so wird deutlich, dass diese offenbar von allgemeinen Stimmungen beeinflusst wird. Insbesondere seit 2012 nimmt die Verbundenheit mit der Türkei zu; hingegen nimmt die Verbundenheit mit Deutschland tendenziell eher ab beziehungsweise stagniert. Diese Entwicklung lässt sich zum einen möglicherweise damit erklären, dass die AKP seit einigen Jahren deutlich stärker um die Gunst der "Auslandstürken" buhlt und sie in ihre politischen und strategischen Überlegungen einbezieht – etwa durch die Gründung eines Ministeriums für die Belange der "Auslandstürken", durch die Schaffung von Wahlmöglichkeiten in den Konsulaten oder durch symbolische Identitätsangebote durch türkische Politiker als "stolze Erben" des Osmanischen Reiches. Zum anderen wirkt die gleichzeitige Fokussierung der deutschen Integrationspolitik auf die angeblich gescheiterte türkische beziehungsweise islamische Integration als Identifikationsbarriere. Bei einer genaueren Analyse der Daten fallen einige interessante Differenzierungen und Zusammenhänge auf: So fühlen sich die nichtreligiösen Befragten seltener nur mit der Türkei, aber häufiger mit beiden Ländern oder nur mit Deutschland verbunden als die religiösen. Tendenziell lässt sich beobachten, dass mit der Zunahme sozialer Beziehungen das Verbundenheitsgefühl mit Deutschland sowie mit beiden Ländern zusammen zunimmt und die Verbundenheit mit der Türkei abnimmt. Auch die Wahrnehmung von Diskriminierung macht sich – gleichwohl die Korrelationen nicht überinterpretiert werden dürfen – bemerkbar: Wenn die Befragten angaben, dass sie bereits Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, ist eine höhere Türkeiverbundenheit und eine geringere Verbundenheit mit Deutschland sowie mit beiden Ländern zusammen zu beobachten. Als ein deutlicher Indikator erweist sich auch die Wahrnehmung der eigenen wirtschaftlichen Situation: Je schlechter diese eingeschätzt wird, desto geringer ist die Verbundenheit mit beiden Ländern und mit Deutschland und desto höher zeigt sich die Türkeiverbundenheit. Hinsichtlich der Zuwanderergenerationen zeigt sich, dass Angehörige der ersten Generation und Heiratsmigranten (also diejenigen, die primär in der Türkei sozialisiert wurden) sich häufiger nur mit der Türkei und seltener nur mit Deutschland verbunden fühlen als Angehörige der zweiten und dritten Generation. Jedoch empfinden mehr Erstgenerationsangehörige beide Länder als ihre Heimat als Zweitgenerationsangehörige, die sich etwas häufiger mit keinem der beiden Länder verbunden fühlen. Auffällig und erklärungsbedürftig ist vor allem der Befund bei den Angehörigen der dritten Generation: Zu erwarten wäre eine deutlich stärkere Verbundenheit mit Deutschland; jedoch gaben sie häufiger an, sich nur mit der Türkei und seltener nur mit Deutschland verbunden zu fühlen, als Angehörige der zweiten Generation. Dieser kontraintuitive Befund fügt sich gut in Ergebnisse einer niederländischen Studie, die die Autoren dort als "Paradox of Integration" beschreiben. Bei den in dieser Untersuchung befragten ethnischen Gruppen (Türkeistämmige, Marokkaner, Surinamesen) hatten vor allem die besser Gebildeten und besser Integrierten weniger positive Einstellungen zu der Aufnahmegesellschaft. Zu erklären ist dies damit, dass diese deutlich sensibler gegenüber gesellschaftlicher Diskriminierung und verweigerter Zugehörigkeit sind. Sie verfolgen die zum Teil gehässig verlaufenden Diskurse zur Erwünschtheit und Integration von Zuwanderern aufmerksamer und haben die Gleichheitsgrundsätze wesentlich stärker verinnerlicht – weshalb sie auf Erfahrungen der Ungleichbehandlung mit einem "ethnischen Rückzug" und der Aktualisierung herkunftskultureller Identitätsdimensionen reagieren. Fazit Sind die Türkeistämmigen nun in Deutschland zuhause? Diese Frage ist sicherlich kaum mittels einer binären Ja-Nein-Logik zu fassen. Sie sind dabei, sich im (gar nicht mehr so) neuen Zuhause Deutschland einzurichten. Sie werden es eher als ihr Zuhause wahrnehmen, wenn sie dort gewohnte Einrichtungsgegenstände aufstellen können, wenn sie die Wände und Zimmer anders aufteilen können, und wenn sie an der Architektur des gesamten Hauses mitwirken können. Für die Stärkung der Identifikation von (nicht nur türkeistämmigen) Zuwanderern mit Deutschland lässt sich also festhalten, dass eine staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung sowie ihre Akzeptanz und der Abbau der Diskriminierung in der Bildungs- und Arbeitswelt zentral sind. Denn wenn Menschen das Gefühl vermittelt bekommen, "ausgegrenzt" zu sein und nicht dazuzugehören, wenn Jugendliche als eine zentrale Dimension ihrer Identität "Ausländer" angeben, erscheint es auch für sie psychologisch widersinnig, an einer Wertewelt jener Gruppe teilzuhaben, die sie doch gar nicht in ihrer Mitte haben will. So bewerten die Türkeistämmigen das Integrationsklima in Deutschland auf einer Skala von 0 (negativ) bis 100 (positiv) mit 62,7 Punkten und damit schlechter als beispielsweise die (Spät-) Aussiedler mit 68,6 Punkten und Zuwanderer aus anderen EU-Ländern mit 71 Punkten (Bevölkerung ohne Migrationshintergrund: 65,4 Punkte). Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, Berlin 2016, S. 25f. Vgl. Yasemin El-Menouar/Martin Fritz, Sozioökonomische Entwicklung und Wertvorstellungen in elf Regionen der Türkei, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61/2009, 535–561. Vgl. Yilmaz Esmer, Türkiye Değerler Atlası 2012 (Werteatlas der Türkei 2012), Istanbul 2012. Vgl. Margit Fauser/Eveline Reisenauer, Diversität und Dynamik transnationaler Beziehungen, in: Barbara Pusch (Hrsg.), Transnationale Migration am Beispiel Deutschland und Türkei, Wiesbaden 2013, S. 171–185. Vgl. Jürgen Raithel/Joachim Mrazek, Jugendliche Identität zwischen Nation, Region und Religion, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7/2004, S. 431–445. Vgl. Hacı-Halil Uslucan, Parallelwelten oder Parallelwerte? Die Wertewelt türkischstämmiger Migranten in Deutschland, in: Dirk Lange (Hrsg.), Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und Politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2011, S. 85–94. Vgl. Claudia Diehl/Matthias Koenig, Religiosität türkischer Migranten im Generationenverlauf: Ein Befund und einige Erklärungsversuche, in: Zeitschrift für Soziologie 38/2009, S. 300–319. Vgl. Martina Sauer, Teilhabe und Befindlichkeit: Der Zusammenhang von Integration, Zugehörigkeit, Deprivation und Segregation türkeistämmiger Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen, Essen 2016, Externer Link: http://zfti.de/wp-content/uploads/2016/11/NRW-Mehrthemenbefragung-2015_Bericht_end.pdf. Vgl. Hildegard Weiss, Der Wandel religiöser Glaubensgrundsätze in muslimischen Familien – Säkularisierungstendenzen bei der zweiten Generation?, in: dies./Philipp Schnell/Gülay Ateş (Hrsg.), Zwischen den Generationen. Transmissionsprozesse in Familien mit Migrationshintergrund, Wiesbaden 2014, S. 71–94. Vgl. Herbert Gans, Symbolic Ethnicity and Symbolic Religiosity: Towards a Comparison of Ethnic and Religious Acculturation, in: Ethnic and Racial Studies 17/1994, S. 577–592. Vgl. SVR, Schwarz, rot, grün. Welche Parteien bevorzugen Zuwanderer?, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen, Policy-Brief des SVR-Forschungsbereichs 5/2016. Bei der Parlamentswahl in der Türkei im November 2015 nahmen von den rund 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Wahlberechtigten 575.000 ihr Wahlrecht wahr. Vgl. Irina Mchitarjan/Rolf Reisenzein, Kulturtransmission bei Minderheiten: Ein Theorieentwurf, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 30/2010, S. 421–435; Weiss (Anm. 9). Vgl. Werner Schiffauer, Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz, Bielefeld 2008. Vgl. Sauer (Anm. 8). Vgl. Irene ten Teije/Marcel Coenders/Maykel Verkuyten, The Paradox of Integration: Immigrants and Their Attitude Toward the Native Population, in: Social Psychology 44/2013, S. 278–288.
Article
, Haci-Halil Uslucan
"2021-12-07T00:00:00"
"2017-03-08T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/243864/tuerkeistaemmige-in-deutschland-heimatlos-oder-ueberall-zuhause/
Die meisten Türkeistämmigen in Deutschland favorisieren die SPD, gleichzeitig befürworten sie mehrheitlich die Regierung der AKP in der Türkei. Wie geht das zusammen? Die Frage, ob sie sich in Deutschland zuhause fühlen, ist kaum mittels einer binäre
[ "Türkei", "Migration", "Integration" ]
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Schlaglicht 1529: die "Protestation" | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de
Waren die guten Jahre der Reformation 1529 schon wieder vorbei? Am Reichstag dieses Jahres, erneut in Speyer, gaben sich die Katholiken kämpferisch. Den mehrheitlich, gegen die Anhänger Luthers, beschlossenen Reichsabschied kann man so zusammenfassen: Expansionsstop für die neue Bewegung und ihre innere Aushöhlung – wer sich bislang ans Wormser Edikt gehalten habe, müsse es weiterhin tun; bei den "andern Ständen" sei "alle weitere Neuerung biß zu künftigem Concilio" zu "verhüten"; auch in bereits evangelischen Gebieten müsse es möglich sein, die katholische Messe zu besuchen. Hiergegen verwahrten sich mit der Sache Luthers sympathisierende Reichsstände durch eine ausführliche "protestacion", die am 20. April dem Vertreter des Kaisers am Reichstag, Karls Bruder Ferdinand, überreicht wurde. Einer der "Protestanten" von 1529: Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen (1525-32); Porträt mit Lobgedicht. (© picture-alliance/akg) Protestiert wurde an Reichstagen häufig und gegen alles Mögliche. Die Reichstagsarbeit stand in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Majoritätsprinzip und der Auffassung, Angelegenheiten, die alle Reichsstände beträfen, seien tunlichst auch von allen zu billigen. Mit seiner "protestatio" (verdeutscht hat man das lateinische Wort meistens als "Protestation") dokumentierte ein Reichsstand, dass er einen Mehrheitsbeschluss nicht mitgetragen habe und dessen Verbindlichkeit für sich selbst bestreite. Manchmal beharrte beispielsweise dieser Reichsgraf oder jene Reichsstadt darauf, eine mehrheitlich bewilligte Reichssteuer eben trotz des Abstimmungsergebnisses nicht voll aufbringen zu können; der Reichsfiskal versuchte in solchen Fällen anschließend auf dem Verhandlungsweg doch noch zum Ziel zu kommen, der Reichsabschied war in solchen Fällen insofern nicht automatisch bindende Gesetzeslage, sondern Verhandlungsbasis. Was war dann 1529 'so besonders'? Die "protestacion" vom 20. April 1529 wurde von einer stattlichen Gruppe von Reichsständen getragen: einem Kurfürsten nämlich und vier Fürsten (Kursachsen, Hessen, Brandenburg-Ansbach, Braunschweig-Lüneburg, Anhalt); in den nächsten Tagen schlossen sich noch 14 Reichsstädte an. Und sie argumentierte anders als sonst bei "protestationes" üblich, viel grundsätzlicher. Die "Protestanten" von 1529 warfen das bis heute immer wieder virulente Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Wahrheit auf. Sie erklärten, in "sachen", die "gottes ere und unser jedes selen haile und seligkeit angeen", nicht "dem merern", also der Majorität der Stimmen, "gehorchen" zu wollen. Denn es müsse "in den sachen gottes ere und unser selen haile und seligkeit belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott steen und rechenschaft geben ..., also das sich des orts keiner auf ander minders oder merers machen oder beschließen entschuldigen" könne. Das zuletzt angeführte Zitat kann man nicht konkret genug nehmen. Die meisten damaligen Menschen hatten keine spirituell sublimierten, hatten ganz handfeste Vorstellungen davon, wie es nach dem Tod weitergehe. Ehe man in den Himmel käme, würde man, um es mit unserem Text zu sagen, "vor gott steen und rechenschaft geben" müssen. Wahrscheinlich sahen sich die damaligen Menschen im Geiste vor einer Schranke stehen, dahinter saß Petrus mit gestrenger Miene unter seinem Rauschebart. Da konnte man sich dann, um unseren Text in saloppes modernes Deutsch zu übertragen, nicht wie folgt hinausreden: "Ja, dieser Reichsabschied war eine Riesensauerei – aber ich wurde eben leider überstimmt, da kann man nichts machen." In für den Glauben relevanten Dingen muss sich die Minderheit nicht der Mehrheit beugen: Diese 1529 artikulierte Ansicht wird aus zwei Gründen folgenreich sein. Zum einen trägt sie den Anhängern der von Wittenberg ausgehenden Reformation den heute geläufigen Namen "Protestanten" ein. Was zunächst als polemisch gemeinte Fremdbezeichnung von altgläubiger Seite vorkam, werden die Evangelischen viel später, seit dem 18. Jahrhundert, zur Selbstdefinition (im Sinne einer Emanzipation von "Gewissenszwang") aufgreifen. Sodann ist 1529 ein dauerhaft schwelender Brandsatz in die Reichstagsgeschichte geworfen worden. Der Reichstag war damals ja ein noch recht junges Reichsorgan, ohne schriftlich fixierte Geschäftsordnung. Das Prozedere verfestigte sich gerade, konsolidierte sich; dass Reichstagsbeschlüsse in jedem einzelnen Fall alle banden, stand noch keinesfalls unverbrüchlich fest, als es die "Protestation" von 1529 ganz grundsätzlich in Frage stellte. Warum ganz grundsätzlich? Haben die Protestanten ihren Einspruch nicht auf Glaubensdinge beschränkt? Ja, schon – aber was war damals nicht alles Glaubensangelegenheit! Glaubensfragen waren in der Reformationsepoche nicht irgendetwas Akzidentielles, auch nichts Privates, sondern höchst politisch und ganz und gar öffentlich. Welche brisante reichspolitische Frage hatte damals nicht mit dem Glauben zu tun? Das gilt natürlich erst recht fürs Konfessionelle Zeitalter! Die Reichstagsarbeit wird im Zeichen der grassierenden konfessionellen Konfrontation seit dem späten 16. Jahrhundert immer mühseliger werden, auch wegen des notorischen Problems der Bindekraft der katholischen "Maiora". So wird die "protestacion" von 1529 am Ende sogar dazu beitragen, dass der Reichsverbund unregierbar wird, nicht mehr steuerbar ist und eben deshalb in seinen dreißigjährigen Konfessionskrieg seit 1618 trudelt. Der Westfälische Frieden wird 1648 daraus die Konsequenz ziehen, Reichstagsmaterien für nicht majorisierbar zu erklären, wenn sie eine Konfession als Glaubensfrage einschätze; in solchen Fällen mussten sich Katholische und Evangelische fortan gleichsam 'eins zu eins' einigen. Das sind bedeutende Fernwirkungen, die 1529 kein Mensch auch nur vorausahnen konnte. Einer der "Protestanten" von 1529: Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen (1525-32); Porträt mit Lobgedicht. (© picture-alliance/akg)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-10-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/reformation/235571/schlaglicht-1529-die-protestation/
Protestiert wurde an Reichstagen häufig und gegen alles Mögliche. Die Reichstagsarbeit stand in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Majoritätsprinzip und der Auffassung, Angelegenheiten, die alle Reichsstände beträfen, seien tunlichst auch von all
[ "Dossier Reformation", "Luther", "Karl V.", "Protestation" ]
29,901
Rechtsextremismus und religiös begründeter Extremismus | Reflect Your Past | bpb.de
Arbeitsblatt als Interner Link: PDF zum Download Nach der Definition des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zielen extremistische Personen darauf ab, "die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen" (Bundesamt für Verfassungsschutz o.J.a). Der Extremismusbegriff steht als "Oberbegriff für verschiedene Extremismusvarianten", die sich "hinsichtlich ihrer Organisationsform", "Aktionsformen" und "Intensität" unterscheiden (Mannewitz et al. 2018: 19-22). Als gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Formen des Extremismus kann die Ablehnung der "Institutionen konstitutioneller Demokratie" festgemacht werden (Jesse/Mannewitz 2018: 159). Doch wenn Extremist*innen auf die Bekämpfung der Demokratie abzielen, dann müssen sie auch eine Vorstellung darüber haben, wie ihres Erachtens eine bessere politische Ordnung auszusehen hat. Was ist also die Alternative, die extremistische Personen den Werten der freiheitlich demokratischen Grundordnung vorziehen? Diese Frage kann unterschiedliche Antworten haben, da sie auf die vertretene Ideologie von extremistischen Personen oder Gruppen abzielt. Grundsätzlich wird zwischen "politisch motiviertem" und "religiös motiviertem" Extremismus unterschieden (Bötticher/Mareš 2012: 219, 243). Im Folgenden werden die beiden Formen Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus näher betrachtet. Islamistischer Extremismus Beim religiös motivierten Extremismus "handelt es sich um eine religiöse Bewegung, die einer Anschauung oder Auslegung folgt, die keine andere neben sich toleriert und/oder deren Anhänger bereit sind, diese auch mit gewalttätigen Mitteln durchzusetzen" (Dienstbühl 2019: 145). Der islamistische Extremismus stellt eine Form des religiös motivierten Extremismus dar und wird häufig auch als "Islamismus" bezeichnet (vgl. Bötticher/Mareš 2012: 245f.). Doch eine "allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Islamismus gibt es nicht" (Seidensticker 2014: 9). Das BfV definiert "Islamismus" als "eine Form des politischen Extremismus", die "[u]nter Berufung auf den Islam […] auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab[zielt]" (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 170). Während die Definition des BfV insbesondere das Extremistische, also die Bekämpfung des Verfassungsstaates betont, sind in der Wissenschaft auch breitere Definitionen von Islamismus vorzufinden, die das Ziel der Umstrukturierung von Staat und Gesellschaft hervorheben. So definiert Seidensticker (2014: 9) Islamismus als "Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden." Nach Farschid und Rudolph sind die kennzeichnenden Merkmale islamistischer Ideologie: "die Ableitung eines explizit politischen Anspruchs der islamistischen Religion", "Bezüge auf das islamische Recht[,] [die] nicht allein als Rechtssystem, sondern als ein spezifisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip verstanden [werden]", die Deutung von Koran und Sunna als "Funktion eines Gesetzbuchs mit Vorbildcharakter für politisches Handeln", "Versuche, spezifische Herrschaftskonzepte durch Bezüge auf vermeintlich religiöse Grundlagen zu legitimieren", der "Anspruch auf absolute Wahrheit [und] Zurückweisungen des Prinzips des Säkularismus", die Konstruktion von "Feindbilder[n] von 'Juden' und 'Christen', die Nichtmuslime als vermeintliche 'Ungläubige' diffamieren und die häufig auf einer dichotomischen Zweiteilung der Welt auf 'Gebiet des Islam' (dar al-islam) und ein 'Gebiet des Krieges' (dar al-harb) basieren" sowie "sämtliche Bezüge auf die militante Variante des Dschihad" (2008: 406 ff.). Die in den letzten Jahren relevanteste Form des islamistischen Extremismus in Deutschland stellt der Salafismus dar. Nach Angaben des BfV ist "der Salafismus […] nach wie vor die am stärksten wachsende islamistische Strömung in Deutschland" (Bundesamt für Verfassungsschutz o.J.b). Auch Dominic Musa Schmitz aus der Webvideoreihe "Reflect Your Past" war ein Salafist. Doch auch innerhalb des Salafismus gibt es Unterschiede; insbesondere hinsichtlich der Gewaltfrage. Die bekannteste Kategorisierung in "puristische", "politische" und "dschihadistische" Salafist* innen stammt von Quintan Wiktorowicz (2006: 207-239). Obschon der Islamismus in Deutschland häufig mit dem "Salafismus und Jihadismus" in Verbindung gebracht wird, sind diese jedoch "lediglich als Facetten des Islamismus zu verstehen, zu dem auch diverse nicht-salafistische Strömungen und Organisationen gehören" (Said 2017: 12). So differenziert auch das BfV unter dem "Oberbegriff 'Islamismus'" zwischen "legalistischen Strömungen", "islamistisch-terroristischen Gruppierungen" und "jihadistischen Gruppierungen", die sich in verschiedenen Gruppen, Organisationen oder politische Parteien zeigen (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 170, 178). Rechtsextremismus Unter politisch motiviertem Extremismus fallen klassische politische Lager des extrem rechten und linken Spektrums. Der Rechtsextremismus ist somit eine Form des politischen Extremismus. Ähnlich wie beim Islamismus besteht auch beim Begriff des Rechtsextremismus keine allgemeingültige Definition (Stöss 2010: 10) und der Rechtsextremismus "stellt in Deutschland kein ideologisch einheitliches Phänomen dar" (Bundesamt für Verfassungsschutz o.J.c). Eine Expertengruppe von Forschenden hat sich auf folgende Definition geeinigt (Stöss 2010: 57): "Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen." Eine ähnliche Definition ist bei Hans-Gerd Jaschke (2001: 30) zu finden, der jedoch im Gegensatz zur bloßen "Affinität zu diktatorischen Regierungsformen" (siehe oben Stöss 2010: 57) im Rechtsextremismus eine Ablehnung des "Wertepluralismus einer liberalen Demokratie", des "Multikulturalismus" sowie das Ziel, "Demokratisierung rückgängig machen [zu] wollen" erkennt. Neben "rassistischen und nationalistischen Anschauungen" sind "Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus sowie […] Demokratiefeindschaft" einschlägige Kennzeichen rechtsextremistischer Ideologien, weshalb das "rechtsextremistische Werteverständnis […] in einem fundamentalen Widerspruch zum Grundgesetz [steht]" (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 46). Ähnlich wie beim Begriff Islamismus handelt es sich auch beim Terminus Rechtsextremismus um einen Sammelbegriff, unter den diverse Gruppen und Organisationen fallen. So sind rechte und/oder rechtsextremistische Einstellungen in Parteien (wie NPD, Der III. Weg, AfD), bei Bürger- und Protestbewegungen (wie PEGIDA, Identitäre Bewegung Deutschland, Neue Rechte) oder auch in sonstigen gewalttätigen Gruppen (wie Autonome Nationalisten, Oldschool-Society) beobachtbar (Dienstbühl 2019: 98-104). Unterscheidung "politischer" und "religiöser" Extremismus in der Kritik Inwieweit die Bezeichnungen "politischer" und "religiös motivierter" Extremismus aufrechtzuerhalten sind, sollte zumindest deshalb einer kritischen Reflexion unterzogen werden, da die Bezeichnung "religiös" als Gegenstück zu "politisch motiviert" den Anschein vermittelt, religiös motivierter Extremismus sei apolitisch. Doch der Extremismusbegriff an sich hat immer eine politische Komponente. Nach Backes (2006: 198) wurden Anfang der 70er Jahre in Deutschland auf Bundesebene diejenigen als Extremist*innen bezeichnet, die "verfassungsfeindliche" (Hervorhebung im Original) Bestrebungen unternahmen. Der Begriff des Extremismus referiert somit immer auf einen politischen Kontext. Daher ist religiös motivierter Extremismus auch immer politisch motiviert. Spezifisch an dieser Form des Extremismus ist lediglich, dass die extremistischen politischen Ideen und Handlungen aus religiösen Quellen abgeleitet werden. Eine alternative Bezeichnung könnte daher "religiös-politisch motivierter Extremismus" (vgl. Hafeneger 2015) sein, der als eine (Sub-)Kategorie des politisch motivierten Extremismus gedacht werden kann. In diesem Sinne bezeichnet beispielsweise Kailitz (2004: 164, 172) den islamistischen Extremismus als eine "religiöse Variante des politischen Extremismus" oder Gansewig (2018: 466) als "religiös begründete Form des politischen Extremismus". Die Unterscheidung in "politisch motivierten" und "religiös motivierten" Extremismus sollte daher stets reflektiert werden, da es sich dabei – im Hinblick auf den in beiden Fällen gegebenen politischen Charakter – um eine künstliche Trennung handelt. Formen des Extremismus: Ähnlichkeiten und Unterschiede Wie bereits dargestellt, gibt es unterschiedliche Formen des Extremismus, die sich insbesondere ideologisch und in ihren Zielsetzungen unterscheiden. Doch auch wenn sie auf unterschiedlichen Ideologien basieren, zeigen sich ideologieübergreifende "gleiche psychosoziale Grundmuster in den biographischen Entwicklungen" von extremistischen Personen (Lützinger 2010: 67). Dies wird insbesondere bei den Biografien von Dominic Musa Schmitz und Maximilian Kelm deutlich. Obwohl beide jungen Männer Radikalisierungsverläufe mit gegensätzlichen Ideologien (Salafismus vs. Neonazismus) durchliefen, sind große Ähnlichkeiten in ihren Radikalisierungsprozessen zu erkennen: Sowohl Dominic als auch Maximilian beschreiben ihre Jugend als isoliert, was wiederum beide anfälliger für die Wirkungskraft einer einschlägigen Kontaktperson machte, nämlich eines Schulfreundes – bei Dominic handelte es sich um einen muslimischen Freund mit marokkanischem Hintergrund, bei Maximilian hingegen um einen deutschen Mitschüler aus der Parallelklasse. Beide kamen durch diese Schlüsselpersonen in die jeweilige Szene und beschreiben das Ereignis als Beginn ihres Radikalisierungsprozesses. Auch die Entwicklungen danach zeigen Parallelen: Der Freundeskreis veränderte sich rasant, beide durchliefen eine Veränderung ihres äußerlichen Erscheinungsbildes der jeweiligen Ideologie entsprechend und auch der Lebensstil wandelte sich binnen kurzer Zeit. Menschen, die eine Radikalisierung durchlaufen und dies vor allem optisch nach außen tragen, bleiben selten unbemerkt. Auch Dominic und Maximilian erzeugten mit ihrem Wandel Reaktionen in ihrem Umfeld, die die beiden Aussteiger ähnlich beschreiben: Zwar lösten sie teilweise Ehrfurcht aus, doch erhielten sie auch Respekt und Akzeptanz – vor allem im Schulumfeld. Mit dem steigendem Selbstwertgefühl engagierte sich Dominic immer stärker in der Dawa-Arbeit und Maximilian verteilte Flugblätter, klebte Flyer in der Nachbarschaft auf und nahm an Demonstrationen teil, bis sich beide von Einsteigern zu Rekrutierern entwickelten. Sowohl Dominic als auch Maximilian beschreiben, wie sehr sie vor allem die Gruppenzugehörigkeit und die gemeinsamen Aktivitäten innerhalb der Gruppe schätzten, sodass ihre Bereitschaft, für die Gruppe aktiv zu werden und für die Überzeugungen zu kämpfen, immer größer wurde. Auch der Beginn der Deradikalisierung weist bei beiden Aussteigern eine große Ähnlichkeit auf. In beiden Fällen markierte ein einschlägiges Gespräch den Beginn ihres Reflexionsprozesses. In diesen Gesprächen wurde ihnen das Gefühl vermittelt, dass ihre Persönlichkeiten nicht mit dem Bild ihrer propagierten Ideologie in Einklang seien, was wiederum beide jungen Männer zum Überdenken ihrer Überzeugungen anregte. Die Ähnlichkeiten im Radikalisierungsprozess des Ex-Salafisten und Ex-Neonazis verdeutlichen, dass verschiedene Formen des Extremismus bzw. des Radikalismus oft nach ähnlichen Mustern verlaufen, so sehr sie auch unterschiedlichen – oder gar gegensätzlichen – Ideologien unterliegen. Dieses Muster kennzeichnet sich häufig durch Schlüsselereignisse/-begegnungen, die den Beginn des Prozesses markieren, eine immer stärkere Anbindung an die Szene und das dadurch steigende Selbstwertgefühl, der Übergang vom Mitläufer zum aktiven Mitglied (Rekrutierer) und letztendlich ein/e Schlüsselereignis/-begegnung, das/die erste Zweifel und damit einen Reflexionsprozess auslöst. Doch nicht nur Ereignisse, Handlungen und Aktivitäten zeigen in den verschiedenen Extremismusformen Ähnlichkeiten auf, sondern auch Überzeugungen und Ideen. So denken und argumentieren sowohl extremistische Salafist*innen als auch Neonazis oft in Schwarz-Weiß-Mustern und zeichnen sich durch eine stark vereinfachende Sicht auf die Welt aus (für Salafismus siehe El-Mafaalani 2014: 356). Komplexe politische Kontexte werden nicht berücksichtigt, Einzelfälle werden verallgemeinert und es werden Feindbilder konstruiert, die an allem Übel Schuld tragen und deren Existenz die eigenen politischen – teilweise sogar gewaltvollen – Handlungen rechtfertigen. Ähnliche Muster und Dynamiken haben unter anderem dazu geführt, dass in den letzten Jahren das gesellschaftliche, aber auch das wissenschaftliche Interesse an Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Ursachen und Verläufen unterschiedlicher Extremismusformen zugenommen hat. Daher beschäftigen sich die Extremismus- und Radikalisierungsforschung, aber auch Präventionsakteure, vermehrt mit sogenannten "phänomenübergreifenden Ansätzen" (Gruber et al. 2016: 5). Für phänomenübergreifende Erzählungen verwenden Meiering et al. (2018: 10) den Begriff "Brückennarrative" und bezeichnen als solche "ideologische Diskurselemente (Ideologeme) oder Narrative, die von verschiedenen Gruppen geteilt werden". So seien beispielsweise Haltungen wie Antisemitismus, Anti-Imperialismus, Anti-Modernismus, Anti-Universalismus oder Anti-Feminismus über "verschiedene radikalisierte Gruppen hinweg" vorzufinden (Meiering et al. 2018: 26). Auch wenn solche Brückennarrative "zwar in den jeweiligen Bereichen unterschiedlich zugeschnitten [sind], gehören [sie] aber zu den gleichen narrativen Bündeln und erfüllen ähnliche Funktionen. Sie strukturieren Wahrnehmungsmuster, Zugehörigkeitsattributionen und Handlungsoptionen und wirken dadurch als Transmissionsriemen für Radikalisierungsprozesse" (Meiering et al. 2018: 10). Um die phänomenübergreifende Funktion solcher Narrative zu verdeutlichen, zeigen die Autoren und Autorin anhand von konkreten Beispielen, dass es "immer wieder Radikalisierungsverläufe [gibt], in denen zwischen verschiedenen Gruppen und Zugehörigkeiten gewechselt wird" (Meiering et al. 2018: 10). Oft stehen jedoch Vergleiche zwischen verschiedenen Extremismusformen in der Kritik, sie würden die verschiedenen Extremismusformen gleichsetzten (Pfahl-Traughber 2018: 12), da die unterschiedlichen Phänomene "über einen Kamm" geschert würden (Mannewitz et al. 2018: 49). Jedoch handelt es sich um "Gemeinsamkeiten, nicht um Gleichsetzungen" (Mannewitz et al. 2018: 20) und phänomenübergreifende Ansätze können dazu beitragen, Extremismus – unabhängig von seinen verschiedenen Erscheinungsformen – besser zu verstehen. Daher sollten solche Ansätze nicht zweifellos aufgegeben werden, sondern vielmehr als ein breiter angelegtes Erkenntnissinteresse anstatt eines Gleichbehandlungsversuches betrachtet werden. Ursachen von Extremismus Mit der Forschung der Ursachen des Extremismus beschäftigen sich neben der Extremismusforschung auch weitere Forschungsstränge wie unter anderem die Radikalisierungsforschung, soziale Bewegungsforschung, Terrorismusforschung oder Forschung zu politischer Gewalt. Diese verfolgen unterschiedliche theoretische Zugänge. Daher ist es nicht verwunderlich, dass psychologische, sozialpsychologische, politische und ideologische Ansätze zur Erklärung verschiedener Extremismusformen vorzufinden sind (vgl. Miliopoulos 2018: 210-235). Diese operieren auf unterschiedlichen Analyseeinheiten wie der individuellen Ebene, Gruppenebene und gesellschaftlichen Ebene. Häufig genannte Ursachen im Bereich des Rechtsextremismus sind beispielsweise Persönlichkeitsmerkmale wie Narzissmus (Nölke 1998: 259-268), familiäre Bedingungsfaktoren wie autoritärer Erziehungsstil (Noack 2001), "extreme Emotionen" im Kindheitsalter (Wahl 2006: 159), Anomie (Fuchs 2003: 41), ökonomische und Deprivation und geringe Bildung (Baier et al. 2016: 303f.) oder gruppensoziologische Faktoren, die durch die Anbindung an eine Gruppe bzw. "Clique" (Lützinger 2010: 70) erfahren werden. Auch für den islamistischen Extremismus zeigen sich ähnliche Faktoren wie gebrochene Familiensozialisation (Schäuble 2012), autoritär-patriarchalisch geprägte Elternhäuser (Meng 2004: 279), sozio-demografische und ökonomische Faktoren (El-Mafaalani 2014: 357), virtueller Kontakt mit extremistischen Gruppen/Personen (für islamistischen Extremismus und Rechtsextremismus siehe Dienstbühl/Weber 2014) oder Kontakt zu radikalen Milieus (Malthaner/Waldmann 2012). Im Gegensatz zum Rechtextremismus werden für den islamistischen Extremismus in nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften häufig weitere Faktoren wie Diskriminierungserfahrungen (Victoroff et al. 2012: 791) oder ökonomische und soziale Marginalisierung (Abbas 2007: 10) genannt. Die Liste der möglichen Ursachen von Extremismus ist lang. Es kann jedoch festgehalten werden, dass sich kein typisches Profil radikaler oder extremistischer Personen abzeichnen lässt, sondern verschiedene "Typen von Extremisten" bestehen (Miliopoulos 2018: 209). Daher sind auch monokausale Erklärungsansätze wenig erkenntnisgewinnend; vielmehr muss die Zusammenwirkung verschiedener Bedingungsfaktoren untersucht sowie die Verbindung verschiedener Ansätze vorangetrieben werden. Literaturverzeichnis Abbas, Tahir 2007: Islamic Political Radicalism in Western Europe, in: Abbas, Tahir (Hrsg.): Islamic Political Radicalism. A European Comparative Perspective, Edinburgh: University of Edinburgh Press, 3-14. Backes, Uwe 2006: Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Baier, Dirk/Manzoni, Patrik/Bergmann, Marie C. 2016: Einflussfaktoren des politischen Extremismus im Jugendalter. Rechtsextremismus, Linkstextremismus und islamischer Extremismus im Vergleich, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 99: 3, 171-198. Bötticher, Astrid/Mareš, Miroslav 2012: Extremismus: Theorien Konzepte Formen: Theorien - Konzepte – Formen, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: Verfassungsschutzbericht 2018, Berlin: Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat. 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Verfügbar unter: Externer Link: https://library.fes.de/pdf-files/do/08223.pdf Victoroff, Jeff/Adelmann, Janice R./Matthews, Miriam 2012: Psychological Factors Associated with Support for Suicide Bombing in the Muslim Diaspora, in: Political Psychology 33: 6, 791-809. Wahl, Klaus 2006: Rechtsextreme und fremdenfeindliche Vorstellungen und Verhaltensweisen in Deutschland. Ergebnisse der Jugendforschung, in: Minkenberg, Michael/Sucker, Dagmar/ Wenninge, Agnieszka (Hrsg.): Radikale Rechte und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und Polen. Nationale und europäische Perspektiven, Bonn: Informationszentrum Sozialwissenschaften, 152-169. Wiktorowicz, Quintan 2006: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict & Terrorism 29: 3, 207–239. Für weitere Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremismus und islamistischem Extremismus siehe Glaser, Michaela 2016: Was ist übertragbar, was ist spezifisch? Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus im Jugendalter und Schlussfolgerungen für die pädagogische Arbeit, verfügbar unter: Interner Link: https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/239365/rechtsextremismus-und-islamistischer-extremismus-was-ist-uebertragbar?p=all#fr-footnode2
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Bundeszentrale für politische Bildung
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"2020-08-11T00:00:00"
"2022-04-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/reflect-your-past/313956/rechtsextremismus-und-religioes-begruendeter-extremismus/
Grundsätzlich wird zwischen "politisch motiviertem" und "religiös motiviertem" Extremismus unterschieden. Im Folgenden werden die beiden Formen Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus näher betrachtet.
[ "Reflect Your Past", "Extremismus", "Rechtsextremismus", "Politischer Extremismus", "Religiöser Extremismus", "Islamismus", "Dschihadismus", "Salafismus", "islamischer Extremismus" ]
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Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive? | Parlamentarismus | bpb.de
Einleitung In Bezug auf die Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung gibt es einen merkwürdigen Widerspruch. In Schul- und Lehrbüchern, von etlichen Politikern und auch von einzelnen Staatsrechtslehrern wird immer noch das - wie es in der Literatur überwiegend genannt wird - klassische Gewaltenteilungskonzept als selbstverständlich vorausgesetzt . Nach diesem Konzept soll der Bundestag als Legislative im traditionellen Sinne handeln, also als Organ der Gesetzgebung, während die Bundesregierung als Exekutive (Exekutiv-Organ, ausführende bzw. vollziehende Gewalt) fungieren soll. In Übereinstimmung mit diesem Konzept hatte der Parlamentarische Rat 1949 im Grundgesetz formuliert: Die "Staatsgewalt" wird vom Volke "durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" (Art. 20 Abs. 2 GG). Diese Bestimmung des Grundgesetzes wird im Folgenden kurz als Gewaltenteilungsnorm bezeichnet. Von Anfang an - schon in der ersten Wahlperiode des Bundestages - hat die Praxis nicht der Gewaltenteilungsnorm entsprochen. Wenn das Fernsehen Plenardebatten aus dem Bundestag überträgt, dann stehen sich nicht Organe gegenüber (Bundestag und Bundesregierung als Legislative und Exekutive), sondern konkurrierende Fraktionen bzw. Parteien. Bei Redeschlachten im Plenarsaal haben wir es auf der einen Seite mit der Regierungsmehrheit zu tun (Aktionsgemeinschaft zwischen den Regierungsfraktionen und dem Kabinett, soweit nicht ohnehin Personenidentität besteht); auf der anderen Seite stehen die Oppositionsfraktionen bzw. -parteien, im Folgenden kurz als Opposition bezeichnet. Es ist nicht ersichtlich, wie diese Frontstellung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition aufgelöst und damit das klassische Gewaltenteilungskonzept - das Gegenüber von Bundestag und Bundesregierung als Kollegialorganen - doch noch in die Praxis umgesetzt werden könnte. Diejenigen, die trotzdem immer noch vom klassischen Konzept ausgehen und die ursprünglich intendierte "Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Exekutive" fordern - so Bundespräsident Johannes Rau und seine drei Amtsvorgänger Roman Herzog, Richard von Weizsäcker und Walter Scheel in ihrem "Präsidentenappell" vom September 1999 -, können sich allerdings auf eine ernst zu nehmende Autorität berufen: eben jene Gewaltenteilungsnorm des Grundgesetzes. Zunächst ist deshalb im Folgenden die ursprüngliche Intention des Parlamentarischen Rates zu verdeutlichen. Anschließend ist die Frage zu beantworten, warum das klassische Gewaltenteilungskonzept in der Praxis gescheitert ist. Auf dieser Grundlage kann dann ein neues, in der Praxis realisierbares Gewaltenteilungskonzept skizziert werden, das zwar nicht genau der Intention des Parlamentarischen Rates entspricht, aber mit dem Wortlaut des Grundgesetzes vereinbar ist und der freiheitssichernden Funktion von Gewaltenteilung gerecht wird. Schließlich ist auf die Relevanz einer Klärung der Gewaltenteilungsproblematik für das politische Bewusstsein in der Bundesrepublik hinzuweisen, Stichwort Politikverdrossenheit . I. Das Konzept des Parlamentarischen Rates In den Debatten des Parlamentarischen Rates war man sich hinsichtlich der Gewaltenteilungsfrage von Anfang an weitgehend einig . Die Intention war klar und unter den demokratischen Parteien unumstritten: Der Bundestag als Ganzes - grundsätzlich alle Abgeordneten als ein Kollegium - sollte als Gesetzgeber fungieren, während die Bundesregierung - zusammen mit der ihr zugeordneten Verwaltung - die Gesetze ausführen bzw. vollziehen sollte. Das Organ Bundestag (die "Legislative") einerseits und das Organ Bundesregierung (die "Exekutive") andererseits sollten voneinander unabhängig sein und sich gegenseitig kontrollieren. Dieses klassische Gewaltenteilungskonzept wurde bereits in der zweiten Sitzung des Parlamentarischen Rates am 8. September 1948 zum Ausdruck gebracht. Auf der Tagesordnung standen "Berichte über die dem Parlamentarischen Rat gestellte Aufgabe an Hand der Vorarbeiten". Als erster von vier Berichterstattern sprach der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Carlo Schmid. Er bezog sich auf die "klassische Demokratie . . ., für die bisher die Völker Europas gekämpft haben" . Drei Merkmale müssten erfüllt sein, damit eine Verfassung in diesem klassischen Sinne als demokratisch bezeichnet werden könne: Gleichheit und Freiheit der Bürger; Teilung der Gewalten; Garantie der Grundrechte. Die angestrebte Teilung der Gewalten und insbesondere das Gegenüber von Legislative und Exekutive sollten den Mißbrauch staatlicher Macht verhindern: Das Gewaltenteilungsprinzip "bedeutet, dass die drei Staatsfunktionen, Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung, in den Händen gleichgeordneter, in sich verschiedener Organe liegen, und zwar deswegen in den Händen verschiedener Organe liegen müssten, damit sie sich gegenseitig kontrollieren und die Waage halten können. Diese Lehre hat ihren Ursprung in der Erfahrung, dass, wo auch immer die gesamte Staatsgewalt sich in den Händen eines Organs nur vereinigt, dieses Organ die Macht mißbrauchen wird." Damit ist der Kern des klassischen Gewaltenteilungskonzeptes formuliert: Legislative und Exekutive als voneinander unabhängige und gleichgeordnete Organe. Auch der zweite Berichterstatter - Adolf Süsterhenn, CDU - stimmt diesem Konzept zu, unter ausdrücklicher Berufung auf Montesquieu . In der folgenden Sitzung (9. September 1948) spricht sich auch der dritte Berichterstatter - Walter Menzel, SPD - für das klassische Konzept aus: "Das Prinzip der Gewaltenteilung, das gestern eingehend erörtert wurde, erfordert, dass neben der Körperschaft, die Gesetze erlässt, Beschlüsse fasst und Anweisungen gibt, noch ein anderes Organ steht, das jene Gesetze, und zwar zusammen mit einer Verwaltungsapparatur, in die Wirklichkeit umsetzt." Diesem Konzept stimmt auch der vierte Berichterstatter zu (Josef Schwalber, CSU), ebenfalls unter Berufung auf Montesquieu . Das klassische Gewaltenteilungskonzept ist in der Sache untrennbar verknüpft mit der klassisch-liberalen Interpretation des freien Mandates, wie sie etwa von Edmund Burke oder John Stuart Mill formuliert worden ist. Insofern war es konsequent, dass der Parlamentarische Rat die klassisch-liberale Repräsentationsidee gleich im ersten Artikel desjenigen Abschnitts des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht hat, der die Überschrift "Der Bundestag" trägt. Hier heißt es, dass die Abgeordneten "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Damit war gemeint, dass die Abgeordneten ergebnisoffen - unabhängig von der jeweiligen Mehrheitsmeinung ihrer Fraktion bzw. Partei - miteinander beraten und entscheiden sollen. Die Mitglieder des Bundestages sollten nicht die Interessen einer bestimmten Klientel vertreten, sondern "Vertreter des ganzen Volkes" sein, das heißt gemeinwohlorientiert handeln. Dementsprechend sollten die Parteien nur "bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG), was zugleich auch bedeutet: nicht bei der politischen Willensbildung des Staates. Hintergrund ist die traditionelle Vorstellung vom Staat als unabhängigem Hüter des Gemeinwohls: Auf der einen Seite stehen die dem Gemeinwohl verpflichteten Staats- bzw. Verfassungsorgane (insbesondere Parlament und Regierung), auf der anderen Seite die Gesellschaft (einschließlich Parteien), in der Partikularinteressen verfolgt werden. Dieses Konzept - Bundestag und Bundesregierung als voneinander unabhängige Organe, die Mitglieder des Bundestages als unabhängiges Richterkollegium in Sachen Gemeinwohl - erwies sich schon in der ersten Wahlperiode des Bundestages als nicht realisierbar. II. Ist das Gewaltenteilungskonzept des Parlamentarischen Rates gescheitert? Der Parlamentarische Rat hatte 1949 ein normatives Gebot zum Ausdruck gebracht, ein bestimmtes Sollen: Die Gesamtheit der Abgeordneten soll als kollegiales Gesetzgebungsorgan fungieren; alle Volksvertreter sollen gemeinsam beraten und entscheiden. Diesen Geboten hat die Praxis von Anfang an nicht entsprochen. Angesichts der permanenten Konkurrenzsituation in der Politik - damals beim Bundestagswahlkampf 1949 und bei der ersten Regierungsbildung, vorher bei den Landtagswahlen usw. - war das nicht anders zu erwarten . Schon für die fünfziger Jahre hatte Dolf Sternberger in einem Referat für die Arbeitsgruppe Executive-legislative relations eines internationalen Fachkongresses festgestellt, dass es in der Bundesrepublik Legislative und Exekutive als voneinander unabhängige "Körper oder Organe" faktisch nicht gebe . Allgemeiner formuliert: Die einzelnen Abgeordneten handeln nach außen - gegenüber der Öffentlichkeit - nicht als Einzelne, wie es der Parlamentarische Rat vorausgesetzt hatte, sondern in Gruppen (Fraktionen, Parteien). Diese Gruppen einigen sich intern bereits vor Beginn einer Plenardebatte auf eine gemeinsame Linie, die sie dann im Plenum - vorgetragen durch die jeweiligen Sprecher - gemeinsam unterstützen. Dieses nach außen übereinstimmende Handeln der Mitglieder einer Fraktion bzw. Partei wird etwa seit den siebziger Jahren auch in den Medien überwiegend als Geschlossenheit bezeichnet . "Geschlossenheit" meint also lediglich das gemeinsame Vertreten einer Position nach außen. Es darf nicht verwechselt werden mit einem Mangel an gruppeninterner Diskussion. Die Fraktionen bzw. Parteien bemühen sich im Plenum insoweit um Geschlossenheit, als es jeweils im politischen Wettbewerb erforderlich ist. So entsteht das Phänomen der Fraktions- bzw. Parteidisziplin. Warum musste die ursprünglich intendierte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive praktisch zwangsläufig scheitern? Weil die jeweilige Parlamentsmehrheit die Regierungsämter mit ihren eigenen Leuten besetzt und es dadurch zu dem - schon eingangs angesprochenen - Phänomen der Regierungsmehrheit im Parlament kommt. An dieser Stelle ist nun auch an die - wegen ihrer Konsequenzen bedeutsame - Mehrheitsregel zu erinnern. Die demokratische Mehrheitsregel erlaubt es, dass eine bloße Mehrheitsgruppierung im Parlament - faktisch die jeweilige Regierungskoalition - über die Beschlussfassung des Parlaments insgesamt (des Parlaments als Staatsorgan) entscheidet. Die Mehrheitsregel gilt auch für Personalfragen, insbesondere die Wahl des Bundeskanzlers und damit auch die Besetzung des Staatsorgans Bundesregierung. Angesichts der permanenten Konkurrenzsituation zwischen den Gruppen kann es nicht überraschen, dass die Mehrheitsgruppierung nur Akteure der eigenen Seite ins Kabinett entsendet, überwiegend ihre führenden Akteure. Dass dann der Bundeskanzler und seine Kabinettskollegen ihre Gesetzentwürfe grundsätzlich (hier abgesehen vom Bundesrat und der Föderalismusproblematik) allein mit ihren "Parteifreunden" in den Regierungsfraktionen aushandeln, nicht jedoch mit den Oppositionsabgeordneten, kann ebenfalls nicht überraschen. Denn ohne die Unterstützung der Regierungsfraktionen stünden der Bundeskanzler und die Bundesminister - wiederum wegen der permanenten Konkurrenzsituation - machtlos da, so wie ein König ohne Land. Der Parlamentarische Rat hat dem Bundeskanzler zwar eine Richtlinienkompetenz zuerkannt, aber er hat ihm kein auf Dauer praktikables Instrument in die Hand gegeben, um diese Nominalkompetenz real - gegenüber dem Bundestag - durchzusetzen. Gegen die Konkurrenz der Opposition haben Regierungsfraktionen und Regierung nur dann eine Chance, auch die nächste Bundestagswahl zu gewinnen, wenn sie nach außen geschlossen auftreten, eben als Regierungsmehrheit. Und eben deshalb war die ursprünglich intendierte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Diese faktisch zwingende Konsequenz parlamentarischer Regierungsweise unter Konkurrenzbedingungen hatte der Parlamentarische Rat nicht berücksichtigt. Warum handeln Politiker überhaupt in Gruppen und nicht als Einzelne? Die Akteure wissen, dass sie als "Einzelkämpfer" keine Chance hätten, ihre jeweiligen politischen Zielvorstellungen zu realisieren. Der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann hat diesen Sachverhalt mehrfach etwa so formuliert: Politik ist nur möglich als Mannschaftskampf. Diese Einsicht ist nicht neu. Schon vor mehr als 150 Jahren, im Paulskirchen-Parlament, merkten die meisten Abgeordneten relativ schnell, dass sie als Einzelne keine reale Chance hatten. Deshalb schlossen sich Akteure mit gleichen oder ähnlichen politischen Zielen zu Gruppen zusammen, die man damals "Clubs" nannte; im österreichischen Nationalrat werden die Fraktionen noch heute so bezeichnet. Das Gruppenprinzip - der Grundsatz, dass der einzelne Akteur in der Regel nur über eine Gruppe eine Chance auf politischen Erfolg hat - gilt auch innerhalb von Gruppen. Diese gruppeninternen Gruppen werden meistens als "Flügel" bezeichnet ("linker Flügel", "rechter Flügel" usw.), aber auch als "Fraktion" oder "Gruppe" und so fort . So traten zum Beispiel gleich nach der Bundestagswahl 1998 die beiden jeweils bedeutendsten Gruppen innerhalb der beiden Regierungsfraktionen zu getrennten Sitzungen zusammen, um gruppenintern über das weitere Vorgehen - insbesondere im Hinblick auf die Regierungsbildung - zu beraten (bei der SPD die "Parlamentarische Linke" und die "Seeheimer", bei den Grünen die "Fundis" und die "Realos"). Zusammenfassend kann man feststellen: Die faktische Gruppenstruktur verhindert die Realisierung der 1949 intendierten Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. Die beiden Funktionen der Gesetzgebung und der Exekutive sind materiell in einer Hand vereinigt: in der Hand der Regierungsmehrheit. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine "Vernichtung" der Gewaltenteilung in der Bundesrepublik ; sie wirkt nur ganz anders, als es sich der Parlamentarische Rat und die zeitgenössische Staats(rechts)lehre vorgestellt hatten. III. Neues Gewaltenteilungskonzept In den sechziger Jahren begann man in der Politikwissenschaft von der "neuen" Gewaltenteilung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition zu sprechen. Grundlegend für ein neues Gewaltenteilungskonzept ist die Differenzierung zwischen der materiellen (inhaltlichen) Seite von Gewaltenteilung einerseits und der formalen - die staatsrechtlichen Kompetenzen betreffenden - Seite andererseits. 1. Differenzierung zwischen materieller und formaler Seite Die materielle und die formale Seite von Politik, die inhaltliche Entscheidung einerseits und die staatsrechtlich wirksame Beschlussfassung andererseits, sind in der Praxis so gut wie immer voneinander getrennt. Über den Inhalt eines Gesetzes entscheiden in der Regel allein die jeweiligen Mehrheitsfraktionen bzw. -parteien; diese Entscheidungen sind bereits getroffen, bevor eine Plenardebatte beginnt. Erst einige Zeit nach der inhaltlichen Entscheidung erfolgt die formale Beschlussfassung durch das Staatsorgan Bundestag . Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist nicht formal, sondern materiell gescheitert. Die Stellung des Bundestages als unabhängiges Gesetzgebungsorgan ist formal - hinsichtlich seiner staatsrechtlichen Kompetenzen (Befugnisse) - unangetastet, heute ebenso wie 1949. Allein der Bundestag insgesamt hat das Recht, Gesetze rechtswirksam zu beschließen (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG; zur Mitwirkung des Bundesrates: Art. 50, 77, 78 GG). Die Unterscheidung zwischen formalem und materiellem Aspekt ist die Voraussetzung für eine weitere grundlegende Differenzierung: zwischen rechtlicher Gewaltenteilung, also Aufteilung der grundsätzlich einen Staatsgewalt bzw. Staatsmacht auf zwei oder mehr Staatsorgane einerseits und politischer Machtkontrolle andererseits. 2. Differenzierung zwischen rechtlicher Gewaltenteilung und Kontrolle der politischen Macht Der Kern der Gewaltenteilungsproblematik für den Bereich von Parlament und Regierung liegt nicht auf der Ebene der rechtlichen Kontrolle der "Exekutive" (hierfür ist in erster Linie die Gerichtsbarkeit zuständig), sondern auf der Ebene der politischen Kontrolle. Für diese gilt: Nur politische Gegenmacht kann Machtmissbrauch durch die jeweilige Regierungsmehrheit verhindern. Als eine derartige Gegenmacht kommt praktisch allein die Opposition in Betracht. In der Sache bedeutet dies eine Teilung der politischen Macht, also der Macht der Bundestagsfraktionen bzw. -parteien. Die politische Macht dieser Gruppen beruht auf der Zustimmung von Bürgern. Die Frage, welchen Parteien bzw. Fraktionen die Entscheidungsmacht zukommt, wird bereits bei der Regierungsbildung beantwortet. In diesem Zusammenhang erfolgt die Aufteilung der Abgeordneten in Mehrheit und Minderheit. Die Entscheidungsmacht liegt dann allein bei der Mehrheit. Die oppositionellen Fraktionen bzw. Parteien verfügen zwar nicht über die Entscheidungsmacht. Aber sie können Druck auf die Regierungsmehrheit ausüben: indem sie sich darum bemühen, bei den Wählern mehr Zustimmung für ihre Politik zu gewinnen. Die Opposition kann die Macht der Regierungsmehrheit dadurch kontrollieren, dass sie die Politik der Mehrheit öffentlich - wählerwirksam - kritisiert und/oder für alternative, von einem erheblichen Teil der Wähler befürwortete Konzepte eintritt und so ihre eigenen Chancen auf einen Wahlsieg erhöht und damit zugleich die Wahlchancen der Mehrheit mindert. Hier wird bewusst von politischer Machtkontrolle bzw. Teilung der politischen Macht gesprochen, nicht von politischer Gewaltenteilung. Denn bei Regierungsmehrheit und Opposition handelt es sich nicht um Gewalten im herkömmlichen und bis heute weithin üblichen Sinne des Wortes (Staatsorgane). Hierauf hat schon Roman Herzog mit seiner Bemerkung hingewiesen, dass die Gewaltenteilung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition "utopisch" sei . Das neue Gewaltenteilungskonzept wirft also die Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung als Staatsorganen nicht einfach über Bord. Vielmehr bildet das Gegenüber dieser beiden Staatsorgane mit den formalen Kompetenzen und Regeln, wie sie in parlamentarischen Demokratien üblich sind , überhaupt erst die Grundlage für die politische Kontrolle der Regierungsmehrheit durch die Opposition . Die rechtliche Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung ist Voraussetzung für die Teilung der politischen Macht zwischen Mehrheit und Minderheit . Dieses neue Gewaltenteilungskonzept ist dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn man die Gewaltenteilungsnorm einengend interpretiert. 3. Einengende Interpretation der Gewaltenteilungsnorm Der Parlamentarische Rat hatte mit der Gewaltenteilungsnorm beides intendiert: Der Bundestag als Ganzes sollte nicht nur die formale Gesetzgebungskompetenz haben, sondern auch materiell Gesetzgeber sein. Das neue Gewaltenteilungskonzept dagegen erfordert eine einengende Interpretation in der Weise, dass die Gewaltenteilungsnorm in der Regel allein im formalen Sinne gilt. In diesem formalen Sinne hat die Praxis in der Bundesrepublik schon immer der Gewaltenteilungsnorm entsprochen. In materieller Hinsicht dagegen fungiert bereits seit der ersten Legislaturperiode normalerweise allein die jeweilige Regierungsmehrheit als Gesetzgeber. Hier ist noch einmal eine Differenzierung erforderlich, welche die - gerade aus der Sicht von Gewaltenteilung sehr wichtige - materielle Reservefunktion des Staatsorgans Bundestag ins Bewusstsein hebt. Nach der Intention des Parlamentarischen Rates ist die Gewaltenteilungsnorm als Muss- oder Soll-Vorschrift zu verstehen: Der Bundestag als Ganzes soll über die Gesetzgebung entscheiden. Realistischerweise dagegen ist die Gewaltenteilungsnorm als Kann-Vorschrift zu interpretieren: Der Bundestag als Ganzes kann die inhaltliche Entscheidung an sich ziehen. Auch wenn normalerweise allein die jeweilige Mehrheit als Gesetzgeber fungiert, so bleibt es doch in Ausnahmefällen den Mitgliedern des Staatsorgans unbenommen, als Kollegium zu entscheiden. So ergibt sich für die Gewaltenteilungsproblematik und Artikel 20 Abs. 2 GG: In der Regel erfolgt die Sicherung der Freiheitlichkeit des politischen Systems durch Teilung der politischen Macht und die dadurch ermöglichte politische Machtkontrolle, bewirkt durch den Wettbewerb konkurrierender Parteien um die Zustimmung der Wähler. Diese Möglichkeit der politischen Machtkontrolle beruht (unter anderem) auf der rechtlichen Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung. Ausnahmsweise, wenn die Regierung wirklich ihre Macht missbrauchen sollte, steht die rechtliche Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung als materielle Reservefunktion zur Sicherung der Freiheit im Sinne Montesquieus zur Verfügung. Die vorgeschlagene Interpretation der Gewaltenteilungsnorm bedeutet nicht, dass die Praxis geändert werden müsste. Vielmehr hat die Praxis von der ersten Wahlperiode des Bundestages an dieser einengenden Interpretation entsprochen . 4. Differenzierung zwischen formalen und materiellen Staatsfunktionen Während man nach dem klassischen Gewaltenteilungskonzept zwei zentrale Funktionen der beiden Staatsorgane Parlament und Regierung unterscheidet (Gesetzgebung und Vollziehung) , differenziert das neue Gewaltenteilungskonzept zwischen vier Funktionen. Auch hier ist zwischen formalem und materiellem Aspekt zu unterscheiden. So kommt man zu zwei formalen und zwei materiellen Funktionen: In formaler Hinsicht ist es - wenn man sich auch hier auf die Gesetzgebung konzentriert - die Aufgabe des Staatsorgans Bundesregierung, ihre Gesetzentwürfe durch Kabinettsbeschluss amtlich festzustellen und damit in einer verbindlichen Form vorzulegen. Die Aufgabe des Staatsorgans Bundestag besteht insoweit darin, die Gesetze zu verabschieden. In beiden Fällen geht es um formale Beschlussfassung. In materieller Hinsicht handelt es sich um die beiden Aufgaben, die Regierungsmehrheit und Opposition faktisch erfüllen oder erfüllen sollten. Zum einen geht es um die Entscheidung über die Politik, insbesondere die Entscheidungen über die Inhalte der Gesetzgebung. Zum anderen geht es um die Tätigkeit der Oppositionsfraktionen bzw. -parteien, also um Kritik und Alternativen. Diese beiden materiellen Funktionen können kurz als Politikentscheidung (Regierung im weiteren Sinne, "Staatsleitung") und Opposition bezeichnet werden. Die Funktion Politikentscheidung umfasst also die beiden materiellen Funktionen, die nach dem klassischen Gewaltenteilungskonzept von - voneinander unabhängigen - Körperschaften ausgeübt werden sollten: Gesetzgebung und Vollziehung. IV. Gewaltenteilung und Politikverdrossenheit Nach mehr als fünfzig Jahren Praxis unter dem Grundgesetz ist klar: Das Gewaltenteilungskonzept des Parlamentarischen Rates ist nicht realisierbar . Das dogmatische (unkritische) Festhalten an jenem Konzept muss zu unbegründeter Kritik an der Praxis führen und damit der Politikverdrossenheit unnötig Vorschub leisten. Ein plausibles Sachargument für das Festhalten am klassischen Konzept gibt es nicht. Dolf Sternberger hatte schon vor mehr als vierzig Jahren darauf hingewiesen, dass die Freiheit im Sinne Montesquieus erhalten geblieben ist - trotz des Scheiterns des klassischen Gewaltenteilungskonzeptes in der Praxis . Dennoch halten einzelne Staatsrechtslehrer und einflussreiche Politiker - zum Beispiel Richard von Weizsäcker - immer noch an der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive als Grundlage ihrer Kritik fest. In der Einführung in die weit verbreitete Grundgesetzausgabe des Deutschen Taschenbuchverlages wird noch immer der Eindruck erweckt, dass die durch das parlamentarische Regierungssystem bewirkte "Durchbrechung" der Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung eine essenzielle Verletzung des Rechtsstaates darstelle . Jüngst hat auch Detlef Merten behauptet, dass "die parlamentarische Regierungsform die Gewaltenteilung durchbricht" . Dieser Autor ist aber noch einen Schritt weiter gegangen, im Blick auf das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik verwendet er den Begriff des Totalitarismus. Merten kritisiert, dass sich hinter der "Fassade" der Gewaltenteilung "die Macht . . . zunehmend in der Hand der Parteien konzentriert"; in den folgenden Sätzen erinnert er an die Diskussion im Parlamentarischen Rat (insbesondere die Forderung der Kommunisten, die Gewaltenteilung aufzuheben), spricht von "latenter Gewaltenvereinigung" und stellt dann fest: "Gewaltenmonismus ist ein untrügliches Kennzeichen jedes Totalitarismus." Derartige, hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Bundestag und Bundesregierung unbegründete Kritik trägt dazu bei, die Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems zu untergraben. Die Wissenschaft - Rechts- und Politikwissenschaft im Dialog - sollte sich endlich auf ein realistisches Gewaltenteilungskonzept für den Bereich von Bundestag und Bundesregierung verständigen. Auch wenn dies insoweit einen Abschied vom Konzept des Parlamentarischen Rates bedeutet: Seine große und bedeutende Leistung wird dadurch nicht geschmälert. In erster Linie sollte es heute darum gehen, ungerechtfertigten Gründen von Politikverdrossenheit entgegenzuwirken . So spricht z. B. Winfried Steffani von der "klassischen (Montesquieuschen) Gewaltenteilungslehre" (Grundzüge einer politologischen Gewaltenteilungslehre, in: ders., Gewaltenteilung und Parteien im Wandel, Opladen 1997, S. 38). Weitere Belege: Eberhard Schütt-Wetschky, Grundtypen parlamentarischer Demokratie. Klassisch-altliberaler Typ und Gruppentyp. Unter besonderer Berücksichtigung der Kritik am "Fraktionszwang", Freiburg i. Br.-München 1984, S. 95. Dies gilt offenbar nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Schweiz, siehe jüngst die Klage über den einseitigen Schulunterricht sowie die Kollegen in der juristischen Fakultät bei Alois Riklin, Die gewaltenteilige Mischverfassung Montesquieus im ideengeschichtlichen Zusammenhang, in: Paul-Ludwig Weinacht (Hrsg.), Montesquieu - 250 Jahre "Geist der Gesetze", Baden-Baden 1999, S. 15-29, hier S. 15. Vgl. Gemeinsame Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau und der drei ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, Richard von Weizsäcker, Walter Scheel . . ., in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 54 vom 14. 9. 1999, S. 565 f. - In Bezug auf Johannes Rau überrascht die Fixierung auf das Gegenüber von Legislative und Exekutive (anders bei Richard v. Weizsäcker, s. u. Anm. 30), da Rau sich bereits 1982 - als Ministerpräsident in Düsseldorf - in einem offenen Brief an Kurt Biedenkopf (damals Oppositionsführer in Düsseldorf) klar für das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition ausgesprochen hatte, gegen die in der Sache scharfe Kritik von Biedenkopf auf der Grundlage des klassischen Gewaltenteilungskonzeptes; Wortlaut der beiden offenen Briefe bei E. Schütt-Wetschky (Anm. 1), S. 308 ff. Mit Rücksicht auf den Umfang des Beitrages müssen hier wichtige Aspekte unerörtert bleiben. Zum Ganzen ausführlicher mein Aufsatz "Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung? Zum Scheitern des Gewaltenteilungskonzeptes des Parlamentarischen Rates (Art. 20 GG) in der Praxis, oder: Gemeinwohl durch Parteien statt durch Staatsorgane?" im Sammelband zur Jahrestagung 1999 der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (Rahmenthema: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 50 Jahre Grundgesetz . . .), hrsg. von Klaus Dicke, Baden-Baden (i. E.). - Eine eindringliche Kritik der vorherrschenden Auffassung in der Rechtswissenschaft aus rechtswissenschaftlicher Sicht bietet jetzt: Armin von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung. Eine Neubestimmung der Rechtsetzung und des Regierungssystems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineuropäischer Dogmatik, Tübingen 2000, S. 39 ff. Neuere Überblicksdarstellungen zum Parlamentarischen Rat und zur Entstehung des Grundgesetzes: Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 1998; Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn u. a. 1998; Erhard H. M. Lange, Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz, Heidelberg 1993. Ausführliche Informationen bieten auch die Einleitungen in den Bänden der vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv herausgegebenen Reihe "Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle"; einen Überblick über den Stand der Edition bietet M. F. Feldkamp, ebd., S. 215. Zitiert nach Wolfram Werner (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, München 1996, S. 35 (= Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 2. Sitzung, 8. September 1948, S. 13). Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 57. Ebd., S. 73 und 93. Die Begriffe "Verwaltung" und "ausführende Gewalt" wurden 1948/49 in diesem Zusammenhang synonym verwendet. Schließlich hat sich jedoch der Begriff "vollziehende Gewalt" durchgesetzt (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 GG). Für viele Autoren - aus nahe liegenden Gründen insbesondere Rechtswissenschaftler - liegt der klassisch-liberalen Repräsentationsidee die Analogie zwischen Gerichtsprozess und politischem Prozess zugrunde. Besonders deutlich kommt diese Analogie zum Ausdruck bei Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 19945: "Parlamentarische Demokratie ist geschichtlich und theoretisch zu begreifen aus der Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozess der Gesetzgebung." (S. 237, ähnlich S. 246; Hervorhebungen im Original.) - Die klassisch-liberale Repräsentationsidee gehört konzeptionell zur traditionellen Vorstellung vom Staat als unabhängigem Hüter des Gemeinwohls; zur Kritik dieser Vorstellung Eberhard Schütt-Wetschky, Interessenverbände und Staat, Darmstadt 1997. Einen faszinierenden Einblick in die interne Willensbildung und insbesondere die Auseinandersetzungen in einer Regierungsfraktion im Bundestag - einschließlich Regierungsmitgliedern! - gleich in der ersten Wahlperiode bieten die Fraktionsprotokolle: Helge Heidemeyer (Bearb.), Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949-1953, Düsseldorf 1998. Hier sieht man den Chef der "Exekutive" - Konrad Adenauer -, der als Präsident des Parlamentarischen Rates noch das klassische Gewaltenteilungskonzept mit beschlossen hatte, nun inmitten seiner Fraktion in der "Legislative" agieren, sozusagen das personifizierte Scheitern des klassischen Gewaltenteilungskonzeptes. Die ersten bedeutenden wissenschaftlichen Analysen zum Scheitern des klassischen Gewaltenteilungskonzeptes: Dolf Sternberger, Gewaltenteilung und parlamentarische Regierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Theo Stammen (Hrsg.), Strukturwandel der modernen Regierung, Darmstadt 1967, S. 186-209 (zuerst in: PVS, 1 [1960], S. 22-37); Jürgen Domes, Mehrheitsfraktion und Bundesregierung. Aspekte des Verhältnisses der Fraktion der CDU/CSU im zweiten und dritten Deutschen Bundestag zum Kabinett Adenauer, Köln-Opladen 1964. Vgl. D. Sternberger, ebd., S. 186. Ausführlicher zu Sternbergers Analyse und Beurteilung der Gewaltenteilungsfrage E. Schütt-Wetschky (Anm. 1), S. 98 ff. Politische Akteure haben in der Bundesrepublik von Anfang an von Geschlossenheit bzw. geschlossenem Abstimmungsverhalten gesprochen; siehe z. B. das Koreferat zu Leibholz des damaligen FDP-MdB Hans Reif 1950 auf dem 38. Deutschen Juristentag; ausführlicher E. Schütt-Wetschky (Anm. 1), S. 208, Anm. 34. Der relativ umständliche Ausdruck "Fraktionen bzw. Parteien" ist bei präziser Formulierung unumgänglich, weil 1. die Mitglieder einer Fraktion auch Mitglieder der jeweiligen Partei sind, sie im Bundestag zwar formal (gemäß GO-BT) als Fraktion, aber in der Sache (und auch hinsichtlich der Bezeichnung der Fraktionen) zugleich auch als Partei handeln, 2. eine Partei nur als Fraktion im Parlament agieren kann (abgesehen vom Sonderfall des § 10 Abs. 4 GO-BT), 3. eine Fraktion nur als Partei zur nächsten Bundestagswahl kandidieren kann, 4. in der Praxis die Politik von Fraktion und Partei ständig aufeinander abgestimmt wird. Wenn hier und im Folgenden von Gruppen die Rede ist, dann sind immer Fraktionen und/oder Parteien gemeint. Kritisch zur einseitigen Gegenüberstellung von Fraktion und Partei: Suzanne S. Schüttemeyer, Fraktionen und ihre Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Veränderte Beziehungen im Zeichen professioneller Politik, in: Ludger Helms (Hrsg.), Parteien und Fraktionen. Ein internationaler Vergleich, Opladen 1999, S. 39-66. Es ist nicht überall hinreichend bewusst, dass der Begriff des Bundestages (ähnlich wie der Parlamentsbegriff) mit drei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Erstens, personale Bedeutung: der Bundestag als die Gesamtheit der Abgeordneten. Zweitens, staatsrechtliche Bedeutung: der Bundestag als Staats- bzw. Verfassungsorgan. Drittens bezeichnete der Begriff "Bundestag" in Bonn - je nach sprachlichem Zusammenhang - auch oder allein das Bundestagsgebäude oder - im engeren Sinne - den Plenarsaal. Nach dem Umzug in das Gebäude mit dem Namen "Reichstag" in Berlin führte dies zu einigen Konfusionen. Zu den faktischen Auswirkungen des Gruppenprinzips innerhalb von Gruppen besonders aufschlussreich Detlev Preuße, Gruppenbildungen und innerparteiliche Demokratie. Am Beispiel der Hamburger CDU, Königstein/Ts. 1981; Ferdinand Müller-Rommel, Innerparteiliche Gruppierungen in der SPD. Eine empirische Studie über informell-organisierte Gruppierungen von 1969-1980, Opladen 1982. Von der "Vernichtung" der Gewaltenteilung in der Bundesrepublik spricht Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt/M. 1971, S. 292. Zutreffend ist diese Aussage nur in Bezug auf das klassische Gewaltenteilungskonzept, und auch hier nur in materieller, nicht in formaler Hinsicht, wie gleich zu zeigen sein wird. Allerdings: Im Gegensatz zu anderen Staatsrechtslehrern stellt der Autor zu Recht fest, dass der "Untergang der klassischen Gewaltenteilung systemimmanent ist und nicht etwa auf einer prinzipiellen Verachtung der Verfassungen beruht" (ebd., S. 293). Konsequenterweise - eben weil das Scheitern des klassischen Konzeptes systemimmanent ist - sollte man zu einer einengenden Interpretation der Gewaltenteilungsnorm bereit sein. Die Einschränkung durch den Ausdruck "in der Regel" soll daran erinnern, dass die Mehrheit gegebenenfalls - je nach Interessen- oder Rechtslage - eine oder mehrere Oppositionsfraktionen "mit ins Boot" holen kann, also die Regierungsmehrheit ad hoc erweitert wird, wobei jedoch die Entscheidung, ob es dazu kommt, wiederum allein bei der Mehrheit liegt. Ausführlicher zur Differenzierung zwischen materieller Entscheidung und formalem Beschluss E. Schütt-Wetschky (Anm. 1), S. 186 f. Auch das Grundgesetz spricht im Zusammenhang mit dem Staatsorgan von Beschluss, nicht von "Entscheidung" (Art. 42 Abs. 2 Satz 1). R. Herzog (Anm. 17), S. 293. Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments als Staatsorgan; Wahl der Regierung oder - wie in der Bundesrepublik - des Regierungschefs durch das Parlament; Mehrheitsregel. Die Differenzierung zwischen formaler und materieller Seite findet sich in der Sache z. B. auch bei Helmuth Schulze-Fielitz, wenn er feststellt, daß die "staatsorganisatorische Gewaltenteilung . . . nur noch als Zuständigkeitsverteilung" wirke, "nicht (mehr) als Prinzip politischer Machtverteilung" (Art. 20 GG, Rechtsstaat, in: Horst Dreier [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar. Bd. II: Artikel 20-82, Tübingen 1998, S. 162, Rdnr. 71). Politische Macht kann eben nur dort geteilt werden, wo sie vorliegt; Träger politischer Macht sind nun einmal nicht die Staatsorgane, sondern die - im Rahmen der Staatsorgane tätigen - Fraktionen bzw. Parteien. Im Ergebnis ähnlich Winfried Steffani, Gewaltenteilung im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders. (Anm. 1), S. 25 f.; der Autor spricht hier von dem "Unterschied zwischen der ,alten' organschaftlichen und der ,neuen' institutionellen Gewaltenteilung". Es erscheint jedoch nicht zweckmäßig, in faktischer Hinsicht (anders auf der Ebene der Konzepte!) "alte" und "neue" Gewaltenteilung gegenüberzustellen. Faktisch ist die rechtliche Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung weder alt bzw. veraltet noch neu, sondern zeitlos gültig, auch in Zukunft erforderlich. Und auch die "neue" "Gewaltenteilung" zwischen Regierungsmehrheit und Opposition ist nicht neu, vgl. Abschnitt II. Klaus Stern hat schon vor rund zwanzig Jahren auf die Aufgabe einer Uminterpretation der Gewaltenteilungsnorm hingewiesen. Angesichts der Tatsache, dass das Staatsorgan Bundestag nicht die "ihm zugeordnete materielle Funktion" wahrnehme, bedürfe "insoweit der verfassungstextliche Befund einer Modifizierung. Sie zwingt zu einer Neubestimmung der Idee Montesquieus, der Herausschälung ihres unverfälschbaren Kerns und des Einbaus dieses Prinzips in den vom Grundgesetz konstituierten Staat der freiheitlichen . . . Demokratie, die vor Machtkonzentrationen . . . gesichert werden muss." (Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, München 1980, S. 521). Stern gibt keinen Hinweis, wie die von ihm für notwendig gehaltene Modifizierung des Verfassungstextes aussehen sollte. In der klassischen Sichtweise bezeichnen die Begriffe "Legislative" und "Exekutive" sowohl die beiden für zentral gehaltenen Staatsfunktionen als auch die für diese Funktionen zuständigen Organe. Staatsfunktionen und Staatsorgane fallen zusammen: Das Staatsorgan Bundestag hat die Funktion der Gesetzgebung, das Staatsorgan Bundesregierung die Funktion der Vollziehung. In der realistischen Sichtweise dagegen - neues Gewaltenteilungskonzept - ist das Zusammenfallen nur formal gegeben, nicht materiell. Der Einfachheit und Deutlichkeit halber ist nur von der Entscheidung - insbesondere über die Gesetzgebung - die Rede, nicht von "politischer Willensbildung". Damit ist der bereits angesprochene komplexere Sachverhalt gemeint: Die Regierungsmehrheit zieht die Entscheidung an sich, wann immer sie das will, also unter Ausschluss der Oppositionsabgeordneten. Dieses Ansichziehen kann auch die Entscheidung beinhalten, ausnahmsweise mit einer oder mehreren Oppositionsparteien bzw. -fraktionen zu verhandeln, zum Beispiel dann, wenn für eine Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Erstaunlicherweise gibt es bisher für diese Funktion in der Politikwissenschaft - im Rahmen der Gewaltenteilungslehre - keinen allgemein akzeptierten Begriff (im Gegensatz zum Begriff der Opposition), obgleich Sternberger schon Ende der fünfziger Jahre auf die "lebensvolle Sonderart von ,Gewaltenteilung'" in der Bundesrepublik hingewiesen hatte (D. Sternberger [Anm. 11], S. 208), seit den sechziger Jahren von "neuer" Gewaltenteilung die Rede ist. Zur Klärung des politischen Bewusstseins in der Bundesrepublik erscheint es zweckmäßiger, diesen Sachverhalt offen auszusprechen anstatt ihn zu kaschieren, etwa indem im Rahmen einer Erläuterung des Grundgesetzes hinsichtlich der Gewaltenteilungsproblematik unter dem Zwischentitel "Verwirklichung im Grundgesetz" behauptet wird, das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik sei eine "Erscheinungsform der Gewaltenteilung" (Peter Badura, Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, München 1996², S. 269). Im Ergebnis ist dieser Aussage selbstverständlich zuzustimmen: Sie entspricht insoweit dem neuen Gewaltenteilungskonzept. Aber sie ist unzutreffend, wenn man von der Gewaltenteilungsnorm des Grundgesetzes in der herkömmlicherweise üblichen Interpretation des Parlamentarischen Rates ausgeht. Kann man nicht offen zugeben, dass der Parlamentarische Rat (ebenso wie die Staatsrechtslehre seiner Zeit) ein unrealistisches Gewaltenteilungskonzept vertreten hatte? Vgl. D. Sternberger (Anm. 11), S. 208. Vgl. Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, München 1992, S. 139 ff.: Kritik an den Parteien als ungeschriebenem "sechstem Verfassungsorgan" (S. 140). Deutlicher und thesenförmig formuliert: Bundestagsparteien - insbesondere die führenden Akteure der jeweiligen Regierungsparteien - verstoßen ständig gegen das Grundgesetz. Vgl. Günter Dürig, Einführung zum Grundgesetz, in: Grundgesetz mit Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland . . ., München 199835, S. IX-XXVI, hier S. XXI. Nach dem Tode von Dürig ist die Ausgabe um ein Geleitwort von Jutta Limbach erweitert, der Text von Dürig ist nicht geändert worden. Detlef Merten, Montesquieus Gewaltenteilungslehre und deutsche Verfassungsstaatlichkeit, in: P.-L. Weinacht (Anm. 2), S. 31-62, hier S. 45. Zu Recht kritisiert Merten hier partiell "gleichgerichtete Interessen" zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Dieses Problem kann aber nicht durch das klassische Gewaltenteilungskonzept gelöst werden, eben weil es nicht realisierbar ist. Zu dem angesprochenen Strukturmangel parlamentarischer Demokratie E. Schütt-Wetschky (Anm. 10), S. 87 ff. D. Merten, ebd., S. 59 f. Mertens Ausführungen leiden darunter, dass er "Gewaltenmonismus" im Bereich von Bundestag und Bundesregierung einerseits, die - in der Tat abzulehnende - Schwächung der Gewaltenteilung zwischen Politik und Justiz andererseits (hierzu eindringlich ebd., S. 58 f.) über einen und denselben Gewaltenteilungs-Leisten schlägt. In Mertens Sicht - Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft im traditionellen Sinne - sind Parteien lediglich ein Übel, das möglichst vom Staat fernzuhalten ist, zugunsten der einzelnen Abgeordneten im Sinne der klassisch-liberalen Repräsentationsidee (ebd., S. 56: Verweis auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Offenbar ist Merten noch nicht bewusst geworden, dass es sich bei Parteien und Fraktionen im modernen Verständnis (Geschlossenheit nach außen) um Phänomene freiheitlicher Demokratie handelt, um Civic Associations, das heißt einer freiheitlichen Verfassung gemäße Bürger-Assoziationen. Diese Bürger-Assoziationen haben die Politik in die Hand genommen, sind aber formal - unentbehrlich für die Legitimierung ihrer Politik - an das Staatsorgan Bundestag gebunden. Das eigentliche, von den Vertretern des neuen Gewaltenteilungskonzeptes in der Politikwissenschaft bisher vernachlässigte Problem ist die Optimierung der Gemeinwohlgeltung. Auch hierzu ausführlicher mein in Anm. 4 genannter Aufsatz. Realismus darf nicht verwechselt werden mit einer unkritischen Bejahung des Status quo. Realismus im richtig verstandenen Sinne bedeutet: diejenigen Sachverhalte als gegeben zu akzeptieren, die sich angesichts der generell akzeptierten Rahmenbedingungen - z. B.: Freiheitlichkeit des politischen Systems - offensichtlich nicht ändern lassen, etwa die faktische Gruppenstruktur in parlamentarischen Regierungssystemen. Vgl. dazu Werner J. Patzelt, Ein latenter Verfassungskonflikt? Die Deutschen und ihr parlamentarisches Regierungssystem, in: Politische Vierteljahresschrift, 39 (1998) 4, S. 725-757.
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Schütt-Wetschky, Eberhard
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25526/gewaltenteilung-zwischen-legislative-und-exekutive/
Von Politikern wird noch immer das klassische Konzept der Gewaltenteilung vertreten: zwischen dem Bundestag als Legislative und der Bundesregierung als Exekutive. Die Praxis hat jedoch von Anfang an nicht diesem Konzept entsprochen.
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Durchschnittliches Brutto-Einkommen von Frauen und Männern je nach Bildungsabschluss (2010) | Bildung | bpb.de
Grundsätzlich gilt: je höher der erreichte Bildungsabschluss, umso höher auch das auf dem Arbeitsmarkt erzielte Einkommen. Allerdings bestehen bei gleichem Bildungsabschluss noch immer erhebliche Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen. Während z.B. Männer mit Hochschulabschluss ein mittleres monatliches Bruttoeinkommen von 4.500 Euro erzielten, lag das Einkommen von Frauen mit Hochschulabschluss bei lediglich 3.211 Euro. Dies entspricht in etwa dem Einkommen von Männern mit (Fach-) Hochschulreife und beruflichem Abschluss (3.200 Euro). Diese Grafik finden Sie im Text Interner Link: "Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Bildung" von Ludger Wößmann.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2013-06-06T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/162825/durchschnittliches-brutto-einkommen-von-frauen-und-maennern-je-nach-bildungsabschluss-2010/
Grundsätzlich gilt: je höher der erreichte Bildungsabschluss, umso höher auch das auf dem Arbeitsmarkt erzielte Einkommen. Allerdings bestehen bei gleichem Bildungsabschluss noch immer erhebliche Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen. Wä
[ "Arbeitseinkommen", "Bildungsabschluss" ]
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Paradieszustand statt Wirtschaftskrise | Presse | bpb.de
Während die deutsche und internationale Politik an der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise arbeiten, zeigen Schüler beim Wettbewerb "ecopolicyade" wie gut sie nachhaltig regieren können. Am 2. Juli 2010 kommen die besten Teams im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestages zum Bundesentscheid zusammen. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb fördert seit 2008 die bundesweite Verbreitung des Spiels und der "ecopolicyade". Für den bundesweiten Wettbewerb hatten sich die Schüler-Teams zuvor über Landesentscheide qualifiziert. Die Teams messen sich im PC-Spiel "ecopolicy", einer Strategiesimulation, in der die Spieler ein Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsland so steuern und regieren müssen, dass alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche im Gleichgewicht gehalten werden. Im Spiel gilt es Politik, Wirtschaft, Umweltbelastung, Lebensqualität und weitere Lebensbereiche, die durch komplizierte Wechselwirkungen verbunden sind, so zu beeinflussen, dass sich der "Paradieszustand" ökologischer und ökonomischer Balance einstellt. Durch die "ecopolicyade" lernen junge Menschen systemische Zusammenhänge kennen und trainieren vernetztes Denken. Sie erleben die Bedeutung nachhaltigen Regierens und verstehen, dass etwa einseitige Investitionen in die Wirtschaft nicht nur eine starke Umweltbelastung, sondern auch eine Senkung der Lebensqualität und damit gesellschaftliche Unzufriedenheit zur Folge haben können. Thomas Krüger, Präsident der bpb, begrüßt dieses Lernangebot: "In diesem spielerischen Wettbewerb, der ecopolicyade, können Jugendliche mit Spaß und Wettbewerbsgeist ihr Verständnis für die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge der Welt schulen und schärfen." Die ecopolicyade sei dafür eine "sehr gute Gelegenheit". Die "ecopolicyade" findet 2010 zum zweiten Mal als Bundeswettbewerb statt, teilnehmen konnten Jugendliche der Klassenstufen 7 bis 10 aller Schularten. Weitere Informationen unter Externer Link: www.ecopolicyade.info Zum Bundesfinale am 2. Juli, 11:00 bis 13:30 Uhr im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Parlamentsgebäude des Deutschen Bundestages, sind Journalisten herzlich eingeladen. Anmeldungen bitte direkt beim Projektleiter, Herrn Hans-Werner Hansen unter +49 (0)151 15696492. Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (127 KB) Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49990/paradieszustand-statt-wirtschaftskrise/
Während die deutsche und internationale Politik an der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise arbeiten, zeigen Schüler beim Wettbewerb "ecopolicyade" wie gut sie nachhaltig regieren können. Am 2. Juli 2010 kommen die besten Teams zum Bundesents
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Von "umfassender strategischer Partnerschaft" zu Systemrivalität | Deutsche Außenpolitik | bpb.de
"Wir müssen unsere China-Politik an dem China ausrichten, das wir real vorfinden", sagte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Dezember 2021. Ein knappes Jahr später, kurz vor seiner Reise nach Beijing im November 2022, erklärte er: "Wenn sich China ändert, muss sich auch der Umgang mit China verändern." Diese beiden Sätze mögen banal und selbstverständlich klingen. Doch sie sind es nicht. Insbesondere seit der Machtübernahme Xi Jinpings als Chinas Staats- und Parteichef 2013 hat Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Merkel seine Chinapolitik an Blütenträumen einer "umfassenden strategischen Partnerschaft" mit einem Wunsch-China ausgerichtet, obwohl sich das Land immer stärker zu einem Systemrivalen und Gegner entwickelt, der Deutschland und Europa mit seinem globalen Machtanspruch sowie seinem autoritären Staatskapitalismus mit riesigem Heimatmarkt (sicherheits)politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich herausfordert. Olaf Scholz hat mit seinen beiden zitierten Maximen die Grundlagen für eine realistische Chinapolitik gelegt. Jetzt geht es darum, den chinapolitischen Kurswechsel, den viele Stimmen bereits gegen Ende der Merkel-Ära anmahnten, mit Nachdruck umzusetzen. Grundlage dafür muss eine mentale Neujustierung auf Basis des real existierenden kommunistischen Parteistaats sein sowie der Abschied von weit verbreiteten Illusionen. Dabei gilt es, die richtigen Lehren aus dem katastrophalen Scheitern der deutschen Politik gegenüber der anderen autoritär regierten Großmacht zu berücksichtigen: Russland. Das böse Erwachen aus der bisherigen Russlandpolitik und den energiepolitischen Abhängigkeiten kam für viele in Deutschland erst am Tag des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine. Mit Blick auf China sollte das Erwachen früher kommen. Xi hat gegenüber Taiwan einen sehr ähnlichen historisch begründeten Unterwerfungsanspruch formuliert wie Putin gegenüber der Ukraine. Er könnte einen Krieg mit den USA riskieren, um seinen Traum zu erfüllen, Taiwan unter chinesische Kontrolle zu bringen. Ein solches Szenario hätte auch für Deutschland weit größere Konsequenzen als der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das betrifft nicht nur die militärische Dimension eines Krieges zwischen den Großmächten. Die weltweiten Verwerfungen durch den kompletten Bruch der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA, ihren Verbündeten und China wären dramatisch. Deutschlands Abhängigkeiten gegenüber China sind weitreichender und komplexer als jene gegenüber Russland. Sie betreffen zahlreiche Rohstoffe, industrielle Vorprodukte und weitere wichtige Teile von Lieferketten, nicht zuletzt bei den Kerntechnologien der Energiewende. Schon jetzt benutzt Beijing wirtschaftliche Abhängigkeiten als Waffe. Deutschland muss diese Abhängigkeiten mit Nachdruck reduzieren. Merkels Illusionen Im Juli 2017 brachte Angela Merkel in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping im Bundeskanzleramt ihre chinapolitischen Illusionen prägnant auf den Punkt: "Wir haben inzwischen nicht nur eine strategische Partnerschaft, sondern eine umfassende strategische Partnerschaft, wie wir das nennen. Das bedeutet im Grunde, dass alle Bereiche der Gesellschaft in diese Zusammenarbeit mit einbezogen sind." Die Bundeskanzlerin machte unmissverständlich deutlich, dass sie die Partnerschaft zwischen Deutschland und China auch unter Xi Jinping auszuweiten gedachte, und hielt bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft an dieser Linie fest. Eines ihrer letzten Prestigeprojekte war es, Ende 2020 in der EU ein Investitionsabkommen mit China durchzusetzen, das Comprehensive Agreement on Investment. Dies war Merkels chinapolitischer Willkommensgruß an den frisch gewählten US-Präsidenten Joe Biden. Dabei ging es ihr darum, mit Beijing zusammenzuarbeiten, um "eigene Handlungsspielräume auch gegenüber den USA zu erweitern". Merkel versuchte mithilfe der strategischen Partnerschaft mit Beijing, Gegenmacht gegenüber den USA aufzubauen. Mit diesem Ansatz war Merkel keinesfalls allein auf weiter Flur. Der Schock über das Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump, der jegliches gemeinsame Vorgehen der USA und Europas gegenüber China ablehnte und Deutschland und Europa regelmäßig handelspolitisch drohte, saß tief. Führende China-Experten in Deutschland forderten, mit Beijing zusammenzuarbeiten, um die Rolle des US-Dollars als internationale Leit- und Reservewährung zu begrenzen. Das Anti Coercion Instrument, das die EU derzeit als Schutz gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen ausarbeitet und inzwischen vor allem auf China gemünzt ist, war ursprünglich als Reaktion auf US-Sekundärsanktionen gegenüber Iran gedacht, die europäische Firmen ins Visier nahmen. Xis Kampf In Merkels letzter Amtszeit von 2018 bis 2021 war die Ausrichtung am Leitbild einer "umfassenden strategischen Partnerschaft" mit dem China Xis zunehmend umstritten. Ein chinapolitisches Umdenken setzte in Deutschland wie auch auf europäischer Ebene ein. Wichtigster Katalysator dafür waren Worte und Taten Xis. Schon früh nach seinem Amtsantritt als Staats- und Parteichef 2013 war klar geworden, dass Xi keinen Kurs der politischen Öffnung verfolgen würde. In dem 2013 verfassten "Dokument 9" forderte die Führung der Kommunistischen Partei eine starke Reideologisierung im Kampf gegen als feindlich wahrgenommene "westliche Ideen". Im ersten Jahrzehnt seiner Führung hat Xi den absoluten Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei in allen Bereichen zementiert, auch in der Wissenschaft. Dazu gehören verschärfte Repressionen gegen all diejenigen, die der Parteistaat als "nicht auf Linie" klassifiziert. Im Namen des "Kampfes gegen den Terror" verletzt Xis Parteistaat systematisch die Rechte der Minderheit der Uiguren. Entgegen des in einem internationalen Abkommen verbrieften Versprechens "ein Land, zwei Systeme" hat Xi mit großer Entschlossenheit die politische Autonomie Hong Kongs ausgehebelt und Demonstrationen dagegen brutal niederschlagen lassen. Xi geht zudem unter Inkaufnahme wirtschaftlicher Kosten gegen Teile der chinesischen Wirtschaft etwa im Digitalbereich vor, um den Macht- und Kontrollanspruch der Partei durchzusetzen. Den eigenen Machtanspruch perpetuierte Xi, indem er Amtszeitbegrenzungen und das Prinzip kollektiver Führung abschaffte, die die Kommunistische Partei nach den Erfahrungen mit Mao eingeführt hatte. Den Kampf gegen internationale Widersacher, insbesondere gegen die USA und den von ihnen angeführten Westen, führt Xi genauso entschlossen wie den Kampf im Inneren. Die chinesische Führung sieht das als Teil einer historischen Mission, das Land wieder zu alter Größe zu führen, als zentrales Element des von Xi propagierten "chinesischen Traums". Bis spätestens 2049, dem 100-jährigen Jubiläum des Parteistaats, soll die "nationale Wiedergeburt" erfolgreich vollzogen sein. Dabei traf Xi zu Beginn seiner Amtszeit international auf wenig Widerstand. Im südchinesischen Meer schüttete Beijing völkerrechtswidrig Inseln auf und militarisierte diese anschließend. Dies geschah während Barack Obamas US-Präsidentschaft, der mit Blick auf Herausforderungen wie Afghanistan oder Nordkorea auf Kooperation mit Beijing setzte und die Konfrontation scheute. Die chinesische Antwort auf Obamas Kooperationsangebot war, dies als Schwäche auszunutzen und die eigenen militärischen Interessen durchzusetzen. Die USA vertraten unter Donald Trump und vertreten nun auch unter Joe Biden eine deutlich konfrontativere Position gegenüber Beijing – nicht zuletzt auch technologisch, etwa durch Sanktionen auf Hochtechnologieexporte wie im Halbleiterbereich, wo China auf von den USA und ihren Verbündeten kontrollierte Technologie angewiesen ist. Xi sieht sich in einem langen Kampf mit den USA. Im März 2023 brachte er dies auf den Punkt: "Westliche Länder, angeführt von den Vereinigten Staaten, haben China in allumfassender Weise eingedämmt und unterdrückt, was für die Entwicklung unseres Landes beispiellose Herausforderungen gebracht hat." Die zentrale Herausforderung ist aus Xis Sicht, sich für diesen Kampf nach innen wie nach außen zu härten und widerstandsfähig zu sein. Dafür soll das chinesische Militär in Xis Worten zu einer "Großen Mauer aus Stahl" ausgebaut werden. In einer Rede im April 2020 sagte er sehr klar, dass man in allen sicherheitsrelevanten Bereichen der Produktion vom Ausland unabhängig werden wolle. Gleichzeitig müsse man die "Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China erhöhen und dadurch eine starke Fähigkeit zu Gegenmaßnahmen und Abschreckung gegenüber Ausländern ausbilden, die Lieferungen an China künstlich einschränken könnten". Die drei Jahre dauernde Geiselnahme des kanadischen Forschers Michael Kovrig und des kanadischen Geschäftsmanns Michael Spavor ab Dezember 2018, die als Reaktion auf die Festnahme der Tochter des Huawei-Gründers in Kanada erfolgte, zeigte, dass Beijing heute auch nicht mehr davor zurückschreckt, ausländische Staatsbürger als Faustpfand für die Durchsetzung seiner Interessen zu instrumentalisieren. Dasselbe gilt für frontale Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit in Europa, wie die im März 2021 von China verhängten Sanktionen gegen kritische China-Forscher in Europa belegen, darunter das gesamte Berliner Mercator Institute for China Studies, die als Vergeltung für EU-Sanktionen gegen einige an Menschenrechtsverletzungen beteiligte chinesische Beamte auferlegt wurden. Generell ist Beijings Außenpolitik klar zwei Zielen untergeordnet: die innere Legitimität der Kommunistischen Partei zu erhöhen und gleichzeitig die Position des Parteistaats zu stärken, vor allem gegenüber den USA. Aus dieser Zielsetzung erklären sich auch zwei der außenpolitischen Positionierungen Chinas, die Deutsche und Europäer in den vergangenen Jahren am meisten verstört haben dürften: die Pandemieaußenpolitik sowie die "grenzenlose Freundschaft" mit Putins Russland. In den ersten Wochen der Corona-Pandemie leisteten europäische Länder China Unterstützung in Form von Hilfslieferungen, ohne daraus Kapital zu schlagen. Beijing hingegen schlachtete jede Lieferung von medizinischen Gütern nach Europa später öffentlich aus, stellte den eigenen Weg der Pandemiebekämpfung propagandistisch als Zeichen der Überlegenheit des Parteistaats dar, unterband offene Untersuchungen zum Ursprung des Virus in China und verbreitete gleichzeitig Verschwörungstheorien zum angeblichen Ursprung des Virus in den USA. Diese Verweigerung einer offenen Zusammenarbeit angesichts eines globalen Gesundheitsnotstands, weil Machtinteressen der Kommunistischen Partei dem entgegenstanden, warf grundlegende Fragen zur Kooperationsfähigkeit Beijings auf. Ebenso irritierend finden viele Europäer, dass Beijing seit Beginn der Invasion Russlands in der gesamten Ukraine fest an der Seite des Kreml steht und an der zwischen Xi und Putin im Februar 2022 kurz zuvor vereinbarten "Freundschaft ohne Grenzen" und "ohne verbotene Bereiche" festhält. Beijings Unterstützung für Moskau, die sich in politischer Flankierung, vertieften Handelsbeziehungen sowie Kooperation des Militärs niederschlägt, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass China Russland in der Auseinandersetzung mit den USA langfristig an seiner Seite haben möchte. Beijings Sorge ist nicht eine langfristige Destabilisierung der europäischen Friedensordnung, sondern eine Niederlage Moskaus, die eine Ablösung Putins durch einen weniger chinafreundlichen Kreml-Herrscher nach sich ziehen könnte. Auch Beijings Politik gegenüber Deutschland folgt den Zielen der Stärkung der eigenen Herrschaftsbasis und der eigenen Position im Systemkonflikt mit den USA. China schätzt Deutschland als Absatzmarkt und in den Bereichen, in denen Deutschland wie etwa in der Industrie und in der Wissenschaft etwas anzubieten hat, auch als Bereitsteller von Technologie. Gleichzeitig möchte Beijing so weit wie möglich verhindern, dass Deutschland und Europa sich mit den USA gegen China zusammenschließen. Chinapolitisches Umdenken Diese Betrachtung macht deutlich: Wer im chinesischen Parteistaat einen "umfassenden strategischen Partner" sieht, ist blind für die Realitäten der Machtpolitik Xis. In der deutschen Wirtschaft und Politik gibt es noch einige, die dies nicht einsehen – ob aus kurzsichtigem wirtschaftlichen Eigeninteresse oder aus sonstigen Motiven. Aufseiten der Wirtschaft ist der langjährige Volkswagen-Chef Herbert Diess dafür ein Beispiel. Im Sommer 2022 sagte er über den Kongress der Kommunistischen Partei, der im Oktober anstand, dieser "dürfte eine weitere Öffnung bringen. China wird sich auch im Wertesystem weiter positiv entwickeln. Wir können einen Beitrag zum Wandel leisten, indem wir vor Ort vertreten sind." Sein Nachfolger Oliver Blume verteidigte Anfang September 2022 das VW-Werk in Xinjiang mit einer formvollendeten "Wandel durch Handel"-Argumentation: "Es geht darum, unsere Werte in die Welt zu tragen. Auch nach China, auch in die Uiguren-Region." Aufseiten der Politik ist Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU) ein Vertreter dieser Haltung. 2021 sagte er: "Nein, China ist keine Diktatur, China ist ein Staat, in dem im Wesentlichen eine Partei, nämlich die Kommunistische Partei herrscht. Wir haben das einfach so zur Kenntnis zu nehmen." Derartige Äußerungen sind allerdings mittlerweile in der politischen Mitte seltener geworden. Dazu hat auch die Betonung der Systemrivalität mit China durch Teile der Wirtschaft beigetragen, die durch die "Made in China 2025"-Strategie aufgeschreckt wurden. Mit ihr verkündete Beijing die Absicht, Deutschland in zentralen Industriebereichen wie dem Maschinen- und Anlagenbau den Rang abzulaufen. Lange Zeit hatte sich die deutsche Industrie darauf verlassen, dass man sich am Markt durch Innovationsvorsprung global durchsetzen werde und China als Wettbewerber nicht gefährlich werden könne. Doch nun wurde vielen klar, dass dies ein Trugschluss war. Die chinesische Konkurrenz konnte sich sehr wohl und viel öfter als gedacht durchsetzen. Dies war aus Sicht der Industrie nicht nur dem Fleiß der chinesischen Ingenieure geschuldet, sondern auch unfairen Methoden des autoritären Staatskapitalismus chinesischer Prägung. Viele deutsche Unternehmen können über Beispiele des Diebstahls geistigen Eigentums in Joint Ventures oder Benachteiligungen auf dem chinesischen Markt bei der Auftragsvergabe gegenüber chinesischen Konkurrenten berichten. Doch die Problematik geht tiefer. Chinesische Unternehmen haben den Vorteil eines riesigen geschützten Heimatmarkts, in dem sie Wettbewerbsvorteile aus Skaleneffekten und staatlichen Krediten zu Vorzugskonditionen ziehen können. Im Januar 2019 fasste der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine Bedenken in einem wegweisenden Grundsatzpapier zusammen, das China als "systemischen Wettbewerber" identifizierte. Dass Beijing 2021 aus Ärger über die Taiwanpolitik Litauens auch dort produzierende deutsche Unternehmen mit Wirtschaftssanktionen belegte, ließ die Alarmglocken des BDI noch einmal lauter läuten. Der BDI verurteilte diesen fundamentalen Angriff auf die Kernprinzipien des EU-Binnenmarkts als "verheerendes Eigentor". Zwei Monate nach der Publikation des BDI-Berichts Anfang 2019 verkündete dann die EU in einem Strategiepapier, dass China zugleich Partner, Wettbewerber und Systemrivale sei. Der Dreiklang fand auch Einzug in den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition. Eine wachsende Zahl von Stimmen erkennt mittlerweile an, dass die Systemrivalität überwiegt. In einem Positionspapier formulierte die SPD-Bundestagsfraktion 2020: "Die Systemkonkurrenz bestimmt letztendlich das Ausmaß, wie die Partnerschaft mit China konkret ausgestaltet werden kann, und beeinflusst auch die Art und Weise des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit China." Der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil hat mehrfach betont, dass Deutschland dringend kritische Abhängigkeiten von China reduzieren muss. Aufseiten der Union gehört Norbert Röttgen zu den Politikern, die bereits unter Angela Merkel ein sehr deutliches Umdenken mit Blick auf China anmahnten. Ein Kristallisationspunkt war die Debatte um die von Merkel vorangetriebene Beteiligung des chinesischen Konzerns Huawei an der kritischen Mobilfunkinfrastruktur 5G. Röttgen opponierte erfolgreich gegen Merkels Kurs und sorgte gemeinsam mit Abgeordneten des damaligen Koalitionspartners SPD und mit Unterstützung der Opposition aus Grünen und FDP dafür, dass der Bundestag ein Gesetz verabschiedete, das Instrumente zum Ausschluss Huaweis enthielt. Eine bemerkenswert kritische Positionierung gegenüber Beijing hat in den vergangenen Jahren die FDP entwickelt. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel etwa hat sehr deutlich einen Stresstest für die deutschen Abhängigkeiten von China gefordert und argumentiert, dass China die "größere systemische Herausforderung" sei als Russland. Die vielleicht härteste Positionierung gegenüber Beijing findet sich bei den Grünen, vorangetrieben unter anderem durch den EU-Abgeordneten Reinhard Bütikofer. Entsprechend sind Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck Antreiber einer realistischeren Chinapolitik in der Ampelkoalition. Widerstandsfähige China-Strategie So erfreulich dieses Umdenken ist, so wenig ausreichend sind bislang die Resultate. Xis China hat sich weit schneller auf bedrohliche Art und Weise verändert als unser Umgang damit. Handelsbilanzdefizit und Abhängigkeiten wachsen weiter. Und zu viele gefährliche Illusionen haben weiter einen prominenten Platz in der Debatte: Zu viele flüchten sich in das Narrativ "China ist nicht Russland", als ob wir sicher sein könnten, dass Xi nicht ähnlich wie Putin ideologisch und machtpolitisch getriebene, aus unserer Sicht irrationale Entscheidungen trifft – etwa für eine Invasion Taiwans. Zu viele, auch der Kanzler, nutzen das Scheinargument "Keine Entkopplung" als Nebelkerze in der Diskussion, als ob jemand von Belang eine komplette Entkopplung von China fordern würde. Zu viele gehen davon aus, dass man klimapolitisch mit Beijing problemlos zusammenarbeiten könne oder gar Zugeständnisse in anderen Bereichen machen müsse, damit China uns klimapolitisch entgegenkommt. Zu viele hoffen, mit einem System ohne unabhängigen Rechtsstaat ließe sich verlässlich Reziprozität beim Marktzugang vereinbaren. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es ist wichtig, dass die erste Nationale Sicherheitsstrategie und die erste China-Strategie, die die Bundesregierung im Laufe des Jahres 2023 vorlegen wird, gegen diese Illusionen angehen und eine ambitionierte China-Politik formulieren, die die Widerstandsfähigkeit gegenüber der aggressiven Politik Xis umfassend erhöht. Dazu ist ein chinapolitischer Europäisierungsschub sowie enge Koordinierung mit gleichgesinnten Partnern nötig. Orientierung dabei kann die jüngste messerscharfe chinapolitische Grundsatzrede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vermitteln, die bislang beste Antwort auf Xis China vonseiten einer führenden europäischen Politikerin. Entsprechend sollte sich die Bundesregierung im Bereich "wirtschaftliche Sicherheit" verpflichten, in einem ersten Schritt die Abhängigkeiten auf Unternehmensebene sowie gesamtwirtschaftlich klar zu erfassen und einem Stresstest zu unterziehen, um festzustellen, ob Unternehmen, Branchen und Lieferketten den Schock einer Abkopplung von China im Kriegsfall absorbieren könnten. In einem zweiten Schritt sollten konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeiten vorangetrieben werden. Politisch sollte die Bundesregierung das Risiko für China-Investitionen klar an die Unternehmen zurückgeben, statt immer höhere Abhängigkeiten vonseiten deutscher Großunternehmen politisch zu flankieren. Bei Rohstoffen und industriellen Vor- und Zwischenprodukten muss die Regierung durch klare Vorgaben und Anreize sicherstellen, dass Unternehmen Abhängigkeiten von China reduzieren und alternative Bezugsquellen erschließen, auch wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Gerade bei kritischer Infrastruktur ist es zentral, keine weiteren Abhängigkeiten einzugehen – anders als durch die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz im Herbst 2022, dem chinesischen Staatsunternehmen Cosco den Einstieg in den Hamburger Hafen zu ermöglichen, statt in eine einheitliche europäische Position gegenüber Cosco zu investieren. Richtigerweise verwenden Scholz und sein Kabinett viel Zeit darauf, Beziehungen zu Ländern zu vertiefen, die alternative Märkte, Bezugsquellen für Rohstoffe und kritische Produkte für die Industrie oder ein politisches Gegengewicht zu China darstellen. In einem dritten Schritt sollte die Regierung sicherstellen, dass deutsche Unternehmen und Wissenschaftler keinen Beitrag zum Aufbau chinesischer Kapazitäten im Militär- oder Repressionsapparat leisten. Hier wird der Druck vonseiten der USA auf der Basis der von der Biden-Regierung verkündeten drastischen Verschärfung der Exportkontrollen gegenüber China bei kritischen Technologien, die auch militärischen Nutzen haben, noch einmal enorm zunehmen. Gleichzeitig müssen Deutschland und Europa massiv in die eigene Innovationsfähigkeit investieren. Gesellschaftlich sollten wir uns besser gegen Versuche chinesischer Einflussnahme schützen, etwa durch Transparenzerfordernisse für Lobbyisten oder für jegliche Vereinbarungen mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Medien, und gleichzeitig unsere Chinakompetenz deutlich ausbauen, wie auch unsere gesamte Asien- und Indopazifikkompetenz. Sicherheitspolitisch muss Deutschland verhindern, dass aus der Systemrivalität mit Beijing ein heißer Krieg wird. Friedenspolitisch muss Deutschland deshalb mit Partnern in eine glaubwürdige Abschreckung Beijings investieren, den friedlichen Status quo zu Taiwan gewaltsam zu verändern. Gleichzeitig sollten wir uns einen neugierigen Blick auf die Diversität der chinesischen Gesellschaft bewahren, politische Kanäle offenhalten sowie Beijing Kooperationsangebote unterbreiten, wo deutsche und europäische Interessen dies nahelegen. Chinapolitisch steht ein turbulentes Jahrzehnt bevor. Deutschland sollte sich mit großer Entschlossenheit sturmfester machen. Olaf Scholz, Regierungserklärung, 15.12.2021, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-1992008. Ders., Darum geht es bei meiner Reise nach China, 2.11.2022, Externer Link: http://www.faz.net/18431634.html. Vgl. etwa Thorsten Benner, Merkels China-Illusion, 11.7.2016, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.3073375; James Mann, The China Fantasy: How Our Leaders Explain Away Repression, New York 2007. Angela Merkel, Pressestatement im Bundeskanzleramt, 5.7.2017, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/-844138. Lea Sahay/Kai Strittmatter, "Die Fronten klären sich. Und China ist auf der anderen Seite". Interview mit Mikko Huotari, 29.3.2022, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.5556872. Vgl. Andreas Rinke, Experte: EU und China sollten Rolle des Dollars begrenzen, 22.5.2018, Externer Link: http://www.reuters.com/article/idDEKCN1IN21Z. Den besten Überblick liefert Andrew Small, No Limits. The Inside Story of China’s War with the West, New York 2022. Document 9. A ChinaFile Translation, 8.11.2013, Externer Link: http://www.chinafile.com/document-9-chinafile-translation. Vgl. UN Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR Assessment of Human Rights Concerns in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, People’s Republic of China, 31.8.2022, Externer Link: http://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ohchr-assessment-human-rights-concerns-xinjiang-uyghur-autonomous-region. Vgl. Niharika Mandhana, How Beijing Boxed America Out of the South China Sea, 11.3.2023, Externer Link: http://www.wsj.com/articles/china-boxed-america-out-of-south-china-sea-military-d2833768. Friederike Böge, Die Schuldigen sind andere, sagt Xi, 8.3.2023, Externer Link: https://zeitung.faz.net/faz/politik/2023-03-08/869245.html. Vgl. Mikko Huotari, Festung China, in: Internationale Politik 6/2022, S. 18–23. Vgl. Xi will "Große Mauer aus Stahl", 13.3.2023, Externer Link: http://www.zdf.de/nachrichten/politik/xi-jinping-china-militaer-mauer-stahl-100.html. Xi Jinping, Certain Major Issues for Our National Medium- to Long-Term Economic and Social Development Strategy, in: Qiushi, 1.11.2020, Externer Link: https://cset.georgetown.edu/wp-content/uploads/t0235_Qiushi_Xi_economy_EN-1.pdf. Für den Wortlaut der Erklärung zwischen China und Russland vom 4. Februar 2022 siehe Externer Link: http://www.en.kremlin.ru/supplement/5770. Simon Hage/Steffen Klusmann, "Ohne die Geschäfte mit China würde die Inflation noch weiter explodieren", Interview mit Herbert Diess, in: Der Spiegel 27/2022, S. 60–63, hier S. 62. Roman Eichinger/Burkhard Uhlenbroich, Kosten E-Autos Jobs, Herr Blume?, Interview mit Oliver Blume, 4.9.2022, Externer Link: http://www.bild.de/bild-plus/-81211446.bild.html. Zit. nach Ruth Kirchner/Steffen Wurzel, Kein Wandel durch Handel, 27.4.2021, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/deutsche-china-politik-kein-wandel-durch-handel-100.html. Vgl. Agatha Kratz/Janka Oertel, Home Advantage: How China’s Protected Market Threatens Europe’s Economic Power, European Council on Foreign Relations, ECFR Policy Brief, 15.4.2021, Externer Link: https://ecfr.eu/publication/home-advantage-how-chinas-protected-market-threatens-europes-economic-power. Bundesverband der Deutschen Industrie, Partner und systemischer Wettbewerber: Wie gehen wir mit Chinas gelenkter Volkswirtschaft um?, Januar 2019, Externer Link: https://bdi.eu/publikation/news/china-partner-und-systemischer-wettbewerber. Streit mit China: Taiwan legt Investitionsfonds für litauische Wirtschaft auf, 11.1.2022, Externer Link: http://www.handelsblatt.com/27965228.html. Vgl. Jürgen Matthes/Manuel Fritsch, Auswirkungen der Sanktionen Chinas gegen Litauen auf die EU, Institut der deutschen Wirtschaft, IW-Kurzbericht 4/2022, Externer Link: http://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Sanktionen-Chinas-gegen-Litauen.pdf. Vgl. EU-Doc. JOIN(2019) 5 final, Externer Link: https://commission.europa.eu/system/files/2019-03/communication-eu-china-a-strategic-outlook.pdf. SPD-Bundestagsfraktion, Souverän, regelbasiert und transparent. Eine sozialdemokratische China-Politik, 30.6.2020, Externer Link: http://www.spdfraktion.de/system/files/documents/positionspapier_china.pdf. Daniel Brössler, "Die systemische Herausforderung ist noch größer als durch Putins Russland", Interview mit Johannes Vogel, 3.11.22, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.5685824. Vgl. Jürgen Matthes, China-Handel 2022: Ungleichgewicht und Abhängigkeit weiter verstärkt, IW-Kurzbericht 9/2023, Externer Link: http://www.iwkoeln.de/studien/juergen-matthes-ungleichgewicht-und-abhaengigkeit-weiter-verstaerkt.html. Vgl. Ursula von der Leyen, Speech on EU-China Relations to the Mercator Institute for China Studies and the European Policy Centre, 30.3.2023, Externer Link: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_23_2063. Die Rede von Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan am 16. September 2022 ist hierbei von zentraler Bedeutung. Siehe Externer Link: http://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2022/09/16/remarks-by-national-security-advisor-jake-sullivan-at-the-special-competitive-studies-project-global-emerging-technologies-summit. Vgl. Thorsten Benner, Schlüsselfrage Taiwan, in: Internationale Politik 2/2022, S. 70–75.
Article
Benner, Thorsten
"2023-07-07T00:00:00"
"2023-04-19T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/deutsche-aussenpolitik-2023/520205/von-umfassender-strategischer-partnerschaft-zu-systemrivalitaet/
Bei der Neuausrichtung der deutschen Chinapolitik gilt es, die Lehren aus dem Scheitern der deutschen Russlandpolitik zu berücksichtigen.
[ "deutsche Außenpolitik", "Internationale Beziehungen", "Zeitenwende", "China", "Angela Merkel", "Xi Jinping" ]
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Empfängerzahlen und -strukturen und Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme | Rentenpolitik | bpb.de
EmpfängerInnen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Steigende Empfängerzahlen Zwischen 2003 − seit der Einführung der Grundsicherung − und 2017 hat sich der Empfängerkreis mehr als verdoppelt. Die Dynamik des Anstiegs ist bei den voll erwerbsgeminderten BezieherInnen mit 200 Prozent viel dynamischer im Vergleich zu den BezieherInnen von Grundsicherung im Alter (Anstieg um 99 Prozent). Betrachtet man die Struktur der Empfänger im Einzelnen, zeichnen sich folgende Auffälligkeiten ab: Rund ein Viertel der EmpfängerInnen lebt in stationären Einrichtungen (Pflegeheimen) und erhält zusätzlich noch Hilfen zur Pflege oder Hilfen für Menschen mit Behinderungen. Das betrifft vor allem die Erwerbsgeminderten, während die Älteren noch zu 85 Prozent eigenständig wohnen. EmpfängerInnen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach Staatsangehörigkeit 2003 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Frauen sind unter den EmpfängerInnen leicht überrepräsentiert; die schlechtere Einkommenslage von Frauen im Alter macht sich hier bemerkbar. Der Anteil der Deutschen an allen Leistungsempfänger liegt bei etwa 82 Prozent: Der Anteil der Nicht-Deutschen beträgt 15 Prozent und übersteigt damit den Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung. Seit 2003 haben sich die Proportionen nicht wesentlich verschoben (vgl. Abbildung "Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach Staatsangehörigkeit 2003 − 2017") Empfängerquoten Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Betrachtet man die Empfängerquoten, also den Anteil der Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen, an der jeweiligen Gesamtbevölkerung, zeigt sich ein überraschendes Ergebnis (vgl. Abbildungen "Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2017 und 2003 − 2017"): Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung hat eine vergleichsweise geringe Bedeutung. So beziehen nur 3,2 Prozent der Älteren diese Leistung, 2,9 Prozent der Männer und 3,1 Prozent der Frauen. Der Anteil der EmpfängerInnen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung ist in den alten Bundesländern höher als in den neuen Bundesländern (vgl. Abbildung "Empfängerquoten der Grundsicherung im Alter nach Bundesländern 2017"), im Norden höher als im Süden sowie in den Stadtstaaten höher als in den Flächenstaaten. Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter nach Bundesländern 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Ursächlich für diese regionalen Differenzierungen ist zum einen, dass in den neuen Bundesländern die finanzielle Situation der Bestandsrentner, insbesondere der Frauen, gegenwärtig günstiger ist als in den alten Bundesländern (Das trifft allerdings nicht mehr auf die Rentenneuzugänge zu!). Zum anderen kommen in dem Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle auch die unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Strukturen zum Ausdruck. Und zu berücksichtigen sind schließlich die regional stark abweichenden Kosten der Unterkunft. Es zeigt sich, dass Empfänger von einer niedrigen Rente in Regionen mit einem niedrigen Mietpreisniveau keinen Anspruch auf aufstockende Grundsicherung haben, während diese Rente im großstädtischen Raum nicht ausreicht, um den Grundsicherungsbedarf (einschließlich Kosten der Unterkunft) zu decken. Zur Dunkelzifferproblematik Die Zahlen und Daten über die Empfänger der Grundsicherung beziffern allerdings nur jene Personen, die tatsächlich Leistungen beanspruchen. Über die Größenordnung derer, die aufgrund ihres niedrigen Alterseinkommens zwar einen Anspruch hätten, diesen aber nicht wahrnehmen ("Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme"), gibt es keine aktuellen und verlässlichen Informationen. Die Ursachen für die Nicht-Inanspruchnahme sind vielfältig : Die Betroffenen sind unzureichend informiert, ob sie noch einen Anspruch auf aufstockende Leistungen haben; dies insbesondere dann, wenn der Anspruch eher gering ist. Und nach wie vor herrschen gerade bei der älteren Bevölkerung Angst und Sorge, dass der Gang zum Sozialamt und der Erhalt bedürftigkeitsbezogener Leistungen zum sozialen Stigma werden und die Familienbeziehungen gefährden. So ist fraglich, dass der weitgehende Wegfall des Rückgriffs auf die Kinder den Betroffenen tatsächlich bekannt ist. Zielsetzung der 2003 eingeführten Neuregelung war es aber gerade, durch den (weitgehenden) Verzicht auf den Rückgriff auf die Kinder sowie durch die Hinweise auf ergänzende Grundsicherungsleistungen, die die Rentenversicherung den Neurentnern gibt, die "verschämte Altersarmut" abzubauen. Ob und inwieweit dies erreicht worden ist, lässt sich nur grob abschätzen beurteilen (vgl. Kasten). Mithilfe repräsentativer Bevölkerungsbefragung ist untersucht worden, wie verbreitet die verschämte Armut unter Älteren − bezogen auf das Jahr 2007 − ist: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die Quote der Nichtinanspruchnahme, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug laut Irene Becker 68 Prozent . QuellentextDie Dunkelziffer wird in der Tendenz unterschätzt "Becker ist sicher, dass dieses Ergebnis die Realität gut widerspiegelt. Schließlich steht die mit demselben Datensatz ermittelte 'bekämpfte Armut' in Übereinstimmung mit den amtlichen Statistiken – was für die Repräsentativität der Stichprobe spricht. Und wenn es Verzerrungen gäbe, dann würde die verdeckte Armut eher unterschätzt, betont die Forscherin. Möglich wäre nämlich, dass Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, auch überdurchschnittlich häufig vor der Teilnahme an Befragungen zurückschrecken. Personen mit Sparguthaben oder nur geringen Grundsicherungsansprüchen von unter 30 Euro im Monat hat sie bei ihrer Rechnung gar nicht berücksichtigt." Quelle: Hans-Böckler-Stiftung (2012). EmpfängerInnen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ EmpfängerInnen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach Staatsangehörigkeit 2003 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter nach Bundesländern 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ "Becker ist sicher, dass dieses Ergebnis die Realität gut widerspiegelt. Schließlich steht die mit demselben Datensatz ermittelte 'bekämpfte Armut' in Übereinstimmung mit den amtlichen Statistiken – was für die Repräsentativität der Stichprobe spricht. Und wenn es Verzerrungen gäbe, dann würde die verdeckte Armut eher unterschätzt, betont die Forscherin. Möglich wäre nämlich, dass Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, auch überdurchschnittlich häufig vor der Teilnahme an Befragungen zurückschrecken. Personen mit Sparguthaben oder nur geringen Grundsicherungsansprüchen von unter 30 Euro im Monat hat sie bei ihrer Rechnung gar nicht berücksichtigt." Quelle: Hans-Böckler-Stiftung (2012). Vgl. z. B. Bruckmeier, Wiemers 2011. Vgl. Becker 2012.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-10T00:00:00"
"2019-04-15T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/rentenpolitik/289542/empfaengerzahlen-und-strukturen-und-dunkelziffer-der-nicht-inanspruchnahme/
Ende 2017 erhielten gut 1 Million Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, darunter befanden sich zu 51,3 Prozent (544 Tsd.) Personen, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, und zu 48,7 Prozent (515 Tsd.) Personen
[ "Grundsicherung", "Grundsicherung bei Erwerbsminderung", "Grundsicherung im Alter", "Rentenpolitik", "Dunkelziffer", "Nicht-Inanspruchnahme", "Grundsicherungsleistungen", "Grundsicherungsempfänger", "Grundsicherungsquoten" ]
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Lagebild der Kriminalität | Kriminalität und Strafrecht | bpb.de
Das Lagebild der Kriminalität beruht nicht nur auf statistischen Angaben, es wird auch von subjektiven Unsicherheitsempfindungen beeinflusst. (© picture-alliance, Karl-Heinz Spremberg / Chromorange) Das Verhältnis vieler Menschen zu Kriminalität und Strafe ist gespalten: Kriminalität wird einerseits eindeutig negativ bewertet, aus moralischer Sicht ist kriminelles Verhalten schlecht, und Kriminalität macht Angst. Andererseits werden besonders raffiniert durchgeführte Verbrechen bewundert, finden Kriminalromane und Kriminalfilme seit jeher ein außerordentlich großes Interesse. Neben die Freude am Zuschauen tritt in der Realität eine Anfälligkeit vieler Menschen für kriminelles Handeln. Auch die Einstellungen zur staatlich angeordneten Strafe fallen unterschiedlich aus: Einmal werden aus der Sicht potenzieller oder tatsächlicher Opfer mehr bzw. härtere Strafen verlangt. Der Ruf nach einer strengeren Strafjustiz ist weit verbreitet. Ein andermal wird Strafrecht zumindest in manchen Bereichen aus der Sicht potenzieller oder tatsächlicher Täter als Interessen verletzende Einmischung des Staates aufgefasst. Die strafrechtlichen Anforderungen vonseiten des Finanzamtes oder im Straßenverkehr, zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall, werden von manchen als zu hoch empfunden. Dementsprechend zeigen sich auch in der Kriminalpolitik Widersprüche: Auf der einen Seite bestehen – fortschreitende – Tendenzen, das Strafrecht auszuweiten, auf der anderen Seite gibt es immer wieder Anstöße, Handlungen oder Taten vom Strafrecht auszunehmen. Jüngst ist die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden. Das Lagebild der Kriminalität ist ein Mosaik, das sich aus unterschiedlichen Informationen zusammensetzt. Da gibt es die persönlichen Erfahrungen mit Kriminalität als Opfer, Zeuge oder Täter. Es gibt Gespräche über Kriminalität in der Nachbarschaft und Umgebung sowie Berichte seitens der Medien, die sich bevorzugt sensationellen Kriminalfällen widmen. Hinzu kommt eine Anhäufung von fiktiven Verbrechen in Kriminalfilmen. Aus all dem ergeben sich subjektive, selektive Wahrnehmungen, die zu Verzerrungen führen können. Außerdem existieren unterschiedliche Vorstellungen darüber, was kriminell ist. Im Sinne des Gesetzes ist nur etwas kriminell, wenn der Gesetzgeber es so definiert hat. Das Strafgesetzbuch (StGB) sowie die in viele andere Gesetze aufgenommenen strafrechtlichen Bestimmungen sind den meisten Bürgerinnen und Bürgern aber nur "im Groben" bekannt. Demgegenüber bemühen sich amtliche Stellen sowie die kriminologische Forschung um objektive Lagebeschreibungen, wobei sich aber auch hier unterschiedliche Ergebnisse zeigen. Dementsprechend wird zwischen der subjektiven – persönlich empfundenen – und der objektiven – tatsächlichen, auf empirischen Daten fußenden – Sicherheitslage unterschieden. Man kann auch von einem gefühlten und einem gemessenen Sicherheitsklima sprechen. Entwicklung bei registrierten Straftaten insgesamt (© Bundeskriminalamt) Objektive Sicherheitslage Das objektive Lagebild der Kriminalität lässt sich aus drei Faktoren zusammenstellen: Polizeiliche Kriminalstatistik,gerichtliche Verurteiltenstatistik,Dunkelfelduntersuchungen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird vom Bundeskriminalamt (BKA) in Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern erstellt. In der PKS werden die polizeilich registrierten Straftaten wiedergegeben – allerdings ohne Verkehrsdelikte (seit 1963) und ohne Staatsschutzdelikte. Mit letzteren sind Straftaten gegen den äußeren und inneren Bestand des Staates gemeint wie zum Beispiel Landesverrat oder die Verbreitung von NS-Propaganda. Diese werden in den Berichten der Verfassungsschutzämter erfasst. Die Nichtberücksichtigung gerade der Verkehrsdelikte, soweit sie Straftaten darstellen wie beispielsweise Trunkenheit im Straßenverkehr und nicht "bloße" Ordnungswidrigkeiten wie etwa falsches Parken, führt wegen ihrer großen Zahl zu einer erheblichen statistischen Verzerrung. Eine Straftat ist ein vom Gesetzgeber definiertes sozialschädliches Verhalten (Unrecht), das nicht ausnahmsweise, zum Beispiel durch Notwehr, gerechtfertigt ist. Für eine Bestrafung ist zusätzlich erforderlich, dass der Täter schuldhaft gehandelt hat. Eine Ordnungswidrigkeit ist kein kriminelles Unrecht, sondern lediglich sogenanntes Verwaltungsunrecht, das mit einer Geldbuße – bei gröberen Verkehrsverstößen auch mit einem Fahrverbot – geahndet wird. Erfasste Straftaten in Deutschland 2016 (© Bundeskriminalamt) Generell wird nur ein Bruchteil der tatsächlich begangenen Straftaten polizeilich registriert, da längst nicht alle Straftaten bekannt werden. Letzteres hängt vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung und von der polizeilichen Kontrolltätigkeit ab. Zu beachten ist weiterhin, dass es sich um eine erste Einstufung von Straftaten handelt und dass die Polizei immer nur Verdächtigungen aussprechen kann. Staatsanwaltschaft und Gerichte kommen nicht selten zu anderen Beurteilungen, es erfolgt so ein "Tatverdächtigenschwund". Auch werden in der PKS, was nicht immer beachtet wird, ebenso die Versuche von Straftaten mitgezählt. Der Gesetzgeber hat einen ausdifferenzierten Deliktskatalog aufgestellt. So gibt es nicht nur den Diebstahl: Er wird vielmehr unterteilt in den "einfachen" Diebstahl, den besonders schweren Fall des Diebstahls, den Diebstahl mit Waffen und den Bandendiebstahl, den Wohnungseinbruchdiebstahl, den Haus- und Familiendiebstahl und den Diebstahl geringwertiger Sachen. Wird hierbei Gewalt gegen Personen angewendet, wird aus dem Diebstahl ein Raub. Ebenso unterscheidet der Gesetzgeber bei den Tötungsdelikten – entgegen dem Laienverständnis, das jede vorsätzliche Tötung als "Mord" interpretiert – zwischen Mord und Totschlag. Mörder ist, wer einen anderen Menschen vorsätzlich tötet und dabei hinsichtlich des Motivs, der Ausführung oder des Zwecks der Tat besonders verwerflich, zum Beispiel aus Habgier, heimtückisch oder grausam, handelt. Wer ohne eine solche "Mordqualifikation" einen anderen Menschen vorsätzlich tötet, wird als Totschläger bestraft. Auch ist nicht jeder Versuch einer Straftat strafbar, sondern nur, wenn es sich um ein besonders schweres Delikt handelt (Verbrechen) oder wenn der Gesetzgeber dies ausdrücklich so bestimmt hat. Ein Beispiel dafür, wie die Medien das Phänomen Kriminalität nicht nur "reproduzieren", sondern auch "produzieren" können, ist die Meldung in einer großen Tageszeitung vom 30. Mai 1992: "2555 Morde in 1991". Tatsächlich waren von den 2555 "Ermordeten" 1635 Menschen am Leben, das heißt in 1635 Fällen blieb es bei einem versuchten Tötungsdelikt, so schlimm auch diese Tatversuche sind. Im juristischen Sinne waren von den "2555 Morden" nur 863 wirklich als solche zu bezeichnen, während 57 vollendete und 1635 versuchte Tötungsdelikte unterhalb der Schwelle des Mordes blieben. Schließlich ist zu beachten, dass – notwendigerweise – auch Registrierfehler in der Polizeilichen Kriminalstatistik auftauchen können. Nach einer polizeiinternen Analyse ergibt sich eine Fehlerquote bei den erfassten Merkmalen (zum Beispiel Art der Kriminalität, Schusswaffeneinsatz, Versuchsanteil, Schadenshöhen, Opfergeschlecht) von knapp 14,5 Prozent, ohne dass sich dies als eine methodische Manipulation bezeichnen lässt. Jugendkriminalität Um einen verlässlichen Vergleichsmaßstab anzulegen, wird Kriminalität auf 100.000 Einwohner der Gesamtbevölkerung bezogen; die so errechnete Zahl heißt Häufigkeitszahl. Sie betrug im Jahr 2016 für die gesamte Bundesrepublik Deutschland 7755, das heißt, nach der polizeilichen Registrierung wurden von 100.000 Einwohnern 7755 Straftaten begangen. Bezogen auf je 100.000 Personen lassen sich auch spezifische Kriminalitätsbelastungen für bestimmte Altersgruppen errechnen (Kriminalitätsbelastungszahl = Anzahl der Straftaten berechnet auf 100.000 derselben Bevölkerungsgruppe). Dabei zeigt sich, dass von Jugendlichen (14 bis 17 Jahre), noch mehr von Heranwachsenden (18 bis 20 Jahre) generell häufiger Straftaten begangen werden als von Erwachsenen. So betrugen die Kriminalitätsbelastungszahlen für deutsche Tatverdächtige im Jahr 2016 für Jugendliche (14 bis einschließlich 17 Jahre): 4503Heranwachsende (18 bis einschließlich 20 Jahre): 5528Erwachsene (über 21 Jahre): 1876. Wegen der begrenzten Aufklärungsquote – 2016 betrug sie 56,2 Prozent der polizeilich registrierten Straftaten – kann ein Großteil der Straftaten nicht bestimmten Personengruppen zugerechnet werden, sodass die Kriminalitätsbelastungszahlen unterhalb der Häufigkeitszahl liegen. Die statistisch überdurchschnittliche Jugend- und Heranwachsendenkriminalität wurde bereits in einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage im Dezember 1986 wie folgt relativiert: "Die bloße Darstellung statistischer Ergebnisse vermittelt indes kein realistisches Bild über die tatsächliche Lage der Kriminalität junger Menschen. Zu oft wird durch undifferenzierte Berichterstattung der falsche Eindruck hervorgerufen, unsere Jugend werde immer krimineller. Demgegenüber muss ein verantwortlicher Umgang mit der Kriminalstatistik auch die Besonderheit der Struktur der Jugendkriminalität berücksichtigen. Danach ergibt sich unter anderem, dass die überwiegende Zahl aller Straftaten Jugendlicher dem Bereich der Massen- und Bagatellkriminalität zuzurechnen ist und dass die Straffälligkeit Jugendlicher meist ein episodenhaftes Phänomen ist, das sich mit zunehmendem Alter durch das Hineinwachsen in die Lebenswelt der Erwachsenen, in berufliche und familiäre Verpflichtungen von selbst verliert." Dies gilt auch weiterhin, wie der Zweite Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung von 2006, S. 357 f., belegt: "Delinquentes Verhalten bei jungen Menschen ist, nach gesicherten Erkenntnissen nationaler wie auch internationaler jugendkriminologischer Forschung, weit überwiegend als episodenhaftes, d. h. auf einen bestimmten Entwicklungsabschnitt beschränktes, ubiquitäres, d. h. in allen sozialen Schichten vorkommendes, und zudem im statistischen Sinne normales, d. h. bei der weit überwiegenden Mehrzahl junger Menschen auftretendes Phänomen zu bezeichnen. Fast 90 Prozent der männlichen Jungerwachsenen haben irgendwann einmal im Kindes- und Jugendalter gegen strafrechtliche Vorschriften verstoßen. Jugendliche Delinquenz ist insofern nicht per se Indikator einer dahinterliegenden Störung oder eines Erziehungsdefizits. Im Prozess des Normlernens ist eine zeitweilige Normabweichung in Form von strafbaren Verhaltensweisen zu erwarten. Dies hängt mit zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, nämlich der Herstellung sozialer Autonomie, sozialer Integration und Identitätsbildung, zusammen. Damit ist Normübertretung ein notwendiges Begleitphänomen im Prozess der Entwicklung einer individuellen und sozialen Identität. Es ist von einem Kontinuum auszugehen, an dessen einem Ende die massenhafte und gelegentliche Begehung von Straftaten durch junge Menschen steht, quasi der Pol der Normalität, und an dessen anderem Ende sich die nur selten auftretende, länger andauernde und gehäufte Begehung schwerer Straftaten befindet. Zahlreiche kriminologische Längsschnittstudien belegen die Existenz einer recht kleinen Gruppe junger Menschen, die über viele Jahre – teilweise bis in das mittlere und späte Erwachsenenalter hinein – kriminelle Delikte begeht. Mittlerweile lassen sich gewisse Regularitäten jener Entwicklungsverläufe benennen, die zu massiver, länger dauernder Delinquenz führen. Wenn sich auch die Forschung in der Frage der genauen Anzahl von möglichen Verläufen und der relativen Bedeutsamkeit von Risikofaktoren nicht einig ist, so kann doch als gesichert gelten, dass die Kumulation von Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit späterer massiver und längerfristiger, d. h. bis ins Erwachsenenalter reichender Delinquenz substanziell erhöht. Einflüsse, die hier relevant sind, beziehen sich sowohl auf Persönlichkeitsmerkmale und Temperamentsfaktoren auf der individuellen Ebene als auch auf die familiäre Sozialisation, hier insbesondere die Eltern-Kind-Bindung sowie Gewalterfahrungen im familiären Nahraum, die einer der relevantesten Prädikatoren der Entwicklung von Aggression und Delinquenz zu sein scheinen. Von hoher Bedeutung sind dabei die Entwicklung sozialer Informationsverarbeitung, die Entwicklung von Empathiefähigkeit und die Herausbildung von Fähigkeiten zur Affekt- und Selbstkontrolle." Entwicklung der Jugendgewalt Die Jugendkriminalität ist in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt stark gesunken. Zwischen 2007 und 2015 hat sich der Anteil der Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren pro 100 000 Jugendliche halbiert, er ging um 50,4 Prozent zurück. Das zeigt eine neue Langzeitstudie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Für die Autoren der Studie, die Kriminologen Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Sören Kliem, ist das "ein historisch einzigartiger Rückgang". Die Forscher machen aber auch auf neue Probleme aufmerksam, etwa auf die wachsende Gefahr des sogenannten Cyberbullyings, also nicht-physischer Gewalt im Internet oder über Handys. Zu dem starken Rückgang der Jugendgewalt haben laut den Autoren vor allem neun Faktoren beigetragen. Dazu gehören etwa der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit, der deutlich gesunkene Alkoholkonsum oder der Anstieg des Bildungsniveaus. Die Forscher stellen aber auch Zusammenhänge zum Schulschwänzen her, einem "Risikofaktor für Gewaltverhalten". Der Anteil der Jugendlichen, die sehr häufig vom Unterricht fernbleiben, ist demnach rückläufig. Das passt zu einem anderen Faktor, der den Rückgang der Jugendgewalt begünstigt: Jugendliche verbringen immer weniger Zeit "unstrukturiert und von Erwachsenen unkontrolliert", etwa in Diskos oder Kneipen. Der Studie zufolge ist diese Zeit in den vergangenen Jahren etwa um ein Drittel geschrumpft, von 67 auf 42 Minuten pro Tag. Ein direkter Zusammenhang zwischen Gewaltverhalten und Medienkonsum – der bei Jugendlichen inzwischen durchschnittlich acht Stunden des Tages beansprucht – konnte in der Studie allerdings nicht hergestellt werden. Dass die Jugendgewalt abgenommen hat, hat demnach aber auch mit veränderten Erziehungsstilen zu tun. Den Autoren zufolge gibt es immer mehr Jugendliche, die in Schülerbefragungen angeben, in ihrer Kindheit keine Gewalt erlebt zu haben. Zudem schenkten Eltern ihren Kindern mehr emotionale Zuwendung und bemühten sich um ein positives Verhältnis zu ihnen. Aber nicht nur in den Familien wird körperliche Gewalt mittlerweile geächtet. Die Untersuchung verweist darauf, dass auch Gleichaltrige körperliche Gewalt zunehmend missbilligen. Die Jugendlichen haben außerdem weniger Kontakte zu Freunden, die selbst gewalttätig oder kriminell sind. Anders verhält es sich allerdings im Hinblick auf emotionale Gewalt oder Gewalterfahrungen im virtuellen Raum. Denn im Internet oder über Handy-Messenger machen Jugendliche der Studie zufolge durchaus Opfererfahrungen. Und auch in intimen Beziehungen kommt es demnach vermehrt zu Übergriffen. Die sogenannte Teen Dating Violence reicht von Beleidigungen über das Verbreiten von Gerüchten bis hin zu sexueller Gewalt. Auf diese neuen Herausforderungen weisen die Autoren der Studie nachdrücklich hin, auch im Hinblick auf Präventions- und Interventionsmaßnahmen, die – anders als bei körperlicher Gewalt oder etwa Raubdelikten – derzeit noch nicht ausreichend vorhanden seien. Das gelte auch für ein weiteres Problemfeld, auf das Pfeiffer und seine Kollegen hinweisen: die hohe Zustimmung zu verschiedenen Formen des politischen Extremismus. Laut einer Schülerbefragung von 2015 ist etwa jeder fünfte deutsche Jugendliche ausländerfeindlich eingestellt, etwa jeder vierzehnte stimmt linksextremen Ansichten zu und jeder neunte vertritt islamisch-fundamentalistische Positionen. Für ihre Untersuchung haben die Kriminologen neben den Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik noch weitere Daten herangezogen: zum einen die Zahl der sogenannten Raufunfälle an Schulen, die von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung erfasst werden, zum anderen Selbstauskünfte von Jugendlichen zu ihrem Gewaltverhalten. Für diese befragt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) seit 1998 Neuntklässler. In allen drei Fällen waren die Zahlen rückläufig. Während etwa 1999 noch 14,9 Raufunfälle pro 1000 Schülern registriert wurden, waren es 2015 nur noch 8,7. Die Fälle schwerer innerschulischer Gewalt, also von Raufereien, die mit Knochenbrüchen endeten, halbierten sich in diesem Zeitraum sogar. Zwischen den Jahren 2015 und 2016 nahm die Jugendgewalt allerdings wieder zu, um 12,3 Prozent. Grund dafür ist den Autoren zufolge vor allem der Zuzug von Flüchtlingen. Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen habe sich innerhalb des entsprechenden Jahres um 21,4 Prozent erhöht, der Anteil von Deutschen sei bei einem Anstieg von 3,1 Prozent nahezu konstant geblieben. Die Autoren der Studie weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass diese Zahlen mit Vorsicht interpretiert werden müssten. Es sei nämlich nicht sicher, wie sich in diesem Zeitraum die Bevölkerungszahlen entwickelt hätten. Dennoch empfehlen Pfeiffer, Baier und Kliem der Politik, noch mehr für die Integration von Migranten und vor allem von Flüchtlingen zu tun, um Gewalt vorzubeugen. alri, "Jugendkriminalität in Deutschland stark gesunken – bis 2015", in: FAZnet vom 3. Januar 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. Kinderdelinquenz Kinderdelinquenz (© bpb, Bundeskriminalamt) Selbst Kindergartenkinder geraten somit in die polizeiliche Kriminalstatistik, weil zum Beispiel im Fall einer Brandstiftung zunächst Anzeige gegen Unbekannt erstattet wird und erst später Kinder als Tatverdächtige ermittelt werden. Kinderdelinquenz ist darüber hinaus nicht so gefährlich wie die Kriminalität der Erwachsenen, der Jugendlichen oder der Heranwachsenden. 33,4 Prozent der tatverdächtigen Kinder wurden 2016 wegen Ladendiebstahls angezeigt, 16,4 Prozent wegen Sachbeschädigung, berechnet ohne ausländerrechtliche Verstöße. Hinzu kommen Körperverletzungen, "schwere" Diebstähle, Beleidigungen und Brandstiftungen. Bei alledem wird mit der polizeilichen Registrierung nur ein Verdacht festgeschrieben, der in Abweichung zur Strafverfolgung Jugendlicher/Heranwachsender und Erwachsener nicht durch die Staatsanwaltschaft und durch die Justiz überprüft wird. Hier können deshalb auch falsche Anzeigen registriert werden, insbesondere kann der Tatvorwurf überhöht sein, wenn zum Beispiel von der Polizei ein Raub registriert wird, tatsächlich aber "nur" ein Diebstahl vorlag. Ausländerkriminalität Nach der polizeilichen Kriminalstatistik werden Menschen ohne deutschen Pass häufiger als Deutsche strafrechtlich auffällig, wobei der prozentuale Anteil in den Jahren 2015/2016 aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen deutlich angestiegen ist. Bei einem Vergleich der Kriminalität von Deutschen und Nichtdeutschen kann der Polizeilichen Kriminalstatistik aber nur ein äußerst beschränkter Aussagewert zugebilligt werden; bezüglich der Kriminalitätsbelastung der beiden Bevölkerungsgruppen ist deshalb auf die verschiedenen Verzerrungsfaktoren hinzuweisen. Ein Vergleich der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung der nichtdeutschen Wohnbevölkerung mit der deutschen ist schon wegen des Dunkelfeldes der nicht ermittelten Täter in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht möglich. Ferner enthält die Bevölkerungsstatistik bestimmte Ausländergruppen wie vor allem Illegale, Touristen/Durchreisende, Besucher, Grenzpendler und Stationierungsstreitkräfte nicht, die in der Kriminalstatistik als Tatverdächtige mitgezählt werden. Migranten in Deutschland (© bpb, Statistisches Bundesamt) Die Kriminalitätsbelastung der Deutschen und Nichtdeutschen ist zudem aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung (Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur) nicht vergleichbar. Die sich in Deutschland aufhaltenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind im Vergleich zur deutschen Bevölkerung im Durchschnitt jünger und häufiger männlichen Geschlechts. Sie leben eher in Großstädten, gehören zu einem größeren Anteil unteren Einkommens- und Bildungsschichten an und sind häufiger arbeitslos. Dies alles führt zu einem höheren Risiko, als Tatverdächtige polizeiauffällig zu werden. Dies gilt insbesondere für die Flüchtlinge aus Kriegsgebieten mit verletzten Biografien und ohne Bleibeperspektive in Deutschland. Deutsche und nichtdeutsche Tatverdächtige bei Straftaten insgesamt, ohne ausländerrechtliche Verstöße (© Bundeskriminalamt) Zu berücksichtigen ist weiterhin ein beachtlicher Anteil ausländerspezifischer Delikte, die naturgemäß fast ausschließlich von Ausländern gegangen werden. Es sind dies Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, das Asylgesetz und gegen das Freizügigkeitsgesetz/EU. 2016 wurden 487.711 ausländerrechtliche Verstöße von der Polizei registriert, eine Steigerung gegenüber 2015 um 21,1 Prozent. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die sozialen Probleme jugendlicher und heranwachsender Menschen ohne deutschen Pass kaum einen Vergleich zulassen. Verglichen werden dürften nur Deutsche wie Nichtdeutsche, die sich in einer vergleichbaren sozialen Lage befinden, sodass schon der Begriff "Ausländerkriminalität" aufs falsche Gleis führen kann. Sozialwissenschaftliche Analysen belegen zudem, dass die Anzeigebereitschaft gegenüber Zugewanderten in der Bevölkerung größer ist als gegenüber Deutschen. Tatverdächtige laut Polizeilicher Kriminalstatistik (© bpb, Bundeskriminalamt) Diese Korrekturen und Erläuterungen dürfen jedoch nicht den Blick davor verschließen, dass gerade in manchen Großstädten durch Bandenbildungen Jugendlicher und Heranwachsender mit Migrationshintergrund ein besonderes Gefährdungspotenzial entstanden ist. Auf der anderen Seite werden Asylbewerber und Flüchtlinge Opfer von rechtsextremistischen Gewalttätern. Rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund sind von 512 im Jahr 2014 auf 918 im Jahr 2015 gestiegen, Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte von 15 (2014) auf 153 (2015). Das Trichtermodell von Strafandrohung und Strafumsetzung (© Heribert Ostendorf) Verurteiltenstatistik Die Verurteiltenstatistik wird vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden in Zusammenarbeit mit den Gerichten, Staatsanwaltschaften und Statistischen Landesämtern erstellt. In ihr spiegeln sich die gerichtlichen Entscheidungen über die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklagen wider. Da nur ein Teil der polizeilich registrierten Straftaten aufgeklärt wird, das heißt Beschuldigte überhaupt ermittelt werden – im Jahre 2016 betrug die polizeiliche Aufklärungsquote 56,2 Prozent –, kann bei einem Großteil der Straftaten gar keine Anklage erhoben werden. Ein weiterer, nicht unerheblich großer Teil wird von der Staatsanwaltschaft aus Opportunitätsgründen (Ermessensprinzip) entsprechend den gesetzlichen Vorgaben eingestellt. Dies geschieht insbesondere bei Bagatelldelikten von Ersttätern. Diese Fälle tauchen dementsprechend nicht mehr in der Verurteiltenstatistik auf. Zudem wird zusätzlich von gerichtlicher Seite eine Vielzahl von Verfahren eingestellt. So wurden im Jahre 2015 insgesamt trotz der weit höheren Anzahl von Straftaten "nur" 739.487 Personen verurteilt. Die Diskrepanz zwischen polizeilich registrierten Straftaten und den gerichtlichen Verurteilungen weist darauf hin, dass eine Vielzahl der Straftaten Bagatellcharakter hat, zur Klein- oder Leichtkriminalität zählt, und auch in der kriminalpolitischen Diskussion nicht jede Straftat – vom Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Fahrkarte bis zu Straftaten gegen das Leben – "mit gleicher Elle" gemessen werden darf. Neben der anonymen Gesamtregistrierung gibt es die Einzelregistrierung von Verurteilten im Bundeszentralregister, das in Berlin vom Bundesamt für Justiz geführt wird. Die Dauer der Registrierungen ist unterschiedlich: Für Geldstrafen und kurze Freiheitsstrafen beträgt sie beispielsweise fünf Jahre. Neben dem Zentralregister für Strafverurteilungen wird vom Bundeszentralregister ebenso das Erziehungsregister geführt, in das die vom Jugendgericht angeordneten erzieherischen Maßnahmen eingetragen werden; diese bleiben in der Regel bis zum 24. Lebensjahr der Betroffenen dort registriert. Verbrechen und Strafe: Verurteilte Straftäter 1955-2016 (© bpb) Dunkelfeld Zirka 90 Prozent der in der Polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Straftaten werden durch Anzeigen aus der Bevölkerung bekannt. So wird bei der Anzeige eines Ladendiebstahls in der Regel gleich auch der Ladendieb "mitgeliefert". Andererseits gibt es auch Deliktsbereiche, die fast ausschließlich von der Polizei ermittelt werden wie Trunkenheit im Straßenverkehr und Drogendelikte. Bereits hieraus lässt sich ersehen, dass nur ein Teil der tatsächlich begangenen Straftaten polizeilich bekannt wird. Es gibt daneben ein großes Dunkelfeld von Straftaten. Dieses ist deliktspezifisch unterschiedlich, hängt von Wahrnehmungsmöglichkeiten, von der Anzeigebereitschaft und der polizeilichen Kontrolldichte ab. Bei Delikten, die nicht "auf der Straße" begangen werden, sowie bei Delikten, bei denen niemand persönlich verletzt oder geschädigt wird, ist die Dunkelziffer naturgemäß größer. Um das Dunkelfeld zu erhellen, wurde eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen durchgeführt. Es hat sich in der Kriminologie eine eigenständige Dunkelfeldforschung herausgebildet, die auf dem Wege repräsentativer Befragungen vorgeht: Täterbefragungen (Täter bekennen Kriminalität),Opferbefragungen (Opfer berichten über Kriminalität),Umfeldbefragungen (Unbeteiligte geben Auskunft über Straftaten in ihrem Umfeld). Aus diesen Untersuchungen wird geschlossen, dass – auch wenn eine gestiegene Anzeigebereitschaft berücksichtigt wird – die Kriminalität in der letzten Zeit nicht angestiegen ist. Dies gilt ebenso für die Jugendkriminalität. "In der Gesamtschau ergibt sich somit ein konsistentes Bild: Dunkelfeldstudien an verschiedenen Orten sowie bezogen auf verschiedene Zeiträume bieten für die These eines Anstiegs der Jugendkriminalität keine empirische Abstützung. Die verfügbaren Befunde deuten eher in die Richtung, dass es zu Rückgängen der Jugenddelinquenz sowohl bei Eigentums- als auch bei Gewaltdelikten gekommen ist, bei Letzteren nicht nur beim Raub, sondern auch bei den Körperverletzungsdelikten. Dies ist verbunden mit einem Anstieg der Anzeigebereitschaft sowie der Wahrscheinlichkeit offizieller Registrierungen. In Kombination mit Feststellungen dazu, dass für einen wichtigen Risikofaktor, die Verbreitung innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, ebenfalls Rückgänge festzustellen sind, erscheint eine solche Tendenz abnehmender Delinquenz Jugendlicher sowohl theoretisch plausibel als auch empirisch abgesichert", so der Zweite Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung von 2006, S. 398. Subjektive Sicherheitslage Die objektive (tatsächliche, auf empirischen Daten fußende) Kriminalitätslage ist für den sogenannten Normalbürger schwer überschaubar. In der Bevölkerung dominiert eine subjektive Sichtweise, die gerade bei älteren Menschen zum Teil von Furcht und Angst bestimmt wird. Aus dem Gefühl von Ohnmacht heraus wird gleichzeitig vielfach nach einem härteren Strafrecht gerufen. Als eine wesentliche Ursache dieser besonderen Kriminalitätsängste müssen ein allzu pauschaler Umgang mit Kriminalität in der Politik sowie überzogene, reißerische Darstellungen in den Medien vermutet werden. Hierbei stehen Kriminalitätsängste im unmittelbaren Zusammenhang mit dem allgemeinen Lebensgefühl; sie drücken auch Unbehagen und/oder Verdruss über die gegenwärtige Befindlichkeit sowie Zukunftsängste aus. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber Ungereimtheiten, wenn nicht Widersprüche: Die große Mehrheit in der Bevölkerung geht entgegen der tatsächlichen Entwicklung von einem starken, bei einzelnen Delikten von einem dramatischen Kriminalitätsanstieg aus.Das allgemeine Strafverlangen ist dementsprechend ebenfalls gestiegen, wenngleich deliktspezifisch unterschiedlich.Die Kriminalitätsfurcht ist trotzdem in den letzten Jahren gesunken, was offensichtlich auf den persönlichen Erfahrungen im eigenen Umfeld gründet. Nur die Angst vor terroristischen Anschlägen ist aufgrund vermehrter Attentate gestiegen. QuellentextSicherheit schafft Vertrauen Ein paar schnelle Schritte und der Mann gibt auf. Von zwei Seiten haben sie ihm den Weg abgeschnitten. […] Dann blitzen die Handschellen im Licht der Straßenlaternen. Im Hintergrund […] der Kölner Dom, dessen mächtige Türme in den Dezembernebel ragen. Widerstandslos lässt der Mann sich abführen. Nach zwei Minuten ist alles vorbei. Zwei ältere Damen gucken verängstigt, während sie eilig weiter in Richtung Philharmonie laufen. [Der Polizeipräsident von Köln] Uwe Jacob […] merkt, dass viele Menschen das Gefühl haben, das Land sei nicht mehr so sicher wie früher. Doch auf der anderen Seite sagen seine Statistiken, dass die Wirklichkeit dafür eigentlich keinen Grund liefert […]. […] Doch der Polizeipräsident weiß auch, dass Zahlen nicht alles sind. […] Die Furcht vor Verbrechen […] beziehe sich eben nicht unbedingt auf ein bestimmtes Kriminalitätsphänomen, beruht nicht auf konkreten Zahlen, sondern auf einem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit. [...] Der Münchener Soziologe Armin Nassehi hat sich mit dem Zusammenhang zwischen gefühlter Sicherheit und Vertrauen befasst. […] Das Gefühl von Sicherheit, sagt er […], sei systematisch an Vertrauen gekoppelt. Und ohne Vertrauen sei unser moderner Alltag gar nicht möglich. Jeder müsse ständig mit Fremden interagieren, in der Erwartung, dass sich das Gegenüber schon an die Regeln halten werde. […] Überall bewegten wir uns in unserem Alltag letztlich in Schutzlosigkeit. Vertrauen sei eine existentielle Ressource der modernen Gesellschaft. [...] Was geschieht, wenn das Vertrauen erschüttert wird, ist aus der Forschung über Verbrechensopfer bekannt, führt Nassehi […] aus: "Etwa bei Opfern von Wohnungseinbrüchen, für die die Wohnung nicht mehr der geschützte Raum von vorher ist." Das Gefühl von Sicherheit gehe verloren. Die fremdländischen Männer, die in allen deutschen Innenstädten zu sehen waren, seien nach der Kölner Silvesternacht [2015/2016] plötzlich mit diesen Bildern verknüpft und noch intensiver wahrgenommen worden. "Die Silvesternacht war sicher ein Tiefpunkt für die Polizei in Köln und ganz Nordrhein-Westfalen", sagt Polizeipräsident Jacob. "Wir haben in der Stadt gemerkt, dass wir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen müssen." Die Polizei zeigt heute eine nie dagewesene Präsenz uniformierter Kräfte und schreitet schnell ein. "Wenn wir Regelverstöße bemerken, und seien sie auch nur im Bereich der Ordnungswidrigkeiten, greifen wir ein." An den Kölner Ringen, wo sich abends das Partypublikum tummelt, […] sind die Sicherheitskräfte an jedem Wochenende mit Hundertschaften unterwegs. An mehreren Orten wurde zudem Videoüberwachung installiert. Doch Jacob weiß, dass solche Maßnahmen nicht sofort wirken. "Gefühle kann man eben nur ganz langsam beeinflussen", sagt der Polizeipräsident. Nicht zu vergessen, dass die Bürger gerade durch allgegenwärtige Polizeipräsenz ständig an die Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit erinnert werden. […] Es sei gefährlich, wenn alle nur noch davon sprächen, wie furchtbar es an bestimmten Orten sei. "Unsere Verhältnisse hier sind nicht fürchterlich", sagt Jacob. […] Alexander Haneke, "Angst in der Stadt", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Dezember 2017 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. Das Lagebild der Kriminalität beruht nicht nur auf statistischen Angaben, es wird auch von subjektiven Unsicherheitsempfindungen beeinflusst. (© picture-alliance, Karl-Heinz Spremberg / Chromorange) Entwicklung bei registrierten Straftaten insgesamt (© Bundeskriminalamt) Erfasste Straftaten in Deutschland 2016 (© Bundeskriminalamt) Die Jugendkriminalität ist in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt stark gesunken. Zwischen 2007 und 2015 hat sich der Anteil der Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren pro 100 000 Jugendliche halbiert, er ging um 50,4 Prozent zurück. Das zeigt eine neue Langzeitstudie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Für die Autoren der Studie, die Kriminologen Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Sören Kliem, ist das "ein historisch einzigartiger Rückgang". Die Forscher machen aber auch auf neue Probleme aufmerksam, etwa auf die wachsende Gefahr des sogenannten Cyberbullyings, also nicht-physischer Gewalt im Internet oder über Handys. Zu dem starken Rückgang der Jugendgewalt haben laut den Autoren vor allem neun Faktoren beigetragen. Dazu gehören etwa der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit, der deutlich gesunkene Alkoholkonsum oder der Anstieg des Bildungsniveaus. Die Forscher stellen aber auch Zusammenhänge zum Schulschwänzen her, einem "Risikofaktor für Gewaltverhalten". Der Anteil der Jugendlichen, die sehr häufig vom Unterricht fernbleiben, ist demnach rückläufig. Das passt zu einem anderen Faktor, der den Rückgang der Jugendgewalt begünstigt: Jugendliche verbringen immer weniger Zeit "unstrukturiert und von Erwachsenen unkontrolliert", etwa in Diskos oder Kneipen. Der Studie zufolge ist diese Zeit in den vergangenen Jahren etwa um ein Drittel geschrumpft, von 67 auf 42 Minuten pro Tag. Ein direkter Zusammenhang zwischen Gewaltverhalten und Medienkonsum – der bei Jugendlichen inzwischen durchschnittlich acht Stunden des Tages beansprucht – konnte in der Studie allerdings nicht hergestellt werden. Dass die Jugendgewalt abgenommen hat, hat demnach aber auch mit veränderten Erziehungsstilen zu tun. Den Autoren zufolge gibt es immer mehr Jugendliche, die in Schülerbefragungen angeben, in ihrer Kindheit keine Gewalt erlebt zu haben. Zudem schenkten Eltern ihren Kindern mehr emotionale Zuwendung und bemühten sich um ein positives Verhältnis zu ihnen. Aber nicht nur in den Familien wird körperliche Gewalt mittlerweile geächtet. Die Untersuchung verweist darauf, dass auch Gleichaltrige körperliche Gewalt zunehmend missbilligen. Die Jugendlichen haben außerdem weniger Kontakte zu Freunden, die selbst gewalttätig oder kriminell sind. Anders verhält es sich allerdings im Hinblick auf emotionale Gewalt oder Gewalterfahrungen im virtuellen Raum. Denn im Internet oder über Handy-Messenger machen Jugendliche der Studie zufolge durchaus Opfererfahrungen. Und auch in intimen Beziehungen kommt es demnach vermehrt zu Übergriffen. Die sogenannte Teen Dating Violence reicht von Beleidigungen über das Verbreiten von Gerüchten bis hin zu sexueller Gewalt. Auf diese neuen Herausforderungen weisen die Autoren der Studie nachdrücklich hin, auch im Hinblick auf Präventions- und Interventionsmaßnahmen, die – anders als bei körperlicher Gewalt oder etwa Raubdelikten – derzeit noch nicht ausreichend vorhanden seien. Das gelte auch für ein weiteres Problemfeld, auf das Pfeiffer und seine Kollegen hinweisen: die hohe Zustimmung zu verschiedenen Formen des politischen Extremismus. Laut einer Schülerbefragung von 2015 ist etwa jeder fünfte deutsche Jugendliche ausländerfeindlich eingestellt, etwa jeder vierzehnte stimmt linksextremen Ansichten zu und jeder neunte vertritt islamisch-fundamentalistische Positionen. Für ihre Untersuchung haben die Kriminologen neben den Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik noch weitere Daten herangezogen: zum einen die Zahl der sogenannten Raufunfälle an Schulen, die von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung erfasst werden, zum anderen Selbstauskünfte von Jugendlichen zu ihrem Gewaltverhalten. Für diese befragt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) seit 1998 Neuntklässler. In allen drei Fällen waren die Zahlen rückläufig. Während etwa 1999 noch 14,9 Raufunfälle pro 1000 Schülern registriert wurden, waren es 2015 nur noch 8,7. Die Fälle schwerer innerschulischer Gewalt, also von Raufereien, die mit Knochenbrüchen endeten, halbierten sich in diesem Zeitraum sogar. Zwischen den Jahren 2015 und 2016 nahm die Jugendgewalt allerdings wieder zu, um 12,3 Prozent. Grund dafür ist den Autoren zufolge vor allem der Zuzug von Flüchtlingen. Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen habe sich innerhalb des entsprechenden Jahres um 21,4 Prozent erhöht, der Anteil von Deutschen sei bei einem Anstieg von 3,1 Prozent nahezu konstant geblieben. Die Autoren der Studie weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass diese Zahlen mit Vorsicht interpretiert werden müssten. Es sei nämlich nicht sicher, wie sich in diesem Zeitraum die Bevölkerungszahlen entwickelt hätten. Dennoch empfehlen Pfeiffer, Baier und Kliem der Politik, noch mehr für die Integration von Migranten und vor allem von Flüchtlingen zu tun, um Gewalt vorzubeugen. alri, "Jugendkriminalität in Deutschland stark gesunken – bis 2015", in: FAZnet vom 3. Januar 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. Kinderdelinquenz (© bpb, Bundeskriminalamt) Migranten in Deutschland (© bpb, Statistisches Bundesamt) Deutsche und nichtdeutsche Tatverdächtige bei Straftaten insgesamt, ohne ausländerrechtliche Verstöße (© Bundeskriminalamt) Tatverdächtige laut Polizeilicher Kriminalstatistik (© bpb, Bundeskriminalamt) Das Trichtermodell von Strafandrohung und Strafumsetzung (© Heribert Ostendorf) Verbrechen und Strafe: Verurteilte Straftäter 1955-2016 (© bpb) Ein paar schnelle Schritte und der Mann gibt auf. Von zwei Seiten haben sie ihm den Weg abgeschnitten. […] Dann blitzen die Handschellen im Licht der Straßenlaternen. Im Hintergrund […] der Kölner Dom, dessen mächtige Türme in den Dezembernebel ragen. Widerstandslos lässt der Mann sich abführen. Nach zwei Minuten ist alles vorbei. Zwei ältere Damen gucken verängstigt, während sie eilig weiter in Richtung Philharmonie laufen. [Der Polizeipräsident von Köln] Uwe Jacob […] merkt, dass viele Menschen das Gefühl haben, das Land sei nicht mehr so sicher wie früher. Doch auf der anderen Seite sagen seine Statistiken, dass die Wirklichkeit dafür eigentlich keinen Grund liefert […]. […] Doch der Polizeipräsident weiß auch, dass Zahlen nicht alles sind. […] Die Furcht vor Verbrechen […] beziehe sich eben nicht unbedingt auf ein bestimmtes Kriminalitätsphänomen, beruht nicht auf konkreten Zahlen, sondern auf einem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit. [...] Der Münchener Soziologe Armin Nassehi hat sich mit dem Zusammenhang zwischen gefühlter Sicherheit und Vertrauen befasst. […] Das Gefühl von Sicherheit, sagt er […], sei systematisch an Vertrauen gekoppelt. Und ohne Vertrauen sei unser moderner Alltag gar nicht möglich. Jeder müsse ständig mit Fremden interagieren, in der Erwartung, dass sich das Gegenüber schon an die Regeln halten werde. […] Überall bewegten wir uns in unserem Alltag letztlich in Schutzlosigkeit. Vertrauen sei eine existentielle Ressource der modernen Gesellschaft. [...] Was geschieht, wenn das Vertrauen erschüttert wird, ist aus der Forschung über Verbrechensopfer bekannt, führt Nassehi […] aus: "Etwa bei Opfern von Wohnungseinbrüchen, für die die Wohnung nicht mehr der geschützte Raum von vorher ist." Das Gefühl von Sicherheit gehe verloren. Die fremdländischen Männer, die in allen deutschen Innenstädten zu sehen waren, seien nach der Kölner Silvesternacht [2015/2016] plötzlich mit diesen Bildern verknüpft und noch intensiver wahrgenommen worden. "Die Silvesternacht war sicher ein Tiefpunkt für die Polizei in Köln und ganz Nordrhein-Westfalen", sagt Polizeipräsident Jacob. "Wir haben in der Stadt gemerkt, dass wir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen müssen." Die Polizei zeigt heute eine nie dagewesene Präsenz uniformierter Kräfte und schreitet schnell ein. "Wenn wir Regelverstöße bemerken, und seien sie auch nur im Bereich der Ordnungswidrigkeiten, greifen wir ein." 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Was tun mit Deutschlands "IS"-Terroristen?5 x 10-20 Minuten, ProSieben, 2022 Interner Link: Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor59 Minuten, NDR, 2019 Interner Link: Der Gefährder – Ein Islamist packt aus44 Minuten, phoenix, 2018 Interner Link: Tracing Addai30 Minuten, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 1.2 Prävention, Radikalisierung & Islamismus Interner Link: Mechelen. Wie ein belgischer Bürgermeister gegen Extremismus vorgeht37 Minuten, Der Standard, 2021 Interner Link: Dokumentation zur Präventionspraxis in Deutschland35 Minuten, mobyDOK, 2019 Interner Link: Salafismus im Kinderzimmer20 Minuten, BR24, 2018 Interner Link: Allahs deutsche Schwerter27 Minuten, Landeszentrale für politische Bildung NRW, 2012 1.3 Dschihadismus, Terrorismus & der "Islamische Staat" Interner Link: Gefangen vom "Islamischen Staat": Jesidin Jihan überlebt Genozid18 Minuten, funk: TRU DOKU, 2022 Interner Link: Das Geschäft mit dem Terror. Geheimdienste und der Dschihad60 Minuten, Hessischer Rundfunk, 2022 Interner Link: Anschlag Breitscheidplatz – Neue Spuren3 x 31-38 Minuten, rbb, 2022 Interner Link: 13. November: Angriff auf Paris3 x 47-58 Minuten, Gedeon und Jules Naudet, 2018 Interner Link: Life Inside Islamic State17 Minuten, BBC Radio 4, 2017 1.1 Portraits von radikalisierten Menschen und ihren Angehörigen Deutsche im Dschihad. Kämpfen für Allah 44 Minuten, ZDF, 2022 Über 1.150 deutsche Bürgerinnen und Bürger haben sich in den vergangenen Jahren dem "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak angeschlossen. Die Dokumentation erzählt von den (ehemaligen) "IS"-Mitgliedern, ihrem Leben bei der Terrororganisation und ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik. Verfügbar auf Externer Link: zdf.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Leonora M. – Einmal IS-Terror und zurück 3x 30-40 Minuten, NDR, 2022 Mit 15 Jahren schließt sich Leonora M. der Terrororganisation "Islamischer Staat" in Syrien an und lebt dort sieben Jahre lang mit einem Dschihadisten zusammen. Die dreiteilige Reportage erzählt von den Erlebnissen der jungen Frau beim "IS" und dem jahrelangen Kampf ihres Vaters, seine Tochter zurückzuholen. Wie ist Leonora die Rückkehr gelungen, wie funktioniert ein Neuanfang in Deutschland? Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Erbe des Dschihad. Was tun mit Deutschlands "IS"-Terroristen? 5 x 10-20 Minuten, ProSieben, 2022 Wie kommt ein 19-jähriger Deutscher dazu, sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" anzuschließen? Warum tut sich Deutschland so schwer, ehemalige Angehörige des "IS" zurückzuholen? Um diese Fragen zu klären, reist Journalist Thilo Mischke nach Syrien. Mit dabei: die Großmutter eines deutschen "IS"-Kämpfers, die ihren Enkel wiederfinden will. Ganze Folge verfügbar auf Externer Link: prosieben.de Teil 1 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 2 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 3 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 4 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 5 verfügbar auf Externer Link: youtube.com In der Talkshow "Zervakis & Opdenhövel" spricht Mischke über die Dreharbeiten und deren Nachwirkungen. Zum Talk mit Zervakis & Opdenhövel auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor 59 Minuten, NDR, 2019 Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten Vater und Tochter Kontakt. Verfügbar auf Externer Link: ndr.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Gefährder – Ein Islamist packt aus 44 Minuten, phoenix, 2018 Eren R. gilt bei Sicherheitsbehörden als potenzieller Attentäter. In der Dokumentation spricht er über seinen Lebensweg. Er berichtet, wie er als Mitglied einer kriminellen Bande in die islamistische Szene hineinkam und Geld für den islamistischen Kampf beschaffte. Er saß mehrfach im Gefängnis, dennoch arbeitete er für Sicherheitsfirmen bei großen Veranstaltungen. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Tracing Addai 30 Minuten, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 Der Dokumentarfilm "Tracing Addai" zeichnet die letzten Spuren des 21-jährigen Deutschen Addai nach, der sich einer salafistischen Vereinigung anschließt und im Syrienkrieg unter mysteriösen Umständen mutmaßlich ums Leben kommt. Mit seiner dokumentarischen Erzählung rekonstruiert der Film fragmentarisch die letzten Monate eines jungen Mannes, dessen Weg ohne Wiederkehr über eine islamistische Gruppe nach Syrien führte und lässt ihn durch animierte szenische Bilder noch einmal lebendig werden. Pädagogische Begleitmaterialien machen den Film für Lernkontexte ideal einsetzbar. Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite 1.2 Prävention, Radikalisierung & Islamismus Mechelen. Wie ein belgischer Bürgermeister gegen Extremismus vorgeht 37 Minuten, Der Standard, 2021 Von der unsichersten Stadt Belgiens zum Vorzeigemodell für Integration und Extremismusprävention – dank Bart Somers hat die Stadt Mechelen diesen Wandel geschafft. Für ein Porträt hat sich die österreichische Tageszeitung Der Standard mit dem langjährigen Bürgermeister getroffen, um mehr über sein Erfolgsrezept zu erfahren: Wie lässt sich Integration in einer multikulturellen Stadt wie Mechelen fördern? Und welche seiner Strategien haben sich in der Extremismusprävention bewährt? Verfügbar auf Externer Link: derstandard.at Interner Link: Zum Anfang der Seite Dokumentation zur Präventionspraxis in Deutschland 35 Minuten, mobyDOK, 2019 Im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden zahlreiche Präventionsprojekte gefördert. Im Dokumentarfilm berichten Präventionsakteure von ihrer Arbeit. Eine Web-Dokumentation bietet Hintergründe zum Film. In Animationen werden ausschnitthaft Szenen wiedergegeben, die das Filmteam während der Reise durch Deutschland erlebt hat. Verfügbar auf der Externer Link: Dokumentations-Website projekt-praevention.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus im Kinderzimmer 20 Minuten, BR24, 2018 Der Beitrag des BR-Politmagazins "kontrovers" beschäftigt sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der salafistischen Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen. Die Journalistinnen und Journalisten sprechen mit Verantwortlichen der "Beratungsstelle Radikalisierung" beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie beim LKA Bayern. Sie berichten über die bayerischen Präventionsprojekte "MotherSchools" und "ReThink". Sie reden mit der Mutter eines Salafisten über die salafistische Erziehung ihrer Enkelkinder und versuchen – vergeblich – mit salafistischen Moscheen Kontakt zu diesem Thema aufzunehmen. Verfügbar auf Externer Link: br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Allahs deutsche Schwerter 27 Minuten, Landeszentrale für politische Bildung NRW, 2012 Die Dokumentation zeigt ein weites Spektrum an Islamisten in Deutschland: Von strenggläubigen Salafisten über die Sauerland-Gruppe, die konkrete Anschläge plante, bis zu Pierre Vogel, dem einflussreichsten deutschen Konvertiten und Hassprediger. Ein Aussteiger berichtet über Ziele und Methoden der salafistischen Szene. Auch die moderatere, vom Verfassungsschutz beobachtete Vereinigung "Millî Görüş" ist Thema. Verfügbar auf Externer Link: politische-bildung.nrw.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 1.3 Dschihadismus, Terrorismus & der "Islamische Staat" Gefangen vom "Islamischen Staat": Jesidin Jihan überlebt Genozid 18 Minuten, funk: TRU DOKU, 2019 Die Reportage erzählt die Geschichte der 18-jährigen Jihan. Die Jesidin überlebt 2014 die Gefangenschaft des sogenannten Islamischen Staates in Syrien. Sie und ihre Familie werden von "IS"-Kämpfern entführt, versklavt und zum Teil vergewaltigt. Jihan konnte entkommen, doch bis heute weiß sie nicht, was mit ihrem Vater und allen Geschwistern passiert ist. Triggerwarnung: Im Video geht es um Krieg und sexualisierte Gewalt. Das kann belastend oder retraumatisierend sein. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Geschäft mit dem Terror. Geheimdienste und der Dschihad 60 Minuten, Hessischer Rundfunk, 2022 Wer steht hinter den islamistischen Terroristinnen und Terroristen, die Europa angreifen? Wer plant, beauftragt und finanziert die Anschläge? Die Dokumentation forscht nach den Hintergrundakteuren, die die Terroranschläge der vergangenen Jahre initiierten und koordinierten. Die Spuren führen zum pakistanischen Geheimdienst ISI. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Anschlag Breitscheidplatz – Neue Spuren 3 x 31-38 Minuten, rbb, 2022 Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Journalisten des rbb sprechen für die Video-Serie mit Opfern, Ermittlungsbehörden und Vertrauten des Täters Anis Amri und gehen neuen Spuren nach, um die Hintergründe der Tat aufzuarbeiten. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 13. November: Angriff auf Paris 3 x 47-58 Minuten, Gedeon und Jules Naudet, 2018 Die dokumentarische Mini-Serie "13. November: Angriff auf Paris" ist auf Netflix verfügbar. In drei Episoden zeichnet sie die Geschehnisse der Pariser Terroranschläge im November 2015 nach und erzählt die Geschichten von Überlebenden, Feuerwehr, Polizei und Regierung. Das sei "atemlos spannend", so Spiegel.de. Allerdings wird auch kritisiert, dass die Serie traumatische Erlebnisse funktionalisiere und daraus Unterhaltungsware mache. Verfügbar auf Externer Link: netflix.com (kostenpflichtiges Abo notwendig) Interner Link: Zum Anfang der Seite Life Inside Islamic State 17 Minuten, BBC Radio 4, 2017 In einer animierten Kurzdokumentation berichtet ein Aktivist, der sich gegen den "IS" einsetzt, aus Raqqa vom Horror des alltäglichen Lebens unter der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats. Für die Dokumentation stand BBC Radio 4 Korrespondent Mike Thomson in sporadischem Kontakt mit dem Aktivisten, der ihm tagebuchartige Aufzeichnungen übermittelte. Verfügbar auf Externer Link: vimeo.com Interner Link: Zum Anfang der Seite 2. Spielfilme und Serien Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Black Crows30 x 30 Minuten, Leen Fares, 2017 Interner Link: Der Himmel wird warten1 Stunde und 55 Minuten, Neue Visionen Filmverleih, 2016 Black Crows 30 x 30 Minuten, Leen Fares, 2017 Auf Netflix ist die fiktive Serie "Black Crows" verfügbar, die das tägliche Leben unter der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats darstellt. Dabei spielen Frauen zentrale Rollen, wie eine jesidische Sklavin, eine Undercover-Reporterin und eine Mutter, die den "IS" unterstützt. Auch die Ausbildung von Kindern zu Kämpfern wird nacherzählt. Produziert wurde die 30-teilige Serie vom Sender MBC, der seinen Hauptsitz in Dubai hat. Laut kino.de stützt sich die Serie inhaltlich auf Berichte von Augenzeugen, die den Terror überlebt haben oder früher selbst "IS"-Anhänger waren. Verfügbar auf Externer Link: netflix.com (kostenpflichtiges Abo notwendig) Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Himmel wird warten 1 Stunde und 55 Minuten, Neue Visionen Filmverleih, 2016 Was bringt junge Frauen in Europa dazu, sich dem Dschihad anzuschließen? Und wie können sie den Weg zurück in unsere Gesellschaft finden? Diesen Fragen geht das Spielfilmdrama "Der Himmel wird warten" nach. Die Geschichten der Protagonistinnen Mélanie und Sonia beschreiben eine Entwicklung in entgegengesetzte Richtungen: den Weg von der Normalität in die Radikalisierung und umgekehrt. Dabei werden die einzelnen Stufen von Mélanies Radikalisierungsprozess ebenso detailliert nachgezeichnet wie die schrittweisen Erfolge, die Sonia durch die Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm und die Unterstützung ihrer Eltern erlebt. Begleitend zu dem Film stellt die bpb Arbeitsaufgaben zur Verfügung. Neben diesen Unterrichtsmaterialien gibt es auch eine Filmbesprechung, themenbezogene Hintergrundtexte sowie ein Interview mit Pierre Asisi, einem Präventionsexperten von ufuq.de. Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite 3. Erklärvideos Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Radikalisierung hat kein Geschlecht11 x 11-20 Minuten, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Interner Link: Forschungsprojekt "Gesellschaft Extrem"6 x 6-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2018 Interner Link: Radikalisierung von Muslimen19 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Interner Link: Strategien gegen Radikalisierung20 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Interner Link: Forschungsprojekt "Salafismus in Deutschland"6 x 7-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2016 Interner Link: Was ist Salafismus?12 Minuten, Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013 Radikalisierung hat kein Geschlecht 11 x 11-20 Minuten, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Wie hängen Geschlecht und Radikalisierung zusammen? Wie beeinflussen Geschlechterklischees die Wahrnehmung von Radikalisierung? Und wie geht geschlechtersensible Präventionsarbeit? Die Videoreihe erklärt Begriffe, thematisiert Vorurteile und beleuchtet praktische Präventionsansätze in Bezug auf Gender und Extremismus phänomenübergreifend. Neben den Videos werden Infomaterialien und Plakate zur Verfügung gestellt. Verfügbar auf Externer Link: stmas.bayern.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Forschungsprojekt "Gesellschaft Extrem" 6 x 6-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2018 In sechs kurzen Videos erläutern Fachleute die zentralen Thesen sowie die wichtigsten Handlungsoptionen ihrer Forschungsprojekte. Die Expertinnen und Experten sind Teil des vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) koordinierten Forschungsprojekts "Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland". Die Themen: Radikalisierung von Individuen Brücken-Narrative Radikalisierung der Gesellschaft? Herausforderung Deradikalisierung Die Rolle des Internets und sozialer Medien für Radikalisierung und Deradikalisierung Evaluation in der Extremismusprävention Verfügbar auf Externer Link: gesellschaftextrem.hsfk.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung von Muslimen 19 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Viele der Tatbeteiligten der Anschläge in Paris und Brüssel sind in Frankreich und Belgien aufgewachsen und haben sich dort radikalisiert. Auch in Deutschland radikalisieren sich junge Musliminnen und Muslime. Für die Gesellschaft ist das eine enorme Herausforderung. Fachleute beantworten unter anderem diese Fragen: Wer radikalisiert sich, und warum? Ist das vergleichbar mit anderen Extremismen? Und welche Rolle spielt dabei der Islam? Die Interviewten: Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (Professor für Islamische Religionspädagogik, Universität Münster), Ahmad Mansour (Psychologe, European Foundation for Democracy), Prof. Dr. Christine Schirrmacher (Islamwissenschaftlerin, Universität Bonn), Dr. Guido Steinberg (Islamwissenschaftler, Stiftung Wissenschaft und Politik), Dr. Marwan Abou Taam (Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz) Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite Strategien gegen Radikalisierung 20 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Wie kann man gegen die Radikalisierung junger Menschen vorgehen? Fünf Fachleute legen im Erklärfilm dar, wie Gesellschaft und Sicherheitsbehörden dieser Herausforderung begegnen können. Sie beantworten unter anderem diese Fragen: Wo kann Präventionsarbeit ansetzen, um Radikalisierung zu verhindern? Welche Rolle kann islamischer Religionsunterricht spielen? Wie kann Deradikalisierung gelingen? Welche Sicherheitsmaßnahmen sind sinnvoll? Die Interviewten: Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (Professor für Islamische Religionspädagogik, Universität Münster), Ahmad Mansour (Psychologe, European Foundation for Democracy), Prof. Dr. Christine Schirrmacher (Islamwissenschaftlerin, Universität Bonn), Dr. Guido Steinberg (Islamwissenschaftler, Stiftung Wissenschaft und Politik), Dr. Marwan Abou Taam (Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz) Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite Forschungsprojekt "Salafismus in Deutschland" 6 x 7-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2016 Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung hat im Rahmen des Forschungsprojekts "Salafismus in Deutschland" eine Reihe von Video-Beiträgen online veröffentlicht. Die sechs Reports sollen einen differenzierten Blick auf Salafismus und Dschihadismus in Deutschland bieten. In maximal zehn Minuten vermitteln Fachleute die wichtigsten Grundlagen und stellen aktuelle Trends sowie Handlungsempfehlungen vor. Themen sind unter anderem die Organisation und Anwerbungspraxis der salafistischen Bewegung, die Motivationen und Karrieren von Dschihadisten, mögliche Gegennarrative und Ansätze für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Verfügbar auf Externer Link: salafismus.hsfk.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Was ist Salafismus? 12 Minuten, Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013 In dieser Folge der Arte-Sendung "Mit offenen Karten" wird erklärt, was es mit der fundamentalistischen Doktrin des Salafismus auf sich hat. Es wird beschrieben, worum es sich bei dieser sich westlichen Einflüssen verschließenden, ultrakonservativen Strömung des Islam handelt. Darüber hinaus wird die Entwicklung des Salafismus nach den Protesten in der arabischen Welt, bei denen in Nordafrika neue politische Freiräume entstanden sind, untersucht. Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite 4. Kurzbeiträge Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Gaming und Extremismus: Verfassungsschutz Niedersachsen nimmt Online-Plattformen ins Visier4 Minuten, Sat.1 Regional, 2021 Interner Link: Antisemitismus in islamischen Verbänden8 Minuten, ZDF frontal, 2021 Interner Link: Angeworben im Netz der Dschihadisten9 Minuten, NDR Panorama 3, 2016 Gaming und Extremismus: Verfassungsschutz Niedersachsen nimmt Online-Plattformen ins Visier 4 Minuten, Sat.1 Regional, 2021 Online-Gaming-Plattformen werden von Extremistinnen und Extremisten zur Rekrutierung genutzt. Laut dem niedersächsischen Verfassungsschutz können hier extremistische Aussagen gut "versteckt" platziert werden. Der Verfassungsschutz Niedersachen will daher zukünftig virtuelle Netzwerke und die dortigen Aktivitäten verstärkt ins Visier nehmen – ohne die Gaming-Szene dabei zu stigmatisieren. Verfügbar auf Externer Link: sat1regional.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Antisemitismus in islamischen Verbänden 8 Minuten, ZDF frontal, 2021 Antisemitismus durch Musliminnen und Muslime ist ein zunehmendes Problem in Deutschland, berichtet das ZDF-Magazin frontal. Jüdische Einrichtungen und ihre Mitglieder seien in den letzten Monaten vermehrt mit Angriffen durch Musliminnen und Muslime konfrontiert. Der wieder entfachte Nahostkonflikt führe dazu, dass jüdische Menschen auf Demonstrationen und in sozialen Netzwerken angefeindet würden. Einige islamische Verbände spielten in der Auseinandersetzung eine entscheidende Rolle, heißt es in dem Beitrag. Verfügbar auf Externer Link: zdf.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Angeworben im Netz der Dschihadisten 9 Minuten, NDR Panorama 3, 2016 Wie geraten junge Menschen in Deutschland in die Fänge von Dschihadisten? Wie läuft die Anwerbung im Internet tatsächlich ab? Wie werden aus Jugendlichen Kämpfer? Eine Panorama 3-Autorin nimmt im Selbstversuch Kontakt zu radikalen Salafisten auf. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 5. Gespräche mit Fachleuten Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Diskurse über muslimische Menschen in Deutschland16 Minuten, ufuq.de, 2022 Interner Link: Dschihadismus im Wandel?30 Minuten, ARD: alpha-demokratie, 2022 Interner Link: Der Nahostkonflikt im Unterricht13 Minuten, ufuq.de, 2022 Interner Link: Deutsch-französische Perspektiven zu Islamismus und Rechtsextremismus23 Minuten, France Fraternités & ufuq.de, 2022 Interner Link: Kampf gegen Islamismus – Frankreich zwischen Terror und Polizeigewalt?43 Minuten, Deutsche Welle, 2021 Interner Link: Zwischen rechter Instrumentalisierung und linkem Schweigen: Können wir keine Islamismus-Kritik?108 Minuten, Bildungsstätte Anne Frank: "StreitBar", 2021 Interner Link: Anwerbungstaktiken auf Gaming-Plattformen30 Minuten, Radicalisation Awareness Network, 2021 Interner Link: Aladin El-Mafaalani beim ufuq-Couch Talk: Integrations-Paradox10 Minuten, ufuq.de, 2019 Interner Link: Debatte mit Behnam Said und Götz Nordbruch: Islamistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann63 Minuten, sagwas.net, 2017 Interner Link: Erin Marie Saltman: How young people join violent extremist groups — and how to stop them63 Minuten, TED, 2016 Diskurse über muslimische Menschen in Deutschland 16 Minuten, ufuq.de, 2022 Warum wird in Deutschland und Europa so viel über Musliminnen und Muslime gesprochen? Welche Funktion erfüllen solche "Diskursexplosionen" und wie werden sie von historischen Islamdebatten beeinflusst? Diesen und weiteren Fragen widmet sich ein Fachgespräch von ufuq.de. Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami analysiert aktuelle Debatten und erklärt, warum es wichtig ist, Rassismus in Verbindung mit Religion und Säkularismus zu betrachten. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Dschihadismus im Wandel? 30 Minuten, ARD: alpha-demokratie, 2022 Im Sommer 2021 konnten die Taliban weite Teile Afghanistans einnehmen. Wird das den Dschihadismus international stärken? Wie anpassungsfähig ist er und welche Rolle spielen soziale Medien? Für alpha-demokratie sprach Vera Cornette mit Dr. Guido Steinberg. Der Islamwissenschaftler arbeitet und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und ist Experte für islamistischen Terrorismus. Verfügbar auf Externer Link: br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Nahostkonflikt im Unterricht 13 Minuten, ufuq.de, 2022 Wie kann man den Nahostkonflikt erfolgreich im Unterricht thematisieren? Darüber spricht Mehmet Can im "ufuq Couch Talk". Er ist Lehrer an einer Berliner Schule und hat gemeinsam mit Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern eine Reise nach Israel und Palästina unternommen. Außerdem hat er eine "Jerusalem AG" ins Leben gerufen und einen Comic zum Thema herausgebracht. Im Gespräch mit Sakina Abushi von ufuq.de erzählt er von seinen Erfahrungen und gibt Tipps für die Praxis. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Deutsch-französische Perspektiven zu Islamismus und Rechtsextremismus 23 Minuten, France Fraternités & ufuq.de, 2022 Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen Islamismus und Rechtsextremismus in Deutschland und Frankreich? Wie lassen sich die Erkenntnisse für die Radikalisierungsprävention nutzen? Diesen und weiteren Fragen geht der Film von ufuq.de und France Fraternités nach. Den Ausgangspunkt bilden Gespräche mit deutschen und französischen Fachkräften aus Präventionspraxis und Wissenschaft. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Kampf gegen Islamismus – Frankreich zwischen Terror und Polizeigewalt? 43 Minuten, Deutsche Welle, 2021 In dieser Ausgabe von "Auf den Punkt" wird diskutiert über die Absichten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, radikale Moscheen überwachen zu lassen und ein umstrittenes Gesetz gegen Islamistischen Separatismus durchzusetzen. Journalistin Hélène Kohl, Terrorexperte Raphael Bossong (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Soziologin Yasemin Ural (Universität Leipzig) sind zu Gast; Hajo Schumacher moderiert. Verfügbar auf Externer Link: dw.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Zwischen rechter Instrumentalisierung und linkem Schweigen: Können wir keine Islamismus-Kritik? 108 Minuten, Bildungsstätte Anne Frank: "Streitbar", 2021 Der politischen Linken wird häufig vorgeworden, zu islamistischer Gewalt zu schweigen. Stimmt das? In der "StreitBar" diskutieren Kevin Kühnert und Saba-Nur Cheema unter anderem über die Instrumentalisierung von Opfern islamistischer Gewalt durch das rechte Spektrum sowie die Reaktion der Linken. Außerdem steht die Frage im Raum, wie rassismusfreie Kritik geübt und Islamismus trotzdem angeprangert werden kann. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Anwerbungstaktiken auf Gaming-Plattformen 30 Minuten, Radicalisation Awareness Network, 2021 Mit welchem Taktiken werben Extremisten junge Menschen auf Gaming-Plattformen an? Jordy Nijenhuis und Veera Tuomala sprechen mit Expertinnen und Experten über ihre Erfahrungen in der Praxis. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Aladin El-Mafaalani beim ufuq-Couch Talk: Integrations-Paradox 10 Minuten, ufuq.de, 2019 In der ersten Folge des "Couch Talks" von ufuq.de spricht Aladin El-Mafaalani über seine Thesen vom "Integrations-Paradox": Demnach führt gelungene Integration zu mehr Konflikten. Im Video geht es darum, was dies für die praktische Arbeit mit Jugendlichen bedeutet, wie Lehrkräfte mit Konflikten in der Klasse umgehen können – und mit der Debatte darüber, ob "der Islam" zu Deutschland gehört. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Debatte mit Behnam Said und Götz Nordbruch: Islamistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann 63 Minuten, sagwas.net, 2017 Eine Online-Live-Debatte des Projekts sagwas.net hat sich im Dezember 2017 mit aktuellen Entwicklungen in Bezug auf islamistische Radikalisierung sowie Prävention von Radikalisierung in Deutschland beschäftigt. Dazu hat die Friedrich-Ebert-Stiftung Dr. Götz Nordbruch (Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus) und Dr. Behnam Said (Islamwissenschaftler und Mitarbeiter beim Verfassungsschutz Hamburg) eingeladen, die in einem einstündigen Gespräch die Fragen der Online-Community beantworteten. Verfügbar auf Externer Link: sagwas.net Interner Link: Zum Anfang der Seite Erin Marie Saltman: How young people join violent extremist groups — and how to stop them 63 Minuten, TED, 2016 Erin Marie Saltman ist bei Facebook für Counterterrorism Policy verantwortlich. In ihrem Vortrag spricht sie über Push- und Pull-Faktoren, die dazu führen, dass sich Menschen extremistischen Gruppen anschließen. Außerdem stellt sie innovative Maßnahmen zur Prävention und zur Begegnung von Radikalisierung vor – wie das "One to One"-Programm des Londoner Think Tanks "Institute for Strategic Dialogue". In dem Programm werden zunächst auf Facebook Nutzer/-innen identifiziert, die extremistische Gedanken äußern. Anschließend werden diese mit dem Ziel der Deradikalisierung von ehemaligen Extremisten kontaktiert. Verfügbar auf Externer Link: ted.com Interner Link: Zum Anfang der Seite 6. Präventionsprojekte Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Webvideo-Projekt: Jamal al-Khatib18 x 2-9 Minuten, TURN und bpb, 2017-2020 Interner Link: Webvideo-Projekt: Say My Name15 x 5-25 Minuten, Kooperative Berlin und bpb, 2019 & 2020 Interner Link: Webvideo-Projekt: Reflect Your Past3 x 23-27 Minuten, endemol und bpb, 2019 Interner Link: Junge Muslime gegen Antisemitismus15 Minuten, Jungs e. V., 2019 Webvideo-Projekt: Jamal al-Khatib 18 x 2-9 Minuten, TURN und bpb, 2017-2020 Der Impuls für "Jamal al-Khatib – Mein Weg" ging von einem inhaftierten Jugendlichen aus. Nach seinem Ausstieg aus der dschihadistischen Szene wollte er sich dafür einsetzen, andere Jugendliche davor zu bewahren, die gleichen Fehler zu begehen. Die erste Staffel ist bereits 2017 erschienen, die dritte Staffel ist im April 2020 gestartet. Die Videos sind auf Facebook, Instagram und YouTube verfügbar. Auf bpb.de gibt es eine Themenseite zum Projekt mit den bereits veröffentlichten Videos und umfangreichen Hintergrundinformationen. Verfügbar auf Externer Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Webvideo-Projekt: Say My Name 15 x 5-25 Minuten, Kooperative Berlin und bpb, 2019 und 2020 Das Webvideoprojekt "Say My Name" richtet sich an Frauen und behandelt die Themenkomplexe Zusammenleben, Integration und Identifikation. "Say My Name" arbeitet mit jungen diversen YouTuberinnen beziehungsweise Creatorinnen zusammen, die sich gegen alle Formen von Extremismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Hassrede einsetzen. Die Creatorinnen berichten in ihren Videos über eigene Erfahrungen oder sprechen mit Menschen, die weitere Sichtweisen auf die Themen werfen. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Webvideo-Projekt: Reflect Your Past 3 x 23-27 Minuten, endemol und bpb, 2019 Die Webvideoreihe "Reflect Your Past" veranschaulicht Radikalisierungsprozesse anhand von Lebensgeschichten. Die YouTuberinnen und YouTuber Nihan, Cheng Loew und Diana zur Löwen treffen Aussteigerinnen und Aussteiger aus verschiedenen extremistischen Bereichen. Darunter ist auch der ehemalige Salafist Dominic Schmitz, der von seinem Weg in den Salafismus und seinem Ausstieg berichtet. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Junge Muslime gegen Antisemitismus 15 Minuten, Jungs e. V., 2019 Im Projekt "Junge Muslime in Auschwitz" des Trägers Jungs e. V. werden jährlich Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz für Jugendliche in Duisburg organisiert. Anschließend entwickeln die Teilnehmenden Theaterstücke und Videos. Damit möchten sie sensibilisieren und junge Menschen zum Nachdenken bringen. Sie möchten den online kursierenden antisemitischen Videos, die täglich von Jugendlichen konsumiert und für "die Wahrheit" gehalten werden eine andere Position entgegenstellen. Die Zielgruppe sind Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren. Der Kurzfilm enthält mehrere Episoden zum Thema und ist insgesamt 15 Minuten lang. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-09-05T00:00:00"
"2020-04-03T00:00:00"
"2022-09-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/307406/video-dokumentationen-filme-erklaervideos/
Die Videos berichten über Islamismus und Präventionsarbeit sowie über den "IS". Sie erklären, was Salafismus ist, und zeichnen Geschichten von Menschen nach, die sich radikalisiert haben.
[ "Islamismus", "Radikalisierung", "Extremismus", "Prävention", "Dokumentationen", "Reportagen", "Filme" ]
29,910
"Nein, ich bin nicht Charlie" | Salafismus - Ideologie der Moderne | bpb.de
Tausende Menschen weltweit zeigten nach dem Anschlag in Paris 2015 ihre Anteilnahme unter dem Slogan "Je suis Charlie", wie hier auf dem Platz der Republik. (© picture-alliance/AP) Einer der islamistischen Terroranschläge in Europa, die sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben, ereignete sich Anfang 2015 in Paris. Zwei bewaffnete Angreifer stürmten die Räume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Unter dem Vorwurf der Veröffentlichung islamfeindlicher Karikaturen erschossen sie dort zehn Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin und später auf der Flucht einen Polizisten. Einen Tag später tötete ein weiterer zum Netzwerk der Attentäter gehörender Täter eine Polizistin und überfiel am Folgetag einen jüdischen Supermarkt. Er nahm dabei vier Geiseln mit sich in den Tod. Auf den Anschlag folgte, vor allem aus der westlichen Welt, eine Solidaritätsbekundung, deren Ausmaß an die Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 erinnerte: Zahlreiche Medien, Politiker und Privatpersonen bekundeten in Interviews, in sozialen Medien und auf Demonstrationen, mit Aufklebern oder Anstecknadeln "Ich bin Charlie". Aber nicht alle empfanden so. Ein Frankfurter Rapper kommentierte die Anschläge mit den Worten "Nein, ich bin nicht Charlie! Sondern das gestohlene, besetzte Palästina … Ich bin das zerstörte Gaza …" und erhielt hierfür bei Facebook mehr als 6.000 Likes. Reaktionen wie diese sind ein Beispiel für das speziell unter jungen Muslimen verbreitete Gefühl, dass ihre eigenen Sichtweisen und Interessen kein Gehör finden. Gerade arabischstämmige Jugendliche beklagen häufig, dass die verschiedenen Konflikte im Nahen Osten, die Krisen in der arabischen Welt und die Rolle, die Europa oder die USA dabei spielen, im Schulunterricht kaum angesprochen würden. Ähnlich argumentieren gerade in Deutschland auch viele türkischstämmige Jugendliche in Bezug auf die Türkei. QuellentextIntegration von Muslimen: Ergebnisse neuerer Studien Integration von muslimischen Einwanderern in der zweiten Generation schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten gut ab. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung [im August 2017] in Gütersloh vorgestellt hat. Verglichen wird die Situation von Muslimen, die vor 2010 nach Deutschland, in die Schweiz, nach Österreich, Frankreich und Großbritannien kamen. Bewertet werden Sprachkompetenz, Bildung, Arbeit und soziale Kontakte. Dabei bekommt Deutschland mit Abstand die besten Noten bei der Integration der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt. Bei Arbeitslosenquote und Vollzeitstellen gibt es der Studie zufolge kaum noch Unterschiede zum Bevölkerungsschnitt. 73 Prozent der in Deutschland geborenen Kinder muslimischer Einwanderer wachsen demnach mit Deutsch als erster Sprache auf. Auch wird das Niveau der Schulabschlüsse immer besser. Trotzdem gibt es auch Minuspunkte. So verlassen in Frankreich nur 11 Prozent der Muslime vor dem 17. Lebensjahr ohne Abschluss die Schule. In Deutschland sind es 36 Prozent. Als Grund vermuten die Forscher unterschiedliche Schulsysteme. So lernen Kinder in Frankreich länger gemeinsam, und Einwanderer haben auch durch die Kolonialgeschichte oft gute Französisch-Kenntnisse. Die höhere Abschlussquote schützt Muslime in Frankreich aber nicht vor einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit und weniger Vollzeitstellen. "Der internationale Vergleich zeigt, dass nicht Religionszugehörigkeit über die Erfolgschancen von Integration entscheidet, sondern staatliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen", sagt Stephan Vopel, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung. So sind die rund 4,7 Millionen Muslime in Deutschland – das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 5,7 Prozent – der Untersuchung zufolge gut in den Arbeitsmarkt integriert. Rund 60 Prozent von ihnen arbeiten wie der Bundesdurchschnitt Vollzeit. Die Arbeitslosenquote bei Muslimen liegt sogar zwei Prozentpunkte unter der von Nichtmuslimen (5 zu 7 Prozent). Schwerer haben es in Deutschland nur hochreligiöse Muslime – im Gegensatz zu Großbritannien, wo diese Gruppe bei gleicher Qualifikation in den gleichen Berufsfeldern vertreten ist wie die weniger frommen Glaubensbrüder. Detlef Pollack, Religionssoziologe des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Uni Münster übte Kritik an der Studie. Nach seiner Ansicht schauen die Autoren zu einseitig auf die Bedingungen in den aufnehmenden Ländern wie Schulsystem, Arbeitsmarkt und historisches Erbe. "Wir müssen aber doch auch berücksichtigen, was die, die kommen, von sich aus mitbringen, damit die Integration funktioniert”, sagt der Professor der Deutschen Presse-Agentur. Auch sei ein Vergleich der Muslime in den verschiedenen Ländern in Westeuropa ganz schwer, da sie aus unterschiedlichen Ländern immigriert seien. Pollack vermisst auch eine Bewertung der Integration aus Sicht der Muslime. Nach einer Studie der Uni Münster zu Türkeistämmigen aus dem Jahr 2016 fühlt sich die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland nicht anerkannt. "Integration von Muslimen: Gute Noten für Deutschland", in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 24. August 2017 © dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH. Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Jegliche Nutzung von Inhalten, Texten, Grafiken und Bildern ist ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung der dpa unzulässig. Dies gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe sowie Speicherung, Bearbeitung oder Veränderung. Alle Rechte bleiben vorbehalten. Integration von Muslimen in Deutschland (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 35 236) Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo meldeten mehr als 200 französische Schulen, dass sich manche muslimische Schülerinnen und Schüler geweigert hätten, an der Schweigeminute zum Gedenken an die Pariser Attentatsopfer teilzunehmen. Sie hätten es als ungerecht empfunden, dass Anschlagsopfern in den Herkunftsländern ihrer Eltern nicht gedacht werde. Seltener seien auch extreme Positionen laut geworden, wonach den Opfern eine Mitschuld an ihrem Schicksal zugesprochen wurde, weil diese Karikaturen des Propheten veröffentlicht hatten. An diesem Beispiel zeigen sich Entfremdungs- und Ohnmachtsgefühle, die radikale Kräfte ausnutzen können, indem sie eine Religion, den Islam, für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Dabei finden sie Anhänger – junge Menschen, die bereit sind, strengsten Regeln zu folgen. Die meisten lehnen Gewalt ab. Manche radikalisieren sich aber auch, schließen sich Gruppierungen im Ausland an oder nehmen dort sogar an Kampfhandlungen teil. QuellentextIslamismus als Identitätsstifter? […] ZEIT: […] Was hat Sie als praktizierenden Analytiker dazu bewegt, die […] beiden einander so fernen geistigen Welten [Psychoanalyse und Islam] füreinander zu öffnen? Benslama: Als der Islam sich mit der Moderne zu beschäftigen begann, habe ich begonnen, mich mit dem Islam zu befassen. Die Moderne bedeutet ja im Kern, alles dem Zweifel und der Kritik zu unterziehen […] Mich interessiert, wie ein Mensch in Wechselwirkung mit dem Kollektiv, mit der Religion, der politischen Realität steht. […] ZEIT: Gibt es unter den Fällen […] ein typisches Muster? Benslama: Nein. Die Kandidaten für den Dschihad kommen aus allen sozialen Schichten, Glaubensvarianten und Lebensformen. […] [D]as entscheidende Merkmal ist die Jugend […] Mehr als zwei Drittel der Radikalisierten sind junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren. Sie stecken also in den Identitätskonflikten der Adoleszenz. Etwa 40 Prozent von ihnen weisen psychische Störungen auf. ZEIT: Wie hängt seelisches Leid mit Radikalität zusammen? Benslama: Diese Jugendlichen radikalisieren sich, um ihre Nöte zu heilen und die Symptome zu lindern. Andere Menschen trinken oder nehmen Drogen, um mit ihrem Leid zurechtzukommen. Der Islamismus erfüllt eine vergleichbare Funktion. […] Die winzige Minderheit der Jugendlichen, die sich radikalisiert, wertet sich im Gefühl der eigenen Nichtigkeit durch die Ideale des Islamismus auf: […] Der Islamismus tritt als antipolitische Utopie auf, in der ein Einzelner sehr mächtig sein kann, wenn er sich mit dem Ziel der idealen religiösen Gemeinschaft identifiziert, die das Gegenbild zum weltlichen modernen Staat ist, in dem diese Jugendlichen leben. ZEIT: Was gehört an dieser Verführbarkeit generell zur Phase der Adoleszenz, in allen Kulturen? […] Benslama: Jeder Jugendliche, gleich welcher Kultur, lässt die Ideale der Kindheit hinter sich und wird ein anderer, indem er sich Ideale für sein Erwachsenenleben sucht und die eigene Identität neu zusammensetzt. […] ZEIT: Der Islamismus bietet Jugendlichen in dieser Unsicherheit eine klare Identifikation? Benslama: Ja, sie können durch Gewalt ihre ideale Gemeinschaft und die Welt retten! Er bietet ihnen auch einen besonderen Genuss: sich in der Allmacht, andere Menschen willkürlich töten zu können, großartig zu fühlen. Einzelne Täter können moderne Staaten und ihre Bürger in dauernde Angst und Alarmbereitschaft versetzen: was für eine Macht […] Aber man darf nie vergessen: Nur eine winzige Zahl von Jugendlichen wählt diesen Weg. Fast alle ertragen ihre inneren Spannungen. […] Fethi Benslama lehrt als Professor für Psychopathologie an der Universität Diderot und praktiziert zudem als Analytiker. "Den Tod genießen", Interview von Elisabeth von Thadden mit Fethi Benslama, in: Zeit Online vom 10. April 2017 Die öffentliche Diskussion gerät darüber schnell in einen Strudel von Zuschreibungen und vermeintlich kulturellen Gegensätzen. Dabei leidet die Qualität der gesamtgesellschaftlichen Diskussion oft unter Vereinfachungen und folgt der These eines "großen Kulturkampfes" zwischen zwei unveränderlichen Gegensätzen. Die Zuspitzung auf einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Ost und West, Orient und Okzident, Islam und Christentum oder wahlweise Aufklärung scheint durch die politischen Verwerfungen und Kriege im Nahen Osten sowie durch Terroranschläge bestätigt zu werden. Eine pauschalisierende Betrachtungsweise findet in solchen Ereignissen Argumente für das Vorurteil, dass "dem Islam" und "den Muslimen" immer schon Gewalt, Intoleranz und Despotie innewohnten. Diese Denkweise ähnelt in ihrer Pauschalität und Voreingenommenheit derjenigen der radikalen Gegenseite, die mit stark vereinfachten Welt- und Feindbildern für sich wirbt. Globalisierung (© NEL / nelcartoons.de) Doch die überwiegende Mehrheit der Muslime lehnt Gewalt ab und will friedlich inmitten der Gesellschaft leben. Nach ihrem Religionsverständnis verfügt der Islam gerade nicht über ein unwandelbares Wesen, in dem das Verhältnis von Staat und Religion als ewig vereint festgeschrieben ist. Solche Annahmen beruhen vielmehr auf ideologischen, islamistischen (nicht islamischen) Positionen, die bewusst mit Schlagworten und Kampfbegriffen markiert werden und mit der Wirklichkeit, gerade auch mit der differenzierten historischen Realität, wenig zu tun haben. Die Ursache von religiös begründetem Extremismus nur im Islam zu suchen, ist problematisch. Vielmehr sind die Gründe vielschichtig und untrennbar miteinander verwoben. Neben der religiösen Ebene müssen auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigt werden. Daher richten die Kapitel "Salafismus – Spielart des Islamismus" und "Geschichte einer Radikalisierung" den Fokus auf historische, ideengeschichtliche und politische Entwicklungen, während sich das Kapitel "Salafismus in Deutschland" auf die gesellschaftliche Ebene konzentriert und nach Ursachen der Radikalisierung bei Jugendlichen fragt. Alle Ansätze beschreiben ein Phänomen, dessen durchaus vielfältige Positionen und Erscheinungsformen in der öffentlichen Diskussion mit dem Begriff Salafismus in Verbindung gebracht werden. Doch was ist unter Salafismus im eigentlichen Sinne zu verstehen? Tausende Menschen weltweit zeigten nach dem Anschlag in Paris 2015 ihre Anteilnahme unter dem Slogan "Je suis Charlie", wie hier auf dem Platz der Republik. (© picture-alliance/AP) Integration von muslimischen Einwanderern in der zweiten Generation schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten gut ab. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung [im August 2017] in Gütersloh vorgestellt hat. Verglichen wird die Situation von Muslimen, die vor 2010 nach Deutschland, in die Schweiz, nach Österreich, Frankreich und Großbritannien kamen. Bewertet werden Sprachkompetenz, Bildung, Arbeit und soziale Kontakte. Dabei bekommt Deutschland mit Abstand die besten Noten bei der Integration der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt. Bei Arbeitslosenquote und Vollzeitstellen gibt es der Studie zufolge kaum noch Unterschiede zum Bevölkerungsschnitt. 73 Prozent der in Deutschland geborenen Kinder muslimischer Einwanderer wachsen demnach mit Deutsch als erster Sprache auf. Auch wird das Niveau der Schulabschlüsse immer besser. Trotzdem gibt es auch Minuspunkte. So verlassen in Frankreich nur 11 Prozent der Muslime vor dem 17. Lebensjahr ohne Abschluss die Schule. In Deutschland sind es 36 Prozent. Als Grund vermuten die Forscher unterschiedliche Schulsysteme. So lernen Kinder in Frankreich länger gemeinsam, und Einwanderer haben auch durch die Kolonialgeschichte oft gute Französisch-Kenntnisse. Die höhere Abschlussquote schützt Muslime in Frankreich aber nicht vor einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit und weniger Vollzeitstellen. "Der internationale Vergleich zeigt, dass nicht Religionszugehörigkeit über die Erfolgschancen von Integration entscheidet, sondern staatliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen", sagt Stephan Vopel, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung. So sind die rund 4,7 Millionen Muslime in Deutschland – das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 5,7 Prozent – der Untersuchung zufolge gut in den Arbeitsmarkt integriert. Rund 60 Prozent von ihnen arbeiten wie der Bundesdurchschnitt Vollzeit. Die Arbeitslosenquote bei Muslimen liegt sogar zwei Prozentpunkte unter der von Nichtmuslimen (5 zu 7 Prozent). Schwerer haben es in Deutschland nur hochreligiöse Muslime – im Gegensatz zu Großbritannien, wo diese Gruppe bei gleicher Qualifikation in den gleichen Berufsfeldern vertreten ist wie die weniger frommen Glaubensbrüder. Detlef Pollack, Religionssoziologe des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Uni Münster übte Kritik an der Studie. Nach seiner Ansicht schauen die Autoren zu einseitig auf die Bedingungen in den aufnehmenden Ländern wie Schulsystem, Arbeitsmarkt und historisches Erbe. "Wir müssen aber doch auch berücksichtigen, was die, die kommen, von sich aus mitbringen, damit die Integration funktioniert”, sagt der Professor der Deutschen Presse-Agentur. Auch sei ein Vergleich der Muslime in den verschiedenen Ländern in Westeuropa ganz schwer, da sie aus unterschiedlichen Ländern immigriert seien. Pollack vermisst auch eine Bewertung der Integration aus Sicht der Muslime. Nach einer Studie der Uni Münster zu Türkeistämmigen aus dem Jahr 2016 fühlt sich die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland nicht anerkannt. "Integration von Muslimen: Gute Noten für Deutschland", in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 24. August 2017 © dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH. Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Jegliche Nutzung von Inhalten, Texten, Grafiken und Bildern ist ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung der dpa unzulässig. Dies gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe sowie Speicherung, Bearbeitung oder Veränderung. Alle Rechte bleiben vorbehalten. Integration von Muslimen in Deutschland (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 35 236) Integration von Muslimen in Deutschland (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 35 236) […] ZEIT: […] Was hat Sie als praktizierenden Analytiker dazu bewegt, die […] beiden einander so fernen geistigen Welten [Psychoanalyse und Islam] füreinander zu öffnen? Benslama: Als der Islam sich mit der Moderne zu beschäftigen begann, habe ich begonnen, mich mit dem Islam zu befassen. Die Moderne bedeutet ja im Kern, alles dem Zweifel und der Kritik zu unterziehen […] Mich interessiert, wie ein Mensch in Wechselwirkung mit dem Kollektiv, mit der Religion, der politischen Realität steht. […] ZEIT: Gibt es unter den Fällen […] ein typisches Muster? Benslama: Nein. Die Kandidaten für den Dschihad kommen aus allen sozialen Schichten, Glaubensvarianten und Lebensformen. […] [D]as entscheidende Merkmal ist die Jugend […] Mehr als zwei Drittel der Radikalisierten sind junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren. Sie stecken also in den Identitätskonflikten der Adoleszenz. Etwa 40 Prozent von ihnen weisen psychische Störungen auf. ZEIT: Wie hängt seelisches Leid mit Radikalität zusammen? Benslama: Diese Jugendlichen radikalisieren sich, um ihre Nöte zu heilen und die Symptome zu lindern. Andere Menschen trinken oder nehmen Drogen, um mit ihrem Leid zurechtzukommen. Der Islamismus erfüllt eine vergleichbare Funktion. […] Die winzige Minderheit der Jugendlichen, die sich radikalisiert, wertet sich im Gefühl der eigenen Nichtigkeit durch die Ideale des Islamismus auf: […] Der Islamismus tritt als antipolitische Utopie auf, in der ein Einzelner sehr mächtig sein kann, wenn er sich mit dem Ziel der idealen religiösen Gemeinschaft identifiziert, die das Gegenbild zum weltlichen modernen Staat ist, in dem diese Jugendlichen leben. ZEIT: Was gehört an dieser Verführbarkeit generell zur Phase der Adoleszenz, in allen Kulturen? […] Benslama: Jeder Jugendliche, gleich welcher Kultur, lässt die Ideale der Kindheit hinter sich und wird ein anderer, indem er sich Ideale für sein Erwachsenenleben sucht und die eigene Identität neu zusammensetzt. […] ZEIT: Der Islamismus bietet Jugendlichen in dieser Unsicherheit eine klare Identifikation? Benslama: Ja, sie können durch Gewalt ihre ideale Gemeinschaft und die Welt retten! Er bietet ihnen auch einen besonderen Genuss: sich in der Allmacht, andere Menschen willkürlich töten zu können, großartig zu fühlen. Einzelne Täter können moderne Staaten und ihre Bürger in dauernde Angst und Alarmbereitschaft versetzen: was für eine Macht […] Aber man darf nie vergessen: Nur eine winzige Zahl von Jugendlichen wählt diesen Weg. Fast alle ertragen ihre inneren Spannungen. […] Fethi Benslama lehrt als Professor für Psychopathologie an der Universität Diderot und praktiziert zudem als Analytiker. "Den Tod genießen", Interview von Elisabeth von Thadden mit Fethi Benslama, in: Zeit Online vom 10. April 2017 Globalisierung (© NEL / nelcartoons.de)
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"2022-01-20T00:00:00"
"2018-07-10T00:00:00"
"2022-01-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/272417/nein-ich-bin-nicht-charlie/
Anschläge islamistischer Terroristen lösten in Teilen der westlichen Öffentlichkeit Diskussionen darüber aus, ob der Islam als Religion verantwortlich zu machen sei, ob er in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu Christentum und Aufklärung stünde und w
[ "Islamismus", "Salafismus", "islamischer Terrorismus" ]
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M 03.02.01 Dejan Panić: Meine Familie | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de
Welche Bedeutung hat Familie für dich? Ich weiß nicht, ob das kulturell bedingt ist, aber Familie hat bei uns einen ganz hohen Stellenwert. Familie hat für mich eine sehr große Bedeutung. Ich merke das insbesondere, wenn wir Weihnachten haben, weil nur ein kleiner Teil meiner Familie in Deutschland lebt. Ich vermisse dann alle. Familienfeste wie Weihnachten werden bei uns sehr ausgiebig gefeiert. An Weihnachten in Deutschland sind wir immer nur zu viert: Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich. Würdest du die Flucht vor dem Krieg in Jugoslawien als Krise für deine Familie ansehen? In der konkreten Situation, als Kind damals, habe ich die Flucht aus Jugoslawien nicht als Krise wahrgenommen. Aber im Nachhinein schon. Man reflektiert, was der Familie passiert ist. Man hört die Geschichten und sieht die Unfallbilder. Ich denke: „Oh mein Gott, was ist meinen Eltern passiert! Was haben die durchlebt!“ Und durch diese Reflexion erkennt man diese Krise, die man als Familie hatte. Diese Krise hat mich betroffen. Ich musste sie jedoch nicht alleine tragen. Heute weiß ich, weshalb ich hier in Deutschland bin. Weshalb wir erst in einer Zweizimmerwohnung gelebt haben. Warum ich anfangs nicht die neuesten Schuhe bekommen habe. Würdest du sagen, dass die Erlebnisse deiner Eltern, also Unfall und Flucht, für dich einen Ansporn dargestellt haben, immer weiter zu machen? In Sport und Schule immer höhere Ziele zu erreichen? Ja, definitiv. Allein dadurch, was die so erlebt haben. Ich meine, wir sind nun einmal in erster Linie meinetwegen hier. Ohne mich wäre mein Vater nie nach Deutschland gegangen. Auch meine Mutter nicht. Und ich habe mir gesagt: Wenn ich hier in Deutschland bin, meine Eltern hier in Deutschland sind und es so schwer haben, dann muss ich auf jeden Fall hier irgendwas hinkriegen. Und irgendwann wollte ich nicht mehr nur aus diesem Grund etwas erreichen, sondern weil ich auch selber etwas erreichen wollte. Glaubst du, dass du deinen Eltern etwas schuldig bist? Nun ja, nicht schuldig, in dem Sinne, dass ich sagen würde: Das Konto ist jetzt wieder ausgeglichen. Ich bin ihnen eher dankbar. Ich bin dankbar dafür, dass sie bis heute so viel für uns tun. Ich würde selbst nichts anders machen als meine Eltern, ich würde es genauso machen. Meine Eltern haben viel erreicht, dafür, dass sie wirklich mit gar nichts nach Deutschland gekommen sind. Haben deine Eltern dich dabei unterstützt, Fußballprofi zu werden? Nein, nicht so sehr. Die haben nicht so sehr an mich geglaubt. Die haben gesagt: „Mach Schule, das ist wichtiger.“ Klar, wenn ich Kinder hätte, würd´ ich denen auch sagen, dass Schule wichtig ist. Meinen Bruder, der inzwischen auch sehr gut spielt, unterstützen sie jetzt mehr. Auch, weil sie vielleicht durch mich gesehen haben, was man schaffen kann. Aber bei mir haben sie nicht wirklich so an mich geglaubt. Vielleicht dadurch bedingt, dass sie so viel erlebt haben, weil sie den sicheren Weg für mich nehmen wollten. Die haben mich zwar unterstützt, wenn ich mal zum Spiel gefahren werden musste als Kind, das ja. Aber die haben nie gesagt: „Du wirst Profi. Du schaffst das!“ Das haben die nie gesagt. Für mich war das ein Ansporn – nach dem Motto: Jetzt erst recht! Du hast bereits gesagt, dass du immer das Gefühl hattest, deinen Eltern etwas zurückgeben zu müssen, weil sie so viel auf sich genommen haben. Glaubst du, dass deine Fußballkarriere dazu im Widerspruch gestanden hat? Nein, weil ich mit Fußball niemandem geschadet habe. Ich habe niemanden Geld gekostet. Niemandem etwas genommen. Das klingt vielleicht hart, aber ich würde bis heute nichts machen, nur um jemandem zu gefallen. Am Ende macht man die Dinge, die man tut, doch für sich selbst. Glaubst du, dass du durch die Erlebnisse von Flucht und Migration ein anderes Verhältnis zu deinen Eltern, Großeltern und deinem Bruder hast, als andere es haben? Ich glaube alle Familienverhältnisse sind anders, aber ich glaube auch, dass das Erlebnis der Flucht nach Deutschland uns sehr stark verbindet. Jedes Mal, wenn wir nach Serbien fahren, sprechen wir über das, was passiert ist: Der Unfall. An den Grenzen hat man Angst. Ja, so ein Erlebnis, das verbindet einen schon. Besonders, was meine Großeltern betrifft. Wenn ich runter nach Serbien komme, wird nur daran gedacht, dass ich der kleine Junge war, der den Autounfall erlebt hat und erst einmal ohne Eltern aufwachsen musste. Quelle: Interview mit Dejan Panić* vom 18.03.2016, durchgeführt von Lisa Schenkel (*Name von der Redaktion geändert) Aufgaben: Analysiere, wie das Engagement von Dejans Eltern sein Selbstkonzept und seine Einstellung zum Leben beeinflusst haben. Arbeite heraus, wie die Eltern und der Sohn mit unterschiedlichen Vorstellungen über das Ziel, Profifußballer zu werden, umgegangen sind. Entwickle Hypothesen zu der Frage: Wie gelingt es Dejan Panić aus soziologischer Sicht, die Erlebnisse der Flucht zu verarbeiten? Vergleiche deine Hypothesen mit den Aussagen des Soziologen Prof. Grundmann zur Verarbeitung von Krisenerfahrungen (Materialien M 02.16 und M 02.17). Das Arbeitsmaterial Interner Link: M 03.02.01 Dejan Panić: Meine Familie ist als PDF-Dokument abrufbar.
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"2022-05-31T00:00:00"
"2016-04-05T00:00:00"
"2022-05-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/224159/m-03-02-01-dejan-panic-meine-familie/
Dejans Eltern sind mit Nichts nach Deutschland gekommen und haben trotzdem viel erreicht. Die Familie spielt in seinem Leben eine ganz besondere Rolle. Obwohl seine Vorstellungen bezüglich der Zukunft stark von der seiner Eltern abwichen, hat das gem
[ "Familie", "Jugend", "Migration" ]
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M 01.05 Erlebte Benachteiligungen von Jugendlichen | Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Integration | bpb.de
Erlebte Benachteiligungen von Jugendlichen (M 01.05) Aus: Shell Jugendstudie 2006 – TNS Infratest Sozialforschung, S. 139. Erlebte Benachteiligungen von Jugendlichen (M 01.05)
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"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/projekt-integration/134624/m-01-05-erlebte-benachteiligungen-von-jugendlichen/
Eine Grafik der Shell Jugendstudie zeigt, wie stark sich Jugendliche aufgrund verschiedener Ursachen benachteiligt fühlen.
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Ein Vorgeschmack: Ein Podcast zum Thema Politik und Emotionen | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
Textredaktion: Externer Link: Transfer für Bildung e.V. Wer sich auf das Thema des Bundeskongresses politische Bildung einschwingen will, dem sei ein Podcast des SWR 2 empfohlen, den dieser im Februar 2015 veröffentlichte. In seiner Rubrik Wissen findet man zum Thema "Politik und Emotionen. Die Bedeutung von Gefühlen in der Demokratie" einen knapp 30-minütigen Beitrag von Ingeborg Breuer. Als Zuhörer_in erhält man einen ersten informativen Einblick in das Themenfeld Politik und Emotionen. Verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in diesem Feld forschen, werden genannt und kommen teilweise selbst zu Wort. Einer davon ist beispielsweise Professor Gary Schaal, Politikwissenschaftler an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Er erklärt, dass sich die ganze abendländische Philosophiegeschichte dadurch auszeichnet, dass der Geist vor dem Körper siegen solle. Damit ist gemeint, dass der Mensch in einen höheren und als gut bewerteten Teil, dem rationalen Geist, sowie einen niedrigeren, von Emotionen bestimmten und als eher negativ bewerteten Teil, getrennt wird. Diese Vorstellung über den Menschen formt dann auch seine Vorstellung zur Politik, indem politische Sachverhalte möglichst rational, emotionslos und in diesem Sinne „vernünftig“ behandelt und ent-schieden werden sollen. Als der mit Sicherheit prägendste Einbruch in eine Vorstellung einer eher emotionslosen Politik wird dann der deutsche Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert genannt. Hier kommt Professorin Ute Frevert, Direktorin am Max-Plack-Institut für Bildungsforschung in Berlin, zu Wort. Sie ist übrigens eine der Referentinnen des Bundeskongresses politische Bildung. Im Nationalsozialismus wurden die Emotionen der Menschen aktiv genutzt, um Massen zu mobilisieren und eine aggressive Grundstimmung zu schaffen. Dies wurde mithilfe von rauschhaften Aufmärschen, Demonstrationen und nicht zuletzt dem Personenkult um Hitler erreicht. Dies ist auch der Grund, wieso sich die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg bewusst für eine relativ rational gepräg-te Demokratie entschied: Bescheidenheit, Einfachheit und Sachlichkeit im Gegensatz zu großen Emotionen, die sich in der Vergangenheit als durchaus verführerisch dargestellt haben. Aber eine Politik, eine Demokratie, ganz ohne Emotionen? Geht das? Um diese Frage zu beantworten, wird auf die Philosophin Martha Nussbaum verwiesen, die in ihrem Buch Politische Emotionen dafür plädiert, dass nicht nur totalitäre und faschistische Staaten Emotionen benötigen, um bestehen zu können, sondern auch liberal demokratische Gesellschaften. Der Gedanke der Humanität könne nur dann verbreitet und gelebt werden, wenn die Politik Mitgefühl und Solidarität zum Zent-rum ihres Handelns und ihrer Entscheidungen macht. Dies setzt jedoch voraus, dass eine Demokratie auch Bedingungen schafft, unter denen Solidarität und Mitgefühl wachsen kann. An dieser Stelle hört man noch einmal Ute Frevert, die darauf hinweist, dass die sonst so strikte kategoriale Trennung in der Wissenschaft in eine vernünftige, gute Rationalität und eine „schlimme“ Emotionalität damit als Kunstfigur zu betrachten ist. Die Hinwendung zum Emotionalen, die als „Emotional Turn“ in den 1980er-Jahren vor allem in den Sozial- und Geschichtswissenschaften markiert wird, führte dazu, dass Gefühle verstärkt zum Thema in der Wissenschaft und in der Gesellschaft wurde. An dieser Stelle soll gestoppt werden, da mit diesem Blogeintrag nur ein kleiner Einblick und Vorgeschmack in die Podcast-Folge gegeben werden soll. Der Beitrag lohnt sich auf jeden Fall anzuhören, um eine Vorstellung dafür zu erlangen, wie das Politische und die Emotionalität des Menschen zu-einander in Beziehung stehen (können). Außerdem bekommt man eine kleine Übersicht zur aktuellen Forschungslage in diesem Feld. Externer Link: Hier können Sie sich den Beitrag sowohl auditiv anhören, aber auch als Manuskript nachlesen.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2019-01-16T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/284018/ein-vorgeschmack-ein-podcast-zum-thema-politik-und-emotionen/
Wer sich auf das Thema des Bundeskongresses politische Bildung einschwingen will, dem sei ein Podcast des SWR 2 empfohlen, den dieser im Februar 2015 veröffentlichte. In seiner Rubrik Wissen findet man zum Thema "Politik und Emotionen. Die Bedeutung
[ "Emotionen" ]
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Kleine Landeskunde Großbritanniens | Gesundheitspolitik | bpb.de
Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland umfasst als größter Inselstaat Europas vier Nationen: England, Wales, Schottland und Nordirland. Es liegt an der Nordwestküste Kontinentaleuropas auf der Hauptinsel Großbritannien und zählt auch ein Sechstel der irischen Nachbarinsel zu seinem Territorium (Nordirland). Darüber hinaus hat das Vereinigte Königreich aufgrund seiner langen Kolonialgeschichte heute immer noch zahlreiche überseeische Staatsgebiete. Im Jahr lebten im Vereinigten Königreich 63,9 Millionen Menschen, von denen gut 53 Millionen (rund 84 Prozent) in England lebten; die restlichen 16 Prozent der Bevölkerung verteilen sich auf Wales (3,0 Millionen), Schottland (5,1 Millionen) und Nordirland (1,7 Millionen). Die Bevölkerungsdichte liegt im Durchschnitt bei 250 Einwohnern pro Quadratkilometer. Politik Großbritannien ist eine parlamentarische Demokratie in der Form einer konstitutionellen Monarchie. Das Staatsoberhaupt ist die jeweilige Monarchin beziehungsweise der jeweilige Monarch, im Moment Königin Elizabeth II., dessen Aufgabenbereich in der Regel repräsentativer Natur ist. Amtierender Premierminister ist seit dem 11. Mai 2010 David Cameron von der Conservative Party. Im Gegensatz zur besonderen Bedeutung des Grundgesetzes in Deutschland, welches auch die staatliche Gewalt in ihrer Gesetzgebungsfunktion bindet, gilt in Großbritannien der Vorrang des Parlamentes (die sogenannte Parlamentssouveränität). Durch den Prozess der europäischen Integration und durch die Zunahme und rechtliche Bindungskraft völkerrechtlicher Verträge entwickelt sich in Großbritannien mittlerweile allerdings auch eine Art Verfassungsrecht, das die Parlamentssouveränität einschränkt. Im Gegensatz zu Deutschland ist die staatliche Gewalt in Großbritannien nicht föderal strukturiert, sondern einheitlich mit einer starken Stellung des Staates ("unitarischer Staat"). Im Prozess der politischen Devolution wurde von der Labour-Regierung unter Tony Blair in Schottland und Nordirland je ein nationales Parlament mit bedeutenden Gesetzgebungsbefugnissen eingerichtet. In Wales hingegen wurde eine Nationalversammlung eingerichtet, die als große Kommunalverwaltung fungiert, ohne eigene Gesetzgebungskompetenzen zu besitzen. Die an die nationalen Repräsentativorgane abgegebenen Kompetenzen sind unterschiedlich und reichen von der Installierung einer regionalen Regierung über das Recht zur primärrechtlichen Gesetzgebung in Politikfeldern wie Bildungspolitik, Wohnungsbaupolitik, Umweltpolitik und Raumplanung bis hin zur Gesundheitspolitik. Das britische Wahlsystem basiert traditionell auf einem einfachen Mehrheitswahlrecht, wird jedoch durch die Verlagerung von politischen Kompetenzen auf neu eingerichtete Repräsentationsorgane in drei konstituierenden Nationen (Wales, Schottland und Nordirland) und durch den europäischen Integrationsprozess nicht mehr flächendeckend im Vereinigten Königreich angewandt; das Verhältniswahlrecht hat in das politische Systeme der britischen Insel Einzug gehalten. Obwohl es in Großbritannien sehr viele Parteien gibt, deren Existenz vor allem bei den Europawahlen sichtbar geworden ist, spielen vor allem drei Parteien eine größere Rolle – von nationalen Besonderheiten in den konstituierenden Nationen sei an dieser Stelle einmal abgesehen: die Tories, das heißt die traditionsreiche konservative Partei Großbritanniens, die Liberal Democrats (Liberaldemokraten) und die Labour Party (Arbeitspartei). Seit Mai 2010 stellt eine Koalitionsregierung aus den Konservativen und den Liberaldemokraten den Premierminister. Die Kombination von unitarischem Staat, Parlamentssouveränität und Mehrheitswahlrecht galt lange als Gewähr für eine starke Stellung der Regierung und insbesondere der Kernexekutive (Premierministerin/-minister, Kabinett und Finanzministerium) und führte in der Regel nur selten zu Koalitionsregierungen. Die Bedeutung dieses sogenannten Westminster-Modells – in Bezugnahme auf den Sitz des britischen Parlamentes in London – für die einheitliche politische Gestaltung des gesamten Vereinigten Königreiches ist durch die Politik der Devolution und durch den europäischen Integrationsprozess allerdings relativiert worden. Dennoch ist die starke Rolle des britischen Parlamentes und der britischen Regierung in London für die Entwicklung in Großbritannien in vielen politischen Bereichen immer noch maßgebend. Wirtschaft Das britische Wirtschaftswachstum – gemessen an der realen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – lag mit -4,9 Prozent im Jahr 2009 leicht über dem Niveau vergleichbarer europäischer Länder (zum Beispiel Deutschland: -4,7 Prozent; Frankreich: -2,6 Prozent; Italien: -5,2 Prozent). Bemerkenswert ist, dass die reale Wachstumsrate des BIP seit 1997 mit über zwei Prozent (Ausnahme 2005: 1,8 Prozent) kontinuierlich über dem Durchschnitt der vergleichbaren Staaten in Europa lag. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2012 in Großbritannien etwas über dem Durchschnitt der EU 28 (EU 28 = 100, Großbritannien = 106), war mit 26.982 Euro aber deutlich niedriger als z.B. in Deutschland ( 31.482 Euro), Schweden (32.197 Euro) oder den Niederlanden (32.552 EUro) (Eurostat 2014). Wohlfahrtsstaat Der britische Wohlfahrtsstaat wird wegen seiner vor allem auf Armutsverhinderung setzenden sozialpolitischen Regelungen als typische Ausprägung eines liberalen Wohlfahrtsstaates angesehen. Eine Charakterisierung, die in Bezug auf die Gesundheitsversorgung allerdings nicht zutrifft. Denn die nationalen Gesundheitsdienste funktionieren – mit einigen Ausnahmen – nach den Prinzipien des freien und unentgeltlichen Zugangs aller Bürgerinnen und Bürger zu qualitativ hochwertigen und medizinisch umfassenden Gesundheitsdienstleistungen. Die Ausgaben für Sozialschutz in Großbritanniens betrugen im Jahr 2011 27,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und lagen damit unter dem EU-Durchschnitt von 29,1 Prozent.. Im Vergleich dazu betrug die Sozialleistungsquote (Anteil der Ausgaben für Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt) in Deutschland im Jahr 2011 29,4 Prozent, in Frankreich 33,6 Prozent und in Schweden 29,6 Prozent. Die von New Labour verfolgte aktivierende Sozialpolitik fordert mehr Eigenverantwortung des Einzelnen und macht die Leistungsgewährung von seinen Eigenanstrengungen abhängig. Im Vergleich zu den konservativen Vorgängerregierungen hat New Labour aber auch einige sozialpolitische Leistungen verbessert. So hat beispielsweise die Regierung Tony Blair einen landesweiten Mindestlohn eingeführt und auch für die Bekämpfung von Armut mehr finanzielle Mittel aufgebracht. Quellen / Literatur Baggott, Rob (2004): Health and Health Care in Britain. Third Edition, Houndsmill/New York Baggott, Rob (2007): Understanding Health Policy, Bristol King´s Fund (2006): An independent audit of the NHS under Labour (1997 - 2005), London: King´s Fund Klein, Rudolf (2006): The new politics of the NHS. From creation to reinvention. Fifth Edition, Oxford/Seattle Talbot-Smith, Alison/Pollock, Allyson M. (2006): The new NHS. A guide, Milton Park/New York IndexMundi (2012): Vereinigtes Königreich Einwohnerzahl Profil 2012Externer Link: http://www.indexmundi.com/de/vereinigtes_konigreich/einwohnerzahl_profil.html Institut für Wachstumsstudien (2012)Externer Link: http://www.economic-growth.eu/Seiten/AktuelleDaten/Daten2009.html# Baggott, Rob (2004): Health and Health Care in Britain. Third Edition, Houndsmill/New York Baggott, Rob (2007): Understanding Health Policy, Bristol King´s Fund (2006): An independent audit of the NHS under Labour (1997 - 2005), London: King´s Fund Klein, Rudolf (2006): The new politics of the NHS. From creation to reinvention. Fifth Edition, Oxford/Seattle Talbot-Smith, Alison/Pollock, Allyson M. (2006): The new NHS. A guide, Milton Park/New York IndexMundi (2012): Vereinigtes Königreich Einwohnerzahl Profil 2012Externer Link: http://www.indexmundi.com/de/vereinigtes_konigreich/einwohnerzahl_profil.html Institut für Wachstumsstudien (2012)Externer Link: http://www.economic-growth.eu/Seiten/AktuelleDaten/Daten2009.html#
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-12T00:00:00"
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https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/72925/kleine-landeskunde-grossbritanniens/
In diesem Teil der Lerntour erhalten Sie grundlegende Informationen zur Landeskunde Großbritanniens. Die Themenbereiche sind "Politik", "Wirtschaft" und "Wohlfahrtsstaat".
[ "Großbritannien", "Gesundheitspolitik", "Gesundheitswesen", "Landeskunde Großbritannien", "Königreich Großbritannien", "Großbritannien" ]
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Medien für den Unterricht | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Die Infodienst-Handreichung "Interner Link: Schule und religiös begründeter Extremismus" können Sie kostenfrei herunterladen und als Print-Version bestellen. 1. Unterrichtslektüre Es gibt eine Reihe aktueller (Jugend-)Bücher zum Thema Radikalisierung und Dschihad, die sich als Unterrichtslektüre (z. B. im Fach Deutsch) eignen. Zum Teil sind begleitende Unterrichtsmaterialien erschienen. Hier werden einige Beispiele vorgestellt. Einige Autorinnen und Autoren stehen für Lesungen in Schulen zur Verfügung, die Kontaktaufnahme erfolgt meist über den Verlag. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Djihad ParadiseAnna Kuschnarowa, 2016 Interner Link: Dschihad CallingChristian Linker, 2016 Interner Link: Dschihad OnlineMorton Rhue, 2017 Interner Link: Papa, was ist ein Terrorist?Tahar Ben Jelloun, 2016 Interner Link: Zwei BrüderMahir Guven, 2019 Interner Link: Zwei Schwestern. Im Bann des DschihadÅsne Seierstad, 2018 Djihad Paradise Anna Kuschnarowa, Gulliver / Beltz & Gelberg 2016, 416 S., 8,95 Euro Julian Engelmann alias Abdel Jabbar Shahid ist kurz davor, sich selbst mit einem Sprengstoffgürtel in einem Berliner Einkaufszentrum in die Luft zu jagen. Da ruft eine bekannte Stimme seinen Namen. Er hält inne und erinnert sich – an seine große Liebe Romea, die Zeit vor dem Terrorcamp und warum sich Romea irgendwann von ihm abwandte … Im Roman geht es um eine Liebe und ein Leben, die am radikalen religiösen Wahn zerbrechen. Dazu erhältlich: Katja Bergmann: "Djihad Paradise" im Unterricht: Lehrerhandreichung (Klassenstufe 9 – 11), Beltz Verlag 2016, 7,95 Euro. Dschihad Calling Christian Linker, dtv 2016, 320 S., 8,95 Euro Der 18-jährige Jakob verliebt sich in die Augen eines unbekannten verschleierten Mädchens – Samira. Sie ist Mitglied eines Salafisten-Vereins, dennoch versucht er Kontakt zu ihr aufzunehmen. Jakob lernt so ihren Bruder Adil kennen, der mit den Kriegern des "Islamischen Staats" sympathisiert. Obwohl für ihn zunächst undenkbar, fühlt auch Jakob sich angezogen von dem Gedankengut und der Lebensgemeinschaft der Salafisten. Jakob radikalisiert sich, bricht alle alten Kontakte ab und konvertiert. Aber will er wirklich mit Adil nach Syrien ziehen? Interner Link: Zur Rezension des Buches auf bpb.de Dschihad Online Morton Rhue, Ravensburger Verlag 2017, 256 S., 7,99 Euro Wie geraten Jugendliche unter den Einfluss radikaler Islamisten? Der 16-jährige Khalil kann nichts mit den hasserfüllten Onlinevideos anfangen, die sein Bruder Amir ständig im Internet anschaut. Doch Amir will Khalil von "der Sache" überzeugen. Ein Buch des Autors von "Die Welle". Dazu sind Materialien zur Unterrichtspraxis erhältlich, hrsg. von Birgitta Reddig-Korn. Papa, was ist ein Terrorist? Tahar Ben Jelloun, Piper Verlag 2016, 128 S., 9,99 Euro Der Pariser Autor Tahar Ben Jelloun beantwortet in verständlichen, einprägsamen Worten Fragen über islamistischen Terrorismus. Er erklärt die Rolle der Religion, analysiert die Bedeutung der Propaganda im Internet und beschreibt die Motive der Täter. Angst ist unvermeidlich, stellt er fest, aber der Angriff auf unsere Lebensweise dürfe unsere Kultur der Vernunft und gegenseitigen Akzeptanz nicht erschüttern. Die französische Originalausgabe "Le Terrorisme expliqué à nos enfants" eignet sich für den Französischunterricht der Oberstufe. Zwei Brüder Mahir Guven, Aufbau Verlag 2019, 282 S., 20,00 Euro Der große Bruder fährt mit seinem Taxi durch die Straßen von Paris, der kleine Bruder arbeitet als Assistenzarzt in einer Klinik. Während der Große in die Fußstapfen des Vaters tritt, taucht der Kleine eines Tages in Syrien ab und schließt sich Dschihadisten an. Bis er plötzlich, nach Jahren des Schweigens, wieder vor der Tür steht. Wo fängt Radikalisierung an, wo hört Bruderliebe auf? Der Roman geht der Frage nach, warum sich junge Menschen einer Ideologie unterwerfen. Externer Link: Zu einem Beitrag über das Buch auf deutschlandfunkkultur.de Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad Åsne Seierstad, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2018, 526 S., 4,50 Euro Warum beschließen junge, im Westen sozialisierte Menschen, in den Dschihad zu ziehen? Die Autorin Åsne Seierstad erzählt die Geschichte zweier Schwestern aus Norwegen, die – zur Überraschung ihres Umfeldes – eines Tages von zu Hause ausreißen, um nach Syrien zu gehen und dort für den IS zu kämpfen. Interner Link: Zum Buch auf bpb.de Interner Link: Zum Podcast zum Buch auf bpb.de Interner Link: Zum Interview mit der Autorin auf bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 2. Erklärvideos Hier werden einige Erklärvideos vorgestellt, die sich gut für den Einsatz im Unterricht eignen. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Begriffswelten IslamBundeszentrale für politische Bildung, 2016 Interner Link: Radikalisierung von MuslimenBundeszentrale für politische Bildung, 2017 Interner Link: Was ist Salafismus?Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013 Begriffswelten Islam Je 6 – 8 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2016 Die Youtuber LeFloid, Hatice Schmidt und MrWissen2Go setzen sich in der bpb-Produktion in animierten Kurzfilmen mit Begriffen des Islams wie "Umma", "Dschahiliyya" oder "Bidʿa" auseinander und besuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Externer Link: Zu den Videos auf youtube.com Radikalisierung von Muslimen 19 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Viele der islamistischen Attentäter von Paris und Brüssel sind in Frankreich und Belgien aufgewachsen und haben sich dort radikalisiert. Auch in Deutschland radikalisieren sich junge Menschen. Für die Gesellschaft ist das eine enorme Herausforderung. Wer radikalisiert sich, und warum? Ist das vergleichbar mit anderen Extremismen? Und welche Rolle spielt dabei der Islam? Interner Link: Zum Video auf bpb.de Was ist Salafismus? 12 Minuten, Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013 In dieser Folge der Arte-Sendung "Mit offenen Karten" wird erklärt, was es mit dem fundamentalistischen Ansatz des Salafismus auf sich hat. Darüber hinaus wird die Entwicklung des Salafismus nach den Protesten in Nordafrika ("Arabischer Frühling") untersucht. Interner Link: Zum Video auf bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 3. Videos aus der/für die Präventionspraxis Die folgenden Videos wurden speziell für die Präventionsarbeit mit Jugendlichen erstellt oder sie sind in Präventionsprojekten entstanden. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Der Nahostkonflikt im Unterrichtufuq.de, 2022 Interner Link: Filmreihe zur Prävention von Muslimfeindlichkeit und für ein solidarisches Miteinander an GrundschulenZEOK e. V., 2022 Interner Link: Jamal al-Khatib X NISATurn und bpb, 2017 und 2019 Interner Link: Radikalisierung hat kein GeschlechtBayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Interner Link: Reflect Your Pastendemol und bpb, 2019 Interner Link: RISE: Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen ExtremismusRISE, 2020 Interner Link: Say My NameKooperative Berlin und bpb, 2019 und 2020 Interner Link: Tipps für ExtremismuspräventionRedaktion werkstatt.bpb.de, 2022 Der Nahostkonflikt im Unterricht 13 Minuten, ufuq.de, 2022 Wie kann man den Nahostkonflikt erfolgreich im Unterricht thematisieren? Darüber spricht Mehmet Can im "ufuq Couch Talk". Er ist Lehrer an einer Berliner Schule und hat gemeinsam mit Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern eine Reise nach Israel und Palästina unternommen. Außerdem hat er eine "Jerusalem AG" ins Leben gerufen und einen Comic zum Thema herausgebracht. Im Gespräch mit Sakina Abushi von ufuq.de erzählt er von seinen Erfahrungen und gibt Tipps für die Praxis. Externer Link: Zum Video auf ufuq.de Filmreihe zur Prävention von Muslimfeindlichkeit und für ein solidarisches Miteinander an Grundschulen 3 x 2–3 Minuten, ZEOK e. V., 2022 Die Filmreihe für die Grundschule bietet einen kindgerechten Einstieg in das Thema Muslimfeindlichkeit. Der Verein ZEOK hat drei kurze Animationsfilme erstellt, die Impulse geben, um mit Kindern über Identität, Vielfalt, Vorurteile und Diskriminierung zu sprechen. Die begleitende Handreichung enthält Tipps und Materialhinweise für die Auseinandersetzung mit diesen Themen in Schule oder Hort. Externer Link: Zur Videoreihe auf zeok.de Jamal al-Khatib X NISA Turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention und bpb, 2017 und 2019 Das Internet spielt eine zentrale Rolle dabei, dass Jugendliche mit religiös begründeten extremistischen Inhalten in Berührung kommen. Vor diesem Hintergrund versucht das Projekt, alternative Narrative zu dschihadistischer Propaganda zu vermitteln. Hier erfahren Sie mehr über die Hintergründe, können die Projektvideos anschauen und Unterrichtsmaterialien herunterladen. Interner Link: Zum Video auf bpb.de Radikalisierung hat kein Geschlecht 16 x 11–18 Minuten, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Wie hängen Geschlecht und Radikalisierung zusammen? Wie beeinflussen Geschlechterklischees die Wahrnehmung von Radikalisierung? Und wie geht geschlechtersensible Präventionsarbeit? Die Videoreihe erklärt Begriffe, thematisiert Vorurteile und beleuchtet praktische Präventionsansätze in Bezug auf Gender und Extremismus. Die Inhalte stehen auch als Audiodateien oder Transkripte zur Verfügung. Externer Link: Zur Videoreihe auf stmas.bayern.de Reflect Your Past 3 x 23 – 27 Minuten, endemol und bpb, 2019 Die Webvideoreihe "Reflect Your Past" veranschaulicht Radikalisierungsprozesse anhand von Lebensgeschichten. Prominente Youtuberinnen treffen Aussteigerinnen und Aussteiger aus verschiedenen extremistischen Strömungen. Dazu gehört auch Dominic Schmitz, der von seinem Weg in den Salafismus und seinem Ausstieg berichtet. Die drei Roadtrip-Videos werden durch weitere Videos (Diskussionsrunde, Reaktion auf Kommentare und MrWissen2go-Video) ergänzt. Zur Videoreihe gibt es Begleitmaterialien: Hintergrundtexte zu den behandelten Themen können dabei unterstützen, die Videos einzuordnen und sie für pädagogische Settings einzusetzen. Interner Link: Zur Videoreihe auf bpb.de RISE: Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus 6 x 8 – 14 Minuten, RISE, 2020 Wie können Jugendliche gegen extremistische Ansprachen gestärkt werden? Im Projekt RISE des JFF – Institut für Medienpädagogik antworten Jugendliche auf diese Frage mit eigenen Medienprodukten. Die Filme werden durch pädagogische Materialien gerahmt und Fachkräften für ihre Arbeit zur Verfügung gestellt. Aktuell sind in der Mediathek des JFF sechs Filme online. Externer Link: Zu den Videos auf rise-jugendkultur.de Say My Name 15 x 5 – 25 Minuten, Kooperative Berlin und bpb, 2019 und 2020 Das Webvideoprojekt "Say My Name" richtet sich an junge Frauen und behandelt die Themenkomplexe Zusammenleben, Integration und Identifikation. "Say My Name" arbeitet mit jungen kreativen Frauen (z. B. Youtuberinnen) zusammen, die sich gegen alle Formen von Extremismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Hassrede einsetzen. Interner Link: Zum Webvideoprojekt auf bpb.de Tipps für Extremismusprävention 4 Minuten, Redaktion werkstatt.bpb.de, 2022 Was können Lehrkräfte tun, damit Schülerinnen und Schüler nicht auf ideologische Mobilmachung im Internet hereinfallen? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Folge des Formats "Bildungshacks". Moderatorin Filli Montag spricht mit Islamwissenschaftler Götz Nordbruch über Chancen und Möglichkeiten der Präventionsarbeit im Netz. Interner Link: Zum Video auf bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 4. Sonstige Videos und Filme Die meisten der folgenden Filme wurden für Fernsehen oder Kino erstellt, eignen sich jedoch auch gut für den Einsatz im Unterricht. Teilweise sind begleitende Unterrichtsmaterialien verfügbar. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Der Himmel wird wartenWillow Films, 2016 Interner Link: GrenzgängerMedienprojekt Wuppertal, 2019 Interner Link: Leonora: Einmal IS-Terror und zurückARD: Video/Audio, 2022 Interner Link: Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlorNDR, 2019 Interner Link: Mein Enkel, der mutmaßliche IS-Terrorist: Eine Oma auf Spurensuche in SyrienProSieben: Das Thema, 2022 Interner Link: Tracing AddaiFilmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 Interner Link: Verlorene Söhne – IS-Terror in deutschen FamilienZDF, 2016 Interner Link: Von der Terrorgruppe zurück in ein normales Leben Bayerischer Rundfunk, 2020 Der Himmel wird warten 105 Minuten, UGC, Willow Films, 2016 Der prämierte französische Spielfilm thematisiert Gründe und Wege der Radikalisierung. Die Geschichten der jugendlichen Protagonistinnen Mélanie und Sonia beschreiben eine Entwicklung in entgegengesetzte Richtungen: den Weg von der Normalität in die Radikalisierung und umgekehrt. Ihre Eltern scheinen hilflos zu sein, weil ihre Kinder sich radikalisiert haben und in Syrien für den IS kämpfen wollen. Der Film ist kostenfrei auf bpb.de verfügbar. Interner Link: Zum Spielfilm auf bpb.de Begleitend zu dem Film gibt es in einem Online-Spezial Unterrichtsmaterialien, eine Filmbesprechung, themenbezogene Hintergrundtexte sowie ein Interview mit einem Präventionsexperten. Interner Link: Zu den Arbeitsmaterialien auf bpb.de Grenzgänger 5 Kurzfilme, insgesamt 76 Minuten, Medienprojekt Wuppertal, 2019 Das Medienprojekt Wuppertal hat eine Reihe von Kurzfilmen zum Thema Religiös begründeter Extremismus bei Jugendlichen veröffentlicht. Die Filme sind gegen Gebühr zu kaufen, auszuleihen oder zu streamen und können dann z. B. im Unterricht eingesetzt werden. Die Filme beinhalten Geschichten über Radikalisierungsprozesse, Interviews mit einer Expertin und einem Experten und Gespräche mit Jugendlichen über ihre Bezüge zu Religion und zu Extremismus. Externer Link: Zu den Kurzfilmen auf medienprojekt-wuppertal.de Leonora: Einmal IS-Terror und zurück 30–40 Minuten, ARD: Video/Audio, 2022 Mit 15 Jahren schloss sich Leonora M. der Terrororganisation "Islamischer Staat" in Syrien an und lebte dort sieben Jahre lang mit einem Dschihadisten zusammen. Die Reportage erzählt von den Erlebnissen der jungen Frau beim "IS" und dem jahrelangen Kampf ihres Vaters, seine Tochter zurückzuholen. Wie ist Leonora die Rückkehr gelungen, wie funktioniert ein Neuanfang in Deutschland? Die Dokumentation ist als Videoreihe und Podcast verfügbar. Externer Link: Zum Video auf daserste.de Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor 59 Minuten, NDR, 2019 Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten Vater und Tochter Kontakt. Externer Link: Zum Video auf ndr.de Mein Enkel, der mutmaßliche IS-Terrorist: Eine Oma auf Spurensuche in Syrien 5 Teile à 10–20 Minuten, ProSieben: Das Thema, 2022 Der Journalist Thilo Mischke begleitet die Großmutter eines deutschen "IS"-Kämpfers nach Syrien. Sie will dort ihren Enkel wiederfinden. Mischke geht in der Video-Reihe den Fragen nach, wie ein 19-jähriger Deutscher dazu kommt, sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" anzuschließen, und warum Deutschland sich so schwertut, ehemalige Angehörige des "IS" zurückzuholen. Externer Link: Zum Teil 1 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 2 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 3 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 4 auf youtube.com Externer Link: Zum Teil 5 auf youtube.com Tracing Addai 30 Minuten, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 Der animierte Dokumentarfilm zeichnet die letzten Spuren des 21-jährigen Deutschen Addai nach, der sich einer extremistischen Vereinigung anschließt und im Syrienkrieg unter mysteriösen Umständen mutmaßlich ums Leben kommt. Mit seiner dokumentarischen Erzählung und animierten szenischen Bildern rekonstruiert der Film fragmentarisch die letzten Monate des jungen Mannes und lässt Familie und Freunde zu Wort kommen. Pädagogische Begleitmaterialien unterstützen den Einsatz des Films in Lernkontexten. Interner Link: Zum Film und Materialien auf bpb.de Verlorene Söhne – IS-Terror in deutschen Familien 29 Minuten, ZDF, 2016 Warum schließen sich junge Deutsche islamistischen und terroristischen Gruppierungen an? Die Reportage 37 Grad begleitet Joachim G., dessen Söhne Fabian und Manuel im Oktober 2014 an der syrischen "IS"-Front verschwanden, und stellt einen ehemaligen Salafisten vor, der aus der extremistischen Szene ausgestiegen ist. Externer Link: Zum Video auf zdf.de Von der Terrorgruppe zurück in ein normales Leben 8 Minuten, Bayerischer Rundfunk, 2020 Der Fernsehbeitrag stellt den Fall des Münchners Bilal Fani vor, der im Frühjahr 2014 freiwillig aus Syrien zurückkehrte, wo er mehrere Monate bei einer al-Qaida-nahen Terrorgruppe verbracht hatte. In Deutschland wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung will er nun zurück in ein normales Leben. In einem Interview berichtet er von seiner Radikalisierung, seiner Zeit in Syrien, von seiner Haft und seinem Wunsch, wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Thomas Mücke vom Violence Prevention Network berichtet über seine Einschätzung der Situation von Rückkehrenden. Externer Link: Zum Video auf br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 5. Audiobeiträge und Podcasts Radiobeiträge und Podcasts bieten einen weiteren lebendigen Zugang zu Fakten und Radikalisierungsbiografien. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Bilals Weg in den TerrorNDR Kultur, 2017 Interner Link: Islamische Redewendungen im Alltag: Mehr als Allahu akbarDeutschlandfunk Kultur, 2021 Interner Link: Konversion zum Islam mit Dennis Sadik Kirschbaumufuq.de: Wovon träumst du eigentlich nachts?, 2021 Interner Link: Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlorNDR, 2019 Interner Link: Mädchen und junge Frauen und ihre Rolle im DschihadismusRadiofabrik – Frauenzimmer, 2016 Interner Link: "Muslim" oder "Moslem"? Respekt drückt sich auch in der Benennung ausDeutschlandfunk Kultur, 2021 Interner Link: Neu-Musliminnen auf Instagram: Das Kopftuch lässt sich auch auf fränkische Art binden Deutschlandfunk Kultur, 2021 Interner Link: Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicherhr inforadio, 2019 Interner Link: Was tun gegen antimuslimischen Rassismus im Klassenzimmer?ufuq.de, 2022 Bilals Weg in den Terror 5 x 30 Minuten, NDR Kultur, 2017 Mit 14 Jahren konvertierte Florent aus Hamburg zum Islam und nannte sich fortan Bilal. Mit 17 Jahren zog er für den sogenannten "Islamischen Staat" nach Syrien in den Krieg, und starb dort nach nur zwei Monaten. In der fünfteiligen Radio- und Podcast-Serie kommen Menschen aus Bilals Umfeld zu Wort. Die Geschichte zeigt exemplarisch, wie es dazu kommt, dass deutsche Jugendliche in die salafistische Szene geraten und sogar in den Dschihad ziehen. Interner Link: Zum Podcast auf bpb.de Islamische Redewendungen im Alltag: Mehr als Allahu akbar 8 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2021 Alhamdullilah, Maschallah, Inschallah – arabische Redewendungen sind in migrantisch geprägten deutschen Großstädten inzwischen häufig zu hören. Ihr Ursprung ist islamisch, doch der Beitrag geht der Frage nach, ob im Alltag aus ihnen tatsächlich noch ein religiöses Bekenntnis spricht. Externer Link: Zum Audiobeitrag auf deutschlandfunkkultur.de Konversion zum Islam mit Dennis Sadik Kirschbaum 24 Minuten, ufuq.de: Wovon träumst du eigentlich nachts?, 2021 Dennis Sadik Kirschbaum ist in der DDR geboren und studiert Politik und Philosophie auf Lehramt. Der 31-jährige konvertierte vor einigen Jahren zum Islam. In einer Podcast-Folge berichtet er über seinen ungewöhnlichen Weg als weiße Person zum Islam, der als Rebellion gegen die Familie begann, dann aber zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Religion und schließlich zu einer bewussten Entscheidung wurde. Externer Link: Zur Podcastfolge auf ufuq.de Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor 5 x 30-47 Minuten, NDR, 2019 Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten Vater und Tochter Kontakt. Anders als in der dazugehörigen Externer Link: Doku steht im Podcast vor allem die Recherchearbeit im Fokus. Externer Link: Zum Podcast auf ndr.de Mädchen und junge Frauen und ihre Rolle im Dschihadismus 29 Minuten, Radiofabrik – Frauenzimmer, 2016 Die Verheißungen des "IS" erreichten Mädchen und junge Frauen aus allen Gesellschaftsschichten mit unterschiedlicher Herkunft. Die Expertin Claudia Dantschke berichtet in diesem Beitrag unter anderem darüber, was den "IS" für junge Frauen attraktiv machte, mit welchen Vorstellungen sie nach Syrien oder in den Irak gingen und wie die Rekrutierung erfolgte. Dantschke zeigt Ansätze und Handlungsstrategien auf, um der Radikalisierung junger Frauen entgegenzuwirken. Externer Link: Zum Audiobeitrag auf cba-fro.at "Muslim" oder "Moslem"? Respekt drückt sich auch in der Benennung aus 6 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2021 Es sind nur zwei Vokale, aber sie machen einen feinen Unterschied: Im Beitrag geht es um Sprachwandel, korrekte Benennung und weshalb diese so eine wichtige Rolle in der Eigen- und Fremdbezeichnung spielt. Zu hören sind Toya Zurkuhlen, Videoproduzentin bei den Datteltätern, einem jungen muslimischen Kollektiv, Mira Sievers, Junior-Professorin für Islamische Theologie und Rauf Ceylan, Religionssoziologe. Externer Link: Zum Audiobeitrag auf deutschlandfunkkultur.de Neu-Musliminnen auf Instagram: Das Kopftuch lässt sich auch auf fränkische Art binden 8 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2021 Unter Namen wie "Hijabi on Tinder" präsentieren sich junge Frauen auf Instagram, die zum Islam konvertiert sind. Sie sind selbstbewusst und wehren sich gegen Ablehnung und Vorurteile. Warum setzen sich die Frauen dem aus? Und wieso suchen sie so bewusst die Öffentlichkeit? Der Radiobeitrag erzählt die Geschichten dreier junger Aktivistinnen und berichtet von ihrem Wunsch, gehört zu werden. Externer Link: Zum Audiobeitrag auf deutschlandfunkkultur.de Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicher 25 Minuten, hr inforadio, 2019 Wie groß ist die Zahl der Jugendlichen, die sich für eine radikale Auslegung des Islams begeistern? Was weiß man über ihre Motive? Und was kann eine Gesellschaft dem entgegensetzen? Diese Fragen beantwortet der Podcast von hr info. Zu Wort kommen unter anderem Religionslehrerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, Psychologe Ahmad Mansour, Wissenschaftler Andreas Zick sowie Janusz Biene vom Projekt "PRO Prävention". Externer Link: Zum Audiobeitrag auf hr-inforadio.de Was tun gegen antimuslimischen Rassismus im Klassenzimmer? 28 Minuten, ufuq.de, 2022 Wie zeigt sich antimuslimischer Rassismus in der Schule? Welche Handlungsoptionen gibt es für Lehrkräfte auf individueller sowie Schulen auf struktureller Ebene? Diese Fragen beantwortet Politikwissenschaftlerin Fatima El Sayed im ufuq.de-Webtalk. Sie stellt Bezüge zu ihrem aktuellen Forschungsprojekt her und verdeutlicht, dass es aus ihrer Sicht ein stärkeres Einbeziehen zivilgesellschaftlicher Akteure in den Lernraum Schule braucht. Externer Link: Zum Webtalk-Mitschnitt auf ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 6. Onlinespiele und andere Onlineressourcen Einige Anbieter haben Onlinespiele zum Thema Radikalisierung entwickelt, in denen man in verschiedenen Rollen unterschiedliche Perspektiven auf das Thema kennenlernen kann. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Extremismus.info/DECOUNT – Onlinespiel, Film und pädagogisches Material zu Radikalisierungsprozessen Interner Link: "Hidden Codes" – Mobile Game über Radikalisierung im digitalen Zeitalter Interner Link: PRECOBIAS – Online-Kurs über kognitive Verzerrungen bei Radikalisierung Interner Link: Rollenspiel: Radikalisiert – was tun? Interner Link: Website: Die Tränen der Dawa Interner Link: Wer? Wie? Was? – Das Quiz zu extremistischen Narrativen und wie du auf sie reagieren kannst! Extremismus.info/DECOUNT – Onlinespiel, Film und pädagogisches Material zu Radikalisierungsprozessen Extremismus.info bietet Informationen und Materialien zum Thema Radikalisierung und Extremismusprävention. Die Website präsentiert ein Spiel, in dem man Radikalisierungsverläufe nachspielen kann, und sie enthält eine Anleitung für den Einsatz des Spiels in Jugendzentren oder in der Schule. Ein Kurzfilm zum Thema Vorurteile wurde ebenfalls für pädagogische Zwecke aufbereitet. Eine Materialiensammlung bietet Links zu Videos und PDFs zum Thema Extremismus. Entstanden ist die Website im Rahmen des zweijährigen österreichischen EU-Projekts DECOUNT unter Mitarbeit zahlreicher staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure. Externer Link: Zur Webseite auf www.extremismus.info "Hidden Codes" – Mobile Game über Radikalisierung im digitalen Zeitalter Bildungsstätte Anne Frank, 2021 "Hidden Codes" ist ein Mobile Game, das junge Menschen für Anzeichen von rechtsextremer und islamistischer Radikalisierung sensibilisieren soll. In einer simulierten Social Media-Umgebung chatten und interagieren die Spielerinnen und Spieler mit Jugendlichen aus dem Game. Die Spielenden sollen dazu befähigt werden, problematische Inhalte zu erkennen und kompetent darauf zu reagieren. Die Strategien radikaler Gruppen, aber auch politische Codes und Verschwörungsmythen werden thematisiert. Externer Link: Zum kostenfreien Spiel auf hidden-codes.de Externer Link: Zum Gespräch mit Projektleiterin Deborah Schnabel auf deutschlandfunknova.de PRECOBIAS – Online-Kurs über kognitive Verzerrungen bei Radikalisierung Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), 2022 Das Projekt PRECOBIAS will die digitale Resilienz und die Fähigkeiten zum kritischen Denken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärken – und sie so vor Radikalisierung schützen. Ziel ist es, Jugendliche für die Gefahren extremistischer Inhalte und dahinterliegender Mechanismen zu sensibilisieren. In einem 12-stündigen Online-Kurs befassen die Teilnehmenden sich mit Radikalisierungsprozessen sowie mit kognitiven Verzerrungen, die durch extremistische Online-Inhalte ausgelöst werden können. Das Projekt stellt zudem Toolkits für Fachkräfte aus Schule und Sozialarbeit zur Verfügung. Externer Link: Zur Projektwebseite und zum kostenfreien Online-Kurs auf precobias.eu/de Externer Link: Zur Informationsseite der LMU München auf ifkw.uni-muenchen.de Rollenspiel: Radikalisiert – was tun? Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales Eine Lehrerin merkt, dass sich ein Schüler radikalisiert. Eine Mutter/ein Vater stellt fest, dass die Tochter Salafistin geworden ist. Wie kann man die Jugendlichen schützen? In Comic-Videos und Podcasts kann man in verschiedene Rollen schlüpfen und selbst entscheiden, wie die Storys sich entwickeln. Das Spiel wurde entwickelt von "Antworten auf Salafismus. Bayerns Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung". Externer Link: Zum Rollenspiel auf antworten-auf-salafismus.de Website: Die Tränen der Dawa Violence Prevention Network e.  V. Auf der Website wird die Geschichte der beiden Freunde Daniel und Toufik erzählt – mit Text, Fotos und Videos ansprechend und niedrigschwellig gestaltet. Beide Jugendliche sind gläubige Muslime. Daniel nimmt zunehmend radikalere Ansichten an und wird von einer radikalen Gruppe immer stärker beeinflusst – bis er sogar nach Syrien zieht, um sich dem vermeintlichen Befreiungskrieg des sogenannten Islamischen Staates anzuschließen. Beide Freunde entfernen sich immer mehr voneinander. Daniel kehrt schließlich desillusioniert und psychisch schwer angeschlagen zurück und wird verhaftet. Externer Link: Zur Webseite auf www.traenen-der-dawa.de Wer? Wie? Was? – Das Quiz zu extremistischen Narrativen und wie du auf sie reagieren kannst! JFF – Institut für Medienpädagogik, 2022 Im Online-Quiz können Jugendliche sich mit extremistischen und populistischen Narrativen auseinandersetzen. Sie müssen erraten, welche Aussagen von welchen Gruppen oder Personen stammen. Zur Auswahl stehen Aussagen von rechtsextremen, rechtspopulistischen und islamistischen Gruppierungen und Personen. Beim Spielen wird deutlich, welche Aussagen in den Narrativen stecken, wie ähnlich die verschiedenen Gruppierungen und Personen manchmal denken und was man den Narrativen entgegensetzen kann. Externer Link: Zum Online-Quiz auf rise-jugendkultur.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 7. Spiele und Kartensets Spiele mit Karten aus Karton lassen sich gut im Unterricht und bei Fortbildungen einsetzen. Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den Titel der Materialien klicken. Interner Link: Antidiskriminierung, Rassismuskritik und Diversität. Reflexionskarten für die PraxisBeltz Juventa, 2019 Interner Link: Der Islam – Das interaktive WissensspielBeltz Verlag, 2017 Interner Link: STOP-OK! Ein ModerationsspielInitiative Gesicht zeigen Antidiskriminierung, Rassismuskritik und Diversität. Reflexionskarten für die Praxis Beltz Juventa 2019, 29,95 Euro Wie viele Angriffe gab es 2017 auf Musliminnen / Muslime und muslimische Einrichtungen? Was verbirgt sich hinter dem Begriff Antiziganismus? Auf 105 Karten werden Rassismus, Diskriminierung und Diversität thematisiert. Die Karten sind dafür geeignet, mit Menschen ab 14 Jahren über diese Themen ins Gespräch zu kommen. Sie helfen, Ungerechtigkeiten und Dis­kriminierungen angemessen zu thematisieren und tragen zur (Selbst-)Reflexion bei. Externer Link: Zum Spiel auf beltz.de Der Islam – Das interaktive Wissensspiel Beltz Verlag 2017, 39,95 Euro Dieses Spiel fördert Wissen und Austausch zum Thema Islam und Muslime in Deutschland. Die Teilnehmenden stellen zentrale Begriffe pantomimisch, zeichnerisch oder mündlich dar – die anderen müssen den Begriff erraten. Dabei geht es um Begriffe wie "Kopftuch" oder "Halal" und Fragen wie "Warum feiern Muslime das Opferfest?". Für die Spielleitung gibt es zu jedem Begriff das notwendige Faktenwissen. Stichwortkarten helfen, das neue Wissen zu sichern und das Booklet unterstützt bei der Moderation. Das Spiel ermöglicht einen informativen und spielerischen Einstieg in das Thema (ab Klasse 7). Externer Link: Zum Spiel auf beltz.de STOP-OK! Ein Moderationsspiel Initiative Gesicht zeigen, 10 Euro In dem Moderationsspiel STOP-OK! geht es darum, gemeinsam mit einer Gruppe biografische Wendepunkte in Radikalisierungsverläufen zu erkennen und alternative Handlungsoptionen zu entwickeln. Im Zentrum des Spiels steht der (inter-)aktive Austausch von Einschätzungen, Haltungen und Lösungsideen. Das Spiel enthält sieben fiktive Fallbeispiele von Radikalisierungsverläufen junger Menschen aus den Bereichen Islamismus und Rechtsextremismus. Bunte Spielelemente helfen, Prozesse und Ergebnisse anschaulich zu präsentieren. Das Spiel eignet sich für Fortbildungen von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, insbesondere Lehrkräften, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und Stadtteilmüttern. Externer Link: Zum Spiel auf gesichtzeigen.de Bei der Initiative "Gesicht zeigen – für ein weltoffenes Deutschland" sind weitere Spiele zu den Themenfeldern Demokratie und Toleranz zu finden. Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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"2021-06-02T00:00:00"
"2023-08-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/334263/medien-fuer-den-unterricht/
Romane und Sachbücher, Erklärvideos, Dokumentationen und Spielfilme sowie Podcasts und Online-Spiele. Viele Medien sind didaktisch aufbereitet mit begleitenden Unterrichtsmaterialien.
[ "Medien für den Unterricht", "Islamismus", "Salafismus", "religiös begründeter Extremismus", "Unterrichtsmaterial", "Pädagogische Praxis", "Radikalisierungsprävention" ]
29,916
Anteil Smart-TVs an neuen Geräten | Medienpolitik | bpb.de
Auch wenn Internetfernsehen am TV-Gerät noch nicht flächendeckend in den Wohnzimmern Einzug gehalten hat, dürfte sich dies in naher Zukunft ändern, da Fernsehapparate zunehmend standardmäßig als Smart-TV-Geräte ausgeliefert werden. Während 2010 der Anteil von Smart-TV-Geräten unter den verkauften Fernsehgeräten in Deutschland bei nur 5 % lag, stieg die Zahl ein Jahr später bereits auf 23 % und im Jahr 2015 waren es mehr als die Hälfte, nämlich 60 %. Quelle / weitere Informationen: Dossier-Beitrag Interner Link: Claudia Gerhards: Besser Fernsehen – mit dem Internet?
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-08-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/190447/anteil-smart-tvs-an-neuen-geraeten/
Das Internetfernsehen am TV-Gerät ist noch nicht flächendeckend verbreitet. Aber die Fernsehapparate werden zunehmend standardmäßig als Smart-TV ausgeliefert.
[ "Smart tv" ]
29,917
Arbeit | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de
Interner Link: Die Welt der Erwerbsarbeit prägt unsere Gesellschaft in struktureller wie normativer Hinsicht. Die Zahl der Erwerbstätigen erreichte bis zur pandemischen Krise von Jahr zu Jahr neue Höchstwerte . Das strukturelle Gewicht der Erwerbsarbeit hat somit zugenommen. Immer mehr Menschen sind am Erwerbsleben beteiligt, in sehr unterschiedlichen Formen und vertraglichen Bindungen sowie in differenzierten sozialen und beruflichen Lagen. Hinzu kommt der normative Aspekt, also die Bedeutung der Erwerbsarbeit als Sinnstifterin und als soziale Rolle und Position. Vieles spricht dafür, dass die Vorstellung von einem geglückten Leben noch niemals so eng mit einer erfolgreichen und sinnerfüllenden Arbeit verknüpft war, wie das heute der Fall ist. Die Arbeitsgesellschaft, von der sich weite Teile der Sozialwissenschaften schon in den 1980er Jahren hatten verabschieden wollen (vgl. Dahrendorf 1980; Offe 1984; Rifkin 1996), ist zu Beginn der 2020er Jahre vitaler und präsenter denn je. Ein Ende der Erwerbsarbeit ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Beteiligung an Erwerbsarbeit steht im Mittelpunkt der Lebensführung und markiert soziale Statuspositionen. Das gilt für Stadt und Land, für Karriere und Mobilität, im Home-Office oder im Betrieb. Bei genauerem Hinsehen werden in und durch Erwerbsarbeit Spannungsverhältnisse sichtbar, die zugleich wesentliche Momente ihrer Veränderung sind: So entfaltet die Erwerbsarbeit über die Rolle des Berufs und der damit verknüpften Ausbildungswege erhebliche kohäsive Kräfte (vgl. Castel 2011; Sennett 2012), aber sie ist auch ein wesentlicher Faktor gesellschaftlicher Ungleichheit. Erwerbsarbeit stiftet Zusammenhalt, aber sie markiert ebenso soziale und kulturelle Trennungen. An Erwerbsarbeit entzünden sich nach wie vor zahlreiche gesellschaftliche Konflikte. Doch sie dient zugleich als Ankerpunkt von Sicherheit und sozialen Rechten, denn der moderne Sozialstaat bzw. Sozialversicherungsstaat ist in hohem Maße auf die Erwerbsarbeit bzw. auf die Partizipation am Erwerbsleben ausgerichtet. Schließlich bleibt die Erwerbsarbeit in ihrer betrieblichen Gestalt mit Blick auf die tarifliche Gestaltung der Arbeit und auch bezüglich der Mitbestimmung ein Lernort demokratischer Praktiken. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass Betriebe immer auch Orte von Herrschaft sind, die strukturell auf ungleichen Machtverhältnissen (vgl. Vogel 2015) basiert. Betriebe und Behörden sind jedenfalls mehr als nur Stätten, an denen Arbeitsleistungen erbracht werden. Wenn daher die Rede ist von der Zukunft der Arbeit und den damit verbundenen Transformationen, welche die Erwerbsarbeit durchläuft, dann muss in den oben skizzierten Spannungsverhältnissen gedacht werden. Dimensionen der Transformation der Arbeit Was sind nun die entscheidenden Transformationen, mit denen die Arbeitswelt und alle, die an ihr in unterschiedlichen Formen teilhaben, konfrontiert sind bzw. mit denen sie sich auseinandersetzen müssen? Eine prominente Formel benennt die sogenannten vier D`s (vgl. Demary u.a. 2021; Regierungsforschung.de 2022), um die Vielzahl an Veränderungen zu bündeln. Was verbirgt sich hinter dieser Formel? In der Sphäre der Erwerbsarbeit formt sich erstens die technische Zukunft unserer Gesellschaft aus – das Stichwort hierfür lautet "Digitalisierung". An der Gestaltung der Arbeitswelt hängt zweitens das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation unserer Wirtschaftsweise – das entsprechende Stichwort ist "Dekarbonisierung". Die Zukunft des Arbeitens ist drittens zweifelsohne eine Generationenfrage: Wer trägt die Arbeitswelt von morgen? Welche Ansprüche und Erwartungen werden an die Arbeitswelt von morgen gerichtet? - Fragen der Zuwanderung spielen hier ebenso eine Rolle wie die Frage des beruflichen Nachwuchses in zahlreichen Branchen, vom Handwerk bis zur öffentlichen Verwaltung. Auch die Alterung der Bevölkerung kommt ins Spiel, ebenso wie die Tatsache, dass in und aus manchen Regionen und Quartieren die jungen Leute weitgehend verschwunden sind – das Stichwort heißt "Demografie". Schließlich hängt auch die Lebensqualität unserer Gesellschaft davon ab, welchen Wert wir welchen Tätigkeiten beimessen. Die Pandemie lehrt uns neuerlich diese Erfahrung, indem sie "systemrelevante" Arbeit stärker in das Licht der Öffentlichkeit rückt (vgl. Vogel 2022). Daher hat Erwerbsarbeit sehr viel mit Gemeinwohl und Gemeinsinn zu tun – das vierte D-Stichwort ist folglich "Demokratie". Die skizzierten Trends greifen ineinander, verstärken oder blockieren sich. Sie haben jeweils für sich das Potential für handfeste Krisen (Arbeitsplatzverluste, soziale Abstiege, Fachkräftemangel, Delegitimierung der Demokratie), aber sie eröffnen jeweils auch Chancen (vereinfachte und von körperlicher Arbeit entlastete Arbeitsabläufe, Stärkung nachhaltiger Arbeit, verbesserte Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen). In welche Richtung sich Prozesse der Digitalisierung der Arbeit, der Dekarbonisierung der industriellen Fertigung sowie der Energiegewinnung, der demografischen Entwicklung in Stadt und Land sowie der demokratischen Partizipation in der Arbeitswelt entwickeln, ist daher bei weitem nicht ausgemacht. Hier wirken keine unabänderlichen Gesetze oder Mechanismen, sondern all diese Prozesse und Veränderungen sind gestaltbar. Zur Frage der Gestaltbarkeit. Wenn wir über die Transformationen der Erwerbsarbeit sprechen, dann darf in der oben genannten Aufzählung mit Blick auf die vergangenen drei Jahrzehnte der Prozess der Deindustrialisierung nicht fehlen. Gerade die Arbeitswelt im Osten Deutschlands hat sich seit 1989 mit besonderer Dynamik transformiert. Der massive Arbeitsplatzverlust gerade im industriellen Bereich, die Kurzarbeit und die lang anhaltende Arbeitslosigkeit, die bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reichte, dominierten in den 1990er Jahren die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation in Ostdeutschland (vgl. Vogel 1999) (Abb. 2 und 3). Dieser Einschnitt wirkt bis heute nach, zum Teil strukturell, zu einem noch größeren Teil aber mental. Verlusterfahrungen prägen die Nachwendejahre zwischen Mecklenburg und Sachsen, und bis heute ist die oftmals vermisste Wertschätzung gegenüber der in der DDR geleisteten Arbeit eine prägende kollektive Erfahrung, unbeschadet dessen, dass zur Gesamtbilanz der Folgen der deutschen Einigung auch sehr positive gegenläufige Tendenzen gehören. So wurde nach der Wende aufgrund der Deindustrialisierung die Verbesserung der Umweltsituation in der ehemaligen DDR rasch spürbar, und auch der Ausbau und die Modernisierung der Infrastrukturen sowie die Investitionen in die gebaute Umwelt waren nicht zu übersehen. Auch waren im Durchschnitt die materiellen Wohlstandsgewinne seit 1990 erheblich. Dennoch ist der Wegfall industrieller Arbeit, die Zunahme prekärer Beschäftigung und der dauerhafte Verlust von qualifizierten Arbeitsplätzen insbesondere in den ländlichen Räumen im Osten Deutschlands eine prägende Erfahrung. Nachhaltige Effekte hat bis zum heutigen Tag der Wegzug der jüngeren Leute aus ländlichen Räumen. Hierdurch verändern sich jenseits der boomenden Städte wie Leipzig, Jena und Erfurt die Sozialstrukturen vor Ort und auch das soziale Klima erheblich (vgl. Neu/Vogel 2020). Dennoch zeigt die Abwägung der positiven und negativen Folgen dieser Transformationsprozesse in Ostdeutschland, dass eindeutige Schlussfolgerungen ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit hervorbringen. Die grundlegende und nachhaltige Transformation der Arbeitswelt nach der Wende 1989 ist weder eine eindeutige Verfalls- noch eine klare Gewinnergeschichte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass neben der Tatsache einer tendenziellen Annäherung der Arbeitslosenquoten in Ost und West (Abbildung 1) nun in Ostdeutschland nach drei Jahrzehnten wirtschaftlichen Umbruchs offensichtlich die Deindustrialisierung von einer Reindustrialisierung abgelöst wird (Abbildung 2). Das gilt zum einem mit Blick auf sogenannte "Leuchttumprojekte" wie Tesla in Grünheide oder Infineon in Magdeburg. Aber es gilt auch für Prozesse der Industrialisierung ländlicher Räume, etwa im Zuge des Ausbaus von Logistikinfrastrukturen oder der forcierten Energiewende. Transformationsdynamiken und -notwendigkeiten der Arbeit Zwar können verschiedene Entwicklungsrichtungen der Arbeitswelt unterschieden werden – dennoch ist klar, dass die Arbeitswelt in ihrer heutigen Form und Gestalt nur noch begrenzte Zukunftsfähigkeit besitzt, ja besitzen darf, sollen nicht im globalen Maßstab die Lebensgrundlagen infrage gestellt werden. Es sind Transformationszwänge entstanden, die gestaltet werden müssen, gleichzeitig aber auch eine innere Kraft freisetzen, die die politische Steuerung an ihr Ende bringen kann. Die sozialökologische bzw. grüne Transformation unserer Arbeits- und Lebensweise sorgt jedenfalls für einen erheblichen, in seinen Konsequenzen zu weiten Teilen noch gar nicht erfassten Veränderungsdruck in allen Bereichen der Arbeitswelt. Dekarbonisierung ist eben mehr als nur technologischer Wandel. Klimagerechtes Wirtschaften erfordert mehr als eine ökonomische Wende zur Nachhaltigkeit, sondern greift tief in Produktionsabläufe ein und verändert grundlegend die Wertigkeit und Zukunft von Berufen. Exemplarisch spiegeln sich diese noch kommenden Veränderungen schon heute in Gesellschaftsbildern, die wir empirisch im Rahmen einer Studie mit Betriebsrätinnen und Betriebsräten sowie mit betrieblichen Vertrauensleuten im Organisationsbereich der IG Metall erheben konnten (vgl. Kuhlmann u.a. 2022). Von forschen Fortschrittsphantasien ist in dieser Studie wenig zu spüren, eher von der Sorge, dass im Prozess der grundlegenden Umgestaltung von industriellen Produktionsmodellen Solidarität und sozialer Ausgleich unter die Räder kommen. Die Transformation der Arbeitswelt wird von den Befragten daher als eine Entwicklung betrachtet, in der es Erreichtes zu bewahren gilt und Neues maßvoll gestaltet werden muss. Das klingt nicht nach Klassenkampf, sondern nach Besitzstandswahrung, nach Wohlstandskonflikten und nach Statuskämpfen (vgl. Vogel 2009) in den industriellen Fachkräftemilieus des Maschinen- oder Automobilbaus. Die Sorge vor Veränderung ist groß und die Furcht vor Abstieg sehr präsent. Hier liegt eine wesentliche Quelle des Themas des sozialen Zusammenhalts, das gegenwärtig gerade in der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschaft erheblich an Bedeutung gewinnt. Das Kollektive wird als wesentliche Ressource einer gelingenden Transformation der Arbeitswelt hervorgehoben. Von Singularität und Individualisierung ist in den Gesellschaftsbildern an diesen Orten der Gesellschaft wenig zu spüren. Diesen Befund bestätigen auch Forschungen aus sehr unterschiedlichen regionalen Transformationskonstellationen (vgl. Tullius u.a. 2022). Die Forschung beleuchtet hier konkret zum einen die dynamischen Zentren der automobilen und logistischen Mobilität rund um den Neckar und im Rhein-Main-Gebiet. Der Fachkräftebedarf ist hoch, das Handwerk profitiert vom Wohlstand öffentlicher und privater Hände. Zum anderen werden im Rahmen desselben Projekts alternde Sozialräume in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet in den Blick genommen, die zwischen Pflegebedarf, Gesundheitsdienstleistungen, innovativen Mittelständlern in der Energietechnik und Start-Ups in der IT-Branche changieren. In all den genannten Fällen spielt bemerkenswerterweise nicht mehr die Digitalisierung, also die technologische Weiterentwicklung der Arbeitswelt und die Sorge vor Rationalisierung die zentrale Rolle, die jüngst noch im Mittelpunkt aller Debatten zur Zukunft der Arbeit stand (vgl. Buss u.a. 2022). Zu den treibenden Kräften der Transformation hat sich vielmehr erstens die unübersehbare Notwendigkeit klimagerechten Wirtschaftens entwickelt, die einen fundamentalen Umbau der Industriegesellschaft im 21. Jahrhundert erfordert. Zweitens spielt die bislang kaum beachtete Frage, wer die Arbeitskräfte von morgen sind, welche die Transformation mit Leben füllen, eine immer größere Rolle. Wer und wo sind die Handwerker, die die Solarpanele auf die Hausdächer montieren, die Vermessungstechniker, welche die Verkehrswende buchstäblich auf die Straße bringen, oder die Gesundheitsdienstleister, die eine resiliente Arbeitswelt ermöglichen, in welcher auch die Krisen der Zukunft vorweggedacht werden? Nicht nur scheinen die Schrecken der Digitalisierung als das prognostizierte Ende menschlicher Erwerbsarbeit gebannt. Auch die soziale Frage der Arbeitslosigkeit ist in den Hintergrund getreten, angesichts eines wachsenden Bedarfs an Arbeitskräften (Abb. 3). Das gilt nicht nur hierzulande, sondern spiegelt sich beispielsweise auch in der Diskussion um die "great resignation", also den Rückzug von Arbeitskräften aus klassischen Beschäftigungsfeldern in den USA und Großbritannien (Abb. 4). Alles in allem wird deutlich, dass sich die Voraussetzungen, vor allen Dingen aber auch die Perspektiven des Erwerbstätigseins verändern, wenn digitale Techniken Einzug halten und selbstverständlich werden, wenn ein kohäsives, arbeits- und sozialrechtlich umhegtes Wirtschaftsmodell umgebaut wird und wenn Migration und Fachkräftebedarf den Arbeitsmarkt der Zukunft prägen. Die Transformation der Arbeitswelt greift daher weit über neue Produktionstechnologien, veränderte Absatzmärkte und neue Ausbildungsschwerpunkte hinaus. Diese Entwicklung ist nicht neu und galt schon vor der pandemischen Krise seit dem Frühjahr 2020. Blockade oder Beschleunigung? - Die Folgen der Pandemie für die Transformation der Arbeitswelt Die Pandemie taucht in ihren gesellschaftlichen Folgewirkungen die Arbeitswelt in ein anderes Licht. Als tiefgreifende Gesellschaftskrise, die die Verwundbarkeit unserer Arbeits- und Lebensweise binnen kürzester Zeit schonungslos aufzeigte, hat sie die Qualität der Transformationsbeschleunigung, aber entlang der durch sie ausgelösten Konflikte auch die Kraft der Transformationsblockade. Sie ist jedenfalls weit mehr als nur eine krisenbedingte und konjunkturelle Unterbrechung des wirtschaftlichen und sozialen Alltags in unserer Gesellschaft. Sie greift als globale Krise tiefer. Inwiefern die Pandemie die Transformationen der Arbeitswelt in ihren unterschiedlichen Dimensionen (siehe oben) eher beschleunigt oder blockiert, ist noch nicht hinreichend klar bzw. entschieden. Unstrittig ist nur, dass die Pandemie unsere Aufmerksamkeit für bestimmte Entwicklungen im Arbeitsleben schärft bzw. geschärft hat: Je länger die Pandemie dauert, desto intensiver kehrt die Frage nach Wert und Würde der Arbeit auf die arbeitsgesellschaftliche Tagesordnung zurück, und zwar in doppelter Weise. Einmal als Gerechtigkeitsfrage, indem auch in der Öffentlichkeit sehr viel intensiver über die Frage verhandelt und gestritten wird, was ein gerechter Lohn ist. In den Mittelpunkt tritt nicht nur die Frage, welche Berufe und Tätigkeiten welche Wertschätzung und Anerkennung erhalten, sondern auch, welche monetären und tariflichen Konsequenzen für bestimmte Arbeitsfelder zu ziehen sind, insbesondere für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten. Zum anderen kommt mit der Pandemie die Investitionsfrage auf den Tisch: In welche Bereiche, Branchen und Berufe der Arbeitsgesellschaft müssen wir künftig investieren? Der soziale Charakter der Arbeit wird deutlicher, d.h. Erwerbsarbeit und Beruf haben je nach Branche und Sektor einen spezifischen gesellschaftlichen Wert. So erzeugen bestimmte Branchen und Wirtschaftssektoren Kollektivgüter, von denen alle Mitglieder einer Gesellschaft profitieren. Daher müssen demokratische und sozialstaatlich verfasste Gesellschaften ein Interesse daran haben, dass diese Sektoren und Branchen hinreichend leistungsfähig sind. Diese Leistungsfähigkeit hängt von den Infrastrukturen und dem Personal ab. Der soziale Charakter der Arbeit bzw. des Arbeits- und Berufslebens zeigt sich aber auch an der Betriebsform der Arbeit. Betriebe sind soziale Orte, die weit mehr sind als "nur" Arbeitsorte, an denen spezifische Arbeitsleistungen erbracht werden. Betriebe führen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Laufbahnen, differenzierter beruflicher Profile und Kompetenzen, unterschiedlicher Altersgruppen und sozialkultureller Hintergründe zusammen. Sie bilden Kreuzungspunkte der Arbeitsteilung und der Sozialerfahrung. Betriebe prägen Traditionen und Mentalitäten aus und sie sind der Ansatzpunkt für das Finden gemeinsamer Interessen. Schaut man unter diesem Blickwinkel auf die Arbeitswelt, dann wird deutlich, dass Home-Office und Digitalität gegenläufige Entwicklungen zum Aufbau und zur Gestaltung sozialer Kreuzungspunkte sind. Zusammenhalt – ob sozial oder betrieblich – benötigt jedenfalls Kreuzungspunkte und soziale Orte. Die Pandemie zeigt sehr deutlich auf, dass jede Arbeitserfahrung durch Kontextbedingungen geprägt ist. Ob wir die Gesellschaft als individualisiert oder singularisiert beschreiben, ändert nichts daran, dass Arbeitende immer Teil kollektiver Zusammenhänge sind, die über den Arbeitsort hinausgehen. Auch wenn sie mehr und mehr in ihrem Arbeits- und Berufsleben auf sich selbst zurückgeworfen sind, beispielsweise als Clickworker oder als Leiharbeitskräfte, so sind sehr viele Arbeitende dennoch aktiv in Verein und Nachbarschaft oder in Dorf und Quartier. Zudem sind die allermeisten auch in familiäre und verwandtschaftliche Bezüge eingebunden, also beteiligt an Bindungen, die ihre Haltungen gegenüber Arbeit und Gesellschaft prägen. Die Pandemie lehrt uns die Logik des Kollektiven, also von Gemeinschaftsbezügen, und sie dementiert die Wirkmacht der Logik des Singulären, sprich der Vereinzelung. Transformationskonflikte in der Arbeitswelt Mit Blick auf die Transformationen der Arbeitswelt sind perspektivisch folgende Konfliktfelder erkennbar, die künftig in hohem Maße das Erwerbsleben prägen werden: Das erste Feld greift die langjährige Debatte um die Prekarisierung der Arbeitswelt auf und kontrastiert sie mit dem akuten Fachkräftemangel, der sich durch die demografische Entwicklung noch einmal verschärfen wird (Abb. 5). Das gilt nicht nur hierzulande, sondern insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Abwanderungsgesellschaften, die teils ganze Generationen qualifizierter Arbeitskräfte vor Ort verlieren oder zu verlieren drohen (vgl. Pfeffer-Hoffmann 2021). Das zweite Spannungsfeld ist auf der Ebene der Beschäftigten angesiedelt. Entwickelt sich eine neue Soziallage der "essential workers", d.h. von Arbeitskräften im Bereich wichtiger Infrastruktur-Leistungen,die klassenübergreifend die Pflegekraft und den Oberarzt oder die Lageristen und Lehrkräfte umfasst? Welche Art von "klasseninternen" Spannungen ist hier erwartbar und inwieweit erleichtern oder erschweren diese Differenzen Transformationsprozesse? Schließlich zeichnet sich ein drittes Spannungsfeld ab, das in den Transformationsprozessen der Arbeit eine zentrale Rolle spielen wird: In welchem Verhältnis steht die Digitalisierung der Arbeitswelt zu den Anforderungen des klimagerechten und sozialökologischen Umbaus der Industriegesellschaft? Was ist zu erwarten für die Zukunft der Arbeit? Die Zuspitzung sozialer Ungleichheit durch prekäre Beschäftigung? Eine nachlassende Integrationskraft der Erwerbsarbeit? Oder neue Perspektiven für eine Arbeitswelt, die die Ressourcen für kommende Generationen nicht vernichtet, sondern erhält und wachsen lässt? Vermutlich braucht es genau diese Konflikte als Triebfeder einer neuen, ökologisch geprägten, auf Klima- und Artenschutz orientierten Politik. Es kommt in der künftigen Arbeitsgesellschaft sehr viel stärker auf die Verbindung von Wissensarbeit und Handwerk, von öffentlichen und marktförmigen Dienstleistungen, von privatem Interesse und Gemeinwohl, von generalistischem Denken und regionalen Bezügen an. Denn nach wie vor ist die Erwerbsarbeit ein zentraler gesellschaftlicher Kohäsionsort, von dessen Gestaltung nicht zuletzt die Zukunft von Wohlfahrtsstaat, Gemeinwesen und Demokratie abhängt. Abbildungen Abb. 1: Bundesagentur für Arbeit (BA) (2019) Arbeitslose und Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland im Zeitverlauf. Interner Link: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47242/der-lange-weg-zur-einheit-die-entwicklung-der-arbeitslosigkeit-in-ost-und-westdeutschland/ Abb. 2: Statistisches Bundesamt (Destatis) / Arbeitskreis VGR der Länder / Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) (2022): Strukturwandel nach Entindustrialisierung. Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen. Interner Link: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47137/strukturwandel-nach-entindustrialisierung/ Abb. 3: Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) (2021): DIHK Fachkräftereport 2021. Personalengpässe beeinträchtigen das Wachstum. Externer Link: https://www.dihk.de/de/themen-und-positionen/fachkraefte/beschaeftigung/fachkraeftereport-2021 Abb. 4: Economic Policy Institute (EPI): Hires, quits and layoff rates. In: Job Openings and Labor Turnover Survey (JOLTS). Externer Link: https://www.epi.org/indicators/jolts/ Abb. 5: Statistisches Bundesamt (Destatis) (2020): Altersaufbau der Bevölkerung im Vergleich zu 1990. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/_inhalt.html Quellen / Literatur Buss, Klaus-Peter; Martin Kuhlmann; Marliese Weißmann; Harald Wolf; Birgit Apitzsch (2022): Digitalisierung und Arbeit. Triebkräfte. Arbeitsfolgen. Regulierung. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag Castel, Robert (2011): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg: Hamburger Edition. Dahrendorf, Ralf (1980): Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. Wandlungen in der sozialen Konstruktion des menschlichen Lebens. Merkur 34:749-760. Demary, Vera/ Matthes, Jürgen/ Plünnecke, Axel / Schaefer, Thilo (2021): Gleichzeitig: Wie vier Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern. IW-Studie. Institut der deutschen Wirtschaft Köln Medien GmbH. Externer Link: https://www.iwkoeln.de/studien/wie-vier-disruptionen-die-deutsche-wirtschaft-veraendern-herausforderungen-und-loesungen.html (aufgerufen am 19.04.2022) Kuhlmann, Martin; Milena Prekodravac, Stefan Rüb und Berthold Vogel (2022): Gesellschaftsbilder und betriebliches Engagement. Göttingen (Ms) Neu, Claudia; Vogel, Berthold (2020): Angleichungserwartung und Differenzerfahrung - die Herausforderung des gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Begleitband des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Soziales Europa - Starker Zusammenhalt. Globale Lieferketten - Globale Verantwortung. Neue Arbeitswelt - Menschliche Arbeitswelt. Berlin, S. 129-133. Grimm, Natalie; Kaufhold, Ina; Rüb, Stefan; Vogel, Berthold (2020): Die Praxis des Zusammenhalts in Zeiten gesellschaftlicher Verwundbarkeit. Soziologische Perspektiven auf Arbeit, Haushalt und öffentliche Güter. In: Deitelhoff, Nicole; Groh-Samberg, Olaf; Middell, Matthias (Hrsg.): Gesellschaftlicher Zusammenhalt - Ein interdisziplinärer Dialog. Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 316 - 332. Offe, Claus (1984): Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? In Arbeitsgesellschaft: Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Hrsg. Claus Offe, 13-43. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag. Pfeffer-Hoffmann (Hg.) (2021): EU-Binnenmigration: Auswirkungen auf die Herkunftsländer. Herausforderungen und Potenziale der innereuropäischen Wanderungsdynamiken. Mensch und Buch Verlag. Externer Link: https://minor-kontor.de/eu-binnenmigration-auswirkungen-auf-die-herkunftslaender/ (aufgerufen am 19.04.2022) Rifkin, Jeremy (1996): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert. 2. Aufl. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag. Regierungsforschung.de (2022): Transformation, Politikwandel und die Landtagswahlen 2022. Externer Link: https://regierungsforschung.de/schwerpunkte/transformation-politikwandel-und-die-landtagswahlen-2022/ (aufgerufen am 19.04.2022) Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: Hanser Berlin. Tullius, Knut; Berthold Vogel und Harald Wolf (2021): Mentalitäten des Umbruchs. Wie sich Beschäftigte orientieren und wie sie unter Transformationsbedingungen handeln. Ein Forschungskonzept. SOFI Arbeitspapier / SOFI Working Paper, Nr. 2021-23 Vogel, Berthold (1999): Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft. VSA Hamburg Vogel, Berthold (2015): Die Dynamik der Unverbindlichkeit. Was wir von der Erwerbsarbeit erwarten können. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2015(01):121-132. Buss, Klaus-Peter; Martin Kuhlmann; Marliese Weißmann; Harald Wolf; Birgit Apitzsch (2022): Digitalisierung und Arbeit. Triebkräfte. Arbeitsfolgen. Regulierung. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag Castel, Robert (2011): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg: Hamburger Edition. Dahrendorf, Ralf (1980): Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. Wandlungen in der sozialen Konstruktion des menschlichen Lebens. Merkur 34:749-760. Demary, Vera/ Matthes, Jürgen/ Plünnecke, Axel / Schaefer, Thilo (2021): Gleichzeitig: Wie vier Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern. IW-Studie. Institut der deutschen Wirtschaft Köln Medien GmbH. Externer Link: https://www.iwkoeln.de/studien/wie-vier-disruptionen-die-deutsche-wirtschaft-veraendern-herausforderungen-und-loesungen.html (aufgerufen am 19.04.2022) Kuhlmann, Martin; Milena Prekodravac, Stefan Rüb und Berthold Vogel (2022): Gesellschaftsbilder und betriebliches Engagement. Göttingen (Ms) Neu, Claudia; Vogel, Berthold (2020): Angleichungserwartung und Differenzerfahrung - die Herausforderung des gesellschaftlichen Umbruchs in Ostdeutschland. 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Herausforderungen und Potenziale der innereuropäischen Wanderungsdynamiken. Mensch und Buch Verlag. Externer Link: https://minor-kontor.de/eu-binnenmigration-auswirkungen-auf-die-herkunftslaender/ (aufgerufen am 19.04.2022) Rifkin, Jeremy (1996): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert. 2. Aufl. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag. Regierungsforschung.de (2022): Transformation, Politikwandel und die Landtagswahlen 2022. Externer Link: https://regierungsforschung.de/schwerpunkte/transformation-politikwandel-und-die-landtagswahlen-2022/ (aufgerufen am 19.04.2022) Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: Hanser Berlin. Tullius, Knut; Berthold Vogel und Harald Wolf (2021): Mentalitäten des Umbruchs. Wie sich Beschäftigte orientieren und wie sie unter Transformationsbedingungen handeln. Ein Forschungskonzept. SOFI Arbeitspapier / SOFI Working Paper, Nr. 2021-23 Vogel, Berthold (1999): Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft. VSA Hamburg Vogel, Berthold (2015): Die Dynamik der Unverbindlichkeit. Was wir von der Erwerbsarbeit erwarten können. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2015(01):121-132. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/_inhalt.html Gerhard Heimpold (2010): Zwischen Deindustrialisierung und Reindustrialisierung Die ostdeutsche Industrie – ein Stabilitätsfaktor regionaler Wirtschaftsentwicklung? Externer Link: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/izr/2010/10_11/Inhalt/DL_Heimpold.pdf?__blob=publicationFile&v=2 Externer Link: https://www.springerprofessional.de/automobilwirtschaft/transformation/mobilitaetswandel-bringt-aufschwung-fuer-ostdeutschland/20246332
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"2022-10-17T00:00:00"
"2022-08-25T00:00:00"
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https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/512354/arbeit/
Erwerbsarbeit prägt unsere Gesellschaft in jeder Hinsicht. Erwerbsarbeit hat aber auch eine sinnstiftende Funktion und markiert eine soziale Rolle und Position.
[ "Transformation", "Arbeit", "Erwerbsarbeit", "Arbeitsgesellschaft", "soziale Ungleichheit" ]
29,918
The Rule of Law and the Containment and Power of History after 1918 | 1918-1938-2018: Beginnt ein autoritäres Jahrhundert? | bpb.de
Die Rechtsstaatlichkeit geriet im Ersten Weltkrieg massiv ins Wanken. Politisches Interesse und vermeintlich notwendige militärische Maßnahmen erwiesen sich als weitaus wichtiger als Gesetze und insbesondere das Verfassungsrecht. Die Enttäuschung war sowohl in nationalen als auch internationalen Beziehungen spürbar. Militarismus, Nationalismus und Gewalt standen in feindlichem Widerstand zum Völkerrecht – lange geltendes Gewohnheitsrecht und internationale Verträge wurden unter dem Vorwand "extremer militärischer Gewalt" missachtet. Folglich machte sich unter jenen, die an den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit glaubten, große Enttäuschung breit. Milos Vec stellte im zweiten Panel die Kultur- und Mentalitätsgeschichte mit Blick auf das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und den Glauben an Vertragstreue in den Mittelpunkt und skizzierte die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Dabei kombinierte er Beobachtungen sowohl aus dem nationalen als auch internationalen Bereich: Wie haben Zeitgenossen Bindungen an Rechtsnormen wahrgenommen und wie hat sich diese Wahrnehmung verändert? Kann man nach den enttäuschenden Erfahrungen des 1. Weltkriegs noch an Rechtsnormen und deren Einhaltung und Durchsetzung glauben? In seiner Analyse der Geistesgeschichte des Völkerrechts unterschied Milos Vec zwischen zwei Polen. Einerseits die Problematik, dass sich um 1900 Erwartungen und Hoffnungen auf ein zukunftsreiches Völkerrecht äußerten, die mit den Gräueln des Ersten Weltkriegs enttäuscht wurden - plötzlich galt es die Anwendung neuer erschreckender Technologien auf den Schlachtfeldern im Krieg zu diskutieren und die Verstöße gegen Gesetz und Menschlichkeit zu rechtfertigen, andererseits die Stärkung des "invisible college of international lawyers" – das Verständnis von Internationalem Recht als Profession. Internationale Rechtswanwälte, die auf Grundlage gegenseitigen Vertrauens in einen gemeinsamen normativen Rahmen auch das Verhalten nach 1918 prägten. István Kollai, Assistenzprofessor am Institut für Weltwirtschaft an der Corvinus Universität Budapest, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der gegenwärtigen Stellung Zentral- und Osteuropas im globalen Kontext. Mit Verweis auf seine Arbeit "Ahead of the Byzantine Empire (Instead of Europe): Anti-Western and Western-Sceptic Historical Narratives in the Hungarian Public Discourse" zeigte Kollai, wie sich der ungarische öffentliche Diskurs von einer ehemals pro-westlichen in eine nunmehr westskeptische Richtung entwickelt hat. Westskeptische Einstellungen hätten, so Kollai, in Ungarn und dessen Bevölkerung keine tiefen soziokulturellen Wurzeln – eher im Gegenteil: Sogar unter autoritären Regimen in der Zwischenkriegszeit oder in den kommunistischen Jahrzehnten blieb die pro-westliche Einstellung erhalten und die europäische Gesellschaft als moralischer Imperativ angesehen. Unter ungarischen Meinungsführern, deren wesentliches Ziel es ist die Einstellung der Bürger im Land aufzugreifen, wird dieser moralische Imperativ nun massiv in Frage gestellt. Dabei werden Vergleiche zwischen dem bröckelnden Römischen Reich und der "geschwächten" Europäischen Union angestellt, die unter starkem Wanderungsdruck stehen. Der Blick richtet sich nun demnach eher auf Russland, dem byzantischen Pendant. Von: Lura Juniku
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"2021-06-23T00:00:00"
"2018-11-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/tagung-1918-1938-2018/280292/the-rule-of-law-and-the-containment-and-power-of-history-after-1918/
[ "Rechtsgeschichte", "Erinnerungsgeschichte", "Identitätspolitik", "Geschichtspolitik", "internationales Recht", "Versailler Verträge", "Internationale Friedensverträge" ]
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Möglichkeiten des Völkerrechts zur Vorbeugung, Einhegung und Beilegung innerstaatlicher Konflikte | Kriege und Konflikte | bpb.de
Seit dem Herbst 2020 gibt es in Belarus allwöchentlich friedliche Demonstrationen mit großer Beteiligung der Bevölkerung gegen die massive Fälschung der Präsidentschaftswahlen durch Amtsinhaber Lukaschenko. Die Polizei reagiert mit massiver Gewalt. Zu fragen ist nun, welche Handlungsmöglichkeiten die internationale Staatengemeinschaft auf der Grundlage des Völkerrechts angesichts der Wahlfälschung in Belarus, der massiven Gewalt gegen die Demonstranten und des daraus resultierenden innerstaatlichen Konflikts hat (Binder/Kirchmair 2017). Völkerrecht und innerstaatliche Konflikte Im klassischen Völkerrecht gehörten Wahlen zu den typischen inneren Angelegenheiten der Staaten, in die sich andere Staaten nicht einmischen dürfen. Dies resultiert aus der dem Staat als höchster Organisationsform der menschlichen Gesellschaft zugesprochenen Qualität der Souveränität. Danach entscheidet jeder Staat selbst über seine Rechtsordnung und die Art und Weise der Beteiligung der ihm rechtsunterworfenen Bevölkerung an den staatlichen Funktionen. Auch im modernen Völkerrecht wirkt der Souveränitätsgedanke nach. So verpflichtet sich die UNO in Art. 2(7) ihrer Charta, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzumischen. Zugleich enthält Art. 2(4) eine substanzielle Einschränkung: Staaten dürfen in ihren internationalen Beziehungen weder militärische Gewalt androhen noch anwenden. Allerdings bezieht sich das Gewaltverbot nicht auf das staatliche Handeln innerhalb des eigenen Hoheitsgebiets. Hier besitzt der Staat das Gewaltmonopol, um die öffentliche Ordnung aufrechterhalten zu können. So könnte man meinen, dass die Staatengemeinschaft angesichts der Polizeigewalt in Minsk und anderen belarussischen Städten die Hände gebunden sind, weil dort allein die belarussische Rechtsordnung und nicht das Völkerrecht gilt. Dem ist jedoch nicht so. Denn Belarus hat sich, wie alle anderen Staaten, in einem Netzwerk internationaler Verträge dazu verpflichtet, eine Vielzahl internationaler Normen und Regeln einzuhalten. Dadurch wurde und wird der Bereich der inneren Angelegenheiten – mit Zustimmung der Staaten – Schritt für Schritt eingeschränkt. Die große Bereitschaft der Staaten, immer größere Bereiche ihrer Souveränität aufzugeben, hat mit dem Prinzip der Reziprozität zu tun. Da alle Vertragsstaaten Souveränitätseinbußen akzeptieren, erwachsen daraus für den einzelnen Staat keine Nachteile. Im Gegenteil, die Umsetzung der abgeschlossenen Verträge bringt allen Beteiligten einen Nutzen. So sind Staaten z.B. bereit, Abrüstungsverträgen beizutreten, weil sich durch die regionale bzw. weltweite Reduzierung der Rüstung auch ihre eigene Sicherheit erhöht. Der Menschenrechtsschutz als Ansatzpunkt In Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte bzw. die Verhinderung und Verfolgung von massiven Menschenrechtsverletzungen liegt der Vorteil der Reziprozität nicht so klar auf der Hand. Denn die Begünstigten von Menschenrechtsverträgen sind zunächst nicht die Staaten, sondern die auf seinem Gebiet lebenden Menschen. Deshalb galten die Menschenrechte lange als ausschließlich innere Angelegenheit. In der Tat kann nur der jeweilige Staat diese Rechte in seiner Rechtsordnung verankern, umsetzen und erzwingen. Diesem Verständnis folgend, hätte also die Polizei von Belarus freie Hand. Es stünde in ihrem Belieben, entweder die Demonstranten bei der Ausübung ihres Versammlungsrechts zu respektieren und zu schützen oder sie – falls eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und des Staates von ihnen ausgeht – mit der ganzen Macht des Sicherheitsapparates und des belarussischen Rechts gegen sie vorzugehen, sie einzuschüchtern, festzunehmen und zu bestrafen. Dass die Idee von der Allmacht des Staates der Vergangenheit angehört, hat mit den beispiellosen Menschenrechtsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands (1933-45) zu tun. Spätestens in den 1930er und 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen immer auch eine regionale und internationale Dimension haben. Zu den wichtigsten Auswirkungen der Unterdrückungs- und Gewaltpolitik eines Unrechtsstaates gegen die eigene Bevölkerung gehören Vertreibung und Flucht über Ländergrenzen, innenpolitische Destabilisierung durch Protest und Widerstand bis hin zum Bürgerkrieg sowie nicht selten auch eine aggressive Politik nach außen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewann das Prinzip der Reziprozität auch für den Bereich der Menschenrechte an Relevanz. Danach ist jeder Staat für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz der auf seinem Territorium lebenden Menschen verantwortlich. Wenn sich alle Staaten an diesen Grundsatz halten, verringert sich das Risiko von grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen und gewaltsamen innerstaatlichen Konflikten – und nicht zuletzt die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche monströsen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederholen. Das UN-Menschenrechtsregime Die Menschenrechtslage ist seitdem nicht länger eine innerstaatliche Angelegenheit, auch weil die Sicherung dieser Rechte zwischenstaatliche Kooperation erfordert. Um diese Zusammenarbeit weltweit zu ermöglichen und zu fördern, wurde 1945 die UNO gegründet. Mit der UN-Charta entstand der erste völkerrechtliche Vertrag, der von den Staaten die Einhaltung der Menschenrechte forderte und die Förderung dieser Rechte durch die Weltorganisation als eines ihrer Gründungsprinzipien festschrieb. Die Lehre aus dem Völkermord des Naziregimes war die Erkenntnis, dass Menschenrechtsverbrechen ein Mechanismus von Vorbeugemaßnahmen entgegengestellt werden muss. Dazu war zunächst nötig zu definieren, was unter Menschenrechten zu verstehen ist. 1948 verabschiedete die UN-Generalversammlung die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte". Sie listet politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte auf, die deutlich über die damalige westliche Konzeption hinausgingen, die ursprünglich nur die durch die Französische Revolution geprägten (politischen) Bürgerrechte umfasste. Aufgrund der Uneinigkeit zwischen westlichen, östlichen und Entwicklungsländern konnten sich die UN-Mitgliedsstaaten erst 1966 auf eine detaillierte Kodifizierung der verschiedenen Menschenrechte einigen. Mit dem "Pakt über politische und Bürgerrechte" sowie dem "Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" wurden zwei getrennte Verträge abgeschlossen – u.a. deshalb, weil sich die Umsetzungsmechanismen unterscheiden. So ist der erste Pakt durch die Mitgliedsstaaten sofort umzusetzen, während der zweite entsprechend der wirtschaftlichen Möglichkeiten des jeweiligen Staates anzuwenden ist. Die Entwicklungsländer sollten internationale Unterstützung erhalten, um grundlegende Menschenrechte, wie die auf Bildung und Gesundheit, schrittweise immer besser verwirklichen zu können. Mittlerweile wurden die Pakte durch 12 UN-Menschenrechtsverträge, die sich auf spezielle Rechte (z.B. Verbot der Folter) oder spezielle Gruppen (z.B. Kinder) beziehen, ergänzt und präzisiert. Zur Umsetzung der Pakte und der Verträge über spezielle Menschenrechte wurde ein Mechanismus geschaffen, der die über 160 Unterzeichnerstaaten verpflichtet, in einem Fünfjahres-Rhythmus über die Anwendung der dort aufgelisteten Menschenrechte an einen Expertenausschuss zu berichten. Der Ausschuss diskutiert die Berichte dann in Anwesenheit eines Vertreters des berichtenden Staates, um offene Fragen zu klären, und gibt abschließend Einschätzungen über die Erfolge und Schwächen der Menschenrechtssituation in dem Staat ab. Das Verfahren mündet in (nicht rechtsverbindliche) Empfehlungen zu Verbesserungen und zu Äußerungen, wenn der Ausschuss Grund zu Bedenken hat. Auch können Organisationen der Zivilgesellschaft sog. Schattenberichte an den Ausschuss senden. Das Verfahren ist öffentlich und kann auf der Website der UN nachvollzogen werden. Die Berichtsverfahren erlauben mittlerweile fast einen weltweiten Überblick. Ergänzt werden diese Vertragsverfahren durch eine weitere Berichtspflicht an den UN-Menschenrechtsrat mit Sitz in Genf, die für alle Mitgliedsstaaten der UNO verbindlich ist. Das Verfahren wird aber nicht vor einem Expertenausschuss, sondern von Staatenvertretern durchgeführt und endet ebenfalls mit Empfehlungen zur Verbesserung. Schließlich haben sich in verschiedenen Weltregionen die Staaten entschlossen, über diesen Mindeststandard hinauszugehen und stärkere Durchsetzungsverfahren anzuwenden. So wurden eine europäische und eine lateinamerikanische Menschenrechtskonvention sowie eine Afrikanische Konvention über die Rechte der Menschen und Völker ausgearbeitet, die durch jeweils eigens gegründete regionale Menschenrechtsgerichtshöfe durchsetzt werden. An diese Gerichtshöfe können sich die Menschen wenden, wenn sie mit der Entscheidung nationaler Gerichte unzufrieden sind. Stellt der regionale Gerichtshof eine Verletzung fest, dann ist das ein verbindliches Urteil, das durch den betroffenen Staat umgesetzt werden muss. Dieser Mechanismus sieht auch eine Entschädigung der Opfer vor. Sehr oft betrifft dies Opfer innerstaatlicher (bewaffneter) Konflikte. Beispiele dafür sind der Interner Link: Tschetschenien-Krieg in Russland oder der Interner Link: Kurdenkonflikt in der Türkei. Die internationale Schutzverantwortung – ein Neustart? Für den Fall, dass innerstaatliche Konflikte weiter eskalieren, hält das Völkerrecht Normen und Mechanismen vor, die die betroffenen Staaten und andere Konfliktparteien zwingen, sich rechtstreu zu verhalten. Dieser Weg geht über den UN-Sicherheitsrat. Der Rat hat nach Art. 39 der Charta die Aufgabe, auf Bedrohungen oder Verletzungen des internationalen Friedens zu reagieren und den Frieden wiederherzustellen. Da Art. 39 keine Definition einer solchen Friedensbedrohung enthält, ist es letztlich eine politische Entscheidung, ob und in welcher Form der Sicherheitsrat Art. 39 anwendet und gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen gegen den Friedensstörer festlegt. Der Rat kann bei Interner Link: innerstaatlichen Konflikten tätig werden, wenn diese eine Bedrohung des internationalen/regionalen Friedens darstellen. So wurden 1992 die USA durch die Res. 749 ermächtigt, in Somalia zu intervenieren, um die humanitäre Hilfe für die Opfer einer Hungerkatastrophe in diesem Land zu erzwingen. Dies war notwendig geworden, weil die in dem zerfallenden Staat herrschenden Warlords ständig die Hilfstransporte plünderten. Im Sommer 2013 entsandte der Sicherheitsrat die Friedensmission MINUSMA nach Mali, um das Land nach dem Bürgerkrieg zu stabilisieren. Die Situation in Nordmali war eng mit den Aktivitäten dschihadistischer Milizen im gesamten westlichen Sahel verbunden. Trotz massiver Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in innerstaatlichen Konflikten blieb der Sicherheitsrat häufig untätig, weil er sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen konnte. Voraussetzung für einen Beschluss ist die Zustimmung von 9 der 15 Mitgliedsstaaten. Zudem darf keine der fünf im Rat vertretenen Großmächte ihr Veto einlegen. Um eindeutige und vor allem verbindliche Kriterien für das Tätigwerden des Sicherheitsrates und der internationalen Staatengemeinschaft zu erarbeiten, wurde von einer Gruppe aus ehemaligen führenden Politikern das Konzept der "Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect – R2P) ausgearbeitet. Im Kern geht es um eine Verknüpfung zwischen der Souveränität und der Verantwortung eines Staates für seine Bürger. Wenn ein Staat nicht bereit oder in der Lage ist, seine Bürger vor schwersten Verbrechen, wie Völkermord, Menschlichkeits- oder Kriegsverbrechen, zu schützen, dann soll die Schutzverantwortung von dem rechtsverletzenden Staat auf die Staatengemeinschaft übergehen. Staaten, die ihrer Schutzverantwortung nicht nachkommen, verwirken demnach ihr Recht auf Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Allerdings wurden nur zwei Komponenten des R2P-Konzepts in die UN-Millenniumsdeklaration vom Oktober 2005 aufgenommen: die Vorbeugung von und die Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen. Die Nachsorge als dritte Säule des Konzepts blieb unberücksichtigt (z.B. Entwaffnung und Versöhnung der Konfliktparteien sowie Wiederaufbau). Eine Mehrheit der Staaten fürchtete offenbar, mit den Kosten für den Wiederaufbau eines Staates nach einer Intervention überfordert zu sein. Nicht zuletzt deshalb spricht die R2P auch nicht von einer Interventionspflicht der Staatengemeinschaft, sondern von einer "Bereitschaft" zum Eingreifen (Krieger 2015). Als positives Beispiel für eine umfängliche und langfristige Konfliktnachsorge ist der Interner Link: Kosovo zu nennen. Nach der Intervention der NATO schuf der Sicherheitsrat mit der Res. S/1244 (1999) eine zivile internationale Verwaltung für das Gebiet, da den Menschen eine weitere Herrschaft des serbischen Staates nicht zugemutet werden sollte. Die Hauptaufgabe der internationalen Administration war die Schaffung von sicheren Lebensbedingungen. Der Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist, zeigt, wie langfristig die internationalen Nachkonflikt-Maßnahmen häufig angelegt sein müssen. Fazit Die konsequente Anwendung des UN-Menschenrechtsregimes und die Überwindung der Selbstblockade des UN-Sicherheitsrates bleiben die wichtigsten Hebel, um die Autorität und Wirksamkeit des Völkerrechts in Bezug auf die Einhegung und Lösung innerstaatlicher Konflikte weiter zu erhöhen. Doch das Schwergewicht muss auf der Vorbeugung von gewaltsamen Krisen und Konflikten liegen. Es geht darum, durch eine bessere Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen Staaten und internationalen Organisationen möglichst frühzeitig zu verhindern, dass innerstaatliche Konflikt gewaltsam eskalieren. Auch dafür sind Menschenrechtsverträge und die Überwachung ihrer Einhaltung so wichtig. Damit der Menschenrechtsschutz funktioniert müssen die Staaten die Rechtsregeln einhalten, zu denen sie sich verpflichtet haben: "pacta sunt servanda" (Verträge sind einzuhalten). Quellen / Literatur Literatur Binder, Christina/ Kirchmair, Lando (2017): Die Legitimität internationaler Wahlstandards: Völkerrechtliche Defizite und eine politikwissenschaftliche Perspektive, Archiv des Völkerrechts, Vol. 55, S. 383-413. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2020): Externer Link: Der UN-Sicherheitsrat und der Schutz der Menschenrechte, Fortschritte, Lücken und Grenzen, Analyse/Studie. Heintze, Hans-Joachim (2018): Individualschutz im Völkerrecht, in: Ipsen, Knut: Völkerrecht, 7. Aufl., Beck-Verlag München, S. 692-719. Krieger, Heike (2015): Interner Link: Das Konzept der internationalen Schutzverantwortung, in: Internationale Sicherheitspolitik. Informationen zur politischen Bildung, Nr. 326/2015. Lukas, Stefan/Paradies, Marius (2019): Externer Link: Ein schwieriger Wiederaufbau, Perspektiven europäischer Initiativen in Syrien Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 2/2019. Stanzel, Volker (Hrsg.) (2018): Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik: Diplomatie im 21. Jahrhundert, SWP-Studie 2018, S 23. Zilla, Claudia: Externer Link: Venezuela. Links Externer Link: Interventionsverbot Externer Link: Menschenrechtscharta Externer Link: UN-Menschenrechtspakte Externer Link: UN-Millenniumsdeklaration Externer Link: UN-Sicherheitsrat Literatur Binder, Christina/ Kirchmair, Lando (2017): Die Legitimität internationaler Wahlstandards: Völkerrechtliche Defizite und eine politikwissenschaftliche Perspektive, Archiv des Völkerrechts, Vol. 55, S. 383-413. Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2020): Externer Link: Der UN-Sicherheitsrat und der Schutz der Menschenrechte, Fortschritte, Lücken und Grenzen, Analyse/Studie. Heintze, Hans-Joachim (2018): Individualschutz im Völkerrecht, in: Ipsen, Knut: Völkerrecht, 7. Aufl., Beck-Verlag München, S. 692-719. Krieger, Heike (2015): Interner Link: Das Konzept der internationalen Schutzverantwortung, in: Internationale Sicherheitspolitik. Informationen zur politischen Bildung, Nr. 326/2015. Lukas, Stefan/Paradies, Marius (2019): Externer Link: Ein schwieriger Wiederaufbau, Perspektiven europäischer Initiativen in Syrien Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 2/2019. Stanzel, Volker (Hrsg.) (2018): Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik: Diplomatie im 21. Jahrhundert, SWP-Studie 2018, S 23. Zilla, Claudia: Externer Link: Venezuela. Links Externer Link: Interventionsverbot Externer Link: Menschenrechtscharta Externer Link: UN-Menschenrechtspakte Externer Link: UN-Millenniumsdeklaration Externer Link: UN-Sicherheitsrat Reziprozität (Gegenseitigkeit) bedeutet, dass ein Staat sich rechtstreu verhält, weil er nach dem Prinzip der Vertragstreue erwarten kann, dass auch der Vertragspartner seine Zusagen erfüllt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-20T00:00:00"
"2021-05-25T00:00:00"
"2022-01-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/333643/moeglichkeiten-des-voelkerrechts-zur-vorbeugung-einhegung-und-beilegung-innerstaatlicher-konflikte/
Das Völkerrecht ist auch bei innerstaatlichen Konflikten anwendbar. Die Staatengemeinschaft kann dann handeln, wenn einzelne Mitglieder ihrer Verantwortung für den Menschenrechtsschutz nicht nachkommen und innerstaatliche Konflikte den regionalen bzw
[ "Völkerrecht", "Konflikte", "Menschenrechtsschutz" ]
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Armutsbekämpfung durch Corporate Social Responsibility? | Armut in Deutschland | bpb.de
Einleitung Die jüngsten Wachstumsprognosen bestätigen, dass Deutschland wirtschaftlich gestärkt aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hervorgegangen ist. Der Export boomt wieder, und die Arbeitslosenzahlen sind unter die Drei-Millionen-Grenze gesunken. Zugleich wird über zunehmende Armut diskutiert und das Entstehen einer "Unterschicht" heraufbeschworen. Denn ungeachtet aller Wachstumsprognosen zeigt sich ein Trend zur Polarisierung der Einkommen, der ein steigendes Ausmaß an Armut mit sich bringt. Immer mehr Menschen müssen mit immer weniger Geld auskommen und stocken ihr Gehalt durch staatliche Sozialtransfers auf. Diese Entwicklung birgt die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft, in welcher der bisher geltende, auf den Abbau sozialer Ungleichheit gerichtete gesellschaftliche Konsens auf den Prüfstand gestellt wird. Unter dem Stichwort Corporate Social Responsibility (CSR) weisen Unternehmen auf ihre soziale Verantwortung hin, und eine vermeintlich neue Form gesellschaftlichen Engagements gerät ins öffentliche und politische Bewusstsein. Das Interesse hieran ist in den vergangenen fünf Jahren erheblich gestiegen. Dabei ist das Thema nicht neu: So verwies der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2008 bei der Eröffnung der Konferenz "Unternehmen in Verantwortung" auf das soziale Engagement von Bosch und Siemens vor 130 Jahren. Zweieinhalb Jahre später, im Oktober 2010, hat die Bundesregierung einen Aktionsplan zum Thema CSR vorgelegt, der in Kooperation mit Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften erarbeitet wurde. Eine Analyse beider Trends - der Anstieg der Armut im Kontext einer steigenden gesellschaftlichen Polarisierung auf der einen Seite und das aufkommende Interesse an unternehmerischer Verantwortung auf der anderen - wirft die Frage auf, welche Rolle Armut in Deutschland in den CSR-Aktivitäten einnimmt. In welchen Bereichen kann CSR einen gesamtgesellschaftlich sinnvollen Weg zur Armutsbekämpfung darstellen? Armut in Deutschland Das Ausmaß an Armut variiert, je nachdem welche Definition gewählt wird. Im Kontext der Europäischen Union (EU) hat sich eine "relative" Bestimmung durchgesetzt, die alle diejenigen Menschen als armutsgefährdet bezeichnet, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen "Nettoäquivalenzeinkommens" des jeweiligen Landes zur Verfügung steht. In Deutschland lag dieser Wert im Jahr 2009 für eine alleinstehende Person bei 11151 Euro Jahreseinkommen (23418 Euro bei zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren). In den Jahren von 2005 bis 2009 ist die Armutsgefährdungsquote in der EU laut Eurostat von 12,2 auf 15,5 Prozent gestiegen. Im Vergleich lag Deutschland 2008 etwas unterhalb des EU-Durchschnitts (16,5 Prozent). Länder wie Estland, Griechenland, Lettland oder das Vereinigte Königreich sind mit höheren Armutsraten konfrontiert. Deutlich niedrigere Armutszahlen weisen Dänemark, die Niederlande und die Tschechische Republik auf. Auffällig ist, dass diejenigen, die in Armut leben, mit immer weniger auskommen müssen. Betrachtet man das Verhältnis des Gesamteinkommens des Bevölkerungsfünftels mit den höchsten Einkommen zum Gesamteinkommen des Bevölkerungsfünftels mit den niedrigsten Einkommen, so verfügten im Jahr 2005 die reichsten 20 Prozent über das 3,8-Fache. Drei Jahre später betrug ihr Einkommen schon das 4,8-Fache (2008). Das Risiko, unter die Armutsgefährdungsschwelle zu rutschen, ist nicht gleich verteilt: Arbeitslose, Menschen mit niedrigem Bildungsstand und Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders betroffen bzw. gefährdet, ebenso Alleinerziehende. Im vergangenen Jahr (2009) lebten 37,5 Prozent der Alleinstehenden mit minderjährigen Kindern unterhalb der EU-Armutsgrenze. Schon 2008 konstatierte die Bundesregierung, dass über 50 Prozent der Bedarfsgemeinschaften, die Leistungen aus dem SGB II bzw. "Hartz IV" beziehen, Alleinerziehende mit ihren Kindern sind. Armut trotz Erwerbstätigkeit Der beste Schutz gegen Armut, so eine weit verbreitete Annahme, ist ein Arbeitsplatz. In der Tat hatten im Jahr 2008 von den Erwerbstätigen in Deutschland nur 7,1 Prozent ein Einkommen unterhalb der EU-Armutsgrenze (EU-Durchschnitt: 8,5 Prozent). Von den Arbeitslosen dagegen fielen mehr als die Hälfte, nämlich 56,8 Prozent, unter diese Schwelle (EU-Durchschnitt: 44,6 Prozent). Allerdings schützt längst nicht mehr jede Beschäftigung vor Armut. Sowohl bei Teilzeit- als auch bei Vollzeitstellen ist der Anteil gestiegen: auf fünf Prozent bei den Teilzeit- bzw. zehn Prozent bei den Vollzeitbeschäftigten. Zwar gehören nicht alle Bezieher eines Niedriglohns zur Gruppe der working poor, aber sie sind einem deutlich größeren Armutsrisiko ausgesetzt als "Normalverdiener". Seit 1995 ist es zu einem beträchtlichen Anstieg der Beschäftigung im Niedriglohnsektor gekommen, gleichzeitig sind die Löhne drastisch gesunken. 2008 arbeiteten rund 20 Prozent der Beschäftigen (6,55 Millionen Menschen) für einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle, der in Deutschland bei einem Bruttolohn von 9,06 Euro pro Stunde liegt. 2007 verdienten mehr als fünf Millionen Erwerbstätige lediglich einen Stundenlohn unter acht Euro. Es zeigt sich, dass der Lohn- und Einkommensabstand zwischen den unteren und den mittleren Einkommen sowie den mittleren und den gehobenen Einkommen kontinuierlich wächst. In der aktuellen politischen Diskussion wird oft darauf verwiesen, dass nur ein Vollzeitarbeitsplatz eine Garantie bieten könne, ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze zu erzielen. Während die Zahl der "Normalarbeitsverhältnisse" (unbefristete Vollzeitstellen) auf dem Arbeitsmarkt auf ca. zwei Drittel gesunken ist, sind die sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse mittlerweile zu einem festen und immer größeren Bestandteil geworden. In der Mehrzahl handelt es sich um Teilzeitstellen, auf denen überwiegend Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen geringfügig Beschäftigte und Zeitarbeiter. Die Zahl der Beschäftigten in Zeitarbeit ist zwischen 1993 und 2010 von knapp 140000 auf rund 900000 gestiegen. Obwohl Niedriglöhne nicht auf atypische Beschäftigungsformen beschränkt sind, verdienen Arbeitnehmer hier im Schnitt deutlich weniger pro Stunde als Menschen in einem Normalarbeitsverhältnis. Neben einschneidenden gesetzlichen Reformen im Arbeitssektor und der bisher hohen Arbeitslosigkeit ist eine gesunkene Tarifbindung in einheimischen Unternehmen für die Entwicklung im Niedriglohnsektor mitverantwortlich. Waren 1996 noch 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Westdeutschland und 56 Prozent in Ostdeutschland in Unternehmen mit Branchentarifvertrag angestellt, sank der Anteil bis 2009 auf 56 Prozent (West) und 38 Prozent (Ost). Seit den "Hartz-Reformen" (ab 2003) ist der Sozialleistungsbezug trotz Erwerbsarbeit bei allen Arbeitsformen (Vollzeit, Teilzeit, Ausbildung, geringfügig Beschäftigte) angestiegen. Ende 2008 erhielten 1,1 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer staatliche Transferleistungen. Hierunter befanden sich fast 300000 Vollzeiterwerbstätige. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Anzahl der leistungsberechtigten Menschen weit höher liegt: Aufgrund von Scham, Unwissenheit oder Unsicherheit werden Leistungen von den Anspruchsberechtigten oftmals nicht abgerufen. Die Hoffnung, dass durch die Etablierung eines Niedriglohnsektors Menschen mit geringen Berufsqualifikationen der Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert wird, hat sich kaum erfüllt. Auswertungen zeigen, dass der Trend, Stellen überqualifiziert zu besetzen, anhält: Drei Viertel aller im Niedriglohnsektor Beschäftigten weisen eine formale Qualifizierung auf. Die Fluktuation in der Gruppe der Beschäftigten mit gleichzeitigem Sozialleistungsbezug zeigt zwar, dass das Phänomen für den Einzelnen von kurzer Dauer sein kann, aber insgesamt ist eine immer größer werdende Gruppe von Menschen im Verlauf ihres Arbeitslebens betroffen. Und längst nicht alle schaffen den Ausstieg aus den staatlichen Transferleistungen. In den vergangenen Jahren hat sich eine Tendenz zur Verlängerung des Leistungsbezugs gezeigt. Die deutsche Lohn- und Gehaltsentwicklung im vergangenen Jahrzehnt war also gekennzeichnet durch eine Lohnspreizung zwischen den niedrigen und höheren Einkommen sowie eine Umverteilung zu Lasten der abhängig Beschäftigten insgesamt. Die Zahl der Haushalte mit einem niedrigen Einkommen ist dabei nicht nur anteilig gestiegen, sondern im Vergleich auch immer ärmer geworden. Auf der anderen Seite ist das Vermögen der Wohlhabenden weiter gewachsen. Lohnentwicklung und europäischer Kontext Auf den internationalen Aspekt dieser Entwicklung verweist der Osnabrücker Politikwissenschaftler Klaus Busch. Im zurückliegenden Vierteljahrhundert sei es keinem Staat der Europäischen Union mehr gelungen, die Lohn- und Gehaltsentwicklung kostenneutral, das heißt analog zur Preis- und Produktivitätssteigerung, zu gestalten. Stattdessen habe die Entwicklung zu einer stetigen Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen geführt. Dadurch, dass Deutschland an der Spitze dieser Entwicklung stehe, würden die realen Lohnstückkosten in der Bundesrepublik stärker sinken als in den anderen EU-Ländern. Der deutsche Wert sei zwischen den Jahren 2000 und 2008 um sechs Prozentpunkte geschrumpft, während er in den anderen Euro-Ländern durchschnittlich nur um drei Prozentpunkte gesunken sei. Auf diese Weise habe sich Deutschland international einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Den Überschüssen in der deutschen Leistungsbilanz stünden die Defizite anderer EU-Staaten gegenüber. Eine Lohnentwicklung, wie sie sich im Niedriglohnsektor in Deutschland eingestellt habe, werde zum Beispiel in Frankreich durch einen gesetzlichen Mindestlohn verhindert. Durch diese Politik, so folgert Busch, exportiere Deutschland Arbeitslosigkeit in die anderen EU-Länder, während die Beschäftigung in Deutschland gestärkt werde. Die aktuellen Zahlen scheinen diese These zu bestätigen. Unternehmerische soziale Verantwortung? Hinter Corporate Social Responsibility steht die Idee, dass Unternehmen durch und zusätzlich zu ihrem wirtschaftlichen Handeln Verantwortung für gesellschaftliche Prozesse übernehmen (sollten). Eine so verstandene Unternehmenspolitik richtet sich nicht ausschließlich an den Interessen der Anteilseigner aus, sondern bezieht das gesamte Umfeld des unternehmerischen Handelns mit ein. Als sogenannte stakeholder (Anspruchs- bzw. Interessengruppen) zählen zu diesem Umfeld unter anderem Arbeitnehmer, Kunden, Auftraggeber, Lieferanten, Anwohner, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Investoren, politische Akteure, Medien, Wissenschaft, Forschung und Bildung bis hin zu supranationalen Organisationen, die an der Entwicklung von Leitlinien zur Wahrnehmung unternehmerischer Verantwortung zu beteiligen sind. CSR bezeichnet dabei die Maßnahmen, die von Unternehmen eingesetzt werden, um gesellschaftliche Prozesse positiv zu beeinflussen. Laut Bundesregierung ist CSR Teil einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft. Es handele sich dabei um "ein integriertes Unternehmenskonzept, das alle sozialen, ökologischen und ökonomischen Beiträge eines Unternehmens zur freiwilligen Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung beinhaltet, die über die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen hinausgehen (...)". Zentrales und wichtigstes Element des CSR-Konzepts ist die Freiwilligkeit. Als Grundlage dienen den Unternehmen allgemeingültige Prinzipien, die vor allem in der dreigliedrigen Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO), dem Global Compact der Vereinten Nationen sowie in Konzepten der Europäischen Union festgelegt sind. Zwei Ziele stehen im Zentrum der CSR-Aktivitäten: Zum einen wollen Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken, zum anderen wollen sie dazu beitragen, Antworten auf gesellschaftliche Probleme zu entwickeln. Das auf soziale, gesellschaftliche und ökologische Verantwortung gegenüber den Beschäftigten gerichtete Handlungsfeld innerhalb der CSR-Strategie ist in Deutschland weitgehend durch einen rechtlich abgesteckten Rahmen verbindlich geregelt. Viele dieser Themen fallen in den Bereich der betrieblichen Mitbestimmung. So enthält etwa das Betriebsverfassungsgesetz Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertreter. Nachdem deutsche Unternehmen schon im vorletzten Jahrhundert die Notwendigkeit sahen, Verantwortung für ihre Mitarbeiter und deren Familien zu übernehmen, führte dies nach dem Zweiten Weltkrieg hierzulande in gesetzlich verankerte Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertreter auf Unternehmensebene. CSR hingegen hat seinen Ursprung in angelsächsischen, liberal geprägten Wohlfahrtsstaaten. Allerdings verlief auch hier die Debatte um CSR-Ansätze kontrovers. Der liberale US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman (1912-2006) etwa argumentierte, dass es nicht in der Verantwortung eines Unternehmers liege, durch freiwillige Maßnahmen Armut zu reduzieren. Vielmehr liege die Verantwortung dafür bei der Politik. Denn diese definiere den gesetzlichen Rahmen, der von den Unternehmen in der Umsetzung ihrer unternehmerischen Ziele eingehalten werden müsse. Was das internationale Engagement angeht, spielt Armutsbekämpfung in den CSR-Konzepten deutscher Unternehmen eine zentrale Rolle. Durch die Verbindung ihres Kerngeschäfts mit der Umsetzung gesellschaftlicher Verantwortung achten sie zum Beispiel darauf, dass in ihrer Produktionskette die Menschenrechte und internationale Sozialstandards eingehalten werden. Dabei stellt auch eine angemessene Entlohnung eines der Ziele dar. In der nationalen Ausrichtung liegt der Schwerpunkt der CSR-Konzepte jedoch auf anderen Themen wie zum Beispiel lebenslanges Lernen, demografische Entwicklung sowie Förderung von Kindern und Familien. Ziel der Unternehmen ist es, eine Situation zu schaffen, die sowohl den Unternehmen selbst als auch den Arbeitnehmern nützt (Win-win-Situation). So stellt beispielsweise die Ergänzung des Kinderbetreuungsangebots durch betriebliche Initiativen eine Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dar, die letztlich auch den Unternehmen durch die verlässliche Präsenz ihrer Angestellten zugute kommt. Konkrete CSR-Maßnahmen der Armutsbekämpfung sind in Deutschland bisher vergleichsweise selten. Erste Ansätze liegen aber vor allem im Bereich der Kinderarmutsbekämpfung vor. Einige Initiativen wie beispielsweise das soziale Unternehmen "ArbeiterKind" zielen auf die Förderung benachteiligter Gruppen. CSR zur Wahrung sozialer Standards Die Frage ist nun, ob das Potenzial damit bereits ausgereizt ist: Könnte die verstärkte Nutzung von CSR-Strategien in Deutschland dazu beitragen, die mit steigender Armut und Polarisierung einhergehenden Probleme zu bewältigen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass das hohe Maß an sozialrechtlichen Bestimmungen und Gesetzen - auf welche auch die Bundesregierung immer wieder verweist - einen darüber hinausgehenden CSR-Ansatz zur Armutsbekämpfung überflüssig macht? "Vieles, was in anderen Ländern als CSR-Aktivität gilt, ist für deutsche Unternehmen rechtlich verbindlich und stellt damit schon per definitionem kein CSR dar", führt die Bundesregierung in ihrer CSR-Strategie ins Feld. Allerdings, so heißt es darin weiter, ermögliche CSR den Unternehmen, sich im Ausland positiv zu positionieren, für Standards einzutreten, die dort rechtlich nicht abgesichert sind, und dieses soziale Engagement als Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Trotz der immer wieder betonten hohen Sozialstandards gibt es einen Bereich, in dem Deutschland zumindest im EU-Vergleich hinter viele andere Mitgliedstaaten zurückfällt. 20 der 27 EU-Staaten haben einen gesetzlich gesicherten Mindestlohn, durch den das Absinken der Löhne und Gehälter nach unten und somit dem Anstieg von Armut Einhalt geboten werden soll. Gerade in Bezug auf die Lohnentwicklung nach unten hat bisher noch keine Bundesregierung einen branchenübergreifenden, verbindlichen und armutsvermeidenden Rahmen schaffen können. Ansätze zur Vereinbarung eines Mindestlohns bestehen lediglich in wenigen Branchen oder im Rahmen von Tarifverträgen. Dem Lohndumping sind daher kaum staatliche Grenzen gesetzt. Tatsächlich wird diese Entwicklung sogar subventioniert, indem Menschen mit einem Erwerbseinkommen unterhalb der Armutsgrenze als sogenannte Aufstocker zusätzlich Leistungen vom Staat erhalten. In Bezug auf das CSR-Engagement von Unternehmen in außereuropäischen Ländern heißt es im Aktionsplan der Bundesregierung: "Die Relevanz von CSR in vielen dieser Länder steigt dann noch, wenn die nationale Gesetzgebung und Rechtsdurchsetzung zur Umsetzung internationaler Konventionen und Standards nicht in ausreichendem Maße gegeben ist." Wenn CSR-Aktivitäten im Ausland also als Ersatz für fehlende rechtlich verbindliche Sozialstandards verstanden werden, so könnten sich Unternehmen in ihren nationalen Aktivitäten durchaus auch hierzulande an fehlenden "Sozialstandards" abarbeiten, indem sie ihr soziales Engagement durch hinreichend hohe Löhne zeigen. Denn Unternehmen, die sich entsprechend verhalten, tun etwas gegen die steigende Armutsentwicklung und Einkommenspolarisierung. Schluss Bleibt die Frage, ob freiwilliges Engagement der Unternehmen allein einen sinnvollen Weg zur Lösung der oben beschriebenen Probleme darstellen kann. Oder anders ausgedrückt: Kann es sich ein Land wie Deutschland leisten, einen im Fokus der Armutsproblematik stehenden Bereich wie den der Lohnpolitik unterer Einkommen dauerhaft von einer allgemeinen, rechtlich verbindlichen Absicherung auszuschließen? Es bedarf einer gesellschaftlichen Diskussion darüber, ob wir in der Armutsprävention auf einen Paradigmenwechsel hin zu mehr freiwilligem Verantwortungsbewusstsein setzen sollten, das gegebenenfalls dort greift, wo das bestehende System der Lohnfindung durch die Tarifparteien zu schwach ist, um einen gesellschaftlichen Missstand zu beheben. Aber handelt es sich hierbei möglicherweise nicht - analog zu fehlenden gesetzlichen Sozialstandards im Ausland - um eine Schwäche der Politik? Diese zeigt sich in dem hier diskutierten Kontext in einem Staat, der nicht nur eine starke Tradition darin aufweist, soziale Absicherung gesetzlich zu verankern und damit einen verbindlichen Rechtsrahmen für alle zu schaffen, strukturelle Machtverhältnisse auszugleichen und eben nicht dem goodwill der Stärkeren zu überlassen, sondern der zudem noch in Bezug auf seine Außenwahrnehmung immer wieder auf diese Tradition verweist. Vgl. z.B. Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land, Frankfurt/M. 2009 sowie die aktuelle Diskussion zu den Thesen Thilo Sarrazins. Vgl. z.B. Deutsche Telekom, Wir leben Verantwortung. Corporate Social Responsibility Bericht, Bonn 2009; Janine Curbach, Die Corporate-Social-Responsibility-Bewegung, Wiesbaden 2009. Vgl. Frank-Walter Steinmeier, Gesellschaftlicher Zusammenhalt in einer globalisierten Welt. Rede zur Eröffnung der der Konferenz "Unternehmen in Verantwortung. Ein Gewinn für alle", Berlin 29.4.2008, online: www.csr-in-deutschland.de (26.11.2010). Vgl. Nationale Strategie zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility - CSR) - Aktionsplan CSR - der Bundesregierung, Berlin 2010, online: www.csr-in-deutschland.de/portal/generator/15040/property=data/2010__10__06__aktionsplan__csr.pdf (26.11.2010). Zahlen und Begriffe basieren auf Erhebungen und Definitionen von Eurostat und dem Statistischen Bundesamt, online: epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/search_database bzw. www.destatis.de (26.11.2010). Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), online: www.bmas.de/portal/41924/(26.11.2010); Eurostat (Anm. 5). Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 5); BMAS, Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2008, S. 94. Vgl. Eurostat (Anm. 5). Vgl. Thorsten Kalina/Claudia Weinkopf, Niedriglohnbeschäftigung 2008, IAQ-Report, (2010) 6, S. 2ff. Vgl. Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.), Lohnabstand gewährleistet, Existenz sichernde Löhne nicht, in: Böckler Impuls, (2010) 4, S. 7. Vgl. ebd.; dies. (Hrsg.), Die Kluft wächst, in: Böckler Impuls, (2010) 11, S. 2. Vgl. Petra Wetzel, Land der Leiharbeit, in: Ver.di Publik, (2010) 11, S. 1; Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.), Lohnspreizung ohne Beispiel, in: Böckler Impuls, (2009) 12, S. 3.; Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Die soziale Situation in Deutschland, online: www.bpb.de/wissen/5ZCX6D (26.11.2010); Statistisches Bundesamt, Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit, August 2009, S. 26. Vgl. Thorsten Kalina/Claudia Weinkopf, Konzentriert sich die steigende Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland auf atypisch Beschäftigte?, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, (2008) 4, S. 447-469; Statistisches Bundesamt (Anm. 12). S. 14. Vgl. Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, Tarifbindungsentwicklung, Nürnberg 2010, online: http://doku.iab.de/aktuell/2010/Tarifbindungsentwicklung.pdf (26.11.2010). Vgl. Kerstin Bruckmeier/Tobias Graf/Helmut Rudolf, Working poor: Arm oder bedürftig?, in: Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv, (2010) 3, S. 213f. Vgl. Frank Pilz, Der Sozialstaat, Bonn 2009, S. 202ff.; T. Kalina/C. Weinkopf (Anm. 9), S. 5. Vgl. K. Bruckmeier/T. Graf/H. Rudolf (Anm. 15), S. 219f. Vgl. Jan Goebel/Martin Gornig/Hartmut Häussermann, Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, in: DIW-Wochenbericht, (2010) 24, S. 3. Vgl. zum Folgenden: Klaus Busch, Europäische Wirtschaftsregierung und Koordinierung der Lohnpolitik, Berlin 2010; T. Kalina/C. Weinkopf (Anm. 9), S. 8. Vgl. Beate Feuchte, Glossar zum Thema Freiwillige gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen, o.J., online: www.boeckler.de/pdf/mbf_csr_glossar_feuchte.pdf (26.11.2010). Aktionsplan CSR (Anm. 4), S. 2f. Vgl. ILO, Dreigliedrige Grundsatzerklärung über Multinationale Unternehmen und Sozialpolitik, Genf 20013 (erstmals 1979), online: www.econsense.de/_CSR_INFO_POOL/_INT_VEREINBARUNGEN/images/Dreigliedrige Grundsatzerklärung der ILO.pdf (30.11.2010). Vgl. United Nations Global Compact, online: www.unglobalcompact.org (30.11.2010). Hierzu zählen z.B. Arbeitsschutzmaßnahmen, Weiterbildungsangebote und betrieblicher Umweltschutz. Vgl. Beate Feuchte, Positionspapier der Hans-Böckler-Stiftung zu Corporate Social Responsibility, 2009, S. 2, online: www.boeckler.de/pdf/mbf_csr_positionspapier_hbs.pdf (26.11.2010). Vgl. z.B. Hans-Jürgen Teuteberg, Historische Vorläufer der Lebensmitteltafeln in Deutschland, in: Stefan Selke (Hrsg.), Tafeln in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 41. Vgl. Milton Friedman, The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits, in: The New York Times Magazine vom 13.9.1970, S. 2. Für Beispiele siehe das CSR-Portal vom Bundesverband Deutscher Industrie und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, www.csrgermany.de (26.11.2010). Vgl. z.B. die Bepanthen-Kinderarmutsstudie von Sabine Andresen/Susann Fegter, Spielräume sozial benachteiligter Kinder, Leverkusen 2009, online: www.fuer-eine-heilere-welt.de (26.11.2010). Vgl. Peter Baumgärtner, Corporate Social Responsibility und Social Entrepreneurship als Lösungsansätze der Problematik struktureller Arbeitslosigkeit in Deutschland, Magisterarbeit, Heidelberg 2009, S. 78ff., online: http://pbaumi.pb.funpic.de/MA/2009-04-02%20-%20MA.pdf (26.11.2010). Aktionsplan CSR (Anm. 4), S. 10. Sieht man einmal von dem Passus des sittenwidrigen Lohns ab, der bei 30 Prozent unter den branchenüblichen Entgelten verortet wird. Vgl. F. Pilz (Anm. 16), S. 209. Vgl. Aktionsplan CSR (Anm. 4), S. 15.
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, Claudia Nospickel
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32289/armutsbekaempfung-durch-corporate-social-responsibility/
Vor dem Hintergrund steigender Armutsraten und sinkender Löhne im Niedriglohnsektor stellt sich die Frage, inwieweit freiwilliges unternehmerisches Engagement einen Beitrag leisten kann, dieser Entwicklung entgegenzusteuern.
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Zwischen Aufschwung und Anpassung | Presse | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlicht den neuen Schriftenreihe-Band „Zwischen Aufschwung und Anpassung. Eine kleine Geschichte des Aufbau Ost“. Um die Lebensverhältnisse im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung an die im Westen anzugleichen, wurden seit 1990 diverse Maßnahmen beschlossen. Dieser „Aufbau Ost“ war jedoch nicht das von manchen erhoffte kurze Nachspiel im Anschluss an die Herstellung der formal-rechtlichen Einheit. Mit dem Auslaufen des Solidarpaktes II 2019 kam das umfassende politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Umbauprojekt offiziell zu einem Ende. Doch insgesamt erweist es sich als unabschließbar. Die Historiker Marcus Böick und Christoph Lorke zeichnen den „Aufbau Ost“ als einen widerspruchsvollen, wenig zielgerichteten, oftmals überaus defensiven, tastenden und bis heute fortdauernden Such- und Lernprozess nach – kompakt auf 144 Seiten. In den drei Hauptkapiteln gehen die beiden Autoren dem wirtschaftlichen Umbau, der sozialen (Des-) Integration Ostdeutschlands und den kulturellen Umorientierungen im Zuge des „Aufbau Ost“ nach. Am Ende des Bandes gibt es ausgewählte Literatur zum Thema und einen Einblick in das Videospiel „Aufschwung Ost“ aus dem Jahr 1993. Der Schriftenreihe-Band ist unter der Bestellnummer 10803 für eine Bereitstellungspauschale von 1,50 Euro: Externer Link: www.bpb.de/506022 erhältlich. Journalistinnen können Rezensionsexemplare und Cover-Dateien nach Anfrage an E-Mail Link: presse@bpb.de erhalten. Die Pressemitteilung als PDF finden Sie Interner Link: hier Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel. +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-22T00:00:00"
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https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/506453/zwischen-aufschwung-und-anpassung/
Neu in der Schriftenreihe / Eine kleine Geschichte des „Aufbau Ost“ / Kompakt auf 144 Seiten für 1,50 Euro
[ "Pressemitteilung", "Ostdeutschland", "Schriftenreihe" ]
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Die Niederlande | bpb.de
Die zivile Integration ist zuerst in den Niederlanden entstanden, und zwar als Reaktion auf das Unvermögen der früheren multikulturellen "Minderheitenpolitik" , Migranten in wichtige gesellschaftliche Bereiche, allen voran den Arbeitsmarkt, zu integrieren. Da in den 1990er Jahren durch Familienzusammenführung und Asylsuche die Zuwanderung ungelernter Arbeitskräfte überwog, ergaben sich gerade bei Migranten hohe Arbeitslosenquoten und Abhängigkeit von Sozialleistungen: Die Arbeitslosigkeit war bei Zugewanderten viermal höher als bei Einheimischen; fast die Hälfte aller Empfänger von Sozialleistungen waren nicht-westliche Migranten (was einer Überrepräsentation von rund 500 % entspricht, da der Anteil von nicht-westlichen Migranten an der Gesamtbevölkerung bei 10 % lag). In diesem soziodemografischen Kontext erfolgte in den 1990er Jahren ein Umschwung, der weg vom Multikulturalismus und hin zur zivilen Integration führte. Ein ebenso wichtiger Faktor für diesen Wandel ist ferner in der politischen Entwicklung zu suchen: Bei der Wahl 1994 wurden die Christdemokraten (CDA) als Regierungspartei abgewählt – zum ersten Mal seit einhundert Jahren. Die CDA galt als traditionelle Verfechterin des Säulensystems (verzuiling) zur Integration verschiedener sozialer Gruppen. In diesem System konstituierten Katholiken, Calvinisten und Nicht-Religiöse (Liberale und Sozialisten), später dann auch (intern nach ethnischer Herkunft differenzierte) Zuwanderer jeweils einen eigenen gesellschaftlichen Bereich (eine "Säule"), der zahlreiche öffentliche Einrichtungen umfasste (z. B. Gewerkschaften, Medien, Bildungsinstitutionen) und die Beteiligung der jeweiligen Gruppe am politischen Entscheidungsprozess strukturierte. Die neue sozialdemokratische Regierungspartei, die dem Säulensystem traditionell weniger verbunden war, drängte unmittelbar auf eine Förderung der Beteiligung von Migranten an etablierten Institutionen (später als "gemeinsame Staatsbürgerschaft" – shared citizenship – bezeichnet) sowie auf "Autonomie" der Zuwanderer, die durch Niederländisch-Kenntnisse und Integration in den Arbeitsmarkt erreicht werden sollte. Das Grundgerüst dieses neuen Ansatzes bildete das Gesetz zur zivilen Integration von Neuankömmlingen von 1998 (Wet Inburgering Nieuwkomers, WIN). Durch WIN wurden nicht-westliche Zuwanderer verpflichtet, an zwölfmonatigen Integrationskursen teilzunehmen. Diese sahen 600 Stunden Niederländischunterricht, Staatsbürgerkunde und Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt vor. Schon bei ihrer Einführung 1998 waren diese Kurse verpflichtend, wurden jedoch auch als Chance für Zugewanderte betrachtet. Nichtteilnahme wurde mit finanziellen Strafen sanktioniert, die allerdings niedrig waren und von den verantwortlichen Behörden kaum durchgesetzt wurden. Insgesamt konnte von einem staatlich finanzierten Angebot mit unbestreitbar positiven Zielen gesprochen werden: Migranten sollten Zugang zu bezahlter Arbeit und Hilfe beim Erlernen der niederländischen Sprache bekommen, womit sie zu funktionierenden Mitgliedern der niederländischen Gesellschaft werden sollten. Nach der Ermordung des populistischen Politikers Pim Fortuyn im Jahr 2002 und dem darauf folgenden Rechtsruck in der niederländischen Politik rückte der Zwangscharakter der zivilen Integration jedoch in den Vordergrund. Die neue CDA-geführte Regierung (seit 2002 im Amt), welche die Arbeiterpartei nach achtjähriger Regierungszeit wieder ablöste, gab ihr Eintreten für die pluralistische Verzuiling zugunsten einer eher nationalkonservativen Haltung auf. In einer Regierungserklärung im Mai 2003 wurde prompt eine restriktive Überarbeitung des Integrationsgesetzes angekündigt, durch die sichergestellt werden sollte, dass Neuankömmlinge die "niederländischen Werte kennen und dass sie sich an die Normen des Landes halten". Das neue Gesetz zur zivilen Integration, das 2006 nach konfliktreichen Debatten endlich in Kraft trat, weist eine Reihe restriktiver Maßnahmen auf. In einem scheinbaren Widerspruch zieht sich der niederländische Staat danach einerseits aus dem Integrationsprozess zurück, zeigt andererseits aber gleichzeitig ein höheres Maß an Präsenz. So wird das der zivilen Integration zugrunde liegende Konzept der "Autonomie" bzw. "Autarkie" (zelfredzaamheid) auch auf das Kursangebot übertragen: Migranten müssen für die Integrationskurse, die von privaten Vertragspartnern durchgeführt werden, in vollem Maße finanziell aufkommen. Die staatliche Beteiligung am ganzen Prozess reduziert sich auf die Durchführung von standardisierten Abschlusstests. Im Gegensatz zu dieser Privatisierung von Integrationskursen nimmt in anderen Bereichen der staatliche Einfluss erheblich zu. So müssen sich nicht nur Neuankömmlinge, sondern auch bereits langansässige Migranten (sog. oudkomers) dem Integrationstest unterziehen. Daraus ergibt sich für die Behörden eine enorme logistische Aufgabe, da die gesamte Einwandererbevölkerung des Landes identifiziert, verpflichtet und kontrolliert werden muss. Eine entscheidende Entwicklung ist die Verknüpfung der bislang getrennten Bereiche Zuwanderungskontrolle und Zuwandererintegration durch die Kopplung von Aufenthaltsgenehmigungen an das erfolgreiche Bestehen des Integrationstests. Dies hat den Blick auf die Integration von Zuwanderern völlig verändert. Bislang wurde ein sicherer Aufenthaltsstatus als Instrument zur besseren Integration betrachtet; nun kann mangelnde Integration eine Versagung der Aufnahme bzw. der Aufenthaltsverlängerung zur Folge haben. Somit wird Integration tendenziell den Erfordernissen der Zuwanderungskontrolle untergeordnet. Am deutlichsten wird diese neue Verknüpfung von Integrations- und Migrationspolitik am Beispiel der Richtlinien zur "Integration im Ausland". Danach müssen sich Personen, die qua Familiennachzug eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande erhalten wollen, bereits bei einer niederländischen Botschaft im Herkunftsland dem Integrationstest unterziehen. Da es im Ausland jedoch keine vom niederländischen Staat unterstützten niederländischen Sprachkurse gibt, drängt sich die Vermutung auf, dass "Integration im Ausland" vor allem ein Mittel ist, um "ungewollte" Zuwanderung zu vermeiden. Familiennachzügler sind in der Regel weniger qualifiziert als andere Migranten und werden daher nicht als wertvolle Ergänzung für die niederländische Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet. Prompt hat sich der Umfang des Familiennachzuges seit Inkrafttreten der neuen Richtlinie erheblich verringert. Diese Reserviertheit gegenüber der Familienzusammenführung muss auch vor dem Hintergrund bestimmter Heiratspraktiken unter Muslimen betrachtet werden, die überall in Westeuropa die große Mehrheit der Familiennachzügler bilden. Innerhalb der zweiten Generation von türkischen und marokkanischen Zuwanderern in den Niederlanden wählen mehr als 50 % einen Ehepartner aus ihrem Herkunftsland. Heiratsmigration verstärkt somit die Selbstabschottung vieler muslimischer Gemeinden und schreibt diese über Generationen fort. Die Forderung nach stärkeren Integrationsanstrengungen – in den Niederlanden ebenso wie in anderen Ländern – gründet nicht zuletzt auf dieser soziodemografischen Tatsache. Für weitere Informationen zum niederländischen Integrationsmodell siehe Michalowski, I. (2005): "Interner Link: Das niederländische Integrationsmodell als Vorbild und die Debatte über sein 'Scheitern" focus Migration Kurzdossier Nr. 1. In den niederländischen Statistiken wird zwischen "westlichen" und "nicht-westlichen" Zuwanderern unterschieden. Westliche Zuwanderer sind diejenigen, die aus Europa (mit Ausnahme der Türkei), Nordamerika, Ozeanien, Indonesien und Japan stammen. Nicht-westliche Zuwanderer stammen dagegen aus der Türkei, Afrika, Lateinamerika und sonstigen Ländern Asiens. In einem weiteren Schritt wird zwischen Zuwanderern der ersten und zweiten Generation differenziert. Zuwanderer der ersten Generation sind Personen, die im Ausland geboren sind und von denen mindestens ein Elternteil ebenfalls im Ausland geboren wurde. Zuwanderer der zweiten Generation sind Personen, die in den Niederlanden geboren sind und von denen mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.
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Christian Joppke
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57369/die-niederlande/
Die zivile Integration ist zuerst in den Niederlanden entstanden, und zwar als Reaktion auf das Unvermögen der früheren multikulturellen "Minderheitenpolitik". Da in den 1990er Jahren durch Familienzusammenführung und Asylsuche die Zuwanderung ungele
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Global Governance | teamGLOBAL | bpb.de
Interner Link: Was ist Global Governance?- Zwei Definitionen "Ein Finger allein kann nicht einmal eine Laus umbringen." Sprichwort aus Kenia Interner Link: Global Governance seit 1945 – Zunehmende internationale Kooperation und neue Akteure Die Erfahrungen zweier verheerender Weltkriege sowie ein gestiegenes Bewusstsein für globale Herausforderungen haben die internationale Zusammenarbeit in den vergangenen 60 Jahren deutlich an Konturen gewinnen lassen. Zentrum von Global Governance ist heute die vielschichtige Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen. Doch die Nationalstaaten sind nicht mehr die einzigen Akteure auf der internationalen Bühne. Interner Link: Akteure Ein Überblick zu wichtigen Akteursgruppen von Global Governance und Links zu weiteren Informationen über die jeweiligen Akteure. Interner Link: Kritikpunkte an den derzeitigen GG Strukturen An den derzeitigen politischen Strukturen der Global Governance wird vor allem kritisiert, sie hätten sich nicht in dem Maße weiterentwickelt, wie es nötig sei, um den Notwendigkeiten einer (insbesondere ökonomisch) stark globalisierten Welt gerecht zu werden. Kritisiert werden u.a. eine mangelnde Verbindlichkeit internationaler Normen sowie eine Dominanz der Länder des Nordens in den wichtigsten internationalen Organisationen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67457/global-governance/
Zunehmende Vernetzung, globale Herausforderungen und wirtschaftlicher Wettbewerb führen zu neuen Konflikten und Erfordernissen der Zusammenarbeit. Die Ergebnisse der Globalisierung sind das, was wir aus ihr machen und wie die aus der Globalisierung e
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Redaktion | In deutscher Gesellschaft | bpb.de
Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2018 Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling Die Texte entstanden aus Anlass der Retrospektive In deutscher Gesellschaft. Passagen-Werke ausländischer Filmemacher*innen 1962-1992 in Zusammenarbeit mit dem Zeughauskino / Deutsches Historisches Museum. Redaktion Katrin Willmann (bpb) Eva Flügel (bpb) Jörg Frieß (Zeughauskino) Stephan Ahrens (Zeughauskino) Tobias Hering Autor*innen Tilman Baumgärtel Madeleine Bernstorff Ilka Brombach Judith Früh Karina Griffith Tobias Hering
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-08-27T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/274923/redaktion/
[ "Redaktion" ]
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Die Religionsgemeinschaften im Libanon | Religiöse Minderheiten im Islam | bpb.de
Einleitung Die religiöse Vielfalt gehört zu den Hauptmerkmalen der Gesellschaften im Vorderen Orient. Kein Wunder, denn in dieser Region entstanden die drei monotheistischen Religionen: das Judentum, das Christentum und der Islam. Und hier wurde von Anfang an mal argumentativ, mal temperamentvoll und oft sehr heftig um die Auslegung der heiligen Schriften gestritten. Die geopolitische Lage des Libanons als Schwelle zu Syrien machte ihn zur ersten Station der Heere aller Herrscherländer, die ihre Religionen und Kulturen ins Land mitbrachten. Gleichzeitig baten seine schwer zu überwindenden Berge vielen verfolgten Minoritäten und Häretikern sicheres Asyl und ermöglichten ihnen, ihr religiöses Leben weit weg von den jeweiligen Orthodoxien und von der Zentralmacht frei zu gestalten. Hinter dem religiösem Diskurs kamen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auch verdeckt politische und nationale Interessen zum Ausdruck, was zu Schismen innerhalb der jeweiligen Religionen und damit zur Entstehung der verschiedenen Religionsgemeinschaften geführt hat. Dies lag zum größten Teil daran, dass die Religionen immer auch zur Durchsetzung politischer Interessen missbraucht wurden. Dies gilt für alle Religionen und insbesondere für den Islam, der von vornherein keine Trennung zwischen irdischem und himmlischem Reich macht. Hinsichtlich seiner vielfältigen religiösen und konfessionellen Struktur unterscheidet sich der Libanon im Großen und Ganzen nicht wesentlich von den benachbarten arabischen Ländern. Seine Besonderheit besteht jedoch darin, dass zum einen 18 christliche und islamische Konfessionen wie ein Mosaik auf einer sehr kleinen Fläche von 10 452 km 2 zusammenleben. Zum anderen nehmen die Religionsgemeinschaften als solche im libanesischen Staat eine politische und gesellschaftliche Rolle ein. Nach Artikel 24 der libanesischen Verfassung werden die 128 Sitze im libanesischen Parlament gleichermaßen zwischen christlichen und muslimischen Konfessionen nach einem Proporzsystem aufgeteilt. Die höchsten Staatsämter gehören jedoch den Vertretern der größten Religionsgemeinschaften. Der Staatspräsident muss Maronit, der Parlamentspräsident Schiit und der Regierungschef Sunnit sein. Dieses System wird deshalb auf Arabisch Al Taifia genannt - zu Deutsch Konfessionalismus: Die Macht geht nicht etwa vom Volk aus, sondern von den Konfessionen, die ein Bindeglied zwischen ihren Angehörigen und dem Staat bilden. Dazu kommt die Tatsache, dass die Religionsgemeinschaften auch im ganzen Staatsapparat vertreten sind. Eine Trennung von Religion und Politik existiert folglich im Libanon nicht. Laizistische Parteien oder Personen können nicht als solche an den Parlamentswahlen oder an der Regierung teilnehmen. Es gibt im Libanon kein einheitliches Familien- und Erbrecht. Insbesondere existiert keine Zivilehe, was ein Hindernis für gemischtkonfessionelle Ehen darstellt. Jede Konfession hat ihre eigenen Gesetze und Regelungen und unterhält zum Teil Bildungsinstitutionen und soziale Einrichtungen. All diese Faktoren tragen dazu bei, die Religionsgemeinschaften zu Staaten im Staat zu machen. Die Erhebung des konfessionellen Systems zum unveränderlichen Wesenszug des libanesischen Staates widerspricht dem demokratischen Prinzip, das die Gleichheit der Bürger beinhaltet. Auch werden demographische Veränderungen nicht berücksichtigt. So bekommen die Vertreter der Christen, die gegenwärtig nach Schätzungen ca. 35 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, die Hälfte der Sitze im Parlament. Bekanntlich war das politische System eine der Hauptursachen des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 und der gegenwärtigen politischen Krisen. Der ständige Verteilungskampf zwischen den Vertretern der Konfessionen trägt dazu bei, sie in Einflusssphären regionaler und internationaler Mächte zu verwandeln und eine integrierende Rolle des Staates unmöglich zu machen. Deshalb ist eine Analyse der Rolle der Konfessionen im Libanon notwendig, um den Ursprung, das Wesen, und die Erscheinungsformen der Konflikte zu verstehen. Dieser Beitrag wird sich jedoch auf die Darstellung der Maroniten, Sunniten und Schiiten beschränken, da sie gegenwärtig die Hauptakteure der libanesischen Politik sind. Der Vollständigkeit halber sollen aber alle Konfessionen in der Reihenfolge ihrer geschätzten Zahl (absteigend) im Folgenden aufgelistet werden: Zu den Muslimen zählen Schiiten, Sunniten, Drusen, Alawiten und Ismailiten. Christen sind Maroniten, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholiken, Armenisch-Orthodoxe, Armenisch-Katholiken, Römisch-Katholiken, Protestanten, Syrisch-Orthodoxe, Assyrisch-Chaldäer, Syrisch-Katholiken, Chaldäer und Kopten. Ferner gibt es eine unbekannte kleinere Anzahl von Juden. Die maronitische Religionsgemeinschaft Betrachtet man Loyalitätsgrad der Religionsgemeinschaften zum Libanon als Vaterland, so galten bislang die Maroniten als die am meisten patriotische Konfession. Für ihre fast religiöse Bindung an ihre Heimat waren Geographie und Geschichte maßgeblich verantwortlich. Die maronitischen politischen Eliten und Geistlichen waren zudem seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Träger der libanesischen Idee und die Architekten des libanesischen Staates. Benannt nach dem Heiligen Maron, der im 5. Jahrhundert im Orontes-Tal im heutigen libanesischen Nordosten mit einigen Anhängern lebte, etablierten sich die Maroniten seit dem 8. Jahrhundert erst im Kadischa-Tal und später im Herzen der libanesischen Bergregion. Über den Ursprung der maronitischen Lehre herrscht unter den Historikern Uneinigkeit. So wird behauptet, dass die Maroniten sich im 7. Jahrhundert von der Orthodoxie abspalteten und sich unter dem Einfluss des Kaisers Heraklios zum Monotheletismus bekannten. Dieser Lehre zufolge vereinigen sich die menschliche und göttliche Natur Jesus Christus in seinem einzigen gottmenschlichen Willen. Maronitische Historiker lehnen jedoch diese These strikt ab. Sie bekräftigen die Zugehörigkeit der Maroniten zum syrischen Monophysitismus, welcher auch die Natur Christi als ungeteilt göttlich betrachtet und zum ersten Schisma des Christentums führte. Der Monophysitismus brachte die Unabhängigkeitsbestrebungen der syrischen und ägyptischen Christen von Konstantinopel zum Ausdruck und wurde im Jahre 451 vom vierten ökumenischen Konzil als Irrglaube verurteilt. Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrages die Geschichte der Maroniten im Einzelnen zu behandeln. Jedoch ist es in diesem Zusammenhang wichtig hervorzuheben, dass sich die maronitische Kirche seit den Kreuzzügen mit Rom liierte. Sie wurde 1215 durch die Bulle Qua divinae sapientiae des Papstes Innozenz III. anerkannt. Ihr kirchliches Leben wurde später von der Synode im Jahre 1736 organisiert. Die maronitische Kirche behielt jedoch eine gewisse Autonomie innerhalb der katholischen Weltkirche. An ihrer Spitze im Libanon und bei der maronitischen Diaspora steht ein Patriarch mit Sitz in Bkerke, nördlich von Beirut. Die Verbindung mit der westlichen Christenheit legte den Grundstein für die spätere Entwicklung der Maroniten, die trotz der islamischen Herrschaft seit dem 7. Jahrhundert in der libanesischen Bergregion ihre Religion ungestört ausübten. Während der türkischen Herrschaft standen die katholischen Minoritäten besonders nach dem Abkommen von 1535 zwischen dem französischen König Franz. I. und Sultan Suleiman unter französischem Schutz. Dies führte zur allmählichen Entwicklung kultureller, politischer und wirtschaftlicher Beziehungen der Maroniten zu Frankreich. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die Maroniten unter der feudalen Herrschaft der drusischen Fürsten in dem libanesischen Emirat. Sie spielten keine eigene politische Rolle und rekrutierten sich hauptsächlich aus der Bauernschaft. Die jahrhundertelange friedliche drusisch-maronitischer Koexistenz hatte jedoch mit Napoleons Vorstoß nach Ägypten und Syrien im Jahre 1799 ihre ersten Risse bekommen, eröffnete er damit doch den Kampf der europäischen Mächte um die Teilung des Osmanischen Reiches, das im Begriff war, wirtschaftlich, politisch und militärisch unterzugehen. Frankreich verstärkte in dieser Phase seine Beziehungen zu den Maroniten und verwandelte sie in eine Einflusssphäre für seine Politik in der Levante. Dies trug dazu bei, das konfessionelle Bewusstsein der Maroniten zu stärken, die in dieser Phase die Mehrheit der Bevölkerung im drusischen Emirat stellten, und ihm politischen Charakter zu verleihen. Auch nahm der Einfluss des maronitischen Klerus zu, der die Emanzipationsbewegung der Maroniten von der osmanischen und drusischen Herrschaft anführte. Die Schwächung der drusischen Feudalen während der ägyptischen Besatzung von 1832 bis 1840 führte im Jahre 1841 zum ersten Bürgerkrieg zwischen den Drusen, die von Großbritannien unterstützt wurden, und den pro-französischen Maroniten. Sowohl die Maroniten als auch die Drusen wurden so zu Spielbällen im britisch-französischen Kampf um das "Erbe des kranken Mannes am Bosporus". In der Folge wurde die libanesische Krise internationalisiert und das Emirat in drusische und maronitische Bezirke geteilt. Das Wiederaufflammen der Konfrontation zwischen Drusen und Maroniten im Jahre 1860, bei der es zu Massakern an Christen im Libanon und in Syrien kam, führte zu einer französischen Intervention. Die europäischen Mächte setzten schließlich ein autonomes politisches System im Libanon durch, das von 1861 bis 1914 existierte. Der Libanon blieb zwar Teil des türkischen Reiches. Er wurde fortan aber von einem nichtlibanesischen christlichen Gouverneur und einem sich aus Vertretern der Religionsgemeinschaften rekrutierendem Rat regiert. Damit war der Grundstein für das spätere politische konfessionelle System im Libanon gelegt, in dem die Maroniten die Schlüsselrolle einnehmen sollten. Im Regierungsrat bekamen die Maroniten vier, die Drusen drei, die Griechisch-Orthodoxen zwei sowie die Griechisch-Katholiken, die Schiiten und die Sunniten jeweils einen der zwölf Sitze. Die Phase der drusischen Herrschaft war damit beendet. Die autonome Bergregion erlebte in den Jahren danach einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine kulturelle Blüte. Der libanesische Markt wurde für das französische Kapital geöffnet, wobei maronitische Händler eine wichtige Rolle spielten. Gleichzeitig kam es dank der Bildungsarbeit europäischer Missionare zu einet kulturellen Renaissance. Die Christen, und unter ihnen vor allem die Maroniten, erhielten dank ihrer Öffnung zu Europa deutlichen Auftrieb im Verhältnis zu den Muslimen. Mit dem Zusammenbruch des türkischen Reiches infolge des Ersten Weltkrieges schlug auch die Stunde der Maroniten. Der arabische Orient wurde aufgrund des Sykes-Picot-Abkommens von 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt, wobei den Franzosen das heutige Staatsgebiet des Libanons und Syriens zufiel. Die Gründung des libanesischen Staates sollte den Bestrebungen der arabischen Nationalisten nach einem einheitlichen Staat entgegenwirken und die Forderungen der maronitischen Eliten nach einem von Syrien unabhängigen Libanon erfüllen. Deshalb wurde auch das Staatsgebiet des Libanons vergrößert. Der mehrheitlich von Maroniten bewohnten Bergregion wurden die sunnitischen Küstenstädte Beirut, Sidon und Tripolis sowie die schiitischen Regionen im Süden und Osten zugeschlagen. In der Zeit der französischen Mandatszeit von 1918 bis 1943 bauten die Maroniten ihre Vormachtstellung im libanesischen Staat aus, während die Muslime nach einer Einheit mit Syrien strebten. Hinsichtlich der nationalen Identität lehnten die maronitischen Eliten die Zugehörigkeit des Libanons zur arabischen Nation ab, wie sie von den Vertretern der Sunniten verlangt wurde. Sie beriefen sich auf die phönizische Vorgeschichte des Landes und predigten einen libanesischen Nationalismus. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen - vertreten durch den maronitischen Staatspräsidenten Bechara El Khoury (1890-1964) und durch den sunnitischen Ministerpräsidenten Riad as-Solh (1894-1951) - kam es 1943 zum Kompromiss. Beide Politiker einigten sich auf eine Definition des Libanons als "Land mit arabischem Gesicht". Kurz darauf erklärte das Land seine Unabhängigkeit. Die politische Dominanz der Maroniten im Libanon setzte sich nach der Unabhängigkeit fort. Durch das befugnisreiche Amt des maronitischen Staatspräsidenten und eine christliche Mehrheit von 55 Prozent der Parlamentssitze bestimmten die Maroniten bis 1989 die libanesische Politik. Dieser Umstand wirkte innerhalb der Maroniten und in ihrem Verhältnis zu den anderen Konfessionen in doppelter Hinsicht sehr negativ. Zum einen hat das Festhalten an den politischen Privilegien die demokratischen Kräfte unter den Maroniten geschwächt und die Position der rückwärtsgerichteten politischen Kräfte gefestigt. Zum anderen rief die maronitische Sonderstellung die politische Opposition der muslimischen Konfessionen hervor, die nach einer größeren Beteiligung an der Macht strebten und für den aufsteigenden arabischen Nationalismus in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren empfänglich waren. Die Vormachtstellung der Maroniten brach in Folge des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 zusammen. Schuld daran war die Unfähigkeit des politischen Systems, einen nationalen Konsens hinsichtlich des israelisch-arabischen Konfliktes zu erzielen. Die Etablierung der PLO (Palestine Liberation Organization) im Libanon, von wo sie ihren bewaffneten Kampf gegen Israel führte, rief eine Polarisierung der Libanesen hervor. Die Sunniten ergriffen für die Palästinenser Partei, während sich die maronitischen Milizen auf Israel stützten. Der Libanon wurde zum Schauplatz des israelisch-arabischen Konfliktes. Der Bürgerkrieg endete mit einer dreifachen Niederlage der maronitischen Parteien. Zum einen verloren sie aufgrund des Taif-Abkommens von 1989 ihre Vormachtstellung; der sunnitische Ministerpräsident bekam mehr Machtbefugnisse. Zweitens wurde die Zugehörigkeit des Libanons zur arabischen Welt in der Verfassung verankert. Und schließlich geriet der Libanon mit Zustimmung der USA unter syrische Obhut. Infolgedessen kam es zu einer politischen Marginalisierung der Maroniten. Ihre politischen Führer, wie der Chef der Phalangistenpartei Amin Gemayel und General Michel Aoun, gingen ins Exil, Milizenchef Samir Gagaa kam ins Gefängnis. Vom dadurch entstandenen Vakuum profitierten vor allem die Sunniten und die Schiiten während der syrischen Herrschaft von 1990 bis 2005. Erstere bauten unter Führung des ehemaligen Premiers Rafik Al Hariri und mit saudischer Hilfe ihre Position in der libanesischen Wirtschaft aus. Die anderen etablierten mit iranisch-syrischer Unterstützung unter Führung der Hisbollah eine militärische Macht, die im Jahr 2000, nach 18-jähriger Besatzung, den israelischen Abzug aus dem Südlibanon erwirkte. Nach der "Zedernrevolution", die infolge der Ermordung des ehemaligen Premiers Al Hariri ausbrach, war Syrien unter dem Druck Frankreichs und der USA gezwungen, seine Armee aus dem Libanon abzuziehen. Die antisyrische maronitische Opposition kehrte zurück. Das politische Gewicht der Maroniten blieb jedoch angesichts ihrer politischen Zersplitterung sehr bescheiden. Im gegenwärtigen sunnitisch-schiitischen Machtkampf sind die maronitischen Parteien in beiden Lagern vertreten. Während sich General Aoun der Hisbollah geführten Opposition angeschlossen hat, steht die Phalangistenpartei vom ehemaligen Präsidenten Gemayel und Milizenchef Gagaa auf der Seite des sunnitischen Hariri-Clans. Der Ausbruch der libanesischen Krise nach dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel brachte den Libanon an den Rand eines Bürgerkrieges. Der Staat war gelähmt, und das den Maroniten zustehende Amt des Staatspräsidenten blieb ein halbes Jahr lang vakant. Erst nach dem Abkommen von Doha am 25. Mai 2008 konnte der maronitische Armeechef Michel Suleiman zum Präsidenten des Libanon gewählt werden. Ob er die verlorenen Positionen der Maroniten zurückerobern wird, ist fraglich. Das jetzige Kräfteverhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften hat sich zu Ungunsten der Maroniten verschoben. Ihre goldene Zeit als Träger der libanesischen Idee scheint vorbei zu sein. Sowohl Sunniten und Schiiten als auch die anderen Religionsgemeinschaften stehen inzwischen zum libanesischen Staat, der schwach bleiben wird, solange das konfessionelle System besteht. Dies vermindert aber keinesfalls die große soziale und kulturelle Bedeutung sowie die Weltoffenheit dieser Gemeinschaft, was jedoch nur durch die Reformierung des politischen Systems voll zur Geltung kommen könnte. Die sunnitische Religionsgemeinschaft Bis in die 1980er Jahre galten die Sunniten als die Konfession, die sich am wenigsten mit dem libanesischen Staat identifizierte. Ihre Städte gehörten lange Zeit zu den Hochburgen des arabischen Nationalismus. Das Verhältnis der Sunniten zum libanesischen Staat war stets in großem Maße vom Aufstieg und Niedergang des Projektes der arabischen Einheit und Solidarität abhängig. Es entwickelte sich im Laufe der vergangenen sechs Jahrzehnte von einer totalen Ablehnung bis zur völligen Anlehnung. Die Sunniten repräsentieren mit ihrem Festhalten am Koran und an den Reden des Propheten (Hadith) die islamische Orthodoxie. In der Frage der Nachfolge des Propheten, die kurz nach seinem Tod zur Spaltung der Muslime führte, vertreten sie die Ansicht, dass der Kalif aus dem Stamm des Propheten und ein gerechter Mensch sein sollte. An die Unfehlbarkeit des Kalifen und an die Notwendigkeit seiner Abstammung aus der Familie des Propheten glauben sie nicht. Die libanesischen Sunniten gehören zur Hanafitenschule des Sunnismus, die im 7. Jahrhundert von dem Gelehrten Ibn Hanifa gegründet wurde und bei der Auslegung der heiligen Texte der Vernunft mehr Raum einräumt. Sie wurden erst 1920 libanesisch und stellen vor allem in den Küstenstädten Sidon, Beirut, Tripolis und Akkar die Bevölkerungsmehrheit. Den Status einer Religionsgemeinschaft bekamen sie erst während der französischen Mandatszeit. Mit etwa 29 Prozent der Gesamtbevölkerung bilden sie die drittgrößte Religionsgemeinschaft nach den Schiiten und den Maroniten. Genaue aktuelle statistische Angaben über die Bevölkerungszahl im Libanon gibt es jedoch nicht. Aufgrund ihrer geographischen Lage standen die sunnitischen Küstenstädte lange Zeit unter der Kontrolle der islamischen Kalifen und Statthalter in Damaskus, Bagdad und Istanbul - mit einigen Unterbrechungen während der Kreuzzüge. Während der türkischen Herrschaft von 1517 bis 1917 befanden sie sich politisch und religiös unter der Autorität der Sultane, die faktisch als Kalifen galten. Erst nach dem Erwachen des arabischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen die Ideen des arabischen Nationalismus, der die Unabhängigkeit der arabischen Völker von der türkischen Herrschaft verlangte, an Einfluss. So unterstützten die sunnitischen Eliten die 1916 vom haschemitischen Cherif Hussein geführte Revolution. Sie lehnten gleichzeitig die Teilung des arabischen Orients in Mandatsgebiete zwischen Großbritannien und Frankreich ab. Die französische Gründung des libanesischen Staats, der 1920 an erster Stelle den Interessen der Maroniten diente, stieß bei den Vertretern der Sunniten auf Ablehnung. Sie betrachteten diesen Schritt als Ausdruck der kolonialen Teilungspolitik der arabischen Welt und verlangten den Verbleib ihrer Regionen bei Syrien. Diese Haltung änderte sich erst angesichts der Schwäche der nationalen syrischen Bewegung Anfang der 1940er Jahre, als die sunnitischen Oberschichten die Unabhängigkeit des Libanon akzeptierten. Ihre Position im neuen Staat blieb jedoch zweitrangig. Sie bekamen das Amt des Ministerpräsidenten zugesprochen, der so gut wie keine Macht besaß. Sowohl bei der Verteilung der politischen Macht als auch des nationalen Reichtums standen sie hinter den Maroniten, die in dieser Etappe den Libanon in fester Hand hielten. Die politische und wirtschaftliche Benachteiligung in den 1950er und 1960er Jahren machte die Sunniten für die Ideologie des arabischen Nationalismus empfänglich. So dienten sie als Einflusssphäre der ägyptischen Politik während der Ära des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Die Masse der Sunniten unterstützte seine antiwestliche Politik, was zur Konfrontation mit dem prowestlichen christlichen Lager und 1958 zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen führte. Die Allianz der Sunniten mit der PLO, die den Libanon in eine Basis für den bewaffneten Kampf gegen Israel verwandelte, sollte ihnen zu mehr Macht verhelfen. Dieses Bündnis gehört zu den Hauptursachen des Bürgerkriegs, der den sunnitisch-maronitischen Konsens von 1943 durch die Konfrontation zwischen der PLO und den von Israel unterstützten christlichen Milizen zerstörte. Die Vertreibung der PLO infolge des israelischen Libanonkrieges 1982 war für die nationalarabische Ideologie eine bittere Niederlage. Der Einfluss Saudi-Arabiens unter den Sunniten verstärkte sich, gleichzeitig wucherten religiös fundamentalistische Gruppierungen - besonders im Norden. Durch ihren Aufstieg entriss die schiitische Hisbollah, die mit iranisch-syrischer Unterstützung den bewaffneten Kampf gegen Israel weiterführte, den Sunniten die nationale Karte. Mehrere religiöse und politische Führer der Sunniten wurden ermordet. Das At-Taif-Abkommen, das 1989 den Bürgerkrieg beendete, verbesserte die Teilhabe der Sunniten an der Macht. Aber dies blieb angesichts der totalen syrischen Kontrolle nur auf dem Papier so. Ihr soziales und vor allem wirtschaftliches Gewicht nahm mit dem Aufstieg des Milliardärs und ehemaligen Premiers Rafik Al Hariri zu. Mit saudischer Hilfe gelang es ihm, den sunnitischen Mittelstand zu stärken und den Bildungsrückstand im Verhältnis zu den Christen aufzuholen. Der Wiederaufbau des zerstörten Beiruts sollte die politische Bedeutung der Sunniten demonstrieren. Rafik Al Hariri schaffte es, die veraltete politische Klasse der Sunniten zu erneuern. Er scheiterte jedoch letztlich daran, die Hindernisse des konfessionellen politischen Systems zu überwinden. Sowohl die antisyrische christliche Opposition als auch die Hisbollah misstrauten ihm und bekämpften ihn. Außerdem waren seine Versuche, unter den Bedingungen der syrischen Herrschaft eine souveräne politische Rolle einzunehmen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mit der Ermordung von Al Hariri am 14. Februar 2005 zerbrach das Bündnis der Sunniten mit Syrien. In der Folgezeit änderten sich die Rollen der Religionsgemeinschaften radikal. Die Sunniten nehmen gegenwärtig die alte Position der Maroniten ein und verlangen die endgültige Anerkennung des Libanon durch Syrien. Unter ihnen ist das nationalarabische Bewusstsein, das weltlichen Charakter besaß, von einem konfessionellen Bewusstsein verdrängt worden. Entscheidend für diese Entwicklung ist der Machtkampf der sunnitischen Führung mit der Hisbollah. Dieser Konflikt, der sich in der Frage der Bewaffnung der Hisbollah kristallisiert, reflektiert in erheblichem Maße die regionale Konfrontation zwischen den USA, Saudi-Arabien und Israel mit der Achse Damaskus-Teheran. Die Schiiten Die Schiiten im Libanon gehören zur Gruppe der gemäßigten Zwölferschia, die auch die Mehrheit der Bevölkerung im Irak und im Iran stellt. Hinsichtlich des Festhaltens an den Grundpfeilern des Islams unterscheiden sie sich nicht von den Sunniten. Die Schiiten glauben jedoch an die göttliche Bestimmung des Kalifen Alis und der elf Imame, die aus seiner Ehe mit Fatima, der Tochter des Propheten Mohammed, entstammen. Diese Imame gelten nach der schiitischen Lehre als unfehlbar. Der letzte von ihnen, Al Mahdi, verschwand im Jahre 873 und soll in der Endzeit wieder erscheinen. Unter den Religionsgemeinschaften gelten die Schiiten in Libanon als die Spätzünder. Ihr Aufstieg während der vergangenen drei Jahrzehnte verschob das politische Kräfteverhältnis. Dies liegt in ihrem demographischen Gewicht und in ihren regionalen Bündnissen begründet. Auch die libanesischen Schiiten erhielten 1926 erstmalig durch die französische Mandatsmacht den Status einer anerkannten Religionsgemeinschaft. Zuvor waren sie von den sunnitischen Kalifen und Statthaltern als Häretiker des Islams betrachtet und verfolgt worden. Ihre ländlichen Wohngebiete im Süden und Osten blieben nach der Unabhängigkeit sozial und wirtschaftlich unterentwickelt. Bis in die 1970er Jahre hinein besaßen die Schiiten kein politisches Gewicht. Sie bekamen das unbedeutende Amt des Parlamentspräsidenten und wurden im Staatsapparat benachteiligt. Die schiitische politische Klasse rekrutierte sich aus feudalen Familien, die kein Interesse hatten, den Rückstand ihrer Konfession zu überwinden. Auch die schiitische Geistlichkeit litt in dieser Phase an akuter Schwäche. Sie besaß weder soziale noch Bildungsinstitutionen, wie andere Konfessionen sie hatten. Dieser Zustand änderte sich allmählich mit der Entwicklung einer Elite und dem Aufstieg eines schiitischen Mittelstands dank der Emigration nach Westafrika und in die Golfstaaten. Außerdem verstärkten nationale, weltliche und vor allem linke Parteien ihren Einfluss unter den Schiiten, was zu ihrer sozialen und politischen Mobilisierung führte. Mit der Gründung des schiitischen Oberen Rats durch den Geistlichen Mussa As-Sadr im Jahre 1969 gingen die Schiiten in die Offensive. Sie verlangten mehr politische Beteiligung und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Regionen. Die gleichzeitige bewaffnete Etablierung der PLO im Südlibanon ging zu Lasten der Schiiten, die in dieser Phase zwischen dem Hammer der Israelis und dem Amboss der Palästinenser standen. As-Sadr verhielt sich während des Bürgerkrieges 1975 neutral zwischen den christlichen Milizen und der PLO und ihren libanesischen Verbündeten. Er gründete trotzdem die Amal-Miliz, die den Palästinensern feindlich gesonnen war. Das Verschwinden von As-Sadr 1978 während einer Reise nach Libyen hinterließ ein politisches Vakuum unter den Schiiten, die eine bedeutende Integrationsfigur verloren. Für die weitere Entwicklung der Schiiten spielte der Sieg der islamischen Revolution in Iran 1979 und der israelische Libanonkrieg von 1982 eine zentrale Rolle. Beide Ereignisse leisteten der Hisbollah Geburtshilfe. Die Beziehungen der libanesischen Schiiten zu Iran reichen übrigens bis ins 16. Jahrhundert zurück. Damals halfen schiitische Gelehrte aus Südlibanon der Safawiden-Dynastie bei der Etablierung des Schiismus als Staatsreligion. Deshalb war das Regime von Ruhollah Khomeini von Anfang an bemüht, die libanesischen Schiiten für seine Revolution zu gewinnen. Revolutionsgardisten halfen bei der Bewaffnung der Hisbollah, und der iranische Staat finanzierte ihre sozialen Institutionen. Auf der anderen Seite trieb die israelische Besatzung des Südlibanons, die von 1982 bis 2000 währte, die Schiiten mehr und mehr in die Arme der Hisbollah, die den Kampf gegen die Besatzer führte und praktisch die alte Rolle der PLO übernahm. Die Hisbollah konnte mit syrisch-iranischer Hilfe die weltlichen schiitischen Kräfte und die konkurrierende Amal-Organisation verdrängen. Es gelang ihr, im Jahre 2000 den israelischen Rückzug aus dem Süden zu erzwingen und sich in den Augen vieler Libanesen als Befreiungskraft zu profilieren. Mit dem Aufstieg der Hisbollah wurden die Schiiten zur stärksten politischen Kraft im Libanon, was die Ängste der anderen Religionsgemeinschaften schürte. Das Festhalten der Gottespartei an ihren Waffen besonders nach dem syrischen Abzug und ihre Allianz mit Syrien und Iran führte zum Konflikt mit den Sunniten und ihren drusischen und christlichen Verbündeten. Der jüngste Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006 trug noch dazu bei, die Verbindung der Hisbollah mit ihrer schiitischen Basis zu stärken und die schiitische Zivilgesellschaft zu schwächen. Die gegenwärtige schiitisch-sunnitische Polarisierung gefährdet die innere Stabilität des Libanon. Das Land stand Anfang Mai dieses Jahres am Rande eines Bürgerkrieges, der in letzter Sekunde durch das Abkommen von Doha verhindert wurde. Von der Stärke der Hisbollah können letztlich weder der Libanon noch die Schiiten profitieren. Die Machtspiele der Maroniten, Sunniten und Schiiten erwiesen sich bisher als die größte Bremse für die politische Stabilität und die Demokratie. Die konfessionelle Vielfalt im Libanon kann im Rahmen eines laizistischen Systems zu seiner kulturellen Bereicherung führen. Ihre Politisierung brachte den Libanesen nur Krieg und Elend.
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Husseini, Abdel Mottaleb El
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31149/die-religionsgemeinschaften-im-libanon/
Die Machtspiele von Maroniten, Sunniten und Schiiten erwiesen sich bisher als größtes Hindernis für die politische Stabilität und die Demokratie im Libanon.
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4. April: Internationaler Tag der Minenaufklärung | Hintergrund aktuell | bpb.de
Vor 21 Jahren scheiterten die Verhandlungen der Vereinten Nationen (UN), Antipersonenminen im Rahmen der UN-Vereinbarung über konventionelle Waffen vollständig zu verbieten. Inzwischen sind zwar viele Staaten der Ottawa-Konvention, einem multilateralen Vertrag gegen Antipersonenminen beigetreten, dennoch stellen Minen weltweit weiterhin eine akute Gefahr für viele Menschen dar. Der "Internationale Tag für die Aufklärung über die Minengefahren und der Unterstützung bei der Minenräumung" will auf die verheerende Wirkung von Minen aufmerksam machen. Jährlich mehrere Tausend Minenopfer Die UN schätzen, dass vor 1997 rund 110 Millionen Minen in circa 70 Ländern verlegt wurden. In einer Resolution vom 8. Dezember 2005 äußert sich die UN-Generalversammlung als "zu tiefst beunruhigt über die Anzahl der Minen, die weiterhin jedes Jahr gelegt werden". Die "International Campaign to Ban Landmines" (ICBL), ein Netzwerk von über 1.200 nichtstaatlichen Organisationen in rund 100 Ländern, das sich weltweit gegen Minen engagiert, gibt an, dass 2015 mehr als 6.460 Menschen durch eine Mine verletzt oder getötet wurden. Da die Dunkelziffer sehr hoch ist, liegen manche Schätzungen mit rund 10.000 Verletzten und Getöteten noch höher. Die Zahlen sind rückläufig; 1996 sprachen die UN noch von rund 25.000 Minenopfern pro Jahr. Ottawa-Konvention verbietet die Herstellung von Antipersonenminen Weltweit waren Ende 2016 laut der Statistik des Landminen-Monitors 64 Staaten mit Antipersonenminen kontaminiert. Die Länder Afghanistan, Angola, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Irak, Kambodscha, Kroatien, Thailand, Tschad, Türkei und die West-Sahara waren dabei mit Flächen von mehr als 100 Quadratkilometern am stärksten betroffen. 1999 trat die sogenannte Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen in Kraft. Derzeit gibt es 162 Vertragsstaaten, darunter alle Staaten der Europäischen Union, Japan und Kanada. Die Ottawa-Konvention verbietet nicht nur den Einsatz und die Herstellung von Antipersonenminen. Die Unterzeichner-Staaten verpflichten sich ebenfalls dazu ihre Lagerbestände im Zeitraum von vier Jahren zu vernichten sowie alle bereits verlegten Minen innerhalb von zehn Jahren zu räumen. In der Vergangenheit produzierten mehr als 50 Staaten Antipersonenminen. Heute sind es offiziell zwölf: China, Indien, Iran, Kuba, Myanmar, Nordkorea, Pakistan, Russland, Singapur, Südkorea, die USA und Vietnam. Keines dieser Länder ist jedoch Vertragsstaat der Ottawa-Konvention. Allerdings produzieren die meisten von ihnen nicht mehr aktiv Antipersonenminen, sondern behalten sich lediglich das Recht vor, dies zu tun. Insgesamt bewertet das Auswärtige Amt die Umsetzung des Antipersonenminen-Verbots als erfolgreich. Der Handel mit den Minen habe praktisch aufgehört und die Zahl der Länder, die Antipersonenminen herstellen, sei stark zurückgegangen. Rückläufige Ausgaben für Anti-Minen-Einsätze Weltweit wurden laut ICBL 2015 rund 470 Millionen Dollar für die Bekämpfung von Minen ausgegeben. Im dritten Jahr in Folge sind die Ausgaben damit rückläufig: 2014 waren noch gut 140 Millionen Dollar mehr gezahlt worden. Die USA sind der größte Geldgeber, 2015 zahlten sie knapp 120 Millionen Dollar. Afghanistan erhielt mit rund 52 Millionen Dollar im weltweiten Vergleich die größte finanzielle Unterstützung. Die Gelder werden eingesetzt, um Minen zu räumen, Lagerbestände zu vernichten und Minenopfer zu unterstützen. Zudem werden durch diese Gelder Bildungsprogramme, die über die Auswirkungen von Minennutzung, aufklären sollen. Mehr zum Thema: Interner Link: Die Vereinten Nationen Interner Link: Dokumentation: UNICEF: Ukraine Konflikt betrifft mehr als eine halbe Million Kinder
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-27T00:00:00"
"2017-03-31T00:00:00"
"2021-08-27T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/245749/4-april-internationaler-tag-der-minenaufklaerung/
Seit Ende 2005 ist der 4. April der "Internationale Tag der Aufklärung über die Minengefahren und der Unterstützung bei der Minenräumung". Die Vereinten Nationen wollen damit auf die tödliche Gefahr von Minen aufmerksam machen, die weiterhin in viel
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Aufzeichnungen der Sektionen | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
Sektion 1: Emotionen und Politik: Stimmungen statt Argumente? Sektion 1: Emotionen und Politik: Stimmungen statt Argumente? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 1 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 2: Emotionen im Netz: Entfesselte Kommunikation? Sektion 2: Emotionen im Netz: Entfesselte Kommunikation? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 2 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 3: Partizipation – Was treibt uns an? Sektion 3: Partizipation – Was treibt uns an? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 3 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 4: Gender und Race: Emotionen als Mittel zur Machtentfaltung Sektion 4: Gender und Race: Emotionen als Mittel zur Machtentfaltung Veranstaltungsmitschnitt Sektion 4 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 5: Besorgt, ängstlich und wütend: Emotionale Rezeptionen gesellschaftlicher Umbrüche Sektion 5: Besorgt, ängstlich und wütend: Emotionale Rezeptionen gesellschaftlicher Umbrüche Veranstaltungsmitschnitt Sektion 5 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 6: Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung: Was bewirken Emotionen? Sektion 6: Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung: Was bewirken Emotionen? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 6 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 7: Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie? Sektion 7: Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie? Video Sektion 7 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 8: Besser mit Gefühl? Emotionalisierende Zugänge politischer Bildung Sektion 8: Besser mit Gefühl? Emotionalisierende Zugänge politischer Bildung Veranstaltungsmitschnitt Sektion 8 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 9: Zugehörigkeiten und Heimatgefühle Sektion 9: Zugehörigkeiten und Heimatgefühle Veranstaltungsmitschnitt Sektion 9 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 10: Cool bleiben und Grenzen ziehen? – Wie reagiert politische Bildung auf emotionalisierte Verhältnisse? Sektion 10: Cool bleiben und Grenzen ziehen? – Wie reagiert politische Bildung auf emotionalisierte Verhältnisse? Video Sektion 10 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 11: Emotionen und Technologie: Was ist der Kern der Menschlichkeit? Sektion 11: Emotionen und Technologie: Was ist der Kern der Menschlichkeit? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 11 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 12: Bitte schön aufmucken! Kunst als Politik und politische Bildung Sektion 12: Bitte schön aufmucken! Kunst als Politik und politische Bildung Veranstaltungsmitschnitt Sektion 12 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 13: 30 Jahre Friedliche Revolution Sektion 13: 30 Jahre Friedliche Revolution Veranstaltungsmitschnitt Sektion 13 Interner Link: Weitere Informationen finden Sie hier. Sektion 1: Emotionen und Politik: Stimmungen statt Argumente? Sektion 1: Emotionen und Politik: Stimmungen statt Argumente? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 2: Emotionen im Netz: Entfesselte Kommunikation? Sektion 2: Emotionen im Netz: Entfesselte Kommunikation? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 3: Partizipation – Was treibt uns an? Sektion 3: Partizipation – Was treibt uns an? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 4: Gender und Race: Emotionen als Mittel zur Machtentfaltung Sektion 4: Gender und Race: Emotionen als Mittel zur Machtentfaltung Veranstaltungsmitschnitt Sektion 5: Besorgt, ängstlich und wütend: Emotionale Rezeptionen gesellschaftlicher Umbrüche Sektion 5: Besorgt, ängstlich und wütend: Emotionale Rezeptionen gesellschaftlicher Umbrüche Veranstaltungsmitschnitt Sektion 6: Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung: Was bewirken Emotionen? Sektion 6: Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung: Was bewirken Emotionen? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 7: Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie? Sektion 7: Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie? Video Sektion 8: Besser mit Gefühl? Emotionalisierende Zugänge politischer Bildung Sektion 8: Besser mit Gefühl? Emotionalisierende Zugänge politischer Bildung Veranstaltungsmitschnitt Sektion 9: Zugehörigkeiten und Heimatgefühle Sektion 9: Zugehörigkeiten und Heimatgefühle Veranstaltungsmitschnitt Sektion 10: Cool bleiben und Grenzen ziehen? – Wie reagiert politische Bildung auf emotionalisierte Verhältnisse? Sektion 10: Cool bleiben und Grenzen ziehen? – Wie reagiert politische Bildung auf emotionalisierte Verhältnisse? Video Sektion 11: Emotionen und Technologie: Was ist der Kern der Menschlichkeit? Sektion 11: Emotionen und Technologie: Was ist der Kern der Menschlichkeit? Veranstaltungsmitschnitt Sektion 12: Bitte schön aufmucken! Kunst als Politik und politische Bildung Sektion 12: Bitte schön aufmucken! Kunst als Politik und politische Bildung Veranstaltungsmitschnitt Sektion 13: 30 Jahre Friedliche Revolution Sektion 13: 30 Jahre Friedliche Revolution Veranstaltungsmitschnitt
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-10-18T00:00:00"
"2019-03-11T00:00:00"
"2022-10-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/287158/aufzeichnungen-der-sektionen/
Auf dieser Seite finden Sie die Aufzeichnungen aller Sektionen des 14. Bundeskongress Politische Bildung.
[ "Emotionen und Politik" ]
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Dimensionen einer Katastrophe | 20 Jahre Tschernobyl | bpb.de
Einleitung Infolge der Reaktorexplosion, die sich am 26. April 1986 um 1.23 Uhr Ortszeit als Folge eines planmäßigen Tests während des Herunterfahrens zu Renovierungsarbeiten im Atomkraftwerk (AKW) Tschernobyl ereignete, wurden weite Teile von Belarus (Weißrussland), der Ukraine und Russland radioaktiv verstrahlt. Etwa 70 Prozent des Fallouts gingen auf Belarus nieder. Infolgedessen wurden 23 Prozent des belarussischen Territoriums mit über 1 Curie/Quadratkilometer Cäsium-137 kontaminiert. Zum Zeitpunkt der Katastrophe lebten dort etwa 2,2 Millionen Menschen, über ein Fünftel der belarussischen Bevölkerung. In der Ukraine und in Russland waren fünf bzw. 0,6 Prozent des Territoriums mit einer Bevölkerung von 2,4 Millionen (fünf Prozent der Gesamtbevölkerung) bzw. 2,6 Millionen (ein Prozent) betroffen. Über das Ausmaß der Katastrophe und die gesundheitlichen Risiken erfuhren die Menschen in den betroffenen Regionen erst mehrere Jahre nach der Reaktorexplosion. Denn ungeachtet der von dem 1985 ernannten Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow proklamierten neuen politischen Transparenz versuchten die sowjetischen Behörden die Folgen des Unfalls zunächst zu verschweigen. Dabei forderten belarussische und ukrainische Naturwissenschaftler bereits kurz, nachdem sie von der Reaktorexplosion erfahren hatten, von der politischen Führung ihrer Republiken umfassende Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung. So schlug der damalige Leiter des Instituts für Atomenergie der belarussischen Akademie der Wissenschaften, Wasilij Nesterenko, der belarussischen Parteispitze schon am 29. April 1986, gestützt auf Messergebnisse seines Instituts, die Evakuierung weiter Bevölkerungsteile in einem Umkreis von 100 Kilometern um den Reaktor sowie eine umfassende Jodprophylaxe vor. Zu diesem Zeitpunkt stimmte die Moskauer Zentrale jedoch lediglich der Evakuierung der Stadt Pripjat, in der die Belegschaft des AKW Tschernobyl lebte, zu. Die Evakuierung der Bevölkerung in einem Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor erfolgte erst in den ersten Maitagen, nachdem in den verstrahlten Regionen noch die Paraden zum Tag der Arbeit abgehalten worden waren. Ende Mai 1986 wurden zudem mehrere hunderttausend Kinder aus den betroffenen Gebieten für die Sommermonate zu Ferienaufenthalten in andere Regionen verschickt. Gleichzeitig versicherten die sowjetischen Behörden den Menschen, dass keinerlei Gefahr für ihre Gesundheit bestehe und sie bald wieder in ihre Heimatorte zurückkehren könnten. Die radioaktive Belastung wurde als ebenso besiegbar dargestellt wie die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Im Bewusstsein vor allem älterer Menschen erschienen die von den Behörden getroffenen Maßnahmen daher tatsächlich wie eine Wiederholung der Ereignisse von 1941. Allerdings gab es dieses Mal keinen Sieg: Die Katastrophe von Tschernobyl wurde zum Totalausfall von "Glasnost" - und leitete die Auflösung der Sowjetunion ein. Der Anfang vom Ende der Sowjetunion Die Parteispitze ignorierte zunächst hartnäckig die aus der Wissenschaft laut werdenden Forderungen nach einer Intensivierung der Strahlenschutzmaßnahmen. So sandte der belarussische Schriftsteller Ales Adamowitsch bereits am 1. Juni 1986 einen Brief an Gorbatschow, in dem er diesen, unter Berufung auf die von belarussischen Naturwissenschaftlern erhaltenen Erkenntnisse, dazu aufrief, sich für weitere Umsiedlungen und gründliche Lebensmittelkontrollen einzusetzen, um langfristige gesundheitliche Folgen für eine große Bevölkerungszahl zu vermeiden: "Lieber Michail Sergejewitsch, es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert, sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosigkeit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus." Obwohl die Reaktorexplosion im Wesentlichen durch Konstruktionsmängel des in Tschernobyl zum Einsatz gekommenen graphitmoderierten Reaktortyps RBMK ermöglicht wurde, vertrat die sowjetische Führung weiterhin die offizielle Version, dass ausschließlich individuelle Fehler des Bedienungspersonals für die Katastrophe verantwortlich seien, um den geplanten Ausbau der Atomenergie nicht zu gefährden. Ende Juli 1987 wurde der AKW-Direktor Viktor Brjuchanow sowie drei weitere leitende Angestellte zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Anfänglich schien das Ausbauprogramm ungeachtet der Katastrophe weiterzulaufen. In der Ukraine wurden bis 1989 sechs von insgesamt 15 im Bau bzw. in Planung befindlichen Reaktorblöcken in Betrieb genommen, davon drei noch 1986. Die offizielle Geheimhaltungs- und Verharmlosungspolitik ließ sich allerdings nicht fortführen. Denn zum einem standen die anhaltenden Dekontaminierungsmaßnahmen in den betroffenen Regionen und das Rückkehrverbot in die entsiedelten Orte in einem zu auffälligen Kontrast zur behaupteten Wiederherstellung von Normalität. Zum anderen ermöglichte die Lockerung des Eisernen Vorhangs infolge der Perestroika der Bevölkerung zunehmend den Zugang zu westlichen Informationen - und damit auch über die in den westlichen Ländern in Reaktion auf das Unglück getroffenen Maßnahmen. Der Schock darüber, dass dort bereits in den ersten Tagen nach der Katastrophe größere Vorsichtsmaßnahmen als im eigenen Land getroffen worden waren, trug zum wachsenden Misstrauen vieler Menschen gegenüber dem sowjetischen System bei. Von entscheidender Bedeutung für die Änderung der sowjetischen Politik wurde die erstmalige Abhaltung freier Wahlen 1989 und 1990. Die Parteifunktionäre in den betroffenen Republiken sahen sich neuem Legitimationsdruck von unten ausgesetzt, der ihre Hörigkeit gegenüber dem Moskauer Zentrum verringerte. So wurden die ersten, noch unvollständigen Karten über die Verteilung der radioaktiven Belastung im Vorfeld der Wahlen zum sowjetischen Volksdeputiertenkongress im Februar 1989 in den Medien veröffentlicht. Am Tag vor der Eröffnung des Kongresses am 25. Mai 1989 wurde die Informationssperre über die Katastrophenfolgen weitgehend aufgehoben. Zahlreiche unabhängige, kritische Abgeordnete wurden in den Kongress gewählt, darunter die belarussische Ärztin Swetlana Tkatschew aus Slawgorod oder die ukrainische Journalistin Alla Jaroschinskaja aus Naroditschi. Letztere wurde weltweit bekannt, als sie während ihrer Tätigkeit als Abgeordnete geheime Protokolle des Politbüros entwendete und veröffentlichte, welche den außerordentlichen Zynismus der Parteiführung im Umgang mit den Katastrophenfolgen dokumentierten. Der sich verstärkende Eindruck, dass vor allem Moskau die Verantwortung für die mehrjährige Verharmlosung der Katastrophe trug, förderte die Unabhängigkeitsbestrebungen in Belarus und der Ukraine. Obwohl die Kommunistische Partei in beiden Republiken nach den Wahlen zum Obersten Sowjet im März 1990 die Mehrheit behielt, unterstützen im Sommer 1990 auch die kommunistischen Abgeordneten die von den Volksfronten vorgeschlagenen Souveränitätserklärungen. Darin wurde das Territorium beider Republiken zum ökologischen Notstandsgebiet erklärt und ein Moratorium über den Bau neuer Atomkraftwerke verhängt. Das belarussische und das ukrainische Parlament verabschiedeten im Februar 1991 Gesetze, die umfassende Umsiedlungsprogramme und soziale Unterstützungsmaßnahmen für die Menschen vorsahen, die von den Folgen der Reaktorkatastrophe betroffen worden waren. Dabei legten sie deutlich niedrigere Grenzwerte im Hinblick auf Bodenbelastung und Gesamtkörperdosen zugrunde, als es von den im Auftrag der sowjetischen Unionsregierung tätigen Wissenschaftlern sowie dem von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) geleiteten "Internationalen Tschernobyl-Projekt" empfohlen wurde. Nach der Unabhängigkeit Die belarussischen und ukrainischen Sondergesetze, nach denen über eine Million Menschen das Recht auf staatlich finanzierte Umsiedlung aus den kontaminierten Regionen zugesprochen wurde, waren freilich in der Annahme entwickelt worden, dass ihre Finanzierung überwiegend durch den Unionshaushalt erfolgen würde. Durch die Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 sahen sich die Nachfolgestaaten nun gezwungen, die Maßnahmen aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Welche Belastungen damit verbunden waren, zeigen Berechnungen der belarussischen Akademie der Wissenschaften aus den neunziger Jahren, denen zufolge sich der für Belarus entstandene Gesamtschaden auf 235 Milliarden US-Dollar für die Jahre 1986 bis 2015 beläuft. Dementsprechend waren 1992 insgesamt 19,9 Prozent des Staatshaushalts für Maßnahmen zur Bewältigung der Katastrophenfolgen vorgesehen; in der Ukraine waren es 15,7 Prozent. Angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise wurden diese Ausgaben in den folgenden Jahren in beiden Ländern kontinuierlich auf etwa fünf Prozent zurückgefahren. Dementsprechend war seit 1993 ein deutlicher Rückgang der Umsiedlerzahlen zu beobachten: So wurden beispielsweise 1995 in Belarus lediglich noch 1 342 Personen gegenüber knapp 20 000 im Jahr 1992 umgesiedelt. Insgesamt wurden in den Jahren 1991 bis 2000 aus den verstrahlten Regionen 231 000 Menschen umgesiedelt, davon 111 000 in Belarus, 72 000 in der Ukraine und 46 000 in Russland - während es bis 1990 lediglich 118 400 Menschen, davon 24 000 in Belarus, 3 400 in Russland und 91 000 in der Ukraine, gewesen waren. Neben den knapperen staatlichen Mitteln war auch ein Einstellungswandel in der Bevölkerung für den Rückgang der Umsiedlerzahlen seit 1993 verantwortlich: Die Integration der Umsiedler an den neuen Wohnorten verlief häufig schwierig, es fehlte an Arbeitsplätzen und sozialer Infrastruktur. Angesichts der gravierenden sozioökonomischen Probleme begannen die Menschen, die radioaktive Gefahr zunehmend zu verdrängen. Mitte der neunziger Jahre setzte eine Rückwanderung von Umsiedlern in die belasteten Gebiete ein. Insbesondere galt dies für ältere Dorfbewohner, welche in städtische Siedlungen umgesiedelt worden waren. Darüber hinaus bildeten die leerstehenden Häuser in den belasteten Gebieten auch einen Zufluchtsort für Bürgerkriegsflüchtlinge aus den kaukasischen oder zentralasiatischen Staaten. Im Ergebnis dieser Migrationsprozesse bildete sich in den kontaminierten Regionen eine problematische demografische Situation heraus, die sich durch einen erhöhten Anteil an alten Menschen und sozialen Risikogruppen auszeichnete. Je deutlicher wurde, dass in zahlreichen Orten entgegen den bisherigen Annahmen auch langfristig Menschen leben würden, umso mehr wurde der Bedarf nach einer Revision der 1991 verabschiedeten Leitlinien der staatlichen Tschernobyl-Konzeptionen erkennbar. Allerdings bestand lediglich im Hinblick auf die Umsiedlungsmaßnahmen ein weitgehender Konsens zwischen Staat und Bevölkerung, da die Bevölkerung im Unterschied zu den staatlichen Stellen an der Fortsetzung der umfangreichen Sozialmaßnahmen, wie kostenlose Verpflegung in Schulen und jährliche Erholungsmaßnahmen für Kinder, interessiert war. Infolgedessen entschieden sich die Regierungen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre lediglich für eine schleichende Änderung ihrer Tschernobyl-Politik. Zu den wichtigsten Einsparmaßnahmen gehörten neben der Aufhebung der Umsiedlungspflicht und des Investitionsstopps für Orte mit einer Belastung von über 15 Curie/Cäsium-137 pro Quadratkilometer die Verringerung der Betroffenenanzahl durch eine Neueinteilung der belasteten Gebiete - wobei das "Schrumpfen" der kontaminierten Regionen durch den natürlichen Verfallsprozess der Radionuklide bzw. in Russland und in der Ukraine auch mit den Ergebnissen des Messprogramms zur Bestimmung der Ganzkörperdosen der Betroffenen begründet wurde. Im Ergebnis sank die Zahl der durch das Sozialschutzgesetz begünstigten Personen in Russland von 2,6 (1997) auf 1,9 Millionen (1998); 2004 lebten in den belasteten Gebieten von Belarus und Russland noch jeweils 1,6 Millionen Menschen. In der Ukraine ging die Gesamtzahl der Begünstigten (einschließlich der als "Liquidatoren" bezeichneten Teilnehmer an den Dekontaminierungsarbeiten um das AKW Tschernobyl) von 3,2 (1997) auf 2,6 Millionen (2006) zurück. Gleichzeitig wurden die kostenlose Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel aufgehoben und die Anzahl der kostenlosen Mahlzeiten pro Tag reduziert. Auf die Reduzierung der Unterstützungsleistungen reagierten die Menschen in den drei Staaten höchst unterschiedlich. So wurden in Russland über 35 000 Klagen eingereicht, um zumindest eine Anpassung der Sozialleistungen an die Inflation zu erreichen. Rückwirkend wurde ein entsprechender Ausgleich für die Jahre 2002 bis 2004 angeordnet. Verantwortlich für diese Proteste zeichnen in Russland und der Ukraine insbesondere die Liquidatorenverbände, welchen in Belarus aufgrund der geringeren Anzahl der Liquidatoren nur ein geringes Gewicht zukommt. Gleichzeitig spiegelt sich in dem Umstand, dass die Reduzierung der staatlichen Leistungen in Belarus insgesamt auf den geringsten aktiven Widerstand stieß, auch die unterschiedliche Entwicklung der politischen Systeme wider, wobei der belarussische Staat in höchstem Maße die Rolle eines paternalistischen Fürsorgestaats ausübt. Es bleibt festzuhalten, dass ungeachtet aller Kürzungen die sozialen Leistungen für die betroffenen Bevölkerungsgruppen in allen drei Staaten weiterhin beträchtlich sind. So erhielten beispielsweise im Jahr 2000 in Belarus 293 895 Kinder, in der Ukraine 347 500 Kinder die Möglichkeit zu kostenlosen Erholungsaufenthalten. Internationale Tschernobyl-Hilfe Der Wandel der Tschernobyl-Politik in den betroffenen Staaten wurde auch durch das Verhalten der internationalen Gemeinschaft bestimmt, da insbesondere Belarus und die Ukraine nach der Unabhängigkeit für die Umsetzung der Maßnahmen auf Hilfe von außen angewiesen waren. Die Bemühungen insbesondere der belarussischen Führung, im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) finanzielle Unterstützung für die Tschernobyl-Programme zu erhalten, stießen 1992 allerdings lediglich in Russland und Moldawien auf eine gewisse Resonanz. Ebenso wenig erfüllten sich die Erwartungen beider Staaten an die UNO, die sich 1990 bereit erklärt hatte, die Koordination der internationalen Tschernobyl-Hilfe zu übernehmen. In den UN-Sonderfonds gingen Anfang der neunziger Jahre nur bescheidene Beiträge ein. Die Hilfe der Europäischen Union (EU) konzentrierte sich vor allem auf wissenschaftliche Fragen sowie auf die Stilllegung des AKW Tschernobyl und die Sicherung des um den zerstörten Reaktor errichteten Sarkophags. Dabei zogen sich die Verhandlungen aufgrund der unterschiedlichen Positionen beider Seiten hinsichtlich der Schaffung alternativer Stromproduktionskapazitäten in die Länge: Die endgültige Schließung des AKW erfolgte erst im Dezember 2000, für die Erneuerung des Sarkophags wird noch an einer endgültigen Lösung gearbeitet: Bis 2008 soll der zerstörte Reaktor mit einer zweiten, sichereren Ummantelung umgeben werden, da der bisherige Sarkophag seit Jahren gefährliche Risse aufweist. De facto waren es Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus vielen Ländern, die der Bevölkerung die meiste Hilfe zur Minderung der Katastrophenfolgen gewährten. So gab die belarussische Regierung 1993 an, bis dahin 82 Prozent der gesamten Hilfeleistungen von NGOs erhalten zu haben. Dabei stammte der größte Anteil dieser Hilfe aus Deutschland: Bis Mitte der neunziger Jahre hatten sich hier über 1 000 Initiativen gebildet, die Kinder zur Erholung einluden, Hilfstransporte organisierten oder andere Maßnahmen gemeinsam mit Partnern vor Ort durchführten. Dabei engagierte sich die Mehrheit dieser Initiativen in Belarus. Das Volumen der von Belarus aus Deutschland erhaltenen Hilfe belief sich in den vergangenen Jahren auf jährlich etwa 20 Millionen US-Dollar. Zudem werden jährlich nach wie vor etwa 10 000 Kinder von Gasteltern zur Erholung nach Deutschland eingeladen. Allerdings wird diese Hilfe in Belarus nicht uneingeschränkt willkommen geheißen. Seit 1998 lässt sich eine zunehmende staatliche Regulierung dieser Hilfe beobachten, die nicht nur der Vermeidung von Missbrauch dient, sondern offenbar auch die Entfaltung von zivilgesellschaftlichem Engagement hemmen soll. Ähnliche Tendenzen ließen sich auch in Russland und zum Teil in der Ukraine beobachten, wobei die dortige Gesetzgebung allerdings größere Möglichkeiten vorsah, Eigenmittel für Selbsthilfegruppen zu erwirtschaften, und damit deutlicher die Eigeninitiative förderte. Während die private Tschernobyl-Hilfe in den vergangenen Jahren auch infolge der zunehmenden öffentlichen Verdrängung der Katastrophe zu stagnieren beginnt, lässt sich seit 2002 eine Wiederbelebung der Kooperation zwischen den betroffenen Staaten und internationalen Organisationen beobachten. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Wandel in der Tschernobyl-Politik der drei unmittelbar betroffenen Staaten. Mit Hilfe der internationalen Organisationen vermochten die Regierungen ihre neue Tschernobyl-Politik unter dem Schlagwort "Rehabilitation der betroffenen Regionen" aktiver zu propagieren. Entsprechend dieser Strategie, welche die Entwicklung lokaler Gemeinschaften und insbesondere die Verbesserung der Infrastruktur und des Gesundheitswesens in den belasteten Gebieten unterstützen will, wurde im Jahr 2004 innerhalb der UNO die Zuständigkeit für alle Fragen in Bezug auf Tschernobyl vom stellvertretenden UN-Generalsekretär auf das Entwicklungsprogramm UNDP übertragen. Gemeinsam mit dem UNDP hatte das belarussische Tschernobyl-Komitee bereits 2003 das Programm CORE (Cooperation for Rehabilitation) unter Beteiligung zahlreicher internationaler Organisationen und Staaten entwickelt, das den neuen Ansatz in Pilotprojekten in vier kontaminierten Regionen des Landes anwenden sollte. Das für Belarus Besondere von CORE besteht darin, dass sich neben staatlichen Organisationen auch NGOs aktiv beteiligen können und die Projektentwicklung überwiegend von unten erfolgen soll. In der Ukraine verfolgte das UNDP noch deutlicher einen Ansatz, der auf die lokale Gemeinschaftsbildung in den kontaminierten Regionen zielt. Umstrittene Folgen Im Jahr 2003 wurde unter Leitung der IAEA ein Tschernobyl-Forum gegründet, dem neun UN-Organisationen sowie die Regierungen von Belarus, Russland und der Ukraine angehören. Zentrale Aufgabe des Forums sollte die Einschätzung der ökologischen, medizinischen und sozialökologischen Folgen von Tschernobyl bilden. Die im September 2005 veröffentlichten Bewertungen des Tschernobyl-Forums lösten unterschiedliche öffentliche Reaktionen aus. Dem Bericht zufolge stellen Rauchen und Alkoholgenuss insgesamt betrachtet ein höheres Gesundheitsrisiko für die Menschen dar als permanente radioaktive Niedrigstrahlung. Gleichwohl werden für einen eingeschränkten Betroffenenkreis von etwa 600 000 Personen, insbesondere Liquidatoren und Umsiedler aus der Sperrzone, signifikante medizinische Folgen anerkannt, wie beispielsweise die Zunahme von Schilddrüsenerkrankungen, die auf die Jodverstrahlung in den ersten Tagen nach der Reaktorexplosion zurückzuführen ist. Bis 2005 wurden insgesamt über 4 000 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Die Zahl der Tschernobyl-bedingten Todesfälle wird vom Internationalen Tschernobyl-Forum auf 4 000 geschätzt. Insgesamt wird das Hauptproblem jedoch in der unbegründeten Angst vor der Strahlengefahr gesehen, die sich negativ auf die Gesundheit der Menschen auswirke. Der Bericht erinnert an den bereits im Internationalen Tschernobyl-Projekt von 1991 erhobenen Vorwurf der Strahlenphobie - auch wenn die psychischen Probleme der Menschen inzwischen ernster genommen werden als zuvor. Im Unterschied zu 1991 herrscht zwischen der UNO und den Regierungen der drei Länder Konsens hinsichtlich der medizinischen Folgenbewertung, wie auch in der Tschernobyl-Resolution der UNO vom 14. November 2005 festgestellt wurde. Hingegen lassen sich bei der Einschätzung der staatlichen Tschernobyl-Politik der betroffenen Länder, welche die zweite zentrale Aufgabe des Tschernobyl-Forums darstellte, weiterhin erhebliche Differenzen erkennen. Denn aus Sicht der UNO werden in den drei Staaten zu viele Ressourcen für Sozialmaßnahmen, wie beispielsweise die staatlich finanzierten jährlichen Erholungsmaßnahmen für Kinder aus den belasteten Regionen, aufgewendet. Demgegenüber besteht insbesondere die belarussische Regierung auf der Zweckmäßigkeit dieser Maßnahmen, denen sie einen wichtigen Anteil daran zuspricht, dass die faktischen Folgen von Tschernobyl bisher hinter ihren pessimistischeren Erwartungen von Anfang der neunziger Jahre zurückgeblieben seien. Auch hinsichtlich der medizinischen Folgen lassen sich dem behaupteten Konsens zum Trotz Unterschiede in der Bewertung erkennen: So waren allein in der Ukraine 2005 bereits 17 500 Todesfälle als durch die Tschernobyl-Katastrophe bedingt anerkannt. Zudem betont der jüngste Nationale Tschernobyl-Bericht der Ukraine - ähnlich wie der Nationale Bericht von Belarus aus dem Jahre 2003 -, dass es für eine umfassende Folgenbewertung noch zu früh sei. Zu den Faktoren, die eine Einschätzung der Katastrophenfolgen erschweren, gehören insbesondere das Fehlen genauer Angaben über die radioaktive Belastung der Betroffenen in der ersten Periode nach der Reaktorexplosion und die Schwierigkeit, aufgrund der Multikausalität von Erkrankungen den Einfluss der Radioaktivität zu bestimmen. Schließlich ist der Zeitpunkt seit der Katastrophe für die Bewertung der Konsequenzen der beobachtbaren genetischen Veränderungen noch zu kurz. Der ukrainische Nationale Tschernobyl-Bericht hebt außerdem das Problem der auffälligen Immundefizite bei Kindern in den kontaminierten Regionen im Vergleich zu den unbelasteten Gebieten hervor. In Belarus wie in der Ukraine werden insgesamt nur 20 Prozent der in den kontaminierten Gebieten lebenden Kindern als gesund eingestuft. Wiedereinstieg in die Atomenergie Der Paradigmenwechsel in der Tschernobyl-Politik wurde in den betroffenen Staaten von einer analogen Positionsänderung hinsichtlich der zivilen Nutzung der Atomenergie begleitet. In der Ukraine wurde mit dem Ziel, die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu verhindern, bereits 1993 der AKW-Baustopp aufgehoben und der vorläufige Weiterbetrieb des AKW Tschernobyl beschlossen. Als Ausgleich für die Stilllegung des AKW Tschernobyl erwartete die Ukraine von der internationalen Staatengemeinschaft zudem finanzielle Unterstützung bei der Fertigstellung von zwei Reaktorblöcken in den AKW Chmelnitzkij und Riwne. Als diese Unterstützung ausblieb, entschloss sich die Ukraine, beide Blöcke aus eigenen Mitteln bzw. mit russischer Unterstützung in Betrieb zu nehmen - die Realisierung dieses Vorhabens gelang freilich erst Ende 2004. Nach dem Amtsantritt von Präsident Viktor Juschtschenko erhielt die Atomenergieentwicklung in der Ukraine einen neuen Impuls: So kündigte Premierministerin Julia Timoschenko im Februar 2005 den Bau von elf weiteren Atomreaktoren bis 2030 an. Juschtschenko sprach sich im Dezember 2005 bei einem Besuch im stillgelegten AKW Tschernobyl dafür aus, die Sperrzone als Endlagerstätte für atomaren Müll aus dem In- und Ausland zu nutzen. Von dem in der Ukraine zu beobachtenden Bestreben, an der Katastrophe zu verdienen, zeugen auch touristische Angebote für Exkursionen in die Sperrzone und zum Reaktor. Auch in Belarus wird bereits seit 1992 der Bau eines Atomkraftwerks als Option zur Erhöhung der nationalen Energiesicherheit diskutiert. Im Unterschied zur Ukraine verfügte Belarus als bisher AKW-freies Land für dieUmsetzung dieser Option jedoch über wesentlich ungünstigere Voraussetzungen. Zudem hatte Belarus weniger Möglichkeiten, die finanzielle Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft für einen AKW-Bau zu erhalten, da es über kein dem AKW Tschernobyl vergleichbares Faustpfand für Verhandlungen verfügte. Aus eigenen Mitteln vermochte Belarus ein entsprechendes Projekt nicht zu realisieren. 1999 entschied sich das belarussische Parlament daher nach intensiven öffentlichen Diskussionen auf der Grundlage der Empfehlung einer nationalen Expertenkommission, das AKW-Moratorium um zehn Jahre zu verlängern. Angesichts der zunehmenden Konflikte zwischen Belarus und Russland um die Gasversorgung des Landes warf der belarussische Präsident 2005 erneut die Frage eines AKW-Baus auf. Bedenken wegen der damit verbundenen Risiken wischte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenka mit dem zynischen Argument beiseite, dass das Land ohnehin von Atomkraftwerken umgeben sei, die in den Nachbarländern Litauen, Russland und Ukraine betrieben würden. Allerdings dürfte die AKW-Option in Belarus nur mit erheblicher Unterstützung aus Russland zu realisieren sein - und damit die Energieabhängigkeit des Landes von Russland nicht verringern. Die betroffenen Staaten stehen 20 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl an einem Scheideweg: Einerseits sehen sie sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, für die Menschen in den kontaminierten Regionen Lebensbedingungen zu schaffen, welche die gesundheitlichen Risiken maximal reduzieren. Andererseits sind sie der Gefahr ausgesetzt, dass die Normalisierung des Lebens in den verseuchten Gebieten zu einer Verharmlosung der Katastrophenfolgen führt. Begünstigt werden diese Tendenzen sowohl durch den komplexen Charakter der mit Tschernobyl verbundenen Probleme als auch durch den erfolgten bzw. geplanten (Wieder-) Einstieg in die Atomenergienutzung. Über 40 Radionuklide wurden durch die Reaktorexplosion in die Atmosphäre geschleudert. Von den kurzlebigen Radionukliden waren insbesondere die Jodisotope für die Gesundheit der Menschen gefährlich. Zu den langlebigen Radionukliden gehören nebenCäsium-137 mit einer Halbwertzeit (die Zeitspanne, in der die Hälfte der Kerne zerfällt) von 30Jahren Strontium-90 (28 Jahre) und vor allem Plutonium (bis 24 400 Jahre). Vgl. OECD Nuclear Energy Agency, Chernobyl. Assessment of Radiological and Health Impacts, Paris 2002, S. 33 ff.; UNDP/UNICEF, The Human Consequences of Chernobyl. A Strategy for Recovery, 25.1. 2002, S. 35ff. Vgl. Vasilij Nesterenko, Pervye dni posle Cernobyl'skoj katastrofy v Belarusi (1986g.), ee posledstvija i akutal'nost' dlitel'noj radioacionnoj zascity naselenija, Minsk 2006. Deutsche Übersetzung in der April-Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa. Vgl. Astrid Sahm, "Und der dritte Weltkrieg heißt Tschernobyl ...", in: Fred Dorn u.a. (Hrsg.): Erinnerungen gegen den Krieg/Ne ubit' celoveka, Minsk 1995, S. 202 - 227. Ales' Adamovic, Carnobyl' i ulada, in: ders., Apakalipsis pa hrafiku, Minsk 1992, S. 3. Deutsche Übersetzung in der April-Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa. Vgl. Astrid Sahm, Transformation im Schatten von Tschernobyl. Umwelt und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine, Münster 1999, S. 211 ff.; A.S. Djatlov, Cernobyl'. Kak eto bylo, Moskau 2000. Vgl. Alla Jaroschinskaja, Verschlusssache Tschernobyl. Die geheimen Dokumente aus dem Kreml, Berlin 1994. Die sowjetische Konzeption ging von einer zulässigen Gesamtkörperbelastung im Laufe von 70 Jahren in Höhe von 35 rem (radiation equal man) bzw. einer Jahresdosis von 5 mSv (Mikrosievert) aus, während die Republikskonzeptionen lediglich 7 rem bzw. 1 mSv zugrunde legten. Vgl. ausführlich A. Sahm (Anm. 5), S. 223ff. Vgl. A. Sahm (Anm. 5), S. 236 ff.; The Human Consequences (Anm. 1), S. 32, S. 69. Wissenschaftlichen Prognosen zufolge wird sich die radioaktive Cäsium-Belastung bis 2016 um das 1,5-fache und bis 2046 um das 2,4-fache reduzieren. Vgl. Komitet po problemam posledstvij katastrofy na Cernobyl'skoj AES pri Sovete Ministrov Respubliki Belarus': Posledstvija Cernobylja dlja Belarusi: 17 let spustja, Minsk 2003, S. 5ff. Vgl. L. Anisimova/S. Belyaev, Long Term Strategy of Rehabilitation of Contaminated Territories in the Russian Federation as a Result of the Chernobyl Accident, in: EU Commission, Proceedings of the Workshop on Restoration Strategies for Contaminated Territories resulting from the Chernobyl accident, EUR 18193, Brussels, November 2000, S. 5; Nacional'na dopovid "20 rokiv Cernobyl'skoji katastrofy: pohljad v majbutne", Kyjiv 2006, S. 102f. Die Zahl der Liquidatoren beläuft sich in Belarus auf etwa 110 000, in Russland auf 200 000 und in der Ukraine auf 550 000 Personen. Vgl. The Human Consequences (Anm. 1), S. 32. Vgl. The Human Consequences (Anm. 1), S. 33; Chorosie novosti dlja cernobyl'cev, in: Rossijskaja gazeta vom 14.4. 2005. Vgl. A. Sahm (Anm. 5), S. 364 ff.; OECD (Anm. 1), S. 115ff. Vgl. Alexander Ruchlja, Schadensbegrenzung nach Tschernobyl. Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation, in: Bernhard Moltmann/Astrid Sahm/Manfred Sapper, Die Folgen von Tschernobyl, Frankfurt/M. 1994, S. 127 - 139; Peter Junge-Wentrup/Björn Kunter, Kooperation statt Konfrontation. Deutsch-belarussische Partnerschaftsinitiativen, in: Osteuropa, 54 (2004) 2, S. 111 - 126. Ausführliche Informationen zum CORE-Programm finden sich unter www.core-chernobyl.org, zu Ukraine in Nacional'na dopovid (Anm. 10), S. 113ff. The Chernobyl Forum, Chernobyl's Legacy: Health, Environmental and Socio-economic Impacts and Recommendations to the Governments of Belarus, the Russian Federation and Ukraine, Vienna 2005, www.iaea.org/NewsCenter/Focus/Chernobyl/pdfs/05 - 28601_Chernobyl.pdf (7.3. 2006). UN General Assembly, Strengthening of international cooperation and coordination of efforts to study, mitigate and minimize the consequences of theChernobyl disaster, A/60/L19, zugänglich über: www.un.org/ha/chernobyl (7.3. 2006). Nacional'na dopovid (Anm. 10), S. 56 ff.; Posledstvija Cernobylja v Belarusi (Anm. 9), S. 18ff. Vgl. A. Sahm (Anm. 5), S. 310 ff.; Uranium Information Centre, Nuclear Power in Ukraine, Briefing paper 63, August 2005, www.uic.com.au/nip63.htm (7.3. 2006). Vgl. Cernobyl'skaja zona mozet stat' kladbiscem jadernych otchodov iz drugich stran, Korrespondent vom 8.12. 2005, www.korrespondent.net. Ein Überblick über die touristischen Angebote in die Tschernobyl-Zone findet sich unter: http://pripyat.com/ru/tourism_in_ an_ area (7.3. 2006). Vgl. Gazovaja pauza zakancivaetsja, in: Belarus i rynok vom 30.1. 2006.
Article
Sahm, Astrid
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29833/dimensionen-einer-katastrophe/
Die Katastrophe von Tschernobyl zeichnet sich nicht nur durch komplexe radioökologische und medizinische Konsequenzen aus, sondern hatte auch erhebliche politische und sozioökonomische Folgen für die betroffenen Gesellschaften.
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How effective is the proposed directive? | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
To stimulate discussion, some considerations are put forward at this point for evaluating the directive proposal, without addressing analyses and discussions that have already taken place. Extended and harmonised employers' obligations The fact that private and commercial employers are to examine residence documents, and that companies are also to report the employment of foreigners will, for the main part, curb the "unintentional" employment of irregular migrants. According to current studies, however, this is not a widespread phenomenon in Europe. It is generally assumed that the employment of foreigners without status goes hand in hand with undeclared employment, meaning that employers are generally aware of the fact that they are employing the migrants in question illegally. Even if this were not the case, experience in the USA shows that it is not possible to curb the employment of irregular migrants by increasing demands on employers to make checks. For the most part, the number of employed migrants with good-quality forged documents increased. However, the intended introduction of an obligation for companies to report employment should be judged differently. This obligation could reduce the unintentional employment of immigrants without residence permits in regular jobs. This presupposes that, after data has been compared, employers are promptly notified that the immigrant in question might not be in possession of a work permit. When an employer confronts an employee after receiving such an inquiry, the employee will likely quit because he cannot produce any real papers and will not want to face subsequent investigations. However, increasing the obligations placed on employers will have no impact on the intentional undeclared employment of irregular immigrants. Therefore, it cannot be assumed that there will be less demand for irregular migrants to take up such employment. Whether the imposition of greater penalties for offering illegal employment acts as a deterrent depends greatly on which sanctions can, in fact, ultimately be enforced. Frequently fines and penalties are reduced in court because it is only possible to secure convictions on minor offences in court. Demands for additional social security contributions and taxes also tend to be underenforced. According to the German Federal Audit Office only 10 % at most of the estimated sums for damages have been recovered. Extended inspections Whether increasing the intensity of inspections actually leads to a reduction in employment opportunities for irregular migrants depends on what exactly is to be inspected and, indeed, how. This is not described in more detail in the draft directive. Where estimated costs are concerned, it is assumed that inspectors need on average three days per company, including preparation and follow-up. According to the results of studies on the inspection process in Germany, that appears to be an entirely realistic value when it comes to inspecting such places of work as restaurants or building sites. Larger companies, however, may distribute their operations over a number of sites and have high numbers of employees; in these cases the estimated costs appear too low. Moreover, it is assumed that the inspections serve only to ascertain the employment of irregular migrants, whereas in practice inspections in Europe are frequently multi-purpose. Taking Germany as an example, inspectors are simultaneously looking for foreigners without a work permit, unemployed persons with an undeclared "job on the side" and tax fraud ; 70% of suspicious cases uncovered in Germany during labour market checks concern benefit fraud on the part of native employees. On a weak empirical basis, it is estimated that currently about 2% of all companies are inspected each year and that any extension of these inspections will incur additional costs amounting to about EUR 1.1 billion. Our calculations for Germany are likewise only approximate, but suggest that the estimated costs are too low. We calculate that the monitoring authority for illegal employment (Financial Control of Undeclared Employment, FKS) carries out inspections on between 2.5 and 3% of companies. According to the Federal Audit Office's latest calculations, the FKS cost about EUR 386 million in 2006. Judging by this, if the number of inspections remains the same, Germany would roughly have to quadruple expenditure in order to meet the EU requirements. This means that Germany alone would require as much additional expenditure as the EU estimates the costs will be for all the member states put together. One argument for increasing the level of inspection to a standard percentage in all member states is that this is the only way to avoid distorting competition. If we assume, however, that member states are affected to different degrees by illegal residence, on account of their geographic location, salary level and the relative economic significance of sensitive sectors, then the question arises as to whether a standardised level of inspection does not place a disproportionate burden on states in which the illegal residence of migrants is a less significant phenomenon. Extended employee rights Whereas the approaches discussed so far essentially increase the obligations on the employer and extend those of the responsible authorities, the extension of employee rights is based on a different premise. Employees without residence status would indeed continue to face deportation if discovered in the course of employer inspections. However, governmental and private institutions would be required to enable them to claim outstanding remuneration and to be available to act as witnesses in serious cases. This would help strengthen the employees' legal security and ability to deal with conflict. If these measures were effectively enforced, it would put the employer – and not just the employee – at risk of being penalised. There have been repeated reports of employers passing information to the control authorities in the event of conflict, in order to withhold salaries from employees without residence status; if the draft directive were implemented, employees would have an incentive to report fraudulent employers to the control authorities in order to assert their claims to remuneration. This presupposes, however, that they accept their own deportation. For the employer, this would not only increase the risk involved in employing irregular migrants, but would also reduce the incentive to exploit such migrants and cheat them out of their wages. However, due to the limited practical experience in Europe with implementing such measures, it remains uncertain as to how authorities could ensure that outstanding employee claims are asserted. Whereas quantitative benchmarks have been suggested for monitoring an increase in labour market inspections, no such benchmarks have been proposed for monitoring the extension of employee rights. One solution would be to require that towns of a specific size establish an information centre; it could also be specified that the advisory activities be extended in direct proportion to labour market inspections (i.e. one new employee advisor for each new inspector). For discussion of this topic see, for example, the comments of the European NGO Picum, whose stated objective is to protect the rights of people without status. For discussion of this topic see, for example, the comments of the European NGO Picum, whose stated objective is to protect the rights of people without status. http://www.picum.org/HOMEPAGE/PICUM%20Comments%20on%20COM%202007%20249%20final%20Employer%20Sanctions.pdf See Vogel (2005). See Fix (1991). See Vogel (2001). See Abella (2000). See Federal Audit Office (2008: 24). See GHK (2007). See Cyrus and Vogel (2002). See Martin and Miller (2000). See Federal Audit Office (2008). See GHK (2007). The Financial Control of Undeclared Employment (FKS) is part of customs and therefore under the control of the Ministry of Finance. With 6,500 employees, it carries out inspections on employers and employees in order to uncover undeclared employment, illegal employment of foreigners and related criminal offences. Externer Link: http://www.zoll.de/d0_zoll_im_einsatz/b0_finanzkontrolle/index.html For 2004 the Federal Statistical Office listed 3,426,612 registered companies. According to the FKS, 104, 965 employers were inspected in the same year. See Federal Audit Office (2008). See Cyrus (2004b).
Article
Dita Vogel and Norbert Cyrus
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
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https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/58096/how-effective-is-the-proposed-directive/
To stimulate discussion, some considerations are put forward at this point for evaluating the directive proposal, without addressing analyses and discussions that have already taken place. Extended obligations: The fact that private and commercial em
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Analyse: Russlands Machtvertikale bröckelt. Die sinkenden Realeinkommen sorgen für Unzufriedenheit | Russland-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Wirtschaftliche Faktoren sind für die Unterstützung föderaler Behörden in den russischen Regionen bedeutsam. Wladimir Koslow und Maria Snegovaya zeigen in einer Studie über die Wahlergebnisse von Gouverneurskandidaten, die vom Kreml unterstützt wurden, dass die Wahlergebnisse der Kreml-Kandidaten und die Entwicklung der real verfügbaren Einkommen in einem signifikanten Zusammenhang stehen. Die Ergebnisse dieser Studie werden dann auf die Regionalwahlen am 13. September 2020 übertragen. Der Kreml war aufgrund der durch die Pandemie hervorgerufene Wirtschaftskrise gezwungen, auf massive und bisher beispiellose Wahlmanipulation zurückzugreifen, um den vom Kreml vorher ernannten Kandidaten ins Amt zu helfen. Die Krise war Anlass dafür, dass derart einschneidend in die Wahlgesetzgebung eingegriffen wurde wie schon seit 25 Jahren nicht mehr. Bei Wahlen, die vom Kreml weniger direkt kontrolliert wurden, wie etwa zu den Regionalparlamenten und den Stadträten, waren die Ergebnisse für Kandidaten, die vom Kreml unterstützt wurden, weniger überzeugend. Die Risiken bei Wahlen werden für den Kreml in der Zukunft zunehmen, je mehr sich die sozioökonomische Lage verschlechtert und die Opposition sich weiter mobilisiert. Sinkende Realeinkommen, Wahlergebnisse und Wahlmanipulationen Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass sich die Lage in den russischen Regionen weiter destabilisiert. 2019 rollte nach fünf Jahren der wirtschaftlichen Stagnation in Folge eine Protestwelle durch das Land. Im Jahr 2020 erodierte die Unterstützung für die Staatsvertreter der Zentralregierung weiter. Dies lässt sich vor allem auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage zurückführen: Durch die Pandemie war die wirtschaftliche Aktivität in vielen Bereichen zeitweise zum Erliegen gekommen, zudem fielen die Ölpreise. In einer gemeinsamen Analyse mit dem russischen Wahlstatistiker Wladimir Koslow untersuchten wir die Faktoren, die in den Jahren 2012 bis 2018 einen Wahlsieg von Gouverneurskandidaten, die vom Kreml unterstützt wurden, begünstigten. Dabei konnten wir zeigen, dass es eine positive Korrelation zwischen der Dynamik der verfügbaren Realeinkommen und den Wahlergebnissen für Kreml-Kandidaten gibt. Durch die Krise sanken im zweiten Quartal 2020 die verfügbaren Realeinkommen, was wiederum das Risiko für die Kandidaten bei den Gouverneurswahlen am 13 September erhöhte. Der Kreml war sich dieses Risikos bewusst und verabschiedete neue Gesetzesänderungen, die den Bewegungsspielraum für unabhängige Kandidaten, an Wahlen teilzunehmen, deutlich verringerten und gleichzeitig die Möglichkeiten für Wahlmanipulationen erweiterten. Einige Beobachter sprechen deswegen davon, dass die Wahlen im September 2020 unter den schlechtesten gesetzlichen Rahmenbedingungen der letzten 25 Jahre stattfanden. Dies war das Unterpfand dafür, dass die vom Kreml ernannten Interimsgouverneure sämtlich in der ersten Wahlrunde gewannen. Ohne massive Manipulation hätten die Gouverneurswahlen allerdings auch so ausgehen können wie im Jahr 2018, als vier der Kreml-Kandidaten in der ersten Runde keine ausreichende Unterstützung für sich mobilisieren konnten. Warum Russlands Regionen wichtig sind 2019 ist die Unzufriedenheit mit dem politischen System in Russland gewachsen und hat eine Protestwelle angeheizt, die sich mit Ausnahme von zwei Regionen auf alle Föderationssubjekte Russlands ausbreitete. Die Proteste waren meist gegen die föderalen Behörden gerichtet und reichten von Moskau, Archangelsk über Jekaterinburg bis hin zu den Republiken Kalmückien und Inguschetien. Dieser Trend verschärfte sich im Jahr 2020. Mitte Juli begannen in der fernöstlichen Stadt Chabarowsk Proteste gegen die Verhaftung des Gouverneurs Sergej Furgal, aber auch gegen politische Repressionen. Die Proteste weiteten sich zu einem bisher beispiellosen Ausmaß aus: Bis zu 10 Prozent der Einwohner von Chabarowsk gingen auf die Straße; zwischen Mitte Juli und Ende August gab es über 50 Protestaktionen. Welche Rolle spielt nun die regionale wirtschaftliche Lage bei dieser Entwicklung? Generell haben Beobachter bisher davon abgesehen, die Neigung zu Protesten mit wirtschaftlichen Erklärungsfaktoren in Verbindung zu bringen. Die meisten Proteste der letzten Zeit hatten nicht die Wirtschaft auf der Agenda, es ging um Themen wie Umwelt, Regionalpolitik oder Bürgerrechte (Externer Link: http://trudprava.ru/). Obwohl der konkrete Anlass der meisten lokalen Proteste nicht wirtschaftlicher Natur ist, stellt die Wirtschaft eine Hintergrundbedingung dar. Die Enttäuschung über die ökonomische Lage kann somit große Proteste begünstigen. Unsere Untersuchung zeigt, dass sinkende verfügbare Realeinkommen die Unterstützung für die föderalen Behörden in den Regionen bei Wahlen verringern. Gouverneurswahlen sind aus verschiedenen Gründen relevant: Erstens weisen die russischen Regionen substanzielle Unterschiede in der Regimequalität auf, obwohl es Ähnlichkeiten bei den politischen Institutionen, der Ideologie oder der historischen Hinterlassenschaften gibt. Die subnationale Ebene bietet zudem hinreichende Daten für quantitative Analysen. Zweitens spiegeln regionale Dynamiken oft politische Prozesse auf der föderalen Ebene wider, manchmal fungieren sie sogar als Vorboten. Zum Beispiel verstärkte der autoritäre Trend in den Regionen Anfang der 2000er Jahre die zunehmende Kontrolle über die Politik auf nationaler Ebene. Und schließlich signalisierten russische Regionen vermehrt wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil die Zentralregierung die Verantwortung für die Umsetzung der Präsidialerlasse vom Mai 2012 über eine Anhebung der Gehälter auf die Regionen geschoben hatte, und das, obwohl Moskau seit 2015 im Geld schwamm. Dies spricht dafür, dass die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den Regionen ausgeprägter ist und politische Entwicklungen deswegen schneller darauf reagieren, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Ökonomisches Wählen in Russland Die Forschung über die Auswirkung der Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage auf Wählerpräferenzen hat einige Belege für das sogenannte ökonomische Wählen herausgearbeitet. So stellte zum Beispiel Daniel Treisman fest, dass Wladimir Putins rückläufige Beliebtheitswerte im Jahr 2011 Ausdruck einer größeren wirtschaftlichen Besorgnis der Bevölkerung waren. Das Bewusstsein für eine schwächelnde Wirtschaft führte zu einer geringeren Unterstützung für den Kreml. Zudem wurden die russischen Spitzenpolitiker zunehmend für die wenig zufriedenstellenden wirtschaftlichen und politischen Leistungen verantwortlich gemacht. Einer ähnlichen Logik folgend kann eine zunehmende Unzufriedenheit mit über längere Zeit sinkenden verfügbaren Realeinkommen zu einem Rückgang von Putins Zustimmungswerten führen. Bei den Gouverneurswahlen im September 2018 hatten die vom Kreml unterstützten Kandidaten die schlechtesten Ergebnisse seit Jahren eingefahren. Dies muss als Ergebnis der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage und der immens unpopulären Anhebung des Rentenalters Mitte 2018 gewertet werden. In sieben von 22 Regionen gewannen die Kreml-Kandidaten die Wahlen mit einem Wahlergebnis von unter 60 Prozent der Stimmen. Im Gegensatz dazu gab es im Zeitraum von 2012 bis 2017 lediglich sieben Wahlausgänge unterhalb dieser Marke. In vier Regionen war ein zweiter Durchgang erforderlich, obwohl die meisten Prognosen von deutlichen Wahlsiegen ausgegangen waren. Die amtierenden Gouverneure der Regionen Chakassien und Chabarowsk verloren gegen Vertreter der systemischen Opposition, obwohl die Regionalchefs ihre letzten Wahlen im Jahr 2013 deutlich gewonnen hatten. Eine derartige Wahlniederlage war zum letzten Mal im Jahr 2012 vorgekommen. Nun lässt sich fragen, ob dieses niederschmetternde Ergebnis mit der wirtschaftlichen Lage in der jeweiligen Region korreliert. Die Wirtschaftsgeografin Natalia Zubarevich konnte keinen Zusammenhang zwischen den verfügbaren Realeinkommen der Bevölkerung und den Gouverneurswahlen 2018 feststellen (Externer Link: http://liberal.ru/). Zubarevich geht davon aus, dass die sinkenden Einkommen der Bevölkerung eine negative Hintergrundbedingung darstellten, aber kein unmittelbarer Auslöser für die Protestwahl waren. Allerdings beschränkte sich Zubarevich in ihrer Untersuchung lediglich auf das Jahr 2018. Da wir den Untersuchungszeitraum auf alle Gouverneurswahlen seit 2012 ausgedehnt haben, konnten Wladimir Koslow und ich dieser Frage systematischer auf den Grund gehen. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie auf einen Blick Ursprünglich sind Wahlen der Regionaloberhäupter (Gouverneure) im Jahr 1991 eingeführt worden, russlandweit fanden sie seit 1996 statt, wurden aber 2004 wieder abgeschafft. 2012 wurden die direkten Gouverneurswahlen auf Initiative des damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedjew wieder eingeführt, wobei im Folgenden 10 der 85 Regionen Russlands die direkte Wahl durch eine indirekte Abstimmung in den Regionalparlamenten ersetzten. Welche Faktoren beeinflussten nun das Wahlverhalten in Bezug auf die Kreml-Kandidaten? Um dies herauszufinden, untersuchten wir die russischen Regionen hinsichtlich des Einflusses von sinkenden verfügbaren Realeinkommen auf die Wahlergebnisse von Kremlkandidaten bei Gouverneurswahlen. Dafür stellten wir einen Datensatz zusammen, der von 2012 bis 2018 alle Wahlen von regionalen Oberhäuptern (Gouverneuren) im ersten Durchgang mit insgesamt 109 Einträgen umfasst. Wir fanden dabei einen substanziellen und statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Dynamik der verfügbaren Realeinkommen in einer Region und der Unterstützung des Kremlkandidaten bei der Gouverneurswahl. Somit hat die soziale und wirtschaftliche Lage in den Regionen eine beträchtliche Auswirkung auf die Wahlergebnisse von "föderalen" Kandidaten. Es ist davon auszugehen, dass eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die Risiken für den Kreml bei Wahlen erhöht. Ein weiteres interessantes Ergebnis unserer Studie ist, dass "Außenstehende", also Kandidaten, die nicht in der Region geboren wurden, in der sie kandidieren, besser abschneiden als Kandidaten aus der Region selbst. Dieser Zusammenhang spiegelt sich in der aktuellen Politik des Kremls wider, Personen zu ernennen, die keine lange Vorgeschichte in und kein Detailwissen über die Region haben. In den vergangenen Jahren hat die Frequenz der Rotationen, durch die der Kreml Gouverneure austauscht, zugenommen. Die Gouverneure werden dabei so oft ausgetauscht wie seit 30 Jahren nicht mehr – zum letzten Mal waren es die Ersten Sekretäre der Regionalkomitees der KPSU, die derart massenhaft ersetzt wurden. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass Kandidaten ohne einen "negativen Hintergrund" in einer bestimmten Region eine saubere Bilanz vorweisen können und somit bei der Bevölkerung dort beliebter sind. Ein weiterer Grund für die vielen Ämterrotationen ist, dass der Kreml mehr Kontrolle über Kandidaten hat, die als Außenseiter in die Region kommen und somit nicht von der lokalen Elite, sondern von Moskau abhängig sind. Die Antwort des Kremls auf den negativen Trend Im Jahr 2020 hat sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verschlechtert, der Lebensstandard der Bevölkerung ist stark zurückgegangen. Durch die Pandemie kam die wirtschaftliche Aktivität in vielen Bereichen zeitweise zum Erliegen, zudem fielen die Ölpreise. Im Vergleich zum Oktober 2019 gaben im Mai 2020 doppelt so viele Russen an, dass ihr Gehalt verspätet ausgezahlt oder gekürzt wurde, oder dass sie gar entlassen wurden (Externer Link: https://www.levada.ru/). Seit der Krise im Jahr 2008 haben die Russen die Wirtschaft nicht mehr so schlecht bewertet. Schon vor den Coronavirus-Lockdowns war der Verbraucherstimmungs-Index im März um 20 Prozentpunkte zurückgegangen (Externer Link: https://www.levada.ru/2020/04/03/dinamika-potrebitelskih-nastroenij-v-marte-2020-goda/), was wiederum den stärksten Rückgang seit der Krise 2008 ausmachte. So schlecht wie im August 2020 stand der Index zum letzten Mal vor acht Jahren. Im zweiten Quartal des Jahres 2020 schrumpfte das BIP Russlands um 8,5 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Selbst die offiziellen Schätzungen von Rosstat gehen davon aus, dass die verfügbaren Realeinkommen um 8 Prozent zurückgehen und somit so niedrig sein werden, wie seit dem Tiefpunkt im Jahr 1999 nicht mehr. Zudem stieg die Protestneigung bei der Bevölkerung und erreichte im Juli 2020 einen Zweijahreshöhepunkt (Externer Link: https://www.levada.ru/2020/07/28/protesty-v-habarovske/). Unsere Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich die sinkenden verfügbaren Realeinkommen negativ auf die Unterstützung für die Kreml-Kandidaten bei den Gouverneurswahlen ausgewirkt haben könnten. Der Kreml war sich dieses Risikos bewusst und hat deswegen im Vorfeld der Regionalwahlen eine Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet (Externer Link: https://sozd.duma.gov.ru/bill/912249-7), die einige Beobachter als die schlechteste Veränderung der Wahlgesetzgebung seit 25 Jahren beschreiben (Externer Link: https://www.golosinfo.org/articles/144538#0). Die Anzahl der Hürden, die oppositionelle Kandidaten überwinden müssen, um gegen Kreml-Kandidaten anzutreten, ist dramatisch gestiegen. Zum Beispiel verbieten die neuen Änderungen denjenigen Personen, sich zur Wahl zu stellen, die für den Verstoß gegen einen von mehreren Dutzend Paragrafen des Strafgesetzbuchs verurteilt wurden. Hierzu gehören auch Strafen, die wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht verhängt wurden. Dadurch gelang es den regionalen Administrationen, die für sie möglicherweise gefährlichen Wettbewerber aufgrund von teils vorgeschobenen Vorwürfen auszuschließen. Die Prozedur für die Registrierung von Kandidaten auf der Grundlage von Unterschriften wurde ebenfalls deutlich komplizierter gestaltet, indem hier der zulässige Anteil an "Ausschuss" von 10 auf 5 Prozent reduziert wurde. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht (Externer Link: http://liberal.ru/files/articles/7637/clon1Nonitoring_2020.pdf) wird geschätzt, dass die Anzahl der Kandidaten, die aus unterschiedlichen Gründen von der Wahl ausgeschlossen wurden, einen Höchststand seit dem Jahr 2016 erreicht hat. Die unmittelbare Folge dieses Systems der Registrierung von Kandidaten ist, dass neun von zehn Kandidaten von Parteien, die vorher keinen Deal mit dem Kreml geschlossen hatten, sich bei der diesjährigen Runde der Wahlen nicht auf den Stimmzetteln wiederfanden (Externer Link: http://liberal.ru/reports/7650). Letztendlich zeugt auch die Vergiftung von Alexej Nawalny davon, wie versucht werden kann, politischen Wettbewerb zu reduzieren. Der Oppositionsführer und sein Team haben bei den September-Wahlen in einigen Regionen die Smart-Voting-Strategie zum Einsatz gebracht. Ziel dieser Strategie ist es, die Stimmen der Opposition in einem Einerwahlkreis auf denjenigen Kandidaten zu konzentrieren, der mit der größten Wahrscheinlichkeit den vom Kreml ins Rennen geschickten Kandidaten besiegen kann. Bei den Wahlen zum Moskauer Regionalparlament 2019 hatte dies 20 von 45 vom Kreml unabhängigen Kandidaten dazu verholfen, Direktmandate zu gewinnen. Nawalny wurde allerdings auf dem Rückweg von Tomsk nach Moskau vergiftet. Tomsk war eine der Regionen, in der die Smart-Voting-Kampagne sehr intensiv erfolgte. Die Behörden haben aber auch weitere Maßnahmen eingesetzt, um die Wahlergebnisse für Kreml-Kandidaten zu pushen. Die Zustimmungswerte der Partei Einiges Russland sind allerdings niedrig, deswegen treten viele Kandidaten als formal Unabhängige an, anstatt sich von Einiges Russland nominieren zu lassen. Zudem hat der Kreml in neun von 18 Regionen die Gouverneure vor den Wahlen ausgetauscht. Die konstante Elitenrotation könnte allerdings auch dazu führen, dass dem Kreml bald die Ersatzbank zu kurz wird und das Personal ausgeht. Die Gesetzesänderungen vom Mai 2020 ließen grundsätzlich auch elektronische Abstimmung bei allen Wahlen zu. Dies erschwert insbesondere den Zugang für unabhängige Wahlbeobachter, die überprüfen wollen, wie die Stimmen abgegeben und gezählt werden. Die Zentrale Wahlkommission hat zudem noch mehr Entscheidungsspielraum bekommen (Externer Link: https://www.ridl.io/en/how-smart-is-smart-voting/), die Prozedur und den Zeitraum für mehrtägige Wahlen vor dem eigentlichen Wahltag zu bestimmen. Somit wurde an drei Tagen gewählt, vom 11. bis zum 13. September, anstatt nur am Wahltag selbst. Die mehrtägige Abstimmung erschwert es Wahlbeobachtern, die Wahlen zu kontrollieren und Wahlbetrug zu verhindern. Dies hat das Verfassungsreferendum deutlich gemacht, das vom 25. Juni bis zum 01. Juli 2020 abgehalten wurde. In einem weiteren Schub von Gesetzesänderungen, die am 31. Juli in Kraft traten, wird die Kategorie von Personen, die bei Kommunal- und Regionalwahlen Wahlbeobachter sein können auf diejenigen eingeschränkt, die in dieser Region auch formal gemeldet sind. Was bedeutet dies für zukünftige Wahlen? Im Vorjahr hatte die Einschränkung des politischen Wettbewerbs den Kreml-Kandidaten zum Wahlsieg verholfen. In diesem Jahr haben zwar alle vom föderalen Zentrum unterstützten Kandidaten die Gouverneurswahlen in der ersten Runde gewonnen. Bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten und den Stadträten sieht es allerdings für den Kreml weniger rosig aus. Erstens gewannen zwar die Kreml-Kandidaten in allen 18 Regionen, in denen direkte Gouverneurswahlen abgehalten wurden (Nur in Smolensk fiel das Ergebnis unterhalb der 60-Prozentmarke aus, in Irkutsk waren es ebenfalls nur 60,79 Prozent). Interessanterweise liegt das Durchschnittsergebnis bei den Gouverneurswahlen mit 74,8 Prozent nur knapp unter dem Ergebnis beim Verfassungsreferendum. In allen Regionen erzielten die Gouverneure ein besseres Ergebnis, als Putin in diesen Regionen bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 erreicht hatte. In den Regionen Jüdisches Autonomes Gebiet, Kaluga, Kamtschatka und Tambow betrug die Differenz sogar bis zu 10 bis 15 Prozentpunkte zugunsten der Gouverneure und zu Lasten Putins. Es ist davon auszugehen, dass diese Ergebnisse durch ein beispielloses Ausmaß an Wahlmanipulation erreicht wurden. Zum Beispiel gaben in den Regionen Krasnodar und Tambow mehr als 80 Prozent der Wähler ihre Stimme für den Kreml-Kandidaten ab, was wohl kaum die Realität widerspiegelt. Die Ausdehnung des Wahlzeitraums auf drei Tage hat dabei mit großer Wahrscheinlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt. Höhere Wahlergebnisse für Kreml-Kandidaten stehen in direktem Zusammenhang mit einer höheren Wahlbeteiligung an den Tagen vor dem eigentlichen Wahltag. In Tatarstan gaben 56 Prozent der Wähler ihre Stimmen vorzeitig ab, fünf Jahre zuvor hatte dieser Wert in der Region noch bei 5 Prozent gelegen. Im Jüdischen Autonomen Gebiet gaben 58 Prozent ihre Stimme vorzeitig ab. Der russische Wahlstatistiker Sergej Schpilkin hat berechnet, dass ohne massenweise Wahlfälschung mehrere Kreml-Kandidaten bei den Gouverneurswahlen einen zweiten Durchgang hätten bewältigen müssen. Die Ergebnisse waren dort für von der Zentralregierung unterstützte Kandidaten weniger überzeugend, wo der Kreml den Wahlprozess nicht vollständig kontrollierte. Im Vergleich zum Jahr 2015 ging bei den regionalen Parlamentswahlen die Unterstützung für Einiges Russland im Schnitt um 11 Prozentpunkte zurück. Mehrere neue Parteien konnten sogar die Fünfprozenthürde überwinden, darunter Neue Leute , Grüne Alternative und Für die Wahrheit . In den Einerwahlkreisen haben rund 10 Prozent (etwa 141 von 1171) der Kandidaten, die gegen Kreml-Kandidaten antraten und durch Nawalnyjs "Smart-Voting-Strategie" unterstützt wurden, Direktmandate erringen können. Das war vor allem auf der Ebene der Stadträte der Fall (Externer Link: https://votesmart.appspot.com/). Kandidaten der Koalition Vereinigte Demokraten gewannen bei den Kommunalwahlen 60 Direktmandate. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die sozioökonomischen Probleme für den Kreml akkumulieren und somit die Risiken bei Wahlen in den Regionen steigen. Bisher bestand die Antwort des Kremls darin, verstärkt auf Wahlmanipulationen und -betrug zurückzugreifen. Die Regional- und Kommunalwahlen 2020 gelten auch als Testlauf für die Dumawahl im Jahr 2021, die für den Kreml äußerst wichtig ist. Zwar haben der Kreml und die Regierungen der Regionen Restriktionen und Repressionen verstärkt, um das Wahlrisiko zu minimieren. Diese Strategie könnte in der Zukunft jedoch ihre Wirkung verfehlen, wenn sich die sozioökonomische Lage weiter verschlechtert und die Opposition vermehrt Unterstützung für sich mobilisieren kann. Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des Ponars Policy Memos "Russia’s Crumbling Power Vertical: Decreasing Disposable Income Drives Discontentment", welches am 11.09.2020 erschien. Das englische Original ist abrufbar unter Externer Link: https://www.ponarseurasia.org/memo/russias-crumbling-power-vertical-decreasing-disposable-income-drives-discontentment . Die Redaktion bedankt sich bei der Autorin für die Aktualisierung des Textes für die Russland-Analysen. Bibliografie: Demchenko, Oleg, and Grigorii V. Golosov. "Federalism, gubernatorial power and the incorporation of subnational authoritarianism in Russia: A theory-testing empirical inquiry." Acta Politica 51.1 (2016): 61–79. Kozlov, Vladimir und Maria Snegovaya. "Factors of Competitiveness in Russian Gubernatorial Elections." Free Russia Foundation , 2. Mai 2019. Abrufbar unter: Externer Link: https://www.4freerussia.org/factors-of-competitiveness-in-russian-gubernatorial-elections-2012-2018/. Sharafutdinova, Gulnaz. "Economic Crisis, Regional Finance, and Federal Response in Russia." PONARS Eurasia Policy Memo No. 407. Abrufbar unter: Externer Link: https://www.ponarseurasia.org/memo/economic-crisis-regional-finance-and-federal-response-russia. Treisman, Daniel. "Putin’s popularity since 2010: fwhy did support for the Kremlin plunge, then stabilize?." Post-Soviet Affairs 30.5 (2014): 370–388. Tucker, Joshua A., Joshua L. Tucker und Robert A. Martin. Regional Economic Voting: Russia, Poland, Hungary, Slovakia, and the Czech Republic, 1990–1999 . Cambridge University Press, 2006.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
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Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage führt zu sinkendem Wohlstand in den russischen Regionen. Eine Studie zeigt nun einen direkten Zusammenhang zwischen sinkenden Realeinkommen der Wähler und dem Abschneiden der Kreml-Kandidaten bei den Wah
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Sünde und Strafe: Israel und die Siedler | 60 Jahre Israel | bpb.de
Einleitung Der Mord eines palästinensischen Terroristen an acht Studenten der Jeschiwa (Talmudschule) Merkaz ha-Rav in Jerusalem am 6. März 2008, einem Donnerstagabend, erschütterte nicht nur Israel, hatte man sich doch allmählich von den Folgen der furchtbaren Selbstmordattentate erholt, die zu Beginn des neuen Jahrtausends die öffentlichen Plätze und Straßen des Landes verwüsteten. Auf tragische Weise richtete die Gewalttat die nationale und internationale Aufmerksamkeit wieder auf den geistlichen Eckpfeiler der ideologischen, religiös-nationalistischen Gruppe, aus der die Siedlerbewegung hervorgegangen ist, die sich über die besetzten Gebiete ausgebreitet und die Geschichte Israels nachhaltig verändert hat. Eine solche Bluttat im Zentrum einer israelischen Stadt war allgemein befürchtet worden, angesichts einer tödlichen Woche in Gaza, in der israelische Militäreinsätze 130 Palästinensern das Leben gekostet hatten, mindestens die Hälfte von ihnen Zivilisten - gewissermaßen als Teil des altbekannten, abgenutzten Musters von Gewalt und Gegengewalt. Doch der Anblick junger Menschen, die während ihrer Studien und Gebete in einer Bibliothek ermordet wurden, traf einen Nerv: den des ewigen jüdischen Märtyrer- und Opfertums. Und so wurde das Gemetzel eingeordnet in die lange Reihe vorangegangener Massaker und mit mythischen, symbolischen Dimensionen jüdischer Zerstörung und Wiedergeburt, jüdischen Leidens und Selbstermächtigung versehen: "Man muss wissen, dass unser Leiden uns nicht überwältigen soll, sondern uns stärkt", sagte einer der Lehrer der Jeschiwa. "Sie haben uns mitten ins Herz getroffen", meinte ein anderer Rabbi am Abend der Tat. Es war wirklich das Herz, nicht, weil sich die Talmudschule in Jerusalem befindet, sondern, weil Merkaz ha-Rav seit fast einem halben Jahrhundert den Mittelpunkt religiöser Jeschiwas in Israel darstellt. Von hier stammten Generationen, welche die immer zahlreicheren Siedlungen in den palästinensischen Gebieten bevölkerten, und diese Jeschiwa war das Herz der kookistisch-messianischen Ideologie. Diese diente den Führern von Gush Emunim (Block des Glaubens) als Leuchtturm bei ihrem Drang, sich das heilige, mythische Herz des alten Israel, das im Juni-Krieg 1967 erobert worden war, anzueignen und zu besiedeln. Als verschiedene Regierungen zögerliche Versuche unternahmen, einige Siedlungen zu räumen, wurde diese Jeschiwa zum Zentrum des oft gewaltsamen Widerstands; sie lieferte jungen Soldaten - manche hatten hier studiert - die ideologische und religiöse Begründung, sich Befehlen zur Evakuierung der Siedler zu widersetzen. Es gibt viele Perspektiven, von denen aus man die komplizierte, vierzigjährige Geschichte der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten jenseits der Grünen Linie (Israels politische Grenze bis 1967) analysieren kann. Man kann den Kern des Siedlerphänomens und seine Bedeutung für die israelische Geschichte nicht erfassen, ohne das Rätsel der charismatischen Bedeutung der Merkaz ha-Rav zu lösen, die diese seit Jahren für Tausende religiöser Jugendlicher besitzt. Noch bemerkenswerter ist der spirituelle und politische Einfluss, den diese Jeschiwa auf große Teile der politischen Klasse in Israel ausübt, auf die Eliten, die Intellektuellen und die Meinungsbildner, die meisten von ihnen erklärte Sakuläre. Der Schlüssel zu diesem Rätsel ist eine einzigartige, historische Verbindung dreier Elemente: zum einen ein charismatischer Rabbi mit einer eher simplen politischen Theologie absoluter Wahrheit und mit Prinzipien, nach denen alles möglich und erlaubt ist in Bezug auf das Land Israel; zum zweiten eine Generation religiöser Jugendlicher, deren Eltern von der zionistischen Arbeiterrevolution in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit politisch unterdrückt und marginalisiert wurden und die sich seitdem auf die Mission vorbereiteten, um das Land vom Säkularismus, Individualismus, Defätismus und der Vernachlässigung jüdisch-zionistischer Werte zu erlösen; drittens eine Atmosphäre des Überschwangs und der messianischen Übertreibung, die Israel nach dem militärischen Sieg 1967 ergriff. Theologie und Politik Es war die Begegnung von Rabbi Zvi Jehudah Kook, 1967 Leiter der Merkaz ha-Rav und Sohn des legendären Abraham Isaak Kook, 1920 Gründer des Oberrabbinats im Mandatsgebiet Palästina und auch der Jeschiwa Merkaz ha-Rav, mit einer Gruppe rebellierender, religiöser Jugendlicher unter den historischen Umständen des Sieges von 1967, die diese neue politische Bewegung in Israel schmiedete. Die vereinten Kräfte der radikalen und einfachen Botschaften des Rabbis und die seiner eifernden, aber höchst pragmatischen Studenten erhielt unvorhersehbare ideologische und politische Kraft, die weit über die Jeschiwa hinausging, die noch bis in die 1960er Jahre hinein eine eher randständige religiöse Einrichtung gewesen war. Die komplexen, ausgefeilten Lehren des Vaters wurden vom Sohn in eine "Sprache des Handelns" übersetzt. Der jüngere Kook, der die Sprache und Terminologie von Gush Emunim prägen und dessen illegale Praxis formen sollte, verwischte die Grenzen zwischen dem Religiösen und dem Politischen, um die Utopie auf Erden zu verwirklichen. "Der Herr des Universums hat seine eigene politische Agenda, und dementsprechend muss die Politik gestaltet werden", lehrte Kook. "Teil dieser Erlösung ist die Eroberung und Besiedlung des Landes. Das wird von göttlicher Politik bestimmt, und keine irdische Politik kann diese ersetzen." Die Bewahrung der 1967 eroberten Gebiete, ihre Besiedlung und die Einführung jüdischen Lebens waren die wichtigsten Grundsätze - ja, eigentlich die einzigen. Die Bedeutung des Landes Israel (Eretz Yisrael) überstieg jede politische Realität und jedes andere religiöse Anliegen. Das absolute Recht auf das Land und die Pflicht, es zu besiedeln, waren ebenso wichtig wie alle anderen Gebote zusammen. Die Methoden, die man anwandte, um das Ziel zu erreichen, waren heilig. Im Namen der "Wahrheit", predigte Kook, sollte man willens sein, bis zum letzten Graben zu kämpfen und auch zu sterben. Er diente seiner Gefolgschaft als Modell dafür, wie man Theologie und Politik in Einklang bringen könnte. Regierungsmitglieder, Abgeordnete der Knesset, Militärbefehlshaber und Mitglieder der säkularen Gesellschaft wurden regelmäßig eingeladen und hörten den theopolitischen Predigten in der Jeschiwa zu. Indem er zwischen "hoher" und "niederer" Politik auf dialektische Weise schwankte, während er von Beginn der 1970er Jahre an einen kompromisslosen Kampf mit dem politischen Establishment und seinen Repräsentanten um die Siedlungen führte, wussten der Rabbi und seine Schüler, wie man sich des Establishments bediente. Sie pflegten ausgefeilte Netzwerke, die alle staatlichen Institutionen durchzogen, setzten sich wie keine politische Organisation zuvor in den Ministerbüros und in dem des Premierministers fest und zeigten sich dienstbereit, bewaffnet mit himmlischer Rechtschaffenheit und irdischen Forderungen. Sie handelten und lebten, Körper und Seele, wie am Ende aller Tage, am Ende der Geschichte. "Nicht wir erzwingen das Ende, das Ende zwingt uns!", sagte Kook seinen Studenten, die ihre Mission erfüllen wollten, dieses Ende zu beschleunigen. Sie sahen sich als Avantgarde, die den göttlichen Lauf der Erlösung voranbringt. Von der ersten Siedlung in Gush Etzion, illegal, aber mit Wissen der Regierung von einer Gruppe von Kooks Schülern nur wenige Monate nach Kriegsende, am Abend des jüdischen Neujahrsfestes im Oktober 1967, errichtet, bis zu den letzten illegalen Vorposten, die vielleicht in diesem Moment auf Hügeln der Westbank geschaffen werden, ist es der Geist von Kook, des Jüngeren, und seiner Gebote, die diese Unternehmungen anleitet. In über vierzig Jahren überschritten fast eine halbe Million israelischer Juden Israels international anerkannte Grenzen und siedelten in den besetzten Gebieten in der Westbank, im Gazastreifen und auf dem Golan. Sie taten dies unter Bruch internationalen Rechts und von Übereinkommen, die es einer Besatzungsmacht untersagen, die eigene Bevölkerung in besetzten Gebieten anzusiedeln. Eine große Anzahl von Siedlungen sind auf Gebieten hinter der Grünen Linie verteilt. Sie bilden große Blocks um Jerusalem herum und auf den westlichen und östlichen Hängen in Samaria. Sie finden sich im Tal des Jordan und um die Stadt Hebron im Süden. Wuchernde "Nachbarschaften" schließen sich um größere palästinensische Städte wie Nablus, das historische Wirtschafts- und Industriezentrum, oder Ramallah, den Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde. In den vier Jahrzehnten der Besatzung wurden in den Gebieten rund 120 Siedlungen errichtet, die von den meisten Israelis als "legal" angesehen werden, sowie zahllose "illegale" Außenposten. Dicht nebeneinander wurden Jeschiwas, verschiedenste Religionsschulen, paramilitärische Ausbildungszentren und Industriegebiete eingerichtet. Dutzende von Kilometern lange asphaltierte Schnellstraßen wurden gebaut, die meisten zur ausschließlichen Nutzung durch Siedler und die Sicherheitskräfte. Folgt man einem Sonderbericht des State Comptroller, legten die Siedler allein in den späten 1990er Jahren nicht weniger als 126 Straßen und Dutzende von Umgehungswegen mit einer Gesamtlänge von vielen hundert Kilometern an, um ein Netz zu schaffen, das die Siedlungen miteinander verbindet. Alle diese Baumaßnahmen wurden auf palästinensischem Land vorgenommen, dessen ansässige Einwohner enteignet wurden. Im vergangenen Jahrzehnt wurden mehrere hundert Straßenblockaden errichtet, manche sehr groß und befestigt, mit den ausgefeiltesten Überwachungsinstrumenten, andere kleiner und mobil, aber alle brutal, willkürlich und hässlich, an denen sich Besatzer und Besetzte täglich als Ungleiche im Niemandsland begegnen. Der Generalstabschef, einer der Väter des Systems von Checkpoints, gab im Juli 2003 auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada zu, dass "wir, selbst wenn wir den Krieg gewinnen, nicht mehr in den Spiegel schauen können (...). Ein Soldat, der eine Straßensperre bewachen muss und die Zugänglichkeit sowie die Versuchungen, die Menschen zum Plündern verführen, trägt nichts zu unserer moralischen Stärke bei." Angeblich aus Sicherheitsgründen errichtet (interne Armeedokumente belegen, dass "Straßensperren ihre Aufgabe nicht erfüllen, zu verhindern, dass Terroristen oder Material passieren können"), wurden die Straßensperren vor allem deshalb gebaut, um die aggressiven Forderungen der Siedler zu erfüllen und um ihrer Angst angesichts des bewaffneten palästinensischen Widerstands und der blutigen Selbstmordattentate zu begegnen. Statt Sicherheit und Befriedung bringen sie weitere Feindseligkeiten hervor und mehr Hass. Erlöser des jüdischen Volkes Treibende Kraft der Siedlungen ist Gush Emunim, als organisierte, hoch motivierte Bewegung interessanterweise nicht unmittelbar nach dem Krieg von 1967 gegründet, sondern erst nach dem Yom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973. Die von diesem Krieg und seinen anfänglichen Rückschlägen ausgehenden Traumata, die moralische Depression und die politische Krise, die ihm folgten, sowie die Pläne zum Rückzug und zur "Truppenentflechtung" auf dem Sinai schufen perfekte Bedingungen für eine Bewegung, die sich aufgrund kollektiver Ängste, einer Politik des Hasses, der Angst und der Kriegstreiberei in den Vordergrund schob und sich als Retter des jüdischen Volkes präsentierte. Die ersten Siedlungen wurden nicht unter der Flagge von Gush Emunim errichtet, aber die meisten waren von Leuten besetzt, die später zu Führungspersonen von Gush avancierten. Tatsächlich wurden die 19 Siedlungen, die von 1967 bis 1976 in den Gebieten entstanden, unter den Augen von Regierungen errichtet, die von der Arbeitspartei geführt wurden, manchmal unter deren ausdrücklicher Billigung, wie die Siedlungen am Jordan, manchmal unter stillschweigender Hinnahme. Die Gründung von Gush Anfang 1974 fiel mit der Entlassung von General Ariel Sharon aus dem Armeedienst nach dem Yom-Kippur-Krieg zusammen; Sharon versuchte eine Karriere in der Politik. Die Verbindung zwischen dem hedonistischen General und den jungen Fanatikern erwies sich als von Dauer und profitabel, und für Israel ebenso schicksalhaft wie die Begegnung dieser Jugendlichen mit Rabbi Kook. Beide Seiten ähnelten sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Auserwählte, als Träger einer größeren Mission als gewöhnliche Politiker, nach höheren Gesetzen handelnd. Die historische Begegnung zwischen dem General und den Kadern des ultrareligiösen Zionismus fand statt während des Kampfes gegen die Truppenentflechtung und den Rückzugsplan auf dem Sinai, den der amerikanische Außenminister Henry Kissinger verfolgte. Die massiven Demonstrationen gegen die Israel-Besuche Kissingers 1974 und 1975 verlieh Gush einen einzigartigen Status in der israelischen Politik und schuf eine enge Verbindung mit dem ehemaligen Krieger. Sharon nahm an den Geheimtreffen der Spitzen von Gush teil und wurde zur grauen Eminenz. Er verlangte "machtvolle, breit angelegte Maßnahmen" gegen Kissinger und die Regierung sowie ein kriegerisches Vorgehen gegen "jene, die eine solch schändliche Lage verursacht haben", und forderte, "dass wir jeden Tag neue Siedlungen einrichten und den Amerikanern zeigen sollten, dass die Regierung Rabin keine Unterstützung für einen Rückzug aus Judäa und Samaria hat". Die Invasion in Sebastia, in Samaria, durch Gush Emunim im Dezember 1975 war ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Siedlungen, und auch hier spielte Ariel Sharon eine Schlüsselrolle. Es bedeutete nicht nur, "ein Messer ins Herz des Palästinismus zu stoßen", wie es Mitglieder von Gush formulierten, sondern den Durchbruch der Organisation ins das israelische Bewusstsein. Vor dem Hintergrund der bröckelnden, verlassenen türkischen Bahnstation bildeten die Mitglieder von Gush wie leidenschaftliche Gläubige einer ekstatischen, rituellen Sekte einen Kreis und sangen laut ihre inoffizielle Hymne, die sie dem täglichen Gottesdienst entnommen hatten: "Beschließt einen Rat, und es werde nichts daraus; beredet euch, und es geschehe nicht! Denn hier ist Immanuel!" Das Ereignis von Sebastia enthielt alle Elemente des Phänomens Gush Emunim: eine Gruppe junger Radikaler mit messianischem Glauben, die das Recht und die Entscheidungen der gewählten Institutionen des Staates mit Füßen trat, indem sie eine mystische und irrationale Weltsicht mit einer modernen, rationalen, effektiven Wahrnehmung und mit Handlungsoptionen verband. Eine Doppelstrategie wurde angewandt: Man näherte sich dem Endkampf mit der geduldigen, scharfsinnigen Interpretation einer unvollkommenen Wirklichkeit und mit einer umfassenden Ideologie der Illegalität. Sieben Versuche, in Sebastia zu siedeln, wurden unternommen, und jedes Mal vertrieb die Armee die Eindringlinge. Vor dem achten Versuch, sorgfältig wie eine Militäroperation geplant, wurden Tausende mobilisiert - einschließlich Familien mit Kindern, die auf den Hügel zogen. Die Absicht der Anführer war es, nicht nur gegen eine "schwache", "diasporische", "zurückweichende" Regierung zu demonstrieren, sondern einen umfassenden Schlag auszuführen, der eine Alternative zum demokratischen Rechtsstaat und seinen Institutionen darstellen sollte. Fleißiger Botschafter Sharon ernannte sich selbst zum Botschafter von Gush Emunim gegenüber dem politischen System und zum praktischen Umsetzer ihrer messianischen Anschauungen. Zunächst, vor der historischen Niederlage der Linken 1977, stand Sharon Seite an Seite mit den kookistischen Siedlern gegen den Staat Israel. Die erste Regierung Yitzhak Rabins wurde vom Gush mit dem britischen Kabinett während der Mandatszeit gleichgesetzt. Schlimmer noch, die Rückzugspläne der Regierung wurden mit Hitlers Plan, Europa "judenrein" zu machen, verglichen. Sharon war die erste öffentliche Person, die Soldaten dazu drängte, Befehle, Siedler aus illegalen Siedlungen zu evakuieren, zu missachten. Seine Stimme hatte Gewicht aufgrund seiner langen militärischen Karriere und aufgrund des Heiligenscheins, den er als Held, der 1973 den Suezkanal überquert hatte, erlangt hatte. "Das ist eine politische Angelegenheit", erklärte Sharon den Offizieren, das Militär dürfe nicht eingreifen. Dreißig Jahre später befahl er als Premierminster den Befehlshabern der Israel Defense Forces einen eben solchen Akt der Räumung von Siedlungen in Gaza, deren Errichtung er einst unterstützt hatte. Dieses Mal wandten sich die Siedler gegen ihn, und manche riefen die Befehlshaber und Soldaten zum Ungehorsam auf. Der in Sebastia von Sharon als Sonderberater des Premierministers Rabin erreichte Kompromiss wurde als großer Erfolg für die Siedler gewertet, denn "er öffnete die Tür für Siedlungen in ganz Judäa und Samaria". Tatsächlich war es der erste Schritt zur massiven Besiedlung. Es war zugleich eine wichtige Etappe beim Sturz der Rabin-Regierung. Ihr wiederholtes Nachgeben gegenüber dem Druck der Siedler und die vielen Wohltaten, die auf sie herabregneten, verfehlten ihre Wirkungen bei der Parlamentswahl nicht. Am 17. Mai 1977 kam erstmals in der israelischen Geschichte eine rechte Regierung an die Macht. Gush Emunim hatte eine wichtige Rolle bei dieser Umwälzung gespielt. Betraut mit dem vergleichsweise nachgeordneten und prestigelosen Amt des Landwirtschaftsministers - der neue Premierminister Menachem Begin hatte sich geweigert, ihm das Verteidigungsministerium zu übertragen -, wandelte Sharon sein Amt und das Komitee für Siedlungsangelegenheiten, dem er vorstand, in ein Schlüsselinstrument zur Einrichtung neuer Siedlungen in den Gebieten um. Weder die Einwände von US-Präsident Jimmy Carter, noch Begins Zögerlichkeit oder die Ansichten seiner Ministerkollegen, die jedes extreme Vorgehen in den Gebieten öffentlich verurteilten, hinterließen Eindruck bei Sharon, dem Newcomer im Likud. Ende September 1977 stellte er dem Kabinett seinen Siedlungsplan vor. Sein Komitee wählte den Ort jeder neuen Siedlung aus, beschloss über ihren Umfang und ihre Größe auf kurze und auf lange Sicht und bestimmte die Körperschaft, die für sie verantwortlich war. Seine Entscheidungen bezogen sich auch auf das Ausmaß der staatlichen Beteiligung bei der Zuteilung von Land, Mitteln für die Infrastruktur und Kosten der Baumaßnahmen. Die massive, systematische Errichtung von so vielen Siedlungen wie möglich in kürzester Zeit, möglichst weit verstreut in der Westbank, war Sharons Modus operandi. Er versicherte seinen Ministerkollegen, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwei Millionen Juden in den besetzten Gebieten siedeln würden. Innerhalb weniger Jahre wurde die hügelige, steinige Landschaft der Westbank mit Dutzenden von Siedlungen überzogen. Die Samen schienen zufällig gestreut, aber die Hand des Sämannes zielte auf strategische Punkte und auf die Umgebung der großen palästinensischen Städte; nicht eine wurde übersehen. Sharon hatte rasch und entschlossen gehandelt, nicht nur, weil er es schon immer so gehalten hatte, sondern auch im Bewusstsein, dass die Zeit diplomatisch und politisch gegen ihn lief. Das Land des Sultans Kurz nach dem historischen Besuch von Ägyptens Präsident Anwar Sadat in Israel, bei dem er mit seiner Friedensrede in der Knesset die Herzen der meisten Israelis gewann, trafen sich Israelis und Ägypter bei einem von den Amerikanern in die Wege geleiteten Gipfeltreffen. Auf dem Tisch lagen Vorschläge für ein Friedensabkommen, die einen Rückzug aus dem Sinai und Autonomie für die Westbank einschlossen. Als Premierminister Begin in Camp David den Autonomieplan diskutierte, entwarf Gush Emunim einen eigenen "Friedensplan": die Besiedlung der Gebiete mit Millionen von Juden. Fast eine halbe Million hatte sich bereits auf palästinensischem Gebiet festgesetzt, mit direkter oder indirekter Hilfe der verschiedenen Regierungen, und Israel wurde in eine Besatzung getrieben, die seine Existenz und Legitimität untergräbt. Als der Oberste Gerichtshof 1979 von palästinensischen Bewohnern angerufen wurde, deren Land "aus Sicherheitsgründen" (ein Euphemismus für die Siedlungen) beschlagnahmt worden war, urteilte der High Court of Justice erstmals, im Fall von Elon Moreh, dass die Besatzungsbefehle der Armee gegen palästinensisches Land null und nichtig seien und dass die Siedlungen geräumt werden müssten. Vor allem die Siedler verstanden die Implikationen dieses Rechtsspruchs, der als "Elon-Moreh-Urteil" in die israelische Siedlungs- und Rechtsgeschichte eingehen sollte. In einer beispiellosen Erklärung analysierten die Verfasser von Gush Emunim den Rechtsstatus der besetzten Gebiete und der Siedlungen. Obwohl dieses Dokument dafür bestimmt war, die Rechtslage in Frage zu stellen, enthüllte es eine Wahrheit, welche die israelische Gesellschaft lange nicht anerkennen wollte. "Israel hat ein Besatzungsregime in Judäa, Samaria, dem Jordantal und dem Gazastreifen errichtet", hieß es. "Unter internationalem Recht kann es nur dann zu einer Militärherrschaft kommen, wenn die Besatzungsmacht fremdes Land betritt, das ihr nicht gehört (...). Die Besatzungsmacht herrscht über ein solches Gebiet nur mit zeitlicher Begrenzung, bis zum Frieden (...). In fremdem Gebiet, das besetzt worden ist, darf die Besatzungsmacht keine Fakten schaffen: Sie (...) darf ihre eigene Bevölkerung dort nicht ansiedeln, sie darf kein Land enteignen, sie darf nur das tun, was notwendig ist, um die Besatzung aufrecht zu erhalten und was zur Versorgung der ansässigen Bevölkerung notwendig ist." Durch die Anwendung des Besatzungsrechts im Herzen von Eretz Israel, hieß es anklagend in dem Dokument, hätten die Regierungen anerkannt, dass "Judäa und Samaria, von unserem Standpunkt aus, fremdes Land ist, das besetzt worden ist (...). Unsere Anwesenheit in Judäa und Samaria ist nur befristet." Weiter heißt es: "Mit dem Elon-Moreh-Urteil [hat der Oberste Gerichtshof formuliert, I.Z.], dass die militärischen Erforderlichkeiten zeitlich begrenzt seien und dass deshalb keine weitere, permanente Besiedlung (...) vorstellbar ist (...)." Deshalb, so die Siedler, "ist dem gesamten jüdischen Siedlungsvorhaben in den befreiten Gebieten der Boden unter den Füßen entzogen worden. Das Schicksal von 20 000 neuen Siedlern, die Millionen von israelischen Pfund, die in die Sicherheit Israels, das ohne Judäa und Samaria nicht verteidigt werden kann, investiert wurden, das Schicksal der vertrautesten und geliebtesten Stellen unseres Heimatlandes - all das hängt nun in der Luft, wie Chagall-ähnliche Diasporabilder, ohne Land." Mit Hilfe des Rechtssystems wurde ein Weg gefunden, das Urteil des Obersten Gerichtes zu umgehen. Die Wiederbelebung des Landrechts aus dem Osmanischen Reich von 1858 ermöglichte einen umfassenden Wandel des Status des Landes in der Westbank, indem weite Gebiete zu "Staatsland" erklärt wurden. Dem osmanischen Status gemäß gehört Land, dessen Besitzer nicht ermittelt werden kann, dem Sultan. Der "Sultan" der besetzten Gebiete ist seit 1967 die israelische Regierung. Die besten und hellsten Köpfe in Israels Rechtssystem machten sich daran, große Gebiete, fast die Hälfte der Westbank, zu "Staatsland" zu erklären, um Land für jüdische Siedlungen für mindestens ein Jahrhundert im Voraus bereitstellen zu können. Dadurch beraubte Israel die Palästinenser ihres kollektiven und ihres öffentlichen politischen Lebens. Im Ergebnis wurde die Westbank in den 1980er Jahren mit einem Teppich aus Dutzenden neuer jüdischer Siedlungen überzogen, nicht nur, um die Vision und die Ideologie von "Großisrael" zu erfüllen, sondern auch, um die jüdische Besiedlung unumkehrbar zu machen. Angst vor dem Frieden Der Friedensvertrag mit Ägypten und die Enthüllungen über eine jüdische Terrorgruppe Mitte 1980er Jahre, die geplant hatte, die Moscheen auf dem Tempelberg zu sprengen, trafen Gush Emunim empfindlich. Die Organisation, die sich einst aus einer Politik der Angst und des Säbelrasselns gegründet hatte, konnte nicht überleben, wenn sie mit der Möglichkeit des Friedens in einem Klima der Verhandlungen konfrontiert wurde. Die Tage des Sturm und Drang waren vorüber, und die Mühen des Alltags hatten sie ersetzt. Doch die Siedlungen schossen auch nach dem Machtantritt der Regierung der Nationalen Einheit aus dem Boden, wenn auch in verringertem Umfang. Der Zerfall der Regierung im Jahr 1990 und die Bildung einer Rechtskoalition beseitigte alle Hemmungen. Riesige Finanzmittel wurden über Mittelsmänner in die Siedlungen transferiert. Gewöhnliche Israelis, die ihre Häuser ausbauen und ihre Lebensqualität verbessern wollten, wurden durch "Deals" in die Gebiete gelockt: freies "Staatsland" für alle Neuankömmlinge, zinslose Kredite, die sich nach wenigen Jahren in Zuschüsse verwandelten, Ausbau der Infrastruktur zur Wasser- und Elektrizitätsversorgung, bessere Schulen, bessere Verteidigung - alles kostenfrei. Nach und nach übernahmen viele der neuen Siedler die ideologischen und religiösen Rechtfertigungen dafür, in geräumigen Häusern zu wohnen, die nur ein Viertel des in Israel Üblichen gekostet hatten, und sie assimilierten sich mit der heiligen Herde. Die Versuche der 1992 nach der Rückkehr der Arbeitspartei an die Macht zustande gekommenen zweiten Regierung Rabin, neue Wege zu gehen, und die historische Unterschrift unter dem Oslo-Abkommen in Washington im September 1993 trugen zur Wiederbelebung des Gush bei, der einen erbitterten Krieg gegen Rabin entfacht hatte, um ihn persönlich und politisch zu diskreditieren. Eine noch nie da gewesene Kampagne koordinierter Empörung trug zu einem Klima bei, das am 4. November 1995 in der Katastrophe der Ermordung eines israelischen Premierministers durch einen israelischen Bürger gipfelte. Nun änderte sich tatsächlich die Richtung der Politik, allerdings nicht so, wie es sich Rabin erträumt und wofür er gearbeitet hatte. Seine Nachfolger kehrten zur Politik der Kapitulation vor den Erpressungen der Siedler zurück - im Wissen um das Schicksal desjenigen, der es gewagt hatte, ihren Forderungen entgegenzutreten, und der Israel aus ihrem Würgegriff befreien wollte. Täglich wurden neue Siedlungen an strategischen Punkten errichtet, verbrämt als "Nachbarschaften" oder als Außenposten. Die "erweiterte" Bevölkerungszahl der Siedlungen, einschließlich der "Nachbarschaften" um Jerusalem, verdoppelte sich in den Jahren von 1996 bis 2005. Auch während der Amtszeit von Ehud Barak von der Arbeitspartei, der 1999 mit einem Wahlprogramm des Friedens Erfolg gehabt hatte, dehnten sich die Siedlungen weiter aus. Die Fragmentierung und Zerstückelung der palästinensischen Gebiete aufgrund der Siedlungen, die Straßensperren und die willkürliche "Sicherheitsbarriere", die Israel auf palästinensischem Gebiet errichtet hat, verhindern jedes Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Palästinensern, von demokratischen Einrichtungen, gesellschaftlichen Strukturen und Solidarität nicht zu reden. Rechte und Linke, Sharon und Barak, waren gleichermaßen blind gegenüber der Wirklichkeit der Siedlungen und der Besatzung den Gebieten, und sind in gleicher Weise mitverantwortlich für den Beginn der palästinensischen Intifada im Herbst 2000. Obwohl die Siedler einen schmutzigen Krieg gegen Sharons Abzugsplan aus Gaza führten, mit grotesken Holocaust-Vergleichen und apokalyptischen Drohungen ihrer Rabbis, sind sie sich über die Unterschiede zwischen den Absichten Rabins und Sharons Plan dreizehn Jahre danach im Klaren. Denn hinter der offenen Konfrontation über die Siedlungen im dicht besiedelten Gazastreifen und im Zentrum der Welle des Hasses, welche die Siedler in den Monaten und Jahren vor dem israelischen Rückzug aus Gaza gegen Premierminister Sharon entfacht hatten, stimmen die Ziele der Siedler und Sharons noch immer überein: die Existenz einer größtmöglichen Anzahl von Siedlungen in der Westbank und die Bewahrung und der Ausbau der großen Siedlungsgebiete, die jede Möglichkeit verhindern, einen lebensfähigen und zusammenhängenden palästinensischen Staat zu schaffen. Auch nachdem sich Sharon den Kräften der Natur ergeben hat und auf eine fast mythische Weise aus dem politischen Leben entschwunden ist, hat sich sein Plan, jede Bewegung zum Frieden und jeden Schritt zur Räumung der Siedlungen in der Westbank einzufrieren, als erfolgreich erwiesen. Der Dämon der Siedlungen sucht sowohl die israelische wie die palästinensische Gesellschaft weiter heim; große Mehrheiten beider Gesellschaften kennen keine andere Realität und können sie sich auch nicht vorstellen. Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Georg Golz. Vgl. zum Folgenden Idith Zertal/Akiva Eldar, Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967, München 2007; vgl. auch Idith Zertal, Nation und Tod, Göttingen 2003. Yair Ettinger, For stricken yeshiva, trauma of terror attack likely linger, in: Haaretz (English Edition) vom 9.3. 2008. Friday Evening News Program, Channel 10, 7.3. 2008. Zvi Yehudah Kook, In the Public Debate, S. 112, zit. nach: Aviezer Ravitzky, Messianism, Zionism and Jewish Religious Radicalism, Chicago 1996, S.131. Zit. nach: ebd., S. 80. Artikel 49 der 4. Genfer Konvention lautet: "The Occupying Power shall not deport or transfer parts of its own civilian population into the territory it occupies." Israel ratifizierte die Genfer Konventionen im Juli 1951. Interview mit Generalleutnant Moshe Yaalon, in: Yedioth Aharonoth, Weekend Magazine, vom 4.7. 2003. State Comptroller's Report on the Subject of the Seamline Zone, Jerusalem, Juli 2002, S. 36. Ma'ariv correspondent, Sharon: Mess up Kissinger's Visit, in: Ma'ariv vom 3.3. 1975. Jesajah 8:10. So die Führer der Siedler Hanan Porat, Benny Katzover und Menahem Felix, zit. nach: Shlomo Nakdimon/Arieh Tzimuki, The Protocols of the Mediators of Kadum, in: Yedioth Aharonoth vom 30.4. 1976. The Land Trap: The Legal Situation. Gush Emunim document pursuant to the Elon Moreh ruling, Dezember 1979 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Onn Levy, Secret Government Decision: Free Land in Judea-Samaria-Gaza, in: Davar vom 26.7. 1991. Vgl. In Lieu of an Editorial, in: Nekuda, 169 (1993) June, S. 11.
Article
Zertal, Idith
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31286/suende-und-strafe-israel-und-die-siedler/
Der Dämon der jüdischen Siedlungen in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten sucht die israelische wie die palästinensische Gesellschaft weiter heim.
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Thesenpapiere etc | 12. Bundeskongress Politische Bildung | bpb.de
Beteiligung und partizipative Teilhabemöglichkeiten stehen in einer Demokratie allen Menschen zu. Diskutiert werden soll, wie unterschiedliche Gruppen und Schichten der Bevölkerung partizipieren bzw. zur Partizipation angeregt und befähigt werden können. Der Blickpunkt richtet sich exemplarisch auf besondere gesellschaftliche Teilgruppen, die bislang bei der politischen Partizipation unterrepräsentiert sind. Neben der Befundanalyse wird es darum gehen zu fragen, welche Wege es gibt, um auch partizipationsferneren Bürgerinnen und Bürger die aktive Teilnahme an der Partizipationsdemokratie zu erleichtern. Wie werden Chancen und Schwierigkeiten der repräsentativen Demokratie erfahren, welche Vor- und Nachteile bieten Partizipationsmodelle für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen? Interner Link: Literatur und Quellen zur Sektion Interner Link: Thesenpapier Brigitte Geißel Interner Link: Thesenpapier Britta Baumgarten Teilnehmer/innen: Externer Link: Dr. Britta Baumgarten, ISCTE - Lisbon University Institute, PortugalExterner Link: Prof. Dr. Brigitte Geißel, Universität Frankfurt am MainExterner Link: Martin Zierold, Bezirksverordnetenversammlung BerlinExterner Link: Dr. Andreas Wojcik, Forum der Brückenbauer Moderation: Externer Link: Dr. Claudia Lohrenscheit, Deutsches Institut für Menschenrechte Zeit: 14.30 - 17.30 Uhr Raum: af Auditorium Friedrichstraße Im Quartier 110 / Friedrichstrasse 180 10117 Berlin Etherpad zur Dokumentation der Sektion: Externer Link: http://titanpad.com/BuKo2012-Sektion7
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-11-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/195106/thesenpapiere-etc/
Beteiligung und partizipative Teilhabemöglichkeiten stehen in einer Demokratie allen Menschen zu. Diskutiert werden soll, wie unterschiedliche Gruppen und Schichten der Bevölkerung partizipieren bzw. zur Partizipation angeregt und befähigt werden kön
[ "Bundeskongress politische Bildung", "Teilhabe", "Beteiligung", "Demokratie", "Partizipationsmodell", "Partizipation" ]
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Vielfalt der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland | 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de
Auch nach 50 Jahren Einwanderung aus der Türkei werden türkeistämmige Menschen in Deutschland häufig als geschlossene Gruppe wahrgenommen. Nicht selten wird im öffentlichen Diskurs nach wie vor von "den Türken" gesprochen. Dabei ist diese Bevölkerungsgruppe in hohem Maße heterogen. Die Mitglieder unterscheiden sich hinsichtlich der Zeit ihrer Ankunft in Deutschland, den Gründen für ihre Migration – manche kamen beispielsweise zum Arbeiten oder Studieren, andere aufgrund von Familienzusammenführungen oder um Asyl zu beantragen –, ihrem ethnischen und religiösen Hintergrund – manche sind türkische Sunniten, andere kurdische Aleviten oder auch armenische Christen –, ihrer Staatsbürgerschaft oder ihrem Bildungsgrad. Manche haben selbst Migrationserfahrungen gemacht, andere sind bereits hier geboren. So spiegelt die Vielfalt dieser Einwanderergruppe auf der einen Seite die Migrationsgeschichte Deutschlands und die Bedingungen am Niederlassungsort wider. Auf der anderen Seite reflektiert diese Vielfalt auch die Heterogenität der Bevölkerung in der Türkei sowie wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen im Herkunftsland. Diese werden gleichsam immer wieder zu Bezugspunkten für die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland. Der vorliegende Beitrag zeigt die Vielfalt und Breite dieser Gruppe anhand der Migrationsgeschichte, religiösen und ethnischen Identitäten, des Grads der Integration und der Spannungen innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung Deutschlands auf. Er verdeutlicht somit die Untauglichkeit von pauschalen Beschreibungen sowie die Notwendigkeit einer differenzierteren Auseinandersetzung mit diesem Thema. Von "Gastarbeitern" zu Bürgern – Einwanderung aus der Türkei Als am 31. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet wurde, geschah dies vor allem aus ökonomischen Gründen: Es sollte aus deutscher Sicht einem Mangel an Arbeitskräften entgegenwirken, der sich aus einem Boom der westdeutschen Wirtschaft ergab. Bereits zuvor hatte die Bundesregierung bilaterale Vereinbarungen mit südeuropäischen Staaten über die Anwerbung von Arbeitskräften unterzeichnet, um mit der temporären Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vor allem dem Arbeitskräftemangel in der Industrie und Landwirtschaft zu begegnen. Für die Türkei bot das Abkommen die Möglichkeit, die teilweise gravierende Arbeitslosigkeit zu mindern und durch die Zahlungen der Gastarbeiter an ihre Familien in der Heimat an Devisen zu gelangen. Türkische Gastarbeiter warten in Frankfurt auf den Bus nach Istanbul, 1978 (© AP) Ursprünglich sah das Abkommen vor, dass die sogenannten Gastarbeiter nur für eine kurze Zeit in Deutschland verbleiben und danach in ihre Heimatländer zurückgehen. De facto wurde die Aufenthaltsdauer ausländischer Arbeitnehmer immer länger, so dass die Zahl der "Gastarbeiter" in Deutschland stetig anstieg. Als der wirtschaftliche Aufschwung zu Beginn der 1970er abflaute und dies noch durch die Ölkrise verstärkt wurde, kam es 1973 zu einem Anwerbestopp. Zwar kehrten viele "Gastarbeiter" nun in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurück, insgesamt stiegen die Zuwanderungszahlen aufgrund von Familienzusammenführungen jedoch weiter an. Damit wandelte sich auch die soziale Struktur dieser Migrantengruppe. Waren es zuvor zwar nicht nur, aber vor allem Männer gewesen, die auf der Suche nach Arbeit eingewandert waren, kamen nun vermehrt Frauen und Kinder nach Deutschland. Die sozialen Bedürfnisse veränderten sich, und Fragen der Kinderbetreuung, Schulbildung und der Gesundheitsversorgung gewannen an Bedeutung. Es wurde nun immer deutlicher, dass die als Arbeitskräfte ins Land gekommenen Menschen sich mit ihren Familien hier einzurichten begannen und eine Heimkehr häufig – wenn überhaupt – in eine weite Ferne rückte. Über Jahre weigerten sich jedoch die deutsche Politik und weite Teile der Öffentlichkeit, die Tatsache anzuerkennen, dass die "Gastarbeiter" und ihre Familien nun auch bleiben würden. Bis 1998 verfolgte die Bundesregierung eine offizielle Politik, die bestritt, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. So gab es auch keine bundesweit konzertierte Ausländerpolitik, von Integrationspolitik ganz zu schweigen. Erst 2000 wurde das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert und restriktive Vorschriften modifiziert. Nun hatten Kinder von nichtdeutschen Eltern unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die Bedingung hierfür ist, dass mindestens einer der beiden Elternteile wenigstens seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt und seit drei Jahren eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung hat. Ein Fürsprecher der doppelten Staatsbürgerschaft präsentiert einen deutschen und einen türkischen Pass . München, 1999. (© AP) Hauptgrund für die Migration nach Deutschland blieb auch nach dem offiziellen Anwerbestopp für die meisten Migranten aus der Türkei die Suche nach Arbeit beziehungsweise die Familienzusammen-führung. Für eine Mehrzahl der Immigranten war es jedoch insgesamt eine Kombination aus verschiedenen Gründen, die sie zur Auswanderung bewog. In den Jahren 1966 und 1971 waren es beispielsweise zwei Erdbeben in der Osttürkei, die zu einer verstärkten Emigration führten. Immer wieder war es auch die politische Situation, die Menschen zur Ausreise bewog. So löste der Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980 eine Welle von politischen Flüchtlingen aus. Neben einer Reihe von türkischen Künstlern und Intellektuellen waren es besonders Menschen kurdischer Herkunft, die das Land verlassen mussten. Im Jahr 1980 kamen mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden in Deutschland aus der Türkei. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren führte der gewaltsame Konflikt in Südostanatolien zwischen dem türkischen Militär und der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan; dt.: Arbeiterpartei Kurdistans) und die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer zu einer weiteren Welle kurdischer Flüchtlinge. Mehrere tausend Kurden nehmen am Samstag, 15. Dezember 2007, an einer Großdemonstration in Düsseldorf teil. Die Demonstranten protestierten gegen den Einmarsch türkischer Streitkräfte in den Norden des Iraks und forderten die Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Bereits seit den 1970er Jahren entwickelten sich die Einwanderer aus der Türkei und ihre Familien zur zahlenmäßig größten Migrantengruppe in Deutschland. Durch ihre Präsenz prägten sie das Bild "des Ausländers" in der deutschen Öffentlichkeit, sodass es in vielen Debatten um Integration von Zuwanderern beziehungsweise deren vermeintliches Ausbleiben primär um die Integration von Türkeistämmigen ging und geht. Mit etwa 2,5 Millionen Menschen bilden heute in Deutschland türkeistämmige Migranten und ihre Nachkommen nach wie vor die größte Gruppe von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte. Dies entspricht 3,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands beziehungsweise knapp 16 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Rund zwei Drittel der Türkeistämmigen hält nach wie vor die türkische Staatsbürgerschaft, das übrige Drittel die deutsche. Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen sank allerdings in den vergangenen Jahren, was zum einen auf Einbürgerungen und zum anderen auf sinkende Einwanderungszahlen zurückzuführen ist. Im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen weisen jene aus den ehemaligen Anwerbestaaten eine im Durchschnitt recht lange Aufenthaltsdauer auf. 64,8 Prozent der Migranten aus der Türkei sind vor 20 oder mehr Jahren nach Deutschland gekommen. Doch der Anteil der Türkeistämmigen ohne eigene Migrationserfahrungen – das sind also jene, die bereits in Deutschland geboren wurden – steigt kontinuierlich an. 2009 waren dies gut 40 Prozent unter den Türkeistämmigen. Zwar geben die demografischen Fakten schon einen ersten Eindruck über die Vielfalt dieser Bevölkerungsgruppe. Sie sagen jedoch noch nichts über die ethnische und religiöse Diversität aus und auch wenig über die soziale Integration in Deutschland. Religiöse und ethnische Identitäten Gerade im Hinblick auf die religiöse Orientierung und ethnische Vielfalt spiegeln sich die Verhältnisse in der Türkei auch in Deutschland wider. Rund 95 Prozent der türkeistämmigen Menschen in Deutschland sind muslimischen Glaubens, der Rest entfällt auf Konfessionslose und andere Religionsgemeinschaften wie beispielsweise Christen und Yeziden. Je nach Schätzungen sind von den türkeistämmigen Muslimen zwischen 76 Prozent und 87,3 Prozent Sunniten und zwischen 11,6 Prozent und 17 Prozent Aleviten. Einen verschwindend geringen Teil bilden Schiiten. Insgesamt schätzen sich rund zwei Drittel als religiös bis sehr religiös ein – was einen deutlichen Unterschied zu jenem Teil der Gesellschaft ohne Migrationshintergrund darstellt. Türkische Muslime während des Fastenmonats Ramadan am Feitag, 31. Oktober 2003, in der Anstalt für Religion in Berlin. Foto: AP Zur ethnischen Zugehörigkeit und zur Größe von ethnischen Minderheiten liegen nur Schätzungen vor, da in Deutschland keine statistische Erfassung nach Ethnien stattfindet. Die ethnische Heterogenität der Türkei findet sich jedoch auch in Deutschland wieder. Neben kleineren Gruppen wie Tscherkessen, Arabern oder Lasen stellen Kurden als größte ethnische Minderheit in der Türkei auch die größte Gruppe der nichttürkischen Einwanderer aus der Türkei in Deutschland dar. Ihre Zahl wird unterschiedlichen Quellen zufolge auf zwischen 500.000 und 800.000 geschätzt, sodass sie bis zu fast einem Drittel aller türkeistämmigen Menschen in Deutschland ausmachen. Religiöse und ethnische Identitäten sind jedoch auch unter Türkeistämmigen keine festen Größen, die über die Zeit unverändert bleiben. Zum Teil entwickelten sie sich erst in Deutschland oder gewannen hier an Bedeutung. So waren beispielsweise unter den Gastarbeitern und Flüchtlingen aus der Türkei immer auch schon Kurden gewesen. Die meisten von ihnen entdeckten ihr "Kurdischsein" jedoch erst, als sie sich in Europa niederließen. Sie sahen sich zunächst selbst als Türken. Falls die kurdische Sprache und Kultur überhaupt gepflegt wurde, so blieb dies auf den privaten Rahmen beschränkt. Ab Mitte der 1970er Jahre wuchs unter Einwanderern kurdischer Herkunft jedoch die kurdische Identität und das Gefühl ethnischer Zugehörigkeit. Dieser Trend wurde durch den Militärputsch in der Türkei 1980 und seine Folgen noch verstärkt. Die Ankunft einer großen Anzahl von Immigranten, welche die Türkei aus politischen Gründen verlassen hatten, führte zu einer verstärkten Politisierung und Mobilisierung der kurdischen Gemeinschaft in Deutschland und anderen europäischen Staaten. Auch im Hinblick auf alevitische Religiosität lässt sich ein Zusammenhang mit politischen Ereignissen in der Türkei, der Unterdrückung und Verfolgung von Aleviten und einer Renaissance des alevitischen Glaubens in der Diaspora feststellen. Waren Aleviten in der Türkei schon immer mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert, so wurden sie ab Ende der 1970er Jahre vermehrt Opfer massiver Gewalt aus dem rechtsradikalen politischen Spektrum. Um gegen negative Stereotypen und Benachteiligungen vorzugehen, fingen Aleviten zu Beginn der 1990er Jahre in und außerhalb der Türkei an, sich zu organisieren und ihren Glauben offener und selbstbewusster zu praktizieren. Als 1993 bei einem Massaker während eines alevitischen Kulturfestivals in der zentralanatolischen Stadt Sivas mehr als 30 Menschen starben, führte dies zu einem Erstarken der alevitischen Bewegung. Auch in Deutschland begannen nun mehr und mehr Aleviten sich zu organisieren und zum Alevitentum zu bekennen. Demonstranten (© AP) Ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Entwicklung einer ethnischen oder religiösen Identität stellen dabei die demokratischen Bedingungen in Deutschland und in anderen europäischen Aufnahmeländern dar. Erst die Organisations- und Versammlungsfreiheit sowie die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung, der Religionsausübung und häufig auch zur Nutzung der eigenen Sprache führt bei vielen Migrantengruppen zu einer gestiegenen ethnischen und religiösen Identität. Oft findet bei Migranten eine Auseinandersetzung mit vormals selbstverständlichen Verhaltensweisen erst im Kontext der Aufnahmegesellschaft statt. Sie werden nun lediglich als eine von vielen möglichen Handlungsoptionen erfahren, was unter Umständen zu einer Reflexion und zu einem erstmaligen Bewusstwerden des eigenen ethnischen oder auch kulturellen Hintergrunds führt. Identitäten sind vielschichtige und komplexe Phänomene. Für ein Individuum sind multiple Identitäten möglich, die stark kontextabhängig sein können. So kann sich beispielsweise eine Person in einer Situation als Türke fühlen, jedoch in einer anderen als Kurde, Deutscher oder Muslim. Manche Identitäten wie religiöse Überzeugung, Klassenzugehörigkeit oder Gender können quer zu ethnischen Identitäten verlaufen. In der aktuellen Debatte in Deutschland über die Integration von Migranten wird besonders die Rolle der Religion – das heißt vor allem des Islams – diskutiert. Daher hat sich der Fokus der Politik und großer Teile der deutschen Öffentlichkeit von nationalen und ethnischen Kategorien zu religiösen verschoben, was wiederum Rückwirkungen auf die Selbstidentifikationen von Menschen mit einem Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Ländern hat. Integration in Deutschland So vielfältig die Gruppe der türkeistämmigen Personen ist, so wenig lassen sich allgemeine Aussagen über die individuelle Einbindung in die Mehrheitsgesellschaft treffen. Wenngleich der Begriff Integration kontrovers diskutiert wird, besteht weitgehender wissenschaftlicher Konsens darüber, dass sie auf verschiedenen Dimensionen stattfindet. Diese lassen sich oftmals nicht voneinander trennen und bedingen sich vielfach gegenseitig. So wird meist unterschieden zwischen struktureller Integration, das heißt die Einbindung in gesellschaftliche Funktionssysteme wie Bildung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssystem und Politik, sozialer Integration, das heißt interethnische Freundschaften oder gesellschaftliche Einbindung in Vereinen und ähnliches, kultureller Integration, das heißt Spracherwerb und Kenntnisse von Normen, sowie identifikativer Integration, das heißt Zugehörigkeitsgefühle zur Aufnahmegesellschaft. Zwar lässt sich – anders als dies die öffentliche Diskussion gelegentlich nahe legt – kein Anwachsen von "Parallelgesellschaften" feststellen. Dennoch ist der Grad der Integration individuell sehr unterschiedlich und kann auch auf den genannten Ebenen erheblich variieren. Zudem existiert durchaus ein, wenn auch sehr kleiner, Teil der türkeistämmigen Bevölkerung, für den nur eine minimale Anbindung an die deutsche Gesellschaft (die Mehrheitsgesellschaft) festzustellen ist. Vor allem Unterschiede im Bereich der strukturellen Integration führen zu erheblichen Ungleichheiten in der wirtschaftlichen Situation innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung. So steht einer steigenden Zahl von wirtschaftlich besser gestellten Personen eine nach wie vor sehr hohe Zahl von Menschen gegenüber, die in wirtschaftlich prekären Situationen leben und in hohem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hier werden die Langzeitfolgen der Einwanderungsgeschichte deutlich: Der wirtschaftliche Strukturwandel von der Industrieproduktion zur Dienstleistungsgesellschaft traf die meist ungelernten "Gastarbeiter" besonders hart, da im verarbeitenden Gewerbe zunehmend Arbeitsplätze wegfielen. Es gelang ihnen nur selten in anderen Bereichen Fuß zu fassen, da ihnen die schulischen und beruflichen Qualifikationen fehlten und teilweise nur geringe Deutschkenntnisse vorhanden waren. Insbesondere bestehen zwischen der ersten und den Nachfolgegenerationen deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Integration in Deutschland. Allerdings stellt sich auch in den jüngeren Generationen der Integrationsgrad sehr unterschiedlich dar. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zu diesen Generationen neben den Kindern und Enkelkindern der "Gastarbeiter", welche in Deutschland geboren oder zumindest hier aufgewachsen sind, auch jene nachgereisten Ehepartner gehören, die erst seit kurzem in Deutschland sind und in der Türkei aufwuchsen und sozialisiert wurden. Langfristig wird deutlich, dass die Schere größer wird zwischen jenen Migranten, die über gute Voraussetzungen der strukturellen, gesellschaftlichen und identifikativen Integration verfügen und aufgrund dessen relativ gut in die Mehrheitsgesellschaft eingebunden sind, und jenen, denen die Voraussetzungen hierfür fehlen. Ein Klassenzimmer der Schwabschule in Stuttgart, wo Schüler den islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache verfolgen. (© AP) Insgesamt bleiben einige Aspekte von gemeinsamer Bedeutung für diese Bevölkerungsgruppe. So sehen sich in Deutschland, verglichen mit dem Rest der Bevölkerung, Türkeistämmige ebenso wie Menschen mit anderen Migrationshintergründen mit einer Reihe von Problemen, Benachteiligungen und Diskriminierung konfrontiert. Dies ist besonders im Bereich der (Aus-)Bildung der Fall. Alle jüngeren Studien zum deutschen Bildungssystem, am prominentesten die PISA-Studie zur internationalen Schulleistungsuntersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), haben gezeigt, dass Kinder mit einem Migrationshintergrund weit hinter jenen Schülerinnen und Schülern ohne einen solchen Hintergrund zurückfallen. Das bedeutet, dass sie deutlich geringere Chancen während ihrer ganzen Schullaufbahn haben und die Schule überdurchschnittlich oft mit geringen Abschlüssen verlassen. Dies führt zu einer Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und zu hohen Arbeitslosenzahlen unter Migranten. Sogar in der dritten Generation ist der Anteil der ungelernten und gering bezahlten Arbeiternehmer vergleichsweise hoch. Und selbst bei einer Verbesserung der Migranten in Bereichen des Spracherwerbs und der Bildung schlägt sich dies bislang nicht in einer verbesserten Platzierung auf dem Arbeitsmarkt nieder, da hier weitere strukturelle Schranken wirken und Diskriminierung weit verbreitet ist. Zwischen Deutschland und der Türkei Wie schon im Hinblick auf die Migrationsgründe und Identitätsbildungsprozesse deutlich wurde, war und ist die Situation in der Türkei eine wichtige Bezugsgröße für die Migrationsdynamik und ebenso für die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland. Zwar haben die meisten türkeistämmigen Migranten und ihre Familien inzwischen ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden. Entwicklungen und Einzelereignisse in der Türkei bleiben jedoch – wenngleich in individuell sehr unterschiedlichem Ausmaß – von Bedeutung. Emotionale Bindung und individuelle Zugehörigkeitsgefühle an Deutschland und die Türkei schließen sich nicht gegenseitig aus. Vielmehr gehören multiple Identitäten zur Normalität vieler Migranten. Zudem haben die rasanten technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre eine neue Dimension der Migration geschaffen und zu einer Transnationalisierung geführt. Aufgrund des Fortschritts moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, der Verfügbarkeit von schnellen und preiswerten Reiseangeboten sowie den Möglichkeiten des elektronischen Geldtransfers können die Beziehungen zu Verwandten und Freunden in der Türkei kontinuierlich gepflegt und aufrechterhalten werden. Diese Beziehungen sind dadurch vielschichtiger und komplexer geworden. Darüber hinaus sind im Zuge der fortschreitenden Globalisierung über Staatsgrenzen hinweg organisierte Migrationsströme entstanden, die als zirkulär charakterisiert werden können. Zeitlich begrenzte Aufenthalte und wiederholtes oder regelmäßiges Pendeln zwischen dem Herkunftsland und einem (oder mehreren) Aufnahmeländern sind typisch für diese Wanderungsform. Sie geht einher mit der Etablierung von transnationalen Sozialräumen, bei denen ökonomische, politische und kulturelle Beziehungen zwischen Personen und Gruppen die Grenzen von souveränen Staaten überschreiten. Deutschtürkin Lale Erdem (© AP) Diese neuen Sozialräume beeinflussen die Lebenspraxis der türkeistämmigen Bevölkerung, indem sie den Einreiseort und das Herkunftsland auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbinden. Neben internationalen Geschäftsbeziehungen beinhaltet dies auch die Etablierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ihre Aktivitäten sowohl auf die Türkei als auch auf Deutschland ausrichten, oder die Entstehung einer Populärkultur, die Aspekte aus beiden Kulturen kombiniert. Im Ergebnis bauen türkeistämmige Migranten und ihre Nachkommen vielfältige soziale Beziehungen auf, die ihre Herkunfts- und Niederlassungsgesellschaft miteinander verbinden. Mitunter können türkeistämmige Menschen aufgrund ihrer Vertrautheit sowohl mit der Herkunfts- wie der Niederlassungskultur eine Brückenfunktion zwischen beiden Ländern einnehmen. Zunehmend setzen auch Wirtschaftsunternehmen auf diese Kompetenzen, um auf beiden Märkten Fuß zu fassen. Allerdings trifft diese Beschreibung nur auf einen bestimmten Kreis der türkeistämmigen Bevölkerung zu. Auch hier wird wieder die Vielfalt der Gruppe deutlich: Während sich ein Teil problemlos in beiden Kontexten bewegen kann, mangelt es anderen an den notwendigen Kompetenzen wie Bilingualität und kultureller Flexibilität oder aber den materiellen Ressourcen. Hier kann es sogar zum gegenteiligen Phänomen kommen, dass sich Personen weder in Deutschland noch in der Türkei wirklich heimisch und akzeptiert fühlen. Konflikte unter türkeistämmigen Migranten Die bereits beschriebenen Dynamiken transnationaler Vernetzung führen allerdings auch teilweise dazu, dass konfliktbezogene Entwicklungen und Einzelereignisse sowie bereits bestehende Konfliktstrukturen und gesellschaftliche Konstellationen in der Türkei für das Zusammenleben einzelner Gruppen der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland relevant bleiben. So hat es beispielsweise in der Vergangenheit immer wieder Spannungen und teilweise auch Gewalt zwischen Türkisch- und Kurdischstämmigen gegeben, die den Kurdistan-Konflikt in Deutschland fortzuführen schienen. Besonders in den 1990er Jahren kam es zu einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen pro-kurdischen und pro-türkischen Kräften. Besonders die PKK erregte mit Anschlägen auf türkische Institutionen und Geschäfte Aufsehen, aber auch Übergriffe seitens türkisch-nationalistischer Gruppen auf kurdische Einrichtungen nahmen zu. Wenngleich das Konfliktniveau nachließ, kommt es auch aktuell immer wieder zu Auseinandersetzungen, die sich häufig an Ereignissen wie Militäraktionen, Gerichtsurteilen oder Wahlen in der Türkei entzünden. So kam es beispielsweise im April dieses Jahres zu teilweise gewaltsamen Protesten vor türkischen Botschaften und Konsulaten gegen einen Entschluss der türkischen Wahlaufsicht, der verschiedene kurdische und linke Kandidaten zunächst von den Parlamentswahlen im Juni 2011 ausschloss, oder einige Wochen später zu Zusammenstößen bei Demonstrationen gegen die PKK im Kontext einer Eskalation der Gewalt in der Türkei. Insgesamt reicht die Bandbreite der Auseinandersetzungen von Sachbeschädigungen und Körperverletzungen über Ausschreitungen im Kontext von Demonstrationen bis zu Jugendgewalt an Schulen. Doch auch latentere Konfliktformen sind zu beobachten. So beklagen Kurdischstämmige immer wieder, dass sie sich von ihrem türkischen Umfeld diskriminiert fühlen und sich daher oftmals nicht offen zu ihrer kurdischen Identität bekennen würden. Teilweise eng verbunden mit diesem Thema sind auch Spannungen zwischen Anhängern verschiedener türkischer Parteien und Bewegungen. So flammen gelegentlich Konflikte zwischen Vertretern eines extremen türkischen Nationalismus, beispielsweise den sogenannten Grauen Wölfen, und Vertretern aus dem radikalen linken Spektrum auf. Es kommt auch zu Kontroversen im Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern in der Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allerdings greifen Erklärungen, welche die Wurzeln solcher Konflikte lediglich im Herkunftskontext sehen und schlicht einen Konfliktimport attestieren, zu kurz. Vielmehr sind vergangene und aktuelle Ereignisse in der Türkei, die Zuwanderungsgeschichte sowie der nationale und lokale Kontext von Bedeutung bei der Entfaltung von Konflikten zwischen den Gruppen. Neben den sozialen Konstellationen und Konfliktstrukturen in der Türkei spielen negative Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaft und daraus resultierende Frustrationen eine Rolle in Bezug auf bestehende Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen. Die aus der Diskriminierung in Deutschland resultierende Frustration, der Mangel an Identität und damit die Suche nach Akzeptanz stärken Abgrenzungstendenzen und den Rückzug in ethnische Nischen oder auch gesteigerte Religiosität. Die Orientierung an der eigenen Gruppe, deren Mitglieder mit denselben Problemen und Gefühlen der Ausgrenzung durch die Gesellschaft und die Politik des Aufnahmelandes zu kämpfen haben, wird verstärkt. Ein Ergebnis solcher Identifikationen ist, dass wechselseitig Stereotypen und negative Images produziert werden, die zu Spannungen und Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen, aber auch mit der Mehrheitsgesellschaft führen können. Zusammengenommen kann dies zu Konfliktsituationen führen, in denen die zugrunde liegenden Ursachen sozialer oder individueller Natur sind, jedoch in ethnischer oder religiöser Form zum Ausdruck kommen. Zur Bearbeitung und Vermeidung solcher Konflikte ist daher eine differenzierte Analyse der tatsächlichen Ursachen notwendig, die einfache Schuldzuweisungen und vermeintlich offensichtliche Erklärungen vermeidet. Der Überblick über die Migrationsgeschichte, den ethno-religiösen Hintergrund, den Integrationsgrad und Intragruppenkonflikte verdeutlicht die Pluralität der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland. Zwar werden einige Aspekte für die Mehrheit der Türkeistämmigen relevant bleiben. Es ist jedoch gerade ihre Unterschiedlichkeit und Vielfalt, die sie kennzeichnet. Dies gilt es auch in der öffentlichen Wahrnehmung stärker zu verankern. Auch hier muss einer Reproduktion von Stereotypen entgegengewirkt und Verallgemeinerungen vermieden werden. Nur eine differenzierte Betrachtung ermöglicht es, Potenziale zu nutzen und positive Entwicklungen zu fördern sowie Missstände zu identifizieren und zu bearbeiten. So wird es in Zukunft wichtiger denn je sein, sich mit einzelnen Aspekten der Lebenswelt türkeistämmiger Migranten und ihrer Nachkommen auseinanderzusetzen, anstatt pauschal von "den Türken" zu sprechen. Türkische Gastarbeiter warten in Frankfurt auf den Bus nach Istanbul, 1978 (© AP) Ein Fürsprecher der doppelten Staatsbürgerschaft präsentiert einen deutschen und einen türkischen Pass . München, 1999. (© AP) Mehrere tausend Kurden nehmen am Samstag, 15. Dezember 2007, an einer Großdemonstration in Düsseldorf teil. Die Demonstranten protestierten gegen den Einmarsch türkischer Streitkräfte in den Norden des Iraks und forderten die Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Türkische Muslime während des Fastenmonats Ramadan am Feitag, 31. Oktober 2003, in der Anstalt für Religion in Berlin. Foto: AP Demonstranten (© AP) Ein Klassenzimmer der Schwabschule in Stuttgart, wo Schüler den islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache verfolgen. (© AP) Deutschtürkin Lale Erdem (© AP) "Türkeistämmig" bezeichnet sämtliche Personen, die unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Identität oder eigenen Migrationserfahrungen ihre familiären Wurzeln in der Türkei haben. Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001, S. 202 ff. Vgl. Klaus J. Bade, Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik, in: ders./Hans-Georg Hiesserich (Hrsg.), Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven der Integrationspraxis, Göttingen 2007. Vgl. Bundesministerium des Innern (BMI), Migration und Integration. Aufenthaltsrecht, Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland, Berlin 2008, S. 16. Vgl. zu den Statistiken: BMI, Migrationsbericht 2009, Berlin 2011. Vgl. zum Problem der Erhebung der Religionszugehörigkeit: Riem Spielhaus, Religion und Identität, in: Internationale Politik, (2006) 3, S. 28-36. Bei den Aleviten handelt es sich um eine Konfession, die ihre Wurzeln im schiitischen Islam hat. Die Zugehörigkeit des Alevitentum zum Islam ist umstritten, die meisten Aleviten sehen sich jedoch selbst als Muslime. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, S. 303; Martina Sauer/Dirk Halm, Erfolge und Defizite der Integration türkeistämmiger Einwanderer, Wiesbaden 2009, S. 34. Vgl. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS – Kurdische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland, 14.2.2000, online: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/026/1402676.pdf (25.8.2011); Navend. Zentrum für Kurdische Studien, Kurden in Westeuropa. Schätzungen für das Jahr 2002, online: www.navend.de/html/kurden/asylsuchende.pdf (25.8.2011). Vgl. Claus Leggewie, How Turks Became Kurds, Not Germans, in: Dissent, 43 (1996) 2, S. 79-83. Vgl. Martin Sökefeld, Struggling for Recognition, New York u.a. 2008. Vgl. Dieter Filsinger, Bedingungen erfolgreicher Integration. Integrationsmonitoring und Evaluation, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2008, S. 8, online: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/05767.pdf (25.8.2011). Vgl. Zentrum für Türkeistudien, Armut und subjektive wirtschaftliche Perspektiven bei türkischstämmigen Migranten, Essen 2005. Vgl. M. Sauer/D. Halm (Anm. 8), S. 119. Vgl. OECD Programme for International Student Assessment, Where immigrant students succeed, Paris 2006. Vgl. M. Sauer/D. Halm (Anm. 8), S. 38 ff. Vgl. Ludger Pries, Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung, Wiesbaden 2010. Vgl. Jan Hanrath, Konflikte zwischen Migrantengruppen, INEF Report, (2011) 105 (i. E.).
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Jan Hanrath
"2021-12-20T00:00:00"
"2011-11-29T00:00:00"
"2021-12-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/anwerbeabkommen/43240/vielfalt-der-tuerkeistaemmigen-bevoelkerung-in-deutschland/
Obwohl die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland sehr heterogen ist, wird sie häufig als geschlossene Gruppe wahrgenommen. Ihre Vielfalt wird anhand der Migrationsgeschichte, dem ethno-religiösen Hintergrund, dem Integrationsgrad sowie an Intragr
[ "türkischstämmig", "deutsche Geschichte", "Anwerbeabkommen", "Heimat", "Deutschland", "Türkei" ]
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Einleitung: Perspektiven des Erdgastransits: Experten zur Rolle der Ukraine für russische Erdgaslieferungen nach Europa | Ukraine-Analysen | bpb.de
Die zu Zeiten der Sowjetunion für den Erdgasexport gebauten Pipelines gingen fast alle durch die Ukraine. Im Ergebnis war die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das zentrale Transitland für russische Erdgaslieferungen nach Europa. Selbst im Jahr 2008 lag der Anteil der Ukraine an den Kapazitäten der Transitpipelines für russische Erdgasexport noch bei knapp 75 %. In Reaktion auf etliche Konflikte um russische Erdgaslieferungen in die Ukraine und russische Transitlieferungen durch die Ukraine begann der russische Erdgasmonopolist Gazprom zunehmend Projekte für alternative Exportrouten zu entwickeln. Ein prominentes Beispiel ist die Nord Stream-Pipeline, die russisches Erdgas durch die Ostsee direkt nach Deutschland liefert. Erklärtes russisches Ziel ist es, die Ukraine als Transitland für Erdgasexporte überflüssig zu machen. Die Ukraine bezieht zwar für den Eigenbedarf seit Ende 2015 kein Erdgas mehr direkt aus Russland, ist aber derzeit immer noch ein relevantes Transitland für russische Erdgaslieferungen nach Europa. Wir haben führende Experten gebeten, ihre Einschätzung der Perspektiven der Ukraine als Transitland für Erdgas in einer kurzen Stellungnahme zusammenzufassen. Die rechtzeitig bei uns eingegangen Texte werden hier veröffentlicht. Die Redaktion der Ukraine-Analysen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-02-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/264698/einleitung-perspektiven-des-erdgastransits-experten-zur-rolle-der-ukraine-fuer-russische-erdgaslieferungen-nach-europa/
Die Ukraine war für viele Jahre ein wichtiges Transitland für Erdgaslieferungen aus Russland. Durch die aktuellen politischen Konfliktlinien wird diese Stellung jedoch bedroht – wie ist diese Entwicklung zu bewerten?
[ "Ukraine-Analyse" ]
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Editorial | Föderalismus | bpb.de
Der Begriff "Föderalismus" geht zurück auf das lateinische Wort foedus für Bund, Bündnis oder Übereinkunft. Gemeinhin wird er auf eine politische Ordnung bezogen, in der Macht und Zuständigkeiten zwischen Gliedstaaten und dem durch sie gebildeten Gesamtstaat aufgeteilt sind. Neben der vertikalen Gewaltenteilung kann ein föderales System auch andere politische Funktionen erfüllen: Durch territoriale Eigenständigkeit können etwa Minderheiten geschützt und heterogene Gesellschaften integriert werden; idealerweise fördert die Stärkung regionaler und lokaler Verantwortung Bürgernähe in der Politik sowie Partizipation. In Deutschland wurde der Föderalismus als staatliches Organisationsprinzip 1949 verfassungsrechtlich verankert, um nach dem Untergang des nationalsozialistischen Einheitsstaates die politischen Machtstrukturen wieder aufzugliedern und das System der checks and balances zu stärken. Kennzeichnend für den deutschen Föderalismus ist die Kooperation der Exekutiven von Bund und Ländern, die sich im Laufe der Zeit zu einer engen Verflechtung beider Ebenen entwickelt hat. Seit einigen Jahren befindet sich die bundesstaatliche Ordnung in einem permanenten Reformprozess; derzeit wird über die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen verhandelt. Die deutsche Reformdebatte rührt an die Kernfragen föderaler Ordnungen nach der Verteilung der Kompetenzen, Aufgaben und Finanzmittel sowie der Interaktion zwischen den Ebenen. Föderalismus ist stets ein Balanceakt: zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Verflechtung und Autonomie. Im Frühjahr 2015 startete "Aus Politik und Zeitgeschichte" einen Call for Papers zum Thema Föderalismus. Aus den zahlreichen bemerkenswerten Exposés wählte die Redaktion in einem anonymisierten Verfahren fünf Autor(inn)en und ein Autorenteam aus, deren Beiträge in dieser Ausgabe versammelt sind. Zudem gibt die zusätzlich eingeladene Autorin Nathalie Behnke einen Überblick über Stand und Perspektiven der Föderalismusforschung.
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Anne-Sophie Friedel
"2021-12-07T00:00:00"
"2015-07-02T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/209061/editorial/
[ "Föderalismus", "staatliches Organisationsprinzip", "hecks and balances", "Deutschland" ]
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Von Daten und Macht - Essay | Transparenz und Privatsphäre | bpb.de
Die Debatten um Datenschutz und Privatsphäre haben in den vergangenen Jahren an Intensität und Breite gewonnen. Sie flammen an vielen Stellen auf, die zuvor noch gar nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit standen. Parallel dazu und gern auch leichtfertig vermischt damit geht es um die Kontrolle des Staates und großer Unternehmen durch mehr Transparenz. Die Konfusion ist verständlich. Implizit argumentieren Behörden gerne damit, dass sich sowieso alle im Internet entblößen. Deswegen solle man sich nicht so haben, wenn der Staat auch noch ein paar Daten will. Die Reinform dieser Ansicht findet sich etwa beim Vizepräsident des Bundeskriminalamts, der gern postuliert, wer online sei, habe ohnehin sein Recht auf Privatsphäre verwirkt. Verbündete in dieser Weltsicht sind die großen Internetunternehmen, die gerne so viel Daten horten, erfassen und speichern, wie sie können. Zumindest bei den Unternehmen folgt dieser Drang einem klaren Ziel: Je besser man den Menschen kennt, desto gezielter kann man ihn durch Werbung zum Kauf von Produkten und Dienstleistungen anregen. Woher kommt nun aber diese allgegenwärtige Datengier? Für die Internet-Konzerne ist die Frage relativ einfach zu beantworten. Nachdem die erste Start-up-Blase mangels ausreichender Einnahmen der von den Risikokapitalisten finanzierten Firmen platzte, musste ein neues Paradigma für das Wirtschaften im Netz her. Die "revolutionäre" neue Idee lässt sich in drei Worte fassen: Werbung – möglichst zielgerichtet. Niemand machte sich ernsthafte Illusionen darüber, dass der Charakter des Internets sich durch diesen Schwenk grundlegend ändern würde. Selbst die Google-Gründer schrieben, lange bevor sie genau dieses Modell für ihre eigene Firma einführten: "Eine werbefinanzierte Suchmaschine wird unweigerlich die Werbetreibenden bevorzugen, nicht die Bedürfnisse der Nutzer." Wenige Jahre später waren es Googles eigene Ingenieure, welche die "Urmutter" aller gezielten Online-Werbung entwickelten. Die kleinen, auf die jeweilige Suchabfrage abgestimmten Einblendungen von Werbelinks – sogenannte adwords – sind noch ein relativ harmloses Beispiel von zielgerichteter Werbung, das von den meisten Nutzern nicht als störend empfunden wird. Ausgehend von dieser Basis wuchs jedoch in kurzer Zeit die Menge und Vielfalt der Verfahren explosionsartig, um die Nutzer besser auszuforschen, durchs Netz zu verfolgen und zu erahnen, was ihre Bedürfnisse und Interessen sind. Ende der Privatsphäre? Faszinierenderweise scheint jedoch das Paradigma, dass immer mehr Daten auch zu besseren Ergebnissen bei der Nutzermanipulation führen, nur bis zu einem gewissen Punkt zu stimmen. Die Zufriedenheit von Werbekunden, die hochgradig gezielte Kundenansprache ausprobiert haben, ist gegenüber normaler oder nur sehr grob gezielter Werbung verschiedenen Studien zufolge nicht unbedingt höher. Auch die magische Einheit der Werbebranche, die "Durchklickzahlen" – also wie viele Nutzer von Werbung zum Klicken motiviert werden –, weist keinen enormen Vorteil für besonders zielgerichtete Werbung auf. Das hindert jedoch die spezialisierten Dienstleister, die sich die immer bessere Ausforschung des Netznutzers zum Geschäftszweck gemacht haben, nicht daran, ihre Datenhalden stetig zu vergrößern. Sie folgen damit der Philosophie, die Google und Facebook eingeführt haben: Wozu sollte man Daten wegwerfen oder nicht erheben? Speicherplatz kostet doch nichts mehr. Und man weiß ja nie, welche interessanten oder profitablen Korrelationen sich irgendwann einmal aus den Beständen errechnen lassen. Der Boom der Sozialen Netzwerke und die damit einhergehende Veränderung unserer Gewohnheiten und sozialen Normen in puncto Öffentlichkeit, publiziertes Selbst, digitale Intimsphäre und Privatheit ist also kein Zufall. Schon seit der Jahrtausendwende, also kurz nachdem die Start-up-Blase platzte, begannen die führenden Köpfe der digitalen Industrie, mit gezielter Propaganda gegen das Konzept Privatsphäre zu Felde zu ziehen. Bereits 1999 sagte etwa Scott McNealy, der damalige Chef des Computerkonzerns Sun: "You have zero privacy anyway, get over it." Sun wurde später von Oracle gekauft, dem größten Datenbank- und Auswertungssoftware-Anbieter. Larry Ellison, der Boss von Oracle, sagte in einem Interview mit dem "Playboy": "Privacy is an illusion." Dem erstaunten Journalisten erklärte er: "Trust me, your data is safer with me than with you." Auch der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt ist ähnlicher Ansicht: "Wenn Sie etwas machen, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendwer erfährt – dann sollten sie es vielleicht gar nicht erst tun." Und Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, deklarierte schließlich: "Privacy is no longer a social norm." Häufig wird von den Leuten, die am meisten daran verdienen, so getan, als wäre es quasi Naturgesetz, dass der Verlust der Privatsphäre eine unweigerliche Folge des Einsatzes von Computern und Netzen ist. Das dahinter stehende Profitmotiv wird öffentlich ungern diskutiert. Wer spricht schon über Geld, wenn es doch vordergründig um mehr Freiheit, besseren Kontakt zu Freunden, um den Zugriff auf das Wissen der gesamten Welt geht? Es ist schließlich auch vollständig unrealistisch, sich von den Segnungen des digitalen Zeitalters abzukapseln und das Leben eines Eremiten zu führen. Es ist jedoch essenziell, in den Debatten um die Aushandlung der neuen sozialen Normen über die Hintergründe und die Ziele der Akteure Bescheid zu wissen. Es geht nicht nur um Geld, es geht auch um Macht. Falsche Freunde Daten sind Macht. Vielfach wird naiverweise so getan, als seien Google, Facebook, Apple und Co. doch nur harmlose Unternehmen, die niemandem etwas zuleide tun und einfach ein wenig Geld verdienen wollen. Doch machen wir uns nichts vor: Die Vielfalt der Informationen über den Einzelnen, seine Vorlieben, seine politische Einstellung, seine Kommunikationspartner, sein Lebensumfeld, seine Partner und Freunde, seine finanziellen Möglichkeiten, seine typischen Bewegungsmuster, seine Ansichten zu grundlegenden moralischen und ethischen Fragen – all das sind Informationen, die nicht umsonst seit Jahrhunderten von Geheimdiensten und anderen Machtapparaten gesammelt werden. Dabei geht es nicht unbedingt um die klassische Erpressbarkeit. Dieser Aspekt bleibt meist staatlichen Geheimdiensten und von ihnen beauftragten privaten Sicherheitsdienstleistern vorbehalten. Worum es den Internetkonzernen geht, ist das Leben des Einzelnen für die selbstlernenden Algorithmen ihrer zukünftigen Produkte zu erschließen. Der nächste große Schritt nach Suchmaschine, sozialem Netzwerk und mobilen Applikationen ist der "intelligente Lebensbegleiter". Erste Anfänge lassen sich bei Apples "Siri" und Googles "Now" (sprachgesteuerte "Assistenten" in mobilen Geräten) bereits beobachten. Wieder einmal geht es um die Beeinflussung von Kaufentscheidungen, aber auch um die langfristige Bindung an das digitale Ökosystem des jeweiligen Konzerns. Die Nutzer zu "besitzen", ist der Heilige Gral der neuen Zeit. Eine möglichst tiefe Einbindung in die Dienste und Angebote, besonders auf Mobiltelefonen, erhöht die "Klebrigkeit" der jeweiligen Angebote und garantiert so einen kontinuierlichen Umsatzstrom. Ganz nebenbei lässt sich eine große Anzahl von Nutzern unter den richtigen Umständen und mit etwas Geschick auch in politische Macht verwandeln. Googles erstes Experiment mit dieser Option – die Kampagne "Verteidige Dein Netz", um die Einführung des umstrittenen Leistungsschutzrechts in Deutschland zu verhindern – war zwar noch von Unbeholfenheit und geringer Wirksamkeit geprägt. Ob das in Zukunft anders aussieht, insbesondere wenn es um die Mobilisierung von Nutzern gegen staatliche Regulierung geht, die weniger hanebüchen ist als das Leistungsschutzrecht, wird genau zu beobachten sein. Die Härte der Debatten und Lobbyanstrengungen um die anstehende europäische Datenschutznovelle zeigt einmal mehr, um welch große Einsätze das Spiel geht. Die dringend notwendige Vereinheitlichung der europäischen Datenschutzgesetzgebung wurde – wenig überraschend und teilweise mit erheblicher Unterstützung von US-Behörden – von interessierten Unternehmen dazu genutzt, stärkere nationale Standards, wie etwa die deutschen, auszuhöhlen und zu verwässern. Argumentiert wird dabei gern mit den angeblich gefährdeten Arbeitsplätzen und dem vermeintlich drohenden Schaden für die globale Wirtschaftsliberalisierung, sollten strengere Regulierungsmaßnahmen, etwa stärkere Transparenzrechte der Nutzer oder Zweckbestimmungsgebote für Daten, durchgesetzt werden. Zur Legende vom scheuen Reh des Kapitals, das erschreckt davonspringt, sobald sich die lokalen Steuerbedingungen ungünstiger gestalten, gesellt sich nun die Legende vom scheuen Big-Data-Rehlein, das vor besserem Daten- und Nutzerschutz Reißaus zu nehmen droht. Kosten und Nutzen Dabei wäre es an der Zeit, sich einmal grundlegend über die Spielregeln im digitalen Zeitalter zu unterhalten. Das Problem dabei ist jedoch, dass die Staaten, die traditionellen Träger zur Durchsetzung von regulatorischen Maßnahmen, sich fest im Griff einer überbordenden Sicherheitsideologie und der Lobbyinteressen einzelner Branchen, besonders der Inhalteindustrie, befinden. Es ist zwar viel davon die Rede, dass die europäischen und nationalen Institutionen und Behörden einer Balance von Sicherheit und Freiheit verpflichtet seien. In der Praxis stellen sich manche Politiker und Sicherheitsbehörden unter Freiheit offenbar etwas ganz anderes vor als viele Bürger. Seit dem 11. September 2001 ist eine Vielzahl von Überwachungsmaßnahmen eingeführt worden, die zuvor eher mit totalitären Regimes assoziiert waren. Meist wird versprochen, dass es sich um temporäre Maßnahmen handele, dass die Daten aus Vorratsdatenspeicherung, biometrischer Erfassung für die Reisepässe oder der Überwachung des Internetverkehrs ausschließlich für die Terrorbekämpfung verwendet würden. Regelmäßig stellt sich dann nach wenigen Jahren heraus, dass die Eingriffsbefugnisse wie selbstverständlich ohne Überprüfung ihrer Wirksamkeit verlängert werden, dass die Daten sich für eine effektive Terrorbekämpfung gar nicht eignen und weitaus mehr erfasst und gespeichert wird, als ursprünglich vorgesehen war. Diese Freude am Speichern und Auswerten folgt dem selben Paradigma wie die Geschäftslogik der Internetkonzerne. Bei diesen bezahlen wir mit unseren Daten für Dienste, die wir als nützlich empfinden. Beim Staat zahlen wir mit unseren Daten für ein Versprechen von mehr Sicherheit, in Zeiten, in denen in den meisten Ländern die Haushalte für Polizeipersonal zusammengestrichen werden. Die Falschheit dieses Prinzips lässt sich gut am Beispiel Kameraüberwachung illustrieren. Kameras auf öffentlichen Plätzen sollten Kriminelle abschrecken beziehungsweise dabei helfen, sie dingfest zu machen. In der Praxis lässt sich jedoch keine ernsthafte Reduktion der Kriminalität in kameraüberwachten Bereichen nachweisen. Die mittlerweile gut untersuchten Effekte führen bestenfalls zu einer Verdrängung von Kriminalitätsschwerpunkten in benachbarte, nicht kameraüberwachte Bereiche. Kameras bringen nicht mehr Sicherheit, sie vermitteln lediglich das Gefühl, dass "etwas getan wird". Gerade jugendliche Gewaltkriminelle lassen sich kaum noch durch technische Sicherheitsmaßnahmen abschrecken. Es werden sogar Fälle berichtet, in denen Gewalttaten absichtlich in Bereichen ausgeführt werden, in denen gefilmt wird. Die Täter hoffen dann, durch die Publikation der Videoschnipsel im Rahmen der Fahndung nach ihnen, Ruhm und Anerkennung bei ihren Freunden zu erlangen. Trotz der offensichtlichen Ineffizienz und Ungeeignetheit von Überwachung und digitaler Erfassung zur Steigerung der tatsächlichen Sicherheit und der Terrorbekämpfung werden höchst selten einmal Überwachungsmaßnahmen zurückgenommen. Statt in mehr und besser ausgebildetes Sicherheitspersonal zu investieren, wird lieber den Verkaufsversprechungen der Sicherheitstechnikindustrie geglaubt, die suggeriert, durch mehr und flächendeckendere Überwachung ließe sich auch in Zeiten knapper Budgets das Sicherheitsniveau steigern. In der Gesamtschau ergibt sich das Bild, dass wir als Allgemeinheit lieber mit unseren Daten als mit unserem Geld für Sicherheit zahlen. Das Problem ist nur, dass dieser Tausch nicht funktioniert. Es gibt keinen Automatismus, aus denen sich die zwingende Logik konstruieren ließe, dass wir, wenn wir nur mehr Sicherheit wollen, einfach etwas Freiheit aufgeben müssen und umgekehrt. Viele durchaus effiziente Sicherheitsmaßnahmen sind entweder zu einfach und zu billig, so dass niemand daran verdient, oder kontinuierlich teuer – wie etwa mehr und qualifizierteres Personal – und würden damit erfordern, dass wir als Gesellschaft tatsächlich Geld dafür ausgeben. Ein typisches Beispiel ist die Sicherheit im Luftverkehr. Die mit großem Abstand effizienteste Sicherheitsmaßnahme nach dem 11. September 2001 waren nicht die überbordenden Sicherheitskontrollen, die bizarren Regeln über die Mitnahme von Flüssigkeiten oder das ausufernde Erfassen und intransparente Verarbeiten von Fluggastdaten. Wirklich mehr Sicherheit brachte die relativ einfache Einführung von Cockpittüren, die nicht ohne Weiteres von einem Angreifer überwunden werden können. Diese Maßnahme wurde jedoch erst nach langen, hinhaltenden Diskussionen realisiert. Der Grund ist das höhere Gewicht von gepanzerten Türen und der Aufwand des Einbaus – beides reduziert den Profit der Fluggesellschaften. Und diese effiziente Sicherheitsmaßnahme ist relativ unauffällig, sie führt nicht zu einem Gefühl von "es wird etwas getan". Stattdessen wurde ein immer elaborierteres Sicherheitstheater an den Flughäfen installiert, so dass Fliegen mittlerweile von einer angenehmen Transportart zu einem entwürdigenden Spießrutenlauf durch Sicherheitskontrollen mit Nacktscannern und sinnlosen Restriktionen geworden ist. Die Grundlagen der Philosophie von Sicherheit durch vollständige Erfassung aller Lebensaspekte gehen auf das Bundeskriminalamt zu Zeiten der RAF zurück. Wenn man nur jeden Bürger und alle seine Aktivitäten genügend gut kenne, ließen sich durch Datenabgleich und intelligente Algorithmen Übeltäter schnell identifizieren und festsetzen. Das Grundgesetz in seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht schiebt der Bildung von Lebensprofilen durch den Staat gewisse Riegel vor. International, insbesondere im angelsächsischen Raum, sind solche Schranken weitgehend unbekannt. Spätestens wenn es um die Bürger anderer Länder geht, wenn die Erfassung im immer undurchschaubarer werdenden Dickicht zwischen Polizei und Geheimdiensten stattfindet, die nationalen Gesetze durch internationale Kooperation und Arbeitsteilung ausgehebelt werden, ist es nicht mehr vermessen, vom digitalen Überwachungsstaat zu reden. Dabei sind die Welten der privaten und staatlichen Datenerfassung mitnichten getrennt. Staatliche Stellen haben spätestens bei Ermittlungsverfahren relativ problemlos Zugang zu den Datenhalden der Sozialen Netzwerke, Mobilfunkunternehmen und Internetanbieter. Gern werden diese verpflichtet, Informationen für den Staat vorzuhalten, wie etwa bei der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung und dem neuen Gesetz zum praktisch schrankenfreien Zugriff auf die Kundenregister der Kommunikationsunternehmen. Im Gegenzug haben Staaten wenig Hemmungen, Daten etwa aus den Melderegistern zu verkaufen oder ihre Mechanismen für die Durchsetzung privater Geschäftsinteressen, etwa der Musik- und Filmindustrie, zur Verfügung zu stellen. Die gesellschaftlichen Mechanismen, die eigentlich für einen Interessenausgleich und eine Beschränkung von Machtkonzentration sorgen sollten, funktionieren angesichts des doppelten Angriffs auf die Privatsphäre durch Staat und Internet-Großkonzerne nicht mehr. Das fundamentale Recht, nicht alles von sich offenbaren zu müssen, seine Gedanken, Gefühle, Ansichten und Handlungen nicht einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt zu sehen, ist im Kern ein Schutzrecht des Einzelnen vor den Mächtigen. Die Kombination aus Sicherheitswahn und vom Gewinnstreben getriebenem Druck zur Änderung der sozialen Normen und Gepflogenheiten haben dieses Recht in wenigen Jahren in bisher unvorstellbarer Weise erodiert. Missbrauchspotenzial Die Risiken für die freiheitliche Gesellschaft und die freie politische Willensbildung sind alles andere als abstrakt. Insbesondere in Ländern mit gering ausgeprägten demokratischen Traditionen sind die drastischen Auswirkungen des uferlosen Zugriffs auf digitale Lebensspuren zu beobachten. Denn während flächendeckende Datenerfassung und Bürgerausforschung kaum geeignet sind, Kriminalität einzudämmen, sind sie ganz hervorragend geeignet, um politische Opposition zu unterdrücken. Soziale Netzwerke in ihrer derzeitigen technischen Struktur liefern die Daten, für die ein Geheimdienst früher noch hart arbeiten musste, wohlstrukturiert frei Haus. Wie sich oft gezeigt hat, ist den großen Anbietern der Zugang zu undemokratischen Märkten wichtiger als der Schutz verfolgter Oppositioneller. Selbst wenn die Firmen nicht kooperieren, ist es durch technische Überwachungsmaßnahmen oft ein Leichtes, die entscheidenden Strukturinformationen über oppositionelle Gruppen zu erlangen. Die dafür notwendige Technologie zur Netzwerküberwachung und Infiltration von Computern mit staatlichen Trojanern wird von westlichen Ländern problemlos auch an die widerlichsten Regimes geliefert. Wie die Geschehnisse im Fall Wikileaks überdeutlich zeigten, ist aber auch in westlichen Demokratien der Lack der Zivilisation dünn. Privatunternehmen wurden zu Ausforschungsgehilfen und Hilfspolizisten gemacht, Zahlungsströme durch außergesetzlichen politischen Druck unterbunden, Geheimdienst- und Polizeimethoden verschwammen zu einem ununterscheidbaren Kontinuum. Davon auszugehen, dass die Entwicklung der privat-staatlichen Überwachungsgesellschaft, in der der kritische Bürger sich schon allein durch sein Begehren nach Privatsphäre verdächtig macht, ohne Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung bleiben wird, wäre naiv. Big Data stellt eine Verschiebung von Macht weg vom Individuum hin zu de facto unkontrollierbaren und intransparenten Strukturen dar, die es so noch nicht gegeben hat. Mechanismen, um diese Machtballungen transparent und damit kontrollierbar zu machen, sind weitgehend dysfunktional. Das deutsche Informationsfreiheitsgesetz, das eigentlich dazu gedacht ist, staatliches Handeln durch Bürger überprüfbar zu machen, ist zahnlos und ineffizient. Gerade an den kritischen Stellen, wenn es um Innen- und Sicherheitspolitik geht, sowie bei der Zusammenarbeit von Staat und Unternehmen wimmelt es von Ausnahmeklauseln. Geschäftsgeheimnisse der beteiligten Unternehmen und die Geheimnisse der Sicherheitsbehörden dienen auch in den absurdesten Fällen als Ausrede, um dem Bürger keinen Einblick in das Handeln der Verwaltung zu gewähren. Die Großunternehmen der digitalen Branchen sind noch weniger zu durchschauen. Selbst die rudimentären Bestimmungen des Datenschutzrechts, die ein Minimum an Einblick durch den Bürger sicherstellen sollen, werden routinemäßig unterlaufen. Kritische Datensammlungen werden im Ausland angelegt, das Primat der Geschäftsgeheimnisse gegenüber dem Einblicksrecht der Betroffenen betont, um Transparenz so weit wie möglich zu vermeiden. Die Auskunftsportale gerade der Branchenriesen sind eher ein schlechter Scherz, da über die kritischen Datenzusammenführungen und die Interpretationen aus den Daten nicht informiert wird. Niemand weiß wirklich, was Google und Facebook mit unseren Daten tun. Das traditionelle System des Interessenausgleichs und der Kontrolle von Macht durch Transparenz und Kartellregulierungen in den westlichen Demokratien hat hier in einem Ausmaß versagt, das nur schwer wieder zu reparieren sein wird. Zu groß sind die Profitinteressen auf der einen Seite und der staatliche Drang nach Kontrolle mit seiner Rechtfertigung durch das Primat der Sicherheit auf der anderen. Das derzeitige Modell staatlicher Netzregulierung, bei dem jede Überlegung von den Interessen der Sicherheitsbehörden und ihren endlosen Kontrollforderungen durchdrungen ist, ist vollständig ungeeignet, wenn es um das Aufstellen sinnvoller Regeln für das digitale Zeitalter geht. Völlig zu Recht runzeln Aktivisten und Bürgerrechtler sorgenvoll die Stirn, wenn ein Minister wieder verbindliche Regeln für das Internet fordert. Solange ganz grundlegende Freiheitsrechte im Netz, wie etwa das Recht auf Anonymität, das Recht auf unzensierte Kommunikation und das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – die digitale Intimsphäre – nicht allgemein anerkannt und in der Praxis relevant sind, ist bei jedem staatlichen Regulierungsversuch ein Angriff auf genau diese Freiheitsrechte zu erwarten. Solange der Sicherheitsapparat nicht von seiner "Von der Wiege bis zur Bahre"-Ideologie abweicht, solange bei jedem Ansatz für Netzregeln harte Partikularinteressen berücksichtigt und fragwürdige Moraldiktate wie etwa ein Pornografieverbot versucht werden, führen die traditionellen Regulierungsmethoden eher zu einer Verschlimmbesserung. Es braucht hier einen neuen Ansatz für eine gesellschaftliche Verständigung und möglicherweise auch neue, basisdemokratische Institutionen, die in entfernter Analogie zum außerstaatlichen Grundgedanken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten neue Wege beschreiten und ermöglichen. Vgl. Konrad Lischka, Bürgerrechte: BKA-Vizechef lehnt Privatsphäre im Netz ab, 20.2.2013, Externer Link: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/-a-884580.html (20.3.2013).
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, Frank Rieger
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-04-03T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/157538/von-daten-und-macht-essay/
Während wir Internetkonzerne bereitwillig mit unseren Daten füttern, bezahlen wir beim Staat mit unseren Daten für ein Versprechen von mehr Sicherheit. Doch dieser Tausch funktioniert nicht.
[ "Internet", "Daten", "Transparenz", "Macht", "Sicherheit", "Wirtschaft" ]
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Vom G8 zum G9 und zurück? | Abitur: G8 oder G9? | bpb.de
Ist das G8 eine zu große Belastung für Schüler/-innen und Lehrer/-innen? Über diese Frage wird immer wieder diskutiert. 12 Schuljahre bis zum Abitur – so war es einmal einheitlich an preußischen Gymnasien geregelt, vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Zeit. Vor gut 100 Jahren wurde die Zeit bis zum Abitur im Rahmen einer Strukturreform des Schulsystems dann auf 13 Jahre ausgedehnt. So wurde die gemeinsame Grundschule eingeführt, die auf vier Jahre angelegt war und damit ein Jahr länger dauerte als die früheren Vorschulen der Mittelschulen und der höheren Schulen. Da diese aber ihr sechs- bzw. neunjähriges Programm nicht aufgeben wollten, dehnte sich die Schulzeit bis zum Abitur auf dreizehn Jahre aus. Dies wurde u.a. auch mit einem allgemeinen Verweis auf die insgesamt gestiegenen Qualifikationsanforderungen von Technik, Handel, Wirtschaft und Verwaltung im Kontext der Industrialisierung begründet. In der NS-Zeit wurde 1937 die Schulzeit in den Gymnasien wieder auf acht Jahre verkürzt, u.a. um so einen zusätzlichen Jahrgang von Offiziersanwärtern zu gewinnen. Die westdeutschen Länder knüpften nach 1945 an die Strukturen des gegliederten Weimarer Schulsystems und damit auch an die 13 Jahre bis zum Abitur an. Anders die Entwicklung im Osten Deutschlands: Hier wurde nach 1945 an den zwölf Jahren festgehalten und ein Schulsystem mit einer Einheitsschule etabliert. Dieses Nebeneinander der Modelle blieb nach 1990 bestehen, woraufhin die Kultusministerkonferenz die Dauer der Schulzeit bis zum Abitur über Schulstunden, und nicht mehr über Schuljahre definierte. Das heißt: Egal ob 12 oder 13 Jahre, bis zum Abitur leisten alle Schüler/-innen die gleiche Anzahl an Schulstunden ab. Ab dem Jahrtausendwechsel kam es zu einer fast bundesweiten Ausdehnung der kürzeren Schulzeit an Gymnasien, die im Osten Deutschlands teils nicht aufgegeben worden (Thüringen, Sachsen) war bzw. schnell wieder eingeführt wurde. Im Westen war es das Saarland (2001), das die neue Struktur als erstes Land beschloss. Dies stand im Kontext einer Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog, der 1997 die langen Ausbildungszeiten in Deutschland stark kritisierte. So wollten auch die Länder Anschluss halten an international kürzere Ausbildungszeiten und damit Wettbewerbsfähigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt sicherstellen. Ein früherer Einstieg in den Arbeitsmarkt sollte auch die sozialen Sicherungssysteme entlasten, die wegen des Bevölkerungsrückgangs mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen haben. Zudem wurde in der Diskussion u.a. das Argument angeführt, dass die längere Lernzeit – so die Wahrnehmung von G8-Befürworter/-innen – nicht hinreichend effektiv genutzt werde, u.a. aufgrund langer Orientierungs- und Wiederholungsphasen in der Schule. Auch zeigten sich bei der damaligen TIMSS-Oberstufenstudie bei den Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften keine substanziellen Unterschiede zwischen acht- und neunjährigen Systemen. In der Folge hat sich bundesweit kein einheitliches G8-Modell etabliert. Entweder wurde die Sekundarstufe I oder die gymnasiale Oberstufe gekürzt, was teils zu Schwierigkeiten beim Wechsel von anderen Schulformen in das Gymnasium führt. Das Unterrichtsvolumen wurde vor allem in der Mittelstufe gesteigert; zugleich wurde nicht selten in Fächern wie Kunst, Musik und Sport deutlich gekürzt. Gymnasien haben den größten Jahrgangsanteil In vielen Bundesländern gibt es mit Gesamtschulen und neuen Schulen gemeinsamen Lernens (u.a. Gemeinschafts- und Sekundarschulen) sowie beruflichen Schulen auch alternative Wege zum sogenannten Turboabitur. Diese Schulformen haben sich insbesondere für Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status (u.a. gemessen an den Bildungsabschlüssen und der beruflichen Stellung der Eltern) als Motor für mehr soziale Öffnung auf dem Weg zum Abitur abseits des sozial selektiveren Gymnasiums erwiesen. Zugleich ist an den Gymnasien der Anteil der Jugendlichen aus Familien mit hohem Status zwischen 2000 und 2012 von 56 Prozent auf 69 Prozent weiter deutlich gestiegen, bei den Jugendlichen mit niedrigem Status hat er sich von nur 10 Prozent auf 15 Prozent im selben Zeitraum erhöht, wie aus dem Externer Link: aktuellen Bildungsbericht (S. 258) auf Basis von PISA-Daten hervorgeht. Das Gymnasium hat sich also insbesondere für bestimmte Familien als Königsweg zum Abitur weiter etabliert, ist aber auch insgesamt die Schulform, die mittlerweile mit 34 Prozent bundesweit den größten Jahrgangsanteil an sich bindet (zum Vergleich: 23 Prozent an Realschulen, 12 Prozent an Hauptschulen, 16 Prozent an Gesamtschulen, 11 Prozent an Schulen mit mehreren Bildungsgängen ). Insofern ist es angesichts der weiterhin gewachsenen quantitativen Bedeutung nicht verwunderlich, dass es eine große Aufmerksamkeit von Eltern (insbesondere höherer Statusgruppen) für das Gymnasium und seine zeitliche Struktur gibt. Vor allem mit den ersten doppelten Abiturjahrgängen zwischen 2011 und 2013 setzte im Westen Deutschlands eine stark von Elterninitiativen angestoßene Debatte um G8 ein, vermutlich auch, weil die Einführung von G8 – anders als im Osten mit einer langen G8-Tradition – schnell und dadurch eher planlos erfolgte. Anpassungen, z.B. der Lehrpläne, wurden zumeist erst spät vorgenommen. Die Kritik richtet sich auf die Qualität des Lernens: Ein oberflächliches Lernen, fehlende Vertiefungs-/Reflexionsmöglichkeiten, fehlende Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung sowie die Studien-/Berufsorientierung und letztlich ein Qualitätsverlust des Abiturs wurden und werden befürchtet. Diese Kritik ist auch von Hochschulleitungen zu hören. Hinzu kommen ein wahrgenommener größerer Leistungsdruck, weniger Freizeit und mehr Belastungen für das Familienleben, da G8 vor allem leistungsstarke Schüler/-innen anspreche. Die größere Anzahl an Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hat dabei dazu geführt, dass die schulischen Leistungen auch an den Gymnasien sehr heterogen geworden sind. Einige Länder (u.a. Baden-Württemberg, Hessen) haben daraufhin in den vergangenen Jahren unterschiedliche G8-/G9-Wahloptionen eingeführt bzw. kehren nun ganz oder überwiegend zu G9 zurück (als erstes Land hatte Niedersachsen dies 2014 verkündet); teils sind es Entscheidungen derselben Parteien, die vormals für die Verkürzung votierten. Damit werden, wie zuletzt in NRW, vor allem auch entsprechende Wahlkampf-Ankündigungen realisiert. Evidenzbasiert waren die Entscheidungen nicht, zumal die Einführung von G8 nicht systematisch wissenschaftlich begleitet wurde. Eine Reform der Reform wird teuer Mittlerweile gibt es einige Untersuchungen, z.B. zu den doppelten Abiturjahrgängen, auf Basis von Klassenwiederholerquoten, Abitur-Duchfallquoten und -Durchschnittsnoten, Ergebnissen von Einstufungstests für Studienfächer, Klausurnoten im Studium sowie zur wahrgenommenen Belastung und zur Freizeitgestaltung (vgl. zusammenfassend z.B. Externer Link: DIW Roundup 2015 und die Externer Link: Expertise von Köller 2017). Dabei zeigen sich mehrheitlich keine grundsätzlichen und keine konsistenten Unterschiede zwischen G8- und G9-Schüler/-innen hinsichtlich Lernerfolg und Freizeitverhalten – die Befunde variieren u.a. nach Land, Schulform, Einzelschule, Kursniveau, Fach und Geschlecht. Im Ergebnis sind die Abiturient/-innen im Vergleich zu früher vor allem eins: jünger, auch wenn sie im internationalen Vergleich weiterhin eher alt sind und Deutschland mit der kürzeren Schulzeit keine Sonderrolle einnimmt. So zeigt Köller (2017, ebd.) anhand von OECD-Daten im Vergleich der Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für das Referenzjahr 2014, dass die Absolventinnen und Absolventen in 20 Ländern jünger als die Abiturient/-innen in Deutschland sind (in sieben Ländern sind sie 17 Jahre alt, in 13 Ländern 18 Jahre), kein Unterschied zeigt sich bei zehn Ländern und in vier Ländern sind sie älter. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die G8-Reform offensichtlich keinen besonders negativen, aber auch keinen großen positiven Effekt hatte. Die Kosten einer Reform der Reform dürften gleichwohl immens sein. In Bayern geht man von etwa einer halben Milliarde Euro aus, in NRW von noch deutlich höheren Kosten, vor allem für zusätzliche Lehrerstellen (bei zugleich aktuellem Lehrer/-innenmangel), Schulraum und neue Schulbücher. Die geplante Umstrukturierung trifft die Schulen in Zeiten von Inklusion und der Aufgabe der Integration neuzugewanderter Kinder und Jugendlicher. Auch der weitere Ausbau der Ganztagsschulen und die Nachholbedarfe im Kontext der Digitalisierung sind mit ganz erheblichen Aufwendungen verbunden. Fraglich bleibt, ob diese enormen Aufgaben gleichermaßen gut von politischer und schulischer Seite bewältigt werden können. Die internationalen TIMS-Studien wurden Ende der 1990er Jahre u.a. in der Sekundarstufe II durchgeführt. Sie testeten die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften bei über einer halben Million Schüler/-innen. Die deutschen Autor/-innen griffen u.a. die Frage nach der Relevanz von Bildungszeit auf (vgl. vertiefend: Baumert, J. & Watermann, R. (2000). In 12 oder 13 Schuljahren zum Abitur? In J. Baumert, W. Bos, & R. Lehmann (Hrsg.). TIMSS/III. Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie. Mathematische und Naturwissenschaftliche Bildung am Ende der Schullaufbahn. Bd. 2: Mathematische und physikalische Kompetenzen am Ende der gymnasialen Oberstufe (S. 351–362). Opladen: Leske + Budrich. Anteil der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen er Sekundarstufe I 2014/15, vgl. Externer Link: Statistisches Bundesamt 2016
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2018-07-11T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/268195/vom-g8-zum-g9-und-zurueck/
Wie lange sollen Schüler/-innen in Deutschland das Gymnasium besuchen, um ihr Abitur zu machen? Ein Überblick vom frühen 19. Jahrhundert bis zur aktuellen Debatte
[ "Abitur", "G8/G9", "Schule", "Gymnasium" ]
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Ein Blick in die Zukunft? | Danach – Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945 – 1949 | bpb.de
Katharina Gerund steckte kursorisch das Feld der US-amerikanischen Re-Education im Nachkriegsdeutschland ab. Unter dem Slogan "Wie aus Feinden Freunde wurden" unterschied sie zwei Phasen, die Re-Education und die Re-Orientation. In der ersten Phase seien Korrektive für den Feind gesucht worden, der Ausgangspunkt dabei war die Vergangenheit Deutschlands. Hinter der Pädagogik der Zwangsbesuche von Konzentrationslagern und Atrocity-Filmen hätte eine klare Schuldzuweisung gestanden. Recht bald sei dieser Ansatz einem positiveren Blick in die Zukunft gewichen. Im Kontext des Kalten Krieges sei eine schnelle Rehabilitation und Umdeutung der Deutschen als Freunde opportun gewesen. Das habe eine tiefgehende und langfristige Auseinandersetzung mit dem Holocaust gehemmt. 

In der Diskussion hinterfragte Gerund die Machtasymmetrie, die in den USA mit Bildern vom infantilisierten, feminisierten Deutschland, dem "Patienten", aufrechterhalten wurde. Den vermeintlichen Vorbildcharakter der amerikanischen Demokratie sah sie von der unterschiedlichen Erfahrung Schwarzer GI’s unterminiert. Im ehemals nationalsozialistisch diktierten Land fühlten sie sich besser behandelt als im segregierten Amerika. Ein weiteres Schlaglicht setzte Gerund auf den Erfolg und die Akzeptanz der Strategien der Re-Education, wobei sie die besonders beliebten Amerikahäuser den umstrittenen Schulreformen gegenüberstellte. Aber auch die zeitgenössische Selbsteinschätzung der Amerikaner und die der Forschung gingen auseinander. Während die Amerikaner vor allem die Amerikahäuser als großen Erfolg schätzten, spreche die gegenwärtige Forschung den inoffiziellen, persönlichen Kontakten zu Amerikanern und zur amerikanischen (Populär)-Kultur eine besondere Wirkung zu. Mehr ein Blick in die Zukunft als in die Vergangenheit Hanne Leßau hinterfragte die Ziele, Potentiale und Grenzen der Entnazifizierung. Die Forschung habe sie daran gemessen, inwieweit sie eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und der Schuld vorangetrieben habe. An diesem Anspruch sei die Entnazifizierung regelmäßig gescheitert. Zu Unrecht, so Leßau, denn die Alliierten hätten sie nicht als Maßnahme der Reflektion vorgesehen. Dass die Forschung – und nicht zuletzt auch diese Konferenz – sie in eine Reihe mit Re-Education und Prozessen setzt, erlaube viel mehr eine Aussage über die Erwartung der gegenwärtigen Forschung als über die historische Realität. Vielmehr sei die Prüfung der politischen Belastung der Deutschen als administrative Datenerhebung angedacht gewesen, nicht als pädagogische oder strafrechtliche Läuterung. Die Einfachheit der Fragebögen, in denen Ja-Nein-Fragen dominierten, statt Raum für persönliche Stellungnahmen zu lassen, belege das eigentliche Ziel der Entnazifizierung: das Sicherheitsrisiko durch belastete Deutsche, eventuelle Sabotage, beim Aufbau eines demokratischen Staates zu minimieren. Auch wenn eine Reflektion der eigenen NS-Geschichte nicht in der Konzeption der Fragebögen beabsichtigt war, hat Leßau eben diese in zeitgenössischen Selbstzeugnissen gefunden. Den Antworten auf den Fragebögen seien Gedanken und Diskussionen vorausgegangen. Einigen waren unaufgefordert zusätzliche Ausführungen beigelegt worden, die die persönlichen Geschichten der Befragten erzählten. Diese Konfrontation mit der eigenen NS-Vergangenheit hätte weder durch die Prozesse noch die Re-Education stattgefunden. Das Holocaustverständnis in den Nürnberger Prozesse Alexa Stiller zeichnete in ihrem Vortrag nach, wie sich das Verständnis der Alliierten vom Holocaust im Laufe der Nürnberger Prozesse entwickelte und vereinheitlichte. Vor allem drei Annahmen hätten sich etabliert: Die Alliierten hätten den Massenmord an den Jüdinnen und Juden getrennt von anderen nationalsozialistisch motivierten Verbrechen wahrgenommen; sie hätten die Organisationen der SS hauptverantwortlich und den Antisemitismus als "Intention des Massenmordes" erklärt. Heutzutage sind diese Annahmen wissenschaftlich widerlegt und wirken befremdlich kurzsichtig. Dieser "institutionelle" und "intentionalistische" Ansatz spielte den Angeklagten in die Hände, die ihre Verantwortung auf höhere Verwaltungsebenen oder Hitler übertrugen, und vereinfachte die Integration der ehemaligen Täter in die westdeutsche Gesellschaft. Die reduzierten Ansichten hätten sich längerfristig durchgesetzt, obwohl die Tätergruppen vorher als multipel und als größerer Zusammenhang der NS-Verbrechen erkannt wurde. Diesen Meinungswandel führte Stiller auf den "Schlüsselzeitraum" im Januar 1946 zurück, als der ehemalige SS-Offizier Otto Ohlendorf aussagte. Die Alliierten seien von dem Gedanken überfordert gewesen, dass derartige Verbrechen nicht nur als Plan eines "Super-Bösen" begangen worden waren. In der Diskussion gestand Michael Wildt Alexa Stiller zu, ihn mit ihrem Vortrag in der Annahme widerlegt zu haben, der Holocaust sei in Nürnberg nicht thematisiert worden. Interner Link: Vortragstranskript Hanne Leßau Interner Link: Vortragstranskript Katharina Gerund
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-01-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/konferenz-holocaustforschung/201279/ein-blick-in-die-zukunft/
Die Vorträge und Diskussionen im Panel "Re-Education-Entnazifizierung-Prozesse" eröffneten neue Erkenntnisse und Perspektiven. Immer wieder standen die Unterschiede zwischen zeitgenössischen und gegenwärtigen Bewertungen der Nachkriegszeit zur Debatt
[ "Re-education", "amerikanisch-deutsche Beziehungen", "Entnazifizierung", "Nürnberger Prozess" ]
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Vor 90 Jahren: Die Verträge von Locarno | Hintergrund aktuell | bpb.de
Unter dem Eindruck des Interner Link: Ersten Weltkriegs und dessen Folgen trafen sich Regierungschefs und Außenminister mehrerer europäischer Länder im Oktober 1925 in der Schweizer Stadt Locarno. Ihr Ziel war es, gemeinsame Abkommen zur Stabilisierung des Friedens in Europa zu schließen. Das Ergebnis der Konferenz hielten die Vertreter der teilnehmenden Staaten – das Deutsche Reich, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Italien, Polen und die damalige Tschechoslowakei – in sieben Verträgen fest. Diese völkerrechtlichen Vereinbarungen wurden am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet. Deutsch-französische Verständigung Vor den Verhandlungen fanden intensive diplomatische Vorgespräche statt, denn die internationale Lage war angespannt: 1923 hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, nachdem das Deutsche Reich mit Reparationen in Rückstand geraten war. Das Rheinland befand sich bereits seit Kriegsende unter französischer und belgischer Interner Link: Besatzung. Erst der 1924 in Kraft getretene Interner Link: Dawes-Plan, der die Reparationszahlungen von der wirtschaftlichen Lage des Deutschen Reichs abhängig machte, führte zu einer Verbesserung des internationalen politischen Klimas. Im Januar und Februar 1925 begann der deutsche Außenminister Gustav Stresemann geheime Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich über die Möglichkeit eines Sicherheitspaktes. Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann wird nach der Unterzeichnung des Pakts von Locarno am 16.10.1925 von Journalisten umringt. (© picture-alliance/dpa) Stresemanns Initiative resultierte schließlich in der Konferenz der sieben Staaten vom 5. bis 16. Oktober 1925: In Locarno verzichteten Deutschland, Frankreich und Belgien gegenseitig darauf, ihre Grenzen gewaltsam zu verändern. Das Deutsche Reich akzeptierte damit die im Vertrag von Versailles festgelegte deutsche Westgrenze zu Frankreich und Belgien, verzichtete auf Interner Link: Elsass-Lothringen und bestätigte die Entmilitarisierung des Rheinlands. Im Fall einer Verletzung des Vertrags erklärten sich Großbritannien und Italien bereit, der geschädigten Seite beizustehen. Auf der Konferenz wurde auch der Beitritt Deutschlands zum Interner Link: Völkerbund beschlossen, der im September 1926 stattfand. Für Ihre Zusammenarbeit bei den Verträgen von Locarno erhielten Stresemann und der französische Außenministers Aristide Briand 1926 den Friedensnobelpreis. Stresemann verfolgte in der Weimarer Republik eine Außenpolitik, die durch Verhandlungen und Verständigung den Versailler Vertrag in Teilen revidieren und Deutschland wieder auf die politische Weltbühne zurückbringen wollte. Während seiner Amtszeit (1923-29) trat das Deutsche Reich aus seiner Isolation und integrierte sich in das internationale Staatensystem. Kein "Ostlocarno" Deutschland erkannte zwar die bestehende Westgrenze an, behielt sich aber die Möglichkeit einer Revision der Ostgrenze vor. Mit dem Versailler Vertrag hatte das Deutsche Reich große Gebiete im Osten vor allem an Polen abtreten müssen. Schiedsverträge Deutschlands mit Polen und der Tschechoslowakei sahen allerdings vor, dass Streitigkeiten zu Grenzfragen zwischen den Ländern durch eine internationale Kommission geklärt werden sollten, deren Bildung in den Verträgen festgelegt wurde Die in Locarno erzielten Ergebnisse wurden von sowohl nationalkonservativen und rechtsradikalen als auch von linken politischen Kräften der Weimarer Republik kritisiert: Während die NSDAP und die Interner Link: Deutschnationale Volkspartei (DNVP) die Verträge wegen der territorialen Zugeständnisse im Westen ablehnten, befürchtete die KPD, die Verträge könnten dazu führen, dass das Deutsche Reich mit den westlichen Staaten eine Front gegen die sozialistische Sowjetunion bilden würde. Erst nachdem die DNVP die damalige Regierung unter Reichskanzler Hans Luther (1925-1926) verlassen hatte, wurden die Verträge mit Hilfe der oppositionellen SPD im Reichstag ratifiziert. Die Verträge von Locarno Von den sieben in Locarno ausgehandelten völkerrechtlichen Verträgen betrafen fünf das Deutsche Reich, in zwei weitere waren nur Frankreich, Polen und die damalige Tschecheslowakei involviert. Das Gesetz, mit dem der Deutsche Reichstag am 28. November 1925 den Verträgen von Locarno und dem Beitritt zum Völkerbund zustimmte, sowie die einzelnen Verträge können unter Externer Link: www.1000dokumente.de und Externer Link: www.documentarchiv.de nachgelesen werden. Die Nazis besetzen das Rheinland Die Hoffnungen auf langanhaltenden Frieden und Verständigung in Europa, die durch Locarno geweckt wurden, endeten spätestens am 7. März 1936, als Adolf Hitler Interner Link: das entmilitarisierte Rheinland besetzen ließ. Anlass war die Ratifizierung eines sowjetisch-französischen Beistandspakts am 27. Februar 1936, den die Nationalsozialisten propagandistisch als Bruch von Locarno ausschlachteten. Mit der Besetzung des Rheinlands brach das Deutsche Reich sowohl den Versailler Vertrag als auch die Locarno-Verträge. Frankreich, Großbritannien und die anderen Weltmächte kritisierten die Besetzung, griffen aber nicht militärisch ein. Die vor allem von Frankreich und Großbritannien gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschen Reich verfolgte "Appeasement"-Politik galt spätestens mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 als gescheitert. Mehr zum Thema: Interner Link: Münkler, Herfried: Geschichtsmythen und Nationenbildung Interner Link: Elz, Wolfgang: Versailles und Weimar Interner Link: Beaupré, Nicolas: Ein Jahrhundert später. Der Erste Weltkrieg und die deutsch-französische Aussöhnung (1914-2014) Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann wird nach der Unterzeichnung des Pakts von Locarno am 16.10.1925 von Journalisten umringt. (© picture-alliance/dpa) Von den sieben in Locarno ausgehandelten völkerrechtlichen Verträgen betrafen fünf das Deutsche Reich, in zwei weitere waren nur Frankreich, Polen und die damalige Tschecheslowakei involviert. Das Gesetz, mit dem der Deutsche Reichstag am 28. November 1925 den Verträgen von Locarno und dem Beitritt zum Völkerbund zustimmte, sowie die einzelnen Verträge können unter Externer Link: www.1000dokumente.de und Externer Link: www.documentarchiv.de nachgelesen werden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-04-22T00:00:00"
"2015-11-27T00:00:00"
"2022-04-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/216424/vor-90-jahren-die-vertraege-von-locarno/
Für kurze Zeit blühte mit den Verträgen von Locarno 1925 die Hoffnung auf nachhaltigen Frieden in Europa auf. Doch die neue Sicherheitsordnung wurde durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten schon bald erschüttert.
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Lesetipps & Das Osteuropa-Heft zur Arktis | Russland-Analysen | bpb.de
Lesetipps zum Thema Russische Arktis Baev, Pavel: Russia’s Arctic Policy and the Northern Fleet Modernization, Paris: IFRI August 2012 (Russie.Nei.Visions, No. 65 Externer Link: http://www.ifri.org/downloads/ifribaevarctiqueengaugust2012.pdf, 1. August 2012), 20 S. Carlsson, Märta; Granholm, Niklas: Russia and the Arctic: Analysis and Discussion of Russian Strategies. Report no FOI-R--3596—SE, March 2013, 46 S. Käpylä, Juha; Mikkola, Harri: Arctic Conflict Potential: Towards an extra-Arctic perspective, September 2013 (The Finnish Institute of International Affairs FIIA Briefing Paper 138 Externer Link: http://www.fiia.fi/en/publication/361/arcticconflictpotential/#.UkWKHz-Bavo, 27. September 2013), 9 S. Laruelle, Marlene: Larger, Higher, Farther North … Geographical Metanarratives of the Nation in Russia, in: Eurasian Geography and Economics, 53.2012, Nr. 5, S. 557–574. Holslag, Jonathan: The Eurasian Sea, in: Survival, 55.2013, Nr. 4, S. 155–176. Das Osteuropa-Heft zur Arktis: "Logbuch Arktis. Der Raum, die Interessen und das Recht" Osteuropa, 2011, Nr. 2–3, 448 S., 80 Abb., 24 Karten. Preis 32,00 €. Zu bestellen ist es direkt bei Externer Link: osteuropa@dgo-online.org. Inhalt Philipp Felsch: Der arktische Konjunktiv. Auf der Suche nach dem eisfreien Polarmeer In Frankenstein, einem Klassiker der phantastischen Literatur, findet sich die Verheißung von einem eisfreien Polarmeer, das ungeahnte Reichtümer birgt. Mitte des 19. Jahrhunderts übertrug der deutsche Geograph August Petermann den Mythos vom offenen Meer in eine exakte Theorie. Petermanns imaginäres Potential polarisierte. In der Populärliteratur fand er enormen Zuspruch, Fachleute reagierten skeptisch. Je stärker die Skepsis in offenen Anfeindung umschlug, desto fanatischer verfolgte Petermann seine Idee. Im Milieu der deutschen Nationalbewegung fiel sie auf fruchtbaren Boden. Es gelang ihm sogar, die deutsche Polarforschung ins Leben zu rufen. Petermanns Theorie erwies sich als falsch. Dass die Natur eines Tages seiner Theorie entgegenschmelzen könnte, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Jörg Stadelbauer: Die russische Arktis. Naturraum, Klimawandel und Gesellschaft Das internationale Interesse an der Arktis wächst. Hintergrund sind die regionalen Folgen des Klimawandels. In Teilen der Arktis ist die global bedeutendste Erwärmung des letzten halben Jahrhunderts zu beobachten. Das Abschmelzen des Meereises könnte die Erschließung von Bodenschätzen erleichtern und neue Schifffahrtsrouten eröffnen. Doch die Arktis ist mehr als Wirtschaftsraum. Sie ist ein höchst fragiles Ökosystem und Lebensraum zahlreicher indigener Völker. Arktis und Subarktis machen ein Fünftel der Festlandfläche Russlands aus. Russland ist einer der wichtigsten Staaten der Region und hat erheblichen Einfluss darauf, ob die ökologischen und ökonomischen Interessen in der Arktis kooperativ oder konfrontativ geregelt werden. Rüdiger Gerdes:Klimawandel in der Arktis. Phänomene und Prognosen Die vom arktischen Meereis bedeckte Fläche und das Meereisvolumen gehen zurück. Dies ist zum Teil Folge der momentan vorherrschenden warmen Phase der langfristigen, natürlichen Atlantischen Multidekadischen Oszillation. Anthropogene Erwärmung und geänderte Windsysteme könnten den Rückgang des arktischen Meereises beschleunigen. Doch auch der Übergang der Atlantischen Multidekadischen Oszillation in eine kühlere Phase ist denkbar. Dadurch könnte sich das arktische Meereis erholen. Sogar eine Umkehr des Erwärmungstrends ist denkbar. Wissenschaftlich bleibt unklar, wie lange die derzeitige warme Phase der Atlantischen Multidekadischen Oszillation anhalten wird. Der Rückgang des arktischen Meereises hat einen großen Einfluss auf atmosphärische und ozeanische Zirkulationssysteme. Die erwarteten Veränderungen würden auch das Klima in Europa betreffen. Uwe Jenisch: Arktis und Seerecht. Seegrenzen, Festlandsockelansprüche und Verkehrsrechte Die Arktis ist zum Politikum geworden. Die Arktisanrainer streben danach, ihre Nutzungsrechte räumlich und inhaltlich auszuweiten. Erweiterte Festlandsockel, komplizierte Seegrenzen, Schifffahrts- und Forschungsrechte sowie Umweltschutzpflichten richten sich jedoch im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft nach den Regeln des UN Seerechtsübereinkommens von 1982. Der Mechanismus für einen friedlichen Interessenausgleich ist vorhanden. Die Nicht-Anlieger – darunter die Staaten der EU – wie auch die Internationale Meeresbodenbehörde müssen ihre Rechte und Pflichten im Arktischen Ozean gegenüber den Regionalisierungsbestrebungen der Anrainer verteidigen. Elvira Pushkareva: Die Arktis im Völkerrecht. Der starke Rückgang der sommerlichen Eisbedeckung im Nordpolarmeer hat eine völkerrechtliche Debatte über nationale Hoheitsechte im Arktischen Ozean entfacht. Es geht um Rohstoffförderung, Schifffahrt und Fischerei. Die grundsätzliche Frage lautet, ob das moderne Seerecht oder besondere Gewohnheitsrechte der Anrainerstaaten des Nordpolarmeers gelten. Auch wenn wahrscheinlich das Seerechtsübereinkommen angewendet werden wird, könnte es Russland und Kanada gelingen, unter Berufung auf historische Rechtstitel bei seiner Anwendung Sonderregeln durchzusetzen. Die Anerkennung "historischer Gewässer" würde die von den beiden Staaten bereits festgelegten Basislinien, von denen die im Seerechtsübereinkommen definierten Zonen bemessen werden, bestätigen. Karl Hinz: Wem gehört die zentrale Arktis?. Geologie, Bathymetrie und das Seerecht Eine Reihe von Anrainerstaaten des Nordpolarmeers erheben Ansprüche auf ein exklusives Recht zur Förderung von Rohstoffen in der zentralen Arktis. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen legt fest, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit diese Ansprüche gerechtfertigt sind. Will der Küstenstaat jenseits von 200 Seemeilen souveräne Rechte über den sogenannten Festlandsockel ausüben, muss er mit bathymetrischen, geodätischen, geophysikalischen und geologische Daten nachweisen, dass sich die natürliche Verlängerung seines Landgebietes über diese juristisch festgelegte Grenze hinaus erstreckt. Russland ist mit einem solchen Antrag bei der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandssockels gescheitert, bereitet aber einen neuen Antrag mit einer verbesserten technischen Dokumentation vor. "Es gibt keinen Wettlauf um die Arktis". Karl Hinz über die Festlandsockelgrenzkommission, den Rohstoffmythos und einen Präzendenzfall Eine Kommission der Vereinten Nationen befindet über Anträge auf Erweiterung des Festlandsockels. Russlands Antrag auf erweiterte Rechte zur Rohstoffförderung in der zentralen Arktis hat sie 2002 zurück verwiesen. Rohstoffe sind in den beantragten Tiefseegebieten der Arktis allerdings gar nicht zu erwarten. Es geht vor allem um symbolische Politik. Mittlerweile setzen die Küstenstaaten ihre Interessen vehement gegen wissenschaftliche Zweifel durch. Allerdings nicht gegeneinander, sondern miteinander. Nach einem positiven Bescheid für einen australischen Antrag steht zu erwarten, dass die Arktis weitgehend aufgeteilt werden wird. Thijs Duyzings: Der Nördliche Seeweg. Russlands Schifffahrtsregeln und das Völkerrecht Die sommerliche Eisbedeckung im Nordpolarmeer ist stark zurückgegangen. Schon hoffen Reedereien auf eine kürzere Route von Europa nach Asien. Doch ist umstritten, ob für die Schifffahrt auf dem Nördlichen Seeweg das internationale Seerecht oder nationales russländisches Recht anzuwenden ist. Der Status einiger Gewässer und Meerengen ist offen und Russlands Verwendung gerader Basislinien stößt auf Widerspruch. Konkurrierende Auffassungen gibt es auch zu der Frage, ob die im Seerechtsübereinkommen formulierten Ausnahmebestimmungen für eisbedeckte Gebiete die Anwendung nationaler Regeln für die Schifffahrt anstelle der Vorschriften des Seerechts erlaubt. Hilmar Rempel: Rohstoffe der Arktis. Potentiale und Vorkommen Die Arktis verfügt über ein bedeutendes Potential an Erdgas, Erdöl und anderen Rohstoffen. Die Entwicklung der Felder erfordert enorme Investitionen und technische Kompetenzen. Der im Zuge der Klimaänderung prognostizierte Eisrückgang könnte die Exploration und Gewinnung der Rohstoffe begünstigen. Allerdings sind dabei wegen des sensiblen Ökosystems höchste Umweltstandards anzuwenden. Der größte Teil der Vorkommen liegt in Gebieten, deren rechtlicher Status geklärt ist. Das Bild vom Konflikt um die Ressourcen ist übertrieben. Vielmehr bietet sich eine gemeinsame Erschließung der Ressourcen an. Indra Øverland: Kooperation statt Konfrontation. Štokman, Jamal und Russlands Energiepolitik in der Arktis Russlands Arktispolitik wird oft in geopolitischen Kategorien gedeutet. Doch im Hohen Norden findet kein von Energiehunger angetriebener Ressourcenwettlauf statt. Der Großteil der in der Arktis vermuteten Öl- und Gasvorkommen liegt in Gebieten, in denen Russland unumstritten das alleinige Recht zur Förderung hat. Zu beobachten ist daher eher ein Schönheitswettbewerb, bei dem internationale Ölkonzerne um die Beteiligung an den attraktivsten Erschließungsvorhaben konkurrieren. Als Modell könnte das Štokman-Projekt dienen. Verschiedene Entwicklungen auf den internationalen Öl- und Gasmärkten gefährden allerdings dieses Vorhaben. Stephen Fortescue: Von Erzen und OIigarchen. Die Bergbauindustrie in Russlands Nordwesten Der Nordwesten Russlands ist reich an Bodenschätzen. Der Bergbau spielt daher insbesondere auf der Kola-Halbinsel ein erhebliche sozioökonomische Rolle. Die Geologie der Lagerstätten und die Geochemie der Erze erschweren allerdings den Abbau. Daher sind internationale Bergbauunternehmen kaum in der Region vertreten, und die vertikal integrierten russischen Kapitalgesellschaften der Grundstoffindustrie kämpfen mit zahlreichen Problemen. Aufgrund seiner großen wirtschaftlichen Bedeutung für den gesamten Nordwesten ist dem Bergbau jedoch die Aufmerksamkeit des Staates gewiss. Bettina Rudloff: Fisch im Wasser?. Die EU und die Arktisfischerei Die Arktis ist als Fischereigebiet derzeit nur von regionaler Bedeutung. Global gesehen haben die Fangmengen kaum Bedeutung, und auch für die Fischerei der EU-Staaten spielt die Arktis kaum eine Rolle. Wichtig ist die EU lediglich als Handelspartner einzelner arktischer Fischfangnationen. Trotz Überfischung sind Fangquoten- und Handelskonflikte allerdings selten. Welche Auswirkungen der Klimawandel auf zukünftige Fangpotentiale hat, ist unklar. Schon die Daten über aktuelle Fischbestände sind sehr unzuverlässig. Die Ökosysteme sind zu komplex und die wissenschaftlichen Daten zu lückenhaft, als dass sich Prognosen über die ökonomischen Potentiale des Fischfangs im Falle eines Rückgangs des Meereises aufstellen lassen würden. Karl Magnus Eger, Arnfinn Jørgensen-Dahl: Kurzer Weg, hohes Risiko. Der Nördliche Seeweg: eine euro-asiatische Schiffsroute? Die Nordost-Passage wird seit einigen Jahren als neue Route für die kommerzielle Schifffahrt zwischen Europa und Asien gehandelt. Fahrten zwischen nordeuropäischen und nordpazifischen Häfen könnten so deutlich kürzer werden. Allerdings ist die Navigation trotz des Rückgangs der sommerlichen Eisbedeckung im Nordpolarmeer weiter schwierig. Im zentralen Abschnitt, dem von Russland kontrollierten Nördliche Seeweg, sind die Fahrten genehmigungspflichtig, Eisbrecherbegleitung ist obligatorisch. Zusammen mit hohen Versicherungskosten treibt dies die Transportkosten in die Höhe. Trotz der großen Treibstoff- und Zeiteinsparungen hängt es vom Einzelfall ab, ob die Nordroute tatsächlich günstiger ist als der Weg über den Suez-Kanal. Elena Nikitina: Russlands dreckige Arktis. Umweltverschmutzung und ökologische Ansätze Einige arktische Regionen Russlands sind ökologische Krisengebiete. In der Gegend um die Stadt Noril’sk sowie auf der Kola-Halbinsel verursacht der Bergbau eine massive Luft- und Wasserverschmutzung. Die Ökosysteme großer Gebiete sind zerstört. Katastrophal ist die Lage auch in den Öl- und Gasfördergebieten. Aus Pipelinelecks austretendes Öl verseucht Böden und Gewässer, das Abfackeln von Begleitgas verschmutzt die Luft, schweres Gerät führt zu Bodendegradation. In den letzten Jahren sind Ansätze eines ökologischen Bewusstseins entstanden. Moskau hat den Umweltschutz zu einem zentralen Thema seiner Arktispolitik erklärt. Nun müssen die zahlreichen Umweltstrategien auch umgesetzt werden. Sandra Cavalieri et al.: Spurensuche. Der ökologische Fußabdruck der EU in der Arktis Die fragilen Ökosysteme der Arktis sind in Gefahr. Beim Bergbau und der Metallverhüttung werden in großen Mengen Ruß, Stickoxide und Schwefeldioxid freigesetzt. Toxische organische Schadstoffe und Schwermetalle reichern sich über die Nahrungskette in den Organismen von Tieren und Menschen an. Ein zusätzlicher Stressfaktor für die Ökosysteme ist der Klimawandel. Die biologische Vielfalt droht durch invasive Arten abzunehmen. Die Staaten der Europäischen Union tragen erheblich zur Umweltverschmutzung in der Nordpolregion bei. Ihr ökologischer Fußabdruck in der Arktis geht zum Großteil auf den Import von Waren und Dienstleistungen aus der Region zurück. Die EU sollte ihre Umweltschutzbemühungen in einer Umweltstrategie für die Arktis bündeln. Christoph Humrich, Klaus Dieter Wolf: Krieg in der Arktis?. Konfliktszenarien auf dem Prüfstand Als 2007 eine Expedition auf dem Meeresgrund des geographischen Nordpols Russlands Flagge absetzte, löste dies international Aufregung aus. Der Konflikt um den Festlandsockel schien zu eskalieren. Manche Beobachter malen Krisen und Kriege um die Rohstoffe der Arktis an die Wand. Wer die Fakten analysiert, kommt zu einem anderen Befund. Die Eskalation eines Konflikts um die Arktis ist unwahrscheinlich. Kristian Åtland: Im Norden nicht Neues?. Die Arktis in Russlands Sicherheitspolitik Die Sowjetunion betrachtete die Arktis als ein Gebiet von großer militärischer Bedeutung. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich dies grundlegend geändert. Die militärische Dimension spielt in Russlands Arktispolitik eine deutlich geringere Rolle, Moskau kooperiert über die ehemaligen Blockgrenzen hinweg mit anderen Staaten und beteiligt sich an zirkumpolaren regionalen Organisationen. Zudem spielt eine Reihe großer Konzerne heute ein gewichtige Rolle im Hohen Norden. Obwohl Gefahr für Russland viel eher an den südlichen Grenzen des Landes droht, wird die Arktis in Moskau immer noch als ein Raum angesehen, der nicht nur große wirtschaftliche Bedeutung hat, sondern auch sicherheitspolitisch relevant ist. Das Konfliktpotential in der Arktis sollte dennoch nicht überschätzt werden. Geir Hønneland: Kompromiss als Routine. Russisch-norwegische Konfliktlösung in der Barentssee Russland und Norwegen haben im April 2010 überraschend ihre Grenzstreitigkeiten in der Barentssee beigelegt. Ausschlaggebend für die Unterzeichnung eines Abkommens über die zukünftige Seegrenze war die vorangegangenen vierzig Jahren gewonnene Verhandlungsroutine. Die Zusammenarbeit in der Fischereiwirtschaft und seit den späten 1980er Jahren auch im Umweltschutz förderte das Vertrauen zwischen den beiden Staaten. Kompromiss wurden selbst dann zum Normalfall, wenn die Positionen zuvor weit auseinandergelegen hatten. Klaus Gestwa: Polarisierung der Sowjetgeschichte. Die Antarktis im Kalten Krieg Als kultur- und geschichtsloser Raum erhielt die Antarktis erst in den 1950er Jahren ihren festen Platz auf der politischen Weltkarte. Überzogen mit einem dichten Netz von Forschungsstationen und geschützt durch ein internationales Vertragswerk ist der eisige sechste Kontinent zu einem einzigartigen globalen Raum mit normativem Vorbildcharakter geworden. Die Antarktis bot eine fabelhafte Projektionsfläche, auf der sich die "sozialistische Gemeinschaft" darstellen ließ. Am Südpol erschien der Ostblock im Kleinformat bald nicht mehr nur als gedachte, sondern als gelebte Gemeinschaft. Michael Hamel-Green: Atomwaffenfreie Zone Arktis. Vorbilder und Perspektiven In der Arktis überschneiden sich mehrere Bedrohungen für Mensch und Umwelt. Die Folgen des Klimawandels sind deutlich zu erkennen. Atomwaffen und radioaktiver Abfall stellen weitere Gefahren dar. Der Antarktisvertrag bietet ein Vorbild zur Entmilitarisierung der Arktis. Auch aus anderen Atomwaffenfreie Zonen sind Lehren zu ziehen. Die Nichtatomwaffenstaaten der Region sollten die Initiative ergreifen, um die Arktis zur Atomwaffenwaffenfreien Zone zu erklären. Sie wäre ein Ort der internationalen Kooperation und des Umweltschutzes. Das wäre auch im Interesse Russlands und der USA als Atomwaffenstaaten. Kirsti Stuvøy, Brigt Dale: Der Arktische Rat. Gesundheitsmanagement zwischen Wissenschaft und Politik Der Arktische Rat ist die wichtigste Institution für das Regieren jenseits des Nationalstaates im Hohen Norden. Er trifft keine rechtsverbindlichen Entscheidungen, sondern beeinflusst Politik in der Arktis mit dem grundlegenden Wissen, das seine Arbeitsgruppen zur Verfügung stellen. Besonders erfolgreich ist sein Umweltmonitoring. Im Bereich des Gesundheitsmanagements, dem sich der Rat in den letzten Jahren zugewandt hat, zeigen sich aber auch die Grenzen der wissenschaftlichen Politikberatung. Letztlich muss der Rat doch politische Entscheidungen fällen, um als einflussreiche Institution in der Arktis Bestand zu haben. Vasilij Golovanov: Erde ohne Götter Kolguev liegt auf der "westabgewandten Seite der europäischen Geschichte". Einst fegten auf der Insel in der Barentssee die Rentiernomaden der Nenzen mit Gänsefedern die Tundra, damit kein Stäubchen am Standplatz zurückbleibt. Die Sowjetunion hat einen Fundus des Weltalphabets zurückgelassen: Atommüll und Bierdosen, Fässer und Gasmasken, Holzteile und Hubschrauberverkleidung. Am Nordende des Kontinents ist das Zeitenende bereits gekommen. Ulrich Schmid: Eurasien oder Skandoslavien?. Der "Norden" im kulturellen Selbstverständnis Russlands Das publikumswirksame Aufpflanzen einer Nationalflagge aus Titan auf dem Meeresgrund unter dem Nordpol im Jahr 2007 hat deutlich gemacht, wie ernst Russlands geopolitische Ambitionen im Norden sind. Einige prominente kulturhistorische Diskurslinien belegen das Selbstverständnis Russlands als "nördliche" Nation. Oft wurde diese Dimension zugunsten der klischeehaften Gegenüberstellung Russland – Europa vernachlässigt. Doch auch die russischen Nordkonzeptionen sind keineswegs homogen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten wurde der Norden immer wieder als Ursprungsort nationaler Kultur und Staatlichkeit imaginiert. Gleichzeitig gab es Absetz- und Gegenbewegungen, in denen das autochthon Slavische gegen das als fremd empfundene nördlich-skandinavische Element ausgespielt wurde. Florian Stammler, Elena Khlinovskaya: Einmal "Erde" und zurück. Bevölkerungsbewegung in Russlands Hohem Norden Im Vergleich zu anderen arktischen Regionen ist Russlands Arktis wesentlich dichter besiedelt. Dies ist das Ergebnis einer Bevölkerungspolitik, die in erster Linie der Industrialisierung diente. In der Sowjetunion waren Deportationen, durch Subventionen geförderte Umsiedlungen und Sesshaftmachung von Nomaden die Instrumente dieser Politik. Russland verfolgt heute andere politische und wirtschaftliche Ziele und versucht, unrentabel gewordene Siedlungen im Norden aufzulösen. Doch die s Rücksiedlung stößt auf Widerstand. So leben in den neuen Geisterstädten des Nordens noch immer oder wieder einstige Umsiedler. T. Heleniak, T. Holzlehner, E. Khlinovskaya: Der große Exodus. Demographische Trends an Russlands nördlicher Peripherie Das Ende der Sowjetunion ging mit dem Zusammenbruch der zentralen Verwaltungswirtschaft einher. Das löste eine massive Abwanderung der Menschen insbesondere aus den peripheren Regionen Russlands aus. Seit 1991 hat der Hohe Norden fast ein Fünftel seiner Bevölkerung verloren. Das Gebiet Magadan verließen 59 Prozent, den Autonomen Kreis der Tschuktschen gar drei Viertel aller Einwohner. Das hat gravierende Konsequenzen für die sozioökonomische Lage der Bleibenden sowie für die Infrastruktur, das Siedlungswesen und den Arbeitsmarkt. Johannes Rohr: Anpassung und Selbstbehauptung. Die indigenen Völker in Russlands Hohem Norden Russland erkennt 40 Völker des Hohen Nordens als indigen an. Ihnen gewährt der Staat besonderen Schutz. Gleichwohl bleiben diese Völker Bittsteller. Die Erdöl- und Erdgasförderung, der Bergbau sowie Staudammprojekte haben nach wie vor verheerende Auswirkungen auf ihren Lebensraum. Gegen große Industriekonzerne können sie sich nur erfolgreich zur Wehr setzen, wenn Russland die in internationalen Erklärungen Anna Stammler-Gossmann: "Indigene Völker". Historische Wurzeln der russländischen Minderheitenpolitik Russland erkennt seit 1993 eine Reihe von Völkern als indigen an. Die staatliche Definition von Indigenität ist allerdings mit den in internationalen Erklärungen zu den Rechten indigener Völker formulierten Kriterien nur teilweise kompatibel. Dies hat mit tief verwurzelten Traditionen der zarischen und sowjetischen Nationalitätenpolitik zu tun. Christoph Humrich: Die Zukunft der Arktis. Ein Literaturbericht Die Arktis genießt große publizistische Aufmerksamkeit. Ursachen sind die Folgen des Klimawandels, der vermutete Rohstoffreichtum sowie das Echo auf Russlands Tauchfahrt zum Meeresgrund am Nordpol. Noch mangelt es an analytischen Grundlagen, um die vielfältigen Entwicklungen einzuordnen. Auch fehlen innovative Vorschläge dafür, wie eine nachhaltige politische, ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung der Region.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-11-08T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
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Epochenwechsel im Völkerrecht? | Vereinte Nationen | bpb.de
Die Herausforderungen der neuen Weltordnung Seit dem 11. September 2001 ist viel von "Epochenwechsel", "Umbruch" und "Neuordnung der Welt" die Rede. Selbst der Historiker Eric Hobsbawm sprach von einer "unbestreitbaren und dramatischen Zäsur in der Weltgeschichte". Sie lässt mitunter vergessen, dass diese Metaphern bereits die Diskussion nach der Auflösung der Sowjetunion und des gesamten sozialistischen Lagers zehn Jahre zuvor beherrschten, die Dialektik vonUntergang und Neuanfang nunmehr aber vorallem eine neue Richtung erhielt. Damals hatte US-Präsident George Bush senior in seiner Botschaft am Vorabend des 2. Golfkrieges im September 1990 die Zukunft der internationalen Beziehungen auf die Koordinaten und Prinzipien des klassischen Völkerrechts orientiert, auf die UNO-Charta und das gleiche Recht, die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten, ob stark oder schwach. Er hatte für seinen Feldzuggegen die irakischen Truppen in Kuwait dieErmächtigung durch den UN-Sicherheitsrat gesucht und bekommen und sich trotz starken Drucks aus seiner Administration an den begrenzten Auftrag der Res. 678 vom 29. November 1990 gehalten und vor Bagdad Halt gemacht. Welche Motive ihn dabei auch immer bewogen haben mögen, ist gleichgültig, bemerkenswert war, dass er sich an den völkerrechtlichen Rahmen gehalten hat. Diese Position ist zwar weder von Clinton noch von Bush junior offiziell aufgegeben worden. Aber mit dem 11. September 2001 beansprucht die US-Administration drastische Revisionen an den überkommenen Regeln der Friedenssicherung für sich, und es mehren sich die Stimmen, die zumindest das zentrale Prinzip der UN-Charta, das Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4, für tot erklären. Die seit 1945 entwickelten Prinzipien werden nicht länger als richtungweisend für die Weiterentwicklung des Völkerrechts erachtet, sondern unter dem Vorwurf ihrer Ineffizienz und Ohnmacht angesichts der neuen Gefahren einer radikalen Umwertung unterworfen. Der 11. September diente der Ausrufung des weltweiten Ausnahmezustandes, mit dem sich die USA ermächtigten, unter dem Diktat des Terrors zur Verteidigung einer Weltordnung aufzutreten, in der von jetzt ab sie allein die Feinde der zivilisierten Welt definieren und bekämpfen. Der kolonialistische Unterton dieser Debatte um Fundamentalismus und Kulturkampf ist bereits in der Auseinandersetzung mit Huntingtons "Clash of Civilizations" verschiedentlich angemerkt worden. Er spiegelt jedoch das politische Projekt der neunziger Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion wider, mit dem die allein übrig gebliebene Hegemonialmacht die Neuordnung der Welt zunächst dort in Angriff nahm, wo es ihre Interessen am meisten erforderten. "Weil wir eine Nation mit globalen Interessen sind," heißt es in dem "New Strategy"-Papier des Weißen Hauses aus dem Jahr 1997, "sehen wir uns einer Vielzahl von Herausforderungen unserer Interessen gegenüber, oftmals weit über unsere Küsten hinaus. Wir müssen unsere überlegenen diplomatischen, technologischen, industriellen und militärischen Fähigkeiten immer aufrechterhalten, um diesen weiten Bereich von Herausforderungen anzugehen, so dass wir, wenn möglich, gemeinsam mit anderen Nationen, wenn es sein muss, aber auch alleine reagieren können." Weitaus konkreter, aber repräsentativ für zahlreiche andere Einschätzungen der US-Weltpolitik formuliert Samuel Huntington ihre Ziele: "...die Interessen amerikanischer Unternehmen unter den Schlagwörtern 'freier Handel' und 'offene Märkte' zu fördern; die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds so zu gestalten, dass diese eben diesen Unternehmensinteressen dient; (...) andere Staaten zu zwingen, eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu verfolgen, die amerikanischen Wirtschaftsinteressen entgegenkommt; amerikanische Waffenverkäufe ins Ausland zu fördern, während sie gleichzeitig vergleichbare Verkäufe seitens anderer Staaten zu verhindern suchen; (...) bestimmte Länder als ,Schurkenstaaten` einzustufen und sie damit aus globalen Institutionen auszuschließen, weil sie sich weigern, amerikanischen Wünschen nachzugeben." Geographisch gebündelt sind diese Interessen und Ziele derzeit am dichtesten im Nahen und Mittleren Osten, wo auch ihre Gefährdung am größten ist und wo sich hinter der unverhüllt propagandistischen Fassade eines Demokratieprojekts "Greater Middle East" der Schlachtplan für Afghanistan, Palästina, Irak, Iran und Saudi-Arabien sowie Ägypten präsentiert. Es ist wichtig, sich deutlich zu machen, dass die gegenwärtige Terrorismusdebatte eine nicht unbedeutende Rolle in der Entfaltung und Legitimierung der hegemonialen Weltordnungsplanung der USA spielt. Die Vermutungen, dass der 11. September mehr als Vorwand denn als Auslöser der nachfolgenden, aber bereits seit längerer Zeit geplanten Kriege gegen Afghanistan und den Irak diente, haben sich eher verdichtet, als dass sie widerlegt worden sind. Die letzten Kriege der USA gegen Afghanistan und den Irak haben die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens entscheidend verändert. Hier wurden Protektorate eingerichtet und - nehmen wir den eskalierenden Palästina-Konflikt hinzu - ein permanenter Kriegszustand geschürt: dies lässt das Demokratieprojekt als fragwürdig erscheinen, hat aber auf jeden Fall die absolute Dominanz der USA in dieser Region vorerst gesichert. Die Rekolonisierung des Mittleren Ostens, d.h. die Wiederausrichtung seiner Wirtschaftsstruktur und seiner Reichtumsquellen auf die Interessen der USA, bildet die Grundtextur desDemokratieprojektes "Greater Middle East". Davor schiebt sich der Kampf gegen den Terrorismus, mit dem der Krieg aus seinen völkerrechtlichen Fesseln befreit und als legitimes Mittel der Politik neu begründet wird. Vergessen wir auch nicht die passive und aktive Mithilfe der NATO, die auf die gleichgerichteten Interessen der europäischen Staaten hinweisen und den Dissens über die angewandten Methoden (Krieg gegen den Irak ohne Mandat der UNO) schließlich in den Hintergrund schieben. Lassen wir demgegenüber die einander widersprechenden Einschätzungen über den langfristigen Erfolg des Kriegseinsatzes und die Stabilität dieser unter dem militärischen Schild der USA und der NATO auf Vasallentum, Klientelismus und Korruption aufbauenden Herrschaftsordnung außer Betracht. Im Folgenden soll es lediglich um die viel diskutierten Auswirkungen auf jene Regeln des internationalen Rechtssystems gehen, die bisher Kriege verhindern und Frieden gewährleisten sollten. Das Erbe des Völkerrechtsnihilismus Der Tod des Völkerrechts ist wiederholt schon vor dem 11. September 2001 verkündet worden. 1970, fünfundzwanzig Jahre nach der Verkündung der UNO-Charta, schrieb z.B. Thomas Frank, dass das zentrale Prinzip der Charta, das Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4, tot sei. Sechzehn Jahre später befand Jean Combacau: "Die internationale Gemeinschaft glaubt nicht mehr länger an das System der Charta, weil die kollektive Garantie, die ihre Mitglieder gegen ihr individuelles Recht auf Gewaltanwendung eingetauscht haben, nicht funktioniert und dafür kein wirklicher Ersatz gefunden worden ist (...). Was uns auch immer offiziell mit der gesetzlichen Situation vorgespiegelt wird, die internationale Gemeinschaft ist faktisch wieder dort angelangt, wo sie vor 1945 war: im Naturzustand; und dort macht der Begriff der Selbstverteidigung bekanntlich keinen Sinn." Seine Begründung lässt sich mit den Worten Michael Glennons zusammenfassen, mit denen auch er den Abgesang auf das Gewaltverbot anstimmt: "Seit 1945 haben sich Dutzende von Mitgliedstaaten an gut über 100 zwischenstaatlichen Konflikten beteiligt, die Millionen von Menschen getötet haben. Das internationale Rechtssystem ist freiwillig, und die Staaten werden nur durch die Regeln verpflichtet, denen sie zugestimmt haben. Ein Vertrag kann seine bindende Wirkung verlieren, wenn eine genügende Anzahl von Vertragsstaaten ein Verhalten praktizieren, welches gegen die Regeln des Vertrages verstößt. Die Übereinstimmung der UN-Mitgliedstaaten in dem allgemeinen Gewaltverbot, wie es in der UNO-Charta zum Ausdruck kommt, ist auf diesem Weg durch eine veränderte Absicht ersetzt worden, wie sie in ihren Handlungen ausgedrückt worden ist. (...) Es scheint, dass die Charta tragischerweise den Weg des Briand-Kellogg-Paktes gegangen ist, der vorgab, den Krieg zu illegalisieren, und der von jedem größeren Weltkriegsteilnehmer unterschrieben worden ist." Ein altes Argument besagt, dass die massenhafte Verletzung einer Norm diese gleichsam auflöst und aufhebt. Es ist schon in den Nürnberger Prozessen von der Verteidigung gegen das Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Paktes - allerdings erfolglos - vorgebracht worden. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat auf das Bemühen fast aller kriegführenden Staaten hingewiesen, ihren Krieg als Ausnahme vom absoluten Gewaltverbot hinzustellen, und daraus gefolgert: "Wenn ein Staat in einer Weise handelt, die dem ersten Anschein nach unvereinbar mit den anerkannten Regeln ist, aber sein Verhalten damit rechtfertigt, dass er sich auf Ausnahmen oder Rechtfertigungsgründe beruft, die in der Regel selbst enthalten sind, dann bedeutet dieses Verhalten - gleichgültig ob dieses Verhalten des Staates nun wirklich gerechtfertigt ist oder nicht - eher eine Bestätigung denn eine Schwächung dieser Regel." In den Kriegen der Jahrtausendwende haben alle beteiligten Regierungen ihren Beitrag mit der UNO-Charta zu rechtfertigen versucht. Vor allem US-amerikanische Autoren haben immer wieder ihren Völkerrechtsnihilismus in die Debatte eingebracht. Er ist allerdings auch in der Diskussion nach dem 11. September die Ausnahme geblieben, bildete aber den Hintergrund für weitgehende Revisionsansätze und Uminterpretationen des geltenden Friedenskodexes. Wer schon die Geltungskraft eines Kodexes in Frage stellt, glaubt sich damit einen umso freieren Umgang mit seinen Inhalten und Einzelregelungen verschaffen zu können. Ausgangspunkt ist die unbestreitbare Feststellung, dass sich die Gefahren und Bedrohungen für das internationale System der Friedenssicherung, die Art, Methoden und der Charakter der Kriege sowie die Qualität der Waffen wie auch des Kriegspersonals fundamental gegenüber dem Zweiten Weltkrieg geändert haben, die Vorbild für das Friedenssicherungssystem der UNO gewesen sind. Daraus hat sich eine überaus fruchtbare Literatur entwickelt, die das "Neue" in den unterschiedlichsten Varianten der "neuen Gefahren" und "neuen Kriegen" thematisiert, mit der eindeutigen Botschaft, dass ihnen die alten Instrumente der Nachkriegszeit zu ihrer Prävention oder Zivilisierung nicht mehr gewachsen sind. Die Kritik richtet sich gegen das UNO-System, welches die Aufgabe der Gewalt- und Polizeifunktion im Dienste des internationalen Friedens eindeutig von den Staaten auf die UNO verlagert hatte. Die Forderungen nach einem neuen Interventionismus angesichts des "Scheiterns des UN-Sicherheitsrats" konzentrieren sich auf die Auflösung dieses ohnehin nie eingehaltenen Gewaltmonopols der UNO und die Rückübertragung auf die souveränen Staaten. Allein die Akzentverschiebung, die in der Proklamation nicht nur eines Rechts auf Intervention, sondern sogar einer Pflicht zur Intervention liegt, zeigt den starken Legitimationsverfall des UNO-Paradigmas. Bruchstellen des UNO-Systems I: die "humanitäre" Intervention Es ist nicht zu übersehen, dass die jüngsten großen Kriege der USA und der NATO wie Hebammen bei der Geburt der neuen Interventionskonzepte gewirkt haben. So steht der Krieg gegen Jugoslawien zur Verhinderung einer "Menschenrechtskatastrophe" im Kosovo 1999 für die Wiederbelebung der alten Figur der "humanitären Intervention". Der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan als Krieg gegen den Terrorismus treibt die Ausdehnung der Selbstverteidigung über Art. 51 UNO-Charta hinaus, und der Krieg gegen den Irak zur Verhinderung der Entwicklung und des Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln präsentiert sich als die Probe aufs Exempel des neuen Präventiv- bzw. Präemptivkonzepts der Selbstverteidigung. Auch die zwar nicht neue, aber doch neu definierte Erscheinung zerfallener Staaten (failed states), deren innere und äußere Souveränität durch permanente Wirren, Bürgerkrieg, Naturkatastrophen und politisches Chaos faktisch verloren gegangen ist, hat die Schwelle des Interventionsverbots drastisch gesenkt und die Diskussion um eine Interventionspflicht angeregt. Wenden wir uns den völkerrechtlichen Begründungsversuchen dieser neuen Interventionskonzepte zu und lassen wir auch hier die unterschiedlichen und sich z. T. heftig widersprechenden Einschätzungen ihrer politischen und faktischen Grundlagen auf sich beruhen. Nehmen wir also im Falle der Bombardierung Jugoslawiens die offizielle Begründung für erwiesen an, eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, so ließ erst der offenkundige Verstoß gegen die UNO-Charta und die Begründungsnot die NATO-Regierungen auf eine alte Figur des kolonialen Völkerrechts der Vor-Charta-Ära als Rechtfertigung zurückgreifen: die so genannte humanitäre Intervention. Zwar haben die USA bei ihren Interventionen in Lateinamerika (Grenada 1983, Nicaragua 1984, Panama 1989) immer wieder auf diese Rechtfertigung zurückzugreifen versucht, sie haben jedoch dabeinirgendwo Zustimmung oder Gefolgschaft finden können. Abgesehen von den politischen Konsequenzen einer derartigen Doktrin, die nur als Vorwand für den Missbrauch einer Intervention dient, widerspricht die "humanitäre" Intervention dem System und der Dogmatik der UNO-Charta. Hauptziel und zentrale Aufgabe der UNO sind die Friedenssicherung, worunter sich alle anderen Ziele einzureihen haben. Dies macht z.B. Art. 103 UN-Charta deutlich: "Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang." Tritt also das Gewaltverbot der Friedenssicherung in Konkurrenz zu einer Verpflichtung aus einem der Menschenrechtspakte und -konventionen, so hat das Gewaltverbot Vorrang. Dies ergibt sich auch aus der Prinzipiendeklaration von 1970, an deren Spitze das Gewaltverbot sowie die Unabhängigkeit und Souveränität der Staaten rangieren. Erst an fünfter Stelle wird dort das Prinzip der "internationalen gegenseitigen Zusammenarbeit zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Probleme und zur Stärkung der Menschenrechte" erwähnt. Eine Verknüpfung beider Prinzipien derart, dass die Sicherung der Menschenrechte eine Ausnahme vom Gewaltverbot zuließe oder gar erforderte, ist im System der UN-Charta also nicht angelegt. Dies hat der Internationale Gerichtshof (IGH) 1986 in seinem Urteil im Rechtsstreit Nicaraguas gegen die USA noch einmal unterstrichen. Und im gleichen Jahr hat das Foreign Office Großbritanniens auf die zwingenden politischen Gründe für die Ablehnung der "humanitären Intervention" als weitere Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen: "Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, und zwar aus drei Gründen: Erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls einige wenige wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt - wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen. (...) Der wesentliche Gesichtspunkt, der deshalb dagegen spricht, die humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip des Interventionsverbots zu machen, sind ihre zweifelhaften Vorteile, die bei weitem durch ihre Kosten in Form des vollen Respekts vor dem Völkerrecht aufgewogen werden." Wenn sich die Regierung Blair auch nicht an diese Mahnung gehalten hat, so haben diese Argumente in den vergangenen Jahren doch nicht ihre Gültigkeit verloren. Sie sind auf einem Treffen der Außenminister der 133 Mitgliedstaaten der Gruppe 77 am 24. September 1999 noch einmal bestätigt worden, und ein Report des Foreign Affairs Committee des britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 hat das Vorgehen der eigenen Regierung eindeutig als rechtswidrig qualifiziert. Betrachten wir die völkerrechtliche Literatur, so müssen wir davon ausgehen, dass die Legalisierung der "humanitären Intervention" als neue Doktrin gescheitert ist. Dennoch haben sich einige durchaus prominente Vertreter ihres Faches zu dem problematischen Spagat verführen lassen, die Illegalität der Kriege zwar einzugestehen, sie jedoch als moralisch legitim zu rechtfertigen. Es ist nicht klar, ob ihnen bewusst ist, dass sie mit diesem "moralistischen Positivismus" vor allem den NATO-Staaten die Tür zu noch weitgehenderen Interventionen öffnen, die diese in ihrer neuen NATO-Strategie von 1999 schon benannt haben und die bis zur militärischen Intervention bei der Blockade lebenswichtiger Ressourcen gehen - nach dem einfachen Motto: illegal aber legitim. Es mag allerdings auch in ihrer Intention liegen, die Verbindlichkeit des Gewaltverbots zu schwächen. Denn wo die Grenzen zwischen Recht und Moralphilosophie verschwimmen, ist letztlich jeder Aggressionskrieg zu begründen. Dabei hat der UN-Sicherheitsrat verschiedene Beispiele gegeben, wie die Staatengemeinschaft mit massiven Menschenrechtsverletzungen und innerstaatlichen Konflikten umgehen kann. Seine Interventionen zum Schutze der Kurden im Frühjahr 1991 im Nordirak und im Winter 1992 in dem faktisch zusammengebrochenen Somalia beruhten auf der Einschätzung, dass die Situation in beiden Staaten eine Gefahr für die Sicherheit der Region und des Weltfriedens darstelle. Ob der Sicherheitsrat die Souveränität des Irak im Norden seines Landes aufhob oder in Somalia eine Friedenstruppe (UNOSOM II) mit dem Mandat zur Ausübung militärischen Zwanges einrichtete, er verfügt auch in innerstaatlichen Konflikten über ein äußerst variables Interventionsinstrumentarium, sobald er die Auswirkungen der Konflikte auf der Basis des Kapitel VII der UNO-Charta als Bedrohung des internationalen Friedens einstuft. Die entscheidende Bedingung für diese "humanitären Interventionen" ist allerdings, dass sie vom UN-Sicherheitsrat ausgehen. Ohne sein Mandat hat kein einzelner Staate und keine Staatengruppe ein Interventionsrecht. Bruchstellen des UNO-Systems II: die "präventive" Verteidigung Die zweite Bruchstelle im UNO-System der kollektiven Sicherheit wurde mit der Operation "Enduring Freedom" offen gelegt, mit der die USA und Großbritannien am 7. Oktober 2001 ihren Antiterrorkampf in Afghanistan begannen und als individuelle und kollektive Verteidigung gemäß Artikel 51 UNO-Charta rechtfertigten. Sie wurde ein Jahr später beträchtlich erweitert und vertieft mit der West-Point-Rede von Präsident Bush, die das neue Präemptivkonzept verkündete, das in der National Security Strategy vom September 2002 offizielle Gestalt annahm. Die zentrale Frage, ob Akte des internationalen Terrorismus generell ein Recht auf militärische Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UNO-Charta auslösen können, wird angesichts der Dimensionen des Terroranschlages vom 11. September jetzt in der Literatur weitgehend bejaht. Das war nicht immer der Fall. So wurden die Bombardierung des PLO-Hauptquartiers in Tunis 1985 durch die israelische Armee, die Bombardierung von Tripolis und Benghasi 1986 durch die USA als Antwort auf den Terroranschlag auf die Berliner Diskothek La Belle, die Invasion Panamas zur Ergreifung von General Manuel Noriega im Dezember 1989, der Luftangriff gegen die irakische Geheimdienstzentrale in Bagdad im Juni 1993 als Antwort auf ein angeblich gegen Präsident Bush senior geplantes, aber gescheitertes Attentat oder die Bombardierung von Zielen im Sudan und Afghanistan als Antwort auf die Terroranschläge gegen die US-Botschaften in Kenia und Tansania 1998 - Militäraktionen, die von den USA und Israel mit dem Hinweis auf das Selbstverteidigungsrecht begründet wurden - fast einhellig als illegale Vergeltungsmaßnahmen abgelehnt. Zu der Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts bei Terroranschlägen nach dem 11. September haben zweifellos die Verweise in den Präambeln der Sicherheitsratsresolutionen 1368 und 1373 auf Artikel 51 UNO-Charta mit beigetragen. Allerdings bleiben die notwendigen Voraussetzungen für die Anerkennung der Selbstverteidigung der USA gegen Afghanistan weiterhin strittig. Kann man Afghanistan direkt für die Terroranschläge von Al-Qaida verantwortlich machen? Führt auch das Land einen "bewaffneten Angriff" im Sinne des Artikel 51 aus, das die Angreifer lediglich beherbergt? Kam die Verteidigungsreaktion "umgehend", wie in Artikel 51 gefordert, kann sie auf unbestimmte Zeit und andere Territorien zur Verhinderung weiterer Anschläge ausgedehnt werden? Waren die militärischen Maßnahmen notwendig, geeignet und verhältnismäßig? An dem Vorliegen dieser Voraussetzungen sind erhebliche Zweifel geltend gemacht worden, so dass der Vorwurf der Überdehnung des Artikel 51 UNO-Charta durchaus berechtigt ist. Die bloße Beherbergung von Terroristen macht das Land noch nicht verantwortlich für deren Terrorakte gegenüber einem anderen Staat, es sei denn, "es spielt eine Rolle bei der Organisation, Koordinierung oder der Planung der militärischen Aktivitäten der militärischen Gruppe zusätzlich zur Finanzierung, dem Training und der Ausrüstung oder Gewährung operativer Unterstützung", wie das Internationale Militärtribunal zu Ex-Jugoslawien in dem Fall Tadic' ausgeführt hat. So reduziert sich das Problem auf die Beweisfrage, ob diese Voraussetzungen im Verhältnis Al-Qaidas zu dem Afghanistan der Taliban vorgelegen haben. Weitaus eindeutiger ist die Ablehnung der so genannten Bush-Doktrin mit der Ankündigung präventiver Selbstverteidigung gegen Bedrohungen durch Terror und Massenvernichtungsmittel, auch wenn ein Angriff noch gar nicht erfolgt ist (sogenannte präemptive, vorbeugende Verteidigung). Dabei ist durchaus anerkannt, dass ein Staat nicht erst abzuwarten hat, bis die erste Angriffswelle sein Territorium erreicht, sondern - wie es Sir Humphrey Waldock schon Anfang der fünfziger Jahre formuliert hat - "wenn es überzeugende Beweise nicht nur von Drohungen und möglichen Gefahren, sondern eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs ("an attack beeing actually mounted") gibt, dann mag davon gesprochen werden, dass ein Angriff begonnen hat, obwohl er noch nicht die Grenzen überschritten hat". Zur Illustration: So berief sich die US-Administration 1962 zweifellos zu Recht auf Artikel 51 UNO-Charta, als sie eine Seeblockade gegen die sowjetischen Schiffe verhängte, um den Aufbau eines Raketensystems auf Kuba zu verhindern, während es nach wie vor äußerst strittig ist, ob Ägypten tatsächlich seine Angriffsvorbereitungen soweit vorangetrieben hatte, dass Israel einer Aggression mit einem eigenen Angriff, der am 5. Juni den so genannten Sechs-Tage-Krieg eröffnete, zuvorkam. Der Angriff Israels auf palästinensische Flüchtlingslager im Libanon am 2. Dezember 1975, um angeblichen Sabotageakten zuvorzukommen, wurde ebenso von allen Mitgliedstaaten der UNO als Aggression verurteilt wie die Zerstörung des noch im Bau befindlichen Nuklearreaktors Tamuz I in der Nähe von Bagdad im Jahr 1981, um die Produktion von Nuklearwaffen zu verhindern. Das bedeutet, dass nur unter den äußersten Umständen einer Angriffsdrohung eine "antizipatorische" bzw. präventive Selbstverteidigung mit den Grenzen des Artikel 51 UNO-Charta zu vereinbaren ist. Der israelische Völkerrechtler Yoram Dinstein beschränkt sie auf einen Angriff, "which is imminent and practically unavoidable", während andere sich auf die bereits 1841 von dem damaligen US-Außenminister Daniel Webster entwickelte Formel beziehen, der eine Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln dann für zulässig hielt, wenn sich ihre Notwendigkeit als "instant, overwhelming, leaving no choice of means and no moment of deliberation" erweist. Das Dilemma derartiger erweiternder und den klaren Wortlaut des Artikel 51 UNO-Charta ("if an armed attack occurs") transzendierender Interpretationen liegt in der Unklarheit ihrer Grenzen, die derzeit nicht wenige dazu verleitet, die traditionelle Dogmatik der Gewaltbegrenzung in der UNO-Charta aus den Angeln zu heben und sich hinter den machtpolitischen Fanfaren der Bush-Doktrin einzufinden. Wenn Israel gegenwärtig seine Liquidierungsstrategie der gezielten Tötung mutmaßlicher palästinensischer Terroristen als präventive Selbstverteidigung zu rechtfertigen versucht, so spiegelt das den befürchteten Zerfall ursprünglich klar umrissener Rechtsregeln wider. Die Wissenschaft ist dieser Entwicklung allerdings bislang nicht gefolgt und hält wie auch der IGH zu Recht an der restriktiven Fassung des Artikel 51 fest. Der Irakkrieg wird gemeinhin als erster Anwendungsfall der neuen Präemptiv-Doktrin gewertet, obwohl sich die USA nie ausdrücklich auf sie bezogen haben. Doch nimmt man die am häufigsten genannte Begründung, die Zerstörung der angeblich angesammelten Massenvernichtungswaffen, um einem Angriff zuvorzukommen, so ist das die gleiche Argumentation, mit der 1981 die Israelis die Zerstörung des Nuklearreaktors Tamuz I zu rechtfertigen versuchten und die seinerzeit mit der Stimme der USA vom Sicherheitsrat verurteilt wurde. Lassen wir einmal die fehlende Stichhaltigkeit der Begründung beiseite, von der die US-Administration offensichtlich selbst nicht überzeugt gewesen ist, so wird in der völkerrechtlichen Diskussion vollkommen ausgeblendet, dass die am 20. März 2003 begonnene Bombardierung nur das Schlusskapitel eines bereits über zehn Jahre dauernden unerklärten Krieges war. 1991, nach dem Ende des 2. Golfkrieges, hatten die USA, Frankreich und Großbritannien nördlich des 36. Breitengrades und südlich des 33. Breitengrades so genannte Flugverbotszonen für die irakische Luftwaffe verordnet, offiziell, um die aufständischen Kurden im Norden und die Schiiten im Süden zu schützen. Die Franzosen verließen aber alsbald die Allianz, als die regelmäßigen Bombardierungen irakischer Stellungen sich immer mehr als systematische Zerstörung des gesamtenLuftverteidigungssystems herausstellten, die Kampfeinsätze immer häufiger und schließlich täglich erfolgten und sich auch nicht mehr unbedingt an die selbst gesetzten Grenzen hielten. Die Berufung auf die Resolution 688 des UNO-Sicherheitsrats vom April 1991 zur völkerrechtlichen Legitimierung entbehrt nicht nur jeder Grundlage in ihrem Text, sondern widerspricht der in ihr ausgesprochenen Aufforderung an alle Staaten, die irakische Souveränität zu respektieren. Die bedauerliche Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat sich niemals erkennbar mit diesem massiven Verstoß gegen die UNO-Charta auseinander gesetzt hat, bedeutet nicht eine Legitimierung der Angriffe, sondern verweist nur auf das politische Kräfteverhältnis im Sicherheitsrat. Neue Kriege - neues Recht? Man mag darüber klagen, dass die Berufung auf völkerrechtliche Prinzipien der UNO-Charta, auf Konventionen und Resolutionen der UNO-Organe zur billigen Münze verkommen ist. Die Tendenz der amerikanischen Politik, sich aus völkerrechtlichen Verpflichtungen zurückzuziehen oder offen gegen sie zu agieren, hat sich schon unter der Clinton-Administration gezeigt. Sie hat sich unter der Bush-Regierung nur verstärkt und insbesondere nach dem 11. September mit der territorial und zeitlich unbegrenzten Kriegserklärung an alle Staaten und Gruppen, die von den USA in einen Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus gebracht werden, zu einem imperialen Herrschaftsanspruch radikalisiert. "Wir befinden uns in einer neuen Art von Krieg", antwortete Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice auf die Frage nach der Predator-Rakete im Jemen, "und wir haben vollkommen klar gemacht, dass es wichtig ist, dass diese neue Art von Krieg auf verschiedenen Schlachtfeldern ausgefochten wird". Die Kriege werden also weltweit stattfinden und notfalls auch ohne völkerrechtliche Legitimation. Präsident Bush hat zwar wiederholt seine Absicht bekundet, die UNO und ihre Charta zu berücksichtigen, er hat aber nie einen Zweifel daran gelassen, notfalls auch ohne eine völkerrechtliche Basis seine Ziele zu verfolgen. Die offene Verletzung der Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977 hat nicht nur die rechtlose Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen in Guantana'mo-Bay und die Folterungen der Gefangenen im Abu Ghraib-Gefängnis zu einem weltweit kritisierten Skandal gemacht. Hinter diesen Abnormitäten werden in den Medien die täglichen Verletzungen der Genfer Regeln durch die amerikanischen und britischen Truppen offensichtlich zur Folklore des Besatzungsalltags gerechnet, ohne sich über die Grenzen und Pflichten der Besatzung Rechenschaft abzulegen. Dieselbe Gewöhnung hat sich auch bei der systematischen Missachtung der Genfer Konventionen und Protokolle in Palästina eingestellt, deren faktische Negation fester Bestandteil der israelischen Besatzungspolitik seit Jahrzehnten ist und nur durch die Unterstützung seitens der US-Administration möglich wird. Palästina ist der Name für ein Territorium, in dem das Völkerrecht faktisch keine Geltung mehr hat. Wir können davon ausgehen, dass die militärischen Auswirkungen all dieser groben Missachtungen des Völkerrechts im Wesentlichen nur die Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, und dort auch nur die Schwächeren, zu befürchten haben. Auf der anderen Seite werden aber die USA diesen Staaten nie die gleiche Freiheit im Umgang mit der UNO-Charta und den allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts erlauben. Die Gefahr besteht ferner, dass sich neben Großbritannien und Polen in Zukunft die meisten Staaten der EU als Profiteure einem solchen "Schurkensystem" anschließen und unterwerfen und mittels verstärkter Interventionspraxis allmählich das UNO-System der Friedenssicherung vom absoluten Gewaltverbot des Artikel 2 Ziffer 4 "befreien" werden. Sie werden dazu nicht den in der Charta vorgezeichneten Weg der Änderung des Textes gemäß Art. 108 gehen können, weil sie dafür nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung erhalten werden. Eine wiederholte Praxis in der Absicht, "humanitäre", "demokratisierende" und "präventive" Interventionen im Rahmen des allgegenwärtigen Antiterrorkampfes als neue Ausnahmen vom Gewaltverbot führen zu müssen, kann zweifellos eine gewohnheitsrechtliche Änderung des Kapitels VII der UNO-Charta auch ohne eine ausdrückliche Änderung des Textes bewirken. Die Forderungen nach einer Modernisierung des Völkerrechts gehen derzeit zweifellos eher dahin, die völkerrechtlichen Regeln an die neuen Formen der Gewaltanwendung anzupassen, als umgekehrt Letztere wieder den alten Grenzen der UNO-Charta zu unterwerfen. Als Ersatz für das bewusst demontierte Gewaltmonopol der UNO wird seine Übereignung an den stärksten Staat immer unbefangener diskutiert. Gewohnheitsrecht ist die Garantie für die Dynamik und Aktualität des Völkerrechts. Es bedarf zu seiner Rechtsgeltung einer gewissen Zeit und des Willens der Staaten, welche die neue Praxis gegen die alte Ordnung durchsetzen wollen, neues Recht zu setzen und selbst dadurch in Zukunft gebunden zu sein. Sie werden es nicht gegen eine Mehrheit widerstrebender Staaten durchsetzen können. Andererseits leben wir noch nicht in einer Weltordnung, in der eine einzige Supermacht über Inhalt und Entwicklungsrichtung des Völkergewohnheitsrechts entscheidet. Aber es gibt genügend Beispiele dafür, dass ein gezielter Rechtsbruch allmählich die Mehrheiten der Staaten hinter sich gebracht und damit neues Recht geschaffen hat. Leider haben weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung es vermocht, eine eindeutige Position gegen die Erosion des Kapitels VII der UNO-Charta zu beziehen, obwohl zweifellos eine deutliche Mehrheit ihrer Mitgliedstaaten diese Entwicklung, wie sie dann im Irakkrieg eskalierte, ablehnt. Und so bleibt uns nur der Optimismus des US-amerikanischen Philosophen John Rawls, der selbst "Schurkenstaaten" für nicht vollständig indifferent gegenüber Kritik hält, "besonders dann nicht, wenn Letztere auf einem vernünftigen und wohl begründeten Recht der Völker beruht, das nicht ohne weiteres als eine liberale und westliche Idee abgetan werden kann. Nach und nach mögen wohlgeordnete Völker auf diese Weise Schurkenstaaten dazu bewegen, sich zu ändern". Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München-Wien 2003, S. 463. So vor allem in der National Security Strategy vom September 2002. Vgl. Michael J. Glennon, How War Left the Law Behind, in: New York Times vom 21. 11. 2002, S. A 33; ders., Showdown at Turtle Bay. Why the Security Council Failed, in: Foreign Affairs, (May/June 2003), S. 3 ff. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München-Wien 1996. Vgl. Norman Paech, Krieg der Zivilisationen oder Dritte Dekolonisation?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1994) 3, S. 310ff. Zit. in: Frank Deppe, Die Risiken der "neuen Weltordnung" und die neue Strategie der NATO, in: Supplement der Zeitschrift "Sozialismus", (1999) 10, S. 5 ff. Samuel P. Huntington, Die einsame Supermacht, in: Foreign Affairs, (March/April 1999), zit. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1999) 5, S. 548ff., hier S.550. Vgl. die ehemaligen Clinton-Mitarbeiter Robert Asmus/Kenneth M. Pollack, Transformation des Mittleren Ostens. Das neue transatlantische Projekt, in: Policy Review, 115 (Sept./Oct. 2002), zit. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2002) 12, S. 1457ff. Hobsbawm nennt ihre Protagonisten nicht zu Unrecht "Scharlatane des Kriegs gegen den Terrorismus" (Anm. 1), S. 467. Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Herrschaft ohne Hegemonie?, in: Das Argument, 249 (2003), S. 11ff., 16. Vgl. zu den unmittelbaren Ölinteressen Michael Ehrke, Erdöl und Strategie - Zur politischen Ökonomie eines angekündigten Krieges, in: Internationale Politik und Gesellschaft, (2003) 1, S. 9 ff.; Volker Nienhaus, Kosten eines Irak-Krieges: Wirtschaftliche und politische Aspekte, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften, (2003) 16, S. 10ff.; Heiner Dürr, Öl - M(m)acht - Raum - geopolitische Optionen, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften, (2003) 16, S. 14ff. Vgl. Markus Kotzur, "Krieg gegen den Terrorismus" - politische Rhetorik oder neue Konturen des "Kriegsbegriffs" im Völkerrecht?, in: Archiv des Völkerrechts, 40 (2002), S. 454ff. Vgl. Thomas M. Franck, Who killed Article 2 (4)? Changing Norms Governing the Use of Force by States, in: American Journal of International Law (AJIL), 64 (1970), S. 809ff. Jean Combacau, The Exception of Self-Defense in U.N. Practice, in: Antonio Cassese (Hrsg.), The Current Legal Regulation of The Use of Force, 1986, S. 32ff. M. J. Glennon, How War Left ... (Anm. 3). Ähnlich auch Sybille Tönnies, Cosmopolis now. Auf dem Weg zum Weltstaat, Hamburg 2002, S.91. Vgl. Norman Paech, Das Versprechen von Nürnberg: Zur Aktualität der Prozesse nach fünfzig Jahren, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, (1997) 3, S. 12ff. IGH Military and Paramilitary Activities in and Against Nicaragua (Nicaragua v. USA), 1986 ICJ Reports 14, para. 186. Weitere Beispiele bei Mary Ellen O'Connell, Re-Leashing The Dogs of War, in: AJIL, 97 (2003), S. 446ff.; vgl. auch Norman Paech/Gerhard Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den Internationalen Beziehungen, Hamburg 2001, S. 316ff. Vgl. Christian Tomuschat, Iraq - Demise of International Law?, in: Die Friedens-Warte, 78 (2003), S. 141ff. Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2002, und die dort zitierte Literatur. Vgl. Werner Ruf, Zurück zur Anarchie? Die Demontage des UN-Systems seit dem Ende der Bipolarität, in: Z, 50 (2002), S. 7 ff.; Daniel Thürer, Mehr als nur ein Gewaltverbot. Von der komplexen Gestalt des Völkerrechts, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 25. 6. 2004; Tobias Debiel, Souveränität verpflichtet: Spielregeln für den neuen Interventionismus, in: Internationale Politik und Gesellschaft, (2004) 3, S. 61ff.; Herfried Münkler, Angriff als beste Verteidigung? Sicherheitsdoktrinen in der asymmetrischen Konstellation, in: ebd., S. 22ff.; Stefan Mair, Intervention und "state failure": Sind schwache Staaten noch zu retten?, in: ebd., S. 82ff. Vgl. den Report der von der kanadischen Regierung eingesetzten International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), The Responsibility to Protect, Ottawa 2001, der zu einer Standard-Referenz zahlreicher neuerer "Zukunfts"-Überlegungen geworden ist. Vgl. etwa das Memorandum der Heinrich Böll Stiftung, Die Zukunft des Völkerrechts und der VN in einer globalisierten Welt. Sicherheitspolitische Herausforderungen an die Internationale Ordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Berlin 2004. Vgl. Daniel Thürer, Der "zerfallene Staat" und das Völkerrecht, in: Die Friedens-Warte, 74 (1999), S. 275ff.; S. Mair (Anm. 21); Lee Feinstein/Anne-Marie Slaughter, A Duty to Prevent, in : Foreign Affairs, (January/February 2004). Über die erheblichen Zweifel daran vgl. Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Konflikt. Die Zeit von Ende 1997 bis März 1999, Baden-Baden 2000; Dieter S. Lutz, Krieg nach Gefühl. Manipulationen: Neue Zweifel am Kosovo-Einsatz im Kosovo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 15. 12. 2000, S. 12. Res. 2625 (XXV) der UN-Generalversammlung vom 24.10. 1970: Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen. IGH (Anm. 17), par. 268. UK Foreign Office Policy Document No. 148, in: British Yearbook of International Law, 57 (1986), S. 614. Vgl. Brad R. Roth, Bending the Law, breaking it, or developing it? The United States and the humanitarian use of force in the post-cold war era, in: Michael Byers/Georg Nolte (Hrsg.), United States Hegemony and the Foundations of International Law, Cambridge 2003, S. 242. Vgl. Marcello G. Kohen, US Use of Force after the Cold War, in: M. Byers/G. Nolte, ebd. , S. 219. So die heute fast einhellige Meinung in der Völkerrechtswissenschaft. Vgl. B. R. Roth (Anm. 28); M. G. Kohen, ebd.; Antonio Cassese, Ex iniuria ius oritur: Are We moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, in: European Journal of International Law, 10 (2000) 1, S. 24ff.; August Pradetto, Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 11/99, S. 26ff.; Christine Gray, International Law and the Use of Force, New York 2000, S.42; Dieter Deiseroth, Die "humanitäre Intervention" und das Völkerrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), (1999), S. 3084ff.; Norman Paech, "Humanitäre Intervention" und Völkerrecht, in: Ulrich Albrecht/Paul Schäfer (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg, Köln 1999, S. 82ff. So z.B. bezüglich des Jugoslawien-Krieges die Goldstone Commission, Independent International Commission on Kosovo, Kosovo Report 2000; D. Thürer (Anm. 21). Die Präsidentin der American Society of International Law, Anne-Marie Slaughter, fand den Irak-Krieg zwar illegal, aber doch legitim: Good reasons for Going Around the U.N., in: International Herald Tribune vom 19. 3. 2003. So B. R. Roth (Anm. 28), S. 232ff., 250 ff. Vgl. Neue NATO-Strategie, Washington, D. C. vom 23./24. 4. 1999. Deutsche Fassung in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, (1999) 24, S. 221ff. Kriseninterventionen bei "ethnischen und religiösen Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichenden oder fehlgeschlagenen Reformbemühungen, die Verletzung von Staaten" (Ziff. 20) sowie bei "Akte(n) des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen" (Ziff. 24). Vgl. UNSR Res. 688 vom 5.April 1991. Vgl. UNSR Res. 794 vom 3. 12. 1992. Vgl. zu beiden Fällen Hans-Joachim Heintze, Interventionsverbot, Interventionsrecht und Interventionspflicht, in: Erich Reiter (Hrsg.), Maßnahmen zur internationalen Friedenssicherung (Forschungen zur Sicherheitspolitik 3), Graz 1998, S. 163ff. So die Flüchtlingsströme im Falle des Iraks und die "Größe der menschlichen Tragödie" im Falle Somalias, einem typischen "failed state". Vgl. T. Debiel (Anm. 21), S. 73ff. Von der kollektiven Ausübung einer "duty to prevent" gehen auch L. Feinstein/A.-M. Slaughter (Anm. 23) aus, wobei sie sich allerdings nicht zur Rolle der UNO äußern. Die so genannte Bush-Doktrin: "Die USA werden nicht nur präemptiv und unilateral militärische Gewalt ausüben, wann und wo sie es wollen, die Nation wird auch diejenigen bestrafen, die sich an Terror und Aggression beteiligen, und werden daran arbeiten, universell den moralischen Unterschied zwischen Gut und Böse klarzustellen", in: Washington Post vom 2. 6. 2002, A01. Vgl. www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf. Teilweise deutsche Übersetzung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2002) 11, S. 1391ff., und ebd., (2002) 12, S. 1505ff. Vgl. M. E. O'Connell (Anm. 18); Hans-Joachim Heintze, Das Völkerrecht wird unterschätzt: internationale Antworten auf den Terrorismus, in: Internationale Politik und Gesellschaft, (2004) 3, S. 38ff., 52ff. Ablehnend allerdings nach wie vor M. G. Kohen (Anm. 29), S. 204ff. Vgl. Antonio Cassese, Terrorism is Also Disrupting Some Crucial Categories of International Law, in: European Journal of International Law, (2001) 12, S. 995ff.; Georg Nolte, Die USA und das Völkerrecht, in: Die Friedens-Warte, 78 (2003), S. 119ff., 127ff. Vgl. H.-J. Heintze (Anm. 40), S. 52ff. Die zwar nicht verbindliche, aber doch maßgebliche Aggressionsdefinition der Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung vom 14. 12. 1974 versteht in Artikel 3 unter "bewaffnetem Angriff" nicht nur den "Überfall auf oder den Angriff gegen das Territorium eines anderen Staates", sondern auch "die von einem Staat veranlasste Entsendung bewaffneter Banden oder Gruppen, Irregulärer oder Söldner, die bewaffnete Gewalt gegen einen Staat von solcher Schwere anwenden, die den aufgelisteten Handlungen gleichkommen, oder die maßgebliche Verquickung dieses Staates darin." Vgl. Véronique Zanetti, Nach dem 11. September: Paradigmenwechsel im Völkerrecht?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50 (2002), S, 455ff., 465; Gregor Schirmer, Völkerrecht und Durchsetzung von Menschenrechten, in: Topos, (2003) 21, S. 55ff., 73. Die Fraktion der PDS im Bundestag hat im Frühjahr 2002 den Antrag gestellt, die Bundesregierung aufzufordern, den am 4. 10. 2001 von der NATO nach Artikel 5 NATO-Vertrag beschlossenen Bündnisfall für beendet zu erklären, da es keine Verteidigungssituation mehr gebe, in: BT-Drucksache, 14/8664. Der Antrag wurde abgelehnt. Vgl. Thomas Bruha/Matthias Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung, in: Vereinte Nationen, 46 (2001), S. 166. ICTY Tadic' vom 15. 7. 1999, No. IT-94 - 1-A, par. 137. Auch der IGH hat in seinem Nicaragua-Urteil die Aktivitäten der Contras nicht den USA zugerechnet, weil diese "keine effektive Kontrolle" über die Contras gehabt hätten, IGH (Anm. 17), par. 114, 115. Dies wird u.a. von M. E. O'Connell (Anm. 18) und Christian Tomuschat, Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), 28 (2001), S. 535ff., bejaht. Vgl. Mary Ellen O'Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, in: Task Force Papers The American Society of International Law, (August 2002); Horst Fischer, Zwischen autorisierter Gewaltanwendung und Präventivkrieg: Der völkerrechtliche Kern der Debatte um ein militärisches Eingreifen gegen den Irak, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften, (2003) 16, S. 4 ff.; Dietrich Murswieck, Die amerikanische Präventivstrategie und das Völkerrecht, in: NJW, (2003) 14, S. 1014ff. C. Humphrey M. Waldock, The Regulation of the Use of Force by Individual States in International Law, in: Recueil des Cours 1952 II, S. 451, 498. Vgl. Myres McDougal, The Soviet-Cuban Quarantine and Self-Defense, in: AJIL, 57 (1963), S. 597ff., 600f. So z.B. Chr. Tomuschat (Anm. 19), S. 147. Dagegen ist M. E. O'Connell (Anm. 48), S. 9 der Ansicht, dass Israel keineswegs überzeugende Beweise für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hatte. Einstimmige Verurteilung durch den Sicherheitsrat als klare Verletzung der UNO-Charta, Res. 487 (1981). So rechtfertigt z.B. auch nicht der Erwerb von Massenvernichtungswaffen die Anwendung des Selbstverteidigungsrechts dagegen. Yoram Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, Cambridge 2001, S. 172; Peter Malanczuk, Akehurst's Modern Introduction to International Law, London-New York 1997, S. 312ff. Vgl. zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der sogenannten Caroline-Formel Abraham D. Sofaer, On the Necessity of Pre-Emption, in: European Journal of International Law, 14 (2003), S. 209ff., 214ff., der sie noch zu eng findet. So z. B. neben A. D. Sofaer (Anm.54) und M. J. Glennon (Anm.3) auch W. Michael Reisman, International Legal Responses to Terrorism, in: Houston Journal of International Law, 22 (1999) 4, S. 17ff.; Armin A. Steinkamm, Der Irak-Krieg - auch völkerrechtlich eine neue Dimension. Unumgängliche Diskussion über das Recht der präventiven Verteidigung, in: NZZ vom 16. 5. 2003; Karl-Heinz Kamp, Von der Prävention zur Präemption?, in: Internationale Politik, (2002) 12, S. 19ff.; ders., Die Bedrohung bekämpfen, bevor sie akut wird, in: Frankfurter Rundschau (FR) vom 4. 2. 2004; FAZ vom 29. 4. 2003, S. 2. Vgl. Antonio Cassese, Artikel 51, in: Jean-Pierre Cot/Alain Pellet, La Charte des Nations Unies, Paris 1991, S. 776ff.; Albrecht Randelzhofer, Artikel 51, in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, München 2002, Rdnr. 39f. Vgl. z.B. das Eingeständnis des stellvertretenden US-Außenministers Paul Wolfowitz am 9. 5. 2003 in Vanity Fair und die offen geäußerten Zweifel des Nachrichtendienstes des US-Verteidigungsministeriums, in: FAZ vom 7. 6. 2003, S. 6. Vgl. Horst Bacia, Der Irak-Krieg hat schon begonnen, in: FAZ vom 11. 3. 2003. Vgl. Nicole Deller/Arjun Makhijani/John Burroughs (Hrsg.), US-Politik und Völkerrecht, Münster 2004. Zit. in: M. E. O'Connell (Anm. 18), S. 454. Präsident Bush im September 2002 vor den Vereinten Nationen, in: New York Times vom 23. 9. 2002, S. A 10. Vgl. Johan Steyn, Guantánamo Bay: the Legal Black Hole, British Institute of International and Comparative Law and Herbert Smith, Lincoln's Inn Old Hall vom 25. 11. 2003; Eberhard Schultz, Endstation Guantánamo, in: FR vom 22. 4. 2004, S. 9; Gerhard Stuby, Rückkehr des Rechts nach Guantánamo?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2004) 8, S. 918ff. Vgl. Rüdiger Wolfrum, Genfer Recht und Bagdader Realität, in: FAZ vom 28. 5. 2004, S. 8. Die offizielle israelische Begründung bestreitet die Anwendbarkeit der Genfer Konventionen auf die besetzten Gebiete, da die Konventionen nur zwischen Staaten Gültigkeit hätten, der Status der palästinensischen Gebiete vor der Besatzung aber unklar gewesen sei. Zudem verbiete Artikel 49 der IV. Genfer Konvention nur die zwangsweise, nicht aber die freiwillige Besiedlung des besetzten Gebietes. Vgl. Ruth Lapidoth, Israel and the Palestinians: Some Legal Issues, in: Die Friedens-Warte, 76 (2001), S. 211ff. Vgl. Norman Paech, Das Palästina-Problem vor den Vereinten Nationen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1998) 5, S. 604ff.; Ardi Imseis, Facts on the Ground: An Examination of Israeli Municipal Policy in East Jerusalem, in: American University International Law Review, (Spring 2000), S. 1040ff. Jüngstes Beispiel sind die Reaktionen der israelischen Regierung auf das Gutachten des IGH über den Grenzwall auf palästinensischem Gebiet. Im Sinne von John Rawls, der Regime, die "es ablehnen, sich an ein vernünftiges Recht der Völker zu halten", und "es für einen hinreichenden Kriegsgrund (halten), dass ein Krieg ihre rationalen (aber nicht vernünftigen) Interessen fördert oder zu fördern vermag", als "Schurkenstaaten" bezeichnet. John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin-New York 2002, S. 114f. Vgl. für die "humanitäre Intervention" A. Cassese (Anm. 30); für das Selbstverteidigungsrecht K. M. Meessen, Selbstverteidigung als werdendes Völkergewohnheitsrecht, in: NZZ vom 18. 2. 2003. Bedenklicher ist Daniel Thürers Plädoyer für einen "konstitutionellen Ansatz der Interpretation", um in der Zwickmühle von Moral und Recht die "formale Legalität" zu überwinden. D. Thürer, Comments on Chapter 7 and 8 (Use of force), in: M. Byers/G. Nolte (Anm. 28), S. 278f. Vgl. Stephen Toope, Powerful but unpersuasive? The role of the United States in the evolution of customary international law, in: M. Byers/G. Nolte (Anm. 28), S. 287ff., sowie Achilles Skordas, Hegemonic customs?, in: ebd., S. 317ff. So z.B. die Festlandsockelproklamation von US-Präsident Harry S. Truman im Jahre 1945, wonach die Naturschätze des Schelfs vor der amerikanischen Küste den USA gehören, und die Einrichtung der ausschließlichen Wirtschaftszone im Küstenmeer über 200 Seemeilen, die später im Seerechtsübereinkommen, welches 1994 in Kraft getreten ist, übernommen und rechtlich verallgemeinert wurden. J. Rawls (Anm. 66), S. 118.
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Paech, Norman
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28038/epochenwechsel-im-voelkerrecht/
Der Krieg gegen Afghanistan und den Irak hat den Nahen und Mittleren Osten verändert und die Friedensregeln des UN-Systems ins Wanken gebracht. Das Prinzip des Gewaltverbots gilt nicht mehr als Tabu.
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Perspektiven auf die Identitätsthematik | Fachtagung "Was ist Identität?“ | bpb.de
Lob der operativen Identitätsfragen Die Überlegungen Ludwig Wittgensteins zu diesem Thema: "Beiläufig gesprochen: Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts“, schätzte Nassehi als falsch ein. Bezüglich des Postulats, dass von Dingen die Identität zu behaupten Unsinn sei, verwies er darauf, dass es auf die Hinsicht ankomme, unter der man Identität betrachte. Kaufe jemand beispielsweise einen Gegenstand neu, den er vorher verloren hatte, wäre es absurd zu behaupten er hätte nicht wieder den gleichen Gegenstand. Aber auch Wittgensteins Diskreditierung der Aussage, dass etwas mit sich identisch sei, bezeichnete Nassehi als "bullshit“. So sei er einerseits heute bayrischer Staatsbeamter und habe, andererseits vor einigen Jahren in NRW sein Abitur gemacht. Trotzdem sei er mit sich identisch. Das, was in Wittgensteins Diktion als sinnlos zu bezeichnen sei, richte sich auf rein ontologische Identitätsfragen, also Fragen danach, was etwas ist (z.B. Identität). Es gelte "umzuschalten“ auf operativen Identitätsfragen: Es müsse gefragt werden, "wie auf einer ontologischen Ebene etwas zu etwas wird, das man so bezeichnen kann, wie wir es bezeichnen,“ und zweitens, wie etwas, das von uns oder von sonst wem so bezeichnet wird, dann bezeichnet wird. Schließlich bestimme die Bezeichnung bereits die Identität. Eine neue Bezeichnung im Berufsleben verändere beispielsweise oft schon das Verhalten von der oder dem Bezeichneten. Die getroffene Unterscheidung verlaufe parallel zu der in der Soziologie getroffenen Unterscheidung von Struktur und Semantik. Ersteres verweise darauf, was wirklich passiert, während letzteres darauf abhebe, wie dies in der Gesellschaft reflektiert wird. Dementsprechend müsse gefragt werden, auf welches (strukturelle) Problem die Debatten um die Identität eine Lösung geben. Das Prekär-Werden der Identität Im klassischen Problem rührt das Interesse an "Identität“ vom Prekär-Werden der mit sich identischen Substanz. Beispielsweise könne einem Menschen in der Moderne nicht mehr direkt angesehen werden wer er ist – seine Identität wird prekär: "Prekär werden die Dinge dann wenn man sie befragt.“ Das Prekär-Werden der individuellen Substanz des Menschen nehme seinen Ausgang mit der modernen Bewusstseinsphilosophie – nämlich mit der Frage, wie die Reflexion des 'Ich' ein 'Ich' voraussetzen kann, um auf ein 'Ich' zu kommen. Hegel kritisierte diese Atomistik Kants in der Art und Weise, dass wir die Substanz des "besonderen individuellen Ich nur beschreiben können, wenn wir die Atomistik aufheben“ – eine Aufgabe die dem Staat als bürgerliche Gesellschaft zukomme, da dort jeder einen Ort habe. Habermas schließt im 20. Jahrhundert an diese Überlegung an, wenn er fragt, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können. Dies ließe sich, so Nassehi, nur fragen, wenn die Gesellschaft als befragbar vorausgesetzt wird. Somit impliziere es auch, dass die Gesellschaft den Atomismus aufheben kann. Handelt es sich bei der postulierten Identität von Gesellschaft um eine kollektive? Was bestimmt beispielsweise die 'deutsche Identität'? Genügt der deutsche Pass? Obwohl die konkreten Kriterien für Identität in diesem Fall nicht benannt werden können, funktioniert sie als Bezeichnung. Lösungen? Als ersten Lösungsversuch stellte Nassehi die Überlegungen des Pädagogen Eric H. Ericson vor. Dieser konstatiert in Bezug auf amerikanische Jugendliche mit Identitätsproblem, dass der geheilte Patient imstande sein wird, "die Diskontinuität des amerikanischen Lebens und die polaren Spannungen in seinem eigenen Kampfe um eine wirtschaftliche und kulturelle Identität ins Auge zu fassen, nicht als eine von außen auferlegte feindliche Realität, sondern als potentielles Versprechen einer universaleren kollektiven Identität.“ Vulgo: mit dem Bekenntnis zum Kollektiv werde alles gut. Dieser autoritär anmutende Ansatz, fügte Nassehi an, setze dabei eine Imagination der Gesellschaft als mit sich selbst identischem Kollektiv voraus. Im ideengeschichtlichen Verlauf erwidert dem die postmoderne Kritik, dass mit Begriffen Dinge für identisch gehalten werden, die nicht identisch sind. Begriffe schaffen Kollektivität entgegen dem faktischen Bestehen. So gelinge es etwa, die Einzelheit der Zuschauer anhand des Begriffs "Publikum“ zu einer Kollektivität zu fabrizieren. Derridas ("falsch“ geschriebene) différance illustriere dies in besonderer Weise. Phonetisch gleich zu dem Wort différence kann der Unterschied nur gesehen, nicht aber gehört werden. Die Bezeichnung bezeichnet etwas, das durch die Bezeichnung hervorgebracht wird, und das Bezeichnete verschwindet hinter der Bezeichnung. Die Identität wird qua Aussage erzeugt. Diese Überlegungen würden oft auch als Gesellschaftskritik verwendet, wie sie sich etwa in Judith Butlers Ethik der Differenz niederschlägt. Nassehi argumentierte allerdings, dass eine einfache Umkehr der Verhältnisse noch nichts verändere, da die Differenz dann lediglich zum Identitätsmarker werde – es gelte das Dritte zu Denken. Einen vielversprechenderen Lösungsansatz sieht er in der phänomenologischen Theorie Edmund Husserls. Dieser dekonstruiere die Bewusstseinsphilosophie, indem er aus einem logischen ein operationales bzw. empirisches Problem machte: Er fragte, wie das Bewusstsein funktioniere. Laut Husserl besteht das Bewusstsein aus urimpressionalen Gegenwarten, die von einander nichts wissen können. Dies macht deutlich, dass das Bewusstsein während der Operation nicht auf sich reflektieren kann. Erst im Nachhinein ist dies möglich. Beispielsweise ist es nicht möglich sich einen Gedanken vorzunehmen, da dafür bereits ein Gedanken notwendig ist: Erst durch eine "Erfahrungsaufschichtung“ bilde das Bewusstsein eine Struktur aus. Es entstehe eine operative Identität sowie ihre Dekonstruktion, da die Reflexion auf es bereits eine Konstruktion sei Benennung und Kontinuität Im Kontext dieser Überlegungen diagnostizierte Nassehi, dass moderne Gesellschaften vor allem durch das Bezugsproblem gekennzeichnet seien. Dies bestehe einerseits im Benennungsproblem, was konkret die Debatten darüber meint, wie über andere gesprochen werde. So polarisiere die AfD vor allem, indem sie falsche Benennungen vornehme. Andererseits gebe es ein Kontinuitätsproblem, das darin bestehe, dass moderne Gesellschaften für niemanden einen festen Platz vorsähen. Dem folgend haben sie somit das Problem, dass sie kein solides bzw. unverhandelbares Kollektiv sind, sondern unterschiedliche Andockstellen bereitstellen, zu denen sich jedoch jeder seinen eigenen Weg ebnen muss. Die Nichtidentität moderner Gesellschaften bedingt sich dabei erstens aus dem Phänomen der "verteilten Intelligenz“, was bedeutet, dass in einer funktionell differenzierten Gesellschaft die Wechselwirkung unterschiedlicher Dynamiken (z.B. ökonomische, wissenschaftlich, religiöse etc.) eine eindeutige Beschreibbarkeit der Gesellschaft verunmöglichen. Zweitens ist die Individualisierung zu nennen, die dafür sorgt, dass alles, was wir tun, auf das Selbst angerechnet wird, sowie drittens die "Multiinklusion“, mit der ein Zwang verbunden ist, in verschiedenen Foren einer Gesellschaft erfolgreich zu sein (Familie, Beruf etc.). Nassehi deutete die Identitätsdiskurse als Antwort auf diese Differenzerfahrungen: wenn keine Identität besteht, muss eben eine artikuliert werden. Identitätspolitische Shortcomings Daran anknüpfend stellte er drei "identitätspolitische Shortcomings“ vor: Erstens verschärfe derjenige, der den Identitätszumutungen der identitätspolitischen Debatte auf den Leim gehe, das identitätspolitische Problem. Zweitens seien Diskurse über Identität immer Ausdruck struktureller gesellschaftlicher Probleme. Die vermehrt auftretende Debatte um die Identitätsfrage könne als Antwort auf eine gesellschaftliche Krise verstanden werden. Dabei sei drittens "Differenz“ nicht die Lösung für "Identität“, sondern verschärfe das "Identitäts“-Problem. Im Gespräch mit der Bundeszentrale für politische Bildung hob Nassehi jedoch hervor, dass sein Argument nicht darauf abziele, dass das Thema Identität oder Differenz aus dem Diskurs ausgeschlossen werde. Er stellte eher die Frage, wie sich die Differenzen dethematisieren lassen. So verwies er in Bezug auf Europa darauf, dass dieses das Ergebnis verschiedener Migrationsströme sei, die lediglich in Vergessenheit geraten sind. Auch vermutet er, dass die Migration türkischer 'Gastarbeiter', ohne die Debatten um die s.g. 'Flüchtlingskrise', heute weniger präsent wäre. Von diesem Standpunkt aus sind Identitätspolitiken nicht die Lösung, sondern ein Symptom der Krise moderner Gesellschaften. von Simon Clemens Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus (1922). 5.5303. Kants ‚Atomistik‘ kann in diesem Zusammenhang als solipsistische Bewusstseinstheorie verstanden werden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-08-01T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/273516/perspektiven-auf-die-identitaetsthematik/
Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, begann seinen Vortrag mit einer Reflexion über den Titel der Fachtagung: "Was ist Identität?". Identitätsfragen – egal zu welchen Themenkomplexen – hätten das Prob
[ "Armin Nassehi", "Soziologie", "Identität", "kulturelle Bildung" ]
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Elisabeth Selbert (SPD) | Grundgesetz und Parlamentarischer Rat | bpb.de
Im Parlamentarischen Rat Foto: Haus der Geschichte / Bestand Erna Wagner-Hehmke Trotz ihrer hohen Qualifikation und der Fürsprache des SPD-Parteivorstands lehnen es die hessischen Sozialdemokraten im Sommer 1948 ab, Elisabeth Selbert in den Parlamentarischen Rat zu entsenden. Schließlich sorgt der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher dafür, dass sie als wichtigste weibliche Rechts- und Verfassungsexpertin der Partei vom Niedersächsischen Landtag ein Mandat erhält. In Bonn ist sie Mitglied des Ausschusses für Organisation des Bunds sowie Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege und nach dessen Teilung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege. Ihr Hauptaugenmerk gilt zunächst Fragen der Staatsorganisation, speziell der Rechtspflege. Im Mittelpunkt steht für sie das Leitbild eines der demokratischen Verfassung gegenüber verantwortlichen Richters anstelle eines wertneutralen Gesetzesinterpreten. Als sich abzeichnet, dass die Gleichberechtigung der Frau nur als staatsbürgerliche Gleichheit garantiert werden soll, rückt diese in den Vordergrund ihres Wirkens. Ihr Vorschlag mit der klaren Formulierung "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" wird zunächst von der Mehrheit abgelehnt. Erst nach einer von ihr mitinitiierten Öffentlich-keitskampagne der Frauenorganisationen übernimmt der Hauptausschuss Mitte Januar 1949 ihren Vorschlag. Biografie Geboren am 22. September 1896 in Kassel, gestorben am 9. Juni 1986 in Kassel, evangelisch. Elisabeth Selbert, geb. Rohde, stammt aus einem kleinbürgerlich-mittelständischen Milieu. Nach dem Besuch der Mittelschule in Kassel seit 1913 Auslandskorrespondentin, seit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 bei der Reichspost im mittleren Telegrafendienst. 1920 Heirat mit dem Buchdrucker Adam Selbert, einem aktiven Sozialdemokraten, unter dessen Einfluss sie sich 1918 der SPD anschließt. 1919-1927 Mitglied des Gemeindeparlaments von Niederzwehren bei Kassel. Nach der Geburt zweier Söhne 1926 Externenabitur. Danach Studium der Rechtswissenschaft in Marburg an der Lahn und in Göttingen. 1929 Erstes Juristisches Staatsexamen. 1930 Promotion zum Ehe- und Familienrecht in Göttingen. Herbst 1934 Assessorexamen, anschließend Rechtsanwältin in Kassel. Oktober 1943 Totalausbombung, 1944 Umzug nach Melsungen. Nach Kriegsende Fortsetzung der Anwaltstätigkeit in Kassel. Aktiv am Wiederaufbau der SPD und der Arbeiterwohlfahrt beteiligt. Ab 1945 im SPD-Bezirksvorstand, ab 1946 im SPD-Parteivorstand. 1946-1952 Mitglied der Kasseler Stadtverordnetenversammlung. 1946 Abgeordnete der Verfassungberatenden Landesversammlung Groß-Hessens, persönliche Schwerpunkte: Neugestaltung der Rechtspflege und der Wirtschaftsordnung. 1946-1958 Mitglied des Hessischen Landtags. Ihre Bemühungen um ein Bundestagsmandat und um hohe Richterämter scheitern nicht zuletzt an innerparteilichen Widerständen. 1958 endgültiger Rückzug aus allen Ämtern. Danach widmet sie sich weiter der Anwaltstätigkeit. Durch die Frauengeschichtsforschung der 1980er Jahre wird ihr Wirken umfassend aufgearbeitet. Kein anderes Mitglied im Parlamentarischen Rat hat auch nur annähernd so viel literarische Aufmerksamkeit gefunden, wie die Rechtsanwältin aus Kassel. Nachlass: Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel. [Interner Link: Zurück zur Übersicht] Foto: Haus der Geschichte / Bestand Erna Wagner-Hehmke
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Prof. Dr. Erhard H.M. Lange
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-11-06T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39146/elisabeth-selbert-spd/
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Notizen aus Moskau: Von Agenten, unerwünschten Organisationen und ihren Folgen | Russland-Analysen | bpb.de
Unabhängige NGOs werden vom Kreml spätestens seit den in Russland so genannten "farbigen Revolutionen" Mitte der 2000er-Jahre in einigen Nachbarstaaten mit (im Wortsinn!) ausgesprochenem Argwohn betrachtet und behandelt. Lange blieben Angriffe auf sie eher episodisch. Der Staat beschränkte sich weitgehend auf bürokratische Schikane und Kontrolle und nur ein wenig und, so konnte es fast scheinen, eher halbherzige Einschüchterung. Selbst die Einführung der sogenannten "Agenten"-Paragraphen in das NGO-Gesetz im Nach-Protest-Sommer 2012 stand noch unter diesem Leitmotiv. Das hat sich seither verändert. Der Kurs geht nun in Richtung Unterwerfung oder gar Vernichtung. Ein paar grundsätzlichere Gedanken über das Verhältnis Staat-unabhängige NGOs habe ich mir in den Russlandanalysen Nr. 284 im vorigen Oktober gemacht (http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russla ndAnalysen284.pdf). Zur Geschichte der Anwendung der "Agenten"-Paragraphen durch Staatsanwaltschaft und Justizministerium gibt es eine sehr gute Zusammenfassung von Grigorij Ochotin, einem der Gründer des "OBD-Infos", in der Zeitschrift "Osteuropa" (Heft 1–2/2015, S. 83–94) unter dem Titel "Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland" (Externer Link: http://www.osteuropa.dgo-online.org/hefte/2015/1-2/agentenjagd/). Zum aktuellen Stand habe ich zuletzt in meinem Blog Anfang Februar geschrieben (Externer Link: http://russland.boellblog.org/2015/02/08/agentenjagd-gegen-russische-ngos-geht-immer-schneller-und-wird-immer-gefaehrlicher/). An dieser Stelle soll es deshalb nur ein kleines Update zur Agentenjagd geben. Danach werde ich noch auf das in dieser Woche in der Staatsduma verabschiedete sogenannte "Gesetz über unerwünschte Organisationen" und seine möglichen Auswirkungen eingehen, um dann mit ein paar grundsätzlichen Überlegungen zur westlichen NGO-Förderung in Russland zu schließen. Zum "NGO-Agenten-Gesetz": Wie bereits geschrieben, gibt Ochotins Artikel in "Osteuropa" eine sehr informative und gute, unbedingt lesenswerte Übersicht über die Entwicklung der "Agentenjagd" seit 2012. Sogar mit einer kleinen Vorgeschichte. Der Autor geht dabei allerdings von einer meiner Ansicht nach nicht ganz korrekten Annahme über das Verhältnis zwischen Staat und unabhängigen NGOs aus, die für das Verständnis der politischen Dynamik wichtig ist. Er suggeriert nämlich, es gebe eine Art "Plan" im Kreml, wie mit diesen, aus Sicht des Kreml, nicht nur unbotmäßigen, sondern eben potentiell gefährlichen Leuten umzugehen sei. Das ist, nach allem, was ich sehe, aber nicht der Fall. Die Dynamik wird vielmehr von einer Mischung aus Risikovorsorge (u. a. durch immer neue, immer restriktivere Gesetze), Ad-hoc-Aktionismus in politischen Krisenzeiten (oder Zeiten, die im Kreml als kritisch für den Machterhalt angesehen werden) und dem mal bürokratischen, mal politischen Leben bereits bestehender Gesetze bestimmt. Nun kann man mit einigem Fug argumentieren, das Ergebnis sei dasselbe. Die Differenz zwischen Ochotins Annahm eines Plans und meiner Überzeugung, es gebe keinen, mag für die Strategie der NGOs und ihrer (ausländischen) Geldgeber, wie mit der Situation umzugehen sei, keinen großen Unterschied machen. Allerdings ist dieses Vorgehensmuster des russischen Staates nicht nur bei diesem Gesetz zu sehen, sondern wiederholt sich, in leichten Abwandlungen immer und immer wieder (darüber mehr, wenn es weiter unten um das "Unerwünschte-Organisationen-Gesetz" geht). Bis zum Dezember 2014 hatte das Justizministerium erst 16 NGOs zu "Agenten" erklärt (das Recht dazu hatte es immerhin schon im Mai des gleichen Jahres erhalten). 13 weiter folgten im Dezember. Seither sind etwas mehr als 30 NGOs hinzugekommen (Stand 21.5.2015: insgesamt 64). Mit schöner Regelmäßigkeit finden sich immer freitags in den Presseerklärungen des Ministeriums zwei bis drei neue "Agenten". Wo und wann das enden wird, ist schwer absehbar. Weit verbreitet sind Einschätzungen, die endgültige Zahl (sofern man bei der gegenwärtigen politischen Dynamik mit solch abschließenden Begriffen überhaupt arbeiten sollte) werde irgendwo zwischen 100 und 150 liegen. Diese Schätzungen beziehen sich auf Analysen der bisherigen "Überprüfungen" durch Staatsanwaltschaft und Justizministerium (welche, wann, wie viele NGOs mit welchem Ergebnis überprüft wurden und wie viele "neue", im Zusammenhang mit dem "Agentengesetz" bisher noch nicht überprüfte NGOs mit der Zeit ins Blickfeld der Behörden geraten sind) und auf einen Überblick über Umfang und Struktur der gegenwärtigen finanziellen Unterstützung der gefährdeten NGO-Gruppe. Die betroffenen NGOs reagieren unterschiedlich. Es gilt die Regel, jeder und jede rette sich, wie er oder sie kann, allerdings bei gleichzeitiger gegenseitiger Beratung und weitgehender Vermeidung öffentlicher Entsolidarisierung. Einige NGOs lösen sich als juristische Personen auf, arbeiten aber meist gleichwohl in anderer Form weiter. Andere weichen auf andere, mitunter früher bereits "auf Vorrat" gegründete Organisationen oder Organisationsformen aus (u. a. als "kommerzielle" Organisationen, die vom Gesetz nicht betroffen sind). Wieder andere, eine in den vergangenen Wochen wachsende Zahl, verzichten auf ausländische Finanzierung und suchen den durch eine erneute Gesetzesänderung im März dieses Jahres nun möglichen Weg einer "Entlistung" von der "Agentenliste". Mitte dieser Woche hat die Permer NGO "GRANI" ("Zentr Graschdankskogo Analisa i Nesawisimych Issledowanij", Externer Link: http://www.grany-center.org/) diesen Schritt als erste NGO erfolgreich beendet. Während sich das "Agentengesetz" gegen die organisierten Strukturen russischer Zivilgesellschaft richtet, geht das "Gesetz über unerwünschte ausländische Organisationen" (wörtlich heißt es, wie die allermeisten russischen Gesetze: "Über die Einfügung einiger Änderungen in die Fassung einiger Gesetzesvorschriften der Russischen Föderation" http://asozd2.duma.gov.ru/main.nsf/%28SpravkaNew%29?Open Agent&RN=662902-6&02) weiter. Mit ihm will der russische Staat nicht nur juristischen Personen, sondern auch Individuen in bestimmten Fällen verbieten, Geld aus dem Ausland anzunehmen, ja mehr noch, mit bestimmten Organisationen "zusammen zu arbeiten". Entgegen seiner populären Bezeichnung richtet sich das Gesetz also viel weniger gegen ausländische Organisationen als gegen russische NGOs und die in ihnen organisierten Aktivisten, und auch gegen diejenigen, die sich unorganisiert engagieren. Damit soll unter anderem die Umgehung des "Agentengesetzes" durch individuelle Grants verhindert werden. In seiner ursprünglichen, im Februar 2015 in die Staatsduma eingebrachten Fassung, sprach der Gesetzentwurf übrigens von "ausländischen Organisationen" (daher auch die populäre Bezeichnung), ohne deren (juristischen) Status näher zu definieren. Durch massives Lobbying von Wirtschaftsvertretern und wohl auch durch den Widerstand eines nicht unerheblichen Teils der Bürokratie (die in Russland ja die Verfügungsgewalt über erhebliche Teile des Unternehmensvermögens hat), was wohl auch die Verzögerung von Februar bis heute erklärt, ist nun in der Endfassung (ich gehe davon aus, dass das Gesetz so wie jetzt von der Duma verabschiedet in Kraft treten wird, obwohl der Föderationsrat noch nicht zugestimmt hat und es von Präsident Putin noch nicht unterzeichnet ist) von "unerwünschten Nichtregierungsorganisationen" die Rede. Wer "unerwünscht" ist, wird künftig die Generalstaatsanwaltschaft entscheiden, das russische Außenministerium hat ein Mitspracherecht. Jekaterina Schulman hat das alles, allerdings auf Russisch, in einem Artikel in der Tageszeitung Wedomosti diese Woche auseinanderklamüsert (http://www.vedomosti.ru/opinion/arti cles/2015/05/18/lozhnii-izolyatsionizm-ne-vredit-inos trantsam-a-terrorizirovat-rossiyan#/). Die Gesetzesbestimmungen sind, wie schon lange üblich und (schlechte) Praxis so ungenau gefasst, dass der Exekutive praktisch völlige Entscheidungsfreiheit gelassen wird. Wie beim "Agentengesetz", bei dessen Anwendung jede öffentliche Äußerung von NGOs oder ihrer Führungspersonen als "Einflussnahme auf die Regierungspolitik" und damit als "politisch" aufgefasst wird (was zusammen mit Finanzierung aus dem Ausland den "Agenten"-Status begründet), können nun Bestimmungen wie "Gefährdung der russischen Staatssicherheit" fast beliebig angewandt werden. Das lehrt schon lange die Praxis des seit Mitte der 2000er Jahre zu diesem Zweck vielfach gebrauchten "Extremismusgesetzes", das ähnliche und ähnlich schwammige Formulierungen enthält. Im Übrigen sollten sich auch Unternehmen trotz der Änderungen zwischen erster und zweiter Lesung nicht allzu sicher fühlen. Der Terminus "Nichtregierungsorganisationen" ist längst nicht so eindeutig, wie er auf den ersten Blick scheint. Er kam bisher in der russischen Gesetzgebung nicht vor. NGOs, also Non-Governmental Organisations, werden in den einschlägigen russischen Gesetzen als "NKO", als "Nicht-Kommerzielle Organisationen" bezeichnet. In der oft verqueren, rechtspositivistischem Denken verhafteten Auslegung russischer Gerichte könnte aus der Tatsache, dass das Gesetz eben nicht von "nichtkommerziellen" Organisationen spricht, schnell der Umkehrschluss folgen, dass dann mit "Nichtregierungsorganisationen" auch Wirtschaftsunternehmen gemeint sein können. Nun ist es zwar keineswegs klar, wie, wann, gegen wen genau und in welchem Umfang dieses Gesetz angewandt werden wird. Aber die Erfahrung zeigt, dass derartige Repressionsinstrumente, wenn der russische Staat sie erst einmal geschaffen hat, früher oder später immer genutzt werden. Schon seit einiger Zeit kursieren unterschiedliche Listen, welche ausländischen Organisationen denn vorrangig zu "unerwünschten" erklärt werden. An vorderster Stelle stehen dort immer US-amerikanische Stiftungen (egal ob nun privat oder aus dem öffentlichen Haushalt finanziert), denn aus Kremlsicht waren sie es ja, die die "orangene Revolution" und den Majdan nicht nur gefördert, sondern initiiert haben. Entsprechend werden sie seit langem verdächtigt, Ähnliches auch in Russland im Schilde zu führen. Fast immer wird die Soros-Stiftung "Open Society Foundation" genannt, die einen ähnlich teuflischen Status in Russland genießt, wie der "Vater der Voucher-Privatisierung" Anatolij Tschubajs. Sollte die Anwendung des "Unerwünschte-Organisationen-Gesetzes" eine ähnliche Dynamik entwickeln wie letzthin das "NGO-Agentengesetz", könnte die Folge das Ende der unabhängigen NGO-Szene in Russland sein, so wie wir sie bisher kennen. Das würde zwar mit großer Wahrscheinlichkeit nicht heißen, dass es dann keine unabhängigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten mehr gibt, aber sie würden wohl andere Formen annehmen und unter anderen Labels (wenn auch, zumindest teilweise, durch die gleichen Personen) fortgeführt werden. Eine kleine Vorstellung davon, wie solche Veränderungen oder Verschiebungen vor sich gehen, kann vielleicht die über die vergangenen Jahre unter dem Eindruck immer repressiverer Gesetzesverschärfungen stehende Demonstrationspraxis in Russland geben: Demonstranten weichen auf das Gerade-noch-Erlaubte aus (insbesondere Einzelmahnwachen) und maskieren sich (Flashmobs oder die Nowosibirsker "Monstrationen", die mit absurden Forderungen Demonstrationsverbote lächerlich zu machen versuchen). Oder sie arrangieren sich mit den Behörden – um den Preis, an Schärfe, Spontaneität, und damit auch Wirkung zu verlieren. Das alles führt zu der Frage, was westliche NGO-Förderung denn angesichts dieser Entwicklungen tun sollte und tun darf. Schon seit längerem wird von vielen Teilnehmern dieser Diskussion, nicht nur in Deutschland, eine angebliche bisherige Konzentration der westlichen Förderung in Russland auf oft sogenannte "politische" NGOs und eine Vernachlässigung "sozialer Dienstleister" aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich beklagt. Das halte ich für in mehrfacher Hinsicht problematisch. Beginnen wir mit der Empirie. Die (finanzielle) Förderung von "politischen" NGOs (mitunter werden auch die Zuschreibungen "Themenanwälte", Advocacy-Gruppen u. a. benutzt) hatte nie auch nur annähernd, auch nicht in den 1990er Jahren, den Umfang der Förderung "sozialer Dienstleister" oder anderer im wesentlichen auf Kooperation mit dem Staat setzenden oder in Ergänzung zum Staat arbeitenden Gruppen. Sie war auch nie in nennenswertem Umfang gegen den russischen Staat gerichtet oder wurde an ihm vorbei geleistet. Die großen und finanziell üppig ausgestatteten Programme der EU wie TACIS oder von USAID haben sich umgekehrt auf genau diesen Bereich bezogen und erfolgten immer in Kooperation und mit Zustimmung der dafür zuständigen staatlichen Stellen in Russland. Das galt auch, und gilt noch immer, für die Programme der meisten großen privaten Stiftungen aus dem Westen (wobei US-amerikanische Stiftungen hier vom finanziellen Engagement her immer noch mit weitem Abstand die Hauptrolle spielen). Mehr noch: Die Implementierung von Förderprogrammen fußte und fußt entweder auf zwischenstaatlichen Abkommen oder geschieht weitgehend über in Russland akkreditierte Filialen und Repräsentanzen der Geldgeber. Hinzu kommt das Engagement zahlreicher weiterer nichtstaatlicher Akteure aus dem Westen (im Falle Deutschlands zum Beispiel der Caritas, der Diakonie), aber auch das Engagement im Rahmen der zahlreichen Städtepartnerschaften und einer großen, kaum zu überblickenden Zahl meist kleinerer privater Initiativen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Förderung ökologischer Projekte. Die Höhe der Förderung von Advocacy-Projekten und -Gruppen war und ist sehr viel geringer als die von Umweltschutzprojekten im klassischen Sinn, auch unter Einbeziehung internationaler Organisationen aus der UN-Familie. Zudem ist allein die hier skizzierte Trennung von zivilgesellschaftlichem Engagement in einen "politischen" und einen "sozialen" Teil problematisch, und zwar vor allem aus zwei Gründen. Zum einen gibt es eine große Zahl von NGOs in Russland, deren Tätigkeit sich auf beide Bereiche erstreckt. Um nur das bekannteste Beispiel zu nennen: Die Arbeit von Memorial fußt auf drei Säulen, nämlich der Beschäftigung mit Menschenrechtsverletzungen heute, der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit und der sozialen Fürsorge für die Opfer dieser Menschenrechtsverletzungen. Nur so konnte Memorial zu jener großen, stabilen und angesehenen Organisation mit einer tiefen sozialen Verankerung (vor allem in den russischen Regionen) werden, die es heute ist. Zum anderen aber, und das ist vielleicht noch wichtiger, sind Existenz und Arbeit der "politischen" NGOs die Voraussetzung für die Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit der "sozialen Dienstleister". Das führt zum nächsten Problem: Diese aus meiner Sicht künstliche Trennung wiederholt, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, den wesentlichen Fehler der NGO-Förderung der 1990er Jahre (oder, aus damaliger Perspektive wohl korrekter ausgedrückt, der Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen). Seinerzeit wurde das weitgehend als "technische" Aufgabe angegangen (trotz allerlei – richtiger! – Demokratie-Prosa drumherum). Es galt die (meist eher immanente denn bewusste) Annahme, dass die russische Gesellschaft mit der Selbstbefreiung aus der Sowjetunion (genau wie andere postsowjetische Länder auch) den Point-of-no-Return überschritten habe, es also "nur" noch darum gehe, das ganze abzuwickeln (man könnte das wahrscheinlich auch die "Fukuyama-Falle" nennen). Die innenpolitische Entsprechung dazu war die Erwartung der unter Präsident Jelzin an der Macht beteiligten Liberalen, man müsse nur genügend Wohlstand schaffen, dann bilde sich schon eine Mittelschicht heraus und demokratisches Bewusstsein folge natürlicher Weise auf dem Fuße. Heute dagegen wird von außen der Point-of-no-Return (erneut eher implizit) für unerreichbar erklärt. Von innen assistiert ein Diskurs über das angebliche Anderssein der Menschen in Russland. Hinzugefügt wird dann von beiden Seiten das Argument, "westlich" ausgerichtete, also "politische" NGOs hätten eben in der russischen Gesellschaft keine Unterstützung, und überhaupt gebe es in Russland ein "anderes Verständnisses von Zivilgesellschaft". Weil das so sei, müsse man sich bescheiden und anpassen, um effektiv und erfolgreich zu sein. Doch diese Annahmen sind nicht nur unpolitisch, sondern auch, wahrscheinlich wichtiger noch, unhistorisch. Sie stellen sich Gesellschaften statisch, (fast) ohne Dynamik vor. Die russische Gesellschaft ist aber entgegen landläufiger Auffassungen eine höchst dynamische, das haben zuletzt wieder die "wie aus dem Nichts" aufgetauchten Proteste des Winters 2011/2012 gezeigt, aber auch die durch enorme staatliche (Propaganda-)Anstrengungen verstärkte gegenwärtige Schwingung in die Gegenrichtung (die ihren Scheitelpunkt womöglich schon wieder überschritten hat). Wohl auch deshalb bleiben die bei vielen Kritikern der Förderung "politischer" NGOs vorgestellten und (manchmal explizit, meist aber implizit) zu Grunde gelegten Entwicklungsszenarien so seltsam blutleer; sie reproduzieren eine angenommene "Pfadabhängigkeit" (wobei ich jetzt sicher nicht erläutern muss, welcher Pfad gemeint ist). Die Konzentration auf mehr "soziale Dienstleister" und weniger "Themenanwälte" oder "politische" NGOs würde, so wage ich voraus zu sagen, erstere mit dem Staat allein lassen und letztlich zu zweierlei führen: Erstens zu einer zunehmenden "Verstaatlichung" eben dieser "Dienstleister". Ohne die wesentlich auf die Bewahrung von (Handlungs-)Freiheiten gerichtete Arbeit "politischer" NGOs (oder bei ihrer weiteren Schwächung) dürften die "sozialen Dienstleister" immer mehr zu Auftragnehmern des Staates werden. Das würde umso mehr geschehen, da es mit der Ausschaltung ausländischer Finanzierungsquellen nur noch einen zahlungsfähigen "Kunden" für diese Dienstleistungen gäbe (mögliche inländische Geldgeber sind ja schon seit mehr als zehn Jahren weitgehend aus dem Spiel): den Staat. Da das "sowjetische" institutionelle Gedächtnis sowohl in der staatlichen Verwaltung als auch unter den beteiligten Bürgern weiterhin sehr frisch, also abrufbar ist, dürften die "Sozialen-Dienstleister-NGOs" am Ende etwa jene Funktionen ausfüllen, die in der Sowjetunion zum Beispiel die Gewerkschaften hatten. Sie haben soziale Aufgaben wahrgenommen, allerdings nach strengen Vorgaben des Staates und unter seiner direkten Kontrolle. Zweitens würde ein Ende oder eine wesentliche Reduzierung westlicher Förderung auch "politischer" NGOs dazu führen, dass die russische (Zivil-)Gesellschaft beim nächsten Dynamisierungsschub gesellschaftlicher Bewegung gegen die allumfassende Staatlichkeit (und der kommt so sicher wie das Amen in der Kirche und der Gebetsruf des Mullahs) erneut unzureichend vorbereitet sein wird. Denn die sozialen und politischen Praktiken, wie Krisen zur Transformation in eine eben demokratische Richtung genutzt werden können, werden wesentlich von diesen NGOs und verwandten gesellschaftlichen Organisationsformen entwickelt, erprobt und umgesetzt. Soziale NGOs sind dazu, bei all ihrer Notwendigkeit und Nützlichkeit, nicht in der Lage. Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.
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Jens Siegert
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-05-27T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-296/207344/notizen-aus-moskau-von-agenten-unerwuenschten-organisationen-und-ihren-folgen/
Das Gesetz "über unerwünschte ausländische Organisationen" stellt für Jens Siegert nur einen weiteren Schritt im Kampf des Kremls gegen NGOs dar. Andere Medien sprechen vom Anti-NGO-Gesetz. Das neue Gesetz, so Sigerts Einschätzung, wird die Kooperati
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Die Selbsthilfe- und Produzentengalerie „rg“ Sredzkistraße 64 | Autonome Kunst in der DDR | bpb.de
rot-grün Sredzkistr. 64 Die Sredzkistraße 64 wurde gleich mehrfach zu einer wichtigen Adresse für private Ausstellungen der Künstlerszene im Prenzlauer Berg. Neben Interner Link: Hans Scheibs Ateliergalerie im ehemaligen Atelier von Reinhard Stangl entstand 1983 die Selbsthilfe- und Produzentengalerie "rg“ wie "Raumgemeinschaft“ oder "rot-grün“ im einstigen Atelier von Stefan Kayser. Dieser hatte dort über Jahre seine bizarre Installation "Environment k“ aus westlichen Werbeverpackungen und östlichem Alltagsmüll zusammengeleimt und -genagelt – wohlgemerkt unabhängig von Joseph Beuys’ Installation "Wirtschaftswerte“ aus DDR-Warenverpackungen von 1980. Kayser reiste 1981 aus und übergab den Raum an Erhard und Mario Monden. Auch Erhard Monden setzte sich früh mit Beuys und dessen "erweiterten Kunstbegriff“ auseinander. Nach seinem Studium bei Günther Hornig an der Interner Link: Hochschule für Bildende Künste Dresden realisierte er seit 1977 „Zeit-Raum-Bild-Realisationen“. Diese Aktionen hielt er fotografisch fest, übermalte die Fotos in der für ihn typischen Schablonenspritztechnik und dokumentierte sie als Prozessverweisstücke. 1981 lud Klaus Werner Monden zu einer Ausstellung in die Interner Link: Galerie Arkade ein. Die in diesem Zusammenhang durchgeführte Lauf-Stand-Performance zwischen der Galerie am Strausberger Platz und dem Atelier im Prenzlauer Berg gab Anlass zu heftigen Diskussionen in der Zeitschrift „Bildende Kunst“ und auf dem IX. Kongress des Verbandes Bildender Künstler über die Legitimität solch erweiterter Formen der Kunstausübung in der DDR. Ende desselben Jahres schloss der Staatliche Kunsthandel die Galerie Arkade und entließ deren Leiter Klaus Werner, der zu den ersten Kunstwissenschaftlern und Galeristen gehörte, die das Werk von Beuys in öffentlichen Vorträgen bekannt gemacht hatten. Werner regte daraufhin die Einrichtung einer neuen unabhängigen Ausstellungsplattform an: Gemeinsam mit ihm, Eugen Blume, der gerade die erste universitäre Abschlussarbeit in der DDR über Joseph Beuys vorgelegt und als Praktikant in der Galerie Arkade gearbeitet hatte, und den Künstlern Horst Bartnig, Robert Rehfeldt und Wolfram Adalbert Scheffler gründeten die Gebrüder Monden die "Raumgemeinschaft“ Sredzkistraße 64. Später wurde "rg“, wie sie ihre Selbsthilfegalerie bezeichneten, auch als "rot-grün“ verstanden. Hier fanden neben Ausstellungen der Gründer und Mondens "Schule für erweiterte bildnerische Arbeit“, in der dieser Beuys’ Theorien der sozialen Plastik mit interessierten Laien in die Praxis übersetzte, vor allem Vorträge und Performances statt. Lutz Dammbeck, einer der wichtigsten Protagonisten des Interner Link: „1. Leipziger Herbstsalon“, nutzte die Räume 1983 für die ersten Proben und Videoaufzeichnungen mit Fine Kwiatkowski zum "Herakles“-Projekt. Im April 1984 initiierten Monden und Blume eine einwöchige Diskussionsreihe über den "erweiterten Kunstbegriff“. Beuys sollte am letzten Tag selbst anwesend sein, ihm wurde jedoch die Einreise in den Ostteil der Stadt verweigert. Man fürchtete wohl den Einfluss eines Künstlers, der die von den Ideologen der DDR-Kunsttheorie geforderte Politisierung der Kunst ernst nahm. Die 1988 von Klaus Werner zusammengestellte Themenausstellung "Out of Order“ mit frühen Arbeiten von Horst Bartnig, Hans Brosch, Achim Freyer, Ingo Kirchner, Robert Rehfeldt, Egmont Schaefer, Dieter Tucholke und A.R. Penck sorgte auf dem X. Verbandskongress für Aufsehen. Die Konflikte über den Umgang der DDR-Kunstpolitik mit den sogenannten "Grenzüberschreitungen“ traten nun offen zu Tage. Dass die Bemühungen, diese zu ignorieren und die Verbreitung der Ideen des Künstlers Joseph Beuys durch Verbote zu begrenzen, keine Wirkung zeitigten, bewies der Werkstatt-ZyklusInterner Link: "Nach Beuys“. Er fand 1988 zeitgleich zur ersten großen Ausstellung des beuysschen Frühwerks an der Interner Link: Hochschule für Grafik und Buchkunst in der Interner Link: Galerie Eigen+Art in Leipzig statt. Literatur: Klaus Werner: Für die Kunst. Hrsg. von der Stiftung NEUE KULTUR Potsdam/Berlin. Köln 2009.
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Uta Grundmann
"2022-04-01T00:00:00"
"2012-01-20T00:00:00"
"2022-04-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/autonome-kunst-in-der-ddr/55805/die-selbsthilfe-und-produzentengalerie-rg-sredzkistrasse-64/
Die Sredzkistraße 64, eine der wichtigsten Adressen für private Ausstellungen der Künstlerszene im Berliner Prenzlauer Berg, war auch der Standort der Selbsthilfe- und Produzentengalerie „rg“ – wie „Raumgemeinschaft“ oder „rot-grün“.
[ "Kunst", "Kultur", "Galerie", "Beuys", "Ostberlin", "DDR", "Berlin" ]
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War 2008 das neue 1931? | Krise der Weltwirtschaft | bpb.de
Einleitung Die gegenwärtige Finanzkrise ruft uns in die Geschichte zurück. Sie weckt traumatische Erinnerungen an die Krise der 1930er Jahre, in deren Folge die Weimarer Republik unterging. Sie gibt zur Sorge Anlass, ob ein Konjunktureinbruch die Fundamente unserer Sozialsysteme in ähnlicher Weise bedrohen kann wie damals. Und sie wirft die Frage auf, was man aus einem Vergleich beider Krisen lernen kann. Die gegenwärtige Krise ist keineswegs die erste schwere Verwerfung des Finanzsystems seit den 1930er Jahren. 1972 wurde die Weltwirtschaft vom Auseinanderbrechen des Währungssystems von Bretton Woods getroffen; im Folgejahr kam der erste Ölpreisschock. Der zweite Ölpreisschock von 1979 traf zusammen mit einer Hochzinspolitik der Zentralbanken. Auf eine Sparkassenkrise in den USA folgte 1987 ein scharfer Rückschlag an den internationalen Börsen. Auch die europäische Währungskrise von 1993, die Asienkrise von 1997 und der Zusammenbruch der "Dotcom-Spekulation" im Jahr 2000 sind ernsthafte Finanzkrisen gewesen. Allerdings hat keine dieser Krisen auch nur entfernt die Zerstörungskraft der Weltwirtschaftskrise erreicht: Während etwa in den USA und Deutschland zwischen 1929 und 1933 die Wirtschaftsleistung um gut ein Viertel sank, führten die Rezessionen der vergangenen Jahrzehnte selten zu einem Rückschlag um mehr als zwei Prozent. Diese stark gedämpften Konjunkturschwankungen haben Volkswirte dazu veranlasst, von einer Entkoppelung zwischen Finanzkrisen und allgemeiner Konjunktur zu sprechen. Dabei hat es in keiner dieser Krisen an warnenden Vergleichen mit den 1930er Jahren gefehlt. Die Ölschocks der 1970er Jahre und die pessimistischen Wachstumsprognosen des Club of Rome prägten das politische Denken einer ganzen Generation. Nach dem Einbruch der Börsenkurse im Jahr 1987 waren Vergleiche mit 1929 wohlfeil. Auch das Platzen der "Dotcom-Blase" im Jahr 2000 hat zu ähnlichen Überlegungen Anlass gegeben. Allerdings erwiesen sich in keiner dieser Krisen die Kassandrarufe als gerechtfertigt. Nur 2008 bildet die Ausnahme. Seit der zweiten Jahreshälfte 2008 befinden sich die Konjunkturindikatoren aller führenden Wirtschaftsnationen im freien Fall. In den USA und Großbritannien lag die Industrieproduktion im Februar 2009 um mehr als zehn Prozent unterhalb der Werte des Vorjahresmonats. In Deutschland liegt der Rückgang bei 25 Prozent, in Japan nahe an 40 Prozent. Für Deutschlands Gesamtwirtschaft ist im laufenden Jahr ein Rückgang von gut fünf Prozent veranschlagt; kaum besser sind die Voraussagen für die USA und Großbritannien. Japan muss mit einem Einbruch von bis zu acht Prozent rechnen. Die Aktienkurse sind um die Hälfte gefallen, während sich die Arbeitslosigkeit um die Hälfte erhöht hat und weiter rasch steigt. Das sind Zahlen, wie man sie in Friedenszeiten seit den 1930er Jahren nicht mehr gesehen hat; der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise nach 1929 drängt sich auf. Aber ist ein solcher Vergleich sinnvoll? Zunächst muss man sich von der Vorstellung befreien, für die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit gebe es eine einzige, monokausale Erklärung. Mehrere Krisenerscheinungen traten gleichzeitig auf und überlagerten einander. Für jede einzelne lassen sich abweichende Verlaufsmuster erkennen, ergeben sich aber auch unterschiedliche Einschätzungen. Vor einem Vergleich mit der heutigen Krise muss also zuerst bestimmt werden, wovon jeweils die Rede sein soll. Nachfolgend werden wesentliche Ursachen der Weltwirtschaftskrise der Reihe nach beleuchtet. Anschließend werden sie in Bezug zur gegenwärtigen Krise gestellt. Rasch wird sich herausstellen, dass im Detail die Unterschiede überwiegen und sich ein vorschneller Vergleich nicht empfiehlt. Allerdings bleibt die eine Gemeinsamkeit, dass die jetzige Krise in ihrer Schärfe die meisten Fachleute - auch den hier schreibenden Verfasser - ebenso überrascht hat, wie das bei der Weltwirtschaftskrise der Fall gewesen sein muss. Ursachen der Weltwirtschaftskrise Eine Denkmöglichkeit ist, den Beginn der Weltwirtschaftskrise mit dem internationalen Verfall der Agrar- und Rohstoffpreise in der Mitte der 1920er Jahre anzusetzen. Verursacht durch die Ausdehnung der Agrarflächen und der Rohstoffförderung außerhalb Europas während des Ersten Weltkrieges, drängte in den ersten Friedensjahren ein stark vergrößertes Produktionsvolumen auf die Weltmärkte, dem keine entsprechende Nachfrage gegenüberstand. Im Ergebnis befanden sich die agrar- und rohstofforientierten Volkswirtschaften der weltwirtschaftlichen Peripherie, aber auch die entsprechenden Sektoren der entwickelten Volkswirtschaften Europas und Nordamerikas, bereits zum Jahresbeginn 1928 in einer Rezession. Zu einer nachhaltigen Erholung dieser Märkte ist es bis Mitte der 1930er Jahre nicht gekommen. Angesichts der damals bedeutenden wirtschaftlichen und politischen Rolle der Landwirtschaft - in Deutschland arbeiteten noch gut 30 Prozent, in den USA 20 Prozent aller Erwerbstätigen in diesem Bereich - kann also die Weltwirtschaftskrise zu einem Gutteil als langanhaltende weltweite Depression des primären Sektors beschrieben werden. Ein zweiter Zugang zur Weltwirtschaftskrise führt über die kriegsbedingten Umwälzungen der industriellen Arbeitsverhältnisse. In weiten Teilen Europas brachte das Ende des Ersten Weltkrieges die gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaftsbewegung und mit ihr des Achtstundentages sowie der kollektiven Lohnverhandlungen. Die stark gestiegene, nun gesetzlich geschützte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften traf auf eine umfassend kartellierte, monopolisierte Industriestruktur; die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft konnte sich nun einen Anteil an den Monopolgewinnen sichern. Im Ergebnis verschoben sich die Verteilungsrelationen zwischen Kapital und Arbeit bei geringen Unternehmensgewinnen und Investitionen sowie einer schon vor 1929 hohen strukturellen Arbeitslosigkeit unter der Industriearbeiterschaft. Für Deutschland ist diese prekäre Situation prominent als "Krise vor der Krise" bezeichnet worden und hat eine umfangreiche Debatte hervorgebracht. In der Folge dieser Umwälzungen der Arbeitsmarktverfassung blieb die wirtschaftliche Rekonstruktion nach dem Ersten Weltkrieg vor 1929 unvollendet. Länder wie Frankreich, wo diese Umwälzungen ausgeblieben waren, oder die USA, wo sie durch höchstrichterliche Urteile rasch wieder rückgängig gemacht wurden, haben sich vom Ersten Weltkrieg wirtschaftlich zwar besser erholt als etwa Deutschland oder Großbritannien, wo eine Depression vor der Depression das Bild bestimmte. Aber sowohl Frankreich als auch die USA holten in den 1930er Jahren diese Reformen nach, was als Grund dafür gilt, dass die wirtschaftliche Gesundung beider Länder nach 1933 unvollständig blieb. In beiden Ländern warfen die Reformen ihre Schatten voraus, in den USA sogar bis zum Sommer 1929. Man wird daher die geplante Einführung kollektiver Lohnverhandlungen zu einem Teil für den schweren Kriseneinbruch in den USA mitverantwortlich machen müssen. Dem Laien vertrauter ist die Erklärung der Weltwirtschaftskrise als Folge der Aktienspekulation an der New Yorker Börse. Der doppelte Börsenkrach am Black Thursday des 24. Oktober und dem Black Tuesday des 29. Oktober 1929 (einen Schwarzen Freitag gab es 1929 entgegen landläufiger Meinung nicht) brachte das Ende einer achtjährigen Aktienhausse, in deren Verlauf sich der Dow-Jones-Index mehr als verfünffacht hatte. Dieser Boom ist zu allen Zeiten als Musterbeispiel spekulativer Übertreibung gebrandmarkt worden, und sein Ende hat ebenso selbstverständlich als Universalerklärung für die nachfolgende Weltkrise herhalten müssen. Tatsächlich liegen die Verhältnisse etwas schwieriger. Denn bis kurz vor der Schlussphase des Aktienbooms stiegen Unternehmensgewinne und Dividenden, aber auch der Auftragseingang im US-Maschinenbau im Gleichklang mit den New Yorker Aktienkursen. Es gilt heute als ausgemacht, dass man allenfalls für das letzte Jahr des Booms von einer Spekulationsblase sprechen kann. Die psychologischen Wirkungen des Börsenkrachs von 1929 können vermutlich kaum überschätzt werden; die genauen Wirkungsmechanismen bleiben aber undeutlich. Zu dieser Unsicherheit trägt die Erfahrung mit den nur geringen konjunkturellen Rückwirkungen späterer, vergleichbar schwerer Kurseinbrüche bei. Vor allem aber hatte der Rückschlag am New Yorker Aktienmarkt zunächst keine wesentlichen Auswirkungen auf die europäischen Börsen. Erst in der zweiten Jahreshälfte 1930 wurden die internationalen Börsen in den amerikanischen Abwärtstrend hineingezogen. An seinem Tiefststand im Frühjahr 1932 hatte etwa der Berliner Aktienmarkt knapp zwei Drittel seines Kursstandes vom September 1929 eingebüßt; in den USA betrug der Kursverlust mehr als 85 Prozent. Währungspolitik und Banken Prominent und unter Fachleuten bis heute einflussreich ist die monetäre Interpretation der Weltwirtschaftskrise. Nach den Hyperinflationen in Deutschland und Mitteleuropa war der Goldstandard als ein System fester Wechselkurse zum US-Dollar mit einem Goldkern wiedererrichtet worden. Mit dem Beitritt Großbritanniens 1925 und Frankreichs 1928 war der Neubau dieses Systems abgeschlossen. Neu gegenüber der Vorkriegszeit war vor allem, dass die USA die Rolle Großbritanniens als größter Kapitalexporteur einnahmen und der US-Dollar rasch zur Leitwährung des Systems wurde. Damit fiel aber auch der US-Geldpolitik, damals vertreten durch die Federal Reserve Bank of New York, die Rolle der internationalen Koordination zu. Man hat der "Fed" vorgeworfen, in den 1920er Jahren die Zinsen künstlich niedrig gehalten zu haben, um den europäischen Volkswirtschaften den Einstieg in das neue System zu erleichtern. Allerdings sprechen die Zahlen eher gegen eine solche Sichtweise. Nach der Korrektur um die Preisschwankungen lagen in den USA die Leitzinsen bei drei bis vier Prozent und damit im Bereich heutiger Normen. Ab der Jahresmitte 1928 wurden die Zinsen von vier auf sechs Prozent angehoben, um der Spekulation auf dem Aktienmarkt entgegenzuwirken. Gleichzeitig wurde der Zuwachs der Geldmenge begrenzt. Beide Maßnahmen sind später von monetaristischer Seite scharf kritisiert und für ein Abgleiten in die Rezession verantwortlich gemacht worden. Nach der Mechanik des Goldstandards musste eine solche Zinsanhebung den konjunkturellen Bremsimpuls auch auf das Ausland übertragen. In einer schweren Rezession würde das System an der schwächsten Stelle brechen. Genau dieser Fall trat ein, als Deutschland im Sommer 1931 zu Kapitalverkehrskontrollen überging und damit den Abzug kurzfristiger, vor allem britischer Kredite blockierte. Zunehmend selbst unter Druck, gab Großbritannien im September 1931 den Kurs des Pfunds frei; binnen Kurzem bildete sich ein "Sterling-Block", der neben den Ländern des Commonwealth auch Skandinavien umfasste. Die Abwertung des Pfundes wird einhellig als konjunkturpolitischer Befreiungsschlag angesehen. Tatsächlich erholten sich die Volkswirtschaften der Abwertungsländer rascher von der Krise - allerdings waren sie insgesamt auch deutlich weniger stark davon betroffen als etwa die USA oder Deutschland. In den USA selbst wurde im April 1933 der Dollar gegenüber dem Gold freigegeben. Um das Preisniveau anzuheben, wurde eine Politik der Geldmengenausweitung betrieben. Im Verein mit einer gewissen Ausweitung der staatlichen Defizite unter dem New Deal mag das expansiv gewirkt haben, zeitigte aber nur geringe Effekte auf die Preisbewegung selbst. Allgemein sind in den Abwertungsländern sowohl Geld- als auch Fiskalpolitik ab 1933 nur wenig expansiv gewesen. Im Vordergrund stand der Versuch, neues Vertrauen in die nun frei schwankenden Währungen zu schaffen. Dies erforderte die rasche Rückkehr zu einer regelgebundenen Geld- und Fiskalpolitik durch weitgehenden Budgetausgleich und relativ hohe Leitzinsen. Der Versuch Frankreichs, sich an die Spitze eines "Goldblocks" zu setzen, der dem alten System treu blieb, scheiterte nach starken Reserveverlusten im Jahr 1936. Wesentlich für ein tieferes Verständnis der Weltwirtschaftskrise ist die Betrachtung des Bankensystems. Durch die Agrarkrise der 1920er Jahre ging das internationale Finanzsystem bereits geschwächt in die Krise. In Mitteleuropa kam als Nachwirkung der Hyperinflation eine Unterausstattung des Bankensystems mit Eigenkapital hinzu. In den USA traten erste Krisenerscheinungen in einer Bankenpanik zum Jahresende 1930 auf, danach in mehreren Wellen von Bankkrisen, denen vor allem kleinere, unterkapitalisierte Institutionen im ländlichen Raum zum Opfer fielen. Vonseiten des Zentralbanksystems wurde Unterstützung nur punktuell gewährt, was der US-Geldpolitik die Kritik eingetragen hat, eine "normale" Rezession nach 1929 überhaupt erst in eine tiefe Depression verwandelt zu haben. Ihren Höhepunkt erreichte die US-Bankenkrise am Tiefpunkt der Depression Anfang 1933. Unter der neuen Roosevelt-Administration wurde, mehr der Not gehorchend denn aus innerer Überzeugung, ab dem Frühjahr eine durchgreifende Reorganisation des US-Bankwesens eingeleitet. Mit der Lösung des US-Dollars vom Gold ging der Erlass von "Bankfeiertagen" (der tageweisen Schließung aller Banken) sowie die Zwangsschließung von Tausenden kleinerer Banken einher. Nach einer oft langwierigen Bilanzprüfung wurden die überlebensfähigen Institutionen reorganisiert und wiedereröffnet. Der Glass-Steagall Act verordnete eine Trennung von Investment- bzw. Industriebanken einerseits und Depositen- bzw. Geschäftsbanken andererseits, die bis in die 1990er Jahre Bestand gehabt hat. Bankensanierung und Dollarabwertung standen am Beginn eines stürmischen Aufschwungs, in dessen Verlauf das US-Sozialprodukt mit Jahresraten von über neun Prozent zunahm. Erst ein neuerlicher konjunktureller Einbruch im Jahr 1938 hat in den USA die Rede von den 1930er Jahren als einer Great Depression in Umlauf gebracht. In Europa wurde die Finanzkrise der frühen 1930er Jahre weitgehend vom Sonderfall Deutschland bestimmt. Unter dem Dawes-Plan von 1924 hatte Deutschlands neue Währung, die Reichsmark, einen Schutz gegen den Transfer von Reparationsleistungen in Fremdwährung erhalten. Bald nutzten Banken, aber auch der Staatssektor, die neugewonnene Kreditwürdigkeit, um sich im Ausland, besonders in den USA, zu verschulden. Hypothekenpfandbriefe auf kommunale Versorgungs- und Wohnungsbauunternehmen wurden in den USA an den Haustüren an Privatanleger verkauft - die Goldklausel und die zugrundeliegenden Immobilienwerte taten das ihre, um den ahnungslosen Käufern eine sichere Geldanlage zu suggerieren. Zugleich aber bestanden Deutschlands Reparationsschulden fort; sie wurden in den ausgehenden 1920er Jahren ausschließlich auf Kredit bezahlt. Im Ergebnis türmte sich bedenklich rasch eine Schuldenpyramide auf, die im Jahr 1929 etwa 80 Prozent des Sozialprodukts ausmachte. Weil alle Schulden in Fremdwährung zu begleichen waren, setzte allein der Zinsendienst einen Ausfuhrüberschuss in Höhe von etwa fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung voraus, der aber nicht vorhanden war. Den Reparationsgläubigern blieb dieses Spiel nicht verborgen. Der Young-Plan von 1930 sah die faktische Abschaffung der Schutzbestimmungen für die Währung vor. Nun war es Deutschland selbst überlassen, die nötigen Devisen für Schuldendienst und Reparationszahlungen zu beschaffen; ausländische Gläubiger von kommerziellen Krediten konnten sich nicht mehr darauf verlassen, ihre Ansprüche vor denen der Reparationsgläubiger befriedigt zu sehen. Außer der Young-Anleihe, die den Devisenbedarf für 1930 knapp abdeckte, war angesichts der drohenden deutschen Überschuldung an weitere Auslandskredite nicht mehr zu denken. Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise stand Deutschland damit vor einer auswärtigen Schuldenkrise lateinamerikanischen Zuschnitts. Diese Krise entfaltete sich mit voller Wucht im Jahresverlauf 1931, als Deutschlands Versuch unter Kanzler Heinrich Brüning, mit einer Deflations- und strengen Sparpolitik Außenhandelsüberschüsse zu erzwingen, nicht zu ausreichenden Deviseneinnahmen führte. Ein Aussetzen der deutschen Reparationsverpflichtungen auf amerikanische Initiative hin konnte eine allgemeine deutsche Währungs- und Bankenkrise nicht mehr verhindern. Im Juli 1931 wurden "Bankfeiertage" erlassen, zwei von fünf Berliner Großbanken (DANAT und Dresdner) nach Insolvenz zwangsfusioniert und das Geschäftsbankensystem unter Staatseinfluss gestellt. Erst nach 1933 ist es zu einer Reprivatisierung gekommen. Die Besonderheit der deutschen Bankenkrise von 1931 ist das Zusammentreffen einer auswärtigen Finanz- und Schuldenkrise mit den politischen Verstrickungen des Reparationskonflikts. Die Frage nach möglichen Rettungsversuchen durch weitere internationale Kredite ist unterschiedlich bewertet worden. Skepsis bleibt angebracht, da Deutschland strukturell im Ausland überschuldet war und nur die Modalitäten einer Schuldenstreichung Verhandlungsgegenstand sein konnten, nicht aber die Wiederaufnahme der deutschen Zahlungen. Zuletzt gelang es der deutschen Seite, die auswärtigen Verpflichtungen fast vollständig abzuschütteln, womit am Ende der Weltwirtschaftskrise ein Schuldenstand von etwa 20 Prozent des US-Sozialprodukts von 1929 ausradiert wurde. Relativ zur amerikanischen Wirtschaftsleistung schlägt allein dieses Kapitel der damaligen Finanzkrise stärker zu Buche als die gegenwärtige US-Hypothekenkrise. Bezug zur aktuellen Krise Jeder hier beschriebene Strang der Weltwirtschaftskrise hat enge Bezüge zur heutigen Krise. Allerdings dominieren bei genauerem Hinsehen die Unterschiede. Hervorzuheben sind zunächst Abweichungen in der Chronologie. In den 1930er Jahren stand die Bankenkrise eher am Ende des internationalen Konjunktureinbruchs. Allenfalls hat sie zu einer weiteren Vertiefung und Verlängerung der Rezession beigetragen. Ein sinnvoller Zeitvergleich beider Finanzkrisen kann daher erst gegen 1931 einsetzen, nicht schon 1929. Damit wäre die Finanzkrise nach dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers im September 2008 in Bezug zu setzen zur europäischen Finanzkrise vom Sommer 1931, die mit der Wiener Creditanstalt-Krise begann, ihren Höhepunkt in der beginnenden deutschen Zahlungseinstellung und dem staatlichen Auffangen der Berliner Großbanken erreichte und nach dem britischen Abschied von der Goldparität in das Auseinanderbrechen des Goldstandards mündete. Im deutlichen Wertverlust des Pfundes und der staatlichen Auffangaktion für die schottischen Großbanken im Herbst 2008 lassen sich weitere Parallelen zur deutschen Bankensanierung ab 1931 erkennen. Ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Finanzkrisen besteht allerdings im Ausbleiben einer größeren auswärtigen Schuldenkrise. Ohne Frage hat in der Zwischenkriegszeit die politische Vergiftung der internationalen Finanzbeziehungen durch das deutsche Reparationsproblem und seine dramatische Zuspitzung eine Sonderrolle bei der Verschärfung der internationalen Finanzkrise gespielt, der heute nichts Vergleichbares entgegensteht. Auch auf der Ebene der Gesamtwirtschaft wäre ein Vergleich mit 1931 in mancher Hinsicht trostreich. Denn zwischen 1931 und 1932 brach in Deutschland und den USA das Sozialprodukt um weitere 15 Prozent ein. Dieser Einbruch ist dreimal stärker als die gegenwärtig für das Jahr 2009 prognostizierte Schrumpfung in beiden Ländern und immer noch doppelt so hoch wie die pessimistischsten derzeit kursierenden Szenarien. Für die USA bietet sich ein direkter Vergleich zwischen der Bankensanierung im Jahr 1933 und den gegenwärtig anvisierten Maßnahmen an. In beiden Fällen ist das Ziel, direkte Staatsbeteiligungen an Banken zu vermeiden, die Bankenaufsicht zu stärken sowie künftigen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Nach den gegenwärtig bekannten Planungen werden die regulativen Eingriffe kaum geringer ausfallen als 1933, allerdings - hierin liegt eine gewisse historische Ironie - nicht durch den Übergang zu einem Trennbankensystem, sondern umgekehrt durch die politisch forcierte Vereinigung von Investment- und Depositenbanken zu einem Universalbankensystem unter einheitlicher staatlicher Aufsicht. Kaum ertragreich wäre dagegen der Versuch, die Aktienmarktentwicklung bis 1929 mit den Aktienmärkten vor der gegenwärtigen Krise zu vergleichen. Weder stand am Anfang der heutigen Krise ein Börsenkrach, noch hat es zuvor eine massive Aufwärtsentwicklung der Kurse gegeben. Wohl mag angesichts der historisch sehr hohen Kurs- bzw. Gewinn-Verhältnisse, die höher lagen als um 1929, der jetzige Kurseinbruch als fundamentale Korrektur angesehen werden. Dennoch gibt ein Vergleich mit 1929 wenig her. Dasselbe gilt für die internationalen Rohstoffmärkte. Der Einbruch des vergangenen Jahres ist, ähnlich wie die Krisen von 1973 und 1979, unter anderem ein Ölpreisschock gewesen. Die derzeit oft anzutreffende Reduzierung des gegenwärtigen konjunkturellen Geschehens auf die Banken- und Finanzkrise ist insofern falsch, ging der Krise in der Zwischenkriegszeit doch eine Abwärtsbewegung der internationalen Rohstoffpreise voraus. Auch der Blick auf längerfristig wirkende sozial- und arbeitsmarktpolitische Krisenursachen eröffnet keine befriedigenden Vergleichsmöglichkeiten. Gewerkschaftsmacht und Verteilungskämpfe spielten eine Hauptrolle beim Anwachsen der strukturellen Arbeitslosigkeit seit den 1970er Jahren. Noch bei der Wiedervereinigung Deutschlands hat die Übertragung der westdeutschen Arbeitsmarktverfassung auf Gesamtdeutschland zu einer schweren Depression geführt, die fast das ganze Jahrzehnt lang anhielt. International und auch in Deutschland hat allerdings die Problematik gewerkschaftlicher Kontrolle über die Lohnhöhe an Schärfe verloren, was auch mit der Erosion monopolistischer Gewinne im Zuge verstärkter internationaler Konkurrenz erklärt werden mag. Anders als in der Zwischenkriegszeit ist daher die Auflösung, nicht die Verfestigung kollektiver Entscheidungsprozesse am Arbeitsmarkt zu beobachten. Damit schwindet auch ihr möglicher Beitrag zu einer Krisenerklärung. Ganz anders der Vergleich der Geldpolitik. Durchaus ähnlich wie in der Weltwirtschaftskrise hat die Geldpolitik nach Beginn der gegenwärtigen Finanzkrise (den man für den August 2007 festlegen kann) eine aktive Kredit- und Bankenstützungspolitik zunächst abgelehnt. In einer Verletzung klassischer Bankenregeln haben es die Notenbanken in den USA und Großbritannien bis zum Spätherbst 2008 vermieden, die Bonitätsanforderungen für die Hereinnahme von Wertpapieren als Deckungsunterlage für kurzfristigen Zentralbankkredit herabzusetzen. Aus Sorge vor hochriskanten Papieren (toxic assets) bestand man auf hohen Qualitätsanforderungen und vertraute auf scharfe Zinssenkungen. Erst zum Jahresbeginn 2009 ist es zu einem Politikwechsel und einer durchgreifend verbesserten Kreditversorgung durch die Notenbanken gekommen. Dieser Punkt eröffnet eine überraschende Parallele zur Geldpolitik in der Weltwirtschaftskrise. Damals zwangen die Deckungsregeln des Goldstandards die Notenbanken zur Zurückhaltung bei der Kreditversorgung des Bankensystems. In der Finanzkrise des Jahres 2008 hat die Angst der Notenbanken vor den toxic assets ganz dieselbe Wirkung gehabt. Im heutigen Bankgeschäft dienen Hypothekenwertschriften als Pfänder für den kurzfristigen Tageskredit zwischen den Geschäftsbanken, eine Rolle, die früher der Handelswechsel innehatte. Als im Sommer 2007 mit der US-Hypothekenkrise Zweifel am Wert dieser Papiere aufkamen, brach über Nacht eine Hauptstütze der kurzfristigen Kreditversorgung im Bankensystem weg. Die seitherige internationale Kreditklemme hat wesentlich zu tun mit dieser Verbindung zwischen den Hypothekenpapieren und dem kurzfristigen Geldmarkt. Eine aktive Geldpolitik zur Bekämpfung der Kreditkrise hätte an dieser Verbindung ansetzen müssen. Das ist bis zum Jahresende 2008 unterblieben; die eingetretene Verzögerung entspricht der geldpolitischen Untätigkeit zwischen dem Börsenkrach von 1929 und der Finanzkrise von 1931. Es bedarf keiner Prophetie, um vorherzusagen, dass diese Phase geldpolitischer Passivität, mit ihrer Analogie zur Weltwirtschaftskrise, die Aufmerksamkeit künftiger Kritiker auf sich ziehen wird. Anm. d. Redaktion: Das Bretton-Woods-System bezeichnet das Nachkriegs-Währungssystem, das auf festen Wechselkursen mit dem US-Dollar als Leitwährung beruhte. Ein entsprechendes Abkommen wurde 1944 von 44 Ländern in Bretton Woods/USA geschlossen. 1952 trat ihm die Bundesrepublik Deutschland bei, 1973 wurde es außer Kraft gesetzt. Der fast völlige Produktionsstillstand in weiten Teilen Kontinentaleuropas am Ende des Zweiten Weltkrieges kann als Sonderfaktor hier unberücksichtigt bleiben - an Schwere und Nachhaltigkeit hat er die Krise der 1930er Jahre allerdings weit übertroffen und bis in die 1960er Jahre nachgewirkt. Vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004. Wichtige Standardwerke zur Weltwirtschaftskrise sind u.a. Charles Feinstein/Peter Temin/Gianni Toniolo, The European Economy Between the Wars, Oxford 1997; Barry Eichengreen, Golden Fetters. The Gold Standard and the Great Depression 1919 - 1939, Oxford 1992 sowie Peter Temin, Lessons from the Great Depression, Cambridge, MA 1989. Vgl. Knut Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982. Vgl. Harold Cole/Lee Ohanian, The Great Depression in the United States From A Neoclassical Perspective, in: Federal Reserve Bank of Minneapolis Quarterly Review, 23 (1999), S. 2 - 24. Vgl. mit unterschiedlichen Bewertungen Peter Rappoport/Eugene White, Was There a Bubble in the 1929 Stock Market?, in: Journal of Economic History, 53 (1993), S. 549 - 574; Ellen McGrattan/Edward Prescott, The 1929 Stock Market: Irving Fisher Was Right, in: International Economic Review, 45 (2004), S. 991 - 1009. Vgl. Milton Friedman/Anna Schwartz, A Monetary History of the United States 1867 - 1960, Princeton 1963. Einflussreich hierzu Ben Bernanke, Essays on the Great Depression, Princeton 2000. Zum Folgenden vgl. Harold James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924 - 1936, Stuttgart 1988; Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924 - 1934, Berlin 2002. Vgl. Gerlinde und Hans-Werner Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1991.
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Ritschl, Albrecht
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32007/war-2008-das-neue-1931/
Zwar gibt es Ansatzpunkte für einen Vergleich der heutigen Situation mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Aber im Detail zeigt sich, das die Unterschiede überwiegen.
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Leben und Kultur der Deutschen im Ural und Sibirien nach der Deportation | Russlanddeutsche | bpb.de
Nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges wurde die deutsche Bevölkerung ab Mitte August 1941 von der Halbinsel Krim, aus der Umgebung von Leningrad, danach aus der Wolgaregion, aus Zentralrussland und anderen Regionen und Städten des Europäischen Teils der UdSSR nach Interner Link: Kasachstan und Sibirien deportiert. Begründet wurde das mit Sicherheitsinteressen, wobei den in der Wolgaregion wohnhaften Deutschen (Interner Link: Autonome Sozialistische Sowjetrepublik, ASSR der Wolgadeutschen, Gebiete Saratow und Stalingrad) vorgeworfen wurde, sie würden in ihrer Mitte "Tausende und aber Tausende Diversanten und Spione" verbergen, "die nach dem aus Deutschland gegebenen Signal Explosionen in den von Wolgadeutschen besiedelten Rayons hervorrufen sollen". Dieser Vorwurf der Bereitschaft zur Kollaboration mit Nazi-Deutschland und der Vorbereitung von bewaffnetem Widerstand und Sabotage im Rücken der Roten Armee wurde vom Volkskommissariat des Innern (NKWD) schon im Verlauf der Interner Link: "Großen Säuberung" in den Jahren 1937-1938 tausendfach gegen Deutsche in der Ukraine und anderen Landesteilen erhoben und als Grund für die Hinrichtung durch Erschießen, seltener für die Einweisung in Besserungsarbeitslager (ABL, russisch: ITL) des GULAG für 10 Jahre genannt. Im September 1941 wurden 18.600 Männer im arbeitsfähigen Alter aus der Ukraine in ABL überstellt. Ihnen folgten Soldaten und Offiziere der Roten Armee, die aus den kämpfenden Armeeeinheiten abgezogen wurden. Die Zivilbevölkerung wurde nach Sibirien und Kasachstan deportiert und dort der Überwachung durch das NKWD unterstellt. Der Arbeitskräftebedarf auf Baustellen der Rüstungsindustrie, des Transportwesens, im Bergbau, der Forst- und Landwirtschaft im Ural und in Sibirien wurde zum großen Teil durch deutsche Männer im Alter von 15 bis 55 und Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren gedeckt, die durch die Kreiswehrersatzämter zum Einsatz in Arbeitslagern mobilisiert wurden. Zum 1. Januar 1944 waren im Kohlebergbau des sibirischen Kusbass 50 Prozent aller Mobilisierten deutsche Frauen und Heranwachsende. Auf Baustellen der Rüstungsindustrie im Ural, die dem NKWD unterstellt waren, lag der Anteil deutscher Arbeitsarmisten ("Trudarmee") nach Berechnungen des russischen Historikers V. Kirillov, zwischen 30 und 90 Prozent des "Sonderkontingents". In manchen Industriebetrieben stellten sie 35-40 Prozent der Belegschaft. Berechnungen von Grigorij Ja. Malamud zufolge befanden sich zum 01. Januar 1944 in Arbeitslagern des NKWD und anderer Volkskommissariate 316.000 deutsche Arbeitsarmisten, davon 119.358 im Ural. In den Jahren 1942-47 sind allein in den Lagern Usol‘lag, Tagillag, Bogoslovlag und Bakallag 14.460 deutsche Arbeitsarmisten an Hunger, Krankheiten, Verletzungen und Erschöpfung zu Tode gekommen. Aus Arbeitsarmisten werden Sondersiedler Ab Mai 1945 begann man mit der Entlassung aus den Arbeitslagern von Arbeitsunfähigen und Invaliden. Im April 1946 wurde die Arbeitsarmee als solche abgeschafft und die Arbeitsarmisten dem Regime der Sondersiedlung unterstellt. Einem Teil der "ortsansässigen" Deutschen in den Gebieten Omsk und Orenburg sowie in der Region Altaj (Stand 1951: 103.764 Personen) blieb das Regime der Sondersiedlung erspart. "Ortsansässige" Deutsche, die Im Kohlebergbau, in der Papierindustrie, in Betrieben der Volkskommissariate für Bauwesen und Erdölförderung zum Einsatz kamen, wurden 1945-46 in die ständige Belegschaft überführt, dem Regime der Sondersiedlung unterstellt und bekamen das Recht ihre Familien zu sich zu holen. Am 26. November 1948 trat ein Dekret des Obersten Sowjets der UdSSR in Kraft, wonach das unerlaubte Entfernen aus den zugewiesenen Aufenthaltsorten (Sondersiedlung) mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft wurde. Zum 01. Januar 1949 befanden sich im europäischen Norden 31.937, im Ural 155.713, in Sibirien 355.652 und in Fernost 6.873 Deutsche. Die Bedeutung der deutschen Sondersiedler als Arbeitskraft, über deren Verwendung frei entschieden werden konnte, verdeutlichen folgende Zahlen: 1950 stellten sie im Gebiet Čeljabinsk 88,6 Prozent, im Gebiet Molotovo 48,2 Prozent, im Gebiet Čkalov (Orenburg) 99,9 Prozent, im Gebiet Sverdlovsk 77,3 Prozent, in der Baschkirischen ASSR 66,8 Prozent und in der Udmurtischen ASSR 92,6 Prozent der Sondersiedler. Aufhebung des Sondersiedlerstatus, aber ohne Rückkehrrecht Die Aufhebung des Regimes der Sondersiedlung erfolgte per Dekret des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 "in Anbetracht der Tatsache, dass die bestehenden Beschränkungen in der Rechtsstellung der deutschen Sondersiedler und ihrer Familienangehörigen... in Zukunft nicht weiter notwendig sind...". Für die Binnenmigration nach 1955 spielte eine entscheidende Rolle das Verbot einer Rückkehr in die Siedlungsgebiete der Vorkriegszeit. Jeder Sondersiedler musste bei der Aufhebung der Sondersiedlung schriftlich bestätigen, darüber informiert worden zu sein. Bis September 1956 sind dennoch 1672 Wolgadeutsche in die Wolgaregion zurückgekehrt. Dieses Verbot wurde erst mit dem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 9. Januar 1974 aufgehoben. Wie bedeutend die Veränderung der Bevölkerungszahl in einigen Gebieten war, sieht man in Tabelle 1. Auffallend ist eine räumliche Umverteilung der Bevölkerung nach der Aufhebung des Regimes der Sondersiedlung. Während die Gebiete mit kompakten deutschen Siedlungen aus der Vorkriegszeit (Omsk, Orenburg) einen Zuwachs zu verzeichnen hatten, ging die Zahl der deutschen Bevölkerung in den Regionen Altaj und Krasnojarsk, in den Gebieten Kemerovo, Novosibirsk, Archangel'sk, Perm' und der Komi ASSR durch Abwanderung nach Kasachstan und in den europäischen Teil der UdSSR stark zurück. In den Jahren zwischen 1970 und 1989 stabilisierte sich diese Situation in der Region Krasnojarsk sowie in den Industriegebieten Kemerovo, Čeljabinsk und Sverdlovsk. Durch den Zuzug der Familien zu den dort der ständigen Belegschaft der Industriebetriebe zugeschlagenen ehemaligen Arbeitsarmisten wurden in den letztgenannten zwei Gebieten und dem Gebiet Perm' fast ebenso viele Frauen wie Männer gezählt. Die Region Altaj und die Gebiete Omsk und Novosibirsk wiesen nach Abwanderung eines Teils der dorthin Deportierten beständig einen höheren Anteil an Frauen auf. Auseinanderentwicklung der deutschen Bevölkerung Im letzten Jahrzehnt der Existenz der UdSSR ging die Auseinanderentwicklung der deutschen Bevölkerung weiter. Die Verwaltungsgebiete Altaj und Omsk hatten von 1979 bis 1989 eine Zunahme der deutschen Bevölkerung von 2,4 Prozent bzw. 11,1 Prozent, wobei im Gebiet Omsk der Urbanisierungsgrad um 35,1 Prozent angestiegen ist. Während 1979 61,4 Prozent der deutschen Bevölkerung des Gebiets Deutsch als ihre Muttersprache nannten, waren es 1989 56,1 Prozent. Bei der Stadtbevölkerung gingen die Werte von 39 auf 38,4 Prozent, bei der Landbevölkerung dagegen von 70,9 Prozent stärker auf 66,2 Prozent zurück. Im Gebiet Čeljabinsk hat sich die Zahl der deutschen Bevölkerung nicht signifikant verändert, wobei die Stadtbevölkerung geringfügig ab und die Landbevölkerung in noch geringerem Maße zunahm. Die Nennung des Deutschen als Muttersprache ging aber bei der Landbevölkerung stärker zurück. In den Gebieten Sverdlovsk und Perm' ist bei einer abnehmenden Bevölkerungszahl sowohl in Städten, als auch auf dem Lande, von der Landbevölkerung 1989 Deutsch häufiger als Muttersprache genannt worden. Schuldlos von der Heimat getrennt Der rechtliche Status der deutschen Bevölkerung veränderte sich nur langsam. Mit dem Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 wurde die 1941 pauschal erhobene Anschuldigung der Wolgadeutschen mit Hitlerdeutschland als unbegründet bezeichnet und zurückgenommen. Gleichzeitig wurde behauptet, dass "die Gegenden ihres früheren Wohnorts besiedelt sind". Die deutsche Bevölkerung habe "an ihrem neuen Wohnort in einer Reihe von Republiken, Regionen und Gebieten des Landes festen Fuß gefasst". Die Ministerräte der Unionsrepubliken wurden "zwecks weiterer Entwicklung der Rayons mit deutscher Bevölkerung beauftragt, der deutschen Bevölkerung, die auf dem Territorium der jeweiligen Republik lebt, auch künftig Hilfe und Beistand beim wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau unter Berücksichtigung ihrer nationalen Besonderheiten und Interessen zu leisten". Der Erlass wurde nicht veröffentlicht. Erst auf Umwegen hat die deutsche Bevölkerung davon Kenntnis bekommen, die einen von leitenden KP-Funktionären, die anderen aus der Wochenzeitung "Neues Deutschland". Wolgadeutsche sahen sich jetzt schuldlos für immer von ihrer Heimat getrennt. Das wurde von dem politisch aktiveren Teil dieser Bevölkerungsgruppe als ungerecht empfunden und als Ansporn zum Handeln verstanden. Einzelne Personen und kleinere Gruppen schrieben Briefe und Petitionen an die Staatsführung und die Leitung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), in denen sie sich über die Verletzung der "Leninschen Nationalitätenpolitik" beschwerten und die volle Rehabilitierung und Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen einsetzten. Aus Einzelpersonen wurde eine Autonomiebewegung, die eine aus 13 Personen bestehende Delegation nach Moskau entsandte. Delegation für die Autonomie an der Wolga Nachdem die britische BBC in einer russischsprachigen Sendung über die Anwesenheit und Anliegen dieser Delegation berichtete, fand sich der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets Anastas Iwanowitsch Mikojan zu einem Treffen bereit. Am 2. Januar 1965 empfing er neun Mitglieder der Delegation zu einem Gespräch, bei dem er die Veröffentlichung des Erlasses in einer deutschen Zeitung und Verbesserungen auf kulturellem Gebiet versprach. Das wichtigste Anliegen, die Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga, lehnte er ab, da es dafür kein Territorium gäbe. Delegationsmitglieder berichteten nach ihrer Rückkehr über das sehr enttäuschende Ergebnis, worauf im Juni/Juli 1965 eine zweite Delegation, bestehend aus 43 Personen, Moskau aufsuchte. Auch diese Delegation konnte nur unbedeutende Verbesserungen erreichen. Beiden Delegationen gehörten Vertreter der deutschen Bevölkerung der Region Krasnojarsk und des Gebiets Sverdlovsk an. Im Juli 1967 reiste eine dritte Delegation nach Moskau. Sie kam dort allerdings nicht vollzählig an und konnte nicht einmal mehr ein Gespräch mit hochrangigen Politikern oder Beamten erreichen. Deutschunterricht und kulturelle Betreuung Die KPdSU und staatliche Behörden verfolgten nach der Aufhebung des Regimes der Sondersiedlung das Ziel, die deutsche Bevölkerung in den Gegenden zu behalten, in denen sie als Arbeitskräfte benötigt wurden. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Maßnahmen auf den Gebieten Deutschunterricht, deutschsprachige Medien, Laienkunst, politische Integration und wirtschaftliche Entwicklung initiiert. In Barnaul konnte zwischen Dezember 1955 und April 1957 die Zeitung "Arbeit" für die Region Altaj in deutscher Sprache erscheinen. Im Juni 1957 erschien erstmals die Kreiszeitung "Rote Fahne" in Slavgorod. 1958 begann in Moskau die überregionale Zeitung "Neues Leben" zu erscheinen. Ab dem Schuljahr 1957/58 konnte in einigen Regionen und Gebieten der RSFSR mit hohem Anteil von deutschen Schülern auf Wunsch der Eltern von der zweiten Klasse an ein sogenannter muttersprachlicher Deutschunterricht eingeführt werden. An den pädagogischen Fachschulen in Slavgorod, Orenburg und Isil-Kul sowie an den pädagogischen Hochschulen Novosibirsk, Omsk, Barnaul und Orenburg wurden Abteilungen eingerichtet, an denen Lehrer für das Fach "muttersprachlicher Deutschunterricht" ausgebildet werden sollten. An der Pädagogischen Hochschule Omsk wurde das Fach Dialektologie eingeführt. Unter der Leitung von Prof. Hugo Jedig wurden verschiedene deutsche Dialekte und deren Rolle beim Erlernen des Hochdeutschen erforscht. Die Schulen wurden jedoch für den muttersprachlichen Deutschunterricht sehr unzureichend mit Lehrern, Schulbüchern und Anschauungsmaterial ausgestattet. Im Ergebnis ging nach wenigen Jahren die Zahl der Schulen, an denen man bemüht war dieses Fach zu unterrichten, zurück. So blieben in der Region Altaj von den 72 Schulen aus dem Jahr 1958 im Jahr 1990 nur noch 21 übrig. Die Ausreisebewegung bekommt landesweit Zulauf Die Entspannung in den internationalen Beziehungen (Unterzeichnung des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 1966, des Warschauer und des Moskauer Vertrages der Bundesregierung von 1970, Beginn der KSZE-Verhandlungen in Helsinki 1971) nährten auch bei den Deutschen in der UdSSR die Hoffnung auf grundlegende Änderungen ihrer Lage. Das betraf vor allem das Recht auf freie Religionsausübung, auf Familienzusammenführung mit Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland, anderen westlichen Staaten und in der DDR. Die Ausreisebewegung hat landesweit ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß erreicht, wobei Ausreisewillige 1972-74 in Moskau und Tallinn mehrere Kundgebungen und Sitzstreiks zur Unterstützung ihrer Forderungen durchführten. In Karaganda und anderen Orten Kasachstans gab es erstmals Kundgebungen. Verstärkung der Erziehung der deutschen Bevölkerung im Geiste des sowjetischen Patriotismus Bekannt ist, dass das Gebietsparteikomitee Nowosibirsk der KPdSU und das KGB ab Februar-März 1974 die Überwachung der deutschen Bevölkerung (Post aus der Bundesrepublik, Kontakte mit Touristen, Auslandsreisen, religiöse Gemeinden, Zuweisung von Wohnraum usw.) verschärft haben. Das Zentralkomitee (ZK) der KPdSU hat auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung mit dem Beschluss "Über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit unter Bürgern der UdSSR deutscher Volkszugehörigkeit" vom 26. Juni 1974 reagiert. Landesweit waren die Parteikomitees und staatlichen Organe zur Verstärkung der Erziehung der deutschen Bevölkerung im Geiste des sowjetischen Patriotismus und Internationalismus, zur atheistischen Propaganda und Bekämpfung der Emigrationsbewegung verpflichtet. Man "entdeckte" erneut gravierende Defizite beim muttersprachlichen Deutschunterricht, richtete 1975 ein "Deutsches Studio" an der Moskauer Ščepkin-Theaterhochschule zwecks Ausbildung von Schauspielern für ein zukünftiges deutsches Schauspieltheater ein. Bei Wahlen in die örtlichen und regionalen Sowjets wurden mehr deutsche Kandidaten aufgestellt. Spürbar aufgestockt wurde die Aufnahme von Deutschen in die KPdSU und die Jugendorganisation KOMSOMOL. In Moskau erkannte man, dass damit die deutsche Bevölkerung nicht zufriedenzustellen war. Auf Beschluss des Politbüros des ZK der KPdSU vom 6. August 1976 befasste sich eine Kommission unter der Leitung des KGB-Vorsitzenden Jurij Andropov mit der Untersuchung der Fragen der deutschen Bevölkerung. Als Lösung wurde 1979 die Gründung eines deutschen Autonomen Gebiets in Kasachstan mit der Stadt Jermentau als Zentrum vorgeschlagen. Kundgebungen der kasachischen Bevölkerung und ein ablehnendes Taktieren der Leitung der Republik führten zum Scheitern des Vorhabens. Die sowjetische militärische Einmischung in Afghanistan und die Stationierung der SS-20-Raketen in der DDR wurden u.a. mit dem Boykott der Olympiade 1980 in Moskau und dem NATO-Doppelbeschluss beantwortet. Die eingetretene Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen und die anhaltende innenpolitische Stagnation konnten erst angegangen werden, nachdem der neue Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow seine Politik der Offenheit und der Umgestaltung (Glasnost und Perestroika) umzusetzen begann. In der Presse und in öffentlichen Veranstaltungen wurde über Verbrechen des Staates während der Stalin-Diktatur berichtet. Bürgerrechtler gründeten 1987 die Gesellschaft "Memorial" in Moskau mit Abteilungen in verschiedenen Regionen des Landes. Auch in den deutschsprachigen Zeitungen "Neues Leben", "Rote Fahne" und "Freundschaft" begann man über Fragen der nationalen Identität und jahrzehntelang anhaltenden Diskriminierung zu schreiben. Ende Dezember 1987 war in einer zweitägigen Besprechung mit ehrenamtlichen Korrespondenten der "Neues Leben" die Rede von der Notwendigkeit der Wiederherstellung der "sowjetischen Autonomie, wie sie von 1918 bis 1941 bestand". Das hatte Signalwirkung und hat der öffentlichen Diskussion neuen Aufschub gegeben, da man scheinbar keine Sanktionen mehr zu befürchten hatte. Forderungen nach voller Rehabilitation und Autonomie werden lauter Die Autonomiebewegung bekam einen kräftigen Zuwachs. Im April 1988 kam eine Delegation nach Moskau. Im Juli-August folgte ihr eine weitere Delegation der Befürworter der Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga. Dieser Delegation gelang es zahlreiche Schriftstücke mit Forderungen nach voller Rehabilitierung an die Partei- und Staatsleitung sowie an Massenmedien weiterzugeben. Im Oktober 1988 kam erneut eine Delegation, jetzt bestehend aus 103 Personen, nach Moskau. Es kam sogar zu einem Treffen des in Moskau weilenden Bundeskanzlers Helmut Kohl mit einer Gruppe von Befürwortern der Autonomie. Zum Abschluss des Aufenthalts dieser Delegation wurde ein Koordinationszentrum der Autonomiebewegung gebildet, dem ca. 200 Vertreter der deutschen Bevölkerung aus sechs Unionsrepubliken angehörten. Die Autonomiebewegung profitierte von der in Gang gekommenen Demokratisierung der Gesellschaft. Ende März 1989 wurde in Moskau vor den Augen der sowjetischen und ausländischen Presse die Gesellschaft "Wiedergeburt" gegründet. Unter den 105 Delegierten, die ca. 50 Tausend Deutsche vertraten, befanden sich 36 Personen aus Sibirien und der Ural-Region. Die Gesellschaft "Wiedergeburt" entwickelte sich in kurzer Zeit zu einer Massenorganisation. Ihre Vertreter wurden an der Arbeit einer Kommission des Nationalitätenrates des Obersten Sowjets der UdSSR zur Untersuchung der Probleme der deutschen Bevölkerung beteiligt, die Gesellschaft selbst bekam jedoch bis zum Zusammenbruch der UdSSR nicht den Status einer juristischen Person. Die Nationalitätenpolitik der UdSSR stand 1989 auf dem Prüfstand. Am 14. November 1989 hatte der Oberste Sowjet der UdSSR eine Deklaration "Über die Anerkennung der repressiven Akte gegen die zwangsweise umgesiedelten Völker als gesetzeswidrig und verbrecherisch und die Gewährleistung ihrer Rechte" abgegeben. Am 28. November folgte ein Beschluss "Über Schlussfolgerungen und Vorschläge der Kommission für Probleme der Sowjetdeutschen und des Volkes der Krim-Tataren". Wenig später beschloss der Ministerrat der UdSSR am 21. Dezember 1989 eine Kommission zur Umsetzung dieser Vorschläge zu bilden. Die Wiederherstellung der Autonomen Republik an der Wolga schien in greifbare Nähe zu kommen, doch das rief bei Teilen der regionalen Eliten in der Wolgaregion entschiedenen Widerstand hervor. Nach Ausreisegenehmigung siedeln die meisten Deutschen in die Bundesrepublik Im ZK der KPdSU und im KGB wurde als Alternative die Gründung einer Kulturautonomie ohne Territorium, aber mit Vertretungsbefugnis im Obersten Sowjet und in Regierungsorganen, favorisiert. Dafür gab es weder eine Verfassungsgrundlage, noch eine gesetzliche Berechtigung. Diese Idee wurde jedoch von einer Reihe von "konstruktiven Elementen" aus der Führungsgruppe der Autonomisten als Handlungsziel übernommen. Darüber kam es zur Spaltung der Gesellschaft "Widergeburt", zur Gründung von mehreren mit einander konkurrierenden Vereinen. Die Gewährung des Rechts auf freie Ausreise aus der UdSSR bei Vorliegen eines Einreisevisums eines Drittstaates führte binnen weniger Jahre zur Übersiedlung des überwiegenden Teils der Deutschen Bevölkerung in die Bundesrepublik Deutschland. Die Rechtsgrundlage für ihre Aufnahme war das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, wonach Opfer der Politik des Dritten Reiches eine Wiedergutmachung erfahren sollten. Kirillov Viktor Michajlovič: Arbeitsmobilisierte Deutsche im Ural, in: "... In Arbeitskolonnen für die gesamte Zeit des Krieges". Zeitzeugen und Forscher berichten über die Deutschen in der Trudarmee. Hrsg.: A. German, O. Silantjewa. IVDK-Medien, Moskau 2012, S. 86. Grigorij Jakovlevič Malamud: Obščie problemy: Mobilizovannye sovetskie nemcy v 1942-1948 gg. Čeljabinsk 1993, S. 131 Auf Drängen der Autonomie-Delegation hat der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Anastas Mikojan am 2. Januar 1965 die Veröffentlichung des Erlasses vom 29. August 1964 zugesagt. Der Erlass wurde daraufhin am 5. Januar 1965 im Staatsanzeiger in russischer Sprache, am 20. Januar 1965 in der Wochenzeitung "Neues Leben" und am 22. Januar 1965 vom Rundfunk in Alma-Ata in deutscher Sprache veröffentlicht. Im Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 9. Januar 1974 heißt es: „Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Erlasses des Obersten Sowjets der UdSSR vom 3. November 1972 „Über die Aufhebung der Einschränkungen in der Wahl des Wohnsitzes, die früher für einzelne Kategorien der Bürger vorgesehen waren“, beschließt das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR: Die Rechtsakte der UdSSR entsprechend der Anlage als außer Kraft gesetzt zu qualifizieren.“ Dieser Erlass war zwar nicht zur Veröffentlichung bestimmt, nannte aber die außer Kraft gesetzten Einschränkungen, während der Erlass von 1972 die Aufhebung der Einschränkungen quasi nur ankündigte.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-15T00:00:00"
"2018-10-09T00:00:00"
"2021-11-15T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/277189/leben-und-kultur-der-deutschen-im-ural-und-sibirien-nach-der-deportation/
Unter dem pauschalen Vorwurf der Kollaboration mit dem Nazideutschland wurden Russlanddeutsche ab Mitte August 1941 neben Kasachstan auch an den Ural und nach Sibirien deportiert. Schuldlos von der Heimat getrennt entsteht eine landesweite Ausreisebe
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Sexualisierte Gewalt im Kontext von Krieg und Frieden | Femizide und Gewalt gegen Frauen | bpb.de
Was ist sexualisierte Kriegsgewalt? In fast allen bewaffneten Konflikten ist sexualisierte Kriegsgewalt allgegenwärtig. Oft wird in diesem Zusammenhang vor allem über Vergewaltigungen gesprochen. Der Begriff umfasst jedoch auch andere sexualisierte Gewalttaten, die in Verbindung mit dem Kriegsgeschehen stattfinden. Dazu zählen beispielsweise unerwünschtes Anfassen von Körperteilen, erzwungenes Auskleiden, Zwangsprostitution und sexuelle Versklavung. Meistens sind Frauen und Mädchen betroffen – aber auch queere Menschen, nicht-binäre und trans*Personen sowie Männer und Jungen können dem ausgesetzt sein. Die Täter sind meistens männlich: Soldaten, Polizisten und Paramilitärs, aber auch Zivilisten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Sexualisierte Kriegsgewalt stellt einen schweren Eingriff in die körperliche Integrität eines Menschen dar und ist eine Menschenrechtsverletzung. Sie kann als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden. Innerhalb des Kriegsgeschehens kommt es verstärkt zu sexualisierter Gewalt, wenn Soldaten oder bewaffnete Milizen ihre Macht und den Zusammenbruch rechtsstaatlicher Kontrollmechanismen ausnutzen. Häufig, das bestätigen Historikerinnen, vergewaltigen Soldaten, weil sie keine Strafverfolgung fürchten müssen. Diese Form der Gewalt kann auch Teil einer Kriegsstrategie sein. Sie wird dann innerhalb des Militärs toleriert, in manchen Fällen explizit angeordnet. Auch vor Ausbruch eines Krieges kann sexualisierte Gewalt Bestandteil von Pogromen oder anderen Formen der Unterdrückung sein. In jedem Falle ist sie immer Teil eines übergeordneten Systems der Diskriminierung und Unterdrückung. Es ist daher wichtig, bei der Analyse von sexualisierter Gewalt die spezifischen Kriegskontexte wie auch die Zeit vor Ausbruch eines Kriegs in den Blick zu nehmen. Denn zu einer umfassenden Analyse gehört auch die Tatsache, dass sexualisierte Gewalt bereits in Friedenszeiten Alltagserfahrung für viele Frauen und Mädchen ist. Über Jahrhunderte wurden diese Verbrechen bagatellisiert und verharmlost. Erst seit den Massenvergewaltigungen in Interner Link: Bosnien-Herzegowina in den 1990er Jahren wurden sie verstärkt in Öffentlichkeit und Politik als solche anerkannt. Seit der Ausweitung des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 wird insbesondere der strategische Einsatz sexualisierter Gewalt als "Kriegswaffe" diskutiert. Warum eine Fokussierung auf den kriegsstrategischen Einsatz der Gewalt jedoch auch problematisch ist und was Überlebende jenseits der juristischen Aufarbeitung brauchen, soll im Folgenden erläutert werden. Einsatz der Frauenrechtsbewegung für die Anerkennung sexualisierter Kriegsgewalt Sexualisierte Kriegsgewalt ist in unzähligen historischen Quellen aus nahezu allen bewaffneten Konflikten seit der Antike belegt. Neben künstlerischer Darstellung und Literatur existieren Kirchendokumente, Gesetzestexte und Geschichtsschreibung, aber auch Berichte von Soldaten, Überlebenden und Angehörigen, die sexualisierte Gewalt dokumentieren. In der Geschichte wurde sie meistens nicht als Verbrechen thematisiert oder bezeichnet. Einer patriarchalen Logik folgend werden Frauen und Mädchen objektifiziert und zur Kriegsbeute degradiert, die Gewalt beschönigt, als kriegsstrategisches Mittel glorifiziert oder als "Kollateralschaden" bezeichnet. In Homers Ilias werden die Frauen Trojas den griechischen Soldaten beim Fall der Stadt als "Belohnung" versprochen. "Trostfrauen" wiederum wurden die zehntausenden Frauen genannt, die im Zweiten Weltkrieg durch das japanische Militär versklavt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen wurden. Und auch in der modernen Interner Link: Medienberichterstattung wird sexualisierte Gewalt immer noch oft als "Sex-Verbrechen" normalisiert und verharmlost. In den wenigen Fällen, in denen Kriegsvergewaltigungen tatsächlich öffentlich als Verbrechen gebrandmarkt wurden, war dies mehr Teil der Kriegs- und Nachkriegspropaganda als ein ernstgemeinter Versuch, Unrecht anzuerkennen und das Leid und die Kraft zu würdigen, mit der Betroffene diese Gewalt überlebt hatten. So wurden im Zweiten Weltkrieg Frauen und Mädchen in allen vom Krieg berührten Regionen vergewaltigt. Verantwortlich waren Soldaten aller beteiligter Armeen, inklusive der Wehrmacht. Thematisiert und instrumentalisiert wurden jedoch beispielsweise in Westdeutschland vor allem die Verbrechen zum Ende des Krieges durch Angehörige der russischen Armee. So verknüpfte man Gewalt mit der Herkunft der Täter, bediente und schuf rassistische Stereotype. Bereits seit den 1970er Jahren setzten sich Feministinnen, zum Beispiel aus der Bürgerrechtsbewegung in den USA und insbesondere jüdische und afroamerikanische Forscherinnen verstärkt dafür ein, frauenfeindliche Narrative zu brechen und sexualisierte Kriegsgewalt zu einem politischen Thema zu machen. Dennoch dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis sich der gesellschaftliche Blick veränderte: Wendepunkt in der Betrachtung von sexualisierter Kriegsgewalt waren die Kriege in Bosnien-Herzegowina und Ruanda und die damit verbundenen Genozide. Sexualisierte Kriegsgewalt und insbesondere ihre systematische Anwendung im Kontext von Vertreibung und Interner Link: Genozid erhielt jetzt erstmals die Aufmerksamkeit einer breiteren internationalen Öffentlichkeit. Das vorherrschende Narrativ von vergewaltigten Frauen als unvermeidlichen "Kollateralschaden" des Krieges konnte vor allem durch die beharrliche Arbeit von Frauenrechtsaktivistinnen und dem Mut bosnischer Frauen, die über die erlebte Gewalt öffentlich sprachen, gebrochen werden. Dies gelang auch mit der Einordnung als "Kriegswaffe" und dem Fokus auf den gezielten, funktionalen Einsatz der Gewalt als Teil der Kriegsstrategie. Ein wichtiger Ausgangspunkt für politische Veränderung war die Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing. Hier wurde in der Abschlusserklärung der systematische Einsatz von sexualisierter Gewalt benannt und angeprangert. Die Konferenz war bahnbrechend für die fünf Jahre später verabschiedete UN-Sicherheitsratsresolution 1325 und die daraus entstandene Agenda "Frauen, Frieden, Sicherheit". Die Resolution erkennt erstmals die besondere Schutzbedürftigkeit von Frauen und Mädchen in Krisengebieten sowie ihre zentrale Rolle als Akteurinnen für Frieden an. Die UN-Resolution 1325 enthält wichtige Maßnahmen, zum Beispiel die Partizipation von Frauen an Friedensprozessen und den Schutz von Frauen und Mädchen insbesondere vor sexualisierter geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Strafverfolgung der Täter. Sexualisierte Gewalt als Folge systematischer Diskriminierung Im Zuge der weiteren Debatte etablierte sich – vor allem im politischen Diskurs – vermehrt die Einordnung als "Kriegswaffe". Dieser Begriff soll vor allem die Zerstörungskraft und die verheerenden Folgen, sowie den strategischen Einsatz sexualisierter Gewalt deutlich machen: So wurde zum Beispiel im Jahr 2014 – also ein Jahrzehnt nach den Kriegen in Bosnien-Herzegowina und Ruanda – sexualisierte Gewalt als "Waffe" von einer breiteren internationalen Öffentlichkeit thematisiert, als die systematische Verschleppung und Versklavung von Frauen und Mädchen im Kontext des Genozids an der jesidischen Bevölkerung im Irak durch den sogenannten Interner Link: Islamischen Staat angeprangert und verfolgt wurde. Die gestiegene Öffentlichkeit und eine veränderte Haltung haben auch dazu beigetragen, dass nach der Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Jahr 2022 sowohl die ukrainische Regierung als auch die internationale Gemeinschaft sich verstärkt um die Dokumentation solcher Verbrechen bemüht und damit die Voraussetzung für künftige Strafverfolgung schafft. Das sexualisierte Kriegsgewalt als "Waffe" ernst genommen wird und internationale Reaktionen hervorruft, ist ein wichtiger Erfolg der weltweiten Frauenrechtsbewegung. Dabei sollte der Fokus der Betrachtung sich nicht allein um die Frage drehen, ob es eine Anordnung zu sexualisierter Kriegsgewalt gab oder nicht: Der Einsatz von sexualisierter Gewalt erfolgt oft nicht systematisch und wird nicht explizit von militärischen Befehlshabern befohlen. Vielmehr sorgen Vorgesetzte dafür, das schwere Menschenrechtsverbrechen wie Vergewaltigungen innerhalb der Militäreinheiten geduldet und nicht strafverfolgt werden. Damit wird bewusst eine Atmosphäre geschaffen, die Soldaten zu dieser Gewalt ermutigen kann. Wenn Militärs Vergewaltigungen durch ihre Soldaten regelrecht einplanen, statt sie zu verhindern, kann man von einer strategischen Dimension sprechen – auch ohne systematische Anordnung: Wenn der russische Präsident Wladimir Putin 2022 die mutmaßlich verantwortlichen Soldaten für das Massaker im Kiewer Vorort Butscha öffentlich für ihren Einsatz auszeichnet, so ist das ein eindeutiger Code an die Armee, dass die ausgeübten Verbrechen nicht nur geduldet, sondern sogar belohnt werden. Weiter greift es zu kurz, sexualisierte Kriegsgewalt auf die systematische Anwendung durch eine Kriegspartei zu reduzieren. Frauen aus Kriegs- und Krisengebieten sind auch unabhängig von unmittelbaren Kampfhandlungen permanent der Gefahr von sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Das Ausmaß der Gewalt, das Frauen im nahen Umfeld, zu Hause, in einem Schutzbunker, auf der Flucht und auch im Nachkriegskontext erleben, kann weitaus höher sein als im direkten Zusammenhang mit den Kampfhandlungen. Wenn die öffentliche Sicherheit einbricht, wenn Frauen verstärkt in Abhängigkeiten geraten, steigt das Ausmaß von Übergriffen: Polizei, Militär und andere Behörden sind ins Kriegsgeschehen eingebunden und können Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt oder auch zur Strafverfolgung nur unzureichend durchsetzen. Gleichzeitig müssen Frauenhäuser und andere Schutzräume in Kriegsgebieten schließen. Ein verengter Blick auf sexualisierte (Kriegs-)gewalt hat fatale Folgen: Die Bedarfe vieler Betroffener werden nicht erkannt, und es können keine wirksamen Gegenmaßnahmen entwickelt werden. Wenn sexualisierte Gewalt verhindert werden soll, muss sie nicht nur als Waffe, sondern als strukturelles Problem begriffen werden. Viele Ursachen sexualisierter Gewalt bestehen unabhängig von Krieg oder Frieden. Auf beiden Seiten eines Krieges sind Gesellschaften geprägt von patriarchalen Wertvorstellungen. Ein Angriff mit sexuellen Mitteln kann auch deshalb das gesamte soziale Gefüge einer Gemeinschaft zerstören, weil die patriarchal geprägte Wertvorstellung des Täters sich häufig mit dem des Vaters, Ehemanns oder Bruders auf der anderen Seite gleicht. Alle Beteiligten des Kriegs sind geprägt durch eine ähnliche Vorstellung von "Ehre" und wie sie angegriffen werden kann. Bevor sie zum Militär gehen, wachsen Jungen weltweit in Gesellschaften auf, in denen Frauen systematisch diskriminiert und abgewertet werden. Wenn diese Jungen als Männer in eine Machtposition kommen, weil sie eine Waffe tragen, Schutz und Sicherheit versprechen und gleichzeitig keine Konsequenzen fürchten müssen, steigt die Gefahr sexualisierter Übergriffe. Es ist bei der Betrachtung von sexualisierter Kriegsgewalt daher wichtig, alle Formen der Gewalt zu benennen und alle Überlebenden zu unterstützen und zu schützen. Die Ursachen für sexualisierte Kriegsgewalt sind dabei nicht nur in der Motivation und möglichen Systematik der Täter zu finden, sondern vor allem in den Gesellschaften, aus denen sie kommen. Überlebende brauchen ganzheitliche Unterstützung Sexualisierte Gewalt kann massive und langanhaltende gesundheitliche und soziale Folgen haben, Schmerzen und chronische Krankheiten auslösen. Betroffene entwickeln posttraumatische Belastungsstörungen. Psychische Folgen wie Ängste oder Depressionen sind häufig. Forschungen zeigen, dass etwa die Hälfte der Frauen, die vergewaltigt wurden, langfristig unter posttraumatischen Stress-Symptomen leiden. Oft ist ihr Vertrauen in sich selbst und andere Menschen erschüttert. Frauen ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück oder werden in ihren Gemeinschaften stigmatisiert und ausgegrenzt. Oft sprechen Frauen ein Leben lang nicht über das erlebte Unrecht. Manche Frauen sind infolge des Traumas nicht mehr arbeitsfähig. Vielen Frauen fehlen sogar die finanziellen Mittel um Medikamente zu bezahlen, die sie auf Grund von Folgeerkankungen benötigen. Überlebende sexualisierter Gewalt brauchen körperliche und materielle Sicherheit. Wie stark und dauerhaft die Folgen eines Traumas sind und ob dieses verarbeitet werden kann, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Die Schwere der traumatischen Erfahrung, die jeweilige Persönlichkeit der Betroffenen und ihre eigenen Überlebensstrategien wirken sich auf die Zeit nach der Traumatisierung aus. Vor allem tragen jedoch die Erfahrungen zur Verarbeitung bei, die Betroffene nach der Gewalt in ihrem sozialen und gesellschaftspolitischen Umfeld machen. Frauenrechtsorganisationen in Krisengebieten bieten betroffene Frauen in akuten Fällen zum Beispiel zunächst einmal einen sicheren Rückzugsort (damit sie nicht zurück in ihre Familien müssen, wenn der Täter z.B. aus dem Kreis der Familie kommt), medizinische und psychosoziale Unterstützung. Außerdem werden die Frauen juristisch beraten wenn sie gegen die Täter vorgehen wollen und langfristig dabei unterstützt für sich und ihre Kinder eine neue Lebensperspektive zu schaffen Ohne angemessene Unterstützung kann das Erlebte nicht verarbeitet werden. Unverarbeitet dauern die Folgen der erlebten Gewalt an und reichen tief in das Leben der Betroffenen. Sie prägen Beziehungen und werden oft als transgenerationale Traumata an die folgenden Generationen weitergegeben. Das gilt für Kinder und Enkel:innen, in deren Familien Vergewaltigung verschwiegen und tabuisiert wurde. Es gilt ebenso für Kinder, die sexualisierte Gewalt mit ansehen mussten. Und es gilt für Kinder, die durch eine Vergewaltigung gezeugt wurden. Es fällt Betroffenen von Vergewaltigungen beispielsweise oft schwer, emotionale Nähe zu den eigenen Kindern und anderen Nahestehenden einzugehen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die Verbrechen zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Das betrifft Familien und Gemeinschaften, Politik und Justiz, Institutionen, Zivilgesellschaft und die allgemeine Öffentlichkeit. Es gilt, das Leid der Betroffenen anzuerkennen und die Kraft zu würdigen, mit der sie Gewalt und Unrecht überlebt haben. Hierfür braucht es ganzheitliche, traumasensible Unterstützung für Überlebende, die langfristig finanziert wird. Lokale und internationale Frauenrechtsorganisationen müssen politisch einbezogen und finanziell unterstützt werden. Aktivist:innen und Überlebende sollten in Friedensverhandlungen und beim Wiederaufbau eine tragende Rolle einnehmen. Susan Brownmiller (1975): Against our Will, Simon & Schuster. Ebd. (o. D.): United Nations Office on Genocide Prevention and the Responsibility to Protect. [online] https://www.un.org/en/genocideprevention/war-crimes.shtml [abgerufen am 12.12. 2022]. 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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-20T00:00:00"
"2023-01-23T00:00:00"
"2023-04-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/femizide-und-gewalt-gegen-frauen/517582/sexualisierte-gewalt-im-kontext-von-krieg-und-frieden/
Seit Jahrhunderten gibt es sexualisierte Kriegsgewalt. Doch erst seit dem Bosnienkrieg und dem Genozid in Ruanda entwickelt sich ein öffentliches Bewusstsein. Wieso kann der Fokus auf den kriegsstrategischen Einsatz auch problematisch sein?
[ "Femizide", "Medien", "Gewalt ", "Frauen" ]
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Wie hat sich die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt entwickelt? | Bildung | bpb.de
So nimmt das Ausbildungsplatzangebot tendenziell ab, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt. Betriebe investieren dann weniger in die Ausbildung möglicher zukünftiger Mitarbeiter. Der wirtschaftliche Abschwung zu Beginn der 2000er Jahre zeigt sich entsprechend auch in einem Absinken des Ausbildungsplatzangebots, während mit den anschließenden Boom-Jahren ab 2006 wieder mehr Ausbildungsplätze angeboten wurden. Auch die Finanzkrise von 2009, in der Grafik am kurzzeitig starken Einbruch des BIP zu erkennen, wirkte sich in dieser Hinsicht deutlich aus. Ab 2009 lässt sich das betriebliche Ausbildungsplatzangebot getrennt vom außerbetrieblichen Angebot ausweisen, das im Wesentlichen die Form staatlich geförderter Ausbildungsprogramme hat. Während das betriebliche Ausbildungsplatzangebot 2009 und 2010 einbrach, wurden vermehrt außerbetriebliche Ausbildungsplätze gefördert. Seitdem ist das außerbetriebliche Angebot wieder rückläufig. Die Zahl der mit Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsverträge stieg 2011 wiederum an, sank bis zum Jahr 2013 und stagniert seitdem. Auffällig ist, dass auch zunehmend mehr Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass Betriebe vermehrte Schwierigkeiten haben, geeignete Auszubildende zu finden. Ferner haben sich Betriebe in den letzten Jahren etwas aus der Ausbildung zurückgezogen, was an der sinkenden Ausbildungsbetriebsquote festgemacht werden kann. Diese Grafik finden Sie im Text "Interner Link: Der Ausbildungsmarkt" von Christian Ebner und Alexandra Uhly.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-10T00:00:00"
"2018-11-30T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/281652/wie-hat-sich-die-situation-auf-dem-ausbildungsstellenmarkt-entwickelt/
Wer eine duale Ausbildung aufnehmen möchte, muss zunächst einmal einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb finden. Dabei hängt die Zahl der verfügbaren Ausbildungsplätze auch von der allgemeinen Wirtschaftslage ab.
[ "Ausbildungsmarkt" ]
29,950
Wie "Neue Kriege" beenden? | Neue Kriege | bpb.de
Einleitung Die überwältigende Mehrheit der modernen Kriege findet bekanntlich nicht länger zwischen Staaten statt, sondern innerhalb der betroffenen Gesellschaften. Sie trägt deshalb auch einen grundlegend anderen Charakter als klassische, zwischenstaatliche Kriege. Die beiden politisch wichtigsten und häufigsten Formen von Krieg oder größeren Gewaltkonflikten sind heute: Aufstandskriege (Aufstände und Aufstandsbekämpfung/Counterinsurgency), bei denen - auch, aber nicht nur gewaltsam - um die Machtverteilung in einem Land gerungen wird. Dabei stehen sich in der Regel eine oder mehrere Aufstandsbewegungen und eine Regierung gegenüber. Nicht selten werden eine oder beide Seiten von auswärtigen Regierungen oder nichtstaatlichen Akteuren unterstützt. Die Kriege in El Salvador und Nicaragua der 1980er Jahre sind klassische Beispiele. Sonderfälle bestehen bei Aufständen/Aufstandsbekämpfung gegen - reale oder als solche wahrgenommene - Besatzungstruppen (wie etwa in Afghanistan oder dem Irak, unter anderen Bedingungen in Palästina).Daneben gibt es kriegerische Auseinandersetzungen oder größere Gewaltkonflikte im Kontext von failed states, bei denen ein funktionierender Staatsapparat entweder nicht (mehr) existiert, irrelevant geworden oder auf das Niveau von Warlords oder Milizen abgesunken ist und verschiedene Gruppierungen (Warlords, ethnische oder ethno-religiöse Gruppen, "Gewaltunternehmer", etc.) um Macht oder Ressourcen kämpfen. Somalia oder Afghanistan in den 1990er Jahren stellen Beispiele dar. Die Unterschiede zwischen diesen Kriegstypen sind zwar bedeutsam, werden aber oft überschätzt. Beide werden kaum jemals konventionell geführt, auch wenn häufig konventionell bewaffnete militärische Einheiten beteiligt sind. In beiden Fällen sind Kriegsbeendigungen durch militärische "Siege" ausgesprochen selten und oft unmöglich, zumindest bevor nicht eine Seite politisch bereits verloren hat. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass beide Typen keine Gegensätze darstellen müssen, sondern miteinander verbunden sein können: Aufstandskriege können zur Schwächung oder Fragmentierung von bereits fragiler Staatlichkeit führen und das Tor zu einem failing state öffnen. Oder ein Aufstandskrieg kann - falls eine solche Kriegsform bereits im Kontext eines failing state stattfindet - zum endgültigen Auseinanderbrechen oder Scheitern eines Staatsapparates führen, wenn zum Beispiel Aufständische den Staat massiv schwächen, selbst aber nicht die Macht erringen, sondern sich die (auch bewaffneten) Fragmente des Staatsapparates verselbständigen und zu eigenständigen Akteuren werden. Die Grenzen beider Kriegstypen sind also durchaus fließend. Bei den Fällen von Aufstandskriegen und Kriegen in failed states fällt auf, dass der Gewinn oder Verlust von Territorium und die Größe und Feuerkraft der Streitkräfte von weitaus geringerer Bedeutung, dass sogar die Gewalt und Zerstörungskraft des Krieges von nachgeordneter Relevanz bei der Kriegsentscheidung sind als in klassischen Kriegen. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Begriffe "Sieg" oder "Kriegsentscheidung" eine andere Bedeutung tragen als bei konventionellen Kriegen. Da es "Entscheidungsschlachten" oder direkte militärische Siege bei diesen Kriegsformen kaum gibt, muss hier Erfolg anders definiert werden. Als Kriterium für Erfolg oder "Sieg" kann nur gelten, ob es einer Konfliktpartei gelingt, die politischen Absichten durchzusetzen, die dem Krieg oder Gewaltkonflikt zugrunde lagen. Hierbei kann es sich um die Gewinnung staatlicher Macht, die Bereicherung einer Führungsgruppe oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen handeln, oder auch um die Durchsetzung einer Veto-Position über zentrale Entscheidungen, die Vernichtung einer politischen oder ethnischen Gruppe, die Selbstbestimmung, Autonomie oder Unabhängigkeit. Solche Ziele können durch Kombination politischer und militärischer Mittel auch dann erreicht werden, wenn ein Krieg nicht militärisch "entschieden" wird - in bestimmten Fällen kann sogar die Verewigung des Krieges eine Strategie sein, um ein Ziel zu erreichen. Viele Aufständische haben Kriege dadurch politisch "gewonnen", dass sie ihn gegen überwältigende militärische Übermacht nicht verloren. Der Kern der meisten aktuellen Gewaltkonflikte und "Kriege" liegt deshalb nicht länger in der Zerschlagung oder Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte. Dieses Ziel wird zwar oft weiter verfolgt, ist aber häufig entweder unmöglich zu erreichen oder nur von niederer Priorität - da Aufständische sich selten in größeren Formationen zur Schlacht stellen, sondern in kleinen Einheiten Überraschungsangriffe aus dem Hinterhalt unternehmen. "Entscheidungsschlachten" sind so kaum möglich. Solange sie dabei von relevanten Sektoren der Bevölkerung unterstützt werden und von dieser ohnehin oft nicht zu unterscheiden sind, kann ein "militärischer Sieg" über sie meist nur durch ethnische Säuberung oder Völkermord gelingen. Deshalb hat sich der im Kern immer "politische" Krieg noch weiter politisiert und wird zunehmend um die Loyalität oder die stillschweigende Tolerierung der Kriegsparteien durch die Bevölkerung geführt. Diese wird zugleich zum Mittel und Ziel der Kriegführung, das hierarchisch organisierte Militär verliert in beider Hinsicht an Bedeutung. Dafür gibt es strategische und taktische Ursachen: Solche gewaltsamen Konflikte werden primär um die politische Macht in einem Land geführt, und nicht, nur indirekt oder in zweiter Linie, um einer fremden Regierung den eigenen Willen aufzuzwingen (etwa eine Provinz abzutreten) oder eine Neuordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen durchzusetzen. Innergesellschaftliche "Macht" mag zwar eine wichtige gewaltsame bzw. militärische Dimension beinhalten, ist aber weit komplexer als der Sieg über eine fremde Armee. (Wobei innerstaatliche Machtkämpfe durchaus eine zwischenstaatliche Dimension in sich tragen können, und dies am stärksten, wenn sie unter Beteiligung von Drittstaaten geführt werden. Bezogen auf den Irak und Afghanistan liegt dies auf der Hand.) Früher wie heute gilt es im Krieg, den Willen und die Fähigkeit (beides hängt offensichtlich eng zusammen) des Gegners zur Fortsetzung des Konflikts zu brechen. Aber während früher beides vor allem von der Funktionsfähigkeit und Stärke der eigenen Streitkräfte abhing, ist dies bei vielen der neuen Kriegsformen nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr der Fall. Bei den beiden oben genannten Kriegstypen wird dies in der Regel vor allem dadurch erreicht, dass dem Gegner die politische, gesellschaftliche und ökonomische Basis für die Führung des Krieges entzogen wird. Das aktuelle Handbuch der US Army und des US Marine Corps zur Aufstandsbekämpfung bringt dies so auf den Punkt: "It is easier to separate an insurgency from its resources and let it die than to kill every insurgent." Eine solche Trennung mag physisch oder politisch-psychologisch erfolgen - in beiden Fällen geht es darum, den Gegner von seinen materiellen und politischen Hilfsquellen abzuschneiden. Erst danach kann militärisches Vorgehen gegen einen solchen Gegner Erfolg zeitigen. Militärische Gewalt ist damit nicht bedeutungslos, aber sie wird häufig von einer strategischen zu einer - wenn auch wichtigen - taktischen Variablen. Governance, State Building und Gegenstaatlichkeit Abgesehen vom nackten Zwang bis zu systematischem Staatsterror und ethnischen Säuberungen bleibt als Strategie zur erfolgreichen Beendigung von Aufstands- und unkonventionellen Bürgerkriegssituationen sowohl für Aufständische als auch Regierungen nur das zähe Ringen um die Unterstützung und Loyalität der zentralen gesellschaftlichen Sektoren des betroffenen Landes. In failed states tritt diese Notwendigkeit zum Teil erst deutlich verzögert ein, wenn es darum geht, die substaatlichen Machtbereiche auf Dauer zu sichern und zu quasi-staatlichen Einheiten zu transformieren. Die Herrschaft Ismail Khans im afghanischen Herat stellte ein Beispiel dafür dar, dass auch Warlords dieses Erfordernis erkennen. Dabei geht es allerdings nicht um oberflächliche Phänomene wie - prinzipiell schnell wandelbare - Zustimmungswerte bei Umfragen, sondern um die gesellschaftliche Verfestigung und das Organisieren der Akzeptanz der politischen Kräfte. Deshalb wird der Kampf um Governance-Strukturen (also um gesellschaftliche Regelungsstrukturen staatlicher, halbstaatlicher oder nichtstaatlicher Art) zum strategischen Hebel solcher unkonventionellen, gesellschaftlichen Kriege. Letztlich ringen die Kriegsparteien um gesellschaftlich organisierte Legitimität - und jede militärische Gewaltanwendung, die diesem Ziel nicht dient oder ihm gar schadet, wirkt kontraproduktiv, selbst wenn sie im konventionellen Sinn "erfolgreich" sein mag. Das Counterinsurgency-Handbuch von US Army und US Marine Corps formuliert diese Punkte in großer Klarheit: "Political power is the central issue in insurgencies and counterinsurgencies; each side aims to get the people to accept its governance or authority as legitimate. (...) The prime objective of any COIN (counterinsurgency; JH) operation is to foster development of effective governance by a legitimate government. Counterinsurgents achieve this objective by the balanced application of both military and non-military means. (... ) (T)he decisive battle is for the people's minds." In Bürgerkriegs- und Aufstandssituationen wird es praktisch immer ein breites Spektrum an Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung geben: Politisch oder ideologisch von der Sache der Aufständischen vollkommen Überzeugte, sie eher opportunis tisch oder halbherzig Bevorzugende, Gleichgültige oder Neutrale, opportunistische oder halbherzige Regierungssympathisanten, überzeugte Regierungsanhänger, darüber hinaus Sektoren, die von einer oder beiden Seiten entweder eingeschüchtert, bedroht oder durch materielle oder andere Vorteile begünstigt werden. Ähnliches gilt weitgehend in Kriegen in failed states. Keiner Konfliktpartei wird es in der Regel gelingen, die gesamte Bevölkerung oder den überwältigenden Teil zu überzeugten Parteigängern zu machen, aber dies ist für einen Erfolg auch nicht erforderlich. Um einen solchen Krieg erfolgreich zu beenden reicht es meist, über einen überzeugten und organisierten Stamm eigener Unterstützer zu verfügen, die allerdings auch aktiv und mobilisierbar sein müssen (z.B. Informationen, Nahrungsmittel und andere Unterstützungsleistungen oder Rekruten bereitstellen). Gleichzeitig müssen die soziale Basis der Gegenseite demotiviert, geschwächt oder politisch gelähmt und den größten Teil der Bevölkerung zumindest zu wohlwollender Neutralität bewegt werden. Um diesem strategischen Ziel nahezukommen, müssen die Bürgerkriegsparteien den entsprechenden Teilen der Bevölkerung etwas zu bieten haben, das die andere Seite nicht bereitstellen kann oder will (z.B. eine Landreform, politische Partizipation, Befreiung von ausländischer Besatzung, Wirtschaftswachstum, Stabilität, Rechtssicherheit, Überleben);legitimer erscheinen als die Gegenseite, gleich auf welche Weise;die politische Unterstützung aus Teilen der Bevölkerung organisatorisch verfestigen und verstetigen und für den politischen und militärischen Kampf nutzbar machen; undsoweit möglich die sympathisierenden Bevölkerungsteile vor Repression und Verfolgung der Gegenseite schützen, zugleich die antagonistischen Gesellschaftssegmente verunsichern. Darüber hinaus bietet es sich oft an, diese politischen Kernelemente programmatisch und ideologisch auf eine für die Bevölkerung plausible Art zusammenzufassen, welche die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft fördert. Im Rahmen von failed states spielt darüber hinaus die ökonomische oder infrastrukturelle Abhängigkeit der Bevölkerung im Rahmen einer Kriegsökonomie eine besondere Rolle, um die Bevölkerung einer Region zum Wohlverhalten zu bewegen, etwa durch Beschäftigungsmöglichkeiten in Milizen oder Schmuggel. Das Ziel all dieser Anstrengungen besteht darin, Bedingungen zu schaffen, damit die Aufständischen - in den bekannten Worten Mao Tse Tungs - sich wie "Fische im Wasser" der Bevölkerung bewegen können, oder, aus der Perspektive der Regierung, die "hearts and minds" der Bevölkerung für sich gewinnen. Genau darin liegt der strategische Schwerpunkt jedes unkonventionellen Bürgerkriegs und jedes Aufstands, der über Sieg oder Niederlage entscheidet. Militärische Mittel sind für die Kriegsbeendigung hierbei nur relevant, wenn sie diesem Ziel dienen oder den Gegner dabei behindern. Es ist offensichtlich, dass die Feuerkraft und Größe der Streitkräfte oder das Erobern oder Halten von Territorium weniger relevant sind als eine feste und dauerhafte politische Verankerung. Dabei verfügen existierende staatliche Strukturen prinzipiell über einen politischen Vorsprung. Real existierende gesellschaftliche und politische Strukturen erscheinen der Bevölkerung zuerst einmal legitimer und "realistischer" als nur gedachte Alternativen. Das Gegebene empfindet man leicht als "normal" und selbstverständlich, bestehende gesellschaftliche Strukturen laden dazu ein, sich zu arrangieren und darin einzurichten. Dagegen haben Aufständische zuerst einmal wenig mehr anzubieten, als möglicherweise ungedeckte Wechsel auf die Zukunft. Daraus resultiert viererlei, nämlich: (1) dass bei funktionierenden und erträglichen oder gar akzeptablen staatlichen (oder substaatlichen) Strukturen Aufstandsbewegungen kaum eine Chance haben; (2) dass bei einer entstehenden oder bestehenden Aufstandssituation die theoretisch beste staatliche Strategie darin besteht, durch Reform zu einem funktionierenden und legitimen Staatsapparat zu werden - wobei manche illegitimen Regierungen diesen Weg kaum beschreiten können, ohne selbst die Macht zu verlieren; (3) dass die Aufständischen häufig darauf zielen werden, einen bereits illegitimen, nur teillegitimen und/oder kaum funktionierenden Staatsapparat genau daran zu hindern und ihn weiter zu schwächen, indem sie seine funktionierenden Elemente zum Ziel politischer und militärischer Angriffe machen; und (4) dass die Aufständischen selbst sich stark darum bemühen werden, Elemente von Gegenstaatlichkeit aufzubauen, sei es in "befreiten Gebieten" oder parallel zu offiziellen Staatsorganen. Dabei geht es insbesondere um die Schaffung eines eigenen Rechtswesens (mit entsprechend hohem Legitimationspotential für die Aufständischen) oder Steuerwesens (mit offensichtlich hoher Bedeutung für die Kriegsfinanzierung). Hierin liegt die politische Bedeutung einer Einführung der Scharia in Regionen des Irak, Afghanistans oder Pakistans, die dem Staat das Rechtswesen entwinden soll. Auch die Etablierung von Schulen und Krankenhäusern bietet sich an, da sie die Kooperationsnotwendigkeit der Bevölkerung mit den staatlichen Instanzen vermindert, ihre direkten Bedürfnisse befriedigen hilft und propagandistisch und legitimatorisch attraktiv ist. In modifizierter Form gilt dies auch für Warlords, die ihre Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet so leichter absichern und stabilisieren können. Bei ihnen - aber auch in den meisten anderen Bürgerkriegsformen - hat allerdings die Zerstörung der Governance-Stukturen der Gegenseite Vorrang vor dem Aufbau eigener. Krieg um Loyalität Insgesamt hat sich der Trend zum politisch-sozialen - statt primär militärischen - Krieg fortgesetzt. Diese Aussage darf allerdings nicht missverstanden werden: Selbstverständlich waren Kriege auch früher immer "politisch", da sie der Durchsetzung politischer Ziele dienten und auch unbeabsichtigte politische Wirkungen hatten; und ebenso selbstverständlich sind Kriege heute weiterhin gewaltsam und "militärisch" - sonst würde es sich ja nicht um Kriege handeln. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass die innergesellschaftlichen Kriege nicht nur wie ihre "klassischen" Verwandten in letzter Instanz politischen Zielen dienen, während sie selbst vor allem ein militärisches Kräftemessen darstellten, sondern dass sie in der Regel bereits auf der taktischen Ebene und direkt auf politische Ergebnisse orientiert sind, nämlich auf die Beeinflussung des Verhaltens und der Einstellung der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass in unkonventionellen Bürgerkriegen, bei Aufständen und Guerillakriegen in aller Regel die strategische Entscheidung auf der politischen Ebene fällt, nicht nur, wie erwähnt, durch die Gewinnung der Loyalität der Bevölkerung, sondern auch durch die Überzeugung der Öffentlichkeit eines intervenierenden Drittlandes von der Legitimität, der Sinnhaftigkeit und dem Erfolg eines Krieges, beziehungsweise von dessen Sinnlosigkeit oder seiner Ungewinnbarkeit. Militärische Mittel und Gewalt haben auf diesen Ebenen vor allem taktische Bedeutung. Beispielsweise sind Verluste von Regierungstruppen oder intervenierenden Streitkräften dritter Länder potenziell relevant, um deren Regierung die Aussichtslosigkeit des Krieges zu demonstrieren - aber nicht, weil solche die militärische Niederlage der Regierung einleiten würden. In diesem Sinne spielt militärische Macht eine flankierende, absichernde und wichtige taktische Rolle, wird aber kaum jemals eine strategische Entscheidung herbeiführen. Konventionell ausgebildete Militärs und viele zivile Politiker neigen trotzdem dazu, sich auf eine konventionelle militärische Übermacht zu verlassen und diese für den wichtigsten Indikator des kriegerischen Erfolgs zu halten. Die Zahl getöteter Feinde wird so zu einem zentralen Maß des militärischen Fortschritts - unabhängig davon, ob durch sie die politische Unterstützung des Feindes in der Bevölkerung ansteigt. Der Charakter solcher Kriege wird dabei grundlegend verkannt. In den Worten des britischen Ex-Generals Rupert Smith: "Capturing the will of the people is a very clear and basic concept, yet one that is either misunderstood or ignored by political and military establishments around the world. The politician keeps applying force to attain a condition, assuming the military will both create and maintain it. And whilst for many years the military has understood the need to win the 'hearts and minds' of the local population, this is still seen as a supporting activity to the defeat of the insurgents rather than the overall objective, and it is often under-resourced and restricted to low-level acts to ameliorate local conditions and the lot of the people." Schlussfolgerungen für die Beendigung von Kriegen Die in diesem Beitrag behandelten Kriegstypen können prinzipiell wie konventionelle Kriege durch Verhandlungen und Kompromisse beendet werden - wenn auf allen relevanten Seiten der politische Wille dazu vorhanden ist. Dies impliziert, dass sich während des Krieges die Kosten-Nutzen-Einschätzungen im Unterschied zum Kriegsbeginn verändert haben müssen, was durch sehr unterschiedliche Faktoren bewirkt werden kann: Etwa durch Erschöpfung oder Kriegsmüdigkeit, die wachsende Einsicht in die Nichterreichbarkeit der ursprünglichen Kriegsziele, veränderte gesellschaftliche oder internationale Rahmenbedingungen, materielle Anreize oder die Vermeidung materieller Nachteile, einen Wechsel des Führungspersonals oder eine Neudefinition der eigenen Interessen. Dabei sind politisch-psychologische Faktoren als fördernd oder hemmend zu berücksichtigen, beispielsweise die emotionale Aufladung ethnischer oder ethno-religiöser Identitäten, Prestigedenken und Bedürfnisse der Gesichtswahrung, Traumatisierung aufgrund exzessiver Gewalt, und ähnliche, die in der Regel eng mit den zuvor erwähnten Faktoren verknüpft sind und in Mischformen auftreten. Solche Lösungen durch Kompromiss und Verhandlungen sind allerdings nicht zu jedem Zeitpunkt möglich, sondern erst wenn der politische Wille dazu entstanden ist - und dieser kann nicht einfach vorausgesetzt oder unterstellt werden. Außerdem gelingen sie am ehesten bei einer möglichst geringen Zahl an Konfliktparteien, die darüber hinaus die reale Kontrolle über ihre bewaffneten Kräfte ausüben. Bei einer zunehmenden Zahl an Kriegsparteien vermindern sich die Chancen auf eine diplomatische Lösung - alle anderen Voraussetzungen gleichgesetzt - da die Wahrscheinlichkeit steigt, dass einige relevante Gruppen zu "Störenfrieden" (spoilern) werden und sich einer politischen Lösung verweigern. Die Chance auf eine Verhandlungslösung sinkt ebenfalls, wenn politische Führer unfähig sind, wirksame Kontrolle über ihre Streitkräfte und Anhänger auszuüben. Dann mag zwar ein politischer Kompromiss zwischen den Führern möglich sein, wird aber innerhalb der verfeindeten Lager nicht akzeptiert werden. Diese Erschwernis eines Friedensschlusses hängt offensichtlich damit zusammen, dass die oft heterogenen Bevölkerungen im Krieg nicht länger abseits stehen, nicht länger auch bloße Opfer der Kriege sind, sondern selbst zu Subjekten und teils auch zu Tätern werden. Wenn aber unterschiedliche Teile einer Gesellschaft, teilweise Nachbarn, aneinander Massaker, Vergewaltigungen und Vertreibungen begehen, hinterlässt dies tiefere emotionale Wunden als die Gewalt zweier staatlicher Armeen gegeneinander. Damit stellt sich die schwierige Aufgabe, zumindest einen Teil des Friedensprozesses von der diplomatischen Ebene auch in die Gesellschaft hineinzuverlegen, wofür es bisher nur wenige und überwiegend unzureichende Erfahrungen gibt. Eine Beendigung innergesellschaftlicher unkonventioneller Kriege durch den "Sieg" einer Seite - das idealtypische Ende klassischer Kriege - trägt einen völlig anderen Charakter als bei primär militärischen Auseinandersetzungen. Er ist notwendigerweise graduell und oft zuerst kaum erkennbar: Da solche Kriege gerade nicht durch Entscheidungsschlachten gewonnen werden, sondern durch die Stärkung und Festigung staatlicher oder Governance-Strukturen und die mühsame Überzeugung der Bevölkerung davon, dass es sich um "ihren" Staat handelt (bzw. durch die schrittweise Delegitimierung eines Staates und seine phasenweise Ersetzung durch eine Gegenstaatlichkeit der Aufständischen), lässt sich häufig erst in der Rückschau angeben, wann genau ein solcher "Sieg" eintritt. Ein bloßes Nachlassen des Gewaltniveaus beispielsweise ist nicht sofort als Indiz für ein bevorstehendes Kriegsende zu betrachten, da das Gewaltniveau häufig schwankt oder zyklisch verläuft. Der entscheidende Hebel zu einer dauerhaften Beendigung solcher Kriege - im Gegensatz zu einer möglicherweise auch mehrjährigen Kampfpause aus Erschöpfung - liegt in der Schaffung zugleich legitimer und grundlegend funktionsfähiger Governance-Strukturen, die in der Gesellschaft akzeptiert werden, diese zumindest stärker integrieren als frühere Modelle, ein grundlegendes Rechts- und Sicherheitswesen bereitstellen und Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. Solche Governance-Strukturen dürfen allerdings nicht nur symbolisch - etwa auf die Hauptstadt beschränkt - bleiben, sondern müssen bürgernah möglichst im ganzen Land verankert sein und persönliche und Rechtssicherheit zum Kern haben. Staatliche oder parastaatliche Strukturen, die Willkür, "Ungerechtigkeit" oder Fremdherrschaft verkörpern, können ihr Ziel der Stabilisierung und Beendigung von Gewaltkonflikten nicht erreichen, sondern erscheinen als illegitim und sind in der Regel konfliktfördernd. Die Verlässlichkeit und Fairness dieser Institutionen sind in erster Linie von Bedeutung, in zweiter ihre Wirksamkeit und Effizienz, erst danach folgen Partizipationsmöglichkeiten oder demokratische Elemente. In einem solchen Rahmen von Governance kann auch die Schaffung sozialer Infrastruktur (etwa Schulen, Krankenhäuser, etc.) einen Beitrag leisten, während sie ohne diese Voraussetzung keine nachhaltige Wirkung erreicht. Innergesellschaftliche Kriege werden also insgesamt durch eine Reintegration fragmentierter gesellschaftlicher Strukturen zu erreichen sein, die ihrerseits bestimmte Formen von staatlicher oder substaatlicher Governance voraussetzt. Erst auf dieser Basis gewinnt die Anwendung militärischer Gewalt in Kontexten von Aufstandskriegen oder failed states eine mögliche Relevanz zur Kriegsbeendigung, sonst wird sie den Krieg eher in die Länge ziehen und die Opferzahl erhöhen. Deshalb sollte nicht vergessen werden, dass sowohl militärisch gestützte "Sicherheit" als auch Entwicklungspolitik dieses Ziel nicht aus sich selbst erreichen können, sondern nur, wenn sie beide in den Dienst der Schaffung eines Systems legitimer und wirksamer Governance-Strukturen gestellt werden. Dieser Beitrag basiert auf einer gekürzten und überarbeiteten Fassung von: Jochen Hippler, "The Decisive Battle is for the People's Minds" - Der Wandel des Krieges: Folgerungen für die Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, in: Jochen Hippler/Christiane Fröhlich/Margret Johannsen/Bruno Schoch/Andreas Heinemann-Grüder (Hrsg.), Friedensgutachten 2009, Münster 2009, S. 32 - 47. US Army/US Marine Corps, Counterinsurgency, Field Manual No. 3 - 24, Chicago 2007, S. 40. Ebd., S. 2, 37, 49; Hervorhebung durch den Autor. Rupert Smith, The Utility of Force - The Art of War in the Modern World, London 2006, S. 277 - 278.
Article
Hippler, Jochen
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31624/wie-neue-kriege-beenden/
Die meisten aktuellen Kriege werden zunehmend um die Loyalität und Unterstützung der Bevölkerung geführt, militärische Gewalt hat an Bedeutung verloren. Das entscheidende Instrument zur Kriegsbeendigung ist die Schaffung funktionierender und gesellsc
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Der demografische Wandel in Deutschland | Demografischer Wandel | bpb.de
Die Bevölkerung in Deutschland wird älter, die Lebenserwartung und die Jahre mit Rentenbezug steigen. Im Schlosspark in Stuttgart sitzen im Mai 2021 ältere Menschen auf einer Mauer und genießen die Sonne. (© picture-alliance/dpa, Christoph Schmidt ) Der demografische Wandel im Lauf der Geschichte Bevölkerung in der Agrar- und frühindustriellen Gesellschaft Das Phänomen des demografischen Wandels gab es schon immer. Die deutsche Bevölkerung wuchs und wächst, wie auch die Weltbevölkerung, seit vielen Jahrhunderten mit einigen Schwankungen an. Nach der Völkerwanderung und der Besiedelung der germanischen Stämme war im frühen Mittelalter das Gebiet des heutigen Deutschlands vergleichsweise dünn besiedelt. Für das ostfränkische Reich im 9. Jahrhundert unter den späteren Karolingern schätzte der Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth die Bevölkerung auf 2,5 bis 3 Millionen. Für das Heilige Römische Reich unter Herrschaft der Salier, also im 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts, werden bis zu 3,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner geschätzt. Die Bevölkerungsgröße ist im Laufe des Mittelalters in Wellen deutlich angewachsen, was dadurch begünstigt wurde, dass ausreichend Fläche für den Anbau von Nahrungsmitteln vorhanden war oder beispielsweise durch Waldrodung geschaffen wurde. In der Agrargesellschaft und im frühindustriellen Zeitalter war nicht nur die Fruchtbarkeit hoch, sondern auch die Sterblichkeit, insbesondere die Kinder- und Säuglingssterblichkeit. Kinderzahlen von fünf oder mehr waren keine Seltenheit, jedoch erreichte oft nur etwa die Hälfte der Kinder das Erwachsenenalter. In der Agrargesellschaft waren die Ehe und eine feste Erwerbsstelle zwingende Voraussetzungen für die Familiengründung. Außereheliche Geburten wurden streng sanktioniert, und es existierten Ehebeschränkungen für Personen, die keine Arbeit hatten. Familiengründungen sollten so nur ermöglicht werden, wenn ein gesichertes Auskommen und dadurch auch die Ernährung der Kinder gesichert waren. Die Herrschenden konnten dadurch das Bevölkerungswachstum steuern. Wenn durch Eroberungen oder technischen Fortschritt die erwirtschafteten Nahrungsmittel anstiegen, wurde oft die Heirat von Ledigen erleichtert mit der Folge eines Bevölkerungswachstums. Die Altersstruktur entsprach einer Pyramide: viele Kinder im Unterbau und sehr wenige alte Menschen an der Spitze, denn nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung erreichte ein Alter von 65 oder älter. QuellentextRealerbteilungsrecht in Württemberg, Baden und der Pfalz In Südwestdeutschland wurde im 18. Jahrhundert der Hof bzw. das Land durch das Realerbteilungsrecht nicht an den Erstgeborenen vererbt, sondern zwischen den männlichen Kindern aufgeteilt. Dies führte einerseits zu kleineren Höfen und einer Zerstückelung von Land, sodass Familien sich teilweise nicht mehr ernähren konnten. Andererseits erhielten dadurch mehr Kinder eine soziale Stellung, die es ihnen erlaubte zu heiraten und Kinder zu bekommen. In diesen Gebieten gab es daher ein stärkeres Bevölkerungswachstum sowie eine Nahrungsmittelknappheit, was zu Massenauswanderungen führte. Dieses Beispiel zeigt, wie unterschiedliche politische und gesellschaftliche Regeln Geburtenrate, Bevölkerungsgröße und Migration beeinflussen können. Die Bevölkerung auf dem Gebiet des damaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation hatte (nach Angaben des Historikers Rudolf Kötzschke) um das Jahr 1500 eine Bevölkerung von etwa 12 Millionen, um 1600 zählte es bereits etwa 15 Millionen Menschen – und dies auf einer Fläche, die weitaus größer war als die heutige Bundesrepublik. Infolge des 30-Jährigen Krieges – nicht nur aufgrund der Gefallenen, sondern aufgrund kriegsbedingter Hungersnöte und Seuchen – reduzierte sich die Zahl um über ein Drittel und lag erst Ende des 17. Jahrhunderts wieder bei 15 Millionen. Im 18. Jahrhundert hatten Säuglinge eine durchschnittliche Lebenserwartung von 32 Jahren (nach dem Sozialhistoriker Peter Marschalck), grob geschätzt erreichte nur die Hälfte von ihnen das heiratsfähige Alter. Im Jahr 1816 hatte Deutschland in den Grenzen des späteren Deutschen Reiches eine Bevölkerung von 23,5 Millionen Menschen, die in den folgenden fünf Jahrzehnten auf 38 Millionen wuchs, wobei Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als eine Millionen Menschen nach Amerika auswanderten. Folgendes Beispiel verdeutlicht das Bevölkerungswachstum: Wenn die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau bei fünf lag und nur die Hälfte dieser Kinder das fruchtbare Alter erreichten, hatten 100 Frauen 500 Kinder geboren, von denen 250 das Erwachsenenalter erreichten und davon etwa 125 Frauen waren. In diesem Beispiel würde die Bevölkerung mit jeder Generation um ein Viertel wachsen. Jedoch ereigneten sich in der Geschichte auch Phasen eines Bevölkerungsrückgangs, oft verursacht durch Kriege, Agrarkrisen oder Seuchen. So gab es während der Pestwellen im 14. Jahrhundert, während des 30-jährigen Krieges 1618 bis 1648 oder während der beiden Weltkriege erhebliche Bevölkerungsrückgänge. QuellentextDie Pest erschüttert Europa […] 1347 hatte seit fast 600 Jahren niemand in Europa die Pest gesehen. Deshalb war auch keiner darauf vorbereitet, als sie wieder auftauchte – ihr Auftreten wurde zuerst 1331 aus China gemeldet. Mit den auf der Seidenstraße reisenden Kaufleuten erreichte sie die Krim im Herbst 1347, wo Erkrankte die Genueser Schiffe nach Konstantinopel bestiegen. Von dort aus verbreitete sich die Seuche nach Sizilien, Griechenland, Ägypten und Nordafrika, Syrien und ins Heilige Land. Ende 1347 war sie im wirtschaftlichen Herzen der Christenheit angekommen – in den Handelsstädten Venedig, Pisa und Genua –, und das in ihrer gefährlichsten Form, als Lungenpest. In den betroffenen Städten stapelten sich schnell die Leichen. Todesraten von über 40 Prozent waren normal. […] Ab 1349 waren Teile Deutschland betroffen; zuerst die Hafenstädte an Nord- und Ostsee. In Lübeck starben 1351 innerhalb eines Jahres etwa 35 Prozent der Einwohner. […] Was zählte, waren vor allen die langfristigen Folgen des Schwarzen Todes – in weltlicher wie in spiritueller Hinsicht. Die Menschen der starren mittelalterlichen Gesellschaft hatten geglaubt, dass Gott ihnen ihre Position darin zugewiesen hatte. Jetzt aber führte der massive Bevölkerungsrückgang zu breiten Rissen in dieser unflexiblen Gesellschaftsstruktur. Vor allem waren Arbeitskräfte plötzlich überaus knapp. Landarbeiter, deren Familien gestorben waren, mussten das Leben in Leibeigenschaft nicht mehr hinnehmen: Sie hatten nichts zu verlieren, konnten einfach in die nächste Stadt gehen und ihre Arbeitskraft verkaufen. Ein Pflüger, dessen Kinder hungerten, musste sich nicht länger damit zufriedengeben, ein paar Streifen Land für seinen Gutsherren zu bewirtschaften, wenn ein Landbesitzer in der Nachbarschaft Arbeit zu gutem Lohn bot. Wenn sein Herr seine Dienste behalten wollte, musste er ihm mehr bezahlen oder ihn mit mehr Land ausstatten. Nichts trennt das Spätmittelalter so deutlich von der Zeit vorher wie der Schwarze Tod. […] [D]ie Pest erschütterte die Vorstellungswelt der Menschen, was ihren Platz auf Erden betraf. Manche mussten mit einer fast vollständigen Auslöschung ihrer Gemeinden zurechtkommen und fragten verständlicherweise, warum Gott so brutal mit ihnen umgesprungen war – vor allem, wenn das Nachbardorf weit weniger Opfer zu beklagen hatte. […] Was, wenn Gott beschloss, die Menschen völlig zu vernichten? Nach 1348 erschien die Auslöschung der menschlichen Rasse als reale Möglichkeit. Einigen Überlebenden allerdings eröffnete der Schwarze Tod auch ein ganz neues Spektrum von Chancen. […] [Die] Bauern, die ihre Arbeitskraft jetzt teurer verkaufen konnten, [gehörten] zu den Nutznießern. In England wie auch in Frankreich wurden Gesetze erlassen, um zu verhindern, dass der freie Markt die Löhne diktierte, doch diese Maßnahmen zeigten wenig Wirkung. Die Bauern merkten, dass ihre Arbeitskraft für ihre Herren von Wert war; sie konnten darauf bestehen, anständiger behandelt zu werden als bisher. Wenn nicht, konnten sie den Aufstand wagen. Die Bauernschaft hatte bisher wenig Lust auf Rebellion erahnen lassen, doch im Gefolge der Pest legte sie sich ein neues Selbstwertgefühl zu. Das führte zu verschiedenen Aufständen wie der Jacquerie in Paris (1358), den Ciompi in Florenz (1378) und der Peasants‘ Revolt in England (1381). Tatsächlich ist festzuhalten, dass ein Massensterben in der Geschichte immer die Bedeutung der arbeitenden Bevölkerung steigert, in ihren eigenen Augen wie auch in den Augen derer, die sie regieren. Soziale Aspekte […] änderten sich tiefgreifend. […] Vor allem nach der vierten Pestepedemie von 1374/1375 sanken die Pachtzahlungen der Bauern an ihre Herren, da es weniger Bauern und mehr als genug Land gab. Manche Herren hatten sich viel Geld geliehen und waren jetzt hoch verschuldet. Sie sahen sich gezwungen, ganze Gutshöfe an geschäftstüchtige Städter zu verpachten oder zu verkaufen. […] Die feudalen Verpflichtungen, die die Arbeiter an das Land gebunden hatten, wurden durch Zahlungen ersetzt. Der Kapitalismus, der schon in den Städten triumphiert hatte, begann den Feudalismus auch auf dem Lande zu verdrängen. […] Ian Mortimer, Zeiten der Erkenntnis. Wie uns die großen historischen Veränderungen bis heute prägen. Aus dem Englischen von Karin Schuler, Piper Verlag, München/ Berlin 2017, S. 110–117 Der Demografische Übergang Durch Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und Erfolge in der Medizin ging die Sterblichkeit generell und vor allem die Säuglings- und Kindersterblichkeit Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Diese Entwicklung initiierte den "Demografischen Übergang", ein von den US-amerikanischen Demografen Warren Thompson Ende der 1920er-Jahre und Frank Notestein Mitte der 1940er-Jahre geprägtes Modell, das die Phasen des Rückgangs der hohen Sterblichkeit und des etwas später erfolgenden Rückgangs der Geburtenrate sowie das damit verbundene Bevölkerungswachstum beschreibt. Der Demografische Übergang fand in Europa und Nordamerika zwischen 1850 und 1940 statt und kennzeichnet alle Industrie- und Schwellenländer im Laufe ihrer Entwicklung. In Deutschland begann er etwa 1850, die Hauptphase lag zwischen 1870 und 1920. Nach dem Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit reduzierte sich die hohe Geburtenrate – im Ersten Geburtenrückgang Anfang des 20. Jahrhunderts – und es etablierte sich zunächst in den bürgerlichen Schichten zunehmend ein Zwei-Kind-Ideal, wobei die Eltern davon ausgingen, dass ihr Nachwuchs mit großer Wahrscheinlichkeit überleben und das Erwachsenenalter erreichen würde. In den ersten Jahren nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 bis 1881 lag die Lebenserwartung bei der Geburt bei 37 Jahren, sie stieg bis 1924 auf 57 Jahre, was vor allem auf den wissenschaftlichen Fortschritt bei der Bekämpfung der damals verbreiteten tödlichen Krankheiten wie Diphtherie, Tetanus, Tuberkulose und Cholera und dem Wissen über Hygiene zurückzuführen ist. Insbesondere die Sterblichkeit im Kinder- und Säuglingsalter ging in dieser Zeit zurück. Nach den Sterblichkeitsverhältnissen der 1870er-Jahre erlebten von 1.000 geborenen Babys nur 560 ihren 30. Geburtstag. Anfang der 1920er-Jahre waren es bereits 811 – die Sterblichkeit reduzierte sich von 44 auf 19 Prozent. Die Säuglingssterblichkeit ging von 23,5 Prozent in den 1870er-Jahren auf 10,5 Prozent Anfang der 1920er-Jahre zurück, vor allem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. 1871 lag die zusammengefasste Geburtenziffer bei 4,7 Kindern pro Frau, in den 1900er-Jahren waren es nur noch 4,3. In dieser Phase war die Geburtenrate also noch sehr hoch, während die Sterblichkeit bereits erheblich nachgelassen hatte. Der Bevölkerungsanstieg von dieser zur nächsten Generation lag im Zeitraum 1890 bis 1910 bei 43 Prozent. Danach sank die Geburtenrate beträchtlich und betrug in den 1920er-Jahren durchschnittlich 2,4 Kinder pro Frau, von 1930 bis 1933 lag sie bereits knapp unter zwei. Bevölkerungsgröße Deutschlands: bis 1945 ehemaliges Reichsgebiet, ab 1945 frühere Bundesrepublik und ehemalige DDR zusammen, ab 1990 Deutschland Datenquellen: Statistisches Bundesamt, für die Jahre 1955–1960 sowie 1991–2010 rückgerechnete Werte; bei den älteren Daten 1816–1870 gibt es teilweise leichte Abweichungen in der Literatur (vgl. Marschalck, 1984) Während des Demografischen Übergangs wuchs die Bevölkerung Deutschlands deutlich. Im Jahr 1850 lebten 35,3 Millionen Personen im späteren Reichsgebiet, im Jahr 1915 waren es 67,9 Millionen. In dieser Zeit verdoppelte sich also die Bevölkerung Deutschlands knapp. Besonders stark war der Anstieg um die Jahrhundertwende an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. In den Phasen der beiden Weltkriege ging die Bevölkerung aufgrund der kriegsbedingten Toten jeweils deutlich zurück. Bei diesen Zahlen ist zu bedenken, dass sich die Fläche durch historisch bedingte Gebietsverluste erheblich verändert hat: Bei der Reichgründung 1871 lebten 41,0 Millionen im Deutschen Reich, davon mit 19,5 Millionen weniger als die Hälfte auf dem Gebiet der früheren Bundesrepublik. Migration gab es schon immer Wanderungsbewegungen innerhalb von Staaten oder zwischen Staaten und Kontinenten lassen sich für alle Epochen feststellen. Beispiele dafür sind die Zuwanderung durch Hunnen oder Slaven im Mittelalter oder die Ansiedlung von verfolgten Religionsgruppen wie Hugenotten, Calvinisten oder anderen Protestanten in der Neuzeit. Zuwanderung wurde teilweise staatlich gesteuert, wie beispielsweise durch die Preußische Besiedlung östlicher Gebiete im 18. Jahrhundert, die die wirtschaftliche Macht des Staates ausbauen sollte. Aus verschiedenen Gründen wie Armut, religiöser Verfolgung oder aber Berichten bereits Ausgewanderter, emigrierten viele Europäerinnen und Europäer nach Amerika, insbesondere im 19. Jahrhundert. Kriege und Dürren waren in der Geschichte oft Grund für Migration und Flucht. Viele Deutsche sind während und nach den Weltkriegen geflüchtet und wurden von den Bevölkerungen anderer Länder aufgenommen. Umgekehrt bietet Deutschland Geflüchteten Schutz durch das Asylrecht, so fanden Geflüchtete der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren, in Syrien 2015 oder der Ukraine 2022 Schutz in der Bundesrepublik. Demografischer Wandel in West- und Ostdeutschland Datenquelle: Statistisches Bundesamt, eigene Darstellung Geburtenentwicklung in Deutschland: der Zweite Geburtenrückgang In den 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre lag die Geburtenrate im früheren Bundesgebiet und in der ehemaligen DDR zwischen 2,0 und 2,5 Kindern pro Frau. Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre gab es einen Babyboom, der jedoch mit einem Höchstwert von 2,5 Kindern pro Frau im Vergleich zu den USA (3,8) oder Frankreich (2,9) eher gering ausfiel. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre setzte der Zweite Geburtenrückgang ein, infolge dessen die Geburtenrate in der früheren Bundesrepublik 1975 unter 1,5 und bis 1985 auf unter 1,3 sank (zu den Ursachen siehe Kapitel "Interner Link: Die Ursachen der Geburtenentwicklung"). Zwischen 1975 und 2015 lag sie in der früheren Bundesrepublik bzw. im wiedervereinigten Deutschland unterhalb von 1,5, am niedrigsten 1994 mit 1,24. Weltweit hatte bisher kein anderes Land über vier Jahrzehnte hinweg eine solch niedrige Geburtenrate. In der ehemaligen DDR war der Geburtenrückgang bis Mitte der 1970er-Jahre ähnlich. Vor allem der rapide Rückgang von 2,5 Kindern pro Frau im Jahr 1965 auf 1,5 in 1974 war ein paralleles Phänomen in beiden deutschen Staaten, das auch als "Pillenknick" bezeichnet wird. Neben der Einführung der Pille waren zudem die Emanzipation der Frau und der Wertewandel Gründe für den Geburtenrückgang. Ende der 1970er-Jahre und in den 1980er-Jahren stieg die Geburtenrate in der ehemaligen DDR allerdings deutlich an. Anfang der 1980er-Jahre lag sie bei 1,8–1,9 im Vergleich zu 1,3–1,4 im früheren Bundesgebiet. Ein zentraler Grund für diesen Wiederanstieg der Geburtenrate waren umfassende staatliche Leistungen für Familien, die neben klassischen familienpolitischen Instrumenten wie Kitas und Finanzleistungen auch teilweise einen besseren Zugang zu Wohnraum für Familien und Vorteile auf dem Arbeitsmarkt wie Teilzeitarbeit beinhalteten. Im wiedervereinigten Deutschland fiel die Geburtenrate im ostdeutschen Bundesgebiet infolge der wirtschaftlichen und politischen Transformation und des Umbruchs in den Biografien auf 0,8 Kinder pro Frau zwischen 1993 und 1994 – dies war ein weltweites Rekordtief. Gründe dafür waren unter anderem aufgrund des Umbruchs aufgeschobene Kinderpläne. Während Frauen in der DDR in den 1980er-Jahren durchschnittlich mit 22 Jahren ihr erstes Kind bekamen, stieg das Erstgeburtsalter nach der Wende erheblich an und lag in den ostdeutschen Bundesländern im Jahr 2019 bereits bei 29,3 Jahren. Bis 2006 näherte sich die Geburtenrate der ostdeutschen Länder wieder an das Niveau der westdeutschen mit einer Geburtenrate von 1,3 an. Während die zusammengefasste Geburtenziffer im Zweiten Geburtenrückgang in Deutschland einen Tiefstwert von 1,24 im Jahr 1994 hatte, lag der Tiefstwert für die Kohortenfertilität bei 1,49 für Frauen des Jahrgangs 1968. Die Kohortenfertilität verlief viel stetiger: Frauen des Jahrgangs 1933 hatten mit durchschnittlich 2,23 die meisten Kinder im 20. Jahrhundert, seitdem ist der Wert kontinuierlich zurückgegangen bis zum Tiefstwert 1968. Seitdem steigt der Wert, und Frauen, die Ende der 1970er-Jahre geboren wurden, bekommen im Durchschnitt etwa 1,6 Kinder. QuellentextSo werden Geburten gemessen Will man die Zahl der Geburten pro Frau quantifizieren, gibt es zwei Möglichkeiten, die unterschiedliche Vor- und Nachteile haben: Die zusammengefasste Geburtenziffer eines Jahres (Periodenfertilität, oft vereinfacht "Geburtenrate" genannt) gibt an, wie viele Kinder von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren innerhalb eines Jahres geboren wurden, beispielsweise im Jahr 2005 1,34. Dieser Indikator hat den Vorteil, für jedes Jahr aktuell vorzuliegen, und den Nachteil, durch Veränderungen des Durchschnittalters bei der Geburt beeinflusst zu werden. Die kohortenspezifische Geburtenrate zeigt hingegen an, wie viele Kinder Frauen eines bestimmten Geburtsjahrgangs im Laufe ihres Lebens durchschnittlich bekommen haben, beispielsweise 1,50 für den Frauenjahrgang 1970. Dieser Indikator ist gut zu interpretieren, da er das Geburtenverhalten realer Frauenjahrgänge beschreibt. Die Kohortenfertilität liegt aber erst für Frauen im Alter von 50 Jahren vor, die ihre fruchtbare Phase in der Regel abgeschlossen haben. Die zusammengefasste Geburtenziffer ist geringer als die endgültige Kinderzahl von Frauen eines Jahrgangs (Kohortenfertilität) in Phasen, in denen das durchschnittliche Alter bei der Geburt steigt. Um den Geburtenrückgang zu verstehen, ist die Kombination beider Indikatoren sinnvoll. Leichter Anstieg der Geburtenrate in den 2010er-Jahren Zwischen 2006 und 2015 stieg die zusammengefasste Geburtenziffer von 1,3 auf 1,5 an. Seit 2015 liegt sie zwischen 1,5 und 1,6. Ein Anstieg um 0,2 mag als gering erscheinen, es entspricht jedoch einer Größenordnung von 100.000 Geburten mehr pro Jahr als vor dem Anstieg. Trotzdem ist die Geburtenrate von 1,5 deutlich unter dem Bestandserhaltungsniveau von knapp 2,1 Kindern pro Frau, das zum Erhalt der Größe der Elterngeneration notwendig wäre. Das Bestandserhaltungsniveau bedeutet, dass 100 Frauen eines Jahrgangs im Laufe ihres Lebens 100 Mädchen zur Welt bringen, die das gebärfähige Alter erreichen werden. Da in den wirtschaftlich entwickelten Ländern die Sterblichkeit im jungen Alter gering ist und pro 100 Mädchen etwa 105 Jungen geboren werden, beträgt das Bestandserhaltungsniveau 210 Kinder auf 100 Frauen, also 2,1 Kinder pro Frau. Der Anstieg der deutschen Geburtenrate ist aus europäischer Perspektive auch insofern interessant, als Deutschland zuvor mehrere Jahrzehnte eines der Schlusslichter bei der Geburtenrate darstellte, seit 2015 aber im europäischen Mittelfeld liegt. Eine Ursache für diesen Anstieg der Geburtenrate ist der Paradigmenwechsel der Familienpolitik, der unter anderem den Ausbau von Kleinkindbetreuung und Ganztagsschulangeboten, Änderungen des Unterhaltsrechts und die Einführung eines einkommensabhängigen Elterngeldes umfasst. Dieser Paradigmenwechsel reflektiert auch veränderte Sichtweisen von (potenziellen) Eltern und den zunehmenden Wünschen einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Paradigmenwechsel begann bereits 2003 mit dem Ausbau der Ganztagsschulen und seit 2004 mit dem Ausbau der Kleinkinderbetreuung, wobei es vor allem in Westdeutschland zuvor kaum Betreuungsplätze für unter 3-jährige Kinder gab. Durch den im Jahr 2008 beschlossenen Rechtsanspruch auf eine Kitabetreuung für Kinder ab dem ersten Geburtstag ab dem Jahr 2013 wurde der Kita-Ausbau beschleunigt. Während in Westdeutschland im Jahr 2007 nur 9,8 Prozent der unter 3-jährigen Kinder in Kitas, Krippen oder von Tagesmüttern betreut wurden, waren es 2019 bereits 30,3 Prozent – in einem Jahrzehnt haben sich die Betreuungsangebote also etwa verdreifacht. In den ostdeutschen Bundesländern war der Anteil der betreuten Kinder zuvor bereits hoch gewesen. Ab 2007 wurde in Deutschland das einkommensabhängige Elterngeld eingeführt, das für berufstätige Frauen weitaus großzügiger ist, die Bezugsdauer im Vergleich zum vorigen Modell von drei auf ein Jahr verkürzt und zudem Anreize für Väter schafft, ebenfalls Elternzeit zu nehmen. Die Kombination aus Kitaausbau und Elterngeld reduzierte die Berufsunterbrechung für Mütter nach der Geburt und verbesserte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Insbesondere Akademikerinnen haben davon profitiert, bei ihnen ist die Geburtenrate etwas gestiegen. Die Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen lag bei knapp 30 Prozent für die Ende der 1960er-Jahre geborenen Frauenjahrgänge und ist bei den 10 Jahre jüngeren Frauen auf 26 Prozent gesunken. Eine weitere Ursache für den Anstieg der Geburtenrate zwischen 2011 und 2016 liegt auch an der Zunahme der ausländischen Bevölkerung insgesamt und deren Geburtenzahlen. Je nach Ursprungsland unterscheiden sich die Geburtenraten stark voneinander, im Durchschnitt lagen sie seit 1990 zwischen 1,6 und 2,2 Kindern pro Frau. Seit 2015 ist der Anteil von Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland sowie ihre durchschnittliche Geburtenrate gestiegen, da viele aus Ländern wie Syrien, Irak, Kosovo oder Afghanistan emigriert sind und in diesen Ländern prinzipiell höhere Geburtenraten verbreitet sind. Insgesamt kommt allerdings der größte Anteil der nach Deutschland emigrierten Frauen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit aus europäischen Ländern wie Polen, in denen die Geburtenrate ähnlich niedrig ist wie in Deutschland. Die niedrigste Geburtenrate für Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit lag 1994 bei 1,15 Kindern pro Frau. Von 2006 bis 2016 stieg sie von 1,28 auf 1,46. Dies fällt zeitlich mit den familienpolitischen Reformen zusammen, wobei man mit einer kausalen Interpretation vorsichtig sein muss. Allerdings konnte beispielsweise für das Elterngeld ein signifikant positiver Effekt auf die Geburten von Akademikerinnen im Alter von über 35 Jahren nachgewiesen werden. QuellentextFührt die Coronavirus-Pandemie zu einem Babyboom? Angesichts der Coronavirus-Pandemie wurde in vielen Medien die Frage diskutiert, ob sie zu einem Babyboom oder einem Einbruch der Geburten führt. Während es in den USA und einigen europäischen Ländern, vor allem Italien, Frankreich und Spanien, einen kurzfristigen Geburteneinbruch Ende 2020 gab, also etwa 9 Monate nach dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle, ist dieser in Deutschland ausgeblieben. Gründe dafür können das geringere Ausmaß der ersten Welle in Deutschland sein und sozialpolitische Maßnahmen wie Kurzarbeit, die die Sorgen um den Arbeitsplatz bei vielen abgemildert haben. Im Februar und März 2021 ist in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern wie Finnland oder Österreich, die Geburtenzahl temporär angestiegen. Dies war etwa 9 Monate nach der Lockerung der Kontaktbeschränkungen im Frühsommer 2020, möglicherweise hat sich ein gewisser Cocooning-Effekt eingestellt, wonach sich Menschen aus der Öffentlichkeit in das häusliche Privatleben zurückzuziehen und die Bedeutung von Familie bei einigen Paaren gestiegen ist. Insbesondere Paare, die schon ein oder zwei Kinder hatten, haben sich häufiger für ein Geschwisterkind entschieden. Inwieweit sich die Pandemie auf die weitere Entwicklung der Geburtenrate auswirkt, bleibt abzuwarten. Vier Mechanismen sind relevant: Ökonomische Belastungen inklusive Sorgen um den Arbeitsplatz haben oft einen negativen Einfluss auf die Geburtenrate. Ähnliches lässt sich für gesundheitliche Sorgen annehmen, wonach Kinderwünsche eher aufgeschoben (und damit ggf. auch aufgehoben) werden. Der dritte Mechanismus ist der Cocooning-Effekt, der kurzfristig, aber auch langfristig die Einstellung zu Familie ändern und positive Effekte auf die Geburtenrate haben kann. Ein vierter Einfluss könnte mit dem Partnermarkt zusammenhängen, da es für Singles in der Pandemie schwerer ist, einen Partner zu treffen – und letztlich ist Partnerschaft die verbreitete Voraussetzung für die Entscheidung, Kinder zu bekommen. Zunahme der Lebenserwartung in Deutschland seit den 1950er-Jahren Die Entwicklung der Lebenserwartung verläuft viel gleichmäßiger als die der Geburtenraten oder der Wanderungssalden – zumindest wenn Ereignisse wie Kriege oder Pest in früheren Jahrhunderten, die die Sterblichkeit erhöht haben, ausgeklammert werden. Die Lebenserwartung bei der Geburt stieg im früheren Bundesgebiet und der ehemaligen DDR ab den 1950er-Jahren kontinuierlich an, wobei der Anstieg in den 1970er- und 1980er-Jahren in der DDR deutlich niedriger war als im damaligen Gebiet der Bundesrepublik. Nach der Wiedervereinigung nahm die Lebenserwartung in den östlichen Bundesländern erheblich zu und erreichte bei den Frauen bereits Anfang der 2000er-Jahre das Westniveau. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, eigene Darstellung. Werte ab Sterbetafel 1999/2001 sind ohne Berlin-West (Westdeutschland) beziehungsweise Berlin-Ost (Ostdeutschland) Frauen haben insgesamt eine höhere Lebenserwartung als Männer. Die vom Demografen Marc Luy durchgeführte Klosterstudie untersuchte Ordensgemeinschaften, in denen der Lebensstil von Männern und Frauen ähnlich ist. Ziel war es, dadurch Rückschlüsse auf das Verhältnis von lebensstilbezogenen sowie biologischen und anderen externen Ursachen für die geringere Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen zu erhalten. Die Lebenserwartung von Mönchen war deutlich höher als in der übrigen männlichen Bevölkerung, während sie sich bei Nonnen kaum von anderen Frauen unterschied. Die Studie zeigt, dass die höhere Lebenserwartung der Frauen neben biologischen Ursachen auch am ungesünderen Lebensstil von Männern liegt. Mehr Männer rauchen, sie nutzen seltener ärztliche Vorsorgeuntersuchungen und haben teilweise ungesündere Arbeitsbedingungen. Die Lebenserwartung einer Frau in Deutschland lag Ende der 1950er-Jahre bei 71 bis 72 Jahren, bei Männern lag sie bei 66 bis 67 Jahren. Für 2017 bis 2019 geborene Mädchen liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 83,4 Jahren und bei Jungen bei 78,6 Jahren, sofern die aktuelle altersspezifische Mortalität auch über den gesamten weiteren Lebensverlauf konstant bleibt. Da sich diese verbessert, können heute geborene Kinder auf eine noch höhere Lebenserwartung hoffen. QuellentextWas beeinflusst die Lebenserwartung? Männer, die viel trinken, rauchen und schnelle Autos fahren, haben vielleicht mehr Spaß – sterben dafür aber früher, wie deutsche Forscher jetzt herausfanden. Mönche nämlich haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als der Rest der Männerwelt. Die Debatte darüber, ob für die Lebenserwartung eher biologische Gründe oder Verhaltensweisen ausschlaggebend sind, treibt die Wissenschaftler bereits seit vielen Jahren um. […] Der deutsche Wissenschaftler Marc Luy [damals beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, heute am Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien] hat dazu [2003] […] eine Studie vorgestellt[.] […] Luy untersuchte die Sterblichkeitsdaten von mehr als 11.000 Nonnen und Mönchen in bayerischen Klöstern im Zeitraum von 1890 bis 1995. "Ziel der Untersuchung war es, herauszufinden, ob sich die Lebenserwartung von Nonnen und Mönchen deutlich anders entwickelt hat als die der Männer und Frauen in der Gesamtbevölkerung." Warum ausgerechnet eine Studie in Klöstern? "Dort leben die Mönche und Nonnen weitestgehend unter identischen Verhältnissen. Sie halten sich in der gleichen Umgebung auf, haben ähnliche Tagesabläufe, ernähren sich gleich", erläutert der Wissenschaftler. Die so genannten Verhaltens- und Umgebungsfaktoren könnten also bezüglich der Lebenserwartung im Kloster keine nennenswerte Rolle spielen, vor allem "männliche Domänen", die sich nachteilig auf die Lebenserwartung auswirken: Unfälle im Straßenverkehr, gesundheitsgefährdende Berufe, hoher Alkohol- und Nikotinkonsum. […] In seiner Klosterstudie kam der Wiesbadener Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Nonnen in Klöstern "nur um ein bis maximal zwei Jahre über der der Mönche liegt". Die Lebenserwartung der Mönche liege deutlich höher als die der männlichen Gesamtbevölkerung, während Nonnen im Wesentlichen genauso alt werden wie Frauen außerhalb von Klöstern. "Von den etwa sechs Jahren Unterschied sind nach dem Ergebnis der Untersuchung bis zu fünf Jahre auf unterschiedliche Lebensweisen und nicht auf biologische Faktoren zurückzuführen", bilanziert Luy. Diesen biologischen Faktoren sind die Wissenschaftler ebenfalls auf der Spur. Der Nürnberger Biomediziner Thorolf Brosche verweist auf Studien, nach denen ein spezieller Faktor für die geringere Lebenserwartung der Männer buchstäblich hausgemacht ist: "Das Geschlechtshormon Testosteron hat im fortgeschrittenen Alter einen so genannten immunsupressiven Effekt. Es wirkt sich also mit Erreichen eines bestimmten Alters nachteilig auf die Infektionsanfälligkeit des Mannes aus." Dieser Effekt sei sowohl beim Menschen als auch bei jenen Affenarten beobachtet worden, die dem Menschen entwicklungsgeschichtlich am nächsten stehen – den Primaten. […] Allerdings gebe es in der Gesamtbevölkerung [2003] einen leichten Umkehrtrend. "Die Schere der Lebenserwartung schließt sich wieder ein wenig, vermutlich weil Frauen inzwischen sehr viel öfter rauchen als früher und sich auch deutlich mehr Stress zumuten", sagt Luy. "Lebe langsam, stirb alt. Studie unter Mönchen", aus: SPIEGEL.de, mit Peter Leveringhaus, ddp, 23.09.2003 Zwar steigt die Lebenserwartung seit 10 Jahren nicht mehr so stark an wie in den Jahren zuvor, dennoch wird sie wahrscheinlich auch künftig kontinuierlich ansteigen. So nimmt das Statistische Bundesamt in seinen Vorausberechnungen an, dass die Lebenserwartung bei Mädchen bis 2060 auf 88 bis 90 Jahre ansteigt. Dies wird nicht nur positiv gewertet, da die Sorge besteht, die verlängerte Lebenszeit könne eine längere Lebenszeit als kranke, eingeschränkte und greise Person bedeuten. Dagegen spricht die These einer "Kompression der Morbidität" im Lebensverlauf, wonach zunehmend viele Menschen relativ gesund alt werden. Der Anstieg der Lebenserwartung beruhe auf Verbesserungen der Lebensbedingungen, der medizinischen Möglichkeiten und einer verbesserten Prävention. Die Expansionsthese wiederum postuliert, dass sich – beispielsweise bei Krebsbehandlungen – auch die von Krankheiten geprägte Lebenszeit verlängert. Beides trifft zu und ist individuell sehr unterschiedlich. So zeigen sich erhebliche soziale Ungleichheiten, denn Menschen mit hohem Bildungsstand und hohem Einkommen leben länger und oft gesünder als sozial Benachteiligte. Wenn sich die "kranke" Lebensphase im Durchschnitt vor dem Tod durch eine längere Lebenserwartung weder verlängert noch verkürzt, bedeutet ein Anstieg der Lebenserwartung ein Anstieg der gesunden Jahre. Ein heute 70-Jähriger ist im Durchschnitt deutlich fitter, als es sein Vater oder Großvater im gleichen Alter waren. Zu- und Abwanderung in Deutschland seit 1950 Auswanderung und Einwanderung sind kontinuierliche Phänomene in der Bunderepublik. Je höher der Zuzug, desto höher ist meistens auch der Fortzug, da Migration nicht selten ein Prozess mit mehreren Umzügen über Landesgrenzen hinweg ist. Der Wanderungssaldo misst die Differenz zwischen Zuwanderung und Abwanderung. Im Jahr 2018 gab es beispielsweise 1,585 Millionen Zuzüge nach und 1,185 Millionen Fortzüge aus Deutschland, die Nettozuwanderung lag demnach bei 400.000. Hinter einem Wanderungssaldo verbirgt sich also eine weitaus höhere Zahl an Zu- und Abwanderungen – an Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlegen. Im Durchschnitt lag die Nettozuwanderung zwischen 1990 und 2020 bei etwa 300.000 Personen pro Jahr. Die Wanderungsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen mehrere Zuwanderungswellen: In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen viele aus anderen Ländern angeworbene Arbeiterinnen und Arbeiter nach Deutschland ("Gastarbeiter"), Anfang der 1990er-Jahre emigrierten viele Aussiedlerinnen und Aussiedler in die Bundesrepublik sowie Kriegsflüchtende, die Asyl beantragten. Die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren und der Syrienkrieg seit den 2010er-Jahren – sowie zuletzt der Krieg in der Ukraine – haben zu großen Fluchtbewegungen nach Deutschland geführt. Zudem gibt es, vor allem in den 2010er-Jahren und seit dem Maastrichter Vertrag, der Ende 1993 in Kraft trat, eine zunehmende EU-Binnenwanderung. Die zukünftige Höhe der Zuwanderung lässt sich nur schwer abschätzen, da die Ursachen vielseitig sind und oft mit internationalen Ereignissen und Lebensbedingungen, aber auch mit Einwanderungsregeln zusammenhängen. Zu- und Abwanderung über die Außengrenzen Deutschlands (1950-2020); Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Darstellung: BiB. Externer Link: https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/M01-Zuzuege-Fortzuege-Deutschland-ab-1950.html?nn=1215418 Wie wirken sich Wanderungen auf die Bevölkerungsstruktur aus? Im Jahr 2019 lebten 83,2 Millionen Menschen in Deutschland, davon 21,2 Millionen der Gesamtbevölkerung – das sind etwa 25 Prozent – mit einem Migrationshintergrund. Davon sind 11,1 Millionen Deutsche nach Geburtsrecht mit Migrationshintergrund und 10,1 Millionen Nicht-Deutsche. Über die Hälfte von ihnen ist eingebürgert oder deutsch nach Geburtsortprinzip, das heißt in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern. Die Altersstruktur der Personen mit Migrationshintergrund unterscheidet sich erheblich von der der einheimischen Bevölkerung, da sie deutlich jünger sind. Die in Deutschland verbreitete Definition von Migrationshintergrund – wonach man selbst oder ein Elternteil bei der Geburt keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt – ist in anderen Ländern weniger gebräuchlich. Beispielsweise wird in Frankreich oder den USA primär zwischen der eigenen und einer ausländischen Staatsbürgerschaft differenziert, in den USA auch nach Ethnien wie Weiße, People of Color und Hispanics. Datenquellen: Statistisches Bundesamt, Ausländerzentralregister. Berechnungen BiB. Den größten Anteil an den Herkunftsländern der nicht-deutschen Bevölkerung hat die Türkei mit knapp 13 Prozent, gefolgt von Polen, Syrien, Rumänien und Italien mit je 6 bis 8 Prozent. Der weitaus größte Teil der ausländischen Bevölkerung stammt aus europäischen Ländern. Aktuelle Bevölkerungsstruktur und Demografische Trägheit Wichtig ist, bei all diesen demografischen Entwicklungen das Phänomen der "Demografischen Trägheit" mitzudenken. Es besagt, dass in der gegenwärtig gegebenen Altersstruktur gewisse Alterungs- und Schrumpfungsprozesse bereits angelegt sind. Bei den Bevölkerungsdiagrammen wachsen die Geburtsjahrgänge jedes Jahr "ein Jahr nach oben"; dadurch ist die Zahl der Älteren, die in den nächsten Jahren in das Rentenalter kommen, bereits heute bekannt. So werden die besonders starken Jahrgänge der in 2020 ca. 50–61 Jahre alten Babyboomer in den nächsten beiden Jahrzehnten das Rentenalter erreichen. Auch kann heute schon abgeschätzt werden, dass diese Jahrgänge zwischen 2039 und 2050 das Alter von 80 erreichen und somit die Zahl der Hochbetagten, also der über 80-Jährigen, steigen wird. Diese Entwicklungen sind für das Rentensystem, das Gesundheitssystem und die Pflege hochgradig relevant und mit immensen Kosten und Herausforderungen an das Pflegepersonal für die Versorgung dieser Menschen verbunden. Im Jahr 2020 gab es beispielsweise 773.000 Geburten, während 986.000 Personen starben. Das Geburtendefizit betrug demnach (rundungsbedingt) 212.000. Ohne Zuwanderung wäre die Bevölkerung also um 212.000 zurückgegangen. Da 2020 jedoch 220.000 Personen mehr nach Deutschland zuzogen als fortzogen, wurde dies ausgeglichen, die Bevölkerung stieg leicht um 8000. Gleichzeitig alterte sie in 2020, da die Jahrgänge der 50- bis 70-Jährigen mit durchschnittlich über einer Million Personen pro Jahrgang deutlich größer waren als die Zahl der Geborenen. Ein Teil des Geburtendefizits und die Alterung des Jahres 2020 sind bereits in der Altersstruktur angelegt und aufgrund der Demografischen Trägheit bereits im Vorfeld vorhersehbar gewesen. An der Altersstruktur ist zudem bereits die Zahl der potenziellen Eltern zu erkennen: Nur die etwa 15- bis 45-jährigen Frauen können Kinder bekommen, insofern ist die Zahl der potenziellen Mütter der nächsten 15 Jahre bereits heute bekannt. Der Geburtenrückgang verstärkt sich also in der zweiten Generation: Weil in den 1980er-Jahren wenige Kinder geboren wurden, gab es eine Generation später, etwa zwischen 2000 und 2020, auch weniger potenzielle Mütter. Die bisherige Entwicklung der Altersstruktur und der Bevölkerungsgröße, aber auch die zukünftige, lassen sich mit Hilfe der drei Stellschrauben Geburten, Lebenserwartung und Wanderungssaldo abbilden. Vorausberechnungen bis 2060: Was lässt sich prognostizieren und was nicht? Bevölkerungsvorausberechnungen haben für Wirtschaft und Politik eine enorme Bedeutung. Mit ihrer Hilfe kann Jahrzehnte voraus eingeschätzt werden, welche Auswirkungen die beobachteten demografischen Verhältnisse und Trends auf die künftige Bevölkerungsentwicklung haben würden – insofern keine gravierenden Verhaltensänderungen eintreten, beispielsweise infolge politischer Gegensteuerung oder Krisen. Die Bevölkerungsvorausberechnungen sind aufgrund der Demografischen Trägheit relativ aussagekräftig. Da die Zukunft aber bekanntlich nicht vorhersehbar ist, sind die zugrundeliegenden Annahmen zur künftigen Entwicklung der demografischen Faktoren (Geburten, Lebenserwartung und Wanderung) mit Unsicherheiten behaftet. Deshalb wird die künftige Entwicklung in der Regel anhand von mehreren Szenarien dargestellt. So fertigt das Statistische Bundesamt im regelmäßigen Abstand von mehreren Jahren Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland und die Länder an. Diese enthalten mehrere Varianten, die sich aus den Kombinationen der Annahmen zur zukünftigen Entwicklung der Geburten, der Lebenserwartung und der Wanderungen ergeben. Diese Bevölkerungsvorausberechnungen sind von Projektionen auf Basis von probabilistischen Berechnungen zu unterscheiden, die manche Institute anfertigen. Die probabilistischen Bevölkerungsprojektionen beruhen auf einer vorausschauenden Ermittlung der Konfidenzintervalle, in denen sich die künftige Bevölkerungsentwicklung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bewegen würde. Beispielsweise liegt die probabilistische Prognose des Instituts der Deutschen Wirtschaft für die Bevölkerung in Deutschland für 2035 im Mittelwert bei 83,1 Millionen und die Berechnungen der Qualifikations- und Berufsprojektionen (QuBe) des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für 2035 bei 83,9 und für 2040 bei 83,7 Millionen Personen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Wert erreicht wird bzw. in dem jeweiligen Prognosekorridor liegt, ist jedoch eine rein statistische Wahrscheinlichkeit, die nur eintrifft, wenn die Annahmen auch stimmen. Es ist also wichtig, sich nicht auf einen einzelnen Prognosewert oder eine mittlere Variante zu verlassen, sondern die getroffenen Annahmen zu hinterfragen und die Bandbreite möglicher zukünftiger Entwicklungen zu betrachten. Die Bevölkerungsvorausberechnungen werden für konkrete Planungen in Politik und Teilen der Wirtschaft herangezogen. Dabei wird oft eine mittlere Variante bzw. ein Spektrum aus verschiedenen Varianten als Basis für weiterführende Betrachtungen ausgewählt. Im Unterschied zu probabilistischen Projektionen sind hier die jeweils getroffenen Annahmen auch für Fachfremde transparent. So kann die Variante zum Maßstab genommen werden, deren Annahmen am plausibelsten scheinen, oder das aufgezeigte Spektrum mehrerer möglicher Entwicklungen betrachtet werden. Die 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes des Jahres 2019 berechnet Bevölkerungsgröße und Altersstruktur bis 2060 in 21 Varianten und neun Modellrechnungen. Für jede "Stellschraube" (Geburtenraten, Lebenserwartung, Wanderungssaldo) wurden je drei Entwicklungsszenarien angenommen. Die Annahmen für die Geburtenrate betragen 1,4, 1,55 und 1,7 Kinder pro Frau, im Jahr 2019 lag dieser Wert bei 1,54, also etwa auf dem mittleren Wert. Die Annahmen für die Lebenserwartung beinhalten einen Anstieg der Lebenserwartung für in 2018 geborene Mädchen von 83,3 Jahren auf 86,4, 88,1 und 89,6 Jahre für in 2060 geborene Mädchen. Die Annahmen für Jungen sind dabei jeweils knapp vier Jahre geringer. Die Annahmen für den Wanderungssaldo (also die Nettozuwanderung) belaufen sich auf 147.000, 221.000 und 311.000 Personen pro Jahr (nach einer gewissen Übergangsphase). Diese Werte entsprechen teilweise den Durchschnittswerten seit der Gründung der früheren Bundesrepublik und teilweise seit der Deutschen Einheit. Im Folgenden wird die Variante 2 verwendet und als "mittlere" Variante bzw. "Basisvariante" bezeichnet, sie beruht auf den Annahmen einer moderaten Entwicklung der Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Wanderung. Diese Variante beinhaltet eine Fertilität von 1,55 Kinder je Frau, einen Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt für Jungen auf 84,4 Jahre und für Mädchen auf 88,1 Jahre bis 2060 sowie einen durchschnittlichen Wanderungssaldo von 221.000 Personen pro Jahr. Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2019, 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, eigene Darstellung Die Grafik zeigt, welchen Einfluss die einzelnen Stellschrauben der Annahmen auf die Bevölkerungszahl haben. Nach der Basisvariante steigt die Bevölkerung von 83,2 Millionen in 2020 bis 2024 auf 83,7 Millionen und ist danach rückläufig. Im Jahr 2051 wird sie erstmals unter 80 Millionen liegen und bis 2060 auf 78,2 Millionen sinken (schwarze Linie). Liegt der jährliche Wanderungssaldo bei 311.000 statt 221.000, wird die Bevölkerung 2060 bei 83,0 Millionen liegen (pinke Linie). Der Hebel dieser unterschiedlichen Annahme der Zuwanderung führt zu 4,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern mehr in 2060. Steigt die Geburtenrate dauerhaft auf 1,7, wird die Bevölkerungszahl 2060 bei 81,1 Millionen liegen (blaue Linie). Der Hebel einer um 0,15 höheren Geburtenrate macht einen Unterschied von 2,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern mehr in 2060. Die dritte Stellschraube ist schwächer: Wird die Lebenserwartung bei Mädchen bis 2060 auf 89,6 statt auf 88,1 Jahre steigen, wird die Bevölkerung 2060 bei 79,7 Millionen liegen (gelbe Linie); der Hebel von eineinhalb Jahren mehr Lebenserwartung führt zu 1,5 Millionen Personen mehr in 2060. Werden die niedrigsten Varianten der Annahmen kombiniert, würde die Einwohnerzahl im Jahr 2060 71,0 Millionen betragen und die höchst mögliche Kombination würde zu einem Bevölkerungsmaximum von 87,5 Millionen Personen führen. Das ist eine breite Spanne, wobei keine der Annahmen aus heutiger Sicht unrealistisch erscheint. Es ist nicht sicher, ob es bis 2060 überhaupt eine Schrumpfung geben wird. Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2019, 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, eigene Darstellung Die einzelnen Annahmen beeinflussen auch den Altenquotienten (siehe Kapitel "Interner Link: Warum der demografische Wandel uns alle betrifft"). Der Altenquotient 67 gibt an, wie viele Personen, die 67 Jahre oder älter sind, auf 100 Personen im (erwerbsfähigen) Alter von 20 bis 66 Jahren kommen. Nach der Basisvariante würde der Altenquotient von 31,5 in 2020 auf 39,2 im Jahr 2030 und 46,7 in 2038 steigen, bis 2050 etwa auf diesem Niveau bleiben und sich danach bis 2060 noch leicht auf 50,2 erhöhen (schwarze Linie). Wenn die Lebenserwartung bei Mädchen bis 2060 auf 89,6 statt auf 88,1 Jahre steigen würde, betrüge der Altenquotient 53,3, der Hebel beträgt 3,1 Punkte (bzw. Senioren pro 100 Personen im Erwerbsalter). Bei einer Geburtenrate von 1,7 würde der Altenquotient 2060 bei 49,0 liegen, ein Punkt niedriger als bei der Basisvariante. Dieser geringe Hebel bei der Geburtenrate liegt daran, dass Kinder nicht erwerbstätig sind. In die Berechnung des Altenquotienten fließen erst erwachsene Erwerbstätige ab 20 Jahren ein. Langfristig sind die Effekte der Geburtenrate auf den Altenquotienten jedoch stärker. Bei einer jährlichen Nettozuwanderung von 311.000 statt 221.000 würde der Altenquotient in 2060 bei 47,0 liegen, das sind 3,2 Punkte unter der Basisvariante. Dies verdeutlicht, dass der Altenquotient bis 2060 relativ gut prognostizierbar ist, die unterschiedlichen Annahmen verändern das Ergebnis weniger als bei der Bevölkerungsgröße. Bis 2035 betragen die Abweichung von der Basisvariante nur etwa einen Punkt. Bevölkerungsvorausberechnungen ermöglichen für einen Zeitraum von vier Jahrzehnten eine recht gute Abschätzung der demografischen Entwicklung. Der deutliche Anstieg des Altenquotienten in den nächsten zwei Jahrzehnten lässt sich demnach ziemlich sicher prognostizieren, ebenso die potenziellen Konsequenzen für die Sozialsysteme. Die Prognose eines Bevölkerungsrückgangs bis 2060 kann heute jedoch noch nicht festgestellt werden. Das große Potenzial dieser Vorausberechnungen liegt nicht nur in der Abschätzung zu Alterung und Schrumpfung, sondern auch darin, dass es den Einfluss von Migration und Geburtenentwicklung auf den demografischen Wandel im Zeitverlauf berechnet. Dies ermöglicht eine solide wissenschaftliche Grundlage, um politisch den demografischen Wandel selbst sowie deren sozialpolitische Auswirkungen zu gestalten. Die Bevölkerung in Deutschland wird älter, die Lebenserwartung und die Jahre mit Rentenbezug steigen. Im Schlosspark in Stuttgart sitzen im Mai 2021 ältere Menschen auf einer Mauer und genießen die Sonne. (© picture-alliance/dpa, Christoph Schmidt ) In Südwestdeutschland wurde im 18. Jahrhundert der Hof bzw. das Land durch das Realerbteilungsrecht nicht an den Erstgeborenen vererbt, sondern zwischen den männlichen Kindern aufgeteilt. Dies führte einerseits zu kleineren Höfen und einer Zerstückelung von Land, sodass Familien sich teilweise nicht mehr ernähren konnten. Andererseits erhielten dadurch mehr Kinder eine soziale Stellung, die es ihnen erlaubte zu heiraten und Kinder zu bekommen. In diesen Gebieten gab es daher ein stärkeres Bevölkerungswachstum sowie eine Nahrungsmittelknappheit, was zu Massenauswanderungen führte. Dieses Beispiel zeigt, wie unterschiedliche politische und gesellschaftliche Regeln Geburtenrate, Bevölkerungsgröße und Migration beeinflussen können. […] 1347 hatte seit fast 600 Jahren niemand in Europa die Pest gesehen. Deshalb war auch keiner darauf vorbereitet, als sie wieder auftauchte – ihr Auftreten wurde zuerst 1331 aus China gemeldet. Mit den auf der Seidenstraße reisenden Kaufleuten erreichte sie die Krim im Herbst 1347, wo Erkrankte die Genueser Schiffe nach Konstantinopel bestiegen. Von dort aus verbreitete sich die Seuche nach Sizilien, Griechenland, Ägypten und Nordafrika, Syrien und ins Heilige Land. Ende 1347 war sie im wirtschaftlichen Herzen der Christenheit angekommen – in den Handelsstädten Venedig, Pisa und Genua –, und das in ihrer gefährlichsten Form, als Lungenpest. In den betroffenen Städten stapelten sich schnell die Leichen. Todesraten von über 40 Prozent waren normal. […] Ab 1349 waren Teile Deutschland betroffen; zuerst die Hafenstädte an Nord- und Ostsee. In Lübeck starben 1351 innerhalb eines Jahres etwa 35 Prozent der Einwohner. […] Was zählte, waren vor allen die langfristigen Folgen des Schwarzen Todes – in weltlicher wie in spiritueller Hinsicht. Die Menschen der starren mittelalterlichen Gesellschaft hatten geglaubt, dass Gott ihnen ihre Position darin zugewiesen hatte. Jetzt aber führte der massive Bevölkerungsrückgang zu breiten Rissen in dieser unflexiblen Gesellschaftsstruktur. Vor allem waren Arbeitskräfte plötzlich überaus knapp. Landarbeiter, deren Familien gestorben waren, mussten das Leben in Leibeigenschaft nicht mehr hinnehmen: Sie hatten nichts zu verlieren, konnten einfach in die nächste Stadt gehen und ihre Arbeitskraft verkaufen. Ein Pflüger, dessen Kinder hungerten, musste sich nicht länger damit zufriedengeben, ein paar Streifen Land für seinen Gutsherren zu bewirtschaften, wenn ein Landbesitzer in der Nachbarschaft Arbeit zu gutem Lohn bot. Wenn sein Herr seine Dienste behalten wollte, musste er ihm mehr bezahlen oder ihn mit mehr Land ausstatten. Nichts trennt das Spätmittelalter so deutlich von der Zeit vorher wie der Schwarze Tod. […] [D]ie Pest erschütterte die Vorstellungswelt der Menschen, was ihren Platz auf Erden betraf. Manche mussten mit einer fast vollständigen Auslöschung ihrer Gemeinden zurechtkommen und fragten verständlicherweise, warum Gott so brutal mit ihnen umgesprungen war – vor allem, wenn das Nachbardorf weit weniger Opfer zu beklagen hatte. […] Was, wenn Gott beschloss, die Menschen völlig zu vernichten? Nach 1348 erschien die Auslöschung der menschlichen Rasse als reale Möglichkeit. Einigen Überlebenden allerdings eröffnete der Schwarze Tod auch ein ganz neues Spektrum von Chancen. […] [Die] Bauern, die ihre Arbeitskraft jetzt teurer verkaufen konnten, [gehörten] zu den Nutznießern. In England wie auch in Frankreich wurden Gesetze erlassen, um zu verhindern, dass der freie Markt die Löhne diktierte, doch diese Maßnahmen zeigten wenig Wirkung. Die Bauern merkten, dass ihre Arbeitskraft für ihre Herren von Wert war; sie konnten darauf bestehen, anständiger behandelt zu werden als bisher. Wenn nicht, konnten sie den Aufstand wagen. Die Bauernschaft hatte bisher wenig Lust auf Rebellion erahnen lassen, doch im Gefolge der Pest legte sie sich ein neues Selbstwertgefühl zu. Das führte zu verschiedenen Aufständen wie der Jacquerie in Paris (1358), den Ciompi in Florenz (1378) und der Peasants‘ Revolt in England (1381). Tatsächlich ist festzuhalten, dass ein Massensterben in der Geschichte immer die Bedeutung der arbeitenden Bevölkerung steigert, in ihren eigenen Augen wie auch in den Augen derer, die sie regieren. Soziale Aspekte […] änderten sich tiefgreifend. […] Vor allem nach der vierten Pestepedemie von 1374/1375 sanken die Pachtzahlungen der Bauern an ihre Herren, da es weniger Bauern und mehr als genug Land gab. Manche Herren hatten sich viel Geld geliehen und waren jetzt hoch verschuldet. Sie sahen sich gezwungen, ganze Gutshöfe an geschäftstüchtige Städter zu verpachten oder zu verkaufen. […] Die feudalen Verpflichtungen, die die Arbeiter an das Land gebunden hatten, wurden durch Zahlungen ersetzt. Der Kapitalismus, der schon in den Städten triumphiert hatte, begann den Feudalismus auch auf dem Lande zu verdrängen. […] Ian Mortimer, Zeiten der Erkenntnis. Wie uns die großen historischen Veränderungen bis heute prägen. Aus dem Englischen von Karin Schuler, Piper Verlag, München/ Berlin 2017, S. 110–117 Bevölkerungsgröße Deutschlands: bis 1945 ehemaliges Reichsgebiet, ab 1945 frühere Bundesrepublik und ehemalige DDR zusammen, ab 1990 Deutschland Datenquellen: Statistisches Bundesamt, für die Jahre 1955–1960 sowie 1991–2010 rückgerechnete Werte; bei den älteren Daten 1816–1870 gibt es teilweise leichte Abweichungen in der Literatur (vgl. Marschalck, 1984) Datenquelle: Statistisches Bundesamt, eigene Darstellung Will man die Zahl der Geburten pro Frau quantifizieren, gibt es zwei Möglichkeiten, die unterschiedliche Vor- und Nachteile haben: Die zusammengefasste Geburtenziffer eines Jahres (Periodenfertilität, oft vereinfacht "Geburtenrate" genannt) gibt an, wie viele Kinder von Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren innerhalb eines Jahres geboren wurden, beispielsweise im Jahr 2005 1,34. Dieser Indikator hat den Vorteil, für jedes Jahr aktuell vorzuliegen, und den Nachteil, durch Veränderungen des Durchschnittalters bei der Geburt beeinflusst zu werden. Die kohortenspezifische Geburtenrate zeigt hingegen an, wie viele Kinder Frauen eines bestimmten Geburtsjahrgangs im Laufe ihres Lebens durchschnittlich bekommen haben, beispielsweise 1,50 für den Frauenjahrgang 1970. Dieser Indikator ist gut zu interpretieren, da er das Geburtenverhalten realer Frauenjahrgänge beschreibt. Die Kohortenfertilität liegt aber erst für Frauen im Alter von 50 Jahren vor, die ihre fruchtbare Phase in der Regel abgeschlossen haben. Die zusammengefasste Geburtenziffer ist geringer als die endgültige Kinderzahl von Frauen eines Jahrgangs (Kohortenfertilität) in Phasen, in denen das durchschnittliche Alter bei der Geburt steigt. Um den Geburtenrückgang zu verstehen, ist die Kombination beider Indikatoren sinnvoll. Angesichts der Coronavirus-Pandemie wurde in vielen Medien die Frage diskutiert, ob sie zu einem Babyboom oder einem Einbruch der Geburten führt. Während es in den USA und einigen europäischen Ländern, vor allem Italien, Frankreich und Spanien, einen kurzfristigen Geburteneinbruch Ende 2020 gab, also etwa 9 Monate nach dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle, ist dieser in Deutschland ausgeblieben. Gründe dafür können das geringere Ausmaß der ersten Welle in Deutschland sein und sozialpolitische Maßnahmen wie Kurzarbeit, die die Sorgen um den Arbeitsplatz bei vielen abgemildert haben. Im Februar und März 2021 ist in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern wie Finnland oder Österreich, die Geburtenzahl temporär angestiegen. Dies war etwa 9 Monate nach der Lockerung der Kontaktbeschränkungen im Frühsommer 2020, möglicherweise hat sich ein gewisser Cocooning-Effekt eingestellt, wonach sich Menschen aus der Öffentlichkeit in das häusliche Privatleben zurückzuziehen und die Bedeutung von Familie bei einigen Paaren gestiegen ist. Insbesondere Paare, die schon ein oder zwei Kinder hatten, haben sich häufiger für ein Geschwisterkind entschieden. Inwieweit sich die Pandemie auf die weitere Entwicklung der Geburtenrate auswirkt, bleibt abzuwarten. Vier Mechanismen sind relevant: Ökonomische Belastungen inklusive Sorgen um den Arbeitsplatz haben oft einen negativen Einfluss auf die Geburtenrate. Ähnliches lässt sich für gesundheitliche Sorgen annehmen, wonach Kinderwünsche eher aufgeschoben (und damit ggf. auch aufgehoben) werden. Der dritte Mechanismus ist der Cocooning-Effekt, der kurzfristig, aber auch langfristig die Einstellung zu Familie ändern und positive Effekte auf die Geburtenrate haben kann. Ein vierter Einfluss könnte mit dem Partnermarkt zusammenhängen, da es für Singles in der Pandemie schwerer ist, einen Partner zu treffen – und letztlich ist Partnerschaft die verbreitete Voraussetzung für die Entscheidung, Kinder zu bekommen. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, eigene Darstellung. Werte ab Sterbetafel 1999/2001 sind ohne Berlin-West (Westdeutschland) beziehungsweise Berlin-Ost (Ostdeutschland) Männer, die viel trinken, rauchen und schnelle Autos fahren, haben vielleicht mehr Spaß – sterben dafür aber früher, wie deutsche Forscher jetzt herausfanden. Mönche nämlich haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als der Rest der Männerwelt. Die Debatte darüber, ob für die Lebenserwartung eher biologische Gründe oder Verhaltensweisen ausschlaggebend sind, treibt die Wissenschaftler bereits seit vielen Jahren um. […] Der deutsche Wissenschaftler Marc Luy [damals beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, heute am Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien] hat dazu [2003] […] eine Studie vorgestellt[.] […] Luy untersuchte die Sterblichkeitsdaten von mehr als 11.000 Nonnen und Mönchen in bayerischen Klöstern im Zeitraum von 1890 bis 1995. "Ziel der Untersuchung war es, herauszufinden, ob sich die Lebenserwartung von Nonnen und Mönchen deutlich anders entwickelt hat als die der Männer und Frauen in der Gesamtbevölkerung." Warum ausgerechnet eine Studie in Klöstern? "Dort leben die Mönche und Nonnen weitestgehend unter identischen Verhältnissen. Sie halten sich in der gleichen Umgebung auf, haben ähnliche Tagesabläufe, ernähren sich gleich", erläutert der Wissenschaftler. Die so genannten Verhaltens- und Umgebungsfaktoren könnten also bezüglich der Lebenserwartung im Kloster keine nennenswerte Rolle spielen, vor allem "männliche Domänen", die sich nachteilig auf die Lebenserwartung auswirken: Unfälle im Straßenverkehr, gesundheitsgefährdende Berufe, hoher Alkohol- und Nikotinkonsum. […] In seiner Klosterstudie kam der Wiesbadener Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Nonnen in Klöstern "nur um ein bis maximal zwei Jahre über der der Mönche liegt". Die Lebenserwartung der Mönche liege deutlich höher als die der männlichen Gesamtbevölkerung, während Nonnen im Wesentlichen genauso alt werden wie Frauen außerhalb von Klöstern. "Von den etwa sechs Jahren Unterschied sind nach dem Ergebnis der Untersuchung bis zu fünf Jahre auf unterschiedliche Lebensweisen und nicht auf biologische Faktoren zurückzuführen", bilanziert Luy. Diesen biologischen Faktoren sind die Wissenschaftler ebenfalls auf der Spur. Der Nürnberger Biomediziner Thorolf Brosche verweist auf Studien, nach denen ein spezieller Faktor für die geringere Lebenserwartung der Männer buchstäblich hausgemacht ist: "Das Geschlechtshormon Testosteron hat im fortgeschrittenen Alter einen so genannten immunsupressiven Effekt. Es wirkt sich also mit Erreichen eines bestimmten Alters nachteilig auf die Infektionsanfälligkeit des Mannes aus." Dieser Effekt sei sowohl beim Menschen als auch bei jenen Affenarten beobachtet worden, die dem Menschen entwicklungsgeschichtlich am nächsten stehen – den Primaten. […] Allerdings gebe es in der Gesamtbevölkerung [2003] einen leichten Umkehrtrend. "Die Schere der Lebenserwartung schließt sich wieder ein wenig, vermutlich weil Frauen inzwischen sehr viel öfter rauchen als früher und sich auch deutlich mehr Stress zumuten", sagt Luy. "Lebe langsam, stirb alt. Studie unter Mönchen", aus: SPIEGEL.de, mit Peter Leveringhaus, ddp, 23.09.2003 Zu- und Abwanderung über die Außengrenzen Deutschlands (1950-2020); Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Darstellung: BiB. Externer Link: https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/M01-Zuzuege-Fortzuege-Deutschland-ab-1950.html?nn=1215418 Datenquellen: Statistisches Bundesamt, Ausländerzentralregister. Berechnungen BiB. Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2019, 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, eigene Darstellung Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2019, 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, eigene Darstellung
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Martin Bujard
"2023-05-26T00:00:00"
"2022-04-29T00:00:00"
"2023-05-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/demografischer-wandel-350/507785/der-demografische-wandel-in-deutschland/
Aufgezeigt wird, wie sich der demografische Wandel von der Agrar- und frühindustriellen Gesellschaft über die frühe Bundesrepublik und die DDR bis ins heutige Deutschland entwickelt(e).
[ "Demografie", "demografischer Wandel", "Bevölkerungsentwicklung in Deutschland" ]
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Warum Europa? | Europäische Union | bpb.de
Europa – was ist das? Oder muss man fragen: Wer ist das? Beide Fragen sind möglich und auf beide gibt es eine Antwort. Europa war – der griechischen Sage zufolge - eine phönizische Königstochter, die dem Gott Zeus so gut gefiel, dass er sich in einen weißen Stier verwandelte und sie nach Kreta entführte, wo sie ihm mehrere Kinder schenkte und dem Kontinent ihren Namen gab. Dieser Kontinent Europa ist unsere Heimat und hat uns geschichtlich, kulturell und mental geprägt. Darüber, wo der Erdteil endet, wird heftig diskutiert, da es klare geographische Grenzen im Osten und Südosten nicht gibt. Europa ist nicht objektiv gegeben, es wird von uns definiert. Das zeigt sich am Beispiel Islands, das durch das europäische Nordmeer vom Festland getrennt ist, aber allgemeiner Auffassung nach selbstverständlich zu Europa gehört – und auch in Erwägung gezogen hat, Mitglied der EU zu werden. Oftmals, wenn von "Europa" gesprochen wird, ist jedoch die Europäische Union (EU) gemeint, also der Zusammenschluss von derzeit 28 europäischen Staaten. Die EU, mit der sich dieses Dossier im Wesentlichen befasst, ist aus dem Bündnis von sechs westeuropäischen Staaten in den 1950er-Jahren entstanden, um den Frieden unter den Mitgliedstaaten zu sichern. Sie ist die Konsequenz der europäischen Staaten aus dem Zweiten Weltkrieg und war auf der Basis gemeinsamer Werte immer auf das ganze Europa angelegt. So ist es kein Zufall, dass sie im Laufe der Jahre und vor allem seit der Zeitenwende in Europa 1989 – 1991 neue Mitglieder gewonnen hat – und auch bereit ist, weitere Länder aufzunehmen. Die EU wirkt auf das Leben ihrer Bürger ein Viele Menschen denken, diese Europäische Union ginge sie nichts an. Das stimmt aber nur, wenn sie nicht atmen und kein Wasser trinken, wenn sie nicht arbeiten, nicht einkaufen und kein Geld haben, wenn sie nicht studieren und nicht verreisen. Sollten sie das aber doch tun, wirkt die Europäische Union auf ihr Leben ein. Umwelt Vieles, was unser Leben bestimmt, wird durch europäische Vorschriften geregelt. Nehmen wir den Bereich unserer natürlichen Umwelt. Hier haben sich die Staaten der Europäischen Union auf wichtige Standards geeinigt und das war auch nötig. Umweltverschmutzung kennt keine Grenzen. So gibt es eine Externer Link: Feinstaubrichtlinie, die bestimmt, wie viele (krebserregende) Staubpartikel unsere Atemluft höchstens enthalten darf und es gibt eine Externer Link: Trinkwasserrichtlinie, die Höchstwerte für Giftstoffe im Trinkwasser festlegt. Eine Richtlinie gibt dabei lediglich die Ziele vor. Wie die Staaten diese Ziele erreichen, verbleibt in ihrer eigenen Regelungskompetenz. Einkaufen Dass im Supermarkt nicht nur deutsche Produkte angeboten werden, ist für uns völlig selbstverständlich. Spanischer Wein, französischer Käse und polnische Wurstwaren stehen im Regal neben ähnlichen Produkten aus Deutschland. Was besser ist, entscheiden jede Verbraucherin und jeder Verbraucher durch ihren Einkauf selbst. Die Kunden haben die Wahl. Dabei können sie sich auf zwei Dinge verlassen: Zum einen gelten die Lebensmittelstandards, die sie in Deutschland gewohnt sind, auch für die Produkte aus dem europäischen Ausland. Zum anderen werden die ausländischen Waren zu den Preisen angeboten, die die Hersteller und Verkäufer vorgeben. Es gibt keinen Zoll, der die Waren künstlich verteuert und der für die Käufer eine Art Strafsteuer darstellt, wenn sie sich für ausländische Produkte entscheiden. Export und Binnenmarkt Nun wird in Deutschland nicht nur vieles eingeführt, sondern auch sehr viel produziert, was in den Export geht. Im Jahr 2012 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1.096 Mrd. Euro in Deutschland hergestellt, die ins Ausland verkauft wurden. 2012 gab es einen Exportüberschuss in Höhe von 190 Mrd. Euro, das heißt, wir verkaufen ins Ausland mehr Dinge als wir von dort kaufen. Damit werden bei uns Arbeitsplätze gesichert. Den schnellen Wiederaufschwung aus der großen Finanz- und Wirtschaftskrise verdanken wir ebenfalls dem Export. Knapp zwei Drittel unserer Exporte gehen in die anderen Länder der Europäischen Union. Eine Skulptur in Bukarest kündigte den Beitritt Rumäniens zur EU an (© AP) Und genauso, wie die Bundesregierung die Einfuhr italienischer Nudeln nicht verhindern könnte, dürfen uns die anderen EU-Staaten keine Steine in den Weg legen, unsere Produkte im Ausland anzubieten. Wenn die Franzosen deutsche Autos besser finden, kann die französische Regierung sie nicht daran hindern, sie zu kaufen. Die Europäische Union ist ein Binnenmarkt mit mehr als 500 Millionen Menschen. Das bedeutet, dass innerhalb der EU alles so frei und selbstverständlich geht, wie man das aus seinem eigenen Land gewohnt ist. Freizügigkeit in der EU Aber nicht nur die Waren und Dienstleistungen sind frei, auch die Menschen genießen Freizügigkeit. Wer in einem anderen EU-Land leben und arbeiten will, kann das tun. Deutschland profitiert davon zurzeit in besonderem Maße, weil viele Fachkräfte aus anderen EU-Staaten zu uns kommen und hier zur Wertschöpfung beitragen. Gemeinsame Währung Zum Einkaufen benötigt man Geld. Wer in Deutschland sein Portemonnaie öffnet – sieht Europa. Unsere Währung ist seit 1999 der Euro. Dabei handelt es sich um eine Gemeinschaftswährung, die seit 2014 in 18 der 28 EU-Staaten benutzt wird. Bei Geld ist vor allem die Preisstabilität wichtig, über die die Europäische Zentralbank wacht. Im Zentralbankrat sind alle Euro-Staaten gleichberechtigt vertreten, natürlich auch Deutschland – aber eben genauso beispielsweise Frankreich, Belgien, Slowenien oder Malta. Bildung Viele weitere Beispiele lassen sich nennen, die zeigen, dass die Europäische Union stark in unser Leben eingreift. Dazu gehört auch der Bereich der universitären Bildung. Hier werden zum einen die Bildungsabschlüsse angeglichen, um die gegenseitige Akzeptanz zu stärken. Dieser "Bologna-Prozess" wurde zwar nicht von der EU initiiert, findet aber im Wesentlichen in den EU-Staaten statt. Auch Länder, die die Mitgliedschaft in der EU anstreben, richten ihr Bildungssystem danach aus – z. B. Serbien oder die Türkei. Damit immer mehr Studierende – und auch Auszubildende – Europa selbst erleben können, hat die EU das Erasmus-Programm ins Leben gerufen. Damit wird Studierenden die Möglichkeit geboten, dass sie einen Teil ihres Studiums im Ausland verbringen können und ihnen die dort erbrachten Leistungen an der Heimathochschule angerechnet werden. Im akademischen Jahr 2011/2012 haben über 250.000 Studierende in der EU von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Insgesamt waren das seit Beginn des Programms im Jahr 1987 mehr als 3 Millionen. In Europa reisen Aber auch, wer in ein anderes EU-Land reist, um in den Urlaub zu fahren oder um Freunde zu besuchen, kommt mit den EU-Regelungen in Berührung. Auffallend ist, dass in den allermeisten EU-Staaten keine Grenzkontrolle mehr stattfindet. Das hat mit dem Schengener Übereinkommen zu tun, mit dem die Kontrollen an den Binnengrenzen der EU aufgehoben worden sind. Man kann heute von Nordfinnland bis nach Sizilien fahren, ohne einmal einen Ausweis oder gar Reisepass zeigen zu müssen. Wer mit dem Flugzeug unterwegs ist, wird durch die EU gleich mehrfach geschützt. Zum einen sind auf EU-Ebene mittlerweile sogenannte Lockvogel-Angebote verboten, auf die in der Vergangenheit viele Menschen hereingefallen sind. Da wurde ein Flug für wenig Geld angeboten, kostete den Kunden jedoch letztendlich ein Vielfaches, weil dem "eigentlichen Flugpreis" Steuer, Kerosinzuschlag, Sicherheitsgebühr und Bearbeitungszuschlag hinzugerechnet wurden. Heute muss eine Fluggesellschaft in ihrer Werbung den Preis angeben, den der Kunde letztendlich zahlt. Durch Billigfluglinien ist das Reisen sehr viel preisgünstiger geworden. Eine intensive Kontrolle innerhalb der EU verhindert jedoch, dass fluguntaugliche Flugzeuge an den Start geschickt werden. Schrottmaschinen aus Drittstaaten bekommen in der gesamten EU keine Landeerlaubnis, für sie gibt es eine Externer Link: schwarze Liste. Und wer unter Flugverspätungen oder gar Überbuchungen zu leiden hat, kann eine Reihe von Externer Link: Passagierrechten geltend machen, die EU-weit gelten und auf jedem Flughafen aushängen. Wer nach seiner Reise ins europäische Ausland gut angekommen ist und mit dem Mobiltelefon zu Hause anruft, tut das jetzt kostengünstiger als früher, weil die Europäische Union die sogenannten Roaming-Gebühren der Telefongesellschaften beschränkt hat. Dass die EU mit dem täglichen Leben der Bürgerinnen und Bürger nichts zu tun hat, ist also eindeutig falsch. Wenn man seinen Alltag vom Morgen bis zum Abend rekonstruiert, wird man feststellen, dass man fortlaufend Regelungen und Einflüssen der Europäischen Union begegnet. Das ist uns allerdings im Allgemeinen nicht bewusst. Europa und Bürokratie Viele denken allerdings, wenn sie das Wort "Europäische Union" hören, nicht an Frieden, Freiheit, Stabilität, Wohlstand, Umwelt- und Verbraucherschutz. Im Gegenteil: Ihnen fallen als erstes komplizierte Strukturen und viel Bürokratie ein. Man hat die Vorstellung, in Brüssel würden Unmassen von "Eurokraten" sitzen und unser Geld für sinnlose Dinge ausgeben. Gerne werden auch in der Presse Beispiele zitiert, oftmals ohne eine Angabe der Zusammenhänge. Tatsächlich arbeiten in der Europäischen Kommission rund 25.000 EU-Beamte. Zum Vergleich: Auf dem Frankfurter Flughafen sind etwa 70.000 Personen tätig. Und von ihrem Haushalt von über 134 Mrd. Euro (im Jahr 2014) gibt die Europäische Union lediglich 6 Prozent für die Verwaltung aus. Sicherlich bestehen auch überflüssige bürokratische Regeln in der EU und es gibt Dinge, über die man den Kopf schüttelt. Aber das ist in Deutschland nicht anders. Einfach zu verstehen ist die Europäische Union allerdings tatsächlich nicht. Die Entscheidungsfindung in einer Union mit 28 Staaten, die in 24 Amtssprachen miteinander reden, ist komplizierter als in einem Nationalstaat oder gar auf regionaler oder kommunaler Ebene. Da die Europäische Union kein Staat ist, sondern eine Union der Staaten und der Bürger, kann man auch die Institutionen nicht einfach mit den deutschen Verfassungsorganen gleichsetzen. Zudem ist die Europäische Union ein sogenanntes Mehrebenensystem. Damit ist gemeint, dass verschiedene Ebenen in den politischen Prozessen zusammenwirken. Wenn man sich beispielsweise in der Europäischen Union auf Höchstgrenzen für Lärm einigt, wie es mit der Externer Link: Umgebungslärmrichtlinie geschehen ist, müssen diese Werte auf nationaler Ebene in Gesetze gegossen und mit Maßnahmen versehen werden, die letztlich in den Kommunen umzusetzen sind. Alle drei Ebenen, die europäische, die nationale und die lokale, sind also in den Prozess einbezogen, der dazu führt, dass wir weniger durch Lärm beeinträchtigt werden. Europa als Sündenbock? Man muss sich also ein wenig Mühe machen, die Europäische Union zu verstehen. Dies ist umso schwieriger, weil sie gerne zum Sündenbock gestempelt wird. Wenn etwas Positives zu vermelden ist, wie die Verlängerung der Garantie auf Gebrauchsgüter von sechs Monaten auf zwei Jahre, nehmen nationale Politiker das gerne für sich in Anspruch, obwohl es auf eine europäische Regelung zurück geht. Wenn aber umgekehrt etwas Unangenehmes zu berichten ist, dann wird es mit Vorliebe auf "Brüssel" geschoben und so getan, als hätte die deutsche Politik damit nichts zu tun. Tatsächlich - das wird sich im Weiteren noch zeigen - wird in den europäischen Institutionen kein einziger Beschluss gefasst, an dem kein deutscher Politiker oder Beamter beteiligt ist. Wenn man einmal damit begonnen hat, sich die EU näher anzuschauen, wird man allerdings feststellen, dass auch sie kein Buch mit sieben Siegeln ist. Dieses Dossier soll dabei helfen, die EU zu verstehen. Dabei geht es nicht darum, jede Einzelheit in den Blick zu nehmen. Ziel ist vielmehr, die großen Linien nachzuzeichnen, durch die die EU charakterisiert wird. Wer dann Lust bekommt, es noch genauer wissen zu wollen, sei auf die in jedem Kapitel angegebenen Internet-Links sowie die dort genannte Literatur verwiesen. Internet-Links Externer Link: europa.eu (Offizielle Internetseite der Europäischen Union) Externer Link: auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes) Externer Link: euractiv.de (unabhängiger kostenloser Informationsdienst über die Entwicklungen in der Europäischen Union) Externer Link: cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) Weiterführende Literatur Eckart D. Stratenschulte, Europa: Ein (Über)Blick, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, Zeitbilder Nr. 6, 2007 (Neuauflage in Vorbereitung). Werner Weidenfeld, Die Europäische Union, 3. Akt. Aufl., München: Fink Verlag, 2013. Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels: Europa von A bis Z, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2014. Interner Link: Bruno Zandonella: Pocket Europa. EU-Begriffe und Länderdaten, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2007. Eine Skulptur in Bukarest kündigte den Beitritt Rumäniens zur EU an (© AP)
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Eckart D. Stratenschulte
"2021-12-21T00:00:00"
"2011-11-27T00:00:00"
"2021-12-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-union/dossier-europaeische-union/42835/warum-europa/
Europa? Das ist für viele ein fremder Ort, ein abstraktes Gebilde. Dabei regelt die EU jetzt schon vieles, was jeden von uns im täglichen Leben betrifft. Eine Einführung.
[ "europäische Union", "Europa", "Lebensbereiche" ]
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Lückenfüller | Partizipation vor Ort | bpb.de
Didaktische Hinweise Der Lückenfüller ist eine geeignete Methode, um Schülerinnen und Schüler bei höchster Aufmerksamkeit einen Text gemeinsam erarbeiten zu lassen. Alle Schülerinnen und Schüler werden bei dieser Methode aktiviert, da jede/r in der Lage sein muss, seinen/ihren Begriff einzusetzen. Dabei wird zudem das genaue Zuhören geschult und Abwechslung in die übliche Erschließungsmethodik von Texten gebracht. Vorbereitung Sofern der Lückentext schon vorhanden ist, schreibt der/die Lehrer/in die dazugehörigen, fehlenden Begriffe auf Karten. Ist der Lückentext nicht vorhanden, muss der/die Lehrer/-in selbst Begriffe aus dem Text entnehmen und auf Karten schreiben. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass diese in einen Sinnzusammenhang eingebettet und eindeutig zuzuordnen sind. Durchführung Die Schülerinnen und Schüler bekommen jeweils eine Karte, auf der einer der fehlenden Begriffe oder Satzteile aus dem Text enthalten ist. Der/die Lehrer/in (oder ein/e Schüler/-in) liest den Lückentext laut vor, während die Lerngruppe zuhört. Wenn der Leser/die Leserin an eine Lücke gelangt, hält er/sie inne. Der/die Schüler/-in, der/die einen passenden „Lückenfüller“ auf seiner/ihrer Karte hat, ruft diesen in den Raum. Die anderen signalisieren daraufhin Zustimmung oder Ablehnung. Der/die Lehrer/-in kann direkt im Anschluss Aufschluss darüber geben, ob es sich um die richtige Lösung handelt bzw. ggf. Hilfestellung leisten. Nachdem der gesamte Text durch aufmerksames Zuhören gemeinsam erschlossen wurde, kann der vollständige Text an die Schüler/innen verteilt werden. Alternativ kann der Lückentext vor Beginn des Vorlesens zur Vorentlastung in jüngeren oder leistungsschwächeren Lerngruppen in Einzelarbeit gelesen und Vermutungen über den Inhalt der freigelassenen Stellen angestellt werden. Die Schüler/innen können daran anschließend während der Aktivität die passenden Begriffe in die Lücken schreiben. Eine weitere Abwandlung besteht darin, den Lückentext auf eine Folie zu kopieren. Ein/e Schüler/-in kann während des Vorlesens die Lösungen in die Lücken eintragen. Einsatzmöglichkeiten Diese Methode sollte bei Texten eingesetzt werden, bei deren Erarbeitung die Schülerinnen und Schüler entweder auf ihr Vorwissen zurückgreifen können oder Sachverhalte einfach aus dem Zusammenhang erschließen können. Dadurch wird sichergestellt, dass die Aufgabe die Jugendlichen nicht überfordert, da es bei einem unbekannten Inhalt schwieriger ist, die Aufgabe zu bearbeiten. Ein Beispiel für die Anwendung dieser Methode findet sich in M 02.10 (Lösungsskizze Info 02.03).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-03-21T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/156965/lueckenfueller/
Der Lückenfüller ist eine geeignete Methode, um Schülerinnen und Schüler bei höchster Aufmerksamkeit einen Text gemeinsam erarbeiten zu lassen. Alle Schülerinnen und Schüler werden bei dieser Methode aktiviert, da jede/r in der Lage sein muss, seinen
[ "Grafstat" ]
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Digitales Rechtemanagement | Urheberrecht | bpb.de
Digitales Rechtemanagement (DRM) bezeichnet eine Reihe von Technologien, mit denen die Nutzung digitaler Inhalte wie Musik, Filme oder E-Books kontrolliert wird. Was erst einmal kompliziert klingt, ist jedem von kopiergeschützten CDs und DVDs bekannt, auch Musik gibt es im Internet oft nur mit DRM-Schutz zu kaufen. Seit einigen Jahren kommt DRM in immer mehr elektronischen Geräten zum Einsatz. Der Artikel "Kopierschutz und digitales Rechtemanagement im Alltag" in diesem Dossier gibt weitere Beispiele. Die einen sehen DRM als einzige angemessene Antwort auf die weitverbreitete, unerlaubte Nutzung digitaler Inhalte. Für die anderen ist es die größte Bedrohung der Privatsphäre seit Erfindung der Volkszählung. Wieder andere argwöhnen, dass mittels DRM lediglich die Preise für digitale Musik und Filme in die Höhe geschraubt werden sollen. Dazwischen gibt es ein breites Spektrum von Meinungen über Pro und Kontra des Einsatzes von DRM. Es bleibt in der Praxis nicht bei Meinungsäußerungen. In öffentlichen Kampagnen und parlamentarischen Anhörungen, durch offene und verdeckte Wahlkampf-Finanzierung, durch die Entwicklung und Verbreitung von Software zur Umgehung von DRM tragen die Akteure und Aktionäre des digitalen Rechtemanagements ihre Auseinandersetzung aus. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die wichtigsten Positionen in aller Kürze. Inhalte-Anbieter Unter dem Sammelbegriff Inhalte-Anbieter versteht man Vertreter aus Film-, Musik- und Verlagsindustrie. Die großen Interessenverbände der Inhalte-Anbieter machen sich alle für den Einsatz von DRM stark. Die Player sind hier die US-amerikanischen Verbände RIAA (Recording Industry Association of America) und MPAA (Motion Picture Association of America), und die entsprechenden internationalen Organisationen IFPI (International Federation of the Phonographic Industry) und die MPA (Motion Picture Association). In der RIAA sind die großen, oft multinationalen Musikkonzerne und viele mittelgroße und kleinere Plattenfirmen aus den USA organisiert. Die IFPI stellt die Dachorganisation für die RIAA und andere nationale Interessenvertretungen dar. In der MPAA wiederum haben sich die amerikanischen Filmstudios und Verleiher mehrheitlich organisiert, auf internationaler Ebene bündelt die MPA die Interessen von MPAA und ihren nationalen Partnerorganisation. Wegen der großen Marktmacht der Hollywood-Studios vertritt die MPA allerdings überwiegend deren Interessen. Besonders in den USA spenden die Inhalte-Anbieter Politikern beider großer Parteien beträchtliche Summen, damit diese sich in Gesetzgebungsverfahren für DRM einsetzen. Die Verlagsbranche ist international weniger stark organisiert, hat allerdings historisch eine starke Position auf nationaler Ebene. In Deutschland vertritt überwiegend der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ihre Interessen. Die Inhalte-Anbieter treten am konsequentesten für den breiten Einsatz von DRM ein. Sie machen sich international für den Schutz von DRM in Gesetzen und Verträgen stark, da sie unter der illegalen Verbreitung ihrer Produkte – Musik, Filme, Bücher – am deutlichsten zu leiden haben. Zudem könnte ihnen der Einsatz von DRM neue Geschäftsmodelle ermöglichen, die auf der individuellen Abrechnung von Mediennutzung basieren. Ein Beispiel dafür ist das Bezahlfernsehen. Ein neuer Geschäftszweig, bisher vor allem für Musik, ist das sogenannte Streaming. Anbieter sind hier etwa Spotify oder Simfy. Die eingesetzten DRM-Technologien haben sich im Laufe der Jahre gewandelt. Während Mitte der 2000er Jahre sogenannte „harte“ DRM-Technologien, wie etwa der Kopierschutz von CDs, im Vordergrund standen, spielen inzwischen vermehrt DRM-Technologien eine Rolle, die kontrollieren, wie die Werke genutzt werden. Mit Wasserzeichen versehene Musikdateien können so weiterverfolgt werden, während Privatkopien weiterhin möglich sind. DRM-Technologien erlauben den Anbietern zu verfolgen, wie oft und zu welchen Zeitraum Werke konsumiert werden. Technologie-Anbieter Bei den Technologie-Anbietern ist die Interessenlage recht unübersichtlich. Manche Unternehmen profitieren von DRM, andere sehen für sich eher Nachteile. Digitales Rechtemanagement wird wie jede andere Technologie erst einmal entwickelt und anschließend vermarktet. Von einem Markterfolg von DRM oder gar seinem gesetzlich vorgeschriebenen Einsatz würden die DRM-Entwickler natürlich profitieren. Auf der anderen Seite verlangen die Inhalte-Anbieter von Hardware- und Software-Herstellern die Einhaltung bestimmter DRM-Standards. Andernfalls würden sie ihre wertvolle Musik, ihre Filme und Fachzeitschriften nicht zur Verwertung bereitstellen. Das hochauflösende Videoformat der Blu-ray-Disc ist ein Beispiel dafür. Für den Hersteller von Grafikkarten oder den Anbieter einer Video-Abspielsoftware ist das ein zweischneidiges Schwert. Durch DRM wird die Entwicklung der Produkte aufwendiger und teurer. Ob sich der Aufwand auszahlt, ist nicht absehbar. Hinzu kommt, dass viele Konsumenten DRM ablehnen und nicht bereit sind, ohne triftigen Grund in neue Hard- oder Software zu investieren. Weil die Positionen der verschiedenen Technologie-Anbieter so weit auseinanderfallen, vertreten ihre Industrieverbände teils gegensätzliche Positionen. Bei der DRM-Entwicklung drängen sie auf die Einführung verbindlicher Standards, um kostspielige Fehlentwicklungen zu vermeiden. Manche von ihnen entwickeln aber auch eigene Systeme und versuchen, sie aufgrund ihrer Marktmacht durchzusetzen. DRM-Dienstleister DRM-Dienstleister sind Unternehmen, die eine Vermittlerrolle zwischen Inhalte-Anbietern auf der einen Seite und Inhalte-Nutzern auf der anderen Seite ausfüllen. Die DRM-Dienstleister übernehmen oft die Funktion des klassischen Einzelhandels. Ihre Dienstleistung besteht im Kern darin, von den Inhalte-Anbietern gelieferte Inhalte mit einem DRM-Schutz zu versehen und anschließend zu vermarkten. Die kommerziellen Musik-Portale im Internet haben seit einigen Jahren ihre Position zu DRM geändert. Sie verkaufen inzwischen hauptsächlich Musikdateien mit schwachem DRM, zum Beispiel Wasserzeichen. Bei Apple iTunes ist dies seit etwa 2009 der Fall. Musik-Streaming-Dienste setzen eher starkes DRM ein, so dass Nutzer die Musik nur anhören können, solange lange sie Mitglied sind. DRM spielt inzwischen eine wichtige Rolle im E-Book-Bereich; die großen Anbieter arbeiten alle mit DRM-Systemen. Die Betreiber der Portale lizenzieren Werke von den Verlagen oder einzelnen Autoren und vermarkten sie zu unterschiedlichen Bedingungen an die Nutzer. Für jeden verkauften Titel oder jedes Abonnement wird ein bestimmter Lizenzbetrag an die Rechteinhaber überwiesen. Durch die Kopplung von bestimmten DRM-Verfahren an mobile Abspielgeräte oder bestimmte Abspielsoftware versuchen die DRM-Dienstleister, sich eine starke Position im Markt zu sichern. Dadurch, dass sie ihre DRM-Verfahren nicht an Wettbewerber lizenzieren, hoffen einzelne Unternehmen, sich eine marktbeherrschende Stellung zu verschaffen. Das hat dazu geführt, dass die Nutzer sich auf einzelne Anbieter festlegen müssen, wenn sie bestimmte Geräte oder Software nutzen wollen. Sowohl bei Verbraucherschützern als auch in der Politik hat dieses Verhalten zu Protesten geführt, und es sind Forderungen nach einer stärkeren Regulierung des DRM-Einsatzes laut geworden. Künstler und Kreative Künstler und Kreative sind in ihrer Gesamtheit sehr zerstritten, was die Vor- und Nachteile des DRM-Einsatzes zum Schutz von Kopien ihrer Werke angeht. Zum einen liegt das daran, dass sie auf unterschiedliche Arten kreativ sind und Geld verdienen. Je nachdem, ob DRM ihre kreative Arbeit behindert oder nicht, ob unerlaubte Werkkopien finanziellen Verlust bedeuten oder eher als eine willkommene Werbemaßnahme angesehen werden, sprechen sie sich für oder gegen DRM, für oder gegen Internet-Tauschbörsen aus. Zum anderen verdient überhaupt nur ein Teil der Künstler und Kreativen den Lebensunterhalt mit Kunst. Für einen großen Teil geht es schlicht darum, durch die Werke bekannt zu werden. Ihnen ist daran gelegen, ein möglichst großes Publikum anzusprechen. Ein DRM, das die Verbreitung von Kopien einschränkt, erweist sich dabei als Hindernis. Die Kreativen tun sich oft schwer, die Vielfalt ihrer Positionen gegenüber Öffentlichkeit und Politik zu artikulieren. Vielen von ihnen ist zudem nicht klar, was DRM für sie persönlich bedeutet, was die Meinungsbildung erschwert. In den meisten Diskussionsrunden und Anhörungen in Ausschüssen sind Künstler in der Minderheit oder gar nicht vertreten. Nutzer Aus Sicht der überwiegenden Zahl der Nutzer urheberrechtlich geschützter oder nicht (mehr) geschützter Werke bietet DRM mehr Nachteile als Vorteile. Praktisch jedes DRM-System bringt Nutzungseinschränkungen der einen oder anderen Art mit sich. Häufig wird mit DRM das Kopieren von Datenträgern verhindert, die Umwandlung von Dateien in ein anderes Format oder das Abspielen von Dateien auf bestimmte Geräte beschränkt. Darüber hinaus werden manche DRM-Systeme im Internet dazu eingesetzt, die individuelle Mediennutzung zu erfassen, um so Nutzerprofile zu erstellen. Eine anonyme Mediennutzung, wie sie bis vor wenigen Jahren der Regelfall war, wird zunehmend schwieriger. Mangels politischer Organisation gelingt es den Nutzern nur ausnahmsweise, ihren Interessen im Kampf um DRM Gehör zu verschaffen. Stellvertretend für sie mischen sich Verbraucherschutz-Organisationen, Bürgerrechtsgruppen und Internet-Initiativen in die politische Debatte ein. Bestimmte Gruppen von Nutzern sind durch DRM unmittelbar in ihrer Arbeit betroffen. So beschweren sich Bibliotheken und Archive darüber, dass DRM-geschützte Angebote ihnen zunehmend das Leben schwer machen. Von DRM-geschützten Medien können und dürfen nur in wenigen Ausnahmefällen Kopien angefertigt werden. Die Vielfalt der verschiedenen Verfahren erschwert dabei den Umgang mit DRM-geschützten Inhalten. Schließlich gibt es die Befürchtung, dass die Preise für digitale Inhalte mit DRM künstlich in die Höhe getrieben werden könnten. In der politischen Auseinandersetzung um DRM kommt den Bibliotheken und Archiven auf Grund ihrer Beschaffungsetats eine wichtige Rolle und Stimme zu. Bildungs- und Forschungseinrichtungen bilden eine weitere Nutzergruppe mit spezifischen Interessen. Ihre Aufgabe ist die Verbreitung von Wissen, dessen möglichst weitgehende Nutzung gefördert und weiterentwickelt werden soll. DRM-geschützte Lehrbücher und Fachliteratur stellen aus Sicht von Bildungs- und Forschungsinstitutionen ein ernst zu nehmendes Hindernis dar, das der Verwirklichung dieser Interessen im Wege steht. In öffentlichen Deklarationen und parlamentarischen Anhörungen sprechen sich ihre Interessenvertretungen in der Mehrheit klar gegen DRM aus. Sie gehen noch einen Schritt weiter und plädieren für einen freien Zugang zu wissenschaftlichen Informationen im Sinne des Open Access. Insbesondere setzen sie sich dafür ein, dass die Ergebnisse von mit Steuergeldern finanzierter Forschung kostenlos öffentlich zugänglich sein sollen. Verwertungsgesellschaften Die Rolle der Verwertungsgesellschaften besteht darin, Lizenzgebühren für die Zweitnutzung von Werken sowie Pauschalabgaben auf Kopiergeräte und Leermedien einzusammeln und auf ihre Mitglieder zu verteilen. Die Mitglieder sind in der Regel sowohl Künstler und Kreative als auch Inhalte-Anbieter wie beispielsweise Verlage. Als die größten Interessenvertretungen der Kreativen beteiligen sie sich intensiv an der politischen Diskussion um die Weiterentwicklung des Urheberrechts. DRM bringt die Verwertungsgesellschaften in eine schwierige Position. Sollte sich DRM großflächig durchsetzen, so wäre es technisch möglich, praktisch jede Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke individuell zu erfassen und abzurechnen. Damit gäbe es keinen großen Bedarf mehr für Pauschalabgaben und deren Verteilung. Die Verwertungsgesellschaften würden dann einen großen Teil ihrer Aufgaben und wohl auch ihrer Bedeutung verlieren. In der politischen Diskussion befürworten sie einerseits im Interesse ihrer Mitglieder den Einsatz von DRM. Andererseits gehen sie auf längere Zeit nicht davon aus, dass DRM die Pauschalabgaben überflüssig machen wird. Internet-Anbieter DRM wird von den Internet-Anbietern weder grundsätzlich abgelehnt noch grundsätzlich befürwortet. Aber in einem Punkt sind sich die Internet-Anbieter einig: Die fehlende Standardisierung bei DRM und der mangelnde Verbraucherschutz sind ein wesentliches Hindernis für die Verbreitung von Inhalten auf den verschiedenen Endgeräten wie beispielsweise Mobiltelefonen. In den politischen Prozess um den DRM-Einsatz mischen sich die Internet-Anbieter kaum ein.
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Robert Gehring, aktualisiert Valie Djordjevic
"2022-01-25T00:00:00"
"2013-10-01T00:00:00"
"2022-01-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/digitalisierung/urheberrecht/169982/digitales-rechtemanagement/
Digitales Rechtemanagement sorgt seit einigen Jahren für heftige Debatten auf der ganzen Welt. Anbieter, Nutzer und Künstler haben dabei unterschiedliche Interessen. Ein Überblick.
[ "Urheberrecht", "Urheberrechtsverletzung", "Eigentum", "Copyright", "digitales Rechtemanagement", "Technologie", "Verwertungsgesellschaften", "geistiges Eigentum" ]
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16 Parteien – 38 Thesen – Ihre Wahl | Presse | bpb.de
Pünktlich zum Beginn der heißen Phase des Bürgerschaftswahlkampfes in Bremen ist heute die neueste Version des Wahl-O-Mat gestartet. Nutzer des Online-Angebotes können herausfinden, welche der zur Wahl zugelassenen Parteien ihren politischen Positionen am nächsten stehen. Seit 10 Uhr kann die aktualisierte Version des Wahl-O-Mat zur Bürgerschaftswahl in Bremen auf Externer Link: www.wahl-o-mat.de getestet werden. Der Wahl-O-Mat Bremen entstand in Kooperation zwischen der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, dem Bremer Jugendring und der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Alle 16 zur Bürgerschaftswahl zugelassenen Parteien haben im Vorfeld zu den 38 Thesen des Wahl-O-Mat Position bezogen. "Der Wahl-O-Mat hat sich inzwischen zu einer festen Größe für politische Information im Vorfeld von Wahlen etabliert", sagt bpb-Präsident Thomas Krüger über das Angebot, mit dem seit 2002 insbesondere junge Wähler informiert und mobilisiert werden sollen. So wurde das interaktive Informationsangebot bei der letzten Bürgerschaftswahl in Bremen 48.820 Mal genutzt, zur Bundestagswahl 2009 spielten den Wahl-O-Mat 6,7 Millionen Politikinteressierte. Der offiziellen Start des Wahl-O-Mat zur Wahl 2011 in Bremen fand in der Bremer Bürgerschaft statt. Mit dabei waren Vertreter von in der Bürgerschaft vertretenen Parteien: Björn Tschöpe, Fraktionsvorsitzender der SPD Bürgerschaftsfraktion, Rita Mohr-Lüllmann, CDU-Spitzenkandidatin und stellvertretende Vorsitzende der CDU-Fraktion, Karoline Linnert, Bündnis 90/Die Grünen, Senatorin für Finanzen, Dr. Magnus Buhlert, FDP-Bürgerschaftsabgeordneter und Peter Erlanson, Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE in der Bremischen Bürgerschaft. Unter Externer Link: www.wer-steht-zur-wahl.de sind ebenfalls seit heute Kurzprofile von allen 16 zur Wahl stehenden Parteien und Wählervereinigungen veröffentlicht. Medienpartner des Wahl-O-Mat sind ZDF-Online, Spiegel-Online, t-online sowie die Online- Redaktionen der Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Welt und der Süddeutsche Zeitung. Weitere Informationen zum Wahl-O-Mat in Form von Dossiers, multimedialen Angeboten, Lexika und Unterrichtsmaterialien finden Sie auf Externer Link: www.wahl-o-mat.de/info. Hochauflösende Designs des Wahl-O-Mat zum kostenfreien Abdruck in Ihrem Medium sind bei der Pressestelle der bpb unter E-Mail Link: presse@bpb.de oder im Pressebereich des Wahl-O-Mat erhältlich: Externer Link: www.wahl-o-mat.de/presse. Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (80 KB) Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49880/16-parteien-38-thesen-ihre-wahl/
Pünktlich zum Beginn der heißen Phase des Bürgerschaftswahlkampfes in Bremen ist heute die neueste Version des Wahl-O-Mat gestartet. Nutzer des Online-Angebotes können herausfinden, welche der zur Wahl zugelassenen Parteien ihren politischen Position
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Antikommunismus zwischen Wissenschaft und politischer Bildung | Deutschland Archiv | bpb.de
Einleitung: Antikommunismus als Teil der westdeutschen Mentalitätsgeschichte Ein Rückblick auf die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren zeigt eine eigentümliche Verschränkung zwischen den Ansätzen einer demokratischen Bewusstseinsbildung und einer antitotalitären Grundhaltung, die sich weniger auf die NS-Diktatur bezieht, in der man eigene Verstrickungen nur zu gern unter dem Rubrum einer "Unschuldsgemeinschaft" zu verdrängen trachtete, als auf den Systemantagonismus zu den sowjetkommunistischen Regimen, der im Nachkriegsdeutschland seine Manifestation in einem ostdeutschen Konkurrenzstaat gefunden hatte, einem "Staat, der nicht sein darf". Der Antikommunismus wurde daher zu einem grundlegenden Integrationsfaktor für die Entwicklung des politischen Selbstverständnisses der westdeutschen Gesellschaft. Diese Einsicht ist allerdings zu pauschal, um die Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik angemessen zu erfassen. Denn sie verdeckt, dass sich im Westen Deutschlands unterschiedliche Ausprägungen des Antikommunismus nachweisen lassen, die bei einer Analyse von Genese und Erscheinungsformen antikommunistischer Denk- und politischer Verhaltensmuster analytisch und systematisch differenziert werden müssen. Grundlegend lassen sich propagandistischer und rationaler Antikommunismus unterscheiden. Während der als propagandistisch bezeichnete, appellativ und emotional aufgeladene Antikommunismus funktionalisiert wird, um das Demokratiekonzept ex negativo zu legitimieren, ist der rationale Antikommunismus dadurch gekennzeichnet, dass er sich mit Theorie und Praxis des Kommunismus substanziell (tatsachengestützt) und argumentativ auseinandersetzt. In einem Zwischenbereich lässt sich verorten, was als empirischer Antikommunismus bezeichnet werden kann und vor allem auf den Berichten von Zeitzeugen beruht, die ein breites Spektrum zwischen emotionaler Betroffenheit und nüchterner Erkenntnis aufweisen. Und schließlich ist bei der Analyse von Erscheinungsformen des Antikommunismus zu berücksichtigen, an welche Zielgruppen er gerichtet ist und welchen praktischen Zwecken er jeweils dient, etwa in der Auseinandersetzung mit innenpolitischen Konkurrenten, insbesondere im Kontext von Wahlkämpfen. In diesem Beitrag steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit zwei wichtige Institutionen der politischen Bildung in der Bundesrepublik, die Bundeszentrale für Heimatdienst und das Ostkolleg, dem selbstgesetzten Auftrag einer wertorientierten und zugleich wissenschaftlich begründeten Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des internationalen Kommunismus in ihrer Gründungsperiode gerecht geworden sind. Untersucht wird, welche personellen Konstellationen und konzeptionellen Ansätze die Ausbildung von Organisationsstrukturen bestimmt haben; exemplarisch wird zudem dargestellt, wie konkrete Maßnahmen und Projekte einer bundesweit operierenden politischen Bildung gestaltet waren, die aus der intellektuellen Herausforderung der Theorie des Marxismus und der politischen Systemkonkurrenz mit dem Sowjetkommunismus resultieren. Gründungsgeschichte der Bundeszentrale für Heimatdienst Auf der Kabinettssitzung vom 7. September 1951 zeigte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer besorgt darüber, dass sich die Bevölkerung "in steigendem Maße der Demokratie und der Politik der Bundesregierung entfremde". Im Oktober 1951 verfasste Edmund Forschbach im Auftrag von Bundesinnenminister Robert Lehr (CDU) eine Ausarbeitung über die Aufgaben und den Aufbau einer "Bundeszentrale für Heimatdienst" und legte diese Ministerialdirektor Hans Globke im Bundeskanzleramt am 23. Oktober 1951 vor. Darin heißt es: "Da die Gefahren für die Demokratie ihre Ursachen nicht nur in der Agitation und den hochverräterischen Bestrebungen ihrer Feinde haben, sondern mindestens ebenso darin, dass unser Volk in weiten Teilen mit der Demokratie nichts anzufangen weiß (…), bedarf die Tätigkeit des Amtes für Verfassungsschutz einer Ergänzung in positiver Hinsicht. Die Behörde für den 'positiven' Verfassungsschutz muss die Bundeszentrale für Heimatdienst (Bz.f.H.) werden. (…) Die Wahlberechtigten werden fast ausschließlich durch Appelle an das Gefühl zu demokratischem Denken und Handeln aufgefordert. Der Appell an das Gefühl aber gibt dem politischen Hasardeur jede Chance, die unwissenden Massen in die Irre zu führen. (…) Am Anfang der Arbeit der Bz.f.H. muss deswegen die Erkenntnis stehen, dass die Nachahmung der 'Aufklärung' und 'Propaganda' der Diktaturstaaten nicht in Betracht kommen kann". Forschbach knüpfte im Hinblick auf den Namen der projektierten Institution an eine Organisation an, die als "Reichszentrale für Heimatdienst" im November 1919 etabliert worden war, wobei der antiquiert erscheinende "Heimatdienst"-Begriff auf eine problematische Vorgeschichte verweist, die noch in die Endphase des Ersten Weltkriegs zurückreicht. Denn die im März 1918 auf Wunsch der Obersten Heeresleitung gegründete "Zentralstelle für Heimatdienst" sollte die Widerstandskraft der Heimatbevölkerung ideologisch stärken – komplementär zur "Zentralstelle für Frontdienst", die "Vaterländischen Unterricht" für die Truppe anbot. Die Reichszentrale für Heimatdienst konzentrierte dann "staatsbürgerliche Aufklärung" auf die "Erziehung zum Staat", indem sie über die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie, aber auch über das konkrete Regierungshandeln informierte. Sie führte "Staatsbürgerliche Lehrgänge und Bildungstage" durch und publizierte auch Broschüren und Bücher in einem eigenen Verlag. Im August 1920 erschien die erste Ausgabe der Halbmonatsschrift "Der Heimatdienst", Ausgabe 2/1932 (© Privatarchiv Rüdiger Thomas) "Heimatdienst", die sich außenpolitisch auch mit deutlicher Kritik am Versailler Vertrag positionierte. Die Zentrale war dem Pressechef der Reichsregierung unterstellt, bevor sie 1927 in die Reichskanzlei eingegliedert wurde. Leiter der Reichszentrale war seit ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung (auf Beschluss der NS-Regierung vom 15. März 1933) Richard Strahl. Ihre Zuständigkeiten wurden dem zwei Tage zuvor neu eingerichteten Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels übertragen. So konnte die Reichszentrale für Heimatdienst in der jungen Bundesrepublik als Opfer der Nazi-Machteroberung gelten und die Bundeszentrale für Heimatdienst an eine in mancher Hinsicht durchaus fragwürdige politische Bildungstradition der Weimarer Republik ausdrücklich anknüpfen. Dass die Zuordnung der projektierten Bundeszentrale zum Bundesinnenministerium erfolgte, hängt freilich nicht nur mit dem Aspekt des positiven Verfassungsschutzes zusammen, sondern ist auch durch die Personenkonstellation während des Entscheidungsprozesses bedingt. Adenauers wichtigste Beamte im Kanzleramt waren Otto Lenz – 1951–1953 Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramtes – und vor allem Hans Globke – seit 1949 Ministerialdirigent, 1950 Ministerialdirektor im Kanzleramt, seit 1953 Staatsekretär und Amtschef Adenauers bis 1963 –, der erheblich NS-vorbelastet war, sodass eine Verbindung mit demokratischer Bildungsarbeit im Rahmen des Kanzleramts schon aus diesem Grund nicht zweckmäßig erschienen wäre. Der vorgesehene Gründungsdirektor der Bundeszentrale für Heimatdienst (BZH), Paul Franken, war seit 1935 ein enger Vertrauter Konrad Adenauers. Er hatte dem katholischen Widerstandskreis um Jakob Kaiser und Adam Stegerwald angehört und in dieser Zeit auch mit Robert Lehr in Verbindung gestanden. Wegen längerer "Schutzhaft" als "politisch Verfolgter" eingestuft, war Franken nach dem Krieg zunächst als Privatlehrer tätig, bevor er 1949 als Dozent und 1950 als Direktor an der Pädagogischen Hochschule Vechta wirkte. Adenauer hatte seinen langjährigen Freund bereits kurz nach der ersten Bundestagswahl für eine wichtige Funktion vorgesehen und brieflich seinen Wunsch bekundet, von Franken "zu hören, wofür Sie sich besonders interessieren". Dass Franken, dem Adenauer zunächst die Funktion eines Regierungssprechers nahegelegt hatte, dem Projekt einer zentralen Einrichtung für politische Erziehung und Bildung Interesse und Sympathie entgegenbrachte, kann nicht verwundern, zumal auch der ihm zugeordnete Innenminister Lehr auf eine integre politische Vergangenheit zurückblicken konnte. Lehr hatte als langjähriger Oberbürgermeister von Düsseldorf wegen seiner oppositionellen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten im April 1933 sein Amt verloren und in den folgenden Jahren dem Widerstandskreis um Karl Arnold angehört. Wenige Monate nach Forschbachs Darlegungen zur Institutionalisierung der politischen Bildung wurde Franken in den konkreten Planungsprozess eingebunden. Bei der BZH sollten – wie Franken auf einer Pressekonferenz am 8. Mai 1952 ausführte – "parteipolitische Tagesfragen" und "alle Fragen des deutschen Ostens" ausgeklammert sein. Bundesminister Lehr ergänzte, die BZH solle "eine ganz streng überparteiliche Stelle" sein, "die, soweit sie Material sammelt und an die Öffentlichkeit bringt, nur absolut einwandfreies, wissenschaftliches Material liefert". Sie sei "kein Propagandainstrument der Bundesregierung, (…) kein Organ des Ministeriums des Innern, und infolgedessen zusammengesetzt aus Vertretern aller fachlichen Richtungen." Der 25. November 1952 markiert den Beginn der staatlichen, überparteilichen politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Erlass des Bundesministers des Innern wurde die BZH, 1963 umbenannt in "Bundeszentrale für politische Bildung", als nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Ministeriums aus der Taufe gehoben. Im Gründungserlass wurde der BZH die Aufgabe übertragen, "den demokratischen und europäischen Gedanken im deutschen Volke zu festigen und zu verbreiten". Die anfangs vier Referate wurden mit Personen aus dem Umfeld der NS-Gegnerschaft besetzt und politisch nicht einseitig ausgewählt. Der erste zuständige Aufsichtsreferent im BMI, Carl H. Lüders, war bis zu dessen Rücktritt (im Oktober 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnungspläne Adenauers) persönlicher Referent Gustav Heinemanns gewesen. Das erklärt die vergleichsweise unabhängige Stellung der Anfangsjahre. Dass die BZH als überparteiliche Einrichtung arbeiten sollte, wurde institutionell durch die Bildung des Kuratoriums unterstrichen, das sich zunächst aus 15 Bundestagsabgeordneten zusammensetzte und das die Arbeit des Hauses bis heute begleitet. Schon in den Anfangsjahren der BZH entwickelte sich ein lange Zeit vorherrschendes Arbeitsprofil: Öffentlich selbst in Erscheinung trat die BZH vor allem über ihre Titelblatt des Gesamtverzeichnisses der Publikationen der Bundeszentrale für Heimatdienst und der Bundeszentrale für politische Bildung, herausgegeben zum 40-jährigen Bestehen der BpB (© BpB) Publikationen, eigene Aktivitäten wurden also in erster Linie mit auflagenstarken Printprodukten entfaltet, von denen die Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte", die Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", und die "Informationen zur politischen Bildung" mit ihrem hohen Verbreitungsgrad einen erheblichen meinungsbildenden Einfluss hatten und deshalb auch besonders deutlich erkennen lassen, auf welchem Niveau die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in dieser staatlichen politischen Bildungseinrichtung geführt wurde. Indirekt und mittelbar wurde sie in einem erheblichen Umfang durch die finanzielle Förderung unterschiedlichster "freier Träger" – unter denen sich auch militant antikommunistische Gruppierungen befanden – wirksam, ohne sich für deren Aktivitäten öffentlich in Verantwortung nehmen zu lassen. Publikationen der Bundeszentrale für Heimatdienst Es gibt zwar einige wenige Beiträge, die sich mit der Geschichte der Bundeszentrale beschäftigen, aber bisher fehlen Studien, die sich auch inhaltsanalytisch orientieren, also die Publikationen der BZH in den Mittelpunkt rücken, mit denen diese unmittelbar Prozesse der Informationsvermittlung und der Urteilsbildung beeinflusst und mitgestaltet hat. Karikatur aus dem Hamburger Echo in der Wochenzeitung "Das Parlament", 1950er-Jahre (© Das Parlament) Mit der Gründung der BZH war die Übernahme der zuvor seit September 1950 kommerziell herausgegebenen Wochenzeitung "Das Parlament" verbunden. Die Wochenzeitung hatte ihren Schwerpunkt in der auszugsweisen Dokumentation von Bundestagsdebatten, doch wurden dort auch – betreut von einer Miniredaktion mit ursprünglich zwei Redakteuren – andere politische Themen einbezogen, zu denen die gelegentliche Berichterstattung über die "Sowjetzone" und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gehörte. Hierzu erschienen bis 1963 zehn Themenausgaben. Als Leitmedien der BZH, die sich mit einem deutlich differenzierten Anspruchsniveau einerseits an wissenschaftsorientierte bildungsqualifizierte Milieus, andererseits an eine breitere Öffentlichkeit, vorrangig aber an Adressaten in den Schulen wandte, sind die Wochenzeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" sowie die "Informationen zur politischen Bildung" von grundlegender Bedeutung. Dies gilt sowohl allgemein im Hinblick auf Konzepte und Inhalte einer demokratischen politischen Bildung als auch speziell für die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. "Aus Politik und Zeitgeschichte" "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ), die Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", ist seit ihrer Gründung bis heute das anspruchsvollste publizistische Medium der Bundeszentrale. Die Zeitschrift erscheint seit Ende November 1953 regelmäßig (zuvor hatte es in der zweiten Hälfte desselben Jahres bereits acht Sonderbeilagen gegeben), sie wurde bis 1956 von Paul Franken persönlich mit nur einer Hilfsreferentin betreut. In "APuZ" waren dabei Beiträge zur demokratischen Erziehung – etwa von Walter Dirks, Theodor Litt und Eduard Spranger –, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und zur Geschichte der NS-Diktatur zwar prioritär, doch wurde schon seit dem ersten Jahrgang auch die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus häufig thematisiert. Während Themen zur kommunistischen Ideologie überwiegend in Originalbeiträgen präsentiert wurden, stammten Analysen zum Ost-West-Konflikt in den ersten Jahrgängen fast ausschließlich von amerikanischen und britischen Autoren. Aus Politik und Zeitgeschichte, 23/1954 (© BpB) Im Hinblick auf die kommunistische Ideologie fällt ein Beitrag von Helmut Gollwitzer über "Die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als unsere Aufgabe" besonders in den Blick, der im Juni 1954 publiziert wurde. Es handelt sich um einen Vortrag, den Gollwitzer vor Angehörigen der Dienststelle Blank gehalten hatte. Dieser Beitrag ist aus drei Gründen bemerkenswert und für die damalige Zeit – der KPD-Verbotsprozess war bereits drei Jahre zuvor initiiert worden – ganz erstaunlich: (1) Gollwitzer würdigt Karl Marx als einen "der großen Denker des 19. Jahrhunderts" und erklärt: "Ich könnte keinen Historiker, Sozialökonomen, Sozialpolitiker, aber auch keinen Pädagogen ernst nehmen, der nicht in irgendeiner Weise auch marxistische Gedanken in sein Denken aufgenommen hätte." (2) Er wendet sich entschieden gegen Gesinnungsschnüffelei: "Es ist im Marxismus in der Erkenntnis der Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, in der schonungslosen Diagnose unserer Zeit soviel einzelnes Wahres, es hat sich auch soviel durchgesetzt, daß es nur borniert ist, etwa heute im Zuge der amerikanischen Hexenjagd nun auch einzelne Professoren zu durchleuchten, wieweit sie marxistische Gedanken aufgenommen haben". (3) Ideologiegeschichtlich akzentuiert Gollwitzer einen fundamentalen Unterschied zwischen der NS-Weltanschauung und dem Marxismus. Er erkennt in der marxistischen Weltsicht "die Stärke, daß sie auch dem Verstand entspricht und ihn befriedigt, die der Nationalsozialismus mit seinem Mystizismus nicht hatte." Im Ausblenden der sozialpolitischen Herausforderung des Marxismus sieht Gollwitzer den Grund dafür, dass China ein kommunistischer Staat geworden sei: "China ist das Ergebnis einer versäumten Sozialreform." In seinem Beitrag hebt er allerdings gleichzeitig den fundamentalen Unterschied hervor, den er zwischen Marx und den kommunistischen Diktaturen der Gegenwart konstatiert. Gollwitzer markiert dezidiert eine Kluft zwischen dem Marxschen Humanismus als "Aufbruch zur Befreiung des Menschen. Und am Ende steht das schlimmste Sklavensystem, das wir in der europäischen Geschichte kennen." Stärker ausgeprägt als bei Gollwitzer verbindet sich in einem zwei Jahre später erschienenen Beitrag von Wenzel Jaksch die Marx-Deutung mit dem politischen Interesse eines engagierten Sozialdemokraten, sich unmissverständlich vom Sowjetkommunismus abzugrenzen, ohne die ideengeschichtlichen Wurzeln der sozialistischen Bewegung zu verleugnen: "Die Schwäche der geistigen Widerstandsfront in Westdeutschland kommt entscheidend aus gewollten und ungewollten Mißverständnissen über die Identität von Marxismus und Sowjet-Kommunismus. (…) Meine Aussage ist, daß die üblichen antimarxistischen Schlagworte als geistige Waffen für die Auseinandersetzung mit dem Osten völlig untauglich sind. Marx ist nun einmal einer der größten Propheten des industriellen Zeitalters (…) Manche seiner Thesen sind heute überholt, aber in entscheidenden Punkten hat er recht behalten, nämlich, daß der Mensch des industriellen Zeitalters sein Leben bewußt gestalten muß, wenn er nicht zum Werkzeug unkontrollierbarer Kräfte herabsinken will." Jaksch plädiert daher für ein "Programm der sozialen Aufrüstung", die er mit der Zielsetzung der deutschen Wiedervereinigung verbindet: "Die Sozialordnung Westdeutschlands und später Gesamtdeutschlands ist das Schaufenster der freien Welt gegenüber den Satelliten-Völkern." Diese frühen Beispiele illustrieren einen Denkansatz in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, der Marx' Ideen kritisch gegen den totalitären Staatssozialismus der kommunistischen Parteiherrschaft in Anschlag bringt. Er antizipiert damit eine Form der Kritik am internationalen Kommunismus, der in der Systemauseinandersetzung seit den ausgehenden 1960ern bis zum Ende der 1980er-Jahre vorherrschend werden sollte. Dieser Sichtweise steht eine andere Richtung entgegen, die den Marxismus als eine Art Opium für die westliche Intelligenz betrachtet und daher die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus unter das Vorzeichen von Bedrohungsvorstellungen rückt. Ideologietheoretisch sind hier vor allem die Schriften von Joseph M. Bochenski und Gustav A. Wetter hervorzuheben. Beide Autoren interessieren sich kaum für Marx, den Bochenski praktisch ignoriert, und behandeln die sowjetische Ausprägung der kommunistischen Ideologie und ihre politischen Implikationen. Das Gutachten Joseph M. Bochenskis zum KPD-Verbotsprozess in der Ausgabe der Schriftenreihe der BZH (© BpB) Bochenskis Sichtweise wird zuerst im Februar 1956 unter dem Titel "Die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949" publiziert. Es ist der Wortlaut seines im Auftrag der Bundesregierung verfassten (dem Bundesverfassungsgericht am 3. März 1955 vorgelegten) Gutachtens für den KPD-Verbotsprozess, ohne dass auf diesen Sachverhalt verwiesen würde. Bochenski lässt für seine Analyse nur die sowjetische Marx-Interpretation gelten: "Jeder Versuch, die Ideologie des Kommunismus aus anderen Quellen herzuleiten, muß als unwissenschaftlich abgelehnt werden. Insbesondere ist es ganz verfehlt, das Verständnis dieser Ideologie aus eigener Deutung der Schriften Marx' oder auf Grund einer der zahlreichen nicht-kommunistischen Interpretationen desselben Verfassers gewinnen zu wollen." Wetters Beitrag "Der dialektische Materialismus" bezieht sich im Wesentlichen auf die mentalen und sozialpsychologischen Wirkungen der sowjetkommunistischen Ideologie und die Risiken für die westlichen Gesellschaften: "Es ist nämlich dieser Lehre eigen, daß sie selbst ihre Gegner, selbst gegen ihren Willen und ohne daß sie es merken, bis zu einem gewissen Grade formt. (…) Was aber hier entscheidend ist, ist die Tatsache, daß hinter dieser Lehre ein totalitäres Machtsystem steht, welches seine gesamte politische Tätigkeit sowie das ganze kulturelle Leben des Landes nach dieser Lehre ausrichtet und jeder anderen die Möglichkeit entzieht, sich zu entfalten und auszubreiten." Wetter hebt die Funktion der kommunistischen Ideologie als "Religionsersatz" und als "Pseudoreligion" hervor und macht demgegenüber das Wertefundament des Westens aus Antike und Christentum geltend. Resümiert man die theoretischen Beiträge zum Kommunismus in "APuZ", dann zeigt sich, dass die beiden Grundansätze der geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die auch in den folgenden Jahrzehnten in Erscheinung treten, bereits in den 1950er-Jahren präformiert worden sind: Während die Richtung einer aufgeklärten Marxexegese die Gegensätze zwischen Karl Marx und dem Sowjetkommunismus hervorhebt, vertritt die antikommunistische Fundamentalkritik die These, dass es zwischen Marx, Lenin und Stalin einen inneren Zusammenhang gebe, sodass die Realität der sowjetkommunistischen Diktatur in dieser Perspektive als Konsequenz des Marxschen Denkens gedeutet wird. Auch zum Ost-West-Konflikt erscheinen bereits in den ersten "APuZ"-Jahrgängen zahlreiche Beiträge. Dabei fällt auf, dass deutsche Sichtweisen zunächst fast vollständig fehlen, die meisten Beiträge stammen von renommierten amerikanischen Autoren, darunter auch prominente Politiker; es handelt sich meist um übersetzte Nachdrucke aus renommierten Fachzeitschriften wie "Foreign Affairs". Es finden sich Beiträge von Politikern wie Winston Churchill (B 42/54) und John Foster Dulles (B 42/54 und 51/54), vor allem aber von führenden Kommunismusexperten wie George F. Kennan, Henry A. Kissinger und Richard Löwenthal. In den vier letzten Ausgaben des Jahres 1954 bringt "APuZ" Vorabdrucke aus Kennans weit ausgreifendem Buch "Das Amerikanisch-Russische Verhältnis". Es schließt mit der Erkenntnis: "(…) gerade weil diese Spannung so tief im Werdegang unserer Epoche verwurzelt ist, soll man anerkennen, daß sie nicht auf einmal, nicht mit irgendeinem einzelnen Handgriff und erst recht nicht mit den fatalen Mitteln aggressiver Gewalt zu lösen ist." Ähnlich argumentiert auch Roger Makins, britischer Botschafter in den USA, in seinem Beitrag "Die Welt nach dem Kriege: Die dritte Phase". Gegenüber den beiden bedrohlichen Alternativen, einem totalen thermonuklearen Krieg oder einer Selbstpreisgabe des Westens durch Schwäche, gibt es für Makins in der gegenwärtigen, dritten Nachkriegsphase der Ost-West-Auseinandersetzung nur einen vernünftigen Weg: "Ich kann nicht glauben, daß das sowjetische System so vollkommen der menschlichen Psyche und wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeit entspricht, daß es sich nicht selbst widerlegt oder im Laufe der Zeit verändert, wenn wir nur unsere Stärke und den Glauben an unsere Ideale bewahren. (…) Nach meiner Ansicht müssen wir uns in der dritten Phase in dieser einzig annehmbaren politischen Richtung bewegen. Die (…) äußerste Wachsamkeit fordernde Form der Koexistenz ist keineswegs die Welt, die wir uns erhofften. Doch verfügen wir über genügend Kraft- und Energiequellen und über Schutzmöglichkeiten, um den uns am Herzen liegenden Dingen des Lebens weiter nachgehen zu können. Die beiden übrigen Alternativen sind unerträglich, weil wir die heiligsten Güter des Lebens aufgeben und uns selbst zerstören würden." Ein Vierteljahr später begegnet uns der noch in London lebende Autor Richard Lowenthal (sic!) mit seinem Beitrag "Bedingungen für den Frieden". Löwenthal kommentiert zum Kalten Krieg: "Er wäre durchaus zu beenden und die uns drückende militärische und seelische Last könnte gewiß verringert werden, auch wenn der ideologische Streit fortdauern sollte. Aber zu diesem Ergebnis kann es nur kommen, wenn die wichtigsten Streitfälle auf diplomatischem Wege beigelegt werden." Als "drei wichtige Gruppen ungelöster Fragen" nennt Löwenthal den asiatischen und den europäischen Komplex sowie das Abrüstungsproblem. Schließlich mahnt er, sich durch Bedrohungsvorstellungen nicht in der intellektuellen Freiheit auf der Suche nach Konfliktlösungen einschränken zu lassen: "Totalitäre Staaten unterdrücken nicht nur ihre unmittelbaren Opfer – die von ihnen ausgehende Gefahr wirft ihre beklemmenden Schatten über die Grenzen hinaus und erstickt jede freie Diskussion, die der Atem der Demokratie ist." Wenig später kommt auch Henry A. Kissinger mit seinem Beitrag "Die amerikanische Politik und der Präventivkrieg" in "APuZ" zu Wort. Ein Kernsatz lautet: "Die Forderung eines Präventivkrieges ist also von einer Aura der Irrealität umgeben." Der frühe Erfinder der "Eindämmungspolitik", George F. Kennan, perzipiert die Sowjetunion Mitte der 1950er-Jahre unter dem Vorzeichen ihrer Machtpolitik und sieht die ideologische Anziehungskraft des Kommunismus weltpolitisch als gering an: "In Wirklichkeit hat die ideologische Anziehungskraft des Kommunismus seit der Mitte der dreißiger Jahre allgemein nachgelassen. Seine Theorien sind in zunehmendem Maße als die Dogmen einer außergewöhnlich primitiven und starren Scheinwissenschaft erkannt und verurteilt worden, die sich heute in ihren meisten Hypothesen als falsch herausgestellt hat und deren Prophezeiungen in vielen Fällen von den tatsächlichen Ereignissen Lügen gestraft worden sind. Das Prestige der Sowjetunion fußt heute in zunehmendem Maße auf ihrer Fähigkeit zu rücksichtsloser Organisation, ihrer strengen Disziplin und der furchterregenden militärischen Stärke, was nichts mit geistigen Qualitäten zu tun hat." Die Politik der "Eindämmung" erfordert in dieser Sichtweise, "zu verhindern, daß infolge einer verhängnisvollen Naivität in bestimmten Ländern politische Elemente an die Macht kommen, die unmittelbar von Moskau kontrolliert werden." Der nüchtern-abwägende Realismus, der in solchen Analysen zur Geltung kommt, konnte auf die öffentliche Urteilsbildung durchaus als Korrektiv gegenüber Bedrohungsvorstellungen wirken, die seinerzeit vor allem auf die Atomwaffen fokussiert waren. Paul A. Hoffman konstatierte im Herbst 1955 in "APuZ": "Eine Meinungsbefragung ergab kürzlich, daß 73% aller Amerikaner einen Krieg für unvermeidlich halten. Ich fand dies bestürzend und deprimierend: denn gäbe es Krieg, so würde vermutlich die ganze Welt zerstört werden." Dass die weltpolitische Bedrohung durch die Sowjetunion ein wichtiges Argument für den europäischen Integrationsprozess darstellt, verdeutlicht der Beitrag des russischen Exil-Schriftstellers Michael Prawdin "Rußland, Sowjetrußland oder Europa?" exemplarisch und mit dramatischem Unterton. Prawdin konstatiert, "daß die russische Gefahr in der Form der Sowjetgefahr Europa gerettet hat, indem sie die europäischen Länder im 20. Jahrhundert zwang, ihre kleinlichen, widerstreitenden Interessen endlich zu vergessen und mit ihrer tausendjährigen Selbstzerfleischung aufzuhören, um sich zu einer kulturellen und administrativen Einheit zusammenzuschließen." Hier wird ein Motiv erkennbar, das in der frühen Bundesrepublik große Bedeutung hatte: Der Antikommunismus war ein wichtiger Integrationsfaktor für eine demokratische Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Werte erst noch vergewissern musste. Als scharfer Kritiker der von Nikita S. Chruschtschow seit 1955 propagierten Politik der "friedlichen Koexistenz" erweist sich der demokratische amerikanische Präsidentschaftskandidat Averell Harriman 1956, der nachdrücklich und im alarmistischen Tonfall davor warnt, gegenüber der Sowjetunion in Illusionen zu verfallen: "Ihr Ziel ist die Zerstörung alles dessen, woran wir glauben, und die eventuelle Weltherrschaft des sowjetischen Kommunismus. (…) Die Männer des Kreml haben deutlich zu verstehen gegeben, daß es ihr Ziel ist, Feindschaft und Hader und selbst Krieg unter den anderen Nationen aufzurühren, den Nordatlantikpakt aufzubrechen und mittels wirtschaftlicher und politischer Manöver, Propaganda und vorsätzlicher Unruhestiftung die kommunistische Herrschaft über die ganze Welt auszudehnen." Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in der Mitte der 1950er-Jahre in den Veröffentlichungen zum Ost-West-Konflikt wissenschaftlich fundierte Beiträge einer realistischen Schule, die auch heute noch durch ihre analytische Nüchternheit bestechen, im Vordergrund gegenüber propagandistisch aufgeladener Polemik stehen. Diese gewinnt jedoch nach dem Realitätsschock der sowjetischen Intervention gegen die ungarische Revolution und der von Chruschtschow seit Ende 1958 initiierten Berlin-Krise, die mit dem Mauerbau im August 1961 ihren desillusionierenden Abschluss findet, an Bedeutung. Der Beitrag von Herman(n) F. Achminow über "Die Oberschicht in der Sowjetunion" kann als exemplarisch für die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Problemen der Sowjetunion in "APuZ" gelten. Diese Ausgabe war - trotz der irritierenden Zählung (47/1953), die jener der Wochenzeitung "Das Parlament" folgte, als deren Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" bis heute erscheint - das erste "APuZ"-Heft überhaupt. (© BpB) Probleme der innenpolitischen Entwicklung in der Sowjetunion werden umfangreich bereits seit der ersten regulären Ausgabe von "APuZ" behandelt. Bis Anfang der 1960er-Jahre sind dazu etwa 80 Beiträge publiziert worden. Dabei spielen die Zäsur des XX. Parteitages der KPdSU 1956, Ausmaß und Folgen der "Entstalinisierung", Wandlungen der Sowjetgesellschaft, Ansätze von Wirtschaftsreformen neben den Repressionsmechanismen des Überwachungssystems eine besondere Rolle. In diesem Zusammenhang sind auch verschiedene Erlebnisberichte über die sowjetischen Straflager hervorzuheben, die eine erfahrungsgeschichtliche Dimension, eingangs als empirischer Antikommunismus charakterisiert, einbringen. Neben Beiträgen von Wolfgang Leonhard, Joseph Scholmer, Besonders bemerkenswert war die Publikation des Erfahrungsberichtes der ehemaligen Kommunistin Margarete Buber-Neumann in "APuZ", 22/1958. (© BpB) Margarete Buber-Neumann und Albertine Hönig soll hier vor allem auf einen Text von Aurel von Jüchen verwiesen werden, dessen schonungslose Nüchternheit in der retrospektiven Lektüre besonders eindrucksvoll wirkt. "Der Gefangene erfuhr in der tödlichen Abgeschiedenheit eines Lagers im Ural oder am Nördlichen Eismeer hinter hohen Palisaden und Stacheldrahtzonen viel, viel mehr von der Wirklichkeit der Sowjetunion als die Abgeordneten, die auf dem Wege des parlamentarischen Austauschs in die Sowjetunion fahren, oder als die Schriftsteller, die sich zu einem Treffen von Schriftstellern dorthin begeben." Der evangelische Pfarrer, wegen kirchlicher Jugendarbeit aus der SED ausgeschlossen, 1950 verhaftet und zu 15 Jahren Zwangsarbeit in Workuta verurteilt, hat nach seiner Entlassung 1955 nicht verlernt, differenziert zu denken, indem er das Sowjetsystem als fundamentalen Abfall von den Ideen Marx' wahrnimmt und die Koexistenz als alternativlos betrachtet. Die Situation in den anderen kommunistisch regierten Ländern in Europa, den als "Satellitenstaaten" charakterisierten Regimes, und im kommunistischen China findet dagegen erst nach 1956 Aufmerksamkeit. Dafür liefern die Entwicklungen in Polen und Ungarn wichtige Anstöße. Der Jahrgang 1957 wird durch den Beitrag von Joseph Scholmer über "Die Revolution in Ungarn" eröffnet. Ihm steht als Motto ein Marx-Zitat ("New York Times", 12.4.1853) voran: "Rußland hat nur einen Gegner: die explosive Macht der demokratischen Ideen und den der Menschheit angeborenen Freiheitsdrang." Scholmers Resümee: "Die Bilanz der Sowjets in Ungarn zeigt einen militärischen Sieg und eine politische Niederlage. Moskau hat sich gegenüber den kommunistischen Parteien der freien Welt, den Satelliten und den farbigen Völkern als eine reaktionäre und imperialistische Macht demaskiert. Die vom Kreml propagierte Koexistenz ist unglaubwürdig geworden." Drei Jahre später wird Henry Kissinger, damals Direktor des Internationalen Seminars der Harvard-Universität, offen formulieren, welche Schlussfolgerungen der Westen aus diesem schockierenden und desillusionierenden Vorgang ziehen muss: "Das Beispiel Ungarn hat schlüssig bewiesen, daß der Westen nicht bereit ist, Aufstände in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang mit eigenen Machtmitteln zu unterstützen." Ein Sonderfall in der Publikationspraxis von "APuZ" ist mit dem von Joseph M. Bochenski und Gerhart Niemeyer herausgegebenen "Handbuch des Weltkommunismus" (1958) verbunden: Der Titel des Werkes ist irreführend, handelt es sich doch um eine Darstellung, die fast ausnahmslos auf die Sowjetunion fokussiert ist. Das Buch, dessen Textteil 640 Druckseiten umfasst, wird in insgesamt zehn Ausgaben von "APuZ" mit geringfügigen Kürzungen nahezu vollständig vorabgedruckt. Die Zielsetzung dieser Publikation wird von den Herausgebern in ihrem Vorwort umrissen: "Bisher fehlte ein relativ kurzes, allen Gebildeten verständliches Werk, das eine zuverlässige Darstellung der wichtigsten Aspekte des Kommunismus mit Belegen aus den Quellen und aus erstklassiger Literatur enthält." Rückblickend wirkt dieses Handbuch mit seiner starken Akzentuierung auf die ideologische Programmatik reichlich abstrakt, weil darin die Analyse konkreter, mit empirischen Daten gestützter Entwicklungsprozesse weitgehend ausgeblendet bleibt. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen System der Volksrepublik China war der Beitrag von Karl F. Wittfogel in "ApuZ", 19/1958. (© BpB) Das kommunistisch regierte China wird 1957 noch als "Juniorpartner Moskaus" wahrgenommen. In Beiträgen, die nach dem August 1958 erscheinen, als Mao Tse Tung mit der Propagierung der "Volkskommunen" eine beschleunigte Entwicklung zum Kommunismus (den "Großen Sprung nach vorn") und damit mittelbar einen Vorrang gegenüber der Sowjetunion postuliert hatte, rückt der ideologische Gegensatz zur Sowjetunion zunehmend in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang ist ein erstaunlicher Vorgang zu registrieren: Erst- und einmalig druckt "APuZ" einen Artikel aus der sowjetischen Parteizeitung "Prawda" vom 12. Juni 1960 nach, der mit den chinesischen Ideologen indirekt, aber unmissverständlich abrechnet. Dass es Ende der 1950er-Jahre vor allem wegen Chruschtschows Koexistenzpolitik auch weltpolitisch erhebliche Differenzen zwischen den beiden kommunistischen Vormächten gab, macht ein Beitrag von Georg Paloczi-Horvath deutlich: "Die Ereignisse des Jahres 1959, die tibetische Revolte, die chinesische Reaktion auf Chruschtschows Amerikareise und seine Friedenspolitik, Chruschtschows Weigerung, sich im chinesisch-indischen Grenzkonflikt eindeutig auf die chinesische Seite zu stellen: all dies sind Symptome für Meinungsverschiedenheiten." Auffällig ist, dass "APuZ" die SBZ/DDR in den ersten beiden Jahren ausblendet. Dies fiel in den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen (BMG), das diesbezüglich mit Nachdruck eigene Zuständigkeit reklamierte und mit dem "SBZ-Archiv" ein themenspezifisches Periodikum etabliert hatte. Seit Mitte 1955 wird allerdings argumentiert, dass DDR-Themen von der BZH dann aufgegriffen werden könnten, wenn sie den Themenbereich der Ost-West-Auseinandersetzung einbeziehen würden. Der erste Beitrag hierzu, "Ursachen und Motive der Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands", ist die Kurzfassung einer "Ausarbeitung" von Johannes Kurt Klein für das BMG, eine faktenreiche Analyse der Entwicklung, offenbar durch das Ministerium angeregt, zeitlich in unmittelbarer Nähe zum zweiten Jahrestag des 17. Juni 1953 platziert. Auch wenn in der Folgezeit die Entwicklung in der DDR eher sporadisch in das Programm von "APuZ" aufgenommen wird, behält sich das BMG das prioritäre Informationsrecht für diesen Bereich, realisiert mit einer "zweigeteilten Publikationspraxis", mit eigenen Veröffentlichungen ebenso wie durch gezielte Förderung von antikommunistischen Verlagsprojekten, weitgehend selbst vor. Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 29. August 1956 zum Ausgang des KPD-Verbotsprozesses (© Das Parlament) Nach dem KPD-Verbot durch das Bundesverfassungsgericht vom 17. August 1956, das vom "Parlament" in einer Themenausgabe (35/1956) dokumentiert wird, rückt die Abwehr von kommunistischer Infiltration, Bedrohung und Propaganda kurzzeitig in den Fokus von "APuZ", durch offensichtlich vom BMI veranlasste anonyme Beiträge. Nur zwölf Tage nach dem KPD-Verbot erscheint ein Text, der die staatlich erwünschte Nutzanwendung akzentuiert. Ausgehend von Bedrohungsvorstellungen werden Gegenstrategien gefordert, die den Eindruck vermeiden sollen, für bloße antikommunistische Propaganda zu plädieren: "Der Bürger der Bundesrepublik muß sich von der Vorstellung befreien, Kommunisten seien von außen zu erkennen, ihre Methoden seien primitiv. Er muß sich daran gewöhnen, daß die Kommunisten heute hinter jeder Maske auftreten und sich aller Erscheinungsformen des öffentlichen Lebens, aller gesellschaftlichen Schichten und Personen bedienen. (…) Es gilt (…), durch wissenschaftliche Tätigkeit und breite Information das deutsche Volk gegen die kommunistische Ideologie zu immunisieren, die Interessen der Arbeiterschaft stärker zu berücksichtigen, von der oberflächlichen Einschätzung und billigen Schwarz-Weiß-Agitation abzukommen und eine gründlich differenzierte Erziehungsarbeit, vor allem bei der Jugend, zu leisten. Es wird viel davon abhängen, durch Presse, Funk und Fernsehen wirkliche Sachkenntnis über die Politik der KPdSU und ihr System zu verbreiten und mehr als bisher die positiven Seiten der westlichen Demokratie ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen." "Informationen zur politischen Bildung" Die "Informationen zur politischen Bildung" wurden bereits im Startmonat der Bundeszentrale für Heimatdienst (November 1952) noch unter fremder Regie verlegt. Vom Staatsbürgerlichen Aufklärungsdienst Wiesbaden herausgegeben, wurden die ersten beiden Folgen als bloße Übernahmen deklariert. Ab Folge 3 ("Europa, was es ist und werden kann", Januar 1953) erschienen die zunächst nur jeweils vier Seiten umfassenden Informationsblätter, die für Schulen und Betriebe bestimmt waren, "im Einvernehmen mit der Bundeszentrale", ab Folge 12 (September/Oktober 1953) zeichnete die BZH selbst als Herausgeberin verantwortlich, ab Folge 20 wurde der Umfang sukzessive erweitert. In der Folge 4 wurde zum ersten Mal der Titel "Informationen zur politischen Bildung" verwendet. Im Folgenden wird ein Überblick über Themen und Darstellungsweise der "Informationen" gegeben, die sich in den 1950er-Jahren im weiteren Sinn mit dem Kommunismus auseinandergesetzt haben. Auflagenhöhe und Adressatengruppen lassen es reizvoll erscheinen, einen Vergleich mit dem Programm von "APuZ" zu ziehen. Summarisch betrachtet wirken die Texte der "Informationen" eher Im Februar 1962 publizierte "APuZ" ein Rundtischgespräch des NRD "mit einem kommunistischen Journalisten". (© BpB) volkspädagogisch, zeichnen sich jedoch ganz überwiegend durch sachliche Informationsvermittlung aus, auch wenn sie qualitativ nicht mit dem anspruchsvollen Angebot von "APuZ" konkurrieren können. Die "Informationen" haben bis 1963 zwei separate Adressatengruppen. In textgleichen Ausgaben sind die "Informationen zur politischen Bildung" (zunächst vorrangig für die "Hand des Lehrers" als Vermittlungsangebot gedacht) für die Schulen bestimmt, während sich die "Staatsbürgerlichen Informationen" in erster Linie an Betriebe (über Redakteure von Werkzeitungen etc.) richten. Anregungen zu einer politischen Elementarbildung sollen die Arbeiterschaft als Zielgruppe erreichen. Bis Dezember 1962 wurden insgesamt 100 Ausgaben publiziert. Seit Ende 1963 erscheinen die "Informationen zur politischen Bildung" nur noch unter diesem Titel, sie werden zwar überwiegend in Schulen genutzt, stehen aber auch anderen Bestellern kostenlos zur Verfügung. Bereits 1964 nähert sich die Gesamtauflage pro Heft der Millionengrenze, das entspricht zum gleichen Zeitpunkt dem Zehnfachen der Auflage, die "APuZ" als wissenschaftlich fundiertes Informationsmedium aufweist. Auch wenn für die "Informationen", von denen seit Anfang der 1960er-Jahre etwa vier neue Ausgaben pro Jahr erscheinen, ein deutlicher Anstieg des Anspruchsniveaus, eine erhebliche Ausweitung der Umfänge und die Einbeziehung oft umfangreichen kartographischen Materials registriert werden können, steht die Verständlichkeit der Texte für breite Nutzergruppen bis heute im Vordergrund. Das erste Heft der "Informationen zur politischen Bildung", das sich der deutschen Teilung widmet, wird im Mai 1953 (Folge 7) zum Thema "Berlin – Vorposten der Freiheit" publiziert. Knapp werden die Geschichte der politischen Spaltung Berlins wie auch die Berlin-Blockade referiert, ebenso der Rechtsstatus "Westberlins", bevor dieses als "Leuchtturm der Freiheit" und als "Sammelpunkt des Flüchtlingsstroms aus der Sowjetzone" mit statistischen Angaben für das Jahr 1952 gewürdigt wird, in dem Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED den "Aufbau des Sozialismus" in der DDR angekündigt hatte, "d. h. die völlige Angleichung an die Verhältnisse in der Sowjet-Union". Seitdem flüchteten "mehr und mehr Menschen, denen es unerträglich geworden ist, sich weiterhin dem bis in die letzte private Sphäre hineinreichenden Terror zu beugen: Es sind (…) all jene, die sich bedroht fühlen, weil sie aus politischen oder religiösen Gründen nicht mitmachen können und wollen." (4) Deutschlandkarte der Bundeszentrale für Heimatdienst aus den 1950er-Jahren (© BArch, Plak 005-048-011 ) Es fällt auf, dass die "Informationen" frühzeitig einen Themenschwerpunkt setzen, der in "APuZ" bis 1958 ausgeblendet bleibt. Im September 1953 erscheint eine Ausgabe über "Die Gebiete jenseits der Oder und Neisse" (Folge 11), die nach einem kurzen historischen Überblick über die Geschichte des deutschen Ostens auf die Vertreibungen eingeht: "Der Versuch einer totalen Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa, der sich im Schicksalsjahr 1945 abgespielt hat, ist nächst dem Dreißigjährigen Krieg vielleicht das tragischste Ereignis der deutschen Volksgeschichte." (2) Ausführungen über das kommunistische Regime in Polen werden nicht gemacht, vielmehr wird der Verlust der Oder-Neiße-Gebiete aus den territorialen Ansprüchen Stalins in Ostpolen erklärt. Die Lösung des Problems sei eine "Frage der Weltpolitik geworden, die nach menschlichem Ermessen durch internationale Regelungen entschieden werden wird". Hervorgehoben durch Sperrdruck ist der Satz: "Die Entfesselung eines dritten Weltkrieges zur Wiedergewinnung des deutschen Ostens wird vom deutschen Volk eindeutig abgelehnt." (6) Um diese Haltung zu unterstreichen, wird ausdrücklich auf die Charta der Heimatvertriebenen vom 5. Augst 1950 verwiesen, die "einer Politik der Rache und Vergeltung in feierlicher Form entsagt" (6). Mitte 1956 erscheinen zwei weitere Ausgaben über "Die deutschen Ostgebiete" (Folgen 42/43 und 44/45), die im ersten Teil "Geschichte und kulturelle Leistung", im zweiten Teil "Die wirtschaftliche Bedeutung" behandeln. Bezeichnend ist, dass ganz überwiegend auf die lange Historie eingegangen wird, während jeweils nur ein kurzer Schlussabschnitt die Zeit nach 1945 thematisiert. Die Resümees lauten: "Kein Deutscher wird einen Verzicht auf diesen Ostraum, die Heimat vieler Millionen Vertriebener, aussprechen. Nur eine aus freien Wahlen hervorgegangene gesamtdeutsche Regierung wird – entsprechend dem Völkerrecht – in einem kommenden Friedensvertrage zu bindenden Abmachungen über die Ostgebiete kommen können." (I, 8) Im Sinne der europapolitischen Orientierung der Bundesrepublik wird eine gemeinsame Interessenlage und Verantwortung auch im Hinblick auf den Verlust der deutschen Ostgebiete betont: "Durch die Sowjetisierung des ostdeutschen Wirtschaftsgebiets ist ein seit achthundert Jahren deutscher Kultur- und Wirtschaftsraum nicht nur dem deutschen Volke, sondern auch den Völkern Westeuropas entzogen worden. Vor der Tatsache, daß in die ostdeutschen Gebiete ein Wirtschaftssystem eingedrungen ist, das das Leben der freien Völker bedroht, darf die Welt die Augen nicht verschließen." (Folge II, 8) Im Herbst 1958 schließt sich eine weitere Ausgabe unter dem völkerrechtlich akzentuierten Titel "Die Ostgebiete des Deutschen Reiches unter fremder Verwaltung seit 1945" (Folge 70/71) an, die sich kritisch mit den Verhältnissen im kommunistischen Polen beschäftigt und unter Beifügung entsprechender Karten deutsche Ansprüche auf diese Gebiete unterstreicht, wobei der Friedensvertragsvorbehalt "für die territorialen und politischen Fragen der Oder-Neisse-Gebiete" im gleichen Sinne wie 1956 wiederholt wird. Informationen für politische Bildung, Folge 19 zum 1. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR (© BpB) Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 16. Juni 1954 zum 1. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR (© Das Parlament) Eine Ausgabe zum "Volksaufstand des 17. Juni 1953" (Folge 19) erscheint im Mai/Juni 1954. Dem von einem knappen Vorwort eingeleiteten Text, der den Zwangscharakter des SED-Regimes hervorhebt und den Aufstand als Ausdruck des Freiheitswillens der Bevölkerung deutet, folgt eine Schilderung des konkreten Verlaufs der Aufstandsbewegung, die auch in den Zusammenhang der Gesamtentwicklung in Osteuropa gestellt wird: "(…) seit dem Tode Stalins, im März des Jahres 1953, ging ein unterirdisches Grollen und Beben durch den gesamten Herrschaftsbereich des Bolschewismus (…) Aber niemand dachte daran, daß es gerade Deutschland sein würde, wo der Funke überspringen, die seelische Erregung entzünden und zum Ausbruch bringen würde." (2) Im Herbst 1954 erscheint eine 20 Seiten umfassende Doppelausgabe (Folge 22/23) über "Die Ost-West-Spannung in der Weltpolitik". Ausgehend von einer Darstellung der weltpolitischen Situation am Ende des Zweiten Weltkrieges wird die "Bolschewisierung Osteuropas" und die "Bildung des Ostblocks" unter sowjetischer Vorherrschaft thematisiert, die zentralen Ost-West-Konflikte, fokussiert um die Berlin-Blockade und den Korea-Krieg, werden dargestellt, schließlich wird die Gründung und Entwicklung der NATO behandelt und ein Überblick über gescheiterte Bemühungen um eine Konfliktbeilegung auf den Außenministerkonferenzen 1954 gegeben. Im März 1956 beschäftigt sich – der vorherrschenden kultur- und wirtschaftshistorischen Ausrichtung folgend – eine Ausgabe der "Informationen" mit "Mitteldeutschland" (Folge 40/41), welche bezeichnenderweise die beiden Stifterfiguren des Naumburger Domes, Ekkehard und Uta, auf der Titelseite zeigt. Im Vorwort heißt es denn auch: "DEUTSCHLAND als Lebensraum unseres Volkes und seiner Kultur ist jedoch mehr als ein gegenwärtiger politischer oder wirtschaftlicher Zustand." Es gelte sich bewusst zu machen, dass ein Gesamtdeutschland, das durch die "politischen Hilfsbegriffe West-, Mittel- und Ostdeutschland" bestimmt werde, "nicht nur um uns, sondern auch in uns lebt und damit weitgehend unabhängig von zeitbedingten Territorialregelungen ist." Immerhin legt der Text das Schwergewicht auf die "Entwicklung Mitteldeutschlands nach 1945". Seit Ende 1956 erscheinen bis 1961 insgesamt zehn Ausgaben, die sich mit Entwicklungen in verschiedenen osteuropäischen Ländern beschäftigen. Am Beginn stehen zwei Doppelhefte über die russische Revolution von 1917. Ihr Autor ist Hans Koch, Direktor des Osteuropa-Instituts München, der auch in die frühe Gründungsgeschichte des Ostkollegs seinerzeit prominent involviert war. Die beiden Folgen (48/49 und 50/51) sind faktenreich, ohne polemische Akzente in den Vordergrund zu rücken. Sie werden durchaus dem Anspruch substanzieller Information gerecht, der seit Mitte der 1950er-Jahre generell die Darstellung der "Informationen zur politischen Bildung" bestimmt. Folge 54/55 der "Staatsbürgerlichen Informationen" über die Sowjetunion (© BpB) Noch deutlicher tritt diese Akzentsetzung in zwei Ausgaben hervor, die jeweils "12 Karten mit Erläuterungen zur Geschichte Rußlands und der Sowjetunion" (Folge 54/55 Mai/Juni 1957) und genau zwei Jahre später "12 Karten und Textbeiträge zur Landes- und Wirtschaftskunde der Sowjetunion" (Folge 78/79) zum Inhalt haben. Es sind dies die ersten Ausgaben der "Informationen zur politischen Bildung" mit einem umfangreichen Kartenteil, später ein Markenzeichen von besonderem Gewicht in dieser Publikationsreihe. Anfang 1961 erscheint eine Ausgabe "Das Herrschaftssystem der Sowjetunion" (Folge 91). Sachlichkeit zeichnet das Anfang 1960 publizierte Heft aus, das "Die Entwicklung in Polen seit 1945" zum Thema hat. Weniger umfangreich fällt im Herbst desselben Jahres eine Ausgabe über die Entwicklung in der Tschechoslowakei seit 1945 aus (Folge 89), die entschiedener politische Kritik äußert als das vorausgegangene Polen-Heft: "Die Entwicklung in der Tschechoslowakei ist seit dem Umsturz von 1948 durch eine weitgehende Kontinuität gekennzeichnet, ihre Phasen werden überwiegend von den Ereignissen in der Sowjetunion und denen der Weltpolitik bestimmt. (…) Es wäre aber eine Täuschung, wollte man glauben, daß die Bevölkerung in 'Moskaus treuestem Satellitenland' sich in großem Umfang zum Kommunismus bekennt." (20) Über ein Jahr verteilt, sind drei Ausgaben seit März 1960 Südosteuropa gewidmet. Mit historischer Fundierung wird die Entwicklung im jugoslawischen Vielvölkerstaat unter Marschall Tito mit seinem eigenen "jugoslawischen Weg" dargestellt (Folge 86), ein weiteres Heft informiert über Rumänien, Bulgarien und Albanien (88), die dritte Folge betrifft Ungarn (Folge 92). Hier ist unter dem Eindruck der Niederschlagung der Revolution vom Oktober 1956 am bilanzierenden Schluss ein pessimistischer Grundton zu vernehmen: "Das madjarische Volk erträgt die nach dem Scheitern seines Freiheitskampfes wieder errichtete kommunistische Diktatur in stummer Ergebenheit. Vom Westen enttäuscht, der es nach seiner Meinung im Stich ließ, von seinem Schicksal erbittert, versucht es sein Dasein nach den gegebenen, unabänderlichen Umständen einzurichten. Aber es hat innerlich auf die Freiheit trotzdem nicht verzichtet, und es wird darauf auch nie verzichten!" (16) Etwa ein Drittel der "Informationen", die im ersten Jahrzehnt (bis Ende 1962) erscheinen, sind Themen gewidmet, die sich mit dem Kommunismus beschäftigen. Auffällig ist dabei der Vorrang länderkundlicher Darstellungen und das erhebliche Gewicht, das im Gegensatz zu "APuZ" den "deutschen Ostgebieten" zukommt. Nur eine Ausgabe widmet sich demgegenüber explizit dem Ost-West-Konflikt, und das für "APuZ" wesentliche Thema der kommunistischen Ideologie wird erstmals 1964 in zwei Ausgaben (Manuskript: Joseph M. Bochenski) aufgegriffen. Diese markante Differenz in den Publikationsprogrammen der beiden BZH-Leitmedien lässt sich einerseits durch die unterschiedlichen Adressatengruppen, andererseits durch die Bezugnahme der "Informationen" auf die Lehrpläne der Schulen erklären, doch sollte dabei auch der Einfluss der jeweiligen Fachreferatsleiter in der BZH nicht völlig außer Betracht bleiben. Vorgeschichte einer Neugründung: Die Entstehung des Ostkollegs Seit Oktober 1955 wird im Bundesinnenministerium verstärkt über die Einbeziehung der Bundeszentrale für Heimatdienst in die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus nachgedacht. Am 20. Oktober findet eine "Besprechung zur Frage der Intensivierung des geistigen Impulses gegen den Kommunismus" statt, an der Vertreter des BMI, des BMG und BZH-Direktor Paul Franken teilnehmen. Staatssekretär Hans Ritter von Lex verweist dabei ausdrücklich auf die psychologischen Folgen des Moskau-Besuchs Konrad Adenauers: "Der Glaube an eine friedliche Koexistenz sei im Vordringen." Ein Unterabteilungsleiter des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen mahnt an, "dass durch die Auswahl zuverlässiger Mitarbeiter und entsprechender Kontrolle der Arbeit nicht etwa einzelne Ergebnisse der Forschung in falsch verstandener Objektivität kommunistischen Thesen entsprächen". Während das BMG den Gesichtspunkt der antikommunistischen Schulung und Propaganda im Vordergrund sieht, vertritt das BMI das Konzept einer wissenschaftlich fundierten pluralistischen Auseinandersetzung, wie es der Aufsichtsreferent für die BZH, Carl H. Lüders, unterstreicht. Er erklärt kurze Zeit später (in einer Besprechung am 21. November 1955), die Demokratie dürfe "nicht bei der Abwehr des Kommunismus in Methoden verfallen, die in ihrer geistigen Uniformität der Kampfart der totalitären kommunistischen Weltanschauung entsprächen. Es sei zu begrüßen, dass die verschiedenen Weltanschauungsgruppen, die in der westlichen Demokratie friedlich unter einem gemeinsamen Dach lebten, in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Lehre ganz verschiedene Standorte bezögen." Damit stützt das Haus die Äußerung Frankens aus der interministeriellen Besprechung vom 20. Oktober, wonach die Ergebnisse der Auseinandersetzung subjektiv verschieden ausfallen würden, "je nachdem, in welchem weltanschaulichen Lager der einzelne Wissenschaftler stehe. Die christliche Scholastik, der liberale Humanismus oder der sozialdemokratische Marxismus träten der kommunistischen Lehre von ganz verschiedenen Standorten entgegen." In einer Kuratoriumssitzung hatte Lüders am 12. März 1956 eine Ergänzung des Auftrags der BZH vorgeschlagen, "hierzu gehört die Verbreitung der Kenntnis des wahren Wesens aller totalitären Ordnungen und Anschauungen". Doch unterbleibt eine in diese Richtung zielende Erlassergänzung, nicht zuletzt, weil man dagegen Einwände der SPD-Mitglieder im Kuratorium der BZH fürchtete. 1956 scheint es, dass sich die ideologietheoretische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus im widerspruchsvollen politischen Kontext des im August (fast fünf Jahre nach der Antragstellung durch die Bundesregierung im November 1951) vom Bundesverfassungsgericht verfügten KPD-Verbots und unter dem Eindruck der sowjetischen Koexistenz-Propaganda, die auch in der Bundesrepublik nach Adenauers Moskau-Reise im Vorjahr und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion ihre Wirkung in wichtigen Bereichen der bundesdeutschen Publizistik nicht verfehlt hat, neu akzentuiert. Das Cover von Werner Maibaums Studie über das Ostkolleg zeigt dessen Gebäude am Kölner Stadtwaldgürtel. (© BpB) Die Gründungsgeschichte des Ostkollegs (OK) ist – soweit es die Aktenlage noch ermöglicht – von Werner Maibaum rekonstruiert worden. Nicht hinreichend deutlich wird aus den Akten, die Maibaum im Bundesarchiv gesichtet hat, der konkrete Einfluss Joseph M. Bochenskis auf die OK-Gründung. Dass sein Impuls erheblich war, erklärt sich aus dem Umstand, dass Bochenskis Gutachten im KPD-Prozess eine wichtige, für die Begründung des Verbotsurteils maßgebliche Bedeutung haben sollte, wie ein detaillierter Vergleich zwischen seinem vom BMI dem Gericht vorgelegten Gutachten und der Urteilsbegründung zeigen würde. Nur zwei Monate nach Vorlage des Gutachtens beim BVerfG schreibt Bochenski (am 11. Mai 1955) an Ritter von Lex einen ausführlichen Brief, in dem er erklärt, dass er "über die allgemeine Lage auf der Front des geistigen Kampfes sehr ernst besorgt" sei, und folgert: "Es besteht also meines Erachtens die dringliche Notwendigkeit, einerseits die Abwehr – und möglicherweise sogar den Angriff – auf geistiger Ebene bedeutend zu intensivieren." Dieses Schreiben hat Lex (am 10. Oktober 1955) mehreren Abteilungen im BMI zugeleitet und geäußert, man könne "an eine vom Bund zu errichtende Akademie denken, als deren Leiter sich kaum eine bessere Kraft finden ließe, als Professor Bochenski". Während Maibaum Bochenskis zentrale Bedeutung für die "Etablierung des Ostkollegs" hervorhebt, zeigt eine eingehendere Betrachtung der Vorgeschichte, dass sich Bochenskis nachdrücklicher Impuls mit verschiedenen Aktivitäten einflussreicher antikommunistischer Intellektueller (die sich im "Witsch-Kreis" des Kölner Verlegers Joseph Caspar Witsch zusammengefunden hatten) überschnitt, die unter Initiative des BMI und mit engagierter Beteiligung des Der Oberregierungsrat im Bundesamt für Verfassungsschutz Günther Nollau publizierte auch in "APuZ", u.a. über den "Internationale(n) Kommunismus – heute", 13/1961. (© BpB) Oberregierungsrats im Bundesamt für Verfassungsschutz, Günther Nollau, die BZH als Finanzier und Organisator für verschiedene Versuchstagungen in Anspruch nahmen. Dabei ließ sich anfangs nicht klar erkennen, wie das Verhältnis zwischen einer zentralisierten Kommunismusforschung und einer – wie es hieß – "Elitebildung" zur Immunisierung gegen kommunistische Propaganda aussehen sollte. Eine Initiative des Direktors des Münchner Osteuropa-Instituts Hans Koch (der Adenauer 1955 als Experte nach Moskau begleitet hatte) versandete schließlich ebenso wie der Versuch, eine Einrichtung zur Elitebildung mit einem (aus der NS-Zeit erheblich vorbelasteten) Leiter/Geschäftsführer Gerhard von Mende zu installieren (wobei der Umstand eines Herzinfarkts von Mendes diesen Plan und seine Einflussmöglichkeit auf die folgende Entwicklung seit Herbst 1956 faktisch außer Kraft setzten). Man kann es in diesem experimentellen Wirrwarr einen glücklichen Zufall nennen, dass Hans-Joachim Lieber, bei Eduard Spranger an der Freien Universität Berlin habilitierter Professor für Philosophie und Soziologie, im Mai 1956 in die Sondierungsphase als Referent einer der Versuchstagungen in Niederbreisig – nun schon unter der Tagungsregie der BZH – involviert wird, dort großen Eindruck hinterlässt und sich animiert fühlt, im Sommer 1957 in den Explorationsprozess mit einem "Memorandum über den Aufbau des Instituts für ostpolitische Studien in Köln" substanziell einzugreifen. Am 13. September 1957 fixiert das BMI die Gründungsschritte der Einrichtung, für die kurz zuvor das Kölner Haus am Stadtwaldgürtel angeboten wurde, weitestgehend auf der Basis von Liebers Organisationskonzept: Einrichtung eines wissenschaftlichen Direktoriums mit Programmhoheit. Die frühe Arbeitsphase des Ostkollegs Eröffnung des Ostkollegs: Bundesinnenminister Gerhard Schröder im Gespräch mit seinem Staatssekretär Georg Anders und dem BZH-Direktor Paul Franken (v.l.), Foto aus "Das Parlament", 47/1957. (© Das Parlament) Referenten des Ostkollegs bei dessen Eröffnung: Joseph M. Bochenski, Werner Philipp und Hans Raupach (v.l.); mit dem Rücken zum Fotografen: Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer. Foto aus "Das Parlament", 47/1957. (© Das Parlament) Das "Ostkolleg der Bundeszentrale für Heimatdienst" wird am 22. November 1957 durch Innenminister Gerhard Schröder (CDU) eröffnet. Der Organisationserlass, ebenso wie die Geschäftsordnung des Direktoriums, in Anwesenheit des Ministers mit den Direktoriumsmitgliedern beraten, wird am 28. November verfügt. Der Erlass überträgt "die wissenschaftliche Verantwortung für die Arbeitsplanung des Ostkollegs bis auf weiteres einem Direktorium", das sich seine Geschäftsordnung selbst gibt. In beiden Texten wird nichts über die Konzeption des OK ausgeführt, stattdessen wird die wissenschaftliche Eigenverantwortung des Direktoriums, das zunächst aus zehn Mitgliedern besteht, und somit seine weitgehende Autonomie für die Programmplanung hervorgehoben. Die Programme der Studientagungen zeigen bereits in den Anfangsjahren, dass der Anspruch, eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Kommunismus zu betreiben, in einer bemerkenswerten Weise eingelöst werden konnte. Das Spektrum war so pluralistisch, wie es die beiden Protagonisten Bochenski und Lieber signalisieren: der eine als Ratgeber der Bundesregierung im KPD-Prozess, der andere als Herausgeber einer bundesdeutschen Marx-Ausgabe, die seit 1960 erscheint. Lieber wird der erste geschäftsführende Direktor des Hauses (diese Funktion wechselt im Jahresturnus und wird durch Wahl innerhalb des Gremiums bestimmt). Erster hauptamtlich beschäftigter, für die konkrete Programmplanung und die Einladungsaktivitäten zuständiger Studienleiter wird der vom BMI ernannte Rudolf Wildenmann, den 1959 der Osteuropahistoriker Karl-Heinz Ruffmann (bis Ende1961) ablöst, der bei der Profilierung des OK eng mit Hans-Joachim Lieber kooperiert. Obwohl im Hinblick auf den Marxismus von konträren Positionen ausgehend, vertreten Lieber und Bochenski, der ihm 1959 nach Günther Stökl als dritter geschäftsführender Direktor nachfolgt, für das Ostkolleg gemeinsam eine Konzeption, die als Ziel die Immunisierung der intellektuellen und politischen Eliten der Bundesrepublik gegen die kommunistischen Ideen durch aufklärende Information verfolgt und diese auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen trachtet. So erklärt sich auch der institutionelle Rahmen des Ostkollegs mit der starken Stellung eines wissenschaftlichen Direktoriums, dem in der Frühzeit mit Gerhard von Mende auch eine vormals massiv in die NS-Politik verstrickte Person "eines undurchschaubaren Intellektuellen und Strippenziehers im Kalten Krieg" angehörte. Obwohl von Mende in den beiden ersten Jahren noch häufig als Referent an Tagungen des OK mitwirkte, hatte er auf die programmatische Ausrichtung und Wissenschaftskonzeption des Ostkollegs keinen nachweisbaren Einfluss. Dass er im Direktorium isoliert war, zeigt auch der Umstand, dass ihm die Position eines geschäftsführenden Direktors versagt blieb. Die Programme des Ostkollegs hatten thematische Kerne (Geschichte, Ideologie, Herrschaftssystem, Wirtschaft, Außenpolitik der Sowjetunion), die in vier bis fünf Einheiten umfassenden "Grundvorlesungen" behandelt wurden. Diese wurden durch variable Themenaspekte ergänzt, zusätzlich wurden Beiträge zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in die Tagungsprogramme einbezogen. Eine Auswertung der Programme für die zehn ersten Tagungen im Ostkolleg zeigt, dass neben den Kernthemen und wechselnden Einzelthemen (wie Rechtssystem, Erziehungssystem, Kirchen, Nationalitäten in der Sowjetunion, "Satelittenstaaten", China) meist abschließend und kontrastierend über "Die weltpolitische Lage" (Theodor Schieder), "Europa zwischen Ost und West" (Walter Hofer) oder das Thema "Der Geist des Abendlandes und das Menschenbild des Kommunismus" (Theodor Litt) referiert wurde. Auch die beiden für die 1955 gegründete Schule des Bundesamtes für Verfassungsschutz zuständigen Beamten Günther Nollau ("Die internationale Zusammenarbeit der kommunistischen Parteien") und Heinrich Degenhardt ("Die Methoden der kommunistischen Politik in der Bundesrepublik") kamen – allerdings nur in den Anfangsjahren – häufiger im OK zu Wort. Prominente Teilnehmer der ersten Tagungen waren beispielsweise Hermann Pörzgen ("FAZ"), Reinhard Appel ("Stuttgarter Zeitung"), Franz Herre ("Rheinischer Merkur") sowie mehrere Bundesrichter. Über die Aktivitäten des Ostkollegs in den ersten vier Jahren gibt ein Bericht Aufschluss, den Karl-Heinz Ruffmann, der zu diesem Zeitpunkt seine Funktion als Studienleiter des Ostkollegs aufgab, um den neu gegründeten Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen zu übernehmen, Ende 1961 vorlegte. Bis dahin hatten 123 Studientagungen im Kölner Haus und vier auswärts stattgefunden, darunter waren 96 "Normaltagungen" (für die seit 1960 der Begriff "Studientagungen" eingeführt wurde), zehn Kurztagungen für Wirtschaftler und Journalisten (Dauer: dreieinhalb Tage), fünf Sondertagungen für Verwaltungsjuristen (Dauer: 14, dann zehn Tage, darin eine mit Schwerpunkt DDR), drei Sondertagungen für Pädagogen, drei West-Ost- und vier Aufbautagungen (für qualifizierte Teilnehmer aus den Grundtagungen, erstmals 1961 durchgeführt). "Auf den Normaltagungen (Dauer: eine Woche, Teilnehmer: Angehörige verschiedener Berufe) wurden Grundkenntnisse über den Sowjetkommunismus vermittelt. Dabei ergab sich aus den in der Anfangszeit gesammelten Erfahrungen die Notwendigkeit, die eigene Position in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus stärker herauszuarbeiten." Mit einem Sonderseminar wirkte das OK bei der Attaché-Ausbildung des Auswärtigen Amtes mit; zudem veranstaltete es Seminare für Stabsoffiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr. Unter den 4.444 Teilnehmern stellte der höhere Verwaltungsdienst mit etwa einem Sechstel den höchsten Anteil, je ein Zehntel waren Lehrer an höheren Schulen, Offiziere oder Teilnehmer aus dem Bereich der Wirtschaft, acht Prozent Studenten, drei Prozent waren Hochschullehrer und wissenschaftliche Assistenten, Angehörige der Justiz waren mit sechs Prozent, Journalisten und Gewerkschaftler mit je vier Prozent vertreten, zu geistlichen und anderen kirchlichen Berufen gehörten drei Prozent. 155 Teilnehmer (3,5%) kamen aus dem Ausland, vornehmlich aus der Schweiz und aus Österreich. Insgesamt 120 "wissenschaftlich ausgewiesene Sachkenner" waren im Zeitraum von November 1957 bis Ende 1961 als Referenten im OK tätig, darunter 26 "führende ausländische Sowjetologen". Die Grundvorlesungen wurden weitgehend von den Mitgliedern des Direktoriums des Ostkollegs gehalten. Auswahl von Referenten in einer Broschüre des Ostkollegs von 1963 (© Privatarchiv Rüdiger Thomas) Eine Broschüre des OK, die Ende 1963 auch in drei Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Spanisch) gedruckt wurde, enthält neben einem Musterprogramm auch exemplarisch Leitfragen, die im Rahmen der Seminare erörtert werden sollten. Dort heißt es beispielsweise: "Was hat sich in der Sowjetunion seit Stalins Tod verändert? Ist es wahr, dass das kommunistische Russland die USA in der Wirtschaft überholen wird? Warum hat Chruschtschow Veränderungen in der sowjetischen Wirtschafts- und der Parteiorganisation betrieben? Wieweit ist die Ideologie ein bestimmender Faktor der sowjetischen Innen- und Außenpolitik? Gibt es Anzeichen, dass sich die Sowjetunion in ein bürgerliches System verändert? Welche politische Bedeutung hat das Nationalgefühl der nichtrussischen Völker? Ist die friedliche Koexistenz eine konkrete Hoffnung oder eine vorsätzliche Irreführung? Streben die politischen Führer der SU weiter nach der Weltrevolution oder wollen sie allein die Macht des Sowjetstaates erhalten? Was können wir tun, um der konstanten Bedrohung des Kommunismus in der Welt zu widerstehen?" Das Direktorium verstand das OK als weltweit einzige Bildungsinstitution, die für qualifizierte Bevölkerungsschichten eine geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf wissenschaftlicher Grundlage etabliert hatte. Dies wurde 1964 durch zwei Sonderveranstaltungen unterstrichen: Im Mai fand ein Erfahrungsaustausch über "Vorurteile und Klischees bei der Behandlung von Ostfragen" statt, an dem insgesamt 38 namhafte Journalisten und Direktoriumsmitglieder teilnahmen. Im Dezember 1964 war es endlich gelungen, eine bereits seit September 1962 vom Direktorium angeregte supranationale Veranstaltung zu realisieren, die unter dem Arbeitstitel "NATO-Tagung" stand. An dem "Internationalen Colloquium" zum Rahmenthema "Ostforschung und politische Bildung" (in der Planungsverantwortung des neuen, aus der Bundeszentrale Anfang 1964 als Studienleiter übergewechselten Werner Maibaum) nahmen 50 Personen, Ostforscher, Botschaftsvertreter sowie Repräsentanten von Bildungseinrichtungen zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus aus den NATO-Mitgliedsstaaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Portugal und den USA sowie aus Schweden, der Schweiz und die Mitglieder des OK-Direktoriums teil. Während Karl-Heinz Ruffmann in einem Beitrag "Entstehung und Stellung des Ostkollegs im Rahmen der politischen Bildung" vorstellte, sollten zwei Grundsatzreferate, die unterschiedliche Akzente setzten, als Debattenimpulse dienen. Joseph M. Bochenski referierte "Zur geistigen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie", und Hans Joachim Lieber bilanzierte "Erfahrungen über Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Aufklärung". Das Kolloquium wurde durch den Bundesinnenminister Hermann Höcherl eröffnet, der sich – anders als sein Amtsvorgänger Gerhard Schröder – bereits auf der Linie eines rationalen Antikommunismus bewegte. "In seinen Ausführungen betonte er, daß eine Immunisierung gegenüber dem Totalitarismus ohne eine eingehende Berücksichtigung des totalitären Sowjetsystems unmöglich ist. Politische Bildung darf aber nicht mit staatlicher Schulung verwechselt werden. Sie soll vielmehr die Voraussetzungen für eine persönliche Entscheidung aller Staatsbürger schaffen, die auf sachgemäßer Unterichtung und differenzierter Aufklärung basiert." Bochenski betrachtete in seinem Eingangsbeitrag die "Intensivierung der geistigen Auseinandersetzung" als "die bedeutendste Aufgabe, die der politischen Bildung im Bereich der Analyse kommunistischer Wirklichkeit gestellt ist". Er lehnte die Ausarbeitung einer "Gegenideologie" strikt ab, "weil die Grundwerte unserer westlichen Lebensordnung nicht in dogmatischer Weise bestimmbar sind". Stattdessen müsse sich die politische Bildung darauf konzentrieren, "die gemeinsamen Elemente der Grundwerte bewußt zu machen." Diese Fokussierung auf die Ideologie wurde in der Diskussion erheblich relativiert. "Von besonderer Bedeutung sind dabei die wirtschaftliche Entwicklung, Wandlungen der politischen Struktur und eine zunehmend deutlicher werdende Differenzierung der monolithischen Ideologie innerhalb der kommunistischen Welt." Liebers Referat verwies auf Vorurteilsstrukturen, die bei einer "auf Aufklärung abzielenden politischen Bildungsarbeit" beachtet werden müssten. Diese zeigten sich generationenspezifisch, in Klischeevorstellungen oder einer verbreiteten "Neigung zum Denken in Alternativ-Modellen." Ein vorwiegend affektiv akzentuierter Antikommunismus stehe zudem im Zusammenhang mit der eher emotional bestimmten Abwehrreaktion eines bloßen "Anti-Antikommunismus". Lieber hob die doppelte Aufgabe hervor, "im Zuge von Informierung über das Sowjetsystem zugleich kritische Bewußtseinserhellung über die eigene Lebensordnung leisten zu müssen". Fazit: Rationaler Antikommunismus als wissenschaftliche Aufklärung Eine eingehende Analyse der Bundeszentrale für Heimatdienst und des Ostkollegs in der Gründerzeit der Bundesrepublik führt zu einem Ergebnis, das mit vordergründigen Pauschalurteilen, wie sie noch 50 Jahre nach Gründung der Bundeszentrale zu vernehmen waren, keineswegs übereinstimmt. "In den 50er Jahren wirkte sie (…) an der antikommunistischen Restauration mit, war ein Auffangbecken diverser Naziideologen und verstand sich als deutsche Antwort auf die Re-Education der Westalliierten" – so leitet Felix Klopotek ein Interview mit Gudrun Hentges ein, die sich als Kritikerin der Bundeszentrale wiederholt exponiert hat. Hentges verweist dabei einerseits ausschließlich (und insoweit zu Recht) auf die gravierende NS-Belastung Gerhard von Mendes und zum anderen auf den Umstand, dass die Bundeszentrale in den 1950er-Jahren – neben dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen – auch strikt antikommunistische Organisationen finanziell gefördert hat. Dabei werden jedoch entscheidende Faktoren ausgeblendet: Das Gründungspersonal der Bundeszentrale war ausnahmslos dem deutschen Widerstand gegen Hitler verbunden, und die publizistischen Eigenaktivitäten des Hauses werden dabei völlig außer Acht gelassen. Eine Inhaltsanalyse der Leitmedien der Bundeszentrale in ihrem Gründungsjahrzehnt, die mit ihren hohen Auflagen eine große Reichweite sowohl in bildungsqualifizierten sozialen Milieus als auch im Rahmen der politischen Bildung in der Schule hatte, ergibt, dass die Eigenpublikationen der BZH – zumal im Vergleich mit anderen in dieser Zeit publizierten Beiträgen – überwiegend dem Informationsanspruch eines rationalen Antikommunismus im Sinne einer tatsachengestützten Information und einer wissenschaftlichen Analyse zugeordnet werden können. Dabei zeigen sich unter dem Anspruch einer pluralistischen Orientierung auch politische Urteilspositionen, die gelegentlich nicht frei von einer polemischen Diktion gewesen sind, doch sind solche Texte, für die hier ebenfalls Beispiele präsentiert worden sind, in der deutlichen Minderheit. Dass auch die Tätigkeit des Ostkollegs in der Verantwortung eines weitgehend politisch unabhängigen Direktoriums mit Referentenauswahl und Tagungskonzepten den Prinzipien wissenschaftlicher Aufklärung weitgehend gefolgt ist, konnte hier zumindest exemplarisch sichtbar werden. Die Wirksamkeit einer Bildungsarbeit, die an dem Gebot einer wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ausgerichtet war, demonstriert indirekt eine Einschätzung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die in ihrer absurden Polemik verdeutlicht, wie sich ein ideologischer Anti-Antikommunismus als Gegenmodell irregeleiteter Formen der Auseinandersetzung ausnimmt: "Die Bundeszentrale für Heimatdienst ist die offizielle Propagandazentrale der Bonner Regierung. Ihre Haupttätigkeit besteht in Hetze gegen das sozialistische Lager, besonders gegen die Sowjetunion und die DDR; Förderung des Revanchismus durch Propagierung der Bonner Revanchepolitik; Bekämpfung fortschrittlicher Bestrebungen in Westdeutschland mit den Mitteln der Publizistik; politische ideologische Beeinflussung der westdeutschen Bevölkerung mit dem Ziel, sie durch Vermittlung einer sogenannten staatsbürgerlichen Bildung für den westdeutschen Staat zu gewinnen und auf die Linie der Adenauer-Politik festzulegen; Rechtfertigung des nationalen Verrats der westdeutschen Imperialisten mit Hilfe der Propagierung der NATO und der Idee der sogenannten europäischen Integration." Solche Phrasen aus den Bunkern des Kalten Krieges sind wahrlich kein Zeichen für Recherchesorgfalt oder analytischen Verstand. Die Westexperten aus dem Osten hätten besser ihren Lenin gelesen: "Die Wahrheit ist immer konkret." Ein solcher unabgegoltener Denkanstoß könnte Anlass sein, der Bundeszentrale im 60. Jahr ihres Bestehens auch zu ihrer Arbeit in den Gründerjahren Respekt zu bezeugen. Die vorliegende Studie ist aus einem Vortrag hervorgegangen, gehalten am 4.11.2011 auf der Tagung "Antikommunismus in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Zur politischen Kultur im Kalten Krieg" in Königswinter, veranstaltet vom Institut für Zeitgeschichte, vom Lehrstuhl für Neuere Geschichte I des Historischen Instituts der Universität Potsdam, von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem "Deutschland Archiv". "Der Heimatdienst", Ausgabe 2/1932 (© Privatarchiv Rüdiger Thomas) Titelblatt des Gesamtverzeichnisses der Publikationen der Bundeszentrale für Heimatdienst und der Bundeszentrale für politische Bildung, herausgegeben zum 40-jährigen Bestehen der BpB (© BpB) Karikatur aus dem Hamburger Echo in der Wochenzeitung "Das Parlament", 1950er-Jahre (© Das Parlament) Aus Politik und Zeitgeschichte, 23/1954 (© BpB) Das Gutachten Joseph M. Bochenskis zum KPD-Verbotsprozess in der Ausgabe der Schriftenreihe der BZH (© BpB) Der Beitrag von Herman(n) F. Achminow über "Die Oberschicht in der Sowjetunion" kann als exemplarisch für die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Problemen der Sowjetunion in "APuZ" gelten. Diese Ausgabe war - trotz der irritierenden Zählung (47/1953), die jener der Wochenzeitung "Das Parlament" folgte, als deren Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" bis heute erscheint - das erste "APuZ"-Heft überhaupt. (© BpB) Besonders bemerkenswert war die Publikation des Erfahrungsberichtes der ehemaligen Kommunistin Margarete Buber-Neumann in "APuZ", 22/1958. (© BpB) Grundlegend für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen System der Volksrepublik China war der Beitrag von Karl F. Wittfogel in "ApuZ", 19/1958. (© BpB) Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 29. August 1956 zum Ausgang des KPD-Verbotsprozesses (© Das Parlament) Im Februar 1962 publizierte "APuZ" ein Rundtischgespräch des NRD "mit einem kommunistischen Journalisten". (© BpB) Deutschlandkarte der Bundeszentrale für Heimatdienst aus den 1950er-Jahren (© BArch, Plak 005-048-011 ) Informationen für politische Bildung, Folge 19 zum 1. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR (© BpB) Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 16. Juni 1954 zum 1. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR (© Das Parlament) Folge 54/55 der "Staatsbürgerlichen Informationen" über die Sowjetunion (© BpB) Das Cover von Werner Maibaums Studie über das Ostkolleg zeigt dessen Gebäude am Kölner Stadtwaldgürtel. (© BpB) Der Oberregierungsrat im Bundesamt für Verfassungsschutz Günther Nollau publizierte auch in "APuZ", u.a. über den "Internationale(n) Kommunismus – heute", 13/1961. (© BpB) Eröffnung des Ostkollegs: Bundesinnenminister Gerhard Schröder im Gespräch mit seinem Staatssekretär Georg Anders und dem BZH-Direktor Paul Franken (v.l.), Foto aus "Das Parlament", 47/1957. (© Das Parlament) Referenten des Ostkollegs bei dessen Eröffnung: Joseph M. Bochenski, Werner Philipp und Hans Raupach (v.l.); mit dem Rücken zum Fotografen: Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer. Foto aus "Das Parlament", 47/1957. (© Das Parlament) Auswahl von Referenten in einer Broschüre des Ostkollegs von 1963 (© Privatarchiv Rüdiger Thomas) Jörg Echternkamp, Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945–1949, Zürich 2003, S. 206. Vgl. auch Heidrun Kämper, Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin/New York 2005. Ernst Richert, Das zweite Deutschland. Ein Staat, der nicht sein darf, Gütersloh 1964. Der Zeitrahmen umfasst für die Bundeszentrale für Heimatdienst die Jahre 1952–1963, für das Ostkolleg die Entwicklung bis 1964. Rede Adenauers, in: Mitteilung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 802/51 v. 12.9.1951. – Schon am 13.6. hatte der Bundestag über die Einrichtung einer Bundeszentrale für Heimatdienst debattiert, gegen die die SPD allerdings noch einwandte, diese könne als Instrument der Regierung missbraucht werden: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, I. Wahlperiode 1949, 151. Sitzung v. 13.6.1951, Stenograph. Berichte, S. 6007Cff. Schreiben von Forschbach an Globke v. 23.10.1951 (Für die Einsichtnahme dankt d. Vf. Werner Maibaum). Zur Geschichte der Reichszentrale vgl. insb. Johannes Karl Richter, Die Reichszentrale für Heimatdienst. Geschichte der ersten politischen Bildungsstelle in Deutschland und Untersuchung ihrer Rolle in der Weimarer Republik, Diss. FU Berlin 1963 (Auszüge: Ders., Die Reichszentrale für Heimatdienst, in: APuZ, B 25/63, S. 3–30); Klaus Wippermann, Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik, Köln/Bonn 1976; eine konzise Zusammenfassung: Benedikt Widmaier, Die Bundeszentrale für politische Bildung. Ein Beitrag zur Geschichte staatlicher politischer Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1987, S. 15–18. Vgl. – quellenkritisch zu lesen – [Richard] Strahl, Die Reichszentrale für Heimatdienst (RfH). Bericht über die Entstehung und Tätigkeit der staatlichen politischen Volksaufklärung in der Weimarer Republik (unveröff. Ms. 1956, BArch). Kritisch zu Strahl vgl. Widmaier (Anm. 6), S. 18. Zur Biografie Frankens und seinem Verhältnis zu Adenauer vgl. Widmaier (Anm. 6), S. 33 – 37, zit. 36. Den Vorschlag Adenauers zit. Josef Rommerskirchen, Ein Leben für die Freiheit, in: Das Parlament, 17.12.1983. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 53 v. 10.5.1952, S. 573. GMBl 3 (1952), S. 318. – Lehr hatte den später gebilligten Text des Erlasses bereits am 8.2.1952 dem Bundeskabinett vorgelegt und am 8.7. mitgeteilt, dass die BZH bereits am 1.3. ihre Tätigkeit aufgenommen habe. Ein Vorstoß des Bundespresseamts, in bestimmten Angelegenheiten beteiligt zu werden (BArch B 136/5893), blieb unberücksichtigt (zur Abgrenzung der Zuständigkeiten: ebd. B 106/3253). Vgl. Kabinettssitzung vom 7.10., Externer Link: http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1952k/kap1_2/kap2_70/para3_5.html [15.5.2012]. "Carl Christoph Schweitzer und Enno Bartels stammten aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche. (…) Walter Jacobsen [SPD] (…) verbrachte die Kriegsjahre als Gegner der Nationalsozialisten in Schweden. (…) Josef Rommerskirchen, führender Funktionär der deutschen katholischen Jugend, Mitbegründer und mehrjähriger Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendring.": Widmaier (Anm. 6), S. 37. Am 20.10.1953 übernahm Gerhard Schröder das BMI, das während der Tätigkeit von Staatssekretär Hans Ritter von Lex (der am 31.10.1960 pensioniert wird) zunächst seine Unabhängigkeit weitgehend bewahren konnte, bevor sich seit 1957 administrative Kontrollansprüche verschärften. Der Nachdruck eines 1957 von der BZH publizierten Textes von Renate Riemeck, die als radikale Kriegsdienstgegnerin und 1960 als Gründungsmitglied der DFU hervorgetreten war, in einem Band der BZH-Schriftenreihe führte zum "Maulkorberlass" des BMI v. 12.8.1960, der eine vorherige Vorlage aller Publikationen der BZH im BMI verfügte, wovon auch "APuZ" betroffen war: vgl. Widmaier (Anm. 6), S. 64 u. 89, Anm. 7. Nach der BMI-Amtsübernahme durch Hermann Höcherl am 14.11.1961 wurde der Erlass unwirksam. Ein seinerzeit ebenso erwogener Wissenschaftlicher Beirat wurde erst 1970 eingerichtet. Siehe dazu neben Widmaier (Anm. 6) Wolfgang Beywl, Die Bundeszentrale für politische Bildung, Mag.-arb., Bonn 1977; mit einseitig kritischer Tendenz für das Gründungsjahrzehnt Gudrun Hentges, Heimatdienst, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 47 (2002) 11, S. 1318–1321; dies., Die Bundeszentrale für politische Bildung im Umbruch, in: Christoph Butterwegge/dies. (Hg.), Politische Bildung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 251–281; dies., Staat und politische Bildung: Gründung, Methoden, Zielstellungen und Konzeptionen der Bundeszentrale für politische Bildung (i. Ersch.). Zu Entstehungsgeschichte und Arbeitsweise: Willi E. Weber, Die ersten Jahre der Zeitung, in: Das Parlament, 38/1981, S. 8f: Der Hamburger Verlag Girardet & Co. hat die Wochenzeitung mit Unterstützung des BMI gegründet, Weber bezeichnet Ministerialrat Lüders als ihren "Erzeuger". Von den beiden Redakteuren war "einer der Regierungskoalition, der andere der Opposition im Bundestag zuzurechnen". Einem als Kontrollinstanz eingerichteten Beirat gehörte seit Januar 1952 auch Franken an. Bis einschl. 1958 waren die APuZ-Ausgaben römisch nummeriert, zur Vereinheitlichung werden hier arabische Ziffern verwendet. Bis 1962 wurden die Seiten jedes Jahrgangs durchlaufend gezählt. Exemplarisch: Walter Dirks, Politische Bildung, in: APuZ, B 51/53, S. 6–11; Theodor Litt, Die Selbsterziehung des deutschen Volkes, B 3/54, S. 25–34; Theodor Eschenburg, Die Richtlinien der Politik im Verfassungsrecht und in der Verfassungswirklichkeit, B 22/54, S. 278–285; Eduard Spranger, Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung, B 48/56, S. 749–760. Mit Beiträgen zu Politik und Zeitgeschichte bis 1963 am häufigsten in APuZ vertreten waren Helmut Krausnick und Theodor Litt (je 7), Theodor Eschenburg, Hans Rothfels und Josef Wulf (6): vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte. Gesamtverzeichnis 1953–1992, Hg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993. Der Anteil der APuZ-Ausgaben, die Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und zum Ost-West-Konflikt enthielten, stieg in den ersten fünf Jahren von 25% (1954) über 45% (1956) auf 50% (1958). Häufigste Autoren hierzu waren im ersten Jahrzehnt bis einschl. 1963 (Fortsetzungen und Vorabdrucke als ein Beitrag gezählt): Joseph M. Bochenski, John Foster Dulles, Henry Kissinger (je 7); Walter Grottian (6); Iring Fetscher, George Kennan, Wolfgang Leonhard, Richard Löwenthal, Boris Meissner, Günther Nollau, Georg Stadtmüller (je 5). In: APuZ, B 23/54, S. 289–294. Die folgenden Zitate ebd., S. 291f. – Der Theologe Helmut Gollwitzer, Schüler Karl Barths, war Mitglied der Bekennenden Kirche. Wegen seiner Kontakte zum Widerstand wurde er 1940 zeitweilig inhaftiert. Als Sanitäter an der Ostfront kam er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Seine Erlebnisse verarbeitete er in dem Bestseller "… und führen wohin Du nicht willst" (1950; ein "großes historisches Dokument", Theodor Heuss), der eine pointierte Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus enthält. 1950–1957 war Gollwitzer Professor für Systematische Theologie in Bonn, was seinen Kontakt zu Paul Franken erklären mag. Wenzel Jaksch (1896–1966), sudetendeutscher Sozialdemokrat, seit Beginn des Zweiten Weltkrieges im britischen Exil, in Westdeutschland Vorsitzender der Seliger-Gemeinde (der vertriebenen sudetendeutschen Sozialdemokraten), war seit 1961 Vizepräsident der Sudetendeutschen Landsmannschaft und seit 1964 Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen. Wenzel Jaksch, Der Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht als sozialistische Aufgabe, in: APuZ, B 26/56, S. 396–404, hier 397 (Hervorhebung i. Orig.). Das Folgende ebd., S. 399. – Vgl. auch Stephan Thomas [Leiter der Organisationsabt. des SPD-Parteivorstandes], Sozialdemokratie und Kommunismus, in: APuZ, B 45/57, S. 753–773. Eine ähnliche Argumentation findet sich drei Jahre später bei Iring Fetscher, Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus, in: APuZ, B 48/57, S. 817–835. Vgl. Joseph M. Bochenski, Der sowjetrussische dialektische Materialismus, München 1950; Gustav A. Wetter, Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion, Freiburg i. Br. 1952. In: APuZ, B 6/56, S. 77–95, hier 78. Gustav A. Wetter, Der dialektische Materialismus, in: APuZ, B 13/56, S. 217. George F. Kennan, Das Amerikanisch-Russische Verhältnis. Rückschau, in: APuZ, B 51/54, S. 669–673, hier 673. In: APuZ, B 50/54, S. 659–664. Das Folgende ebd., S. 663f. In: APuZ, B 7/55, S. 101–105. Das Folgende ebd., S. 105. In: APuZ, B 39/55, S. 589–594, hier 591. George F. Kennan, Die Sonne und der Nordwind. Gedanken zur Lösung der Ost-West-Spannung, in: APuZ, B 6/55, S. 89–95, hier 91 u. 93. Paul A. Hoffman, Der Friede, für den wir kämpfen, ist in Sicht und wir können ihn gewinnen, in: APuZ, B 39/55, S. 595–598, hier 595. Michael Prawdin, Rußland, Sowjetrußland oder Europa? Warum verstehen wir die Sowjets nicht?, in: APuZ, B 5/55, S. 73–86, hier 86. Averell W. Harriman, Der sowjetische Angriff auf die amerikanische Politik. Die unerkannte Gefahr, in: APuZ, B 28/56, S. 421–425, hier 421 u. 424. Siehe dazu APuZ, B 13/60 (mit Beiträgen von Adlai E. Stevenson, George F. Kennan u. Dean G. Acheson) sowie Nelson A. Rockefeller, Zielstrebigkeit in der Politik, in: APuZ, B 22/60, S. 337–347. Exemplarisch (als erster APuZ-Beitrag zur SU überhaupt): Herman F. Achminow, Die Oberschicht in der Sowjetunion, in: APuZ, B 47/53, S. 1–6; Boris Meissner, Die Ergebnisse des 20. Parteikongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, B 30/56, S. 457–494; David Burg, Psychologische und soziale Folgeerscheinungen der Aufhebung des Terrors in der Sowjetunion, B 43/58, S. 569–579. – Wichtige Autoren zu diesem Komplex sind weiterhin u.a. (Verweis nur auf die jew. erste Veröffentlichung in APuZ): Bertram D. Wolfe (B 8/54), Walter Grottian (48/55), Jane Degras (25/56), Ossip K.Flechtheim (41/56), Wolfgang Leonhard (34/55), Walter Kolarz (31/57), Hermann Weber (43/57), Georg Paloczi-Horvath (36/60), Walter Laqueur (15/63) und Karl C. Thalheim (28/63). In ausführlichen Auszügen werden die beiden Bücher von Joseph Scholmer, Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta (APuZ, B 15–17/55), und Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder (B 34 u. 35/55), vorgestellt. Eindrucksvoll ist auch die Dokumentation "Letzte Briefe aus Stalingrad" (Vorabdruck: B 52/55). Siehe auch Margarete Buber-Neumann, Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion, B 22/58, S. 277–291; Albertine Hönig, Leben in Workuta, B 6–8/58, S. 61–111. Aurel von Jüchen, Was die Hunde heulen, Vorabdruck in: APuZ, B 36–39/58, S. 465–487 u. 489–512, zit. 466. Das Folgende ebd., S. 503. Vgl. vier Beiträge von Alfred Burmeister, in: APuZ, B 37/56, S. 573–586; B 47/56, S. 733–747; B 24/57, S. 371–382; B 47/58, S. 625–633. Vgl. auch bilanzierend Ernst Birke u.a., Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas 1945 – 1957, in: APuZ, B 38/59, S. 477–497. "Bei einer Gesamtbilanz ist (…) die Ablösung dieses Gebietes von West- und Mitteleuropa und seine Angleichung an den Osten unverkennbar. Neben der wirtschaftlichen Eingliederung in das neue Sowjetimperium erfolgt auch eine kulturelle Enteuropäisierung, die vielfach durch die zwangsweise Entfernung der deutschen Bevölkerung als eine der wichtigsten Klammern zum Westen erleichtert wurde." (S. 483). Joseph Scholmer, Die Revolution in Ungarn, in: APuZ, B 1/57, S. 1–16, hier 16. Henry A. Kissinger, Auf der Suche nach Stabilität, in: APuZ, B 42/59, S. 554–564, hier 555. Vgl. im Jg. 1958 die Ausgaben 25, 26, 30, 32, 33, 34, 36, 37, 39, 40. Dieses außergewöhnliche Verfahren für ein Periodikum erklärt sich wohl auch aus dem Umstand, dass Werner Maibaum, seit 1956 wiss. Mitarbeiter Bochenskis für das "Handbuch", 1957 die APuZ-Redaktion übernommen hat. APuZ, B 25/57, S. 383. Ein grundlegender Beitrag zur Charakterisierung der VR China als "Apparatgesellschaft" stammt von dem renommierten Sinologen und Verfasser des Standardwerks "Die orientalische Despotie" (1957) Karl A. Wittfogel, Die chinesische Gesellschaft, in: APuZ, B 19/58, S. 229–239, hier 238: "Da die Herrscher ihre totale Macht durch eine Regierung ausüben, die (…) praktisch die gesamte wirtschaftliche und soziale Tätigkeit der Bevölkerung kontrolliert, stehen wir einer totalitären Apparatpartei gegenüber." Vgl. Anonym, Rotchina – der Juniorpartner Moskaus, in: APuZ, B 17/57, S. 271–282. – 1954–1961 erscheinen insg. 29 Beiträge mit der Autorenangabe "Anonym" oder "…" in APuZ (allein acht 1957), die überwiegend Themen aus dem Bereich der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus behandeln. Seither ist diese für eine wissenschaftlich orientierte Zeitschrift dubiose Praxis aufgehoben. Vgl. dazu Max Biehl, Volkskommunen in China, in: APuZ, B 4/59, S. 33–36; G.f. Hudson, Mao, Marx und Moskau, B 42/59. An Yowev, Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung, in: APuZ, B 26/60, S. 417–428; vgl. auch Boris Meissner, Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking, B 11/61, S. 131–147. Über den "linken Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus", in: APuZ, B 26/60, S. 426–428. Georgi Paloczi-Horvath, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, in: APuZ, B 36/60, S. 573–588, hier 580 (Vorabdruck aus: ders., Chruschtschow, Frankfurt a. M. 1960). Vgl. dazu ausführlich Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969, Düsseldorf 2008. – Zwischen BMG und BZH bestand eine erhebliche Rivalität, weil das Ministerium gegenüber dem Ansatz Frankens, der eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kommunismus postulierte, Methoden einer psychologischen Einflussnahme auf die Bewusstseinsbildung der westdeutschen Bevölkerung favorisierte. Grundlegende Meinungsverschiedenheiten veranlassten das BMG zu zunehmender Distanzierung von der BZH und zu einer verstärkten Kooperation mit dem Bundesvertriebenenministerium und dem Bundesministerium der Verteidigung. (Es ist bezeichnend, dass in dem informationsreichen, sorgfältig recherchierten Buch Creuzbergers Paul Franken im Register nicht verzeichnet ist.) "SBZ-Archiv" erschien i. A. und mit Finanzierung des BMG seit April 1952 als zweimal monatlich erscheinende Reihe. "Eigentlich sollte die Zeitschrift objektive Grundlagen für eine fundierte Beurteilung der Verhältnisse in der 'Zone' vermitteln. Aber zunächst standen Anklage, Aufklärung und politische Mobilisierung im Vordergrund; getreu dem Motto, das auf der Titelseite jedes Heftes abgedruckt war: 'Besinnt euch auf eure Kraft, der Westen ist stärker!'": Ilse Spittmann-Rühle, Drei Jahrzehnte Deutschland Archiv, in: Wolfgang Thierse u.a. (Hg.), Zehn Jahre Deutsche Einheit, Opladen 2000, S. 303. In: APuZ, B 24/55, S. 361–381. Etwa Jürgen Rühle, Die Kulturpolitik der Sowjetzone, in: APuZ, B 47/55, S. 709–720. – 1956/57 erscheinen zahlreiche Beiträge von anonymen Autoren, z.B. in B 12/56 ein Protokoll der 25. ZK-Tagung der SED sowie u.a. mit Dokumenten oder Analysen zur Situation in der DDR in: B 15/56, B 24/56, B 41/56, B 11/57, B 23/57, B 49/57. Hervorzuheben ist der Beitrag von Hermann Weber, Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht, B 31 u. 32/59, S. 389–427. Vgl. dazu Creuzberger (Anm. 51), S. 461–478. – Eine eingehende Inhaltsanalyse der Eigenpublikationen des BMG bis Mitte der 1960er-Jahre steht noch aus. Wichtige Vorstudien sind die Arbeiten von Klaus Körner, zuletzt: Die rote Gefahr. Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik von 1950 bis 2000, Hamburg 2003. Anonym, Lenkung, Organisation und Methoden der kommunistischen Infiltration in der Bundesrepublik, in: APuZ, B 35/56, S. 545–560 (Der Vorspann hierzu bezieht sich ausdrücklich auf das KPD-Verbot und auf die "rege Diskussion […], ob der von der Bundesregierung gestellte Antrag außen- und innenpolitisch geschickt und ob es richtig gewesen sei, die Kommunistische Partei Deutschlands für illegal zu erklären."); Anonym, Kommunistische Untergrundarbeit in Deutschland, B 41/56, S. 643–647. Vgl. auch Wolfgang Leonhard, Die Parteischulung der SED (1945–1956), in: APuZ, B 44/56, S. 689–704. In: APuZ, B 35/56 [29.8.1956!], S. 560. "Dem Menschen im Betrieb galt die besondere Aufmerksamkeit unter dem Gesichtspunkt der Abwehr kommunistischer Infiltration.": Tätigkeitsbericht der BZH 1956/57, S. 8. "Informationen": Auflage 920.000, "Das Parlament" (mit "APuZ"): 100.000 Ex.: Tätigkeitsbericht der Bundeszentrale für politische Bildung für das Rechnungsjahr 1964, 11.2.1965, S. 42 u. 6. Das Thema Vertreibung und deutsche Ostgebiete wird in APuZ erst wesentlich später aufgegriffen. Dass es die Redaktion als heikel empfindet, zeigt der Vorspann zu Beiträgen, die zwischen Herbst 1958 und April 1960 erscheinen: "Wir beginnen heute mit dem Abdruck einer Reihe von Artikeln, die sich mit dem Polen von heute und mit der durch die Abtrennung der deutschen Ostgebiete geschaffenen Problematik auseinandersetzen. Autoren verschiedenster Anschauungen werden das Wort erhalten, so daß die Urteilsbildung dem Leser überlassen bleibt. In keinem Fall stellt ein Artikel die Meinungsäußerung der herausgebenden Stelle dar." (APuZ, B 45/58, S. 593). – Dokumentiert wird zunächst die Rede der nahezu unbekannten Kongressabgeordneten Carroll Reece, Das Recht auf Deutschlands Osten, in: APuZ, B 45/58, S. 593–612, die scharfe Töne anschlägt: "Wir sollten keinen Zweifel darüber lassen, daß die deutschen Provinzen östlich der Oder-Neiße, die seit 1945 unter provisorischer fremder Verwaltung stehen, bis heute und weiterhin rechtlich und gesetzlich ein Teil Deutschlands sind, der militärisch besetzt ist und jetzt unter gleichsam kriegsmäßiger Verwaltung der beiden kommunistischen Mächte steht."; "In der Tat, nur im Schutz der sowjetischen Armee kann Polen letztlich sicher sein, an seinem Kriegsraub festhalten zu können." (S. 595 u. 611) In derselben Ausgabe ruft der Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm, Polen in der Geschichte Europas, ebd., S. 613–622, die Geschichte Polens als "Leidensweg" in Erinnerung, "härter als das [Leid] irgend eines anderen großen Volkes in Europa", und plädiert unter Ausklammerung der Grenzfrage für einen "Weg der Verständigung" (S. 616, 618 u. 622). Theodor Schieder, Die Ostvertreibung als wissenschaftliches Problem, B 17/60, S. 282–288, führt im April 1960 u.a. aus, die "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", die seit 1954 erschien, solle "etwas von dem verspüren lassen, was wir als Gesamthaftung des deutschen Gesamtvolkes für seine Vergangenheit bezeichnen können und was als eine Konsequenz der früher so betonten nationalen Solidarität auf uns genommen werden muß." (S. 288). Die Beiträge beider Hefte hat Gerhard von Mende verfasst. Blickt man auf von Mendes Vergangenheit (vgl. Anm. 75), so trifft auf diese Texte zu, was Winfried Schulze (Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989) als "Objektivität als Heilmittel" charakterisiert. Das Heft zieht in seinem reichhaltigen und fundierten Informationsangebot erkennbar aus dem 1959 publizierten "Osteuropa-Handbuch. Polen", Hg. Werner Markert, erheblichen Nutzen. Vgl. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen 1952–1992, Hg. BpB, Bonn 1992, S. 97–99. Hier und im Folgenden im Wesentlichen unter Bezug auf Werner Maibaum, Ostkolleg der Bundeszentrale für Heimatdienst. Gründungsgeschichte und Aufbauphase, Hg. BpB, Bonn 2004, zit. S. 24 u. 25. Ebd., S. 25. Widmaier (Anm. 6), S. 46. Beim BVerfG bestanden erhebliche Zweifel an der Begründbarkeit des KPD-Verbots, weil es – anders als beim bereits nach elf Monaten verhängten SRP-Verbot – nicht auf Tathandlungen zur "Untergrabung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" gestützt werden konnte, sondern sich auf die Unvereinbarkeit der kommunistischen Staatslehre von der "Diktatur des Proletariats" mit den Prinzipien des Grundgesetzes stützte. Maibaum (Anm. 63). Vgl. v. a. BArch B 106/21611. Das Verbotsurteil in: BVerfG 5, 85, das Gutachten Bochenskis in: KPD-Prozess. Dokumentarwerk zu dem Verfahren über den Antrag der Bundesregierung auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD vor dem 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe 1956, Bd. 3, S. 509ff, und bereits zuvor nach Vorlage beim BVerfG im März 1955 (ohne Angabe des Entstehungszusammenhangs und Verwendungszwecks) in: APuZ, B 6 /56. Zit.: Maibaum (Anm. 63), S. 11. Das "Memorandum" ist undatiert, zit.: Maibaum (Anm. 63), S. 58–60. Bericht in: Das Parlament, 47/1957, S. 16. In seiner mit bellicoser Rhetorik unterlegten Eröffnungsrede fokussiert Schröder die Aufgabe des OK auf die ideologische Auseinandersetzung: "Es geht hier nicht um den machtpolitischen Gegensatz zwischen Ost und West. Hier geht es allein um die ideologische Auseinandersetzung. Sie ist uns aufgezwungen, weil die östliche Heilslehre mit der Herrschsucht und dem Eroberungswillen einer fanatischen Prophetie auftritt – als der einzig wahre Glauben, der alles seiner Pseudo-Wahrheit unterwerfen will." Schröder redet hier zwar einmal von der – den sonst im interministeriellen Verkehr und im Gebrauch der BZH vorherrschenden – "geistig-politische(n) Auseinandersetzung mit dem Kommunismus", formuliert aber als Aufgabe des OK, "vielen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens Tätigen Erkenntnisse für die geistige Bekämpfung des Kommunismus [zu] vermitteln." (ebd.) Der Entwurf des OK (unter Mitwirkung des Direktoriumsmitglieds Werner Markert) hingegen erklärte: "Das Ostkolleg ist eine Einrichtung der politischen Bildung und hat eine doppelte Aufgabe. Durch Vorträge wissenschaftlich ausgewiesener Sachkenner des In- und Auslandes bietet es eine systematische Unterrichtung über die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Gegenwartsprobleme Osteuropas und der Sowjetunion. In offener Diskussion (…) soll den Teilnehmern der Studientagungen eine eigene Urteilsbildung ermöglicht werden, um die erarbeiteten Einsichten für die geistige Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus und seinen Auswirkungen fruchtbar zu machen – unter Besinnung auf Idee und Wirklichkeit der Freien Welt.": BArch B 168/772, zit.: Maibaum (Anm. 63), S. 93. BMI, Erlaß über die Errichtung des Ostkollegs, 28.11.1957, Interner Link: http://www.bpb.de/36447 [15.5.2012]. Bei Gründung des OK wurden als Mitglieder des Direktoriums berufen: Joseph M. Bochenski, Hans Koch († 9.4.1959), Hans Joachim Lieber, Werner Markert, Gerhard von Mende († 16.12.1963), Werner Philipp, Georg von Rauch, Hans Raupach, Günter Stökl; Karl C. Thalheim. Das Direktorium kooptierte 1960 Boris Meissner, weiterhin bis 1963 Otto Schiller sowie Karl-Heinz Ruffmann (vgl. Maibaum [Anm. 63], S. 100 – 103.). Während die Gründungsmitglieder des Direktoriums vom BMI ernannt waren und insoweit auch dessen politische Interessen erkennen lassen, geben die Kooptierungen durch das Direktorium Aufschluss über dessen wissenschaftliche Grundhaltung. Dabei sind ausnahmslos unbelastete und liberale Persönlichkeiten ausgewählt worden, darunter in der Folgezeit u.a. Ernst Fraenkel, Hans-Adolf Jacobsen oder Peter Christian Ludz. Nicht einmal als Referent im OK berücksichtigt wurde der NS-belastete deutsch-baltische Osteuropahistoriker Reinhard Wittram (Göttingen), auch das Marburger Herder-Institut war im Direktorium nicht präsent. – Zur Ostforschung der NS-Zeit vgl. Werner Philipp, Nationalsozialismus und Ostwissenschaften, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 33 (1983), S. 286–303. Zur geschichtspolitischen Belastung der Ostforschung siehe auch Rüdiger Hohls/Konrad Jarausch, Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart/München 2000; Kai Arne Linnemann, Das Erbe der Ostforschung: Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, Marburg 2002, S. 9–33, zur Ostforschung insb. S. 16ff. Für die Nachkriegsentwicklung vgl. als instruktiven Überblick Jens Hacker, Osteuropa-Forschung in der Bundesrepublik, in: APuZ, B 37/60, S. 591–622. Wildenmann begann seine Karriere als Redakteur der "Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung" und wurde nach einer Tätigkeit im BMI wegen seiner Verwaltungskompetenz ausgewählt; er hatte keinen Bezug zur Kommunismusforschung. Wegen Gerhard von Mende ist der BZH, insb. von Gudrun Hentges (Anm. 15), ein nachwirkendes Erbe von NS-Gedankengut unterstellt worden. Geb. 1904 in Riga war Mende als Russlandforscher auf die "türko-tatarischen sowjetischen Völker" spezialisiert und hatte 1936 seine Schrift "Der nationale Kampf der Rußlandtürken. Ein Beitrag zur nationalen Frage in der Sowjetunion" publiziert. Sein Buch "Die Völker der Sowjetunion" (1939) enthält stark antisemitische Formulierungen. Im Juni 1941 wurde Mende im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete als Experte zunächst für den Kaukasus, später darüber hinaus für "Fremde Völker" tätig. Gleichzeitig wechselte er 1941 von der Posener an die Berliner Universität auf einen Lehrstuhl für Volks- und Landeskunde der Sowjetunion und wurde 1944 auf den "Lehrstuhl für Volkstumskunde des Ostraums" berufen (vgl. dazu Ingo Loose, Der Turkologe Gerhard von Mende, in: Rüdiger vom Bruch u.a. [Hg.], Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Stuttgart 2005, S. 62–67). Mende sah in den muslimischen Turkvölkern der SU eine Widerstandskraft gegen den Kommunismus, die sich während des Zweiten Weltkriegs in einem eigenen Sonderverband formierte (für die der spätere Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer verantwortlich war). Nach Kriegsende ist Mende kurzzeitig als Professor für Russlandkunde in Hamburg tätig, muss diese Funktion wegen seiner NS-Belastung aber schon bald verlassen. Er findet seit 1949 als Experte Kontakt zu antikommunistischen US-Organisationen, u.a. Radio Free Europe, Radio Liberty und CIA (vgl. Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln u.a. 2002, S. 317ff). Durch Unterstützung des Bundesvertriebenenministers Oberländer baut er Mitte der 1950er-Jahre zunächst ein "Büro für heimatvertriebene Ausländer" in Düsseldorf auf, aus dem 1956 die "Forschungsstelle Osteuropa" (ihre Berichte erscheinen unter dem Namen "Forschungsdienst") hervorgeht, die verschiedene Expertisen für Bonner Regierungsstellen erarbeitet. Offenbar aufgrund politischer Protektion durch Oberländer und BMI-Beamte wird Mende 1957 Mitglied im Direktorium nicht nur des Ostkollegs, sondern 1961 auch im neu gegründeten Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus, ohne jedoch in beiden Gremien jemals Leitungsfunktionen einzunehmen. Die Behauptung Looses (S. 66f, unter Berufung auf Hentges), Mende habe "eine zentrale Rolle als konzeptioneller Vordenker der Errichtung des in Köln ansässigen Ostkollegs" gespielt und "maßgeblichen Einfluss auf dessen Struktur und inhaltliche Ausrichtung" genommen, erweist die quellengestützte Rekonstruktion der Gründungsgeschichte und Frühphase des OK als haltlos. Mende publizierte dreimal bei der BZH (APuZ, B 16/60; Informationen zur politischen Bildung, Folgen 78/79 u. 91). Im OK hat Mende 1957–1959 häufiger als Referent von Studientagungen mitgewirkt, und zwar zu Wirtschaftsgeografie und Herrschaftssystem der Sowjetunion, nicht jedoch zu seinem aus der NS-Zeit belasteten Spezialgebiet, das er in der Forschungsstelle weiter betrieb. Die v. Vf. gesichteten Protokolle der Direktoriumssitzungen enthalten keine substanziellen Beiträge von Mendes zur Tätigkeit des OK. Stefan Meining, Eine Moschee in Deutschland. Nazis, Geheimdienste und der Aufstieg des politischen Islam im Westen, München 2011, S. 106. Diese Materialien sind offenbar nicht archiviert. Für die Überlassung von Kopien dankt d. Vf. seinem früheren Kollegen Horst Müller. Vgl. Rechenschaftsbericht des Ostkollegs […] für die Zeit vom 22. November 1957 bis 31. Dezember 1961, BArch B 168/723, zit.: Maibaum (Anm. 63), S. 94–99, Anh. 5. Das Folgende ebd. Das Faltblatt liegt d. Vf. in englischer Sprache vor. Werner Maibaum, gez. Rüdiger Thomas, Bericht über das internationale Kolloquium vom 14. bis 16.12.64, 27.1.1965. Die folgenden Zitate ebd. – Das gedruckte Tagungsprogramm liegt d. Vf. vor. Wiedergabe nach Maibaum/Thomas (Anm. 80). Die Argumentation folgt Joseph M. Bochenski, Der freie Mensch in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost, in: APuZ, B 23/63, S. 3–12. Hans Joachim Lieber, Erfahrungen über Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Aufklärung (unveröff., von Lieber für die Weitergabe autorisiertes Typoskript; im Besitz d. Vf.). "Während bei den jüngeren Teilnehmern ständig wachsend ein zunehmender Grad an Informiertheit über das Sowjetsystem zu beobachten ist, sind bei der älteren Generation oft nur solche Kenntnisse vorhanden, die einzelnen Tatbeständen des Sowjetsystems beigeordnet sind (etwa auf Grund von Erlebnissen aus der Kriegsgefangenschaft oder auf Grund einseitiger Lektüre). (…) Damit ist nicht nur ein Schwarz-Weiß-Denken gemeint, das nach dem Motto hier alles gut, dort alles schlecht verfährt und das zum Zweck einer Abwertung des Sowjetsystems die eigenen Lebensordnung unkritisch verklärt. Ein solches Schwarz-Weiß-Denken ist zunehmend im Schwinden begriffen, und zwar in dem gleichen Maße, in dem die Kenntnis über Wandlungsprozesse im Sowjetsystem der Nach-Stalin-Zeit zunimmt und in dem gleichen Maße auch, in dem die Wirklichkeit der eigenen Gesellschaft in ihrem Spannungsgefüge kritisch durchdacht wird." (Ebd., S. 2f). Hier trifft sich Liebers Konzept mit Neuansätzen, die Christina von Hodenberg seit den frühen 1960er-Jahren auch im westdeutschen Journalismus erkennt: "Dem Appell an den antikommunistischen Konsens stellte man das Bild einer Öffentlichkeit entgegen, in der Konflikt und Demokratie zum Tagesgeschäft gehörten." (Dies., Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit, in: Ulrich Herbert [Hg.], Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 304). Vgl. auch dies., Konsens und Krise: Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006. Der Heimatdienst, in: StadtRevue. Das Kölnmagazin 12/2002, Externer Link: http://www.stadtrevue.de/archiv/archivartikel/328-der-heimatdienst/ [15.5.2012]. Zu Mende erklärt Hentges: "Er nahm sowohl auf die konzeptionelle Ausrichtung des Ostkollegs als auch auf die personelle Besetzung der Dozentenstellen maßgeblichen Einfluss, entwickelte Seminarkonzeptionen und trat als Referent auf." Für die ersten beiden Einschätzungen lassen sich keine Belege finden (s.o., Anm. 75). Zusammenstellung über die "Bundeszentrale für Heimatdienst" mit dem "Ostkolleg", o.J. (1963), BStU, MfS, ZAIG 9895. Siehe auch K. Wohlgemuth, Die "Bundeszentrale für Heimatdienst" – Ein Instrument zur Propagierung der Bonner Kriegspolitik, in: Dokumentation der Zeit, 8/1961, S. 12–20. W. I. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 595.
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Rüdiger Thomas
"2014-01-08T00:00:00"
"2012-05-16T00:00:00"
"2014-01-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/136249/antikommunismus-zwischen-wissenschaft-und-politischer-bildung/
Eine inhaltsanalytisch orientierte Betrachtung zeigt, dass sich die Bundeszentrale für Heimatdienst (ab 1963: Bundeszentrale für politische Bildung) und das Ostkolleg schon in ihrem Gründungsjahrzehnt mit zielgruppenspezifischen Publikationen und Sem
[ "Antikommunismus", "Wissenschaft", "Politik", "Bundeszentrale für Heimatdienst", "deutsch-deutsche Geschichte", "Marxismus", "Marxismus-Leninismus", "Totalitarismus", "politische Kultur", "Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen", "Bundesinnenministerium", "Ostkolleg", "Flucht und Vertreibung", "BZH", "bpb", "BMG", "BMI", "Kommunismus", "Sowjetkommunismus", "Sozialdemokratie", "Deutschland", "Bundesrepublik Deutschland", "DDR", "SBZ", "Osteuropa", "Ostmitteleuropa", "Sowjetunion", "USA", "Großbritannien", "Bonn", "Berlin", "Köln" ]
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Editorial: Digitale Didaktik | Digitale Didaktik | bpb.de
Waghalsig, vielleicht missverständlich, dennoch gerechtfertigt Die Werkstatt der bpb bewegt sich auf dünnem Eis, indem sie einen Schwerpunkt mit dem Titel "digitale Didaktik" versieht. Debattenbeiträge wie die von Externer Link: Jöran Muuß-Merholz auf pb21.de oder Externer Link: Christoph Pallaske auf seinem Blog "Historisch denken | Geschichte machen" zeigen: Die Begrifflichkeit ist umstritten, weil sie viele Fragen aufwirft und widersprüchliche Assoziationen auslöst. Weil der inflationär gebrauchte Zusatz "digital" mehr verschleiert als erklärt. Weil das "(D)igitale" der "Didaktik" vorangestellt wird. Weil "Didaktik" den Blick auf die Lehrenden statt auf die Lernenden lenkt. Oder weil mit digitalen Technologien und Medien ganz unterschiedliche Didaktikkonzepte verfolgt werden können – innovative und überholte. Wir verwenden die Begrifflichkeit dennoch. Damit wollen wir keine "digitale Didaktik" begründen. Oder behaupten, dass es eine solche gibt oder eben nicht – das darf der Leser, die Leserin entscheiden. Warum dann der Titel "Digitale Didaktik"? Gerade die Kontroversität, mit der über "digitale Didaktik" geschrieben und gesprochen wird, möchte die Werkstatt nutzen, um verschiedene Stimmen sichtbar zu machen, die uns in unserer Arbeit immer wieder begegnen: befürwortende und fordernde ebenso wie widersprechende und ablehnende. Wo Gegenwind existiert, entbrennen Diskussionen, entsteht Raum für Austausch und neue Ideen. Aber nicht nur das rechtfertigt den Titel. Typisch für die öffentliche Wahrnehmung digitaler Lehr- und Lernszenarien sind Schlagzeilen wie diese aus dem Hamburger Abendblatt von 2013: "Körber-Gymnasium ist Hamburgs erste Tablet-Schule". Bei solchen Betrachtungen – der Rede von "Tablet-Schulen", "Laptop-Klassen" oder "Smartphone-Projekten" – liegt der Fokus oft auf der reinen Hardware. Lehr- und Lernkonzepte werden meist nicht berücksichtigt. Solch einer Engführung sei der Begriff "digitale Didaktik" noch einmal entgegengehalten. Denn er kann auch Jene, die nur durch die Technikbrille blicken, daran erinnern: Da gibt es noch etwas – die Frage nach der Didaktik. Nicht nachgeordnet, sondern als Hauptbestandteil einer Begrifflichkeit. Was wir uns und andere fragen Zentrale Fragen des Werkstatt-Schwerpunkts "Digitale Didaktik" sind daher: Was verstehen wir denn nun genau unter dem Begriff? Wie sieht eine "digitale Didaktik" aus, die den Ansprüchen an zeitgemäßes Lehren und Lernen gerecht wird und die Potenziale digitaler Technologien und Medien umfassend einbezieht? Was passiert, wenn digitale Technologien und Medien doch "den Ton angeben", am Anfang eines Bildungskonzepts stehen und dieses maßgeblich beeinflussen? Wie konzipieren Bildungspraktiker/-innen, die täglich neue(ste) digitale Technologien und Medien einsetzen, ihre Lehr- und Lernsettings und welche konkreten Anforderungen formulieren sie an eine "digitale Didaktik"? Was wissen wir über "Mehrwerte" digitaler Lehr- und Lernsettings? Und wie positioniert sich die historisch-politische Bildung zur Frage einer "digitalen Didaktik"? Antworten sucht die Werkstatt in Gesprächen mit Bildungspraktikerinnen und -praktikern sowie -expertinnen und -experten wie z.B. Externer Link: Herbert Jancke, Projektleiter "mobiles lernen-21" der Initiative n-21.de – Schulen in Niedersachsen oder in diesem "Externer Link: Tetralog" mit Lehrenden aus Bayern, Berlin, Hamburg und Sachsen. Darüber hinaus werfen wir einen Blick in die Niederlande und haken nach, wie Technologie und Didaktik an zwei so genannten "Tablet-Schulen" zusammen gedacht werden. Wir fragen Lernende, wie (digitale) Schulen zukünftig aussehen könnten und sollten, ob digitale Technologien und Medien hierbei überhaupt eine Rolle spielen und wie sich das didaktisch-methodische Setting verändern könnte. Wir schauen Bildnerinnen und Bildnern über die Schulter, wenn sie ein Lernsetting konzipieren und den Einsatz digitaler Technologien und Medien planen. Nicht zuletzt hakt werkstatt.bpb im "kleinen 3×3" (drei Fragen an drei Experten/Expertinnen) noch einmal bei (Fach-)Didaktikerinnen und Didaktikern nach: Inwiefern haben digitale Technologien und Medien einen Einfluss auf die (Weiter-) Entwicklung didaktischer Überlegungen und Konzepte? Und welche Ansätze einer "digitalen Didaktik" gibt es bereits? Unsere Auswahl für das "Warm-up" Die (übergeordnete) Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Digitalisierung beschäftigt werkstatt.bpb.de seit Projektstart. Exemplarisch gibt es hier zum Warmmachen für kommende Diskussionen eine Auswahl an bereits veröffentlichten Beiträgen: Externer Link: Von Mehrwert und Mehrarbeit Der Lehrer Richard Leinstein erläutert anhand seiner Erfahrungen am Platen-Gymnasium Ansbach, welche didaktischen Möglichkeiten interaktive Whiteboards bieten und wo sich Schwierigkeiten in der Umsetzung ergeben. Externer Link: Neues Lernen mit Medien Im Interview am Rande der Bildungsmesse didacta 2013 spricht werkstatt.bpb.de mit Stefan Aufenanger, Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik. Seine These: In deutschen Schulen kommen digitale Endgeräte auf Grundlage didaktischer Konzepte eher selten zum Einsatz. Externer Link: Digitale Medien: Das Bildungswesen in Abwehrstellung? Im Gespräch mit Prof. Dr. Sven Kommer, "Keine Bildung ohne Medien", über die schleppende Kontroverse um digitale Medien in Schulen, den medialen Habitus Lehrender und die Medienkompetenzförderung in Deutschland und seinen Nachbarländern. Externer Link: Historisch-geopolitisches Lernen mit Handy und Tablet Mediendidaktiker Ulf Kerber und Kulturwissenschaftler Christian Kleinhanß berichten in einem theoretischen und einem praktischen Teil über Stand und Möglichkeiten von mobile learning-Szenarien im Kontext der historisch-politischen Bildung. Externer Link: Geschichtsdidaktik digital Mit den Fragen, ob es eine digitale Geschichtsdidaktik gibt und was sie denn beinhalten könnte, setzt sich Dr. Christoph Pallaske, Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik am Historischen Institut der Universität zu Köln, auseinander. Externer Link: Das (fach-)didaktische Grundproblem des digitalen-mobilen Lernens Jan Schönfeld, Studienrat für die Fächer Politik-Wirtschaft und Geschichte sowie Lehrbeauftragter bei der AGORA Politische Bildung, Leibniz Universität Hannover, setzt sich im Nachklang des SpeedLab "Mobiles Lernen – Unabhängig von Zeit und Raum?" mit der Entwicklung einer neuen, den digitalen Medien angepassten Didaktik auseinander. Externer Link: "Neue Mehrwerte garantiert" Am Rande der didacta 2014 beantwortet der wissenschaftliche Leiter der Schweizer Projektschule Goldau, Prof. Dr. Beat Döbeli Honegger, Fragen zu digitalen Medien als Lernwerkzeugen, Anwendungsbeispielen für Grundschulen und historisch-politische Bildung sowie zur Bedeutung von Unterrichtssettings und Lehrperson.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2015-03-04T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/204756/editorial-digitale-didaktik/
Digitale Technologien und Medien allein bewirken im Bildungskontext nichts. Zugleich bergen sie enorme Potenziale. Können diese nur mit einer neuen "digitalen Didaktik" ausgeschöpft werden?
[ "Digitale Medien", "digitale Werkzeuge", "Lehrende", "Lernende", "Laptop", "Tablet", "Smartphone", "interaktives Whiteboard", "Medienkompetenz" ]
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Filmliste von Rabih El-Khoury | Interkulturelle Filmbildung | bpb.de
Interner Link: Filmliste von Rabih El-Khoury (PDF) Rabih El-Khoury (© privat) RABIH EL-KHOURY ist Kurator arabischer Filmprogramme für Festivals und Förderprogramme in Europa und der arabischen Welt, darunter die Beirut Cinema Days und das Arabische Filmfestival Berlin Alfilm. Er ist Jury-Mitglied des Film Prize der Robert-Bosch-Stiftung, Mitarbeiter des Kulturvereins Beirut DC zur Förderung des arabischen Films und Programm-Manager des Talents Beirut. Er ist Mitglied des Verwaltungsrates des Metropolis Art Cinema in Beirut, des einzigen Art-House Kino im Libanon. Seit 2019 ist er Diversity-Manager beim DFF-Deutsches Filminstitut & Filmmuseum. Er lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Rabihs Filmliste gibt einen aktuellen Überblick über zeitgenössische Filmemacher/-innen aus der "arabischen Welt“, die weder als uniformer Kulturkreis betrachtet werden, noch auf die stereotypen Themen des Krieges oder der "Islamisierung“ beschränkt werden sollte. Dabei handelt es sich nicht um die nach cineastischen Gesichtspunkten "besten Filme“ des arabischen Kinos, sondern um die für den Kontext der Diversität am relevantesten. Mehr als die Hälfte der Titel sind Debutfilme und sie vereint ihre thematische Verortung in den Begegnungen und Konflikten des "Dazwischen“: interkulturell, intergenerationell, interpersonell. Alle Filme liegen mit deutschen oder englischen Untertiteln vor. Coma (SYR/LBN 2015, R: Sara Fattahi, 96 Min.) Großmutter, Mutter und die filmende Enkelin in einer äußerlich noch heilen Wohnung in Damaskus, wo sich der Krieg längst tief in die Seelen der Bewohnerinnen eingesenkt hat. Kaffeetrinken, Rauchen, Beten, endlose Soaps und Lageberichte im TV: Dem inneren Belagerungszustand begegnet die Kamera mit einer delikaten, intimen Poetik der Ermattung, jäh unterbrochen von heftigen, wie aus dem Unbewussten heraufdrängenden Schnittfolgen – ein ästhetisches Aufbegehren der Jüngeren gegen den sie umgebenden Dämmerzustand. Das Gesicht der Mutter wie versteinert, und doch glaubt man ihr, wenn sie sagt, in ihrem eigenen Haus, dem zerbombten, habe sie sich wie eine Königin gefühlt. Quelle: Externer Link: https://www.viennale.at/de/film/coma Ein sehr ehrlicher, mutiger und persönlicher Film, der seinem Publikum einiges abverlangt und kein "Einstiegsfilm“ zum arabischen Kino sein sollte. Drei Frauen, drei Generationen, eingeschlossen in ein Haus in Damaskus. Durch den Lockdown der Corona-Krise ist dieses Setting fast nachvollziehbar – man füge hier jedoch Krieg, Bombenhagel und völlige Abgeschlossenheit von der Außenwelt hinzu. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch Last Visit (Akher Ziyarah) (SA 2019, R: Abdulmohsen Aldhabaan, 76 Min.) Nasser befindet sich gerade auf dem Weg zu einer Hochzeit, als er erfährt, dass sein Vater im Sterben liegt. Kurzerhand ändert er seine Pläne und macht sich mit seinem pubertären Sohn Waleed auf in das Dorf, wo sein Vater lebt. Auf ihrem Weg begegnen sie vielen Menschen und im Verlauf der Reise verändert sich auch ihr Verhältnis zueinander. Quelle: Externer Link: https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/last-visit-2019 Ein junger Filmemacher aus Saudi-Arabien berichtet in seinem ausschließlich mit männlichen Darstellern besetzten Debutfilm von Patriarchat und Tradition, und von den Herausforderungen der neuen Generation. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch My English Cousin (CH/QAT/ALG 2019, R: Karim Sayad, 82 Min.) 2001 erreicht Fahed das Vereinigte Königreich, den Kopf voller Träume. 2018, angesichts einer Midlife-Krise, muss er nun eine Entscheidung treffen. Wird er sich weiterhin beugen, und 50 Stunden lang zwischen dem Dönerladen und der Fabrik arbeiten, oder wird er nach Algerien zurückkehren, einem Land, aus dem er in der Hoffnung geflohen ist, sich ein besseres Leben zu ermöglichen? Quelle: Externer Link: https://www.swissfilms.ch/de/film_search/filmdetails/-/id_film/D9EB9CD85AAA4C3997C762B4B5D218A2 Was ist Heimat? Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Als nach England emigrierter Algerier fühlt sich der Protagonist nicht als Brite, aber zurück in Algerien auch nicht mehr algerisch. Ein sensibler Dokumentarfilm, der es schafft, ohne Schuldzuweisungen auszukommen. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch, Englisch Omar Gatlato (ALG 1976, R: Merzak Allouce, 90 Min.) Omar ist ein junger, lebhafter Algerier mit einem guten Job, der in einer überfüllten Wohnung mit seinen Schwestern, seiner Mutter und den Großeltern lebt. Er liebt es arabische und indische Musik zu hören, mit seinen Freunden zu feiern und von Frauen zu träumen. Ein Freund von ihm gibt ihm eine Kassette; als er sie anhört, ist er von der Stimme der Frau fasziniert. Derselbe Freund arrangiert für ihn ein Treffen mit dieser Frau, die völlig anders ist als er sich vorgestellt hat, als er ihre Stimme gehört hat. Quelle: Externer Link: https://www.film.at/omar-gatlato Ein Klassiker des arabischen Kinos, dessen Titel wortwörtlich übersetzt bedeutet "Omar wurde von seiner Männlichkeit getötet“. Ein Film, der große Konzepte hinterfragt, und dabei ein erstaunlich offenes Algerien der 70er Jahre vorstellt. Die Welt hat sich verändert, doch die Leute darin sind die Gleichen geblieben. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Französisch, Arabisch Room for a Man (LBN/USA 2017, R: Anthony Chidiac, 77 Min.) Ein junger libanesischer Filmemacher, der in Beirut eine Wohnung mit Mutter und Hund teilt, lotet die eigene Identität neu aus, indem er sein Schlafzimmer renovieren lässt. Während die Bauarbeiter kommen und gehen, muss sich die konfliktträchtige Wohngemeinschaft neuen Fragen und alten Streitigkeiten stellen – und dabei kommt es zu unerwarteten Gefühlsausbrüchen. Quelle: Externer Link: https://www.boell.de/sites/default/files/web_181115_18_arab_film_week_v100.pdf Männlichkeit, Vaterlosigkeit, Generationenkonflikte und Homosexualität – in diesem Film geht es um Widersprüche. Er ist ein Beispiel dafür, wie sich junge, arabische Filmemacher/innen über das Medium Film ihren Gefühlen öffnen. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch, Französisch, Spanisch Talking about Trees (SD/F/D/QAT/TD 2019, R: Suhaib Gasmelbari, 93 Min.) Suliman und drei weitere Mitglieder des 'Sudanesischen Filmclubs' haben sich vorgenommen, ein altes Kino wiederzubeleben. Sie eint nicht nur ihre Liebe zum Kino und der leidenschaftliche Wunsch, alte Filmbestände zu restaurieren und der sudanesischen Filmgeschichte neue Aufmerksamkeit zu verschaffen, sondern auch die Tatsache, dass sie alle im Exil eine Filmausbildung genossen haben. Unermüdlich versuchen sie, die Kinobesitzer auf ihre Seite zu bekommen und das Kino bespielbar zu machen, kämpfen dabei aber immer wieder gegen Widerstände. Zwischendurch sitzen sie zusammen und reden über die Vergangenheit, über Verfolgung als oppositionelle Künstler und über Folter, lesen sich alte Briefe aus dem Exil vor und träumen von einem Sudan, in dem die Kunst und das Denken frei sein können. Quelle: Externer Link: https://www.filmportal.de/film/talking-about-trees_746892e438c24a51a3a3b304cd605fd5 Ein warmherziges Porträt des Sudan. In einem Land, in dem die meisten jungen Leute kein Kino mehr kennen, feiert dieser Dokumentarfilm dessen Wiedergeburt. Durch den 2019 errungenen "Panorama Audience Award“ der Berlinale wird deutlich, dass auch arabische Filme in Deutschland ihr Publikum finden. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch, Englisch, Russisch Wajib (PAL/F/D/QAT/AE/KOL/NOR 2017, R: Annemarie Jacir, 96 Min.) Architekt Shadi ist nicht gerade begeistert, dass er nach Jahren in Rom wieder in seine Heimatstadt Nazareth zurückkehren muss – die palästinensische Tradition jedoch zwingt ihn dazu. Seine Schwester Amal wird heiraten und Shadi muss mit seinem Vater die Einladungen persönlich übergeben. Abu Shadi, ein geschiedener Lehrer Mitte sechzig, wird nach der Hochzeit allein leben. Gemeinsam fahren die beiden Männer durch die Straßen Nazareths und stellen fest: Ihre grundverschiedenen Lebensweisen sorgen für größere Spannungen als gedacht. Quelle: Externer Link: https://www.programmkino.de/filme/wajib/ Ein Film über einen Generationenkonflikt: ein Film, der gleichzeitig hoch politisch und zutiefst menschlich ist, gespielt von einem palästinensischen Vater-Sohn-Schauspieler-Gespann. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch We are from there (LBN/F 2020, R: Wissam Tanios, 82 Min.) Jamil und Milad sind Brüder mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten. Jamil ist ein zupackender Zimmermann, der in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Milad ist ein feinsinniger Trompeter und Träumer. Da ihr Heimatland Syrien weiter im Krieg versinkt, emigriert Jamil zunächst nach Beirut und macht dann eine illegale Reise nach Schweden. Milad bleibt in Damaskus, hält es aber irgendwann nicht mehr aus und beschließt, nach Berlin auszureisen. Ihr Cousin Wissam hält ihre Reise über fünf Jahre lang fest, weckt Kindheitserinnerungen und hinterfragt die wahre Bedeutung von Heimat. Quelle: Externer Link: https://iffr.com/en/2020/films/we-are-from-there (Übersetzung durch das DFF) Ein Film darüber, was es bedeutet, sein Land und die geliebten Menschen zu verlassen, unter fremden Menschen ein neues Leben zu beginnen und sich in einer unbekannten Sprache eine Karriere aufzubauen. Dabei zeigt sich ein in den Medien stark vernachlässigter Typ Mensch: der beruflich erfolgreiche Flüchtling. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: keine Angabe Originalsprachen: Arabisch Yomeddine (EGY/Ö/USA 2018, R: A.B. Shawky, 97 Min.) Auch wenn Beshkay mittlerweile geheilt ist: Gesicht und Hände sind deutlich von der Lepra gezeichnet, an der er als Kind erkrankte. Das macht ihn in Ägypten zum stigmatisierten Aussätzigen, weshalb er schon seit drei Jahrzehnten in einer abgelegenen Leprakolonie lebt. Doch als seine Frau stirbt, beschließt er herauszufinden, wo er eigentlich herkommt. Gemeinsam mit dem Waisenjungen Obama macht er sich auf die Suche nach seiner Herkunft – eine Reise, die die beiden Außenseiter vor große Herausforderungen stellt. Quelle: Externer Link: http://afrikafilmfestivalkoeln.de/programm-2019/yomeddine/ Eine Metapher für den Umgang mit allem, was der Mehrheitsgesellschaft fremd ist: Minderheiten, Fremde, Behinderung, Krankheit. Ein leichter, warmherziger und bewegender Film, der ermutigt, den ersten Schritt zu tun und Unsicherheiten auszusprechen. Durch den jugendlichen Hauptdarsteller für ein junges Publikum ab 12 Jahren geeignet. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 12 Jahren Originalsprachen: Arabisch Zaineb hates the Snow (F/LBN/QAT/TUN/AE 2016, R: Kaouther Ben Hania, 94 Min.) Zaineb wächst in Tunesien ohne ihren Vater auf. Als ihre Mutter einen Mann aus Kanada kennenlernt, ziehen sie gemeinsam auf den fremden Kontinent. Hier sieht Zaineb mit neun Jahren zum ersten Mal den Schnee. Doch sie möchte nichts mit dieser neuen Welt, weit entfernt von der nordafrikanischen Heimat, zu tun haben. Und so beschließt Zaineb, den Schnee zu hassen. Der Dokumentarfilm begleitet das tunesische Mädchen sechs Jahre lang dabei, wie sie sich mit ihrem neuen Zuhause arrangiert. Quelle: Externer Link: https://www.filmfesthamburg.de/de/programm/Film/29563/Zaineb_Takrahou_Ethelj Ein Film zwischen Tunesien und Kanada, zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, zwischen konservativer Erziehung und offener Gesellschaft, zwischen Integration und Rebellion – erzählt aus der Sicht der jungen Protagonistin. Ein Einblick in Zainebs Leben auf zwei Kontinenten für Kinder ab 10 Jahren. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 10 Jahren Gesprochene Sprachen: Arabisch, Französisch Rabih El-Khoury (© privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2021-03-11T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/328414/filmliste-von-rabih-el-khoury/
Die Filmliste gibt einen Überblick über Filmemacher/-innen aus der „arabischen Welt“, die weder als uniformer Kulturkreis betrachtet, noch auf die stereotypen Themen beschränkt werden sollten.
[ "Interkulturelle Filmbildung", "Film", "Interkultur", "Filmbildung", "Filmvermittlung" ]
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Zwischen Stigmatisierung und Differenzierung | Krankheit und Gesellschaft | bpb.de
Die Darstellung von Krankheiten in Spielfilmen und Fernsehserien kann auf vielfältige Art und Weise erfolgen, zum Beispiel in Form einer mit HIV infizierten Figur in Filmen wie "Philadelphia" (USA 1993) und "Dallas Buyers Club" (USA 2013) oder eines an Krebs erkrankten Patienten in Krankenhausserien wie "Grey’s Anatomy" (USA 2005–) und "Club der roten Bänder" (Deutschland 2015–2017). Krankheit kann aber auch in Form des psychopathischen Gewalttäters und Mörders in Filmen wie "Psycho" (USA 1960) oder Fernsehserien wie "Bates Motel" (USA 2013–2017) dargestellt werden und sogar in Gestalt von durch Viren veränderten Untoten in Filmen wie "28 Days Later" (Großbritannien 2002) oder Serien wie "The Walking Dead" (USA 2010–). Dabei steht, anders als bei Dokumentationen, eine realitätsnahe Darstellung eher selten unmittelbar im Vordergrund. Spielfilme und Fernsehserien bieten vielmehr metaphorische Symbolisierungen, die bisweilen auch höchst problematische Implikationen aufweisen. Im Filmlexikon der Universität Kiel etwa heißt es, dass "die Inszenierung der Krankheit immer davon abhängig [ist], wie tabuisiert der Diskurs über Krankheit(en) – insbesondere deren visuelle Darstellung – zur Produktionszeit eines jeweiligen Films ist". Nicht selten führe dies zu stereotypisierten Überzeichnungen, für die Krankheiten als Basis klischeebeladener Zuschreibungen verwendet werden. So diene zum Beispiel die Inszenierung von sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV/Aids oft "zu schlüpfrigen oder klischeebeladenen Thematisierungen von (Homo-)Sexualität [oder] zur Vermittlung bürgerlicher Sexualmoral und Hygienevorstellungen". Die Frage nach der Rolle fiktionaler audiovisueller Erzählungen ist dabei insofern interessant, als Filme und Fernsehserien durch die Bilder von Kranken und ihr Erzählverläufe die öffentliche Diskussion beeinflussen. Daran anschließend ist nicht zu Unrecht eine oft negative, zu simplifizierende Darstellung kritisiert worden. Spielfilme und Fernsehserien sind als Teil eines kollektiven kulturellen Kommunikationsprozesses vorrangig emotional und unterhaltend. Sie vermögen bei ihrem Publikum bestimmte affektiv-kognitive Zustände (wie etwa Vergnügen oder Trauer) hervorzurufen sowie gerade bei komplexen Unterhaltungsangeboten jenseits hedonistischer Aspekte auch eine emotional-bewegende, nachdenklichere Medienrezeption zu zeitigen. In diesem Sinne können sie aufseiten der Zuschauenden ein (populär)kulturelles Wissen über ein Thema schaffen beziehungsweise eine gewisse Haltung zu einem Thema beeinflussen. Um dies genauer auszuführen, wird im Folgenden zunächst der kulturelle Bedeutungsrahmen reflektiert, in dem Spielfilme und Fernsehserien Krankheiten verhandeln. Daran anschließend werden innerhalb der Rezeptions- und Wirkungsdiskurse die damit verbundenen Medieneffekte wie vor allem Stigmatisierung und Diskriminierung, aber auch Komplexität und Differenzierung diskutiert. Als Beispiel dienen dabei vornehmlich die populärkulturellen Repräsentationen von psychischen Krankheiten. Krankheit und Populärkultur Der Inszenierung psychischer Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen wird seit der Erfindung des Kinos kontinuierlich eine große Aufmerksamkeit zuteil. Im Fokus stehen Depressionen, Panikattacken, Angst- und Wahnzustände, Halluzinationen, Störung der Wahrnehmung, der Erinnerung, des Gefühls- und Gemütszustandes. Frühe Filme wie "Das Cabinet des Dr. Caligari" (Deutschland 1920), vor allem aber jüngere Erzählungen wie "Adaption" ("Adaption – Der Orchideen-Dieb", USA 2002), "Hedi Schneider steckt fest" (Deutschland 2015), "Donnie Darko" (USA 2001) oder "Requiem for a Dream" (USA 2000), aber auch TV-Serien wie "The Sopranos" (USA 1999–2007) oder die crossmediale Fernsehproduktion "About:Kate" (Deutschland/Frankreich 2013) widmen sich den Konflikten und Differenzen im Spannungsverhältnis zwischen individueller Situation und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zwischen Subjekt (Körper, Geist, Persönlichkeit) und Sozialem, zwischen Ursachen und Bewältigungsstrategien, zwischen Selbsttechnologien, aber auch Formen der Fremdführung. Spielfilme und TV-Serien entfalten ihr Bedeutungspotenzial in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen und Herausforderungen, ihre ästhetische Inszenierungsweise bleibt dabei jedoch unterhaltungsspezifisch. Ausprägungen symbolischer Ordnungen, unterschiedliche Handlungen und Aussagen (von Akteuren), in denen sich bestimmte Selbst-, Welt- und Menschenbilder sowie individuelle als auch kollektive Wahrnehmungsweisen widerspiegeln, werden narrativ verfasst und sind auf diese Weise Teil eines populärkulturellen Interpretations- und Aushandlungsprozesses. Mit ihren präsentierten Figuren, erzählten Welten, zentralen Konflikten etc. bieten Spielfilme und TV-Serien somit unterschiedliche Erklärungsansätze (und möglichweise auch Bewältigungsformen) mit Blick auf verschiedene gesellschaftliche Themenbereiche an, die nun von Zuschauenden unterschiedlich wahrgenommen, inhaltlich dekodiert und angenommen werden können. Bisweilen können bestimmte Filmreihen, vor allem aber Fernsehserien für ihre Fans auch Anteil an der Beeinflussung des individuellen Denkens und Handelns nach den populärkulturell verfertigten Werte- und Normensystemen haben; hier sind parasoziale Interaktionen und Beziehungsgeflechte zwischen medialen Figuren und Zuschauenden in der Regel besonders stark ausgeprägt. Audiovisuelle Erzählungen befördern infolge der medialen Inszenierung zumeist einen "externalisierte[n] Blick" auf Krankheiten und leisten somit auch einer vornehmlich von außen nachvollziehbaren "Interpretation dessen [Vorschub], was mit einem Individuum, einer Gesellschaft und beiderlei Interaktionen im Krankheitsfalle geschieht". Allerdings hat der Medienwissenschaftler Jens Eder – unter anderem zur Untersuchung von Depression in Spielfilmen – herausgestellt, dass audiovisuelle Erzählungen auf unterschiedliche Art die Gefühle von Zuschauenden durch subjektivierende Verfahren beeinflussen. Diesbezüglich versteht Eder Spielfilme wie auch TV-Serien als "Qualia-Maschinen", insofern sie "Zuschauer dazu bringen [können], die dargestellte Welt teilweise aus einer Figurenperspektive mitzuerleben". Darüber hinaus bewirkt die emotional-kognitive Verarbeitung des Gezeigten und Erzählten, dass sich Zuschauer und Zuschauerinnen nachhaltig mit den Medieninhalten beschäftigten, sie beurteilen und wertschätzen. So betrachtet, stellen Spielfilme und Fernsehserien kulturelle Wissensressourcen dar, indem sie das Erkennen und Verstehen auch von Krankheiten beeinflussen können. Ihnen ist "eine Verfremdung spezialdiskursiver Komponenten [das heißt aus dem Diskursbereich der Wissenschaft] sowie deren Anbindung an alltagsnahe, mediale oder cineastisch relevante Diskurse aus ästhetischen Gründen bereits inhärent". Dabei operieren populärkulturelle Erzählungen im Zuge symbolischer Aufladungen jedoch in der Regel mit "normativen" Wertungszuschreibungen, die sowohl stigmatisierende wie auch differenzierende Effekte, das heißt ein Spektrum an Kommunikations- und Interpretationsweisen in der öffentlichen Auseinandersetzung, hervorrufen. Medieneffekte Das Sprichwort "madness is as madness looks" (deutsch "Wahnsinn ist, was nach Wahnsinn aussieht") legt, wie der Medien- und Kulturwissenschaftler Simon Cross schreibt, in der kulturellen Auslegung von psychischer Krankheit nicht selten eine angsteinflößende Distanzhaltung nahe. In medialen Darstellungen wird dies vielfach stereotyp aufgegriffen und populärkulturell verfestigt – insbesondere dadurch, dass psychische Krankheit und gewalttätiger, zerstörerischer Wahnsinn miteinander verknüpft werden. Dies ist im Motiv des psychisch gestörten Mörders in Filmen wie "Psycho" (USA 1960) oder "The Silence of the Lambs" ("Das Schweigen der Lämmer", USA 1991) der Fall, aber auch in "Profiler"-Fernsehserien wie "Criminal Minds" (USA 2005–) oder "Mindhunter" (USA 2017–). Dagegen finden sich ebenso fiktionale Erzählungen, die psychische Erkrankungen jenseits solch bedrohlicher und vor allem angstbesetzter Inszenierungsmuster verhandeln. Filme wie "Still Alice" ("Still Alice – Mein Leben ohne Gestern", USA 2014), der den Umgang einer Linguistin mit ihrer Alzheimererkrankung erzählt, oder auch "Angel Baby" (Australien 1995), der die Geschichte zweier an Schizophrenie erkrankter Personen präsentiert, widmen sich dem Thema auf komplexere Art und Weise. Auch Serien wie "ER" ("Emergency Room", USA 1994–2009), "Grey’s Anatomy" und auch "Club der roten Bänder" verfolgen auf jeweils eigene Art eine differenziertere Auseinandersetzung mit unterschiedlichen, auch psychischen Krankheiten. Neben dem Kriterium der "Genauigkeit" in der Darstellung gilt es jedoch, noch weitere Aspekte hinsichtlich Komplexität und Differenzierung zu reflektieren. Stigmatisierung und Diskriminierung Inszenierungen, die Wahnsinn und Gewalttätigkeit beziehungsweise Gefährlichkeit miteinander verknüpfen, zeichnen sich durch eine jahrzehntelange populärkulturelle Beständigkeit aus. Trotzdem sollte man sich auch ihren Entwicklungs- und Veränderungsprozess vergegenwärtigen, um zeitgenössische Darstellungen in einem medialen und gesellschaftlichen Referenzrahmen betrachten zu können. Das gilt besonders für die Auseinandersetzung mit entsprechenden Rezeptions- und Wirkungsdiskursen bezüglich stigmatisierender Medieneffekte. Für psychische Krankheiten etwa gibt es eine ganze Reihe negativer medialer Darstellungsmuster: Psychisch Kranke werden in großer Häufigkeit als gefährlich, unberechenbar, unsozial, aggressiv und beruflich wenig erfolgreich dargestellt. In der medialen Inszenierung wird ein Erkrankter dabei in erster Linie über ein Krankheitsbild definiert und erst anschließend als Individuum. Diese Inszenierungen sind übertrieben in ihrer Simplifizierung und somit ungeeignet für eine umfänglichere Beschreibung psychischer Erkrankungen. Gesundheitswissenschaftler verweisen in diesem Zusammenhang auf potenzielle Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls, des Umgangs mit Medikamenten und der Genesung insgesamt von Erkrankten. Auf der anderen Seite wirft der Medienwissenschaftler Stephen Harper dem medienkritischen Diskurs vor, die stigmatisierenden Effekte populärkultureller Erzählungen zu negativ-generalisierend zu betrachten. Er plädiert stattdessen für eine differenziertere Analyse medialer Texte unter Beachtung der spezifischen Komplexität medialer Formen, den genrespezifischen Eigenschaften und somit auch den unterschiedlichen Bedeutungsebenen gerade fiktionaler Erzählmuster. So verwendet er "madness" beispielsweise als funktionalen Begriff, dem nicht nur ausschließlich im Sinne medizinisch-psychiatrischer Dimensionen Bedeutung zukommt, sondern auch in diversen metaphorisch aufgeladenen Zusammenhängen eine Wertung, etwa als Symbol für soziale Entfremdung und politischen Widerstand, zugeschrieben werden kann. In Filmen wie "Donnie Darko" zeige sich "Wahnsinn" so gesehen als symbolische Chiffre für eine gesellschaftliche Zurichtung von anti-sozialem Verhalten, die eine psychiatrische Klassifizierung übersteige. Komplexität und Differenzierung In ihrer vielfach beachteten Publikation "Movies and Mental Illness" verweisen auch Danny Wedding und Ryan M. Niemiec auf den kritischen Diskurs zu Filmen, die eindimensionale stereotype und dabei zumeist negativ besetzte Bilder entwerfen und so zu einer Stigmatisierung beitragen. Daneben aber gebe es ebenfalls eine große Anzahl an Filmen, die differenziertere Geschichten erzählen, komplexe Handlungen entwerfen und auf diese Weise produktive, erkenntnisreiche Kulturerzeugnisse darstellten wie zum Beispiel die Filme "Silver Linings Playbook" ("Silver Linings", USA 2012) rund um eine Hauptfigur mit bipolarer Störung oder "Michael Clayton" (USA 2007). Trotzdem muss eine ausgewogene Darstellung eben nicht immer auch einer Stigmatisierung entgegenwirken. So wurde der Film "Angel Baby" dafür gelobt, im Sinne einer kulturellen Wissensvermittlung eine weitestgehend akkurate und differenzierte Inszenierung der Krankheitsschübe von an Schizophrenie erkrankten Personen darzustellen. Gleichzeitig aber hat eine Rezeptions- und Wirkungsstudie zu diesem Film gezeigt, dass er gerade aus diesem Grund Irritationen bei den Testpersonen hervorgerufen habe und somit infolge einer möglichst akkuraten Darstellung stigmatisierend wirken kann. Folglich ist für eine kulturelle Wissensvermittlung durch Spielfilme jenseits stigmatisierender Effekte eine Genauigkeit von Krankheitsdarstellungen mit dem erzählerischen Bedeutungspotenzial fiktionaler Erzählungen auszubalancieren, um den Zuschauenden ein differenzierteres Bild nahezubringen. Ein ähnlich komplexes Bild ergibt sich für das Wissen und die Einschätzungen von Testpersonen bezüglich Schizophrenie, Zwangsstörungen und Depressionen. In einer Untersuchung, in der Testpersonen beurteilen sollten, ob Erkrankte stärker zu Gewalttätigkeit neigen, zeigte sich, dass es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Medienkonsum der Testpersonen und ihren Beurteilungen gab. Zugleich zeigt die Studie, dass bei einer differenzierten Inszenierung – sowohl in dokumentarischen wie auch in fiktionalen Erzählungen – Zuschauende Wissen aus audiovisuellen Erzählungen ziehen können. Der "Lernerfolg" hängt dabei vor allem von der Bereitschaft der Testpersonen ab, sich intensiver mit dem Gesehenen zu befassen, das heißt sich auf eine höhere kognitive Anstrengung einzulassen. Differenziertere Inszenierungen von Krankheiten können also auch in fiktionalen Medien kulturelles Wissen vermitteln, sofern das Material eine gesteigerte kognitive Auseinandersetzung auf Seiten der Zuschauenden zu bewirken vermag. Im Bereich der Serienerzählungen des Fernsehens sind in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten vergleichbar differenziertere Geschichten auch über Krankheiten und die damit verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen entstanden. Im Zuge dessen, was als sogenanntes Qualitätsfernsehen diskutiert und in der Forschung mittlerweile fundierter als "komplexes Erzählen" konzeptualisiert wird, sind narrativ stärker verdichtete und diegetisch herausfordernde Erzählungen entstanden, die das Vergnügen aufseiten der Zuschauenden mit einem "kognitiven Workout" verbinden. Die US-amerikanische Serie "ER" beispielsweise ist in diesem Zusammenhang für ihre mehr oder weniger realistische Art der Darstellung gelobt worden, da sie sich zumindest von tradierten Klischeebildern einer Krankenhausserie abgrenze. "ER" setzte sich aber nicht nur mit einer Reihe auch kontroverser Themen wie HIV/Aids und Organhandel auseinander, sondern thematisierte auch psychische Erkrankungen wie beispielsweise bipolare affektive Störungen, ohne aber die Krankheit als prinzipiell destruktiv zu stigmatisieren. Auch Serien wie "Grey’s Anatomy" und "Club der roten Bänder" setzen auf eine differenziertere Erzähl- und Darstellungsweise. Gerade letztere zeigt jugendliche Figuren, denen infolge einer Krebserkrankung Gliedmaßen amputiert werden müssen, die Rückschläge durch erneut gestreuten Krebs auszuhalten haben, die an Magersucht erkrankt sind, mit Ängsten zu kämpfen haben oder Merkmale autistischer Störungen aufweisen. Dennoch werden sie als lebensbejahend dargestellt, die trotz ihrer schweren und zum Teil auch unheilbaren Erkrankungen soziale und intime Beziehungen eingehen wollen; das heißt Krankheiten – hier im Spannungsfeld von physischen wie psychischen Leiden, Formen der Bewältigung und der sozialen Einbindung in Strukturen von Gemeinschaftlichkeit – werden nicht grundlegend als bedrückend oder desillusionierend dargestellt. Stattdessen stehen die individuellen als auch und gerade die sozialen, gemeinschaftlichen Herausforderungen im Umgang damit im Vordergrund. Zuschauende wiederum sind hier mit Geschichten konfrontiert, die keine eindimensionale Rezeption provozieren, sondern kognitiv-emotional nachhaltig herausfordern. Solcherart Krankenhausserien wird in diesem Zusammenhang ein "ethnografischer Wert" zugeschrieben, da sie eine kulturelle Übersetzungsleistung vollziehen zwischen Alltagskultur und medialer Inszenierung in Hinblick auf die Darstellung und Aushandlung von Gesundheit, Krankheit und Behandlung. Fazit Populärkulturelle Inszenierungen von Krankheit können durch ihre Darstellungs- und Erzählmuster zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Krankheit beitragen. Rezeptions- und Wirkungsstudien haben jedoch gezeigt, dass eine vermeintlich stärker realitätsorientierte Darstellung nicht immer ausreichend ist, um eine Stigmatisierung durch die mediale Inszenierung zu verhindern. Stattdessen müssen die Zuschauenden während ihres Rezeptionsprozesses von einem "Unterhaltungsmodus" zu einem "Lernmodus" wechseln. Eine solche intensivere kognitive Verarbeitung beinhaltet bei komplexen Darstellungsformen, wie es Filme und Fernsehserien sind, auch erzählerische, kontextualisierende und differenzierende Aspekte eben auch unter Rückgriff auf und Berücksichtigung von dramaturgischen und Genre-Mustern. Für einen ersten Eindruck vgl. etwa den Themenindex in Jens Eder/Ludger Kaczmarek/Hans J. Wulff, Medienwissenschaft: Berichte und Papiere, 2.2.2018, Externer Link: http://berichte.derwulff.de/index.pdf. Philipp Brunner/Caroline Amann, Krankheit im Film, 30.12.2011, Externer Link: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=7256. Ebd. Vgl. u.a. Peter Vorderer/Christoph Klimmt/Ute Ritterfeld, Enjoyment. At the Heart of Media Entertainment, in: Communication Theory 4/2004, S. 388–408; Dohyun Ahn/Seung-A Annie Jin/Ute Ritterfeld, "Sad Movies Don’t Always Make Me Cry". The Cognitive and Affective Processes Underpinning Enjoyment of Tragedy, in: Journal of Media Psychology 1/2012, S. 9–18; Mary Beth Oliver/Anne Bartsch, Appreciation as Audience Response. Exploring Entertainment Gratifications Beyond Hedonism, in: Human Communication Research 1/2010, S. 53–81. An anderer Stelle (und anhand eines anderen Beispiels) habe ich dies auch als politisierendes Potenzial fiktionaler Erzählungen beschrieben. Vgl. Sven Stollfuß, Cyborg-TV. Genetik und Kybernetik in Fernsehserien, Wiesbaden 2017, hier S. 109ff. Vgl. Markus Fellner, Psycho Movie. Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm, Bielefeld 2006. Vgl. Jens Eder/Joseph Imorde/Maike Sarah Reinerth, Zur Einleitung. Medialität und Menschenbild, in: dies. (Hrsg.), Medialität und Menschenbild, Berlin 2013, S. 1–42; Marcus S. Kleiner, Die Methodendebatte als blinder Fleck der Populär- und Popkulturforschungen, in: ders./Michael Rappe (Hrsg.), Methoden der Populärkulturforschung, Berlin-Münster 2012, S. 11–42, hier S. 21f. Vgl. u.a. Stuart Hall, Encoding/Decoding, in: ders. et al. (Hrsg.), Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, London 1980, S. 128–138. Vgl. John Fiske, The Cultural Economy of Fandom, in: Lisa A. Lewis (Hrsg.), The Adoring Audience. Fan Culture and Popular Media, London 1992, S. 30–49; Henry Jenkins, Textual Poachers. Television Fans and Participatory Culture, New York 1992. Zum Modell parasozialer Interaktionen und Beziehungen vgl. Christoph Klimmt/Tilo Hartmann/Holger Schramm, Parasocial Interactions and Relationships, in: Jennings Bryant/Peter Vorderer (Hrsg.), Psychology of Entertainment, Mahwah 2006, S. 291–314. Arno Görgen, Funktionale Störungen der Normalität. Krankheit in der Populärkultur, in: Sascha Bechmann (Hrsg.), Sprache und Medizin. Interdisziplinäre Beiträge zur medizinischen Sprache und Kommunikation, Berlin 2017, S. 215–238, hier S. 220. "Qualia" ist ein philosophischer Fachbegriff, der das phänomenale Bewusstsein beschreibt, also die besondere Qualität bewussten subjektiven Erlebens mentaler Zustände. Vgl. Jens Eder, Depressionsdarstellung und Zuschauergefühle im Film, in: Sandra Poppe (Hrsg.), Emotionen in Literatur und Film, Würzburg 2012, S. 219–245, S. 224. Vgl. Oliver/Bartsch (Anm. 4). Fellner (Anm. 6), S. 29. Simon Cross, Mediating Madness. Mental Distress and Cultural Representation, New York 2010, S. 129. Vgl. ebd., S. 34. Elaine M. Sieff, Media Frames of Mental Illnesses. The Potential Impact of Negative Frames, in: Journal of Mental Health 3/2003, S. 259–269, hier S. 260ff. Vgl. ebd. Vgl. Heather Stuart, Media Portrayal of Mental Illness and its Treatments, in: CNS Drugs 2/2006, S. 99–106; Greg Philo et al., The Impact of the Mass Media on Public Images of Mental Illness. Media Content and Audience Belief, in: Health Education Journal 3/1994, S. 271–281. Vgl. Stephen Harper, Media, Madness and Misrepresentation. Critical Reflections on Anti-Stigma Discourse, in: European Journal of Communication 4/2005, S. 460–483. Vgl. ebd., S. 479. Vgl. Danny Wedding/Ryan M. Niemiec, Movies and Mental Illness. Using Films to Understand Psychopathology, Boston 2014. Vgl. ebd., S. 2f.; Sieff (Anm. 18), S. 262. Vgl. Ute Ritterfeld/Seung-A Jing, Addressing Media Stigma for People Experiencing Mental Illness Using an Entertainment- Education Strategy, in: Journal of Health Psychology 2/2006, S. 247–267. Vgl. auch Ute Ritterfeld/Matthias R. Hastall/Alexander Röhm, Menschen mit Krankheit oder Behinderung in Film und Fernsehen. Stigmatisierung oder Sensibilisierung?, in: Zeitschrift für Inklusion 4/2014, Externer Link: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/248/239. Vgl. Joachim Kimmerle/Ulrike Cress, The Effects of TV and Film Exposure on Knowledge About and Attitudes Towards Mental Disorders, in: Journal of Community Psychology 8/2013, S. 931–943, hier S. 940. Vgl. ebd. Jason Mittell, Complex TV. The Poetics of Contemporary Television, New York 2015. Steven Johnson, Everything Bad Is Good for You: How Today’s Popular Culture is Actually Making Us Smarter, New York 2005, S. 14. Ritterfeld/Hastall/Röhm (Anm. 26); Josep M. Comelles/Serena Brigidi, Fictional Encounters and Real Engagements. The Representation of Medical Practice and Institutions in Medical TV Shows, in: Nova època 7/2014, S. 17–34; Robert J. Thompson, Television’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER, Syracuse 1997, S. 188f. Vgl. Comelles/Brigidi (Anm. 31), S. 28f. Vgl. Kimmerle/Cress (Anm. 27); Ritterfeld/Jing (Anm. 25). Vgl. hierzu auch die Argumentation von Harper (Anm. 21).
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, Sven Stollfuß
"2022-02-17T00:00:00"
"2018-06-06T00:00:00"
"2022-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270316/zwischen-stigmatisierung-und-differenzierung/
Wie werden Krankheiten medial abgebildet? In der Wirkungsforschung werden stigmatisierende Effekte festgestellt; durch eine komplexe, differenzierende Darstellung sind aber auch "Lerneffekte" beim Publikum möglich.
[ "psychische Erkrankungen", "Filme", "Fernsehserien" ]
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Von der Wissensvermittlung zur produktionsorientierten politischen Bildung | Politische Bildung in einer digitalen Welt | bpb.de
Jüngst habe ich einer Seminargruppe folgenden Auftrag gestellt: Die 15 Teilnehmenden sollten sich mit der Geschichte der DDR auseinandersetzen und die eigene Biografie mit Hilfe der Software Externer Link: TimelineJS neben einen Interner Link: Zeitstrahl der DDR legen. TimelineJS erstellt aus einer Exceldatei-Vorlage, in die Daten Zeile für Zeile eingetragen werden können, eine interaktive Zeitleiste. Die Chronik der DDR wurde von mir vorgegeben, die Stationen der eigenen Biografie wurden nun im Seminar hinzugefügt. Die Teilnehmenden setzten sich in kleinen Gruppen zusammen und ließen die Zeit an sich vorbeiziehen. Nach einer kurzen Einführung hatten die meisten Teilnehmenden schnell verstanden, wie die vorliegende Tabelle am Computer auszufüllen ist. Zwar waren nicht alle in der Lage, die Daten in den Laptop einzutragen, aber es gab in jeder Gruppe hilfsbereite Kolleg*innen. Die Untergruppen arbeiteten nahezu eigenständig. Nur zu Beginn musste ich einmal durch alle Gruppen gehen, um die Aufgabenstellung zu präzisieren und in dem ein oder anderen Fall den Umgang mit dem Laptop und der Tabelle erklären. Die Teilnehmenden halfen sich untereinander bei Fragen. Je länger die Untergruppen miteinander lernten, umso besser waren sie aufeinander eingespielt und kannten ihre Stärken und Schwächen. Guido Brombach (© DGB Bildungswerk BUND e.V.) Auf die Aufgabenstellung, das nahm ich am Ende aus der Übung mit, kommt es an: Der Abgleich der persönlichen Biografie mit der Chronik der DDR-Geschichte hat in der Reflexion aufzeigen können, wo politische Entscheidungen und das eigene Leben voneinander beeinflusst werden. Eine gemeinsame Zeitleiste zu erstellen, stellte viele Teilnehmende vor eine zunächst fast unlösbar scheinende Aufgabe. Da in jeder Gruppe unterschiedliche Stärken und Fähigkeiten zusammenkamen, konnten auch technisch weniger versierte Teilnehmende eine aktive Rolle bei der Erstellung der Biografien einnehmen, statt nur auf die Teilnehmenden zu verweisen, die gut genug mit dem Computer umgehen konnten. Wie dieses Beispiel zeigt, sind digitale Medien nicht nur ein Thema für Jugendliche, sondern auch für erwachsene Zielgruppen der politischen Bildung. Welche Voraussetzungen dabei beachtet werden sollten und wie politische Bildung und digitale Medien in der Erwachsenenbildung verknüpft werden können, soll im Folgenden diskutiert werden. Wie lernen Erwachsene? Erwachsene haben in den letzten zwanzig Jahren im Umgang mit Technik und digitalen Netzen die Meta-Kompetenz "Lernen lernen" erworben. Die Beschaffung von Informationen ist eine notwendige Voraussetzung, um zu lernen. In Zeiten, wo das Digitale allgegenwärtig ist, nutzen die einen Bildungs-Apps, die anderen wiederum soziale Netzwerke oder Kommunikationsplattformen wie WhatsApp, um sich mit Informationen zu versorgen. Wir alle haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um an die Informationen zu gelangen, die nötig sind, um die an uns gestellten Aufgaben zu lösen. Sei es die Reparatur der Fahrradgangschaltung, bei der ein YouTube-Tutorial hilft, oder die Auseinandersetzung mit der Rolle der Online-Plattformen im Daten-Kapitalismus auf Nachrichtenwebsites. Graham Attwell nennt das die Externer Link: "Personal Learning Environment" (engl. Persönliche Lernumgebung, kurz: PLE). Damit sind die spezifischen (analogen und digitalen) Lernräume und -medien gemeint, in denen Menschen gelernt haben zu lernen. Lernen bleibt in diesem Verständnis biografisch erlernt und verankert, allerdings geht das Konzept der PLE davon aus, dass Lernen heute fast immer technisch vermittelt geschieht, der Lernprozess also von Technik unterstützt wird. Sei es, dass wir ein Erklärvideo anschauen, mit Hilfe einer Suchmaschine nach Informationen recherchieren oder bei einem Podcast anderen Menschen beim Denken zuhören. Wiederum andere nutzen Notizen-Apps, um ihre eigene Wissensdatenbank aufzubauen. Lernen geschieht vor allen Dingen per Trial-and-Error: Was funktioniert, wird als erlernt abgespeichert. Oft gibt es nicht den einen richtigen Lösungsweg und häufig gibt es auch mehr als eine richtige Lösung. Erlerntes Wissen wird meist nur einmal in dieser speziellen Form benötigt. Deshalb verliert das Speichern von Wissen an Bedeutung zugunsten der Kompetenz, ständig neue und andere Informationen zu Wissen zu konstruieren und dieses Wissen anzuwenden. Die Personal Learning Environment als individueller Lernrahmen lässt sich daher als eine Antwort auf die Anforderungen lebenslangen Lernens verstehen. Sie entsteht in nicht formalisierten Lernsettings und weist viele verschiedene Formen des Wissenserwerbs auf. Da alle Teilnehmenden ihre individuellen Personal Learning Environments mitbringen, muss auch die politische Bildung mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen im Seminar umgehen. Würde sie die reine Wissensvermittlung in den Vordergrund schieben, würde sie den PLEs ihrer Teilnehmenden nicht gerecht werden. Stellt sie stattdessen den Kompetenzerwerb in den Vordergrund und gibt Raum, Kompetenzen für die Wissenskonstruktion und -anwendung innerhalb der Gruppe auf die jeweilige individuelle Weise zu erlernen oder zu vertiefen, können die vorhandenen, persönlich erlernten Lernstrategien angewandt werden. Die Rolle der politischen Bildung beim Lernen in digitalen Zeiten Wenn der Seminarraum die Lebenswelt der Erwachsenen erweitern will, muss er die Strategien, die sie zum Lernen benutzen, anerkennen und unterstützen. Da jeder Mensch seine eigenen Lernstrategien entwickelt hat und Informationserwerb und -konstruktion zunehmend durch digitale Medien vermittelt werden, ist es unerlässlich, auch im Seminarraum digitale "Kulturzugangsgeräte" zu nutzen. Politische Bildungsangebote, die digitale Medien als ein Werkzeug der Erkenntnisgewinnung in die Bildungsangebote miteinbeziehen, können damit auch wieder für Menschen anschlussfähig werden, die in der politischen Bildung nur die Auseinandersetzung mit dem politischen Apparat selbst sehen. Auch um beruflich relevante Bildungsaspekte mit aufzugreifen, ist die Integration digitaler Medien in die Lernprozesse politischer Bildung ein guter Weg. Das oben beschriebene Beispiel zeigt auf, wie explorative Projekte im Seminarraum Selbstlernprozesse anregen können. Zum einen schaffen sie Raum für eine individuelle Aufgabenverteilung und damit für die eigenen schon erworbenen Kompetenzen. Zum anderen bleibt das Coaching durch die Seminarleitung immer möglich, etwa wenn die Gruppe nicht weiterkommt. Die so erworbenen Kompetenzen lassen sich sowohl auf die beruflichen Kontexte in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt als auch auf die politischen Herausforderungen anwenden. In meiner Arbeit als Seminarleiter habe ich die Erfahrung gemacht, dass es für die Teilnehmenden über die letzten zwei Jahrzehnte zunehmend einfacher geworden ist, sich technische Kompetenzen anzueignen und dies mit einer Auseinandersetzung mit dem Politischen zu vereinbaren. Anfang des Jahrtausends haben die Teilnehmenden in der Seminarreflexion häufig mehr Zeit am Computer eingefordert, um technische Kompetenzen zu erwerben. Dabei kam die politische Dimension häufig etwas zu kurz. Solche Forderungen höre ich seit einigen Jahren nicht mehr. Das hängt auf der einen Seite mit dem Lernprozess der politischen Bildner und Bildnerinnen beim Einsatz digitaler Medien im Seminar zusammen, auf der anderen Seite mit den digitalen Möglichkeiten, die nun die Option eröffnen, das Internet nicht nur als Recherchemedium im Seminarraum, sondern vor allem für die Produktion neuer digitaler Medien einzusetzen. Die produktionsorientierte politische Bildung Digitale Medien sind zu "eingebetteten Medien" geworden. Ob in der politischen Bildung oder anderswo – sie werden nicht mehr anlassbezogen eingesetzt, sie sind einfach da. Ein YouTube-Clip dient wie selbstverständlich als Einstieg in das Thema des Tages und wird nicht extra als Film angekündigt und mit entsprechenden Fragestellungen im Seminar didaktisiert. Digitale Medien sind allgegenwärtig und stehen auf Abruf zur Verfügung. Ihre Nutzung verlangt keine komplexe Einführung, der Einstieg im laufenden Betrieb ist Normalität. So bleibt Platz für Kommunikation und den Lernprozess selbst. Wenn nötig, stehen die digitalen Medien als Lernwerkzeug zur Verfügung. Ein forschendes, problemlösendes Seminardesign, in dem die Teilnehmenden weniger Informationen wiedergeben, sondern Informationen abwägen und auf eine "neue" Art aufbereiten sollen, könnte in der Rekontextualisierung – in unserem Beispiel die eigene Biografie als interaktive Zeitleiste parallel zur Chronik der DDR zu konstruieren – andere Perspektiven eröffnen. Um das Digitale und seine Wirkung auf die Gesellschaft zu verstehen, muss es erfahrbar gemacht werden, sonst bleibt es unsichtbar. Die aktive Eigenproduktion von digitalen Medien ist eine Möglichkeit, um die digitale Funktionsweise von Computern oder Smartphones und ihre gesellschaftliche Wirkung zu verstehen. Gerade im Kontext Arbeit führt Digitalität zu einer Entprofessionalisierung vormals langjährig erlernter Tätigkeiten. Gleichzeitig kommt es zu einer fortschreitenden Spezialisierung. Jeder kann heute beispielsweise einen YouTube-Clip mit dem Smartphone herstellen, aber nicht jeder kann einen Kinofilm produzieren. Für den Umgang mit digitalen Medien im Seminarraum reicht allerdings die Produktion eines YouTube-Clips aus, um die Anforderungen ableiten zu können, die sich selbst bei modernen Kinofilmen ergeben würden. Das öffentliche Statement, das mit der Produktion und Veröffentlichung eines YouTube-Videos einhergeht, zeigt den Teilnehmenden eindrucksvoll, dass es nur in zweiter Linie um die technische Kompetenz des Videoerstellens geht, sondern vielmehr um eine medienadäquate Präsentation der beabsichtigten Inhalte. Guido Brombach (© DGB Bildungswerk BUND e.V.) Im Seminar "Externer Link: Sei dein eigener Fernsehsender! YouTube und die Welt des Webvideos kennen und verstehen lernen" wurden Teilnehmenden-Teams mit einem iPad, der App iMovie, einem Stativ und einem Mikrofon ausgestattet, um gleiche technische Ausgangsbedingungen zu schaffen. Die Aufgabe war, einen Videoclip mit möglichst großer Reichweite zu produzieren, denn es ging um die Auseinandersetzung mit dem Empfehlungsalgorithmus auf YouTube, der dafür sorgt, wie bekannt ein Video auf der Plattform werden kann. Trotz erheblicher Werbung und Anstrengungen bekamen die meisten entstandenen Videos nicht mehr als 200 Aufrufe. Während des Produktionsprozesses im Seminar gingen viele Teilnehmende von einer deutlich höheren Reichweite aus, vor deren Hintergrund auch die politischen Positionen verhandelt wurden. In dem beschriebenen Seminarkontext wurden digitale Medien unmittelbar in den Meinungsbildungsprozess der Teilnehmenden eingebettet. Dabei kann das Öffentliche digitaler Medien ein Mittel sein, um die inhaltliche Auseinandersetzung über politische und historische Themen im Seminarraum verantwortungsbewusst zu führen. Der Unterschied zur Gruppenarbeit mit Metaplan und Moderationskarten ist offensichtlich: Der Seminarraum wird durch eine Veröffentlichung zum einen zu einer Schnittstelle, an der sich die Seminargruppe auch mit Positionen jenseits des Seminarraums auseinandersetzen muss, und zum anderen zu einem wichtigen vorgeschalteten Schutzraum, bevor sich die im YouTube-Video veröffentlichte politische Meinung dem öffentlichen Diskurs stellt. Die geplante Veröffentlichung heizt die Diskussionen in den Seminarteams über die Ausrichtung der Videos an, bei denen sich die Gruppe auf Kompromisse einigen muss. Die unterschiedlichen Meinungen werden dabei ausgefochten und müssen unter Umständen durch eine Moderation durch die Seminarleitung aufgefangen werden. Das veröffentlichte Ergebnis wiederum ist ein erlebtes Beispiel eines kollektiv erarbeiteten Beitrags zu einem öffentlichen Diskurs. Dabei erleben sich die Teilnehmenden als Autor*innen und müssen sich Strategien ermächtigen, die die politische Kommunikation im Digitalen von ihnen abfordert: Nicht nur soll ihre politische Botschaft Reichweite erzielen. Zusätzlich müssen sich die Teilnehmenden mit anderen, vielleicht bisher nicht benannten Meinungen und Argumenten in den Kommentaren auseinandersetzen. Je größer die Reichweite der Videos, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jenseits der Zustimmung auch Kritik zu lesen ist. Solche Reaktionen kommen selten während des Seminars und können deshalb auch nicht mehr adäquat bearbeitet werden. Bisher ist es noch nie vorgekommen, dass solche Seminarergebnisse Teil einer boshaften Hassrede geworden sind. In allen Fällen wurden die erarbeiteten Standpunkte wohlwollend aufgenommen und weitergetragen. Durch diese Auseinandersetzungs- und Reflexionsprozesse kann die produktionsorientierte politische Bildung mit Hilfe der öffentlichen Bereitstellung im Digitalen eine verantwortungsbewusste Auseinandersetzung mit politischen Themen befördern. Ein Begriff, den erstmals Lisa Rosa in ihrem Blog Externer Link: Shiftingschool benutzte. Die genaue Aufgabenstellung lässt sich Externer Link: hier nachlesen. In einem Fall wurde eine im Seminar erstellte Zeitleiste von einem großen Blog aufgegriffen und bekam dadurch eine unvorhersehbare Reichweite, die eine Reflektion digitaler Öffentlichkeiten vs. massenmedialer Öffentlichkeiten zur Folge hatte. Dies ist jedoch die Ausnahme.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2021-01-05T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/politische-bildung-in-einer-digitalen-welt/325173/von-der-wissensvermittlung-zur-produktionsorientierten-politischen-bildung/
Wie lassen sich politische Erwachsenenbildung und digitale Medien verknüpfen? Guido Brombach empfiehlt produktionsorientierte Ansätze und rät, die Lernstrategien von Erwachsenen anzuerkennen.
[ "politische Bildung", "Digitale Bildung", "Personal Learning Environment", "Lernen lernen", "Erwachsenenbildung", "Produktionsorientierung" ]
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Modellförderung der bpb | Fördermittel und Fundraising für die politische Bildung | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb fördert viele Veranstaltungen und Projekte der politischen Bildung. Dabei unterscheidet sie zwei Formen der Förderung: die Richtlinienförderung und die Modellförderung. In der Interner Link: Richtlinienförderung der bpb werden ausschließlich so genannte "Anerkannte Träger der politischen Bildung" gefördert. Diese Träger haben ein Interner Link: Anerkennungsverfahren erfolgreich durchlaufen und können dann bei der bpb Zuwendungen für Veranstaltungen beantragen. In den Interner Link: Förderrichtlinien ist festgelegt, unter welchen Bedingungen ein Projekt unterstützt werden kann. Modellförderung: Flexibel und für alle Die Interner Link: Modellförderung (oder: Modellprojektförderung) steht – im Gegensatz zur Richtlinienförderung – allen Bildungsanbietern offen, die Projekte und Maßnahmen der politischen Bildung durchführen. Die Modellprojekte müssen in ihren Methoden oder Konzeptionen innovativ sein. Sie sollen neue Wege gehen oder Bestehendes andersartig weiterentwickeln. Fördergrundlage für die Zuwendungen der bpb sind Externer Link: § 23 und Externer Link: § 44 der Bundeshaushaltsordnung. Demnach müssen die geförderten Projekte Zwecke "im erheblichen Interesse" des Bundes verfolgen, die anderweitig nicht erfüllt werden können. Zudem wird dort geregelt, dass der zweckgemäße Einsatz der Fördergelder nachzuweisen ist (Verwendungsnachweis). Modellprojekte müssen zeitlich begrenzt sein, und ihre Ergebnisse oder Erkenntnisse sollen übertragbar sein. Die Maßnahmen sollen also Modellcharakter haben und beispielhaft für andere Bildungsträger sein. In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht die bpb zudem Ausschreibungen, um Innovationen in bestimmten Bereichen voranzubringen. Die Modellförderung der bpb ist sehr flexibel: Zum einen gibt es keine Antragsfristen. Generell empfiehlt die bpb jedoch eine Antragstellung im Herbst für Projekte im Folgejahr. Doch auch im Jahresverlauf können immer wieder Haushaltsmittel frei werden. Ebenso wenig gibt es konkrete Vorgaben oder Grenzen für Fördersummen pro Antrag. Es werden Projekte mit unterschiedlichsten Summen gefördert. Die Höhe der notwendigen Summe muss bei Antragstellung begründet werden. Vollfinanzierungen sind dabei absolute Ausnahmen. Die Chance auf eine Förderung steigt, wenn Träger einen gewissen Anteil an Eigen- oder Drittmitteln aufbringen. Tipps und Schritte zur Antragstellung und zur Durchführung eines Modellprojekts sind ausführlich auf der bpb-Internetseite erklärt: Externer Link: www.bpb.de/140010 Interner Link: Drei Beispiele für von der bpb derzeit geförderten Modellprojekten stellen wir hier vor.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-05-08T00:00:00"
"2022-03-17T00:00:00"
"2023-05-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/akquisos/506317/modellfoerderung-der-bpb/
Die Modellförderung der bpb steht allen Anbietern politischer Bildung offen. Modellprojekte müssen in ihren Methoden oder Konzeptionen innovativ sein.
[ "Akquisos", "Modellförderung" ]
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Rückblick 2023 | Jugendengagementkongress | bpb.de
Diesmal unter neuem Namen – JugendENGAGEMENTkongress –, der den Fokus noch deutlicher macht: Es geht um das Engagement der 250 ehrenamtlich aktiven Jugendlichen, die vom 20. bis zum 24. Mai 2023 im Umweltforum zusammengekommen sind. Vier Tage lang hatten die Jugendlichen reichlich Zeit und diverse Anregungen, ihr Engagement zu professionalisieren, sich zu interessanten Themen weiterzubilden und neue Impulse für ihre Arbeit mitzunehmen. Das Programm dafür war vielfältig. Von Workshops und Exkursionen über einen „Marktplatz des Engagements“ bis hin zur Auszeichnung der „Botschafter*innen für Demokratie und Toleranz“ bei einem feierlichen Festakt war alles dabei. Doch von vorne: Bei der Eröffnungsveranstaltung konnten die Teilnehmenden in kleinen interaktiven Spielen direkt miteinander ins Gespräch kommen. (© bpb) Schon die Eröffnungsveranstaltung am 20. Mai bot viel Raum für Vernetzung und Austausch. Greta Hentschel und Martha Rudorff von der bpb sowie Hannah Steinberg vom Externer Link: Peernetzwerk JETZT e. V. führten durch den Abend. Die beiden Projektleiterinnen Conny Schmitz und Johanna Pumb gaben einen Einblick, was der Juko bedeutet und wofür er steht: „Es geht einfach darum, dass ihr hier neue Strategien entwickelt, die ihr nach Hause mitnehmt, um da sichtbar zu sein und rauszugehen und zu sagen: Hier bin ich und ich bin zivilgesellschaftlich ehrenamtlich aktiv und arbeite dafür, dass diese Gesellschaft ein Stückchen besser wird.“ Musikalisch begleitet wurde der Abend von der Band Externer Link: Kapa Tult, die für ausgelassene Stimmung und ein tanzendes Publikum sorgte. Nach dem Abendessen wurde die Gruppe aufgemischt. Bei verschiedenen Spielen gab es die Möglichkeit, sich untereinander kennenzulernen und in persönliche Gespräche mit den Menschen zu kommen, mit denen man die nächsten drei Tage zusammen verbringen, lernen, sich austauschen und neue Ideen entwickeln wird. Die Workshops und Außenforen Die nächsten beiden Tage standen ganz im Zeichen der Workshops und der sogenannten Außenforen, also Lernorten außerhalb des Veranstaltungsgebäudes, über das ganze Stadtgebiet (und darüber hinaus) verteilt. Dabei konnten die Teilnehmenden sich für die beiden Tage ihr eigenes Programm aus über 50 verschiedenen Workshops und Außenforen zusammenstellen. Neben Workshops zum Thema Rechtsextremismus, unterschiedlichen Formen von Rassismus und Verschwörungsdenken gab es auch ein breites Angebot zu Engagement-spezifischen Themen. So konnte man sich beispielsweise auch mit Fundraising, Projektmanagement, Rhetorik oder Self Care beschäftigen. Ein breites Angebot an Workshop-Methoden sorgte für Abwechslung. So sagte eine Teilnehmerin über den Theaterworkshop zum im NS-Regime verfolgten Fußballspieler Julius Hirsch: „Man musste sich reinversetzen in die Person. Das fand ich wirklich sehr interessant und auch eine schöne neue Herangehensweise an eine Situation.“ Die Stadtführung "Anne Frank hier und heute: Auf den Spuren jüdischen Lebens rund um den Hackeschen Markt" geleitet vom Anne Frank Zentrum war eines der vielen Außenforen. (© bpb) Der Jugendengagementkongress bot auch die Möglichkeit, in Berlin unterwegs zu sein. So gab es zum Beispiel Stadtführungen aus unterschiedlichsten Perspektiven auf das Leben in der Stadt und das Stadtbild, etwa unter dem Fokus Obdachlosigkeit, Flucht oder Kolonialismus. Außerdem wurden verschiedene Bildungs- oder Gedenkstätten und sogar der Bundestag besucht. Das komplette Angebot kann Interner Link: hier eingesehen werden. Nach einer Tour durch Kreuzberg, die von einer politischen Aktivistin geführt wurde, fasste eine Teilnehmerin zusammen: „Ich nehme mit, dass – egal welche Aktion man macht – wenn man sich für etwas einsetzt, was man selber wichtig findet, dann zieht man es einfach zu Ende durch.“ In den Mittagspausen bot der „Marktplatz des Engagements“ Platz für Austausch untereinander, aber vor allem mit den Organisationen und Vereinen, die vor Ort waren und mit einem kleinen Stand für Vernetzung bereitstanden. Dazu zählten etwa das Externer Link: Archiv der Jugendkulturen, Externer Link: ArbeiterKind.de oder das Externer Link: Projekt YoupaN.de der Stiftung Bildung. Der 23. Mai Der 23. Mai ist ein besonderer Tag für die Teilnehmenden des Jugendengagementkongresses. Denn auf dem Programm stehen nicht, wie in den Vortagen, Workshops und Exkursionen. Stattdessen findet am 23. Mai der Interner Link: Festakt zum Tag des Grundgesetzes statt, welcher der feierliche Abschluss des Jugendengagementkongresses ist. Als Auftakt zum Festakt wurde für Interessierte ein interreligiöser Festgottesdienst angeboten. Der Festgottesdienst wurde vom Juko-Gospelchor begleitet, der sich nur einen Tag davor in einem Workshop gebildet hatte. Alternativ dazu gab es die Möglichkeit, sich auf drei verschiedenen Vernetzungsrouten quer durch Berlin auf den Weg zum Berliner Ensemble zu machen, wo später der Festakt zum Tag des Grundgesetzes mit der Auszeichnung der Botschafter*innen für Demokratie und Toleranz stattfand. Festakt zur Feier des Tags des Grundgesetzes (v.l.n.r. Moderatorin Yolanda Rother, Botschafter Jonathan Kalmanovich "Ben Salomo", Botschafterin Saloua Mohammed, Botschafterin Hamida Taamiri, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Innenministerin Nancy Faeser, Botschafter Thomas Jakob, Botschafterin Halima Gutale, Präsident der bpb Thomas Krüger) (© bpb) Die Botschafter*innen sind fünf Menschen oder Organisationen, die sich in besonders herausragender Weise zivilgesellschaftlich für die Demokratie stark machen. Geehrt wurden sie dieses Jahr unter Beteiligung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die musikalische Begleitung kam von Externer Link: Sistanagila, einer Band mit iranischen und israelischen Musikern. In einer Gesprächsrunde tauschten sich die Botschafter*innen mit dem Bundespräsidenten aus und boten mit ihrem spürbar unermüdlichen Engagement allen Anwesenden eine Quelle der Inspiration. Inspiriert ging es weiter zur Abschlussparty in den Heimathafen Neukölln, wo der Abschluss des Jugendengagementkongresses 2023 weiter gefeiert wurde. Was bleibt? Besonders war auf jeden Fall die „Vielfalt des Engagements“ wie eine Teilnehmerin betonte. Für sie war es „sehr bereichernd, dass ich einfach aus so vielen verschiedenen Bereichen überall aus Deutschland Erfahrungswerte mitkriege.“ Ein anderer Teilnehmer antwortete auf die Frage, was ihn am meisten beim Jugendengagementkongress beeindruckt hat: „Die Menschen, auf jeden Fall! Die Geschichten, was sie alles schon erlebt haben, was sie machen, was für Vereine und Träger – es ist super spannend!“ Wir freuen uns auf nächstes Jahr, wenn es wieder heißt: Jung – Aktiv – Vernetzt: Der Jugendengagementkongress Der Film zum Kongress zeigt weitere Eindrücke: Bei der Eröffnungsveranstaltung konnten die Teilnehmenden in kleinen interaktiven Spielen direkt miteinander ins Gespräch kommen. (© bpb) Die Stadtführung "Anne Frank hier und heute: Auf den Spuren jüdischen Lebens rund um den Hackeschen Markt" geleitet vom Anne Frank Zentrum war eines der vielen Außenforen. (© bpb) Festakt zur Feier des Tags des Grundgesetzes (v.l.n.r. Moderatorin Yolanda Rother, Botschafter Jonathan Kalmanovich "Ben Salomo", Botschafterin Saloua Mohammed, Botschafterin Hamida Taamiri, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Innenministerin Nancy Faeser, Botschafter Thomas Jakob, Botschafterin Halima Gutale, Präsident der bpb Thomas Krüger) (© bpb) Transkript (Aufgeweckte Musik spielt) (Jugendliche kommen mit Koffern beim Veranstaltungsort an, ein Banner mit der Aufschrift „Jugendengagementkongress“ hängt über der Eingangstür) (Zwei Personen kommen mit dem Gesicht zur Kamera eine Treppe herunter.) Conny: Jugendengagement Kongress 2023: der Name ist Programm. Johanna: Alles ist bereit, wir freuen uns auf euch! (Musik spielt wieder) (Weitere Jugendliche kommen an, sie erhalten Badges und T-Shirts mit dem Logo des Jugendengagementkongresses) Juko-Teilnehmer*in 1: Wir kommen eigentlich aus Hamburg. Juko-Teilnehmer*in 2: Wir kommen wir aus dem Saarland. Juko-Teilnehmer*in 3: Ich komme aus Brandenburg. Juko-Teilnehmer*in 4: Dresden. Juko-Teilnehmer*in 5: Frankfurt. Juko-Teilnehmer*in 6: Duisburg. (In Zeitraffer füllt sich ein Saal mit Menschen, eine Band spielt auf der Bühne) (Klatschen) (Drei Menschen stehen auf der Bühne, eine spricht) Greta: Schön, dass wir jetzt die Tage miteinander verbringen können, um voneinander zu lernen, gemeinsam zu Workshops und außen Außenforen zu gehen, uns zu vernetzen und in Kontakt zu treten. (Die zwei Personen vom Anfang stehen jetzt auch auf der Bühne) Johanna: Ihr wisst natürlich alle, dass unsere Demokratie nur funktionieren kann, wenn wir alle aktiv sind, wenn wir engagiert sind, wenn sich Menschen einbringen, so wie ihr. Conny: Und es geht einfach darum, dass ihr hier vielleicht auch neue Strategien entwickelt, ihr mitnehmt nach Hause, um da eben weiter auch sichtbar zu sein und rauszugehen und zu sagen, hier bin ich, und ich bin zivilgesellschaftlich ehrenamtlich aktiv und arbeite dafür, dass diese Gesellschaft ein Stückchen besser wird. (Musik von der Band Kapa Tult, Klatschen) Juko-Teilnehmer*in 7: Ich hoffe mir vom Jugendkongress, dass wir hier einfach super viel neues lernen. Juko-Teilnehmer*in 8: Und uns zu vernetzen, das ist, glaube ich, das wichtigste, in der Politik: Kontakte zu finden, Gleichgesinnte kennenzulernen. Juko-Teilnehmer*in 9: Auch so ein bisschen lernen, was die machen, vielleicht das bei uns einbringen. Juko-Teilnehmer*in 10: Guten Austausch mit Leuten, die da irgendwie zum Konsens kommen, und so ist ja doch recht verschieden. Juko-Teilnehmer*in 11: Und mich dann auch weiter entwickeln kann, weil ich halt neues lernen möchte. Juko-Teilnehmer*in 12: Also die Standpunkte einfach konstruktiv zu diskutieren. Ich glaube, das ist so mein meine Hoffnung, und auch vielleicht neue Perspektiven zu gewinnen. Juko-Teilnehmer*in 13: Und auch einfach super viel mitnehmen, was wir vielleicht auch umsetzen können. Juko-Teilnehmer*in 14: Ich bin davon überzeugt, dass der Jugendkongress mir ein einzigartiger Chance bietet, um nicht nur Ideen zu diskutieren, sondern auch konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Juko-Teilnehmer*in 15: Und einfach eine schöne Zeit zu haben. (Schriftzug „Sonntag, 21. Mai 2023“ erscheint.) Juko-Teilnehmer*in 16: Der Workshop heißt: „Streiten erlaubt“ Juko-Teilnehmer*in 17: Wie kann man nicht direkt in eine Mehrheitsentscheidung verfallen, sondern erst mal nochmal über den Konflikt an sich reden und vielleicht so schon einen Konsens finden, bevor man eine Minderheit überstimmt. Referent Demokratie: Dass wir so ein bisschen das Feuer der Demokratie bei den Leuten mehr entfachen können und dass wir die auch ein bisschen, da wir unterstützen können, einfach so ein bisschen mehr Knowledge in Bezug auf Demokratie, auch in deren Engagementkontext bringen können. Juko-Teilnehmer*in 19: Und ich finde, das funktioniert sehr gut. Wir haben gerade ein Spiel gemacht, wo wir eine Entscheidung treffen mussten mit die eine Gruppe wollte einen Turm bauen, die andere wollte den Kreis bauen. Juko-Teilnehmer*in 20: Dass ich auch andere Meinungen mir anhöre, die jetzt vielleicht für mich im ersten Moment absurd klingen oder gar nicht nachvollziehbar sind. Juko-Teilnehmer*in 21: Und jetzt kommt halt eben noch mehr mit dazu, wie man argumentieren soll. (Übergang zu einem Theaterworkshop, zwei Menschen reden auf einen dritten ein) Juko-Teilnehmer*in 22: Julius, Julius, Julius Juko-Teilnehmer*in 23: Auch schon da Juko-Teilnehmer*in 22: Und hast du mal deine Hose gesehen? Weißt du, wie viel Arbeit das ist, die zu waschen, jeden Tag! Juko-Teilnehmer*in 22: Weißt du, wie dreckig das ist? Und hast du mal deine Schulnoten angeschaut, die werden auch immer schlechter. Juko-Teilnehmer*in 23: Das geht so nicht. (Gibt ihm eine Ohrfeige) Referentin: Julius Hirsch, der zum Glück nicht vergessenen Nationalspieler, der im NS-Regime verfolgt wurde und auch zu Tode gekommen ist. Juko-Teilnehmer*in 22: Und ich dachte am Anfang so, ja, okay, vielleicht lernt man ein bisschen was über das Theaterspielen oder über Fußball, Diskriminierung und so weiter oder über die NS-Zeit, und es war letztlich alles. Juko-Teilnehmer*in 26: Dadurch, dass wir das alles ausgeschauspielert haben, konnte ich es viel besser aufnehmen. Ich konnte viel mehr, ich konnte es besser verstehen, als hätte sie einfach jetzt Texte dagelassen. Referentin Theaterworkshop: Und ich finde das immer spannend. Ich komme nicht mit einem fertigen Workshop, auch wenn es um dieselbe Person geht, sondern der Workshop entsteht durch die Szenen, die die Jugendlichen spielen. Juko-Teilnehmer*in 23: Und man musste sich selbst reinversetzen in die Person. Das fand ich wirklich sehr interessant und auch mal eine schöne neue Herangehensweise an irgendwie eine Situation beziehungsweise die Person in dem Fall. Juko-Teilnehmer*in 12: Also ein sehr interaktiver Workshop, sehr Gedanken anregend. Ich habe sehr viele Gedankengänge mitgenommen von anderen Leuten. Juko-Teilnehmer*in 23: Und ich fand auch schön, dass wir dann auch so den Sprung in die Moderne gemacht haben und halt auch über Diskriminierung heute im Fußball geredet haben, die ja immer noch sehr akut ist, und ich fand das sehr schön. (Übergang zu dem Workshop „Was haben Erinnerungen und Geschichte mit mir persönlich zu tun“) Referent: Wir wollen gemeinsam mit den Jugendlichen hier heute darüber sprechen, wie wir die Erinnerungskultur anpassen können und auf die Höhe unserer Zeit bringen können. Das ist uns besonders wichtig, vor allem auch die Jugendlichen selber mit einzubeziehen, und wir sind sehr gespannt auf die Aspekte und die Ideen, die die Jugendlichen hier mitbringen. Juko-Teilnehmer*in 28: Eine einfache Lösung wäre, zum Beispiel, Projekttage zu veranstalten und eben älteren Schülern beispielsweise die Möglichkeit zu geben, dann dieses Wissen zu vermitteln. (Übergang) Juko-Teilnehmer*in 29: Also, ich freue mich besonders auf eine Führung durch Kreuzberg aus den Augen von einem politischen Aktivisten. (Musik spielt, Eine Gruppe von 25 Jugendlichen läuft durch Kreuzberg.) Juko-Teilnehmer*in 30: Wir sind gerade auf dem Spaziergang durch Kreuzberg und erfahren über die Folgen der Flüchtlingskrise und wie das hier umgesetzt wurde in Kreuzberg. (Wieder Musik und die Gruppe in Kreuzberg) Juko-Teilnehmer*in 31: Und zwar haben die eine Schule besetzt und, als diese Schule geräumt werden sollte, von der Polizei, sind Leute aufs Dach gegangen und haben gesagt, wenn ihr diese Schule räumt, dann werden sie vom Dach springen. Juko-Teilnehmer*in 32: Ich war ein bisschen schon davon, dass es nicht in der Schule oder eigentlich in den sozialen Medien oder so präsenter ist oder allgemein nicht als Thema, was wichtig ist oder dass man braucht, einfach besprochen wird. (Übergang zum Workshop „Planspiel „Demokratie und Extremismus““) Juko-Teilnehmer*in 33: Ich habe diesen Workshop gewählt, weil ich dieses Zusammenspiel aus Demokratie und die Gefährdung durch den Extremismus näher kennenlernen wollte. Juko-Teilnehmer*in 34 (steht vor einem Flipchart): Wir sind das wahre Volk Juko-Teilnehmer*in 35 (steht vor einem Flipchart): Wir haben und FAAK genannt, also frei, antifaschistisch, antikapitalistisch und klassenlos. Juko-Teilnehmer*in 36: Wir haben anhand von einem Planspiel anschaulich gezeigt bekommen, wie Extremismus in unserer Gesellschaft präsent ist und wie wir ihn verhindern können. Juko-Teilnehmer*in 37: Was auf jeden Fall aufgefallen ist, dass die Extremen schon an ihren Positionen geklebt haben, und das ist sehr schade, dass man es nicht schafft, in einem wertneutrale Raum auch objektiv über Positionen und Argumente sich auszutauschen (Der Schriftzug „Montag, 22. Mai 2023“ erscheint, Übergang zum Workshop „Masel Tov Cocktail“) Juko-Teilnehmer*in 38: Ich bin jetzt hier im Kurs Masel Tov Cocktail, und ich erhoffe mir, so ein bisschen was Neues kennenzulernen, wie es auch in den anderen Religionen aussieht. Referentin: Ich habe den Film Masel Tov Cocktail bereits gesehen. Referent: Wir gucken ein bisschen drauf, wie sieht eigentlich jüdisches Leben heute in Deutschland aus, genau, und wollen darüber ins Gespräch kommen und im besten Fall zum Abbau von Antisemitismus beitragen. Juko-Teilnehmer*in 39: Und mir ist daran wichtig zu sehen, wie nicht-jüdische Menschen auf den Film reagieren und was ihre Meinungen zum Antisemitismus in Deutschland heutzutage sind. (Übergang) Referentin: Wir machen heute ein Selfcare-Training, "Ein starkes Selbst" heißt der Workshop. Wir schauen uns an, was uns stresst, was uns eigentlich im Alltag beschäftigt und belastet und wie wir damit umgehen können, wie wir uns stärken können und was uns langfristig psychisch fit und gesund macht. Juko-Teilnehmer*in 40: Wir haben gerade so angeschaut, dass jeder ja so ein inneres Fass hat und das auch manchmal zum Überlaufen kommt, und wir haben so Faktoren angeschaut, die so dieses Fass beeinflussen können und was am Ende dazu führt, dass es auch überläuft und wir ganz neu gestresst sind. Juko-Teilnehmer*in 41: Es ist auch ein sehr starkes Thema für Jugendliche, auf jeden Fall Kinder, Jugendliche, auch Erwachsene natürlich, aber bei uns während der Pubertät betrifft uns das alle, es ist sehr krass. (Übergang) Referentin: Tiktok ist ja ein riesengroßes Feld. Jeder kann da irgendwas veröffentlichen, publizieren, und dadurch ist die Gefahr auch gegeben, dass Sachen in Umlauf geraten und sich verbreiten können, die vielleicht demokratiefeindlich tendenziell sind. Juko-Teilnehmer*in 42: Und ich erhoffe mir von dem Workshop, dass ich lerne, wie man in Tiktok mehr über die Demokratie und einfach über Politik anwenden kann. Referentin Demokratie & TikTok: Und genau dafür sind wir heute hier, um einfach mal einen Anreiz zu schaffen, wie man Demokratie auf Tiktok stärken kann. (Der Schriftzug „Was bleibt?“ erscheint) Juko-Teilnehmer*in 41: Die Menschen auf jeden Fall, also alle Teilnehmende. Jeder ist sehr interessant. Wirklich die Geschichten, was sie alles schon erlebt haben, was sie machen, was für Vereine, Träger, es ist super spannend! Juko-Teilnehmer*in 32: Ich nehme mit, dass, egal welche Aktion man macht, für etwas wichtiges, was man selber wichtig findet, dass man es einfach zu Ende durchzieht. Juko-Teilnehmer*in 43: Ja, die Vielfalt des Engagements, die hier vertreten ist, die man auch sonst nicht mitbekommt, das ist sehr bereichernd, dass ich einfach aus so vielen verschiedenen Bereichen überall aus Deutschland Erfahrungswerte mitkriege. Juko-Teilnehmer*in 17: Ich bin sehr positiv überrascht, dass jeder so eine ganz eigene Perspektive hat und die auch so schön begründen kann und will. Und das ist einfach dieses Engagement, dass man hier auf jeden Fall spürt. (Der Schriftzug „Jugendengagementkongress, 20. Bis 24. Mai 2023 in Berlin“ erscheint, dann „Interviews: Zora Luna Eggert, Kamera: Kai Glawe, Postproduktion: Axel Martin, Produktion: edithouse Berlin, im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung, dann „See You 2024“.) (Aufgeweckte Musik spielt) (Jugendliche kommen mit Koffern beim Veranstaltungsort an, ein Banner mit der Aufschrift „Jugendengagementkongress“ hängt über der Eingangstür) (Zwei Personen kommen mit dem Gesicht zur Kamera eine Treppe herunter.) Conny: Jugendengagement Kongress 2023: der Name ist Programm. Johanna: Alles ist bereit, wir freuen uns auf euch! (Musik spielt wieder) (Weitere Jugendliche kommen an, sie erhalten Badges und T-Shirts mit dem Logo des Jugendengagementkongresses) Juko-Teilnehmer*in 1: Wir kommen eigentlich aus Hamburg. Juko-Teilnehmer*in 2: Wir kommen wir aus dem Saarland. Juko-Teilnehmer*in 3: Ich komme aus Brandenburg. Juko-Teilnehmer*in 4: Dresden. Juko-Teilnehmer*in 5: Frankfurt. Juko-Teilnehmer*in 6: Duisburg. (In Zeitraffer füllt sich ein Saal mit Menschen, eine Band spielt auf der Bühne) (Klatschen) (Drei Menschen stehen auf der Bühne, eine spricht) Greta: Schön, dass wir jetzt die Tage miteinander verbringen können, um voneinander zu lernen, gemeinsam zu Workshops und außen Außenforen zu gehen, uns zu vernetzen und in Kontakt zu treten. (Die zwei Personen vom Anfang stehen jetzt auch auf der Bühne) Johanna: Ihr wisst natürlich alle, dass unsere Demokratie nur funktionieren kann, wenn wir alle aktiv sind, wenn wir engagiert sind, wenn sich Menschen einbringen, so wie ihr. Conny: Und es geht einfach darum, dass ihr hier vielleicht auch neue Strategien entwickelt, ihr mitnehmt nach Hause, um da eben weiter auch sichtbar zu sein und rauszugehen und zu sagen, hier bin ich, und ich bin zivilgesellschaftlich ehrenamtlich aktiv und arbeite dafür, dass diese Gesellschaft ein Stückchen besser wird. (Musik von der Band Kapa Tult, Klatschen) Juko-Teilnehmer*in 7: Ich hoffe mir vom Jugendkongress, dass wir hier einfach super viel neues lernen. Juko-Teilnehmer*in 8: Und uns zu vernetzen, das ist, glaube ich, das wichtigste, in der Politik: Kontakte zu finden, Gleichgesinnte kennenzulernen. Juko-Teilnehmer*in 9: Auch so ein bisschen lernen, was die machen, vielleicht das bei uns einbringen. Juko-Teilnehmer*in 10: Guten Austausch mit Leuten, die da irgendwie zum Konsens kommen, und so ist ja doch recht verschieden. Juko-Teilnehmer*in 11: Und mich dann auch weiter entwickeln kann, weil ich halt neues lernen möchte. Juko-Teilnehmer*in 12: Also die Standpunkte einfach konstruktiv zu diskutieren. Ich glaube, das ist so mein meine Hoffnung, und auch vielleicht neue Perspektiven zu gewinnen. Juko-Teilnehmer*in 13: Und auch einfach super viel mitnehmen, was wir vielleicht auch umsetzen können. Juko-Teilnehmer*in 14: Ich bin davon überzeugt, dass der Jugendkongress mir ein einzigartiger Chance bietet, um nicht nur Ideen zu diskutieren, sondern auch konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Juko-Teilnehmer*in 15: Und einfach eine schöne Zeit zu haben. (Schriftzug „Sonntag, 21. Mai 2023“ erscheint.) Juko-Teilnehmer*in 16: Der Workshop heißt: „Streiten erlaubt“ Juko-Teilnehmer*in 17: Wie kann man nicht direkt in eine Mehrheitsentscheidung verfallen, sondern erst mal nochmal über den Konflikt an sich reden und vielleicht so schon einen Konsens finden, bevor man eine Minderheit überstimmt. Referent Demokratie: Dass wir so ein bisschen das Feuer der Demokratie bei den Leuten mehr entfachen können und dass wir die auch ein bisschen, da wir unterstützen können, einfach so ein bisschen mehr Knowledge in Bezug auf Demokratie, auch in deren Engagementkontext bringen können. Juko-Teilnehmer*in 19: Und ich finde, das funktioniert sehr gut. Wir haben gerade ein Spiel gemacht, wo wir eine Entscheidung treffen mussten mit die eine Gruppe wollte einen Turm bauen, die andere wollte den Kreis bauen. Juko-Teilnehmer*in 20: Dass ich auch andere Meinungen mir anhöre, die jetzt vielleicht für mich im ersten Moment absurd klingen oder gar nicht nachvollziehbar sind. Juko-Teilnehmer*in 21: Und jetzt kommt halt eben noch mehr mit dazu, wie man argumentieren soll. (Übergang zu einem Theaterworkshop, zwei Menschen reden auf einen dritten ein) Juko-Teilnehmer*in 22: Julius, Julius, Julius Juko-Teilnehmer*in 23: Auch schon da Juko-Teilnehmer*in 22: Und hast du mal deine Hose gesehen? Weißt du, wie viel Arbeit das ist, die zu waschen, jeden Tag! Juko-Teilnehmer*in 22: Weißt du, wie dreckig das ist? Und hast du mal deine Schulnoten angeschaut, die werden auch immer schlechter. Juko-Teilnehmer*in 23: Das geht so nicht. (Gibt ihm eine Ohrfeige) Referentin: Julius Hirsch, der zum Glück nicht vergessenen Nationalspieler, der im NS-Regime verfolgt wurde und auch zu Tode gekommen ist. Juko-Teilnehmer*in 22: Und ich dachte am Anfang so, ja, okay, vielleicht lernt man ein bisschen was über das Theaterspielen oder über Fußball, Diskriminierung und so weiter oder über die NS-Zeit, und es war letztlich alles. Juko-Teilnehmer*in 26: Dadurch, dass wir das alles ausgeschauspielert haben, konnte ich es viel besser aufnehmen. Ich konnte viel mehr, ich konnte es besser verstehen, als hätte sie einfach jetzt Texte dagelassen. Referentin Theaterworkshop: Und ich finde das immer spannend. Ich komme nicht mit einem fertigen Workshop, auch wenn es um dieselbe Person geht, sondern der Workshop entsteht durch die Szenen, die die Jugendlichen spielen. Juko-Teilnehmer*in 23: Und man musste sich selbst reinversetzen in die Person. Das fand ich wirklich sehr interessant und auch mal eine schöne neue Herangehensweise an irgendwie eine Situation beziehungsweise die Person in dem Fall. Juko-Teilnehmer*in 12: Also ein sehr interaktiver Workshop, sehr Gedanken anregend. Ich habe sehr viele Gedankengänge mitgenommen von anderen Leuten. Juko-Teilnehmer*in 23: Und ich fand auch schön, dass wir dann auch so den Sprung in die Moderne gemacht haben und halt auch über Diskriminierung heute im Fußball geredet haben, die ja immer noch sehr akut ist, und ich fand das sehr schön. (Übergang zu dem Workshop „Was haben Erinnerungen und Geschichte mit mir persönlich zu tun“) Referent: Wir wollen gemeinsam mit den Jugendlichen hier heute darüber sprechen, wie wir die Erinnerungskultur anpassen können und auf die Höhe unserer Zeit bringen können. Das ist uns besonders wichtig, vor allem auch die Jugendlichen selber mit einzubeziehen, und wir sind sehr gespannt auf die Aspekte und die Ideen, die die Jugendlichen hier mitbringen. Juko-Teilnehmer*in 28: Eine einfache Lösung wäre, zum Beispiel, Projekttage zu veranstalten und eben älteren Schülern beispielsweise die Möglichkeit zu geben, dann dieses Wissen zu vermitteln. (Übergang) Juko-Teilnehmer*in 29: Also, ich freue mich besonders auf eine Führung durch Kreuzberg aus den Augen von einem politischen Aktivisten. (Musik spielt, Eine Gruppe von 25 Jugendlichen läuft durch Kreuzberg.) Juko-Teilnehmer*in 30: Wir sind gerade auf dem Spaziergang durch Kreuzberg und erfahren über die Folgen der Flüchtlingskrise und wie das hier umgesetzt wurde in Kreuzberg. (Wieder Musik und die Gruppe in Kreuzberg) Juko-Teilnehmer*in 31: Und zwar haben die eine Schule besetzt und, als diese Schule geräumt werden sollte, von der Polizei, sind Leute aufs Dach gegangen und haben gesagt, wenn ihr diese Schule räumt, dann werden sie vom Dach springen. Juko-Teilnehmer*in 32: Ich war ein bisschen schon davon, dass es nicht in der Schule oder eigentlich in den sozialen Medien oder so präsenter ist oder allgemein nicht als Thema, was wichtig ist oder dass man braucht, einfach besprochen wird. (Übergang zum Workshop „Planspiel „Demokratie und Extremismus““) Juko-Teilnehmer*in 33: Ich habe diesen Workshop gewählt, weil ich dieses Zusammenspiel aus Demokratie und die Gefährdung durch den Extremismus näher kennenlernen wollte. Juko-Teilnehmer*in 34 (steht vor einem Flipchart): Wir sind das wahre Volk Juko-Teilnehmer*in 35 (steht vor einem Flipchart): Wir haben und FAAK genannt, also frei, antifaschistisch, antikapitalistisch und klassenlos. Juko-Teilnehmer*in 36: Wir haben anhand von einem Planspiel anschaulich gezeigt bekommen, wie Extremismus in unserer Gesellschaft präsent ist und wie wir ihn verhindern können. Juko-Teilnehmer*in 37: Was auf jeden Fall aufgefallen ist, dass die Extremen schon an ihren Positionen geklebt haben, und das ist sehr schade, dass man es nicht schafft, in einem wertneutrale Raum auch objektiv über Positionen und Argumente sich auszutauschen (Der Schriftzug „Montag, 22. Mai 2023“ erscheint, Übergang zum Workshop „Masel Tov Cocktail“) Juko-Teilnehmer*in 38: Ich bin jetzt hier im Kurs Masel Tov Cocktail, und ich erhoffe mir, so ein bisschen was Neues kennenzulernen, wie es auch in den anderen Religionen aussieht. Referentin: Ich habe den Film Masel Tov Cocktail bereits gesehen. Referent: Wir gucken ein bisschen drauf, wie sieht eigentlich jüdisches Leben heute in Deutschland aus, genau, und wollen darüber ins Gespräch kommen und im besten Fall zum Abbau von Antisemitismus beitragen. Juko-Teilnehmer*in 39: Und mir ist daran wichtig zu sehen, wie nicht-jüdische Menschen auf den Film reagieren und was ihre Meinungen zum Antisemitismus in Deutschland heutzutage sind. (Übergang) Referentin: Wir machen heute ein Selfcare-Training, "Ein starkes Selbst" heißt der Workshop. Wir schauen uns an, was uns stresst, was uns eigentlich im Alltag beschäftigt und belastet und wie wir damit umgehen können, wie wir uns stärken können und was uns langfristig psychisch fit und gesund macht. Juko-Teilnehmer*in 40: Wir haben gerade so angeschaut, dass jeder ja so ein inneres Fass hat und das auch manchmal zum Überlaufen kommt, und wir haben so Faktoren angeschaut, die so dieses Fass beeinflussen können und was am Ende dazu führt, dass es auch überläuft und wir ganz neu gestresst sind. Juko-Teilnehmer*in 41: Es ist auch ein sehr starkes Thema für Jugendliche, auf jeden Fall Kinder, Jugendliche, auch Erwachsene natürlich, aber bei uns während der Pubertät betrifft uns das alle, es ist sehr krass. (Übergang) Referentin: Tiktok ist ja ein riesengroßes Feld. Jeder kann da irgendwas veröffentlichen, publizieren, und dadurch ist die Gefahr auch gegeben, dass Sachen in Umlauf geraten und sich verbreiten können, die vielleicht demokratiefeindlich tendenziell sind. Juko-Teilnehmer*in 42: Und ich erhoffe mir von dem Workshop, dass ich lerne, wie man in Tiktok mehr über die Demokratie und einfach über Politik anwenden kann. Referentin Demokratie & TikTok: Und genau dafür sind wir heute hier, um einfach mal einen Anreiz zu schaffen, wie man Demokratie auf Tiktok stärken kann. (Der Schriftzug „Was bleibt?“ erscheint) Juko-Teilnehmer*in 41: Die Menschen auf jeden Fall, also alle Teilnehmende. Jeder ist sehr interessant. Wirklich die Geschichten, was sie alles schon erlebt haben, was sie machen, was für Vereine, Träger, es ist super spannend! Juko-Teilnehmer*in 32: Ich nehme mit, dass, egal welche Aktion man macht, für etwas wichtiges, was man selber wichtig findet, dass man es einfach zu Ende durchzieht. Juko-Teilnehmer*in 43: Ja, die Vielfalt des Engagements, die hier vertreten ist, die man auch sonst nicht mitbekommt, das ist sehr bereichernd, dass ich einfach aus so vielen verschiedenen Bereichen überall aus Deutschland Erfahrungswerte mitkriege. Juko-Teilnehmer*in 17: Ich bin sehr positiv überrascht, dass jeder so eine ganz eigene Perspektive hat und die auch so schön begründen kann und will. Und das ist einfach dieses Engagement, dass man hier auf jeden Fall spürt. (Der Schriftzug „Jugendengagementkongress, 20. Bis 24. Mai 2023 in Berlin“ erscheint, dann „Interviews: Zora Luna Eggert, Kamera: Kai Glawe, Postproduktion: Axel Martin, Produktion: edithouse Berlin, im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung, dann „See You 2024“.)
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-06-08T00:00:00"
"2023-06-02T00:00:00"
"2023-06-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/juko/521623/rueckblick-2023/
Der Jugendengagementkongress lud 250 ehrenamtlich engagierte Jugendliche nach Berlin zum Lernen und Vernetzen ein.
[ "Demokratie", "Kongress", "Berlin", "Engagement", "Ehrenamt", "Jugend" ]
29,963
Literatur | bpb.de
Beauftragter des Senats von Berlin für Integration und Migration (Hg.) (2007): Indikatoren zur Messung von Integrationserfolgen. Ergebnisse des transnationalen Projektes "Indikatoren für die Zuwandererintegration". Aus der Reihe "Berliner Beiträge zur Integration und Migration". Berlin. Bertelsmann Stiftung (2008): Kernkennzahlen Integration. Definitionen. Gütersloh. Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung (BIVS) (Hg.) (2007): Immigrant Generations and the Problem of Measuring Integration. A European Comparison. Berlin: Edition Parabolis. Bundesregierung (2007): Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege – neue Chancen. Berlin. Council of Europe (1997): Measurement and Indicators of Integration. Straßburg. Entzinger, H./Biezeveld, R. (2003): Benchmarking in Immigrant Integration. Report written for the European Commission, Contract No. DG JAI-A-2/2002/006. Rotterdam. Esser, H. (1990): Prozesse der Eingliederung von Arbeitsmigranten. In: Höhn, C. und Rein, D. B. (Hg.): Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Boppard am Rhein. Boldt Verlag, S. 33-53. Filsinger, D. (2008): Bedingungen erfolgreicher Integration – Integrationsmonitoring und Evaluation. Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn. Geddes, A./Niessen, J./Balch, A./Bullen, C./Peiro, M. J. (2005): European Civic Citizenship and Inclusion Index. Brüssel. Hamburger, F. (2009): "Die Minderheit beobachten". Interview mit der "Islamischen Zeitung" vom 1.7.2009, S. 13. Heckmann, F. (2001): Integrationsforschung in europäischer Perspektive. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg. 26, 3-4/2001, S. 341-356. Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG)/Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) (2009): Integration in Deutschland. Erster Integrationsindikatorenbericht: Erprobung des Indikatorensets und Bericht zum bundesweiten Integrationsmonitoring, erstellt für die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Berlin. Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) (2006): Integrationsmonitoring. Materialien Nr. 2/2006. Köln. Kunz, T. (2009): Integrationsstudie "Ungenutzte Potenziale – verpasste Chance". In: Migration und Soziale Arbeit, 31 (2), S. 149-152. Länderoffene Arbeitsgruppe "Indikatorenentwicklung und Monitoring" (2009): Zweiter Bericht der länderoffenen Arbeitsgruppe "Indikatorenentwicklung und Monitoring", vorgelegt aus Anlass des Treffens der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister/Senatorinnen und Senatoren der Länder am 26. Juni 2009 in Hannover. Landeshauptstadt Wiesbaden (2008): Monitoring zur Integration von Migranten in Wiesbaden. Bericht 2008. Wiesbaden: Amt für Wahlen, Statistik und Stadtforschung. Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI) (2008): Nordrhein-Westfalen: Land der neuen Integrationschancen. 1. Integrationsbericht der Landesregierung. Düsseldorf. Niessen, J./Kate, M.-A./Huddleston, T. (2009): Developing and using European integration indicators. Brüssel: Migration Policy Group. Niessen, J./Huddleston, T./Citron, L. (2007): Index Integration und Migration. Die rechtliche Situation von Migrantinnen und Migranten in Europa (siehe auch Externer Link: www.integrationindex.eu). Niessen, J./Schibel, Y. (2005): Handbuch zur Integration für Entscheidungsträger und Praktiker. Brüssel: Europäische Kommission (Generaldirektion für Justiz, Freiheit und Sicherheit). Ohliger, R. (2007): Zuwandererintegration und -monitoring in Deutschland: Ergebnisse eines europäischen Projekts. In: Beauftragter des Senats von Berlin für Integration und Migration (Hg.): Indikatoren zur Messung von Integrationserfolgen. Ergebnisse des transnationalen Projektes "Indikatoren für die Zuwandererintegration". Berlin (aus der Reihe "Berliner Beiträge zur Integration und Migration"), S. 18-28. Riesen, I. (2009): Der IW-Integrationsmonitor. Köln: Institut der Deutschen Wirtschaft. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (2009): Sachverständigenrat begrüßt 'Integrationsindikatorenbericht' der Bundesregierung. Presseinformation (Langfassung). Berlin. Siegert, M. (2009): Berufliche und akademische Bildung von Migranten in Deutschland. Aus der Reihe "Integrationsreport", Teil 5. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Stadt Wuppertal/Ressort Zuwanderung und Integration (2008): Integrationsbericht 2007 der Stadt Wuppertal. Statistisches Bundesamt (2007): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden. Swedish Presidency of the European Union (2009): Presidency Conference Conclusions on Indicators and monitoring of the outcome of integration policies. Brüssel. Wippermann, C./Flaig, B. (2009): Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 5/2009, S. 3-11. Woellert, F./Kröhnert, S./Sippel, L./Klingholz, R. (2009): Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Worbs, S./Friedrich, L. (2008): Integrationsberichterstattung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, Heft 2/2008, S. 250-269.
Article
Susanne Worbs
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/57256/literatur/
Hier finden Sie Literatur zum Kurzdossier "Integration in klaren Zahlen" von Susanne Worbs.
[ "" ]
29,964
Wer hat einfach Politik: aktuell gemacht? | Politik aktuell. Blick hinter Nachrichten | bpb.de
Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn Redaktion Wolfram Hilpert Bundeszentrale für politische Bildung Fachbereich "'Zielgruppenspezifische Angebote" Autoren Rita Vock Dorothee Meyer et.al. Tabea Schüller-Ruhl Wolfram Hilpert Maximilian Andorff-Woller Kontakt Mitwirkung erwünscht. Wenn Sie Anregungen und Vorschläge haben, schreiben Sie uns: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn Fachbereich Zielgruppenspezifische Angebote Adenauerallee 86 53113 Bonn E-Mail Link: wolfram.hilpert@bpb.de E-Mail Link: edu@bpb.de Für das gesamte Dossier gilt:
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-20T00:00:00"
"2018-07-02T00:00:00"
"2022-01-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/271896/wer-hat-einfach-politik-aktuell-gemacht/
Die Bundeszentrale für Politische Bildung stellt Ihnen "einfach Politik: aktuell" in ihrem Angebot "einfach POLITIK" zur Verfügung. Mehr über die Mitwirkenden erfahren Sie hier.
[ "Einfach Politik", "inklusive politische Bildung", "Einfache Sprache", "Nachrichten" ]
29,965
Materialien & Methoden für den Unterricht in der Grundschule | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Die Themenbereiche Islamismus, Salafismus und menschenfeindliche Ideologien mögen auf den ersten Blick nicht in den Grundschulunterricht gehören. Es gibt auch nur wenige Unterrichtsmaterialien für die Grundschule, die sich explizit damit befassen. Doch bereits in der Grundschule wird die Basis gelegt für ein Verständnis des friedlichen Miteinanders, der Wertschätzung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie der Vielfalt der Menschen, ihrer Religionen, Lebensweisen, Werte und ihrer kulturellen Hintergründe. Diese Aspekte sind grundlegend für die Ausprägung eines demokratischen und menschenfreundlichen Schulklimas und des gesellschaftlichen Miteinanders und stehen meist im Mittelpunkt der hier vorgestellten Materialien. Sie sind in drei thematische Kategorien eingeordnet (1. Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention; 2. Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz; 3. Islam, muslimisches Leben in Deutschland & Glauben) und dann alphabetisch nach Publikationstiteln sortiert. Die Infodienst-Handreichung "Interner Link: Schule und religiös begründeter Extremismus" beinhaltet Materialien, die bis Ende 2020 erschienen sind. Sie können sie kostenfrei herunterladen und als Print-Version bestellen. Die Materialien im Überblick Details zu den Materialien finden Sie, indem Sie auf den jeweiligen Publikationstitel klicken – oder nach unten scrollen. Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention Interner Link: Frühe ExtremismuspräventionFriedrich Verlag, 2019 Interner Link: Gestärkt durchs Leben: Übungen zur Resilienzförderung in der GrundschuleTürkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Fachstelle Liberi, 2021 Interner Link: Kleine Große Schritte: Umgang mit Ausgrenzung und Extremismus erprobenplanpolitik, 2022 Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz Interner Link: Aktion Schulstunde: "Toleranz: ICH, DU, WIR"ARD, 2014 Interner Link: Anregungen für eine diversitäts­orientierte Pädagogik im Kontext von Islam in der Grundschuleufuq.de, 2019 Interner Link: Compasito. Handbuch zur Menschenrechtsbildung mit KindernDeutsches Institut für Menschenrechte, Bundeszentrale für politische Bildung, Europarat, Direktorat für Jugend und Sport, 2009 Interner Link: Du und Ich. Arbeitsblätter zur Demokratieerziehung in der GrundschuleGöttinger Institut für Demokratieforschung, 2017 Interner Link: Geschichten, die bewegen. Filmreihe zur Prävention von MuslimfeindlichkeitZentrum für Europäische und Orientalische Kultur e. V. (ZEOK), 2022 Interner Link: Lernziel GleichwertigkeitBundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, 2016 Interner Link: "Vielfalt Willkommen"– interkulturelle Kompetenzen stärken!ZEOK e. V. – Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur, 2018 Islam, muslimisches Leben in Deutschland & Glauben Interner Link: Aktion Schulstunde: "Woran glaubst du?" rbb, 2017 Interner Link: Der Islam. Erklärfilme Religionspädagogisches Institut (RPI) der EKKW und der EKHN, 2022 Interner Link: Hanisauland.de-Spezial: IslamBundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Islam – Religionen der WeltPlanet Schule (SWR und WDR), 2022 Interner Link: Komplettpaket IslamSchulwiesel, 2022 Interner Link: Mein Gott, dein Gott, kein Gott. – Interreligiöse Kompetenzen stärken!ZEOK e. V. – Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur, 2014 Interner Link: Religionen und miteinander leben in Deutschland – jetzt versteh ich das!Bundeszentrale für politische Bildung, 2020 Islamismus, Radikalisierung, Extremismus & Prävention Frühe Extremismusprävention Die Grundschulzeitschrift Diese Ausgabe der Grundschulzeitschrift informiert über Ursachen sowie Erscheinungsformen von Radikalisierung und Extremismus (bezogen auf Rechtsextremismus und Islamismus), aber auch allgemein Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die Beiträge stellen damit verbundene Herausforderungen für Lehrkräfte vor, bieten aber zugleich Lösungsansätze und Praxisideen an. Dabei folgt das Heft dem Ansatz der Primärprävention bzw. universellen Prävention, die alle Kinder in der Grundschule stark und resistent gegen menschenfeindliche Einstellungen sowie ausgrenzende Verhaltensweisen machen möchte. Externer Link: Zur kostenpflichtigen Bestellung auf friedrich-verlag.de Herausgeber: Friedrich Verlag, Hannover 2019 Medium: Die Grundschulzeitschrift, Heft (56 S.), Print, 26,00 Euro, bestellbar unter Externer Link: kurz.bpb.de/qqy Themen: Demokratie erfahren, Umgang mit Extremen, Radikalisierungsprozesse, Diversität leben, Internet-Propaganda, Präventionsangebote Zielgruppe: Lehrkräfte in der Grundschule Zeitaufwand: keine Zeitangaben Unterrichtsfächer: Sachunterricht, Ethik, Religion, Deutsch, Grundschule allgemein Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Gestärkt durchs Leben: Übungen zur Resilienzförderung in der Grundschule Themenfeld Aufwachsen in islamistisch und salafistisch geprägten Familien Um Fachkräfte im Grundschulbereich möglichst praktisch unterstützen zu können, hat die Fachstelle Liberi eine umfangreiche Broschüre zum Thema „Aufwachsen in islamistisch und salafistisch geprägten Familien" erarbeitet. Die Handreichung bietet Informationen zu möglichen Risiko- und Schutzfaktoren von Kindern. Außerdem informiert sie über aktuelle Erkenntnisse der Resilienzforschung und nennt praktische Ressourcen zur Resilienzförderung bei Kindern. Externer Link: Zur kostenfreien Handreichung auf provention.tgsh.de Herausgeber: Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Fachstelle Liberi, 2021 Autorinnen: Kim Lisa Becker, Yvonne Dabrowski, Sally Hampe, Marion Müller Medium: Broschüre (79 S.), als PDF kostenlos zum Download und als kostenloses Druckexemplar auf Externer Link: provention.tgsh.de Themen: Resilienz, Familie, Glaube, Islamismus Zielgruppe: Klassen 1 bis 4, Lehrkräfte Zeitaufwand: zahlreiche Gruppen- und Einzelübungen, jeweils 15–45 min. Unterrichtsfächer: Kunst, Deutsch, Sachunterricht, Religion Adressierte Kompetenzen Sozialkompetenzen, Reflexionskompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Kleine Große Schritte: Umgang mit Ausgrenzung und Extremismus erproben Online-Bildungsmaterialien zum Umgang mit Vorurteilen, Rechtsextremismus und Islamismus Das Projekt "Kleine Große Schritte" umfasst Online-Bildungsmaterialien zum Umgang mit Vorurteilen, Rechtsextremismus und Islamismus für Multiplikatorinnen, Multiplikatoren und Lehrkräfte. Die Materialien ermöglichen die eigenständige Durchführung von ganztägigen Workshops oder mehreren 90-Minuten-Einheiten mit Kindern und Jugendlichen ab 10 Jahren. Kurzfilme, interaktive Übungen, Rollenspiele und moderierte Gespräche sensibilisieren die Teilnehmenden für Vorurteile und Ausgrenzungspraktiken und regen zum kritischen Denken an. Eigene Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit rechtsextremen und islamistischen Ansprachen werden erprobt. Die drei Module bauen aufeinander auf. Eine Handreichung für Lehrkräfte sowie alle Materialien und Arbeitsblätter stehen zum Download zur Verfügung. Zur Durchführung ist ein Smartboard mit Internetzugang nötig, die Teilnehmenden benötigen keine mobilen Endgeräte. Externer Link: Zur Projektseite und zu den kostenfreien Materialien auf kleine-grosse-schritte.de Herausgeber: planpolitik, 2022 Medium: Kurzfilme und Arbeitsmaterialien, kostenlos zum Download auf Externer Link: kleine-große-schritte.de Themen: Vorurteile, Extremismus, Islamismus Zielgruppe: Kinder und Jugendliche ab 10 Jahre, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte Zeitaufwand: drei verschiedene eintägige Workshops bzw. neun Module á 90 min. Unterrichtsfächer: Politik, Ethik, Religion, Deutsch Adressierte Kompetenzen Analysekompetenzen, Sozialkompetenzen, Reflexionskompetenzen, Handlungskompetenzen, (politische) Urteilsfähigkeit Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, Diversität & Toleranz Aktion Schulstunde: "Toleranz: ICH, DU, WIR" Filme und Unterrichtsmaterialien Zu der ARD-Themenwoche "Toleranz" hat der rbb verschiedene Kurzfilme und Unterrichtsmaterialien für Kinder erstellt. Das Unterrichtsmaterial ist nach dem Baukastenprinzip aufgebaut und muss nicht komplett genutzt werden. Im Mittelpunkt stehen das handlungsorientierte Lernen und die eigene Reflexion. Neben Rollenspielen, Bewegungsaufgaben und Basteleinheiten gibt es kurze Sachtexte und Porträts. Sie sollen lebensnahe Anregungen und Diskussionsstoff für die Schülerinnen und Schüler bieten. Externer Link: Toleranz: Zu den Videos und zum kostenfreien Download auf rbb-online.de Herausgeber: ARD, 2014 Medium: Videos und Unterrichtsmaterialien: online und zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de/jl1 Themen: Glaube, Religion, Toleranz, Vielfalt in der Gesellschaft Zielgruppe: Klassen 3 bis 6 Zeitaufwand: flexibel Unterrichtsfächer: Sachunterricht, Religion, Ethik, Deutsch, Kunst etc. Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Anregungen für eine diversitäts­orientierte Pädagogik im Kontext von Islam in der Grundschule Arbeitshilfe Wie lässt sich gesellschaftliche und religiöse Vielfalt schon in der Grundschule gestalten? Die Broschüre bietet Informationen und Anregungen für eine diversitätsorientierte Praxis, in der auch religiöse Themen ihren Raum haben. Dazu gehören z. B. praktische Maßnahmen, wie Lehrkräfte den schulischen Alltag so gestalten können, dass Konflikte und Missverständnisse vermieden werden und Raum für Neugier und Kreativität entsteht. Die Publikation entstand im Rahmen des Projekts "Protest, Provokation und Propaganda – Fortbildungen, Begleitungen und Beratungen für pädagogische Fachkräfte in der Islamismusprävention in Berlin". Externer Link: Zur kostenpflichtigen Bestellung oder zum kostenfreien Download auf ufuq.de Herausgeber: ufuq.de, 2019 Autorinnen und Autoren: Mirjam Gläser, Christiane Lenhard, Alioune Niang, Götz Nordbruch, Julia Schwieder-Rietdorf Medium: Broschüre (62 S.), bestellbar oder als PDF zum Download unter Externer Link: ufuq.de Themen: Integration und Inklusion; Neutralität, Demokratie und Religiosität; Schule als Institution und Lebenswelt; Eltern als Akteurinnen und Akteure; Diversität; die Rolle von Religion; Konflikte Zielgruppe: Lehrkräfte in der Grundschule Zeitaufwand: keine Zeitangaben Unterrichtsfächer: nicht fachbezogen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Compasito Handbuch zur Menschenrechtsbildung mit Kindern Das umfangreiche Handbuch bietet vielfältige Materialien und Hintergründe zur Menschenrechtsbildung mit Kindern ab sechs Jahren. Nach einer Einführung in die Thematik Menschenrechte und die non-formale Methodik gibt es 40 Aktivitäten, die ausführlich beschrieben werden, mit Kopiervorlagen, Angaben zu Alter, Zeit etc. Es folgt ein thematischer Teil, in dem Aspekte wie Demokratie, Rassismus, Diskriminierung, Geschlechtergerechtigkeit, interkultureller und interreligiöser Dialog und mögliche Herangehensweisen mit Kindern ausführlich dargestellt werden. Interner Link: Zur kostenpflichtigen Bestellung auf bpb.de Externer Link: Zur kostenfreien Online-Version auf compasito-zmrb.ch Herausgeber: Deutsches Institut für Menschenrechte, Bundeszentrale für politische Bildung, Europarat, Direktorat für Jugend und Sport, 2009 Autorinnen und Autoren: Maria Emilia Brederode-Santos, Jo Claeys, Rania Fazah u. a. Medium: Buch (336 S.), bestellbar für 4,50 Euro unter Interner Link: www.bpb.de/37210 oder kostenlose Onlineversion unter Externer Link: kurz.bpb.de/j8f Themen: Menschenrechte, Kinderrechte, Menschenrechtsbildung, Methoden, Aktivitäten, Demokratie, Grundrechte, Vielfalt, Diskriminierung, Gewalt, Familie, Geschlechtergerechtigkeit, Medien, Partizipation etc. Zielgruppe: pädagogische Fachkräfte, Trainer/-innen, Lehrkräfte, Betreuungspersonen. Aktivitäten für Kinder von 6 bis circa 13 Jahren Zeitaufwand: flexibel einsetzbare Materialen und Aufgaben, konkrete Beschreibungen mit Zeitplan, Materialaufwand etc. Unterrichtsfächer: Deutsch, Sachunterricht, Religion, Ethik, Sport, Kunst Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Du und Ich Vom demokratischen Umgang mit Unterschieden und Konflikten Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat in Kooperation mit dem Niedersächsischen Kultusministerium die Reihe "Arbeitsblätter zur Demokratieerziehung in der Grundschule" entwickelt. Das Heft "Du und Ich" thematisiert die gesellschaftliche Vielfalt unserer Demokratie – insbesondere in Bezug auf Intoleranz. Vor dem Hintergrund fremdenfeindlicher Tendenzen finden sich hier Arbeitsblätter zu Aspekten wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Mehrheitsprinzip, Mobbing und Gleichheit vor dem Gesetz. In der Reihe sind weitere Hefte zum Thema Meinungspluralismus, Klassensprecher(innen)wahl und Partizipation verfügbar. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf kinderdemokratie.de Herausgeber: Göttinger Institut für Demokratieforschung, 2017 Medium: PDF (48 S.), kostenlos zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de/j8e Themen: gesellschaftliche Vielfalt, Demokratie, Mehrheitsprinzip, Mobbing, Gleichheit vor dem Gesetz etc. Zielgruppe: Lehrkräfte Zeitaufwand: flexibel, verschiedene Übungen unterschiedlichen Umfangs Unterrichtsfächer: Sachunterricht, Deutsch, Englisch, Religion, Ethik, Politik, fächerübergreifender Unterricht Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Geschichten, die bewegen Filmreihe zur Prävention von Muslimfeindlichkeit und für ein solidarisches Miteinander an Grundschulen Die Filmreihe soll pädagogische Fachkräfte dabei unterstützen, Muslimfeindlichkeit zu thematisieren und Diskriminierung vorzubeugen. Drei kurze Animationsfilme geben Impulse, um mit Kindern über Identität, Vielfalt, Vorurteile und Diskriminierung zu sprechen. Die begleitende Handreichung enthält Tipps, Materialhinweise und Methoden für die Auseinandersetzung mit diesen Themen im Unterricht oder in der Nachmittagsbetreuung/Hort. Das Material möchte Fachkräften Orientierung und Handlungssicherheit geben, wie sie an der Grundschule auf Diskriminierung und Rassismus reagieren können. Externer Link: Zu den Videos und zur kostenfreien PDF-Handreichung auf zeok.de Herausgeber: Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur e. V. (ZEOK), 2022 Autorinnen Derya Erdogan, Jule Wagner, Melanie Hudler Medium: drei Animationsfilme (jeweils 2–3 Minuten), Begleitmaterial als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: zeok.de Themen: Identität, Vielfalt, Vorurteile, Stereotype, Diskriminierung, Muslimfeindlichkeit Zielgruppe: Klassen 3 bis 6, Lehrkräfte Zeitaufwand: acht Module á 30–90 min. Unterrichtsfächer: Deutsch, Sachunterricht, Ethik Adressierte Kompetenzen Sozialkompetenzen, Reflexionskompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Lernziel Gleichwertigkeit Grundstufe Das Handbuch von "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" für die Grundschule bietet eine Fülle von Informationen, zum Beispiel über die Themen Ideologien der Ungleichwertigkeit, Diskriminierung und Partizipation. Es werden Ansätze, Methoden und Praxisbeispiele, wie man die Themenfelder in der Grundschule bearbeiten kann, sowie zahlreiche weiterführende Materialien und Literaturhinweise vorgestellt. Externer Link: Zum kostenfreien Handbuch auf schule-ohne-rassismus.org Herausgeber: Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, Berlin 2016 Autorinnen und Autoren: Daniel Bax, Gerasimos Bekas, Melike Çinar, Sanem Kleff u. a. Medium: Handbuch als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de/jl3 Zielgruppe: Lehrkräfte in der Grundschule Themen: Schule mit Courage, Ideologien der Ungleichwertigkeit (Rassismus, Islamismus, Rechtsextremismus, Muslimfeindlichkeit usw.), Diskriminierung, Kinderrechte, Partizipation, Methoden, Themenfelder (z. B. Kolonialismus, Migrationsgeschichte, Flucht und Asyl) Zeitaufwand: flexibel, vor allem Hintergrundwissen und methodische Ansätze Unterrichtsfächer: Deutsch, Sachunterricht, Religion, Ethik, Kunst, Musik, Sport Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" "Vielfalt Willkommen"– interkulturelle Kompetenzen stärken! Ein Methodenhandbuch für Pädagog_innen der Primarstufe Das Handbuch bietet Beispiele zur Planung und ­Gestaltung von einzelnen Projekttagen sowie Projektwochen zum Thema Vielfalt, Migration und Wertschätzung. Die Projekte können an einzelnen Tagen, in einer Woche am Stück oder über mehrere Wochen als Ganztagsangebot, aber auch vormittags im Unterricht durchgeführt werden. Die Materialien entstanden während des Projektes "Vielfalt Willkommen", das über drei Jahre im Raum Leipzig an Grundschulen und Horten durchgeführt wurde. Es bietet vielfältige Einblicke in das Projekt und enthält viele praktische Tipps und Erfahrungswerte. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf zeok.de Herausgeber: ZEOK e. V. – Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur, Leipzig 2018 Autorinnen: Ariane M. Meixner, Katrin Pausch Medium: Broschüre (31 S.) als PDF zum Download unter Externer Link: zeok.de Zielgruppe: Pädagoginnen und Pädagogen in der Grundschule Themen: Familie, Identität, Stärken, Sprache, Heimat, Vielfalt, Migration, Stadtteilerkundung Zeitaufwand: keine konkreten Zeitangaben – Durchführung als Ganztagsangebot, als Projekttage oder im Unterricht denkbar – 10 Doppelstunden Unterrichtsfächer: Ethik, Religion, Sachkunde, Ganztagsangebote Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Islam, muslimisches Leben in Deutschland & Glauben Aktion Schulstunde: "Woran glaubst du?" Filme und Unterrichtsmaterialien Zu der ARD-Themenwoche "Glaube" hat der rbb verschiedene Kurzfilme und Unterrichtsmaterialien für Kinder erstellt. Das Unterrichtsmaterial ist nach dem Baukastenprinzip aufgebaut und muss nicht komplett genutzt werden. Im Mittelpunkt stehen das handlungsorientierte Lernen und die eigene Reflexion. Neben Rollenspielen, Bewegungsaufgaben und Basteleinheiten gibt es kurze Sachtexte und Porträts. Sie sollen lebensnahe Anregungen und Diskussionsstoff für die Schülerinnen und Schüler bieten. Externer Link: Glaube: Zu den Videos und zum kostenfreien Download auf rbb-online.de Herausgeber:  rbb, 2017 Medium: Videos und Unterrichtsmaterialien: online und zum Download unter Externer Link: kurz.bpb.de/jl2 Themen: Glaube, Religion, Vielfalt in der Gesellschaft Zielgruppe: Klassen 3 bis 6 Zeitaufwand: flexibel Unterrichtsfächer: Sachunterricht, Religion, Ethik, Deutsch, Kunst etc. Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Der Islam. Erklärfilme Multimediaportal zur interreligiösen Verständigung und Bildung Das Multimedia-Portal "relithek.de" bietet verschiedene Zugänge, um die Weltreligionen im Unterricht zu bearbeiten. Es beinhaltet Erklärfilme zu Festen, Traditionen, Glaubenslehre, Schriften und Gegenständen, die im Islam und den anderen Weltreligionen wichtig sind. Zum Islam gibt es mehrere Videos, die sich auch für den Einsatz in der Grundschule eignen sowie dazugehörige Wissens- und Lernkarten. Darüber hinaus werden weitere Materialien für den Einsatz im Unterricht angeboten, wie z. B. Padlets und Unterrichtsbausteine. Das Angebot auf relithek.de wird fortlaufend erweitert. Externer Link: Zu den Erklärfilmen auf relithek.de Herausgeber: Religionspädagogisches Institut (RPI) der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), 2022 Medium: Erklärvideos, Lernkarten und Materialien als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: relithek.de Themen: Islam, Religion, Feste Zielgruppe: Kinder und Jugendliche ab 7 Jahre, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte Zeitaufwand: verschiedene Filme und Materialien, 30-240 min. Unterrichtsfächer: Religion, Ethik, Sachunterricht Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, Sachkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Hanisauland.de-Spezial: Islam Online-Portal für Kinder Hanisauland.de ist das Online-Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung für Kinder. Im Spezial zum Thema Islam werden in mehreren Kapiteln viele Hintergrundinformationen kindgerecht erklärt, zum Beispiel zu den fünf Säulen des Islam oder zu Islam und Politik, außerdem gibt es ein Quiz. Im Bereich für Lehrkräfte werden passende Arbeitsblätter für die Grundschule zum Download bereitgestellt. Externer Link: Zum Spezial Islam auf hanisauland.de Externer Link: Zu den Arbeitsblättern Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung Medium: Online-Texte und Fotos, Arbeitsblätter als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: hanisauland.de Themen: Islam, Religion, Feste Zielgruppe: Kinder und Jugendliche ab 8 Jahre, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte Zeitaufwand: 45-90 min. Unterrichtsfächer: Sachunterricht, Ethik, Religion, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, Sachkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Islam – Religionen der Welt Film auf Planet Schule In einem Dokumentarfilm werden drei junge Menschen und drei Aspekte des muslimischen Glaubens vorgestellt. Der 13-jährige Mustafa fastet zum ersten Mal mit seiner Familie im Ramadan, eine Archäologiestudentin beschäftigt sich mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis und der Geschichte des Islam, und eine junge Karatemeisterin erzählt davon, welche Rolle die Religion für sie spielt. Die Filme konzentrieren sich auf alltägliche Fragen rund um die Religion, vermitteln gleichzeitig Grundwissen und fördern so ein besseres Verständnis. Es gibt mehrere Arbeitsblätter zu den Inhalten der Filme sowie didaktische Vorschläge zur Arbeit mit den Filmen im Unterricht. Externer Link: Zum Film auf planet-schule.de Herausgeber: Planet Schule (SWR und WDR), 2022 Medium: Dokumentarfilm (29 min.), 5 Arbeitsblätter als PDF kostenlos zum Download unter Externer Link: planet-schule.de Themen: Islam, Ramadan, Shahada, Religion im Alltag Zielgruppe: Kinder und Jugendliche ab 9 Jahre, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte Zeitaufwand: 90 – 120 min. Unterrichtsfächer: Religion, Ethik, Sachunterricht, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, Sachkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Komplettpaket Islam Material zum Stationenlernen Das Unterrichtsmaterial ist gedacht für Stationenlernen zum Thema Islam in Klasse 4-7. An zehn Stationen lernen die Kinder zum Beispiel etwas über die fünf Säulen des Islam, muslimische Feste und Ramadan, über den Koran etc. Das Paket enthält Stationskarten, Laufzettel, Lösungen, Tafelbilder und Bildkarten. Externer Link: zum Material als kostenpflichtiger Download Herausgeber: Schulwiesel, Kreuzlingen (Schweiz), 2022 Medium: als PDF (53 S.) zum kostenpflichtigen Download für 10,50 Euro unter Externer Link: eduki.com Themen: Islam, Religion, Ramadan, Feste Zielgruppe: Kinder und Jugendliche ab 9 Jahre, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte Zeitaufwand: 180 - 270 min. Unterrichtsfächer: Religion, Ethik, Sachunterricht, Deutsch Adressierte Kompetenzen: Analysekompetenzen, Sachkompetenzen Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Mein Gott, dein Gott, kein Gott. – Interreligiöse Kompetenzen stärken! Eine Handreichung für PädagogInnen der Primarstufe Das Manual bietet Grundinformationen zur Religions­bildung aus der Perspektive des Anti-Bias-Ansatzes, gibt Impulse und Materialien für die Elternarbeit sowie für die Arbeit mit Kindern. Die Handreichung entstand im Rahmen des Projekts "Mein Gott, dein Gott, kein Gott." in Leipzig und stellt zudem die migrantische Vielfalt Leipziger Religionsgemeinden dar. Sie richtet sich an alle Pädagoginnen und Pädagogen in der Grundschule sowie sonstige Interessierte der interkulturellen und interreligiösen Bildungsarbeit. Externer Link: Zum kostenfreien Download auf zeok.de Herausgeber: ZEOK e. V. – Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur, Leipzig 2014 Autorinnen: Elke Seiler, Jule Wagner Medium: Broschüre (76 S.) als PDF zum Download unter Externer Link: zeok.de Zielgruppe: Pädagoginnen und Pädagogen in der Grundschule Themen: Anti-Bias-Ansatz, vorurteilsbewusste Religionsbildung, religiöse Vielfalt vor Ort (Leipzig), Elternarbeit, interreligiöses Arbeiten mit Kindern: Feste, Sprachen, Schriften, Speisegebote, Exkursionen Zeitaufwand: keine Zeitangaben Unterrichtsfächer: Sachkunde, Ethik, Religion, Deutsch Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Religionen und miteinander leben in Deutschland – jetzt versteh ich das! HanisauLand-Arbeitsheft für Schülerinnen und Schüler sowie Begleitheft für Lehrkräfte In dem Arbeitsheft erfahren Kinder, welche Bedeutung der Glaube und gegenseitiger Respekt für Menschen haben und wie es gelingen kann, dass Menschen mit unterschiedlichen Religionen gut zusammenleben. Vielfalt der Religionen, religiöse Feiertage und der Stellenwert von Religion im Grundgesetz sind wichtige Schwerpunktthemen. Das Arbeitsheft enthält kurze kindgerechte Informationstexte, Aufgaben zur Selbstreflexion, Übungen für einen respektvollen Umgang miteinander sowie Angebote zum gemeinsamen Austausch in der Klasse. Im Begleitheft für Lehrkräfte gibt es didaktische Anregungen, wie das Thema des friedlichen Miteinanders unterschiedlicher Religionen kindgerecht bearbeitet werden kann. Übungen zum Sprachgebrauch und der Kommunikation im religiösen Kontext bieten die Gelegenheit, künftige Konflikte gut zu lösen. Interner Link: Arbeitsheft: Zum kostenfreien Download auf bpb.de Interner Link: Begleitheft: Zur kostenfreien Bestellung und zum Download auf bpb.de Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020 Autorinnen: Rahel Sünkel, Christiane Toyka-Seid Medium: Arbeitsheft (38 S.) als PDF zum Download unter Externer Link: www.bpb.de/324897 Begleitheft für Lehrkräfte (34 S.), kostenlos bestellbar und als PDF zum Download unter Externer Link: www.bpb.de/324902 Zielgruppe: Schülerinnen und Schüler (Klassen 3 bis 6) sowie Lehrkräfte in der Grundschule Themen: Vielfalt der Religionen, religiöse Feiertage, Religionsfreiheit, friedliches Zusammenleben Zeitaufwand: keine Zeitangaben Unterrichtsfächer: Sachkunde, Ethik, Religion, Deutsch Interner Link: Nach oben zu "Die Materialien im Überblick" Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-03T00:00:00"
"2021-06-01T00:00:00"
"2023-08-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/334242/materialien-methoden-fuer-den-unterricht-in-der-grundschule/
In der Grundschule wird die Basis gelegt für ein friedliches Miteinander, die Wertschätzung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie die Vielfalt von Religionen, Lebensweisen, Werten und Kulturen.
[ "Islamismus", "Salafismus", "religiös begründeter Extremismus", "Radikalisierungsprävention", "Grundschule", "Schule", "Unterricht", "Lehrkräfte", "Unterrichtsmaterialien", "Arbeitsblätter", "außerschulische Bildungsarbeit" ]
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Akteure der kulturellen Bildung | Kulturelle Bildung | bpb.de
Einleitung Kulturelle Bildung hat zum Ziel, Menschen durch die Auseinandersetzung mit künstlerischen Ausdrucksformen an den Umgang mit Kunst und Kultur heranzuführen, ihr Verständnis für künstlerische und kulturelle Phänomene zu fördern sowie künstlerische Techniken zu vermitteln. Das kommt nicht von ungefähr, das ist integraler Bestandteil der Kulturlandschaft in Deutschland, die sich durch kultur- und bildungspolitisches Engagement entwickelt. Dieses Engagement initiieren und betreiben die staatliche und kommunale Politik in den Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen, aber auch die freien Träger der Kulturvereine, -verbände und -netzwerke sowie die privaten und öffentlichen Kulturbetriebe und die Institutionen der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Bundespolitische Akteure Kulturelle Bildung wird zunehmend ein relevanter Politikbereich, der sich auch in den Strukturen der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik abbilden lässt. In den Bundesministerien für Bildung und Forschung sowie für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibt es jeweils ein Referat für "Kulturelle Bildung" und seit kurzem auch beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt. Letzterer hat 2009 sogar einen Preis für "Kulturelle Bildung" ausgeschrieben und verliehen. Die bildungspolitischen Aufgaben des Bundes beziehen sich vor allem auf Projekte und Programme zur wissenschaftlichen Begleitung von kultureller Bildung und auf zahlreiche Wettbewerbe, wie zum Beispiel das "Treffen Junge Musik-Szene", das "Theatertreffen der Jugend" oder das "Treffen Junger Autoren", welche die Preisträger zu Festivals mit Arbeitsgruppen in Berlin zusammenführen. Die jugendpolitischen Aktivitäten des Bundes im Kinder- und Jugendplan unterstützen die Träger der kulturellen Bildung in allen Kunstsparten und ermöglichen Weiterbildungsprojekte, Wettbewerbe und Austauschprogramme, wie etwa das "Deutsche Kinder- und Jugendtheater-Treffen" (alle zwei Jahre in Berlin), den "Deutschen Jugendliteraturpreis" (jährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse) oder den "Kompetenznachweis Kultur". Der Deutsche Bundestag hat durch die Einsetzung einer Enquête-Kommission einen Bericht zur "Kultur in Deutschland" in Auftrag gegeben, der 2007 auch mit einer Bestandsaufnahme und zahlreichen Handlungsempfehlungen zur kulturellen Bildung veröffentlicht wurde: "Die Enquête-Kommission empfiehlt Bund, Ländern und Kommunen, in die Kulturelle Bildung zu investieren; insbesondere in der Früherziehung, in der Schule, aber auch in den außerschulischen Angeboten für Kinder und Jugendliche sollte Kulturelle Bildung gestärkt und schwerpunktmäßig gefördert werden. Kulturelle Bildung ist unverzichtbarer, integraler Bestandteil von Bildung wie von Kultur und eine Querschnittsaufgabe verschiedener Politikfelder." (Kultur in Deutschland, S. 546) Kulturelle Bildung ist in der Bundespolitik auch im Auswärtigen Amt identifizierbar, schwerpunktmäßig in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, die zu einem großen Teil von sogenannten Mittlerorganisationen wie z.B. dem Goethe-Institut in fast allen Ländern der Welt zur Vermittlung eines Deutschlandbildes und der deutschen Sprache sowie zum interkulturellen Dialog und zur künstlerischen Zusammenarbeit betrieben wird. Landespolitische Akteure Auch in den einzelnen Bundesländern finden sich mittlerweile nicht nur in der Schulpolitik Praxisfelder der kulturellen Bildung, sondern auch in außerschulischen Politikbereichen. Klassische Fächer sind hier der Musikunterricht und die Kunsterziehung; in einigen Ländern und nur für einzelne Schulformen und -stufen existieren zudem Kurse in darstellendem Spiel. Einen Lernbereich "Kulturelle Bildung", wie er etwa in den Niederlanden oder in Norwegen praktiziert wird, gibt es an deutschen Schulen noch nicht. Einige Bildungsministerien der Länder setzen aber auf eine sinnvolle Kooperation mit den öffentlichen Kultureinrichtungen wie Museen, Theatern und Bibliotheken. Ein solches Zusammenarbeiten wird mit Verträgen vereinbart und ermöglicht die Verzahnung von schulischer und außerschulischer kultureller Bildung. Insbesondere Musik- und Jugendkunstschulen haben hierzu Modelle entwickelt, die ein gemeinsames Curriculum vor allem im Ganztagsangebot garantieren. Kulturstiftung der Länder bzw. des Bundes Bundes- und länderpolitisch übergreifend arbeiten die Kulturstiftung der Länder und die Kulturstiftung des Bundes auch im Bereich der kulturellen Bildung. Letztere setzt vor allem auf die Kunst der Vermittlung, zum Beispiel mit dem "Netzwerk Neue Musik", welches die zeitgenössische Musik einem größeren Publikum näher bringen möchte, oder das Großprojekt zur musikalischen Bildung "Jedem Kind ein Instrument", das mit mehreren Millionen Euro als Beitrag zur europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010 allen Grundschülern der Region das Erlernen eines Musikinstruments ermöglichen will. Die Kulturstiftung der Länder hat sich nicht nur das Sichern und Bewahren, sondern auch die Vermittlung von Kunst und Kultur zur Aufgabe gemacht. 2003 startete sie die Bildungsinitiative "Kinder zum Olymp", mit der die "kulturelle Bildung besser im Alltag von Schulen oder auch Kindergärten sowie im Bewusstsein der Öffentlichkeit" verankert werden soll. Mit Publikationen (z.B. "Kinder zum Olymp! Wege zur Kultur für Kinder und Jugendliche", Köln 2004), Kongressen (zuletzt München 2009: "Konkret. Kooperationen für Kulturelle Bildung") und dem Wettbewerb "Schulen kooperieren mit Kultur" regt die Kulturstiftung neue Initiativen an und baut Netzwerke auf. Länder und Kommunen arbeiten zudem an Konzeptionen für die kulturelle Bildung, um die inhaltlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine Stärkung dieses Praxisfeldes zu schaffen. Die Bundeshauptstadt hat ebenso wie der Stadtstaat Hamburg oder die bayerische Landeshauptstadt einen Prozess eingeleitet, der die besondere Entwicklung von kultureller Bildung als politische Querschnittsaufgabe fördern soll. Im Rahmenkonzept für Berlin von 2008 ist zu lesen: "Ziel kultureller Bildung ist es daher, Kinder und Jugendliche zu befähigen, am kulturellen Leben der Gesellschaft aktiv und selbstverantwortlich teilnehmen zu können. Dazu gehören das Vertrautwerden mit der Kunst als Sprache, die Sensibilisierung auf Kunst hin ebenso wie das Verständnis für den Eigenwert von Kunst, die sich jeglicher Verzweckung verweigert, die Freisetzung schöpferischer Kräfte und Phantasien durch die Ausbildung künstlerisch-ästhetischer Ausdrucksformen. Ein ganzheitliches Verständnis kultureller Bildung begreift den Menschen daher immer im Zusammenspiel seiner kognitiven, sinnlichen, emotionalen und ästhetischen Aneignungsweisen und zielt darauf, diese individuell zu fördern und auszuprägen." Kulturelle Bildung wird zwar von Politikern der Länder, der Kreise und Kommunen gerne gefordert, Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber noch immer auseinander. Einzelne Programme und Projekte, wie der nordrhein-westfälische Wettbewerb für städtische Konzepte zur kulturellen Bildung oder Positionspapiere aus Ministerien und Kulturausschüssen, von Städtetag und Kommunalverbänden täuschen nicht darüber hinweg, dass die Querschnittsaufgabe zwar erkannt, aber weder parlamentarisch noch verwaltungsintern, geschweige denn haushälterisch mit entsprechenden Etats umgesetzt wird. Deutscher Kulturrat Diese Umsetzung fordern vor allem die freien Träger ebenso wie die Institutionen der kulturellen Bildung. Der Deutsche Kulturrat als Dachverband aller kultur- und medienpolitischen Organisationen plädiert für eine Reform der Kultur- und Bildungspolitik, deren zentrales Anliegen es sein müsse, kulturelle Bildung zu fördern. In der "Konzeption Kulturelle Bildung III" [2005 im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erstellt] werden die Forderungen zusammengefasst, die Rahmenbedingungen aufgelistet, die Infrastruktur analysiert sowie Aspekte wie Arbeitsmarkt und Qualifizierung untersucht. Die grundlegendste Aussage machte der Kulturrat in einem Aufruf zur kulturellen Daseinsvorsorge von 2004. Dort wird auch definiert, welche Kulturpolitik kulturelle Bildung in der Gesellschaft konstituieren sollte: "Daseinsvorsorge im Bereich der Kultur meint ein flächendeckendes Kulturangebot in den verschiedenen künstlerischen Sparten, das zu erschwinglichen Preisen, mit niedrigen Zugangsschwellen breiten Teilen der Bevölkerung kontinuierlich und verlässlich zur Verfügung steht." Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Wichtiger Akteur innerhalb der kulturpolitischen Verbände ist die BKJ, die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, ebenfalls ein Dachverband von mehr als 50 bundesweit agierenden Fachverbänden, Institutionen und Landesvereinigungen. Vertreten sind die Bereiche Musik, Spiel, Theater, Tanz, Rhythmik, bildnerisches Gestalten, Literatur, Fotografie, Film und Video, neue Medien und kulturpädagogische Fortbildung, darunter z.B. der Verband der Musikschulen, der Bundesverband der Jugendkunstschulen und das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland. Die BKJ nimmt die jugend- und kulturpolitische Interessenvertretung auf Bundesebene sowie auf europäischer Ebene wahr, pflegt den Informationsaustausch der Mitgliedsverbände, entwickelt Modelle und Perspektiven der Kinder- und Jugendkulturarbeit, veranstaltet Fachtagungen und veröffentlicht Publikationen, zum Beispiel in der Schriftenreihe "Kulturelle Bildung" (München). In ihrem Tätigkeitsbericht für 2008 bekundet die BKJ das besondere Interesse, in Qualität zu investieren: "Man muss über die Förderung notwendiger Voraussetzungen nachdenken – beispielsweise über Ausbildungsqualitäten und Kompetenzen von Fachkräften, in der künstlerischen Arbeit Selbstwertgefühle zu stärken oder über die Kompetenzen von Eltern, Kreativität und Kulturelle Bildung zu fördern. Man muss über Rahmenbedingungen nachdenken, die vorhandenen Strukturqualitäten sollten die Chancen der Persönlichkeitsbildung mit und durch Kunst nicht beeinträchtigen." Darüber hinaus müssten Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung entsprechend der unterschiedlichen Handlungsfelder aufgestellt werden: "in nationalen und internationalen, produktiven und rezeptiven Kontexten, von der Frühförderung über die schulische Bildung bis hin zu Feldern des lebenslangen Lernens und des bürgerschaftlichen Engagements. Und stets gilt es, darauf zu achten, die Stärken der Kulturellen Bildung in ihrer Qualität zwischen der Vermittlung von Kunst und Gesellschaft bestmöglich zu entfalten. Im Mittelpunkt steht der Mensch, stehen insbesondere Kinder und Jugendliche und das Bemühen, Zugänge zur Kultur zu erweitern, Erfahrungs- und Entfaltungsräume anzubieten, die an künstlerische Arbeitsweisen heranführen und kreativen Eigensinn sowie Selbstbewusstsein befördern." Fachhochschulen und Universitäten Zur Ausbildung in Theorie und Praxis der kulturellen Bildung tragen die Fachhochschulen und Universitäten in Deutschland bei. In unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen und -pädagogischen Studiengängen, aber auch in allen Künsten und ihrer Vermittlung finden sich Angebote, kulturelle Bildung zu studieren. An der Universität Hildesheim wurde 2009 die erste Professur für "Kulturelle Bildung" eingerichtet. Zur Fort- und Weiterbildung dienen die Kurse und Zertifikate der Bundesakademien für kulturelle Bildung (Wolfenbüttel) und für musikalische Jugendbildung (Trossingen), der Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung sowie die mehr als 2.000 Volkshochschulen in den Kommunen. Kulturelle Bildung ist auch Gegenstand und Methode des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der einen Kulturauftrag wahrnimmt, welcher selbstverständlich die Kulturvermittlung einschließt. Ob in Kulturmagazinen und -kanälen oder in Medienpartnerschaften mit der Kulturlandschaft: Die kulturelle Bildung in ARD und ZDF, in Arte und 3 Sat gerät immer wieder in die Diskussion, bedarf aber der Sicherung mindestens durch die Selbstverpflichtung der Sender. Teilhabende Akteure Kulturelle Bildung hat viele Akteure; vor allem sind es diejenigen, die teilhaben: Kinder, Jugendliche, Erwachsene; die Künstler, die Kulturschaffenden und die Kulturvermittler; in den Soziokulturellen Zentren, in den Theatern, in den Schulen, in den Parlamenten, in den Magistraten, in den Landratsämtern; in den Vereinen, Verbänden und Netzwerken. Kulturelle Bildung ist eine politische Querschnittsaufgabe, und von daher sind die Akteure auch in den unterschiedlichen Politikfeldern zu Hause: im Bildungsbereich, in der Kulturpolitik, in der Jugendhilfe. Kulturelle Bildung ist aber auch eine gesellschaftliche Aufgabe; denn sie braucht alle Bürger, um sozial wirken zu können, um Kreativität nutzbar zu machen, um die künstlerische Kommunikation zu pflegen – ein Leben lang! Kulturelle Bildung ist auch interkulturell, interdisziplinär und international und insofern auch ein komplexes Gebilde, das es zu gestalten gilt; die Akteure ermöglichen, konzipieren und praktizieren kulturelle Bildung, sie sind mit Produktion, Distribution und Rezeption beschäftigt; alle sollten an kultureller Bildung partizipieren!
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Wolfgang Schneider
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59920/akteure-der-kulturellen-bildung/
Kulturelle Bildung hat viele Akteure. Dazu zählen die zahlreichen Kulturverbände und ihre freien Träger, die Institutionen der Kultur und Weiterbildung, Politik auf verschiedenen Ebenen. Und natürlich die Menschen, die teilhaben: Kinder, Jugendliche,
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Wohnen | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de
Bundesrepublik: Beseitigung des Wohnungsmangels durch sozialen Wohnungsbau und Eigenheimförderung Abbildung 1: Fertiggestellte Wohnungen in West- und DDR/Ostdeutschland (1950 – 2018) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Infolge der massiven Kriegszerstörungen insbesondere in den Großstädten sowie der Abtretung der Ostgebiete war die Wohnungssituation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg katastrophal. Etwa 9 Millionen Menschen waren aus den Städten in ländliche Gebiete evakuiert worden und ca. 12 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge kamen aus den Ostgebieten, insgesamt 21 Millionen Menschen suchten eine (neue) Bleibe. Der Zensus in den drei Westzonen 1946 ergab, dass eine Zahl von ca. 5,5 Millionen Wohnungen fehlten (Egner 2019, S. 62). Um dieses zentrale soziale Problem anzugehen und den Wiederaufbau der Städte anzukurbeln, wurde im Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ein "Ministerium für Wohnungsbau" geschaffen. Es koordinierte die Wohnungsbauförderung in zwei Varianten, dem sozialen Wohnungsbau und der Eigenheimförderung, dem dienten auch die beiden Wohnungsbaugesetze. In den 1950er und 1960er Jahren wurde von der bundesdeutschen Wohnungspolitik das Ziel verfolgt, "breiten Schichten der Bevölkerung" Zugang zu Wohnraum zu verschaffen, um die Wohnungsfrage zu lösen (Egner 2019, S. 64). Die Hochphase des sozialen Wohnungsbaus lag in den Nachkriegsjahrzehnten, allein in den 1950er Jahren finanzierte der Bund den Bau von insgesamt 3,3 Millionen Wohnungen (Egner 2019, S. 62; siehe Abbildung 1). Ende der 1960er Jahre machten die öffentlich geförderten Mietwohnungen einen Anteil von fast 30% aus (vgl. Abbildung 2). Mit der Wohneigentumsförderung wurden verstärkt seit den 1960er Jahren Mittelschichten gefördert, die sich mit öffentlicher Unterstützung ein Eigenheim bauen bzw. kaufen sollten. Dafür wurden enorme öffentliche Gelder ausgegeben – die Eigenheimförderung war die teuerste Subvention der Bundesrepublik, die Eigenheimquote konnte in der Bundesrepublik aber nur graduell gesteigert werden. Der Eigenheimbau trug dann vor allem in den 1970er und 1980er Jahren zur Suburbanisierung der Städte durch den Auszug der Mittelschichten bei. Nachdem der Wiederaufbau 1966 offiziell als abgeschlossen galt, widmete man sich in der Bundesrepublik ab den 1970er Jahren im Rahmen der Städtebauförderung der Verbesserung der Wohnsituation in den bis dato vernachlässigten Altbauquartieren der Städte. Damit wurden die Innenstädte als Wohnstandorte wieder für die Mittelschichten attraktiv gemacht. Mitte der 1970er Jahre konnte als Ergebnis der enormen Neubautätigkeit in der Bundesrepublik erstmals ein statistischer Gleichstand zwischen der Zahl der Haushalte und der Zahl der Wohnungen erreicht werden. Der Bund sah damit die Wohnungsfrage als gelöst an und zog sich in der Folge sukzessive aus der Wohnungsbauförderung zurück. Damit wurde das Ende der Ära wohlfahrtsstaatlicher Wohnungspolitik in der Bundesrepublik eingeleitet. Die Leistung bei der Wohnungsversorgung wird auch vor dem Hintergrund der gewachsenen Bevölkerung deutlich: 1947 lebten in den Westzonen ca. 47 Millionen Menschen, 1989 in der Bundesrepublik 62,6 Millionen – ein Plus von 15,6 Millionen (33 %) (Mau 2019, S. 87). DDR: Persistenter Wohnungsmangel und Scheitern der sozialistischen Wohnungspolitik Auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone waren durch den Krieg mehr als eine halbe Million Wohnungen zerstört worden, von ehemals 4,6 Millionen Wohnungen waren 1946 noch ca. 3,97 nutzbar – ein Verlust von ca. 14% (Buck 2004). Dem stand eine durch Vertriebene und Flüchtlinge wachsende Bevölkerung gegenüber, etwa 4,5 Millionen Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer kamen bis 1949 in die sowjetische Besatzungszone. Das ergibt bei einer damaligen durchschnittlichen Haushaltsgröße von drei Personen einen Fehlbetrag von ca. 2,1 Millionen Wohnungen. Die DDR verfolgte von Beginn an eine sozialistische Wohnungspolitik, bezugnehmend auf die Weimarer Verfassung wurde auch in der DDR-Verfassung Wohnungsversorgung zur öffentlichen Aufgabe bestimmt: "Jedem Bürger und jeder Familie ist eine gesunde und ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnung zu sichern" (DDR-Verfassung 1949, § 26). Das Privateigentum an Boden wurde abgeschafft, die Mieten wurden gesetzlich geregelt. Für Altbauwohnungen wurden die Mieten auf dem Stand von 1936 bis zum Ende der DDR eingefroren, für Neubauwohnungen wurden sie 1981 zentral auf ca. eine DDR-Mark pro Quadratmeter festgelegt. Die Mietbelastungsquote war historisch niedrig und lag bei ca. 3% der Haushaltseinkommen. Mieter waren faktisch unkündbar, es gab keine Zwangsräumungen. Die Wohnung war kein Wirtschaftsgut mehr, sondern ein soziales bzw. öffentliches Gut, das von staatlichen Verwaltungen verteilt wurde. Die Wohnung sollte auch nicht mehr länger Ausdruck und Mittel sozialer Differenzierung sein, sondern die angestrebte soziale Gleichheit sollte sich auch in gleichen Wohnbedingungen für alle Klassen und Gruppen der Bevölkerung widerspiegeln. Der Wohnungsbau wurde zwar schon in den 1950er Jahren angekurbelt, allerdings blieben aufgrund anderer politischer Ziele die Zahlen fertiggestellter Wohnungen weit hinter dem Bedarf zurück (vgl. Abbildung 1). Der Eigenheimbau wurde in der DDR nicht gefördert und war in den 1950er und 1960er Jahren die Ausnahme, ab 1971 wurde er per Anordnung zugelassen. Am Beginn der 1970er Jahre waren ca. 600.000 Wohnungssuchende registriert, die Wartezeit auf eine Wohnung betrug bis zu 10 Jahre (Häußermann/Siebel 1996). Auf ihrem 8. Parteitag 1971 beschloss die SED die Lösung der Wohnungsfrage bis 1990 und startete dazu nach schwedischem Vorbild ein Wohnungsbauprogramm. Der Wohnungsbau erfolgte überwiegend in typisierter Plattenbauweise in Großwohnsiedlungen an den Rändern der Städte. Zwischen 1971 und 1989 wurden ca. 2,1 Millionen Wohnungen gebaut (Buck 2004), darunter waren auch ca. 265.000 Eigenheime, überwiegend ebenfalls in typisierter Bauweise. Diese Steigerung im Wohnungsangebot konnte allerdings nicht mit der Nachfrage Schritt halten, obwohl die Bevölkerung im Osten von 19,1 Millionen Einwohnern im Jahr 1947 um 2,7 Millionen auf 16,4 Millionen (-14,1%) im Jahr 1989 sank (Mau 2019, S. 87). In der DDR wurde zu wenig in Instandsetzung und Modernisierung der Altbauwohnungen investiert, die Ausstattung mit Bad/Dusche, Innen-WC und moderner Heizung blieb mangelhaft (Winkler 2018, S. 274). Die Altbauwohnungen verfielen und wurden teilweise unbewohnbar, Ende der 1980er Jahre war die Verfallsrate sogar höher als die Neubaurate. Bis 1990 stieg die Zahl der Wohnungssuchenden infolgedessen weiter auf ca. 770.000, obwohl zugleich ca. 440.000 Wohnungen leer standen, meist wegen Baufälligkeit (Buck 2004). Die DDR scheiterte mit ihrem hohen Anspruch in Bezug auf das Wohnen, die ungelöste Wohnungsfrage gehörte zu den Hintergründen der Massenproteste im Herbst 1989. Die Situation nach der Vereinigung: Bauboom in Gesamtdeutschland Abbildung 2: Anzahl geförderter Wohnungen nach Wohnungsbaugesetz (Sozialwohnungen) 1950-2015 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Infolge der deutschen Vereinigung und der Zuwanderung von Ostdeutschen, Spätaussiedlern und Geflüchteten aus Ex-Jugoslawien gab es in den 1990er Jahren einen neuen Wohnungsbauzyklus in Gesamtdeutschland. Der soziale Wohnungsbau wurde wieder angekurbelt und auf Ostdeutschland ausgeweitet, allerdings nur kurzzeitig (vgl. Abbildung 2). Auf dem Höhepunkt des Baubooms wurden 1994 in Westdeutschland 505.200 Wohnungen fertiggestellt (etwa so viel wie in den 1950er Jahren) und in Ostdeutschland waren es 1997 177.800 Wohnungen, wesentlich mehr als selbst zu Hochzeiten des DDR-Wohnungsbauprogramms in den 1980er Jahren (vgl. Abbildung 1). In den 1990er Jahren lag der Fokus der Aktivitäten auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt, da die schlechte Wohnungsversorgung eine Ursache für die starke Abwanderung war. Schrittweise wurde ein Wohnungsmarkt etabliert, der an die in Westdeutschland geltenden Gesetze und Bedingungen angepasst wurde. Kernelement war die Restitution des staatlich verwalteten Wohneigentums an die früheren Besitzer bzw. deren Erben. Anfang der 1990er Jahre wurden rund 2,2 Millionen Ansprüche auf Rückübertragung geltend gemacht, davon waren ca. 1,3 der insgesamt knapp 7 Millionen Wohnungen bzw. Eigenheime betroffen. Die Restitution dauerte über ein Jahrzehnt bis Anfang der 2000er Jahre und verzögerte die Sanierung/Modernisierung der betroffenen Wohnungsbestände. Durch Restitution und Privatisierungen nahmen die öffentlichen, kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbestände um rund ein Drittel ab, d.h. um ca. eine Million Wohnungen. Mit der Restitution und den Privatisierungen war ein beträchtlicher Vermögenstransfer von Ost- nach Westdeutschland verbunden. Die Städtebau- sowie die Eigenheimförderung wurden auf Ostdeutschland ausgeweitet, mit speziellen Programmen wurden auch die Großwohnsiedlungen modernisiert. Eine zentrale Rolle spielten die Steuerabschreibungen bei Investitionen in den Neubau und die Sanierung von Wohnungen, die eine unglaubliche Investitionswelle auslösten. Praktisch gleichzeitig wurden große Teil der Altbaubestände sowie der Plattenbauten saniert bzw. modernisiert und knapp 900.000 neue Wohnungen und Häuser meist auf der "grünen Wiese" errichtet. Damit wurde die Wohnungsknappheit beseitigt und die Wohnsituation der Menschen in Ostdeutschland durchgreifend verbessert, die Ausstattung mit Bad/Dusche, Innen-WC und moderner Heizung beträgt nunmehr fast 100% (Winkler 2018, S. 274). Die durch die gesamte DDR-Zeit hindurch persistente Wohnungsfrage wurde erst im Nachhinein gelöst, allerdings so durchgreifend, dass Ende der 1990er /Anfang der 2000er ein bis dato unbekanntes Problem in Ostdeutschland auftauchte: Wohnungsleerstand. Die 2000er Jahre: Gespaltener Markt in Ost- und Westdeutschland Die rot-grüne Bundesregierung leitete im Bereich Wohnen Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre einige Reformen ein. Der soziale Wohnungsbau wurde 2001 durch die soziale Wohnraumförderung ersetzt und sukzessive zurückgefahren (vgl. Abbildung 2) (vgl. Egner 2014). Mit der im Rahmen der Agenda 2010 erfolgten Reform der Sozialgesetzgebung wurde die Unterstützung für Hartz IV-Empfänger als "Kosten der Unterkunft" (KdU) in die Sozialleistungen integriert. Mit den festgelegten Sätzen für die Kosten der Unterkunft werden seitdem im Prinzip die Mindeststandards für das Wohnen in Deutschland definiert – freilich ohne dass dies explizit benannt wird. Die Wohnungspolitik der Großen Koalition ab Mitte der 2000er Jahre war durch weitere Deregulierung gekennzeichnet sowie den Rückzug des Bundes aus der Wohnungsbauförderung. Als Beitrag zur Haushaltssanierung strich die Große Koalition ab 2006 die Eigenheimzulage. Im Zuge der Föderalismusreform zog sich der Bund nach 2006 vollständig aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus zurück und übertrug den Ländern die Finanzierungsmittel (zunächst bis 2019 jährlich 518 Mill. EUR),), die sie im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben frei auf die Förderinstrumente verteilen konnten. Der Bau von Wohnungen erreichte in diesem Jahrzehnt in Ost- und Westdeutschland einen historischen Tiefstand. Ende der 2000er Jahre wurden in Westdeutschland pro Jahr nicht mal mehr 200.000 Wohnungen fertiggestellt, in Ostdeutschland lediglich ca. 20.000 jährlich (vgl. Abbildung 1). Mit dem Bund-Länder-Programm "Stadtumbau Ost" wurden zwischen 2002 und 2012 sogar knapp 300.000 Wohnungen abgerissen, um den Wohnungsmarkt zu konsolidieren und die Leerstände in schrumpfenden Städten zu beseitigen bzw. zu reduzieren. Das erfolgte bezeichnenderweise vorwiegend in den gerade erst fertiggestellten Großwohnsiedlungen – ehedem Vorzeigegebiete sozialistischen Wohnens. Vor dem Hintergrund der Leerstände in Ostdeutschland sowie des auf Bundesebene zumindest rechnerisch ausgeglichenen Wohnungsmarktes "hat sich die Politik in diesem Bereich seit 2006 gleichsam 'zurückgelehnt'" (Egner 2014, S. 18). Außer in wachsenden Metropolen wie Hamburg oder München sowie einigen Groß- und Universitätsstädten war das Thema Wohnen sekundär und stand nicht auf der politischen Agenda. Diese Situation bildete auch den Hintergrund für größere Privatisierungen öffentlicher Wohnungsbestände, häufig an internationale Investoren. So hat etwa Dresden seine kommunalen Wohnungsbestände komplett an einen amerikanischen Investmentfonds verkauft. Zuwanderung und Flucht nach Deutschland: Die "neue Wohnungsfrage" der 2010er Jahre Seit Beginn der 2010er Jahre hat die Wohnungsfrage in Deutschland mit der starken Zuwanderung aus der EU sowie mit den hohen Flüchtlingszahlen 2015/16 wieder an Bedeutung gewonnen. Zwischen 2011 und 2018 wanderten pro Jahr im Schnitt ca. 400.000 Menschen zu, auf dem Höhepunkt im Jahr 2015 waren es über eine Million. Die Einwohnerzahl stieg von 80,3 Mill. im Jahr 2010 auf 82,9 Mill. Ende 2018 (siehe Stichwort Migration). Die Probleme schrumpfender Städte und Regionen rückten zunehmend in den Hintergrund, in der Mitte des Jahrzehnts kam der Stadtumbau im Sinne des Abrisses von Wohnungen in allen größeren Städten in Ostdeutschland praktisch zum Erliegen. In kleineren Städten und im ländlichen Raum wird er allerdings weiterhin betrieben. Gegenläufig zum generellen Bedeutungsverlust des Stadtumbaus machten sich sukzessive die Wohnungsprobleme der wachsenden Großstädte und Ballungsräume geltend: Wohnungsknappheit und vor allem steigende Immobilien- und Mietpreise. Neubau und Sanierung sind seit Anfang der 2010er Jahre nach der Flaute der 2000er Jahre wieder in Gang gekommen (vgl. Abbildung 1). Es wird aber nach wie vor zu wenig und fast ausschließlich in den lokal jeweiligen höherpreisigen Segmenten der Wohnungsmärkte gebaut. Sozialer Wohnungsbau findet auf der einen Seite fast nicht mehr statt (vgl. Abbildung 2), auf der anderen Seite sind in den 2000er und 2010er Jahren hunderttausende Wohnungen aus der Sozialbindung gefallen, was für die betroffenen Mieter zum Teil drastische Wirkungen hat (Rink 2020). Infolgedessen spielt Wohnungspolitik seit Anfang der 2010er Jahre wieder eine Rolle, in der zweiten Großen Koalition wurde dazu z.B. ein "Bündnis für Wohnen" (2014) gegründet und die Mietpreisbremse verabschiedet (2015). In der jetzigen dritten Großen Koalition wird mit einer "wohnungspolitischen Offensive" auf die "neue Wohnungsfrage" reagiert, derzeit ist aber keine Rückkehr zu einer wohlfahrtstaatlichen Wohnungspolitik früherer Jahrzehnte erkennbar. Fazit Abbildung 3: Wohnfläche je Einwohner in DDR/Ost- und Westdeutschland 1961-2018 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Am Beginn der 2020er Jahre ist der deutsche Wohnungsmarkt weiterhin gespalten: entspannten Märkten mit z.T. hohen Leerständen vor allem in Ostdeutschland sowie in vielen ländlichen Räumen stehen angespannte Märkte mit Knappheiten und hohen Preisen in fast allen westdeutschen und einigen ostdeutschen Groß- und Universitätsstädten gegenüber. Insgesamt ist die Wohnungsversorgung in Deutschland aber auf einem im internationalen und europäischen Vergleich hohen Niveau gegeben. Rein rechnerisch ist seit Anfang der 2010er Jahre die Zahl der Haushalte in Ost- und Westdeutschland höher als die der Wohnungen. Die Daten zeigen einen insgesamt steigenden Wohnflächenkonsum (vgl. Abbildung 3), die individuell verfügbare Wohnfläche ist heute etwa dreimal so groß wie nach dem Zweiten Weltkrieg, praktisch alle Wohnungen bzw. Eigenheime verfügen mittlerweile über Bad/Dusche, Innen-WC und moderne Heizung. Abbildung 4: Wohneigentumsquote in Ost- und Westdeutschland (1993-2014) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de Trotz jahrzehntelanger Förderung ist die Wohneigentumsquote in Deutschland im europäischen Vergleich die zweitniedrigste (nach der Schweiz). Bei der Betrachtung der Wohnverhältnisse lässt sich bei einigen Parametern (Versorgungsquote, Wohnfläche, Ausstattung, Mietbelastung) eine Angleichung der Wohnverhältnisse in Ost- und Westdeutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten beobachten. Bei der Wohneigentumsquote hat sich die Lücke zwischen Ost- und Westdeutschland bislang nicht geschlossen (vgl. Abbildung 4). Das indiziert fortbestehende soziale Ungleichheiten bezüglich Einkommen und Vermögen. Die Wohneigentumsbildung und damit Vermögensbildung war ein dezidiertes Ziel der Wohnungspolitik, die mit der Eigenheimförderung von der Bonner bis in die Berliner Republik verfolgt wurde. Mit der Abschaffung der Eigenheimzulage im Jahr 2006 wurde dieses Ziel praktisch aufgegeben, das 2018 eingeführte Baukindergeld stellt keinen adäquaten Ersatz dar. Damit dürften bei der Wohneigentumsquote auf mittlere Sicht keine großen Zuwächse und damit auch keine weitere Angleichung mehr zu erwarten sein. Abbildung 1: Fertiggestellte Wohnungen in West- und DDR/Ostdeutschland (1950 – 2018) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Abbildung 2: Anzahl geförderter Wohnungen nach Wohnungsbaugesetz (Sozialwohnungen) 1950-2015 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Abbildung 3: Wohnfläche je Einwohner in DDR/Ost- und Westdeutschland 1961-2018 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de Abbildung 4: Wohneigentumsquote in Ost- und Westdeutschland (1993-2014) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de Quellen / Literatur Buck, H. (2004): Mit hohem Anspruch gescheitert – Die Wohnungspolitik der DDR, Münster. Egner, B. (2019): Wohnungspolitik seit 1945, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gesucht! Gefunden? Alte und neue Wohnungsfragen, Bonn, 60-73. Häußermann, H.; Siebel, W. (1996): Soziologie des Wohnens, Weinheim und München. Mau, S. (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin. Rink, D. (2020): Politik des Wohnens, in: Eckardt, F.; Meier, S. (Hg.): Handbuch Wohnsoziologie, Wiesbaden (im Erscheinen). Winkler, G. (Hg.) (1990): Sozialreport 90. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR. Berlin. Winkler, G. (2018): Friedliche Revolution und deutsche Vereinigung 1989 bis 2017, Band II, Berlin. Buck, H. (2004): Mit hohem Anspruch gescheitert – Die Wohnungspolitik der DDR, Münster. Egner, B. (2019): Wohnungspolitik seit 1945, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gesucht! Gefunden? Alte und neue Wohnungsfragen, Bonn, 60-73. Häußermann, H.; Siebel, W. (1996): Soziologie des Wohnens, Weinheim und München. Mau, S. (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin. Rink, D. (2020): Politik des Wohnens, in: Eckardt, F.; Meier, S. (Hg.): Handbuch Wohnsoziologie, Wiesbaden (im Erscheinen). Winkler, G. (Hg.) (1990): Sozialreport 90. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR. Berlin. Winkler, G. (2018): Friedliche Revolution und deutsche Vereinigung 1989 bis 2017, Band II, Berlin.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-08T00:00:00"
"2011-12-08T00:00:00"
"2021-12-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47280/wohnen/
Lange Zeit mangelte es in Ost wie West an Wohnraum. Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Wohnverhältnisse lässt sich eine Angleichung der Wohnverhältnisse in Ost- und Westdeutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten beobachten. Bei der Wohneigent
[ "Wohnraum", "Abwanderung", "Demographie", "Bevölkerung", "Wohnungsnot", "Ost- und Westdeutschland", "neue Bundesländer", "alte Bundesländer", "DDR", "Bundesrepublik Deutschland" ]
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Die Deutsche Frage in der internationalen Politik | bpb.de
(© Fritz Behrendt / Baaske Cartoons) Deutschland und das Gleichgewicht Europas Von den 1870er-Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg galt Deutschland für viele ausländische Politiker und Beobachter als Bedrohung für Europa und die Welt. Das vorherrschende Bild von den Deutschen war geprägt von Militarismus, politischer Unberechenbarkeit und dem Mangel an Gespür für die Ängste und Bedürfnisse anderer. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien diese Bedrohung gebannt. Durch die Teilung Deutschlands und die amerikanisch-sowjetische Vorherrschaft schienen Europa und die Welt sicher vor den Deutschen – und die Deutschen sicher vor sich selbst. Die Wende von 1989 stellte diese Lösung wieder in Frage. Das vereinte Deutschland und Europa mussten aufs Neue lernen, miteinander zu leben. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90 lässt sich daher nicht als isoliertes Ereignis der Gegenwart begreifen, sondern muss im Zusammenhang mit der europäischen und internationalen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gesehen werden. Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 war Deutschland in 39 souveräne Einzelstaaten geteilt, darunter mit Preußen und Österreich zwei Großmächte. Die „Schwächung“ der europäischen Mitte war für die Architekten der Wiener Ordnung – die Außenminister Großbritanniens und Österreichs, Lord Castlereagh und Graf Metternich – eine Grundbedingung für das europäische Gleichgewicht, das den Frieden auf dem Kontinent sichern sollte. Mit der Gründung des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck im Jahr 1871 stellte sich daher die Frage, ob ein vereintes Deutschland mit seiner zentralen geografischen Lage und seiner Bevölkerungszahl, vor allem aber mit seiner Wirtschaftskraft und politisch-militärischen Macht mit dem europäischen Gleichgewicht in Einklang zu bringen war. Bismarck selbst erkannte dieses Problem frühzeitig und suchte es nach der Reichsgründung durch eine entschlossene Kehrtwendung seiner Politik zu entschärfen: So wenig er sich vor 1871 gescheut hatte, militärische Gewalt anzuwenden, um seine außenpolitischen Ziele durchzusetzen, so sehr bemühte er sich nach 1871 um einen Kurs der Mäßigung und „Saturiertheit“. Das Deutsche Reich, so Bismarck, solle den Status quo garantieren, anstatt ihn infrage zu stellen. Tatsächlich trug die Bismarcksche Außenpolitik in den 1870er- und 1880er-Jahren dazu bei, die europäische Ordnung zu stabilisieren. Nach der Entlassung des Reichskanzlers durch Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 drängten jedoch neue Kräfte an die Macht, die schon seit 1871 unter der Oberfläche gewirkt hatten und im Ausland bald ein neues Deutschlandbild prägten. Besonders die Elemente des Nationalismus und des Militarismus, die für die Reichsgründung mobilisiert worden waren, erschienen in Verbindung mit der dynamisch fortschreitenden Industrialisierung als bedrohlich. An die Stelle der vorsichtigen und behutsamen Strategie Bismarcks trat nun ein neuer Stil: dynamisch, großspurig und arrogant, vor allem jedoch ohne Gespür für die Erfordernisse des europäischen Gleichgewichts und die Empfindlichkeiten der Nachbarn. Der junge Kaiser war ein typischer Repräsentant dieses neuen Deutschlands: „Mit Volldampf voraus“ wollte Wilhelm II. das Reich nun steuern – nicht länger gehindert vom vormals übermächtigen Bismarck – und Deutschland neuen großen Zielen entgegenführen. Dabei galt es, die bisherigen Begrenzungen deutscher Politik zu durchbrechen. Weltpolitik war das Ziel. Was andere Staaten Europas wie England, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande seit langem betrieben hatten, sollte Deutschland – als „verspätete Nation“, wie der Soziologe Helmuth Plessner 1935 rückblickend schrieb – endlich nachholen. Das Ergebnis war vorhersehbar. Auch wenn der deutsche Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keineswegs das Produkt einer abnormen politischen Kultur oder gar die Folge einer spezifisch deutschen Mentalität des Militarismus und der Aggressivität war, trugen seine Auswirkungen dazu bei, Deutschland zu isolieren und die anderen europäischen Mächte zur Bildung einer Koalition gegen das Reich zu veranlassen. Ein Ausgleich mit England wurde dadurch ebenso verhindert wie die Fortsetzung des Bündnisses mit Russland, das für Deutschland lebensnotwendig war, solange eine Aussöhnung mit Frankreich nicht gelang. Der deutsche Versuch, auf dem Umweg über die Weltpolitik in Europa die Vorherrschaft zu erringen, scheiterte schließlich im Ersten Weltkrieg. Außenseiter europäischer Politik Die deutsche Revolution vom November 1918 und die Errichtung der Weimarer Republik boten danach die Chance zu einem Neubeginn, die jedoch schon bald vertan wurde. Verantwortlich dafür waren nicht nur die Deutschen selbst, die es nicht verstanden, aus den obrigkeitsstaatlichen Traditionen des Kaiserreiches auszubrechen und eine von der breiten Masse der Bevölkerung akzeptierte demokratische Ordnung zu errichten. Auch die Westmächte schadeten der Republik, indem sie auf der Versailler Konferenz von 1919 das Versprechen des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson brachen, einen fairen und gerechten Frieden herbeizuführen. Vor allem der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages – die offizielle Feststellung der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges – löste zusammen mit der Verpflichtung zu hohen Reparationsleistungen in Deutschland Zorn und Erbitterung aus. Die Kriegsschuldthese vergiftete das politische Klima und führte zu weitreichenden Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrages. Die Reparationszahlungen trugen dazu bei, eine rasche wirtschaftliche Erholung zu verhindern, die zu einer breiteren Akzeptanz der demokratischen Ordnung hätte führen können. Die innenpolitischen Feinde der Weimarer Republik hatten deshalb leichtes Spiel, gegen das „System von Versailles“ zu polemisieren und die neu gewählte demokratische Regierung in Berlin zu diskreditieren, der angesichts der militärischen Niederlage nichts anderes übriggeblieben war, als den Vertrag zu unterzeichnen und ihn vom Reichstag ratifizieren zu lassen. Die Beruhigung, die für die innere Stabilisierung der Republik notwendig gewesen wäre, wurde so erschwert. Deutschland blieb daher auch nach dem Ersten Weltkrieg – trotz der Bemühungen von Außenminister Gustav Stresemann um deutsch-französische Aussöhnung und eine europäische Integration – letztlich ein Außenseiter der europäischen Politik. Die Erfolge der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Reichstagswahlen nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929, welche die Nationalsozialisten zwischen September 1930 und dem Sommer 1932 zur stärksten politischen Kraft in Deutschland werden ließen, waren nur ein Ausdruck dieser inneren und äußeren Spannungen, von denen die Weimarer Republik schließlich zerstört wurde. Der Aufstieg Adolf Hitlers und seine Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bedeuteten nicht nur eine Kapitulation der Deutschen vor den Schwierigkeiten einer demokratischen Erneuerung und die Rückkehr zum gewohnten Modell einer autokratischen Führung, sondern sie dokumentierten auch das Versagen der Westmächte, ihre Politik in Europa so zu gestalten, dass Deutschland darin seinen Platz hätte finden können. Nach 1933 warf die Politik der Nationalsozialisten sogleich wieder die Frage auf, ob sich Deutschland überhaupt in eine europäische Ordnung integrieren ließ. Denn Hitler forderte nicht nur die Lösung Deutschlands von den Beschränkungen des Versailler Vertrages und die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenzen von 1914 sowie den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, sondern auch die Eroberung großer Gebiete im Osten und die Erringung der deutschen Vorherrschaft in Europa. Aus der Sicht des Auslands bewiesen diese Ansprüche erneut die Neigung der Deutschen, die europäische Ordnung zu untergraben, um eine eigene Hegemonie zu begründen – und das schon bevor die territoriale Eroberungssucht und die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen alle Normen verstießen, die sich die Staaten Europas seit dem Wiener Kongress 1815 zur Regelung ihrer Angelegenheiten gesetzt hatten. Teilung als Lösung? Vor diesem Hintergrund konnte es kaum verwundern, dass die Gegner Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges in der Aufteilung des Deutschen Reiches den sinnvollsten Weg zur dauerhaften Lösung des deutschen Allmachtsanspruchs sahen. Auf der ersten Kriegskonferenz der „Großen Drei“ im November und Dezember 1943 in Teheran waren der sowjetische Staatschef Josef Stalin, der britische Premierminister Winston Churchill und US-Präsident Franklin D. Roosevelt daher einhellig der Meinung, dass die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands eine Bedrohung für den Weltfrieden darstelle und dass nur ein geteiltes Deutschland in die internationale Staatengemeinschaft zurückkehren könne. Beginn des Kalten Krieges Die Teilung Deutschlands als Weg zur Beseitigung des deutschen Hegemonialstrebens war damit jedoch noch keine beschlossene Sache. Vielmehr wurde schon vor Ende des Krieges immer deutlicher, dass die Gesetze der Machtpolitik durch den gemeinsamen Kampf der Alliierten gegen Hitler-Deutschland nicht außer Kraft gesetzt worden waren. So bereitete das unaufhaltsame Vordringen der sowjetischen Armee nach Mitteleuropa, das durch Hitlers Expansion nach Osten ausgelöst worden war, vor allem den Briten große Sorgen. Auf der zweiten Kriegskonferenz der „Großen Drei“ im Februar 1945 in Jalta zögerte Churchill daher, bei der Frage der Teilung Deutschlands die gleiche Entschiedenheit an den Tag zu legen wie in Teheran. Die drei Regierungschefs verwiesen das Thema deshalb zur weiteren Beratung an eine Expertenkommission und demonstrierten auf diese Weise, dass sie sich in dieser Frage nicht mehr einig waren. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus. Auch Stalin rückte schließlich von seinen Teilungsplänen ab und erklärte in einer Ansprache an das sowjetische Volk am 9. Mai 1945, die Sowjetunion feiere den Sieg, wenn sie sich auch nicht anschicke, „Deutschland zu zerstückeln oder zu zerstören“. Doch während Churchill und das britische Außenministerium bei ihren Überlegungen zur Erhaltung der deutschen Einheit von den Erfordernissen des europäischen Gleichgewichts ausgingen, das sie nach der Niederlage Deutschlands nun durch die übermächtige Sowjetunion bedroht sahen, ließ sich Stalin offenbar von der Hoffnung leiten, das Instrument einer gemeinsamen Besatzungspolitik nutzen zu können, um Einfluss auf ganz Deutschland zu erlangen und damit seinen Anspruch auf Reparationen aus dem Ruhrgebiet durchzusetzen. Die vier Besatzungszonen (© bpb) Auf der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof war daher von einer möglichen Teilung Deutschlands nicht mehr die Rede. Vielmehr verständigte man sich auf ein Konzept, das einerseits von der „Wirtschaftseinheit“ Deutschlands ausging und andererseits eine „Umerziehung“ (re-education) der Bevölkerung vorsah, wobei man sich von „vier D’s“ leiten ließ: Demokratisierung, Denazifizierung, Demilitarisierung und Dezentralisierung. Auch die Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen, die bei den Verhandlungen der alliierten European Advisory Commission in London 1944 vereinbart und im Februar 1945 in Jalta beschlossen worden war, sollte zunächst nur dem Zweck dienen, Deutschland zu verwalten. Erst die wachsenden Spannungen zwischen den Alliierten nach Kriegsende führten dazu, dass die Verwaltungsgrenze zwischen den drei westlichen Zonen und der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) schließlich zur Teilungsgrenze wurde. So war die Teilung Deutschlands nach 1945 trotz der Entschlossenheit der Siegermächte, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht des Deutschen Reiches dauerhaft zu zerschlagen, nicht das unmittelbare Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr folgte sie aus dem Ost-West-Konflikt, in dem die Gemeinsamkeit der alliierten Deutschlandpolitik nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Von den ersten Spannungen 1945 und dem im Mai 1946 verhängten US-amerikanischen Reparationsstopp über den Marshall-Plan 1947, die Währungsreform 1948 und die Berliner Blockade 1948/49 bis hin zur Gründung der beiden deutschen Staaten waren alle Etappen der Teilung unmittelbar mit der Entwicklung des Ost-West-Gegensatzes verbunden. „Die Teilung der Welt“ – so ein Buchtitel des Historikers Wilfried Loth von 1980 – zog also die deutsche Spaltung nach sich. Und der territorial-politische Status quo in Europa, der auf dieser Teilung basierte, konnte von Deutschland aus nicht mehr einseitig verändert werden, solange Europa im gegeneinander wirkenden Sog der neuen „Weltführungsmächte“ USA und Sowjetunion verblieb. Westintegration Die Weichenstellungen, die zwischen 1945 und 1949 im beginnenden Ost-West-Konflikt erfolgten, bestimmten auch die Handlungsspielräume der Regierungen in den beiden deutschen Teilstaaten ab 1949. So war die Teilung Deutschlands für Konrad Adenauer – damals noch Vorsitzender der CDU in der britischen Zone – bereits 1948 nicht länger eine drohende Gefahr, sondern schon eine vollzogene Tatsache. Sie sei vom Osten her geschaffen und müsse nun durch den Wiederaufbau der deutschen Einheit vom Westen her beseitigt werden, erklärte er dazu in der „Kölnischen Rundschau“ vom 3. April 1948. Dazu war es nach Ansicht Adenauers notwendig, den westlichen Teil Deutschlands fest in die westliche Gemeinschaft einzugliedern, um ihn zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen System mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung aufzubauen, das durch seine Attraktivität auf den östlichen Teil Deutschlands wie ein Magnet wirken würde. Aus einer solchen Position der Stärke heraus sollte dann auch die Wiedervereinigung Deutschlands angestrebt werden, die ohne gesicherte Westbindung nur um den Preis der Sowjetisierung ganz Deutschlands zu erreichen wäre. Am 23. Mai 1949 wurde aus den drei Westzonen die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Nach seiner Wahl zum Bundeskanzlerverfolgte Adenauer deshalb eine Politik der Westintegration, die von vornherein nicht national, sondern europäisch bestimmt war. Wie Winston Churchill, der in einer Rede in Zürich bereits am 19. September 1946 für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert hatte, um damit einen ersten Schritt zu tun, „so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa“ zu errichten, trat auch Adenauer für einen Zusammenschluss Westeuropas ein. Eine klare Entscheidung für den Westen zu treffen und damit die alte deutsche „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und West zu beenden, war für ihn umso dringlicher, da nun zusätzlich die Gefahr einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches bestand, der inzwischen schon bis zur Elbe reichte. Die Integrationspolitik Adenauers, durch die die Bundesrepublik von vornherein an den neu entstehenden europäischen Institutionen beteiligt wurde, kam bereits beim Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) auf der Grundlage des Schuman-Plans vom Mai 1950 zum Ausdruck. Die zunehmenden Spannungen im Ost-West-Konflikt führten nach Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 überdies zu einer intensiven Debatte über einen deutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas und die Errichtung einer Europa-Armee mit deutscher Beteiligung im Rahmen einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG). Diese scheiterte jedoch im August 1954 am Widerstand in der französischen Nationalversammlung. Mit den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Mai 1955 wurde aber eine Ersatzlösung gefunden, durch welche die von Adenauer angestrebte Westintegration der Bundesrepublik praktisch verwirklicht wurde. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) auf der Grundlage der Römischen Verträge vom 25. März 1957 führten diese Integrationspolitik weiter. Die Erwartung Adenauers, durch Anbindung an den Westen nicht nur Sicherheit und Beistand für die Bundesrepublik gegenüber dem Kommunismus, sondern auch Anerkennung und Akzeptanz unter den neuen Verbündeten zu erhalten, ging in Erfüllung. Das loyale Verhalten der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses und die Verlässlichkeit der Adenauerschen Politik sorgten zudem für eine positive Veränderung des Deutschlandbildes im Ausland. Die Bundesrepublik wurde von einer Gegnerin zu einer soliden Partnerin der Westmächte im Ost-West-Konflikt und beim Neuaufbau Europas. Der Preis dafür war allerdings die Teilung Deutschlands, die damit auf Dauer zementiert schien. Die DDR im Sowjetimperium Ob eine Wiedervereinigung nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt möglich gewesen wäre – und wenn ja, zu welchen Konditionen –, ist in der historischen Forschung umstritten. Sicher ist nur, dass die Sowjetunion durch ihr Verhalten in Osteuropa nach der Besetzung durch die Rote Armee frühzeitig ihren Willen dokumentierte, die eroberten Gebiete nicht ohne Bedingungen wieder zu räumen. Das sowjetische Sicherheitsbedürfnis verlangte nach einem territorialen Einflussgürtel. Deutschland spielte dabei eine besondere Rolle, weil es nicht nur die Schuld am Zweiten Weltkrieg trug, in dessen Verlauf etwa 27 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten starben, sondern auch der Schlüssel zur Beherrschung Mittel- und Osteuropas war. Welche Bedeutung Stalin der Kontrolle der deutschen Entwicklung beimaß, wird nicht zuletzt durch das umfangreiche Engagement der Sowjetunion bei der Ausbildung deutscher Exil-Kommunisten während des Krieges in Moskau unterstrichen, bei der kommunistische Kader wie die „Gruppe Ulbricht“, die bereits am 30. April 1945 an Bord einer sowjetischen Militärmaschine in Berlin eintraf, systematisch auf ihren Einsatz im Nachkriegsdeutschland vorbereitet wurden. Die Integration, die im Westen Deutschlands von Adenauer in langen politischen Kämpfen durchgesetzt werden musste, gelang daher im Osten problemlos: Die Sowjetische Besatzungszone und später die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wurden praktisch vom ersten Tag an nahtlos in den sowjetischen Machtbereich eingefügt. Zwar gab es in Ostdeutschland Widerspruch gegen diesen Kurs. Insbesondere die neu gegründete Ost-CDU sowie die Liberal-Demorkatische Partei und in geringerem Maße auch die SPD plädierten für einen „Brückenbau“ und wollten einem wiedervereinigten Deutschland eine Sonderrolle zwischen Ost und West zuweisen. Aber Teile der einflussreichen Sozialdemokratie, die allerdings nur bis zur Zwangsvereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) im April 1946 bestand, und vor allem die KPD votierten für eine Ostorientierung und eine revolutionäre Umgestaltung, um den Kapitalismus zu überwinden, der ihrer Auffassung nach direkt in den Nationalsozialismus gemündet hatte. Und die grundlegenden Strukturreformen (Verstaatlichung, Planwirtschaft, Einparteiherrschaft), die nach 1945 in Ostdeutschland durchgeführt wurden, demonstrierten die Entschlossenheit der Sowjetunion und ihrer deutschen Verbündeten, zumindest in diesem Teil Deutschlands ihre Vorstellungen durchzusetzen. In dem Maße, in dem sich ab 1946 der Kalte Krieg ausprägte, wurde damit die Teilung vorangetrieben, obwohl die Einheitsforderung verbal aufrechterhalten wurde. Faktisch war die Einbeziehung Ostdeutschlands in das sowjetische Imperium aber schon 1945 eine Tatsache, die auch nach Gründung der DDR 1949 nicht mehr zur Disposition stand. Eine freie Wahl gab es dabei für die ostdeutsche Bevölkerung ebenso wenig wie für deren politische Repräsentanten. Das damit einhergehende Legitimitätsdefizit des SED-Regimes konnte bis 1989 nie kompensiert werden. Da die DDR ihre Existenz einzig der sowjetischen Besatzungsmacht verdankte, blieb die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte bis zuletzt eine zentrale Bestandsgarantie für das Regime. Neue Ostpolitik Der Ost-West-Konflikt, der seit 1945 die Entwicklung in Deutschland und Europa beherrschte, machte somit auf Jahrzehnte jeden Gedanken an eine Überwindung des Status quo illusorisch. Immerhin trug die enge Einbeziehung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Machtblöcke dazu bei, die Furcht vor Deutschland und vor „den Deutschen“ abzubauen: Indem die Siegermächte ihren jeweiligen Teil Deutschlands in ihr Bündnissystem einfügten, hielten sie ihn zugleich unter Kontrolle. Im Westen entstanden darüber hinaus im Rahmen der europäischen Integration neue überstaatliche Strukturen, die es erleichterten, die Deutschen gleichberechtigt in die Staatengemeinschaft wiederaufzunehmen. Zugleich wurde das Bild vom „militaristischen Deutschen“ der Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren, als der Kalte Krieg die Ost-West-Beziehungen bestimmte, auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ durch neue Feindbilder ersetzt, die sich nun an der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken orientierten: hier der „imperialistische Klassenfeind“ in der Bundesrepublik, dort das „kommunistische Satelliten-Regime“ in der DDR. Erst nach der Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62, die kurzzeitig die Gefahr eines Dritten Weltkrieges heraufbeschwor und damit zum Wendepunkt im Kalten Krieg hin zur Entspannungspolitik wurde, gelang es, die positiven Auswirkungen, welche die Politik der Führungsmächte bereits innerhalb der jeweiligen Blöcke auf das deutsche Image gehabt hatte, auf das Ost-West-Verhältnis zu übertragen. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte die neue Ostpolitik der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Willy Brandt, der auf der Grundlage einer sozialliberalen Koalition nach der Bundestagswahl vom 20. September 1969 die Regierung übernahm. Brandt hatte als Regierender Bürgermeister von Berlin den Mauerbau am 13. August 1961 erlebt und danach erkannt, dass entgegen den Hoffnungen der 1950er-Jahre eine Überwindung der deutschen Teilung noch für lange Zeit unmöglich sein werde, weil die mit Unterstützung der Sowjetunion erfolgte äußere Abriegelung der DDR das SED-Regime stabilisierte. Brandt schloss daraus, dass man in der Deutschlandpolitik künftig vom Status quo ausgehen und direkte Vereinbarungen mit der DDR anstreben müsse, um den Kontakt zwischen den Menschen in den beiden deutschen Staaten nicht abreißen zu lassen und „menschliche Erleichterungen“ im geteilten Deutschland zu erreichen. Langfristig, so die Hoffnung, würde sich dadurch vielleicht auch ein „Wandel durch Annäherung“ ergeben, wie Brandts Pressesprecher Egon Bahr im Juli 1963 in der Evangelischen Akademie in Tutzing erklärte. QuellentextWandel durch Annäherung […] Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie. Wer Vorstellungen entwickelt, die sich im Grunde darauf zurückführen lassen, dass die Wiedervereinigung mit Ost-Berlin zu erreichen ist, hängt Illusionen nach und sollte sich die Anwesenheit von 20 oder 22 gut ausgerüsteten sowjetischen Divisionen vergegenwärtigen. […] Die amerikanische Strategie des Friedens lässt sich auch durch die Formel definieren, dass die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll. Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Das Vertrauen darauf, dass unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen. Die Frage ist, ob es innerhalb dieser Konzeption eine spezielle deutsche Aufgabe gibt. Ich glaube, diese Frage ist zu bejahen, wenn wir uns nicht ausschließen wollen von der Weiterentwicklung des Ost/West-Verhältnisses. Es gibt sogar in diesem Rahmen Aufgaben, die nur die Deutschen erfüllen können, weil wir uns in Europa in der einzigartigen Lage befinden, dass unser Volk geteilt ist. Die erste Folgerung, die sich aus einer Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland ergibt, ist, dass die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet. Entweder freie Wahlen oder gar nicht, entweder gesamtdeutsche Entscheidungsfreiheit oder ein hartes Nein, entweder Wahlen als erster Schritt oder Ablehnung, das alles ist nicht nur hoffnungslos antiquiert und unwirklich, sondern in einer Strategie des Friedens auch sinnlos. Heute ist klar, dass die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluss an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen. Wenn es richtig ist, was [Präsident John F.] Kennedy sagte, dass man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone [DDR] zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen. Die Zone muss mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden. Wenn wir soweit wären, hätten wir einen großen Schritt zur Wiedervereinigung getan. […] Der amerikanische Präsident hat die Formel geprägt, dass so viel Handel mit den Ländern des Ostblocks entwickelt werden sollte, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden. Wenn man diese Formel auf Deutschland anwendet, so eröffnet sich ein ungewöhnlich weites Feld. Es wäre gut, wenn dieses Feld zunächst einmal nach den Gesichtspunkten unserer Möglichkeiten und unserer Grenzen abgesteckt würde. Ich glaube, sie sind sehr viel größer als alle Zahlen, die bisher genannt wurden. Wenn es richtig ist, dass die Verstärkung des Ost-West-Handels mit der genannten Einschränkung im Interesse des Westens liegt, und ich glaube, es ist richtig, dann liegt sie auch im deutschen Interesse, erst recht in Deutschland. […] Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbaren und verantwortbaren Versuchs, ihre Situation zu erleichtern. Eine materielle Verbesserung müsste eine entspannende Wirkung in der Zone haben. Ein stärkeres Konsumgüterangebot liegt in unserem Interesse. […] Ich sehe nur den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, das sich daraus nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischem Interesse zwangsläufig auslösen würde. Die Bundesregierung hat in ihrer letzten Regierungserklärung gesagt, sie sei bereit, „über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder in der Zone sich einrichten können, wie sie wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine größere Rolle als nationale Überlegungen“. Als einen Diskussionsbeitrag in diesem Rahmen möchte ich meine Ausführungen verstanden wissen. Wir haben gesagt, dass die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpasst, denn sonst müssten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik. Rede von Egon Bahr in der Evangelischen Akademie in Tutzing am 13. Juli 1963; online: Externer Link: www.1000dokumente.de/ Diese neue Ostpolitik, die Brandt nach 1969 in die Tat umsetzte, führte zwischen 1970 und 1973 zu Verträgen mit Moskau, Warschau und Prag sowie zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin und zum Grundlagenvertrag mit der DDR, in denen die bestehenden Grenzen anerkannt, der Status West-Berlins gesichert und Maßnahmen zur Zusammenarbeit vereinbart wurden. Die neue Ostpolitik leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Außerdem schuf sie die Voraussetzungen für die Einberufung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sowie für Gespräche über beiderseitige, ausgewogene Truppenbegrenzungen und trug so dazu bei, der gesamteuropäischen Entspannung den Weg zu ebnen. Alle diese Entwicklungen ließen die „deutsche Gefahr“, die vor allem die Nachbarn Deutschlands mit Sorge erfüllt hatte, in einem neuen Licht erscheinen: Die Deutschen waren nicht länger „Störenfriede“ der internationalen Politik, sondern fügten sich, wie schon seit 1945 innerhalb der Blöcke, nunmehr auch in die Neugestaltung der Ost-West-Beziehungen ein. Dabei stellte die Sicherung des Status quo ein zentrales Element dar, weil ohne die Anerkennung der bestehenden Grenzen und die Beachtung der jeweiligen Einflusssphären keine Kooperation über die machtpolitischen und ideologischen Gräben des Kalten Krieges hinweg möglich gewesen wäre. (© Fritz Behrendt / Baaske Cartoons) Die vier Besatzungszonen (© bpb) […] Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie. Wer Vorstellungen entwickelt, die sich im Grunde darauf zurückführen lassen, dass die Wiedervereinigung mit Ost-Berlin zu erreichen ist, hängt Illusionen nach und sollte sich die Anwesenheit von 20 oder 22 gut ausgerüsteten sowjetischen Divisionen vergegenwärtigen. […] Die amerikanische Strategie des Friedens lässt sich auch durch die Formel definieren, dass die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll. Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Das Vertrauen darauf, dass unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen. Die Frage ist, ob es innerhalb dieser Konzeption eine spezielle deutsche Aufgabe gibt. Ich glaube, diese Frage ist zu bejahen, wenn wir uns nicht ausschließen wollen von der Weiterentwicklung des Ost/West-Verhältnisses. Es gibt sogar in diesem Rahmen Aufgaben, die nur die Deutschen erfüllen können, weil wir uns in Europa in der einzigartigen Lage befinden, dass unser Volk geteilt ist. Die erste Folgerung, die sich aus einer Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland ergibt, ist, dass die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet. Entweder freie Wahlen oder gar nicht, entweder gesamtdeutsche Entscheidungsfreiheit oder ein hartes Nein, entweder Wahlen als erster Schritt oder Ablehnung, das alles ist nicht nur hoffnungslos antiquiert und unwirklich, sondern in einer Strategie des Friedens auch sinnlos. Heute ist klar, dass die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluss an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen. Wenn es richtig ist, was [Präsident John F.] Kennedy sagte, dass man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone [DDR] zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen. Die Zone muss mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden. Wenn wir soweit wären, hätten wir einen großen Schritt zur Wiedervereinigung getan. […] Der amerikanische Präsident hat die Formel geprägt, dass so viel Handel mit den Ländern des Ostblocks entwickelt werden sollte, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden. Wenn man diese Formel auf Deutschland anwendet, so eröffnet sich ein ungewöhnlich weites Feld. Es wäre gut, wenn dieses Feld zunächst einmal nach den Gesichtspunkten unserer Möglichkeiten und unserer Grenzen abgesteckt würde. Ich glaube, sie sind sehr viel größer als alle Zahlen, die bisher genannt wurden. Wenn es richtig ist, dass die Verstärkung des Ost-West-Handels mit der genannten Einschränkung im Interesse des Westens liegt, und ich glaube, es ist richtig, dann liegt sie auch im deutschen Interesse, erst recht in Deutschland. […] Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbaren und verantwortbaren Versuchs, ihre Situation zu erleichtern. Eine materielle Verbesserung müsste eine entspannende Wirkung in der Zone haben. Ein stärkeres Konsumgüterangebot liegt in unserem Interesse. […] Ich sehe nur den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, das sich daraus nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischem Interesse zwangsläufig auslösen würde. Die Bundesregierung hat in ihrer letzten Regierungserklärung gesagt, sie sei bereit, „über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder in der Zone sich einrichten können, wie sie wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine größere Rolle als nationale Überlegungen“. Als einen Diskussionsbeitrag in diesem Rahmen möchte ich meine Ausführungen verstanden wissen. Wir haben gesagt, dass die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpasst, denn sonst müssten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik. Rede von Egon Bahr in der Evangelischen Akademie in Tutzing am 13. Juli 1963; online: Externer Link: www.1000dokumente.de/
Article
Manfred Görtemaker
"2022-11-08T00:00:00"
"2022-10-19T00:00:00"
"2022-11-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/der-weg-zur-einheit-352/514490/die-deutsche-frage-in-der-internationalen-politik/
Der Zweite Weltkrieg und der Ost-West-Konflikt spalten Deutschland. Die Bundesrepublik orientiert sich gen Westen, die DDR gen Osten. Brandts Ostpolitik entspannt das Verhältnis zur DDR und Osteuropa.
[ "Zweiter Weltkrieg", "Ost-West-Konflikt", "DDR", "Ostpolitik", "Willy Brandt" ]
29,969
Editorial | Sicherheitspolitik | bpb.de
Inzwischen räumen US-Präsident George W. Bush und der britische Ministerpräsident Tony Blair ein, dass die zur Begründung des Krieges gegen den Irak - Massenvernichtungswaffen in den Händen eines Diktators - von amerikanischer und britischer Seite vorgelegten Beweise auf gefälschten Dokumenten beruhten. Beide Politiker geraten folglich in ihren Ländern unter erheblichen öffentlichen Druck. Wenn sich heute US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der demokratische Senator Joseph Biden deutsche und französische Soldaten in Bagdad wünschen, sollte diesem Wunsch nicht entsprochen werden, solange es für die Besetzung des Iraks kein Mandat der Vereinten Nationen gibt. Eine Aufarbeitung des völkerrechtlich umstrittenen Krieges hat es bislang nicht gegeben. Die Warnung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor "Abenteurertum" erscheint angesichts der chaotischen Lage im Irak mehr als berechtigt. Die "Neocons" und "Theocons" haben mit ihrer ideologischen Sicht der US-Außenpolitik maßgeblich zur Erosion der internationalen Institutionen und des Völkerrechts sowie zum Auseinanderdriften zwischen Europa und den USA beigetragen. Jochen Thies vertritt in seinem Essay die These, dass diese Entwicklung bereits seit dem Ende des Kalten Krieges zu beobachten gewesen sei. Die deutsche Außenpolitik sei im Zuge des Irak-Krieges ins Schlepptau des französischen Partners geraten, aus dem sie sich schnellstens lösen müsse, um wieder eigene Handlungsspielräume gewinnen zu können. Um im Rahmen einer europäischen Außenpolitik handlungsfähig zu bleiben, bedürfe es zudem weiterer Investitionen und Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb der Bundeswehr. Ordnung und Stabilität des internationalen Systems sind ein hohes politisches Gut. Joachim Krause benennt die theoretischen Konzepte für eine Ordnungspolitik. Der Autor kommt dabei zu dem Schluss, dass es keinen fundamentalen Unterschied zwischen den Ordnungsvorstellungen Europas und der USA gebe. Interessanterweise lägen die Ordnungsvorstellungen Deutschlands und der USA näher beieinander als die von Berlin und Paris. Eine große Übereinstimmung der Interessen im transatlantischen Verhältnis stellt auch Gert Krell fest. Dies zeige sich insbesondere in den wirtschaftlichen Beziehungen, wohingegen die größten Unterschiede in der allgemeinen Außenpolitik, der "Grand Strategy", bestünden. Die Ursachen dafür lägen in erster Linie in einem Paradigmenwechsel der US-Politik begründet. Die damit einhergehende "Arroganz der Macht" müsse ausbalanciert werden. Mit den unterschiedlichen politischen Vorstellungen der USA in Bezug auf das Kyoto-Protokoll zur Klimapolitik, der ablehnenden Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof, dem Abbruch der Verhandlungen zur Biowaffenkonvention, der Sanktionspolitik im Bereich der Wirtschaft sowie einer feindseligen Haltung gegenüber den Vereinten Nationen setzt sich Jochen Hippler auseinander. Die Politik der USA schwanke je nach politischer Opportunität zwischen Uni- und Multilateralismus. Das amerikanische Vorgehen im Irak stellt für die Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eine schwere Belastungsprobe dar. Matthias Dembinski und Wolfgang Wagner befassen sich mit den erheblichen Beeinträchtigungen für Europas außenpolitische Rolle. Das deutsche Engagement für eine Pioniergruppe innerhalb der EU berge unkalkulierbare Risiken und sei europapolitisch wenig sinnvoll, weil es Europa eher spalte als voranbringe.
Article
Ludwig Watzal
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27476/editorial/
Der von der "Koalition der Willigen" geführte Krieg gegen den Irak beruhte auf zum Teil nicht korrekten Dokumenten. Aufgrund dieser Tatsache geraten Präsident George W. Bush und Tony Blair unter erheblichen öffentlichen Druck.
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Kaliningrader Identitäten oder die Schizophrenie der Geschichtslosigkeit | Deutschland Archiv | bpb.de
Einleitung Im Sommer 2005 feierte die russische Stadt Kaliningrad den 750. Jahrestag der Gründung der deutschen Stadt Königsberg. Dem deutschen Besucher, zumal wenn er in der DDR sozialisiert worden war, bot sich ein vertrautes Bild – Losungen, herausragendes Element der Agit-Prop-Kultur kommunistischer Couleur dominierten Straßen und Plätze. "750 Jahre Kaliningrad" – Losung aus Anlass der 750-Jahrfeier Kaliningrads, des ehemaligen Königsbergs, im Sommer 2005. (© Gerhard Barkleit) "750 Jahre Kaliningrad. Wir lieben unsere Stadt! Wir sind stolz auf unsere Geschichte!", so bohrte es sich in den Farben rot und blau in die Augen der Vorübergehenden. Stehen diese Sätze tatsächlich für die Vereinnahmung von beinahe sieben Jahrhunderten deutscher Vorgeschichte durch die heute hier Lebenden? Der durchaus eine Provokation darstellende Hinweis, dass dazu dann aber auch die zwar kurze, aber außerordentlich folgenreiche Periode nationalsozialistischer Herrschaft gehörte, löste bei den meisten der daraufhin Angesprochenen zunächst Nachdenklichkeit aus. Man dürfe solche Losungen, zumal im Zusammenhang mit der festlichen Erinnerung an ein bedeutsames historisches Ereignis wohl nicht so ernst nehmen, lautete die häufigste Antwort. Um die Schizophrenie der Kaliningrader im Umgang mit der (deutschen) Vergangenheit ihrer Stadt "mit den Händen zu greifen", bedarf es allerdings keiner derartigen Provokation. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus versank die Region zunächst in der Bedeutungslosigkeit, und ihre Bewohner begannen, nach einer neuen Identität zu suchen. Seit einigen Jahren sind erhebliche Bemühungen festzustellen, die von den Sowjets verordnete Geschichtslosigkeit der Region zu überwinden. Die nicht selten aufgeregten und heftigen Debatten zeichnen sich durch die Dominanz emotionaler Argumentationen aus. Der Schriftsteller Aleksandr Popadin setzt sich mit der Wirkung der Überreste deutscher Kultur auf die Herausbildung einer regionalen Identität der Bewohner von Kaliningrad auseinander. "Die Stadt" so argumentiert er, "setzt mit bestimmten Teilen ihrer Substanz Deutsche und sowjetische Vergangenheit auf einen Blick: Dom und Hafen in Kaliningrad/Königsberg. (© Gerhard Barkleit) (Architektur, kulturhistorische Reminiszenzen, Kunstwerke, Struktur von Industrie und Institutionen)", wie auch auf andere Weise, die "Wechselwirkungen eines neuen Volkes mit der Region fest". Für Popadin ist "die Stadt" ein im politischen Sinne neutraler Vermittler zwischen zwei Völkern. Sie erweise sich "als anschauliche historische Form, vermittels derer die Geschichte des vorhergehenden Volkes auf das heutige Volk einwirkt". Als Antwort auf die Frage: "Wer sind wir? Deutsch geprägte Russen oder russisch geprägte Deutsche?", deutet er "den" Kaliningrader geradezu als "Vorbild für Unbestimmtheit". Der Historiker Jurij Kostjašov befasste sich schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion intensiv mit den Problemen der Region. Er spricht von einer "Ablehnung des deutschen historisch-kulturellen Erbes" nicht nur durch die "neuen Machthaber", sondern auch "durch die breite Masse der sowjetischen Neusiedler". Diese seien vorwiegend aus dem "tiefsten Russland" gekommen und empfanden "die materielle Welt Ostpreußens, die menschengemachte Landschaft und die neuen Wohnformen ungewohnt und fremd". Allerdings gehört er zu denjenigen, die Ostpreußens Geschichte für nicht teilbar halten und deshalb endlich auch die mit einem Tabu belegte "heikle und noch immer schmerzhafte Frage des Schicksals der ostpreußischen Bevölkerung", die Vertreibung, ins öffentliche Bewusstsein rücken wollen. In ambitionierten Debatten um eine Rückbenennung der Stadt in "Königsberg" greifen die Akteure ebenfalls gern auf emotionale Argumente zurück. So behauptet Evgenij Ju. Vinokurov, dass "alles, worauf wir stolz sind, das ist Königsberg" und nennt beispielhaft "die Parks und das Grün, die Festungsanlagen und das Bernsteinmuseum, den Dom und die Kirchen, [Immanuel] Kant und die Albertina, den Bahnhof und den Kulturpalast der Seeleute" sowie einige Straßen, "den Zoo, den Hafen und den Schifffahrtskanal". Die Sorgen vieler, die Rückbenennung könnte zu einer Regermanisierung der Region und ihrer Abspaltung von Russland führen, teilt er nicht. Er ist überzeugt davon, dass "ein Mensch, der sein ganzes Leben oder einen beträchtlichen Teil seines Lebens in Kaliningrad verbrachte, auch die andere Architektur in sich aufsaugte: den roten Ziegel, das spitze Dach, das tafelförmige Pflaster, den Dachziegel, den Sockel aus Granit." Gleiches gelte nicht nur der Architektur, sondern auch für "kulturelle und sprachliche Symbole". In den Thesen zu ihrer Dissertation über "Regionale Identität als Kategorie politischer Praxis" beschrieb Anna M. Karpenko im Jahre 2008 am Beispiel des Kaliningrader Gebietes den Jahrzehnte andauernden, aber nur wenig erfolgreichen Versuch der "Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses der neuen Bewohner der Region, der Umsiedler". Als "zentrales Element des offiziellen Diskurses" habe die Bezugnahme auf das Ende des Zweiten Weltkrieges als Beginn der Geschichte der Region gedient, schreibt sie. Die deutsche Vorgeschichte sei "vergessen oder zielgerichtet zerstört" worden. Allerdings sei diesem "Projekt" bestenfalls ein Teilerfolg beschieden gewesen. Die Lebenswirklichkeit "im Kontext einer 'fremden Kultur', in erster Linie die materiellen Lebensbedingungen", habe "die Suggestivkraft des offiziellen Diskurses begrenzt". In der postsowjetischen Periode sei dann die Debatte über die Herausbildung der "Kaliningrader als Gruppe" zusammen mit der Negierung oder Bestätigung einer "Kaliningrader Eigenheit" durch "innere Experten" zu einem wichtigen Teil des regionalen politisch-kommunikativen Prozesses geworden. Der von Karpenko analysierte Diskurs, das sollte nicht vergessen werden, fand zu Sowjetzeiten in einem politischen System statt, das Meinungsfreiheit nicht kannte. Totalitäre Herrschaft praktizierte stattdessen in ausgesprochen sensiblen Bereichen die sattsam bekannten "gelenkten" bzw. "verordneten" öffentlichen Debatten. In der postsowjetischen Ära wird dieser Diskurs in einer Gesellschaft geführt, die den Umgang mit der Meinungsfreiheit erst mühsam erlernen muss. Das erfuhren auch Studenten der Europa-Universität Viadrina, die in einem Oral-History-Seminar im Sommersemester 2005 Erfahrungen zur transnationalen Geschichte Kaliningrads sammelten. Das "offizielle Geschichtsbild der Sowjetunion" sei unübersehbar "von entscheidender Bedeutung für die Erinnerung von Zeitzeugen", so das Fazit der vier Autoren. Auf Beispiele für Zensur und Selbstzensur stießen sie in den Redaktionen von Tageszeitungen. "Es gibt Sachverhalte über welche ich nie in meiner Zeitung schreiben werden darf", erklärte ihnen ein Journalist. Christian Timm, studentischer Analyst der 750-Jahrfeier, attestiert der gegenwärtigen Geschichtspolitik und lokalen Identität der Stadt, dass sich hier noch "das sowjetische Kaliningrad und das preußisch-deutsche Königsberg in ihrer Symbolkraft gegenüber" stehen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche intensiviert gegenwärtig ihre Bemühungen, das zu ändern. Mit rechtstaatlich bedenklichen Methoden ist sie drauf und dran, die deutsche Vorgeschichte im Bereich der Sakralbauten weitestgehend auszulöschen. Singularitäten und Invarianten Bei der Suche nach einem Weg, die ideologisch aufgeladene Debatte um die deutsche Vergangenheit der Region zu entkrampfen und zu versachlichen, könnte ein Perspektivwechsel hilfreich sein. Es gibt gute Gründe dafür, die Entstehung der heute als Exklave Russlands existierenden "Kaliningradskaja Oblast'" mit dem früheren Königsberg als wirtschaftlichem und politischem Zentrum als eine Singularität in der Geschichtlichkeit zu begreifen. Vertreibungen im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen haben in der Menschheitsgeschichte schon oft stattgefunden. Das Einmalige und Beispiellose der Vertreibung der Deutschen besteht zum einen in der enormen Anzahl von Betroffenen, zum anderen aber auch in der Rigorosität ihrer Umsetzung – mit dem Ergebnis des kompletten Austauschs der Bevölkerung in der betrachteten Region. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands führte darüber hinaus zur Ablösung der totalitären nationalsozialistischen Herrschaft durch die nicht minder totalitäre Sowjetdiktatur. Die Vertreibung der Deutschen ging deshalb mit einem ebenso kompletten Austausch von Herrschern und Beherrschten einher. Auf dieses Moment wies auch schon Ruth Kibelka besonders hin. Die drei genannten Eigenschaften – Anzahl der Betroffenen, kompletter Austausch der Bevölkerung, Wechsel der Totalitarismen – und die hohe Geschwindigkeit der Umwandlung einer ganzen Region lassen es gerechtfertigt erscheinen, von einer Singularität in der Geschichtlichkeit zu sprechen. Aus den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, ist bekannt, dass in der unmittelbaren Umgebung von Singularitäten die gültigen Theorien versagen. Warum sollte es nicht auch bei einer Singularität in der Geschichtlichkeit durch einen Wechsel der Perspektive neue Antworten auf alte Fragen geben? Dieser Perspektivwechsel besteht in der Abkehr von der Konzentration auf die Details eines hoch komplexen und sehr dynamischen Prozesses zugunsten einer Analyse, die gerade das in den Blick nimmt, was sich nicht verändert. Dieses Unveränderliche in einem Umbruchprozess soll im Weiteren als "Invariante" bezeichnet werden. Einige Beispiele für solche Invarianten des betrachteten historischen Ereignisses sind die Landschaft, die Infrastruktur, Industrie und Landwirtschaft sowie Architektur und Denkmale. Die Landschaft wird für die weiteren Überlegungen keine Rolle spielen. Die im Weiteren zu betrachtenden Invarianten stellen ausschließlich materialisierte Ergebnisse menschlichen Handelns dar, die sich auf zweierlei Weise systematisieren lassen – zum einen durch die Art der Aneignung, nämlich durch Gebrauch oder Wahrnehmung, und zum anderen durch die Reichweite, nämlich auf das Individuum oder in die Gesellschaft wirkend. Wirkten die hier als Invarianten bezeichneten Reste deutscher Kultur auf nachweisbare Art und Weise auf die sowjetischen Neusiedler? Lässt sich diese Frage mit einem eindeutigen Ja beantworten, so folgen daraus unmittelbar zumindest zwei weitere Fragen. Zum einen gilt es zu klären, auf welche Weise welche Invarianten den einzelnen Bürger und die Gesellschaft prägten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Wirkungsmächtigkeit dieser Invarianten ausreichte, um die Entwicklung der Region nachhaltig zu beeinflussen. Das schließt die Frage ein, ob sich die Etablierung der totalitären stalinistischen Diktatur im "Neuland" tatsächlich im Selbstlauf vollzog, schließlich waren die Neusiedler bereits in einem totalitären System sozialisiert worden. Oder standen der Ausformung der Strukturen und Institutionen kommunistischer Herrschaft im ehemaligen Ostpreußen möglicherweise besondere Schwierigkeiten entgegen, die zu signifikanten Unterschieden im Vergleich zur Russischen Föderation führten? Letzteres mag auf den ersten Blick durchaus als eine allenfalls theoretische und für das zentrale Thema zweitrangige Fragestellung erscheinen. Sie zumindest im Hinterkopf zu haben, erscheint jedoch keineswegs als überflüssig. Nicht zuletzt ließe es sich auf empirischem Wege klären, ob die eingangs zitierte These von Jurij Kostjašov zutrifft, dass nicht nur die Herrschenden, sondern auch die Beherrschten das "deutsche historisch-kulturelle Erbe ablehnten". Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass eine Konzentration der Fragestellung auf die Wirkung von Invarianten die etwa 130.000 Deutschen unberücksichtigt lässt, die nach Kriegsende im Kaliningrader Gebiet verblieben waren und die allein durch ihre Existenz sowie durch ihre Haltung in Alltag und Beruf bis zu ihrer Abschiebung im Jahre 1948 die Neusiedler ebenfalls beeinflussten. Das Oral-History-Projekt Grundsätzlich bietet sich für die empirische Forschung zur Wirkung von Invarianten das Instrumentarium der Oral-History an. Das eingangs erwähnte und von Kostjašov geleitete Oral-History-Projekt ist erkennbar nicht nur von dem professionellen Interesse an einer Umbruchsituation von großer Tragweite geleitet, sondern stellt auch den Versuch einer Heroisierung der ersten Generation von Neusiedlern dar. Im Rahmen dieses Anfang der 1990er-Jahre durchführten Projekts wurden 320 Neusiedler befragt, die zwischen 1945 und 1950 in das Kaliningrader Gebiet gekommen waren. Die Interviews wurden verschriftet und archiviert, der Umfang der Transkripte beträgt ca. 2.500 Seiten. 1999 wurden erstmals Ergebnisse dieser Befragungen durch Eckhard Matthes veröffentlicht. Wenngleich die Fragestellungen dieses Projekts nicht auf die Wirkung der Reste deutscher Kultur auf die Entwicklung der Gesellschaft der Neusiedler gerichtet waren, erwies sich eine Durchsicht dieses Materials im Staatlichen Archiv des Kaliningrader Gebiets im Sommer 2010 als durchaus lohnend. Im narrativen Teil dieser Interviews wurden auch Fragen nach dem Verhältnis der Neusiedler zu den bis 1948 noch geduldeten Deutschen gestellt. Allerdings ist für die hier zu verhandelnde Problemstellung lediglich eine quantitative Auswertung im Sinne einer Ja-Nein-Entscheidung möglich, keine tiefer lotende Analyse. Für einen systematischen oder gar theoriegeleiteten Zugriff erweisen sich diese Interviews aufgrund einer ganzen Reihe von methodischen Gründen als wenig geeignet. Zum einen wurden sie von mehreren Wissenschaftlern als rein narrative Interviews geführt, wobei allerdings ein abgestimmtes Vorgehen mit im Wesentlichen gleichen Fragen durchaus zu erkennen ist. Ein einheitlicher Fragespiegel mit exakt den gleichen Fragen an alle Probanden indes existierte nicht. Zum anderen, und das erwies sich für die Fragestellung dieses Beitrages als besonders nachteilig, gelang es in vielen Fällen nicht, die Befragten im sozialen Netzwerk der Gesellschaft zu verorten. Angaben zur Herkunft, zu Berufs- und Bildungswegen, ausgeübter Tätigkeit und Karriereverlauf sowie zu den Wohn- und Lebensverhältnissen fehlten in vielen Fällen vollkommen bzw. erwiesen sich als unzureichend. Aufschlussreich sind jedoch die ersten Eindrücke der Neusiedler, in denen oft genau das eine zentrale Rolle spielte, was hier "Invariante" genannt wird. Eigene Ergebnisse Es wurden etwa 240 Interviews gesichtet. In 46 dieser Interviews gab es themenrelevante Passagen. Invarianten im Sinne dieses Projekts wurden in 28 Interviews expressis verbis angesprochen und in die nachfolgende Matrix eingeordnet. Auf eine tiefer lotende Analyse der relevanten Interviews wurde wegen der bereits genannten Probleme verzichtet. Matrix der Invarianten (in Klammern die Anzahl der Nennungen) AneignungGebrauchWahrnehmung Reichweite IndiviuumWohnungen und Mobiliar (3) Haushaltsgeräte (2) Haushaltsgeschirr (1) Brunnen (1)Werkzeug (1)Stallungen, Koppeln (1)Krankenhäuser (3)Friedhöfe (2)Kirchen (1)Höfe (1)Vorgärten (2) ÖffentlichkeitStraßen und Wege (7)Straßenbahn (1)Kanalisation (1)Architektur (12)Denkmale (7)Schloss (2)Dom (2)Hafen (1)Melioration (1)Wald (1) Sieben Beispiele sollen zeigen, wie sich die Befragten in den Interviews an ihre erste Begegnung mit der neuen Heimat und mit den Resten einer fremden Kultur erinnerten. 1. Die Finanzökonomin Anna A. Kopilova kam 1950 in das Kaliningrader Gebiet und zeigte sich bei ihrer Ankunft von der Architektur der Bauwerke besonders beeindruckt: "All das war interessant, unbekannt und beeindruckend". Geradezu euphorisch schilderte sie ihre erste Begegnung mit dem Rückbesinnung heute: Ostseeband Cranz im ehemaligen Ostpreußen, Region Kaliningrad. (© Gerhard Barkleit) Ostseebad Cranz: "Welche Schönheit! Was für eine Luft!" Die Häuser beschrieb sie als außergewöhnlich, vor allem wegen der Fußwege, die zu ihnen führten, und der Vorgärten, die sie umgaben. "Wir verliebten uns in jedes Haus", fasste sie ihre Eindrücke zusammen. 2. Auf die Frage, ob es eine Kirche gab, antwortete der 1947 gekommene Landwirt und spätere Hauptagronom Afanasij S. Ladynin mit seiner Erinnerung an die ihm unbekannte Ostertradition des Glockenläutens. Als es mittags "um 12 Uhr läutete, dachten wir, es brennt". In der Kirche habe es viele Ikonen und einen Altar gegeben. Sie wurde dann "außer Betrieb genommen und die Religion verboten". 3. Nach seinem Verhältnis zu den "Denkmalen der Vergangenheit, der Kultur und Architektur" befragt, antwortete der 1947 in das ehemalige Haselberg gekommene Militär und Parteifunktionär Jurij M. Fedenevoj, dass ihm die deutsche Architektur gleichgültig gewesen sei. Am Wiederaufbau der zerstörten Häuser sei niemand interessiert gewesen, zumal es auch keinerlei Ressourcen dafür gegeben habe. Außerdem fielen ihm zu dieser Frage die noch von den Deutschen errichteten Denkmale russischer Soldaten zur Erinnerung an die Kriege von 1813 und 1914 sowie die Friedhöfe ein. Die Wohnungen der Umsiedler "seien komplett mit deutschem Inventar ausgestattet gewesen – Möbel, Geschirr und teilweise auch die Kleidung", kann er sich erinnern. 4. Der 1945 nach Kaliningrad gekommene Lehrer Petr J. Nebicovyi ging in seinem 30-seitigen Interview auf eine Reihe der hier Invarianten genannten Gegenstände aus den Bereichen Infrastruktur und Denkmale ein. Auf die Frage, in welchem Zustand sich die Straßen befanden, antwortete er, dass dort, wo es keine Kämpfe gegeben habe, Das Wohn- und Geschäftshaus "Hirsch" in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg: ein eindrucksvolles Beispiel für eine Invariante. (© Gerhard Barkleit) "die Straßen in einem ausgezeichneten Zustand" gewesen seien. Besonders beeindruckten ihn damals offensichtlich die in Deutschland überall anzutreffenden Privatwege. Es habe "sehr viele private Wege" gegeben, die "nicht sehr groß" gewesen seien und "zu einzelnen Gebäuden oder einzelnen Siedlungen sowie abgelegenen Gehöften" führten. Er klagte darüber, dass die Wälder heute nicht mehr in dem vorbildlichen Zustand seien, wie es bei den Deutschen die Regel war. Darüber hinaus, so stellte er bedauernd fest, sage man wohl zu Unrecht, dass Kaliningrad eine Stadt der Gärten sei. Während die Deutschen Grünanlagen anlegten, "legten wir unlängst sogar die Axt an die Gärten" und holzten ab. Zu den Denkmalen der deutschen Architektur zählte Nebicovyi auch die Friedhöfe, denen die Deutschen große Aufmerksamkeit schenkten und die in einem ausgezeichneten Zustand gewesen seien. Weiterhin nannte er ein Bismarck-Denkmal und eines für Kaiser Wilhelm als Beispiele dafür, dass deutsche "Helden" durch sowjetische ersetzt worden seien, sowie das Friedländer und das Brandenburger Tor. 6. Nikolaj I. Čudinov, seit 1945 im Kaliningrader Gebiet und nach seiner Militärzeit in der Landwirtschaft tätig, erwähnte vor allem landwirtschaftliches Gerät der Deutschen, wie Pflüge und Eggen, die jedoch vor allem von Litauern sofort in Besitz genommen worden seien. In den deutschen Wohnungen seien ihm besonders die Gardinen an den Fenstern aufgefallen, so genannte Stores, die beiseite geschoben werden konnten. Obwohl "alles für uns ungewohnt war", scheinen ihm die Betten am meisten imponiert zu haben: "Das Bett war so, dass man sowohl längs, als auch quer darin liegen konnte", erinnerte er sich. Andererseits sei es sehr niedrig gewesen: "Bei uns braucht man ja fast eine Leiter, um sich schlafen zu legen." 6. Alevtina V. Zeloval'nikova, eine seit 1947 in Kaliningrad lebende Lehrerin und Komsomolfunktionärin, ging in ihrem Interview ganz systematisch auf das ein, was hier als Invarianten bezeichnet wird. Als Erstes betonte sie, dass "die Stadt sehr sauber" war und sie von den gepflasterten Gehwegen besonders beeindruckt gewesen sei, auf denen sich keine Pfützen bildeten. Ihre Unzufriedenheit mit dem Zustand von Sauberkeit und Ordnung in Kaliningrad brachte sie mit einem Witz auf den Punkt, der "nicht von ungefähr" eines Tages in Umlauf gebracht worden sei und sich in freier Übersetzung etwa so erzählen lässt: Die Deutschen drohten mit der Rücknahme von Königsberg. Die Russen reagierten recht gelassen und konterten, dass sie ohne Weiteres in der Lage seien, nach Königsberg auch aus Berlin eine Stadt zu machen, die man nicht mehr wieder erkennt. Das Zweite, woran sie sich erinnere, seien die Blumen: "Die ganze Stadt versank in Blumen. Jedes Haus besaß einen Vorgarten mit Blumen und Ziersträuchern. […] Man kann sagen, dass jeder dieser Vorgärten ein kleines Kunstwerk war." Als Drittes habe sie der Umstand beeindruckt, dass sie im ganzen Kaliningrader Gebiet nicht ein einziges Holzhaus gesehen habe. Die pädagogische Direktorin der Schule, an der sie als Lehrerin arbeitete, habe sich "zusammen mit ihrem Mann in einer zweistöckigen deutschen Villa niedergelassen, deren Ausstattung noch komplett vorhanden war". Das dort vorgefundene Kristall und andere hochwertige Gebrauchsgegenstände haben sie in den ersten Nachkriegsjahren verkaufen und mit dem Erlös Lebensmittel erwerben können. 7. Vladimir D. Fomin, 1946 in das Kaliningrader Gebiet gekommen und als Abteilungsleiter in der Bernsteinfabrik "Jantar" tätig, betonte die Schönheit der Stadt Königsberg und erinnerte sich insbesondere an die zahlreichen Denkmale – Skulpturen aus Bronze – sowie großflächige Reliefs. Es sei "nicht nötig" gewesen, "die deutschen Denkmale abzutragen", betonte er. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Durchsicht der Unterlagen des Oral-History-Projekts der Kaliningrader Staatlichen Universität in den 1990er-Jahren lieferte mehr als nur Indizien für die mittelbare und unmittelbare Wirkung der Reste deutscher Kultur (Invarianten) sowohl auf den Einzelnen, als auch auf die Gesellschaft der Neusiedler im ehemaligen Ostpreußen. Darüber hinaus zeigte es sich, dass die von Jruij Kostjašov behauptete "Ablehnung" des deutschen historisch-kulturellen Erbes sich durch die Aussagen der Neusiedler nicht belegen lässt. Nicht selten brachten die Interviewten ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, damals so viel "Deutsches" einfach zerstört worden sei. So lassen die 240 ausgewerteten Interviews bestenfalls den Schluss zu, dass die Ankommenden nicht in der Lage waren, dieses Erbe "anzunehmen". Welchen Anteil daran die massive Indoktrination der Herrschenden in einem totalitären System und welchen die Scheu der Beherrschten vor einer fremden Kultur hatte, sollte von Vorurteilen freie Forschung heute klären können. Zumindest in Deutschland gibt es ja inzwischen "eine neue Generation der Enkel, die mit frischem, unverkrampftem Blick nach Osten schaut", wie die Herausgeber des bereits erwähnten Sammelbandes "Die Deutschen im Osten Europas" feststellen. Es erscheint daher sinnvoll, im Kaliningrader Gebiet eine professionelle Befragung von Neusiedlern und deren Nachkommen durchzuführen, auch wenn die Nachwirkungen totalitärer Indoktrination noch immer die Erinnerungen von Zeitzeugen prägen. Darüber hinaus sollten anhand von ausgewählten Invarianten mit hoher Symbolkraft, wie zum Beispiel dem Schloss, Methoden und Argumentationsweisen von Partei und Administration bei der Zerstörung und Verdrängung der Reste deutscher Kultur auf der Grundlage überlieferter schriftlicher Quellen analysiert und deren Langzeitwirkung untersucht werden. "750 Jahre Kaliningrad" – Losung aus Anlass der 750-Jahrfeier Kaliningrads, des ehemaligen Königsbergs, im Sommer 2005. (© Gerhard Barkleit) Deutsche und sowjetische Vergangenheit auf einen Blick: Dom und Hafen in Kaliningrad/Königsberg. (© Gerhard Barkleit) Rückbesinnung heute: Ostseeband Cranz im ehemaligen Ostpreußen, Region Kaliningrad. (© Gerhard Barkleit) Das Wohn- und Geschäftshaus "Hirsch" in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg: ein eindrucksvolles Beispiel für eine Invariante. (© Gerhard Barkleit) Vgl. Aleksandr Popadin, Kaliningradec: problema identičnosti [Kaliningrader: Identitätsprobleme], in: Zapad Rossii 2 (1994), S. 106–116. Jurij Kostjašov, Am Schnittpunkt dreier Welten, Ostpreußen: Zankapfel der Völker, in: Adrian von Arburg u. a., Als die Deutschen weg waren. Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland, Berlin 2005, S. 303. Das Folgende ebd., S. 309. Vgl. Evgenij Ju. Vinokurov, Kaliningradu dolžno byt’ vozvraŝeno ego preŝnee nazvanie – Kënigsberg [Kaliningrad muss seinen früheren Namen zurückerhalten – Königsberg], in: Baltijskie issledovanija [Baltische Forschungen]. National’nye u religioznye men’šinstva v Baltijskom regione, Bd. 2, Kaliningrad 2004, S. 89–93. Anna M. Karpenko, Avtoreferat dissertacii na soiskanie učenoj stepeni kandidata političeskih nauk [Thesen zur Dissertation rer. pol.], Moskau 2008. – D. Vf. dankt Anna Karpenko für die Überlassung der Thesen ihrer Dissertation. Raphael Jung u. a., »Das ist eine heikle Frage …«. Die Nachkriegszeit Kaliningrads im Gedächtnis von Zeitzeugen und Öffentlichkeit, Beitrag auf dem trilateralen Oral-History-Seminar zur transnationalen Geschichte Kaliningrads, EUV Frankfurt (O.) 2005. Vgl. Christian Neef, »Wir leben unseren Traum«, in: Annette Großbongardt u. a. (Hg.), Die Deutschen im Osten Europas. Eroberer, Siedler, Vertriebene, München 2011, S. 94–105. Vgl. Ruth Kibelka, Ostpreußens Schicksalsjahre 1944–1948, Berlin 2001, S. 22. Eckhard Matthes (Hg.), Als Russe in Ostpreußen. Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Königsberg/Kaliningrad nach 1945, Ostfildern 1999. Gosudarstvennyj arhiv Kaliningradskoj oblasti [Staatsarchiv der Region Kaliningrad], fond 1191, tom 1/10, str. 102. Ebd., t. 1/12, str. 54. Ebd., t. 1/12, str. 54. Ebd., t. 1/2, str. 47f u. 41. Ebd., t. 1/11,str. 24f. Ebd., t. 1/11, str. 27. Ebd., t. 1/11, str. 28. Ebd., t. 1/8, str. 23. Ebd., t. 1/2 str. 64 f. Ebd., t. 1/16, str. 31 f. Großbongardt u. a. (Anm. 6), S. 12.
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Gerhard Barkleit
"2015-05-07T00:00:00"
"2012-04-24T00:00:00"
"2015-05-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/132976/kaliningrader-identitaeten-oder-die-schizophrenie-der-geschichtslosigkeit/
"Wer sind wir, deutsch geprägte Russen oder russisch geprägte Deutsche?" Für den Schriftsteller Aleksander Popadin ist der Kaliningrader geradezu ein "Vorbild für Unbestimmtheit". Am Beispiel eines Oral-History-Projekts der Kaliningrader Universität
[ "Nachkriegsgeschichte", "Kultur", "Sprache", "Identität", "deutsch-russische Beziehungen", "Sowjetunion", "Russland", "Deutschland", "Kaliningrad", "Königsberg", "Ostpreußen" ]
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Porträt: Fritz Borinski | Politische Bildung | bpb.de
Fritz Borinski (© Gerd Doerry (s. Redaktion)) Fritz Borinski wurde in Berlin geboren, studierte in Leipzig, Halle und Jena Rechtswissenschaften, Soziologie und Geschichte und promovierte 1927 zum Dr. jur. Er leitete anschließend zunächst ein "Bildungswohnheim" für junge Arbeiter in Leipzig und arbeitete danach als Lehrer an der Heimvolkshochschule Sachsenburg. Von 1931 bis 1933 war er Assistent im "Seminar für freies Volksbildungswesen" der Universität Leipzig. 1934 emigrierte er nach England, wo er vor allem mit Deutschunterricht seine Existenz sicherte. Dort blieb er bis 1947, wurde allerdings 1940/41 zwischenzeitlich in Australien interniert. Borinski gründete 1943 das "German Education Committee" mit, das Pläne für den Aufbau eines neuen Bildungswesens in Deutschland vorbereitete. Einige seiner Thesen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von der britischen Militärregierung umgesetzt (Faulstich/ Zeuner 2001, S. 244). Außerdem arbeitete er an der politischen Bildung deutscher Kriegsgefangener mit. Nach Deutschland kehrte Borinski im April 1947 zurück und übernahm bis 1954 die Leitung der Heimvolkshochschule Göhrde. Josef Olbrich schreibt, mit ihm habe "diese Bildungsinstitution [...] beispielhaft für die Entwicklung der deutschen Erwachsenenbildung nach innen gewirkt" (Olbrich 2000, S. 23). Von 1954 bis 1956 leitete Borinski die Bremer Volkshochschule. In der Zeit von 1953 bis 1965 gehörte er dem "Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen" an und war wesentlich mitbeteiligt an Empfehlungen und Gutachten, die die Entwicklung der Erwachsenenbildung zu einem anerkannten Teil des gesamten Bildungssystems beeinflussten. 1956 wurde er an die Freie Universität Berlin auf einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt politische Bildung und Erwachsenenbildung berufen. Ihn habe es gereizt, "mit der studentischen Jugend die Probleme und Aufgaben demokratischer Bildung und Erziehung zu klären und zu verwirklichen", so Borinski (Borinski 1972, S. 228f). Borinsksi bedeutendste Schrift ist das 1954 erschienene Buch "Der Weg zum Mitbürger. Die politische Aufgabe der freien Erwachsenenbildung in Deutschland". Darin setzt er sich von der in der Weimarer Zeit vorherrschenden "Staatsbürgerkunde" ab, die er wegen ihres statischen Staatsbildes und ihres konservativen und autoritären Erziehungsziels kritisiert. Im Gegensatz dazu gehe "die mitbürgerliche Bildung auf das Ganze, auf den ganzen Menschen, auf das ganze Leben" (Borinski 1954, S. 57). Es sei "ein politisches Gebot, daß die Erziehung zur Demokratie den Menschen nicht nur zu den Formen, sondern auch zu den Inhalten der Demokratie bildet" (ebd.). Peter Faulstich und Christine Zeuner schreiben über ihn: "Borinski geht es also darum, die Menschen durch politische Erwachsenenbildung anzuregen und zu befähigen, sich aktiv und verantwortungsbewusst am Aufbau der Demokratie zu beteiligen" (Faulstich/ Zeuner 2001, S. 252f). Martha Friedenthal-Haase und Tetyana Kloubert urteilen: "Borinski behandelt die Erwachsenenbildung nicht als eine bloße Veranstaltung zur Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens im Erwachsenenalter. Ihm geht es vielmehr um Bildung in einem prägnanten Sinn, um Bildung als wertgebundene humane Menschenbildung. Unverzichtbar für die Selbständigkeit des Erwachsenen ist ihm die bürgerschaftliche Dimension, die in der modernen Gesellschaft nur in einer freiheitlichen und sozialen Demokratie voll verwirklicht werden kann, und so sind Bildung und Demokratie aufeinander verwiesen" (Friedenthal-Haase/ Kloubert 2009, S. 43). Für Borinski waren Erwachsenenbildung und politische Bildung also eng miteinander verbunden: "Die Erwachsenenbildung muß, wenn sie real in die Gesellschaft wirken will, immer auch politisch bilden" (Borinski, zit. nach Olbrich 2001, S. 17). Der Text wurde übernommen aus dem Band: Wolfgang Sander / Peter Steinbach, Politische Bildung in Deutschland. Profile, Personen, Institutionen, Bonn 2014. Erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1449. Fritz Borinski (© Gerd Doerry (s. Redaktion)) Quellen / Literatur Fritz Borinski, Der Weg zum Mitbürger, Düsseldorf-Köln 1954. Fritz Borinski, Freie Universität Berlin 1956 – 1972, in: Josef Gerhard Farkas (Hrsg.), Festschrift für Michael de Ferdinandy zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1972, S. 228-245. Josef Olbrich, Fritz Borinski – Vita und Werk. Von der Praxis zur Wissenschaft der Erwachsenenbildung, in: Franz-Josef Jelich / Robert Haußmann (Hrsg.), Fritz Borinski. Zwischen Pädagogik und Politik – ein historischer Rückblick, Recklinghausen 2000, S. 11-33. Peter Faulstich / Christine Zeuner, Erwachsenenbildung und soziales Engagement, Bielefeld 2001. Martha Friedenthal-Haase/ Tetyana Kloubert, Erwachsenenbildung und Demokratie. Zu einem unveröffentlichten Manuskript von Fritz Borinski aus dem britischen Exil 1944/45, in: Bildung und Erziehung, 62 (2009) 1, S. 37-52. Fritz Borinski, Der Weg zum Mitbürger, Düsseldorf-Köln 1954. Fritz Borinski, Freie Universität Berlin 1956 – 1972, in: Josef Gerhard Farkas (Hrsg.), Festschrift für Michael de Ferdinandy zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1972, S. 228-245. Josef Olbrich, Fritz Borinski – Vita und Werk. Von der Praxis zur Wissenschaft der Erwachsenenbildung, in: Franz-Josef Jelich / Robert Haußmann (Hrsg.), Fritz Borinski. Zwischen Pädagogik und Politik – ein historischer Rückblick, Recklinghausen 2000, S. 11-33. Peter Faulstich / Christine Zeuner, Erwachsenenbildung und soziales Engagement, Bielefeld 2001. Martha Friedenthal-Haase/ Tetyana Kloubert, Erwachsenenbildung und Demokratie. Zu einem unveröffentlichten Manuskript von Fritz Borinski aus dem britischen Exil 1944/45, in: Bildung und Erziehung, 62 (2009) 1, S. 37-52.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-13T00:00:00"
"2014-10-28T00:00:00"
"2022-01-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/politische-bildung/193939/portraet-fritz-borinski/
Fritz Borinski (1903 – 1988) wirkte nach 1945 am Aufbau eines neuen Bildungswesens in Westdeutschland mit. In seinem 1954 erschienen Buch "Der Weg zum Mitbürger" distanzierte er sich von der in der Weimarer Republik dominierenden "Staatsbürgerkunde"
[ "Fritz Borinski", "politische Bildung", "Staatsbürgerkunde", "Politikdidaktik", "Erwachsenenbildung" ]
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Ein Nutzen ist nicht zu erkennen | Globaler Handel | bpb.de
(© HTW Berlin) Sowohl im fertig verhandelten Kanada-EU-Freihandelsabkommen (CETA) als auch im geplanten Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP) ist einer der umstrittensten Punkte der Investorenschutz, genauer die Einführung von Schiedsgerichten zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen privaten Investoren und Staaten. Beim sogenannten Investor-Staat-Schiedsverfahren (engl. Investor-State Dispute Settlement, ISDS), sollen ausländische Investoren, die sich im Rahmen von Investitionsförder- und Schutzverträgen (IFV) von einem der Vertragsstaaten durch Gesetze oder Verwaltungshandeln unfair behandelt fühlen, vor einem internationalen Schiedsgericht Schadensersatz erstreiten können. Kritikerinnen und Kritiker sehen in diesen Regeln einen Angriff auf die Möglichkeit der Staaten, mit Blick auf das Gemeinwohl Umwelt- und Gesundheitsstandards durchzusetzen. Sie fürchten, dass Investoren auf Schadensersatz klagen, die ihre Geschäfte durch völlig legitime Regulierungen der nationalen Regierungen beeinträchtigt sehen. Tatsächlich hat es solche Klagen in der Vergangenheit häufiger gegeben: Zigarettenkonzerne haben gegen Beschränkungen im Tabakmarketing geklagt – etwa durch Vorgaben zu Gesundheitswarnungen auf Packungen. Der schwedische Energiekonzern Vattenfall hat sich sowohl gegen höhere Umweltstandards beim Kohlekraftwerk Moorburg in Hamburg zur Wehr gesetzt als auch Schadensersatz wegen des deutschen Atomausstiegs gefordert. Allerdings ist bislang nicht immer im Sinne der Konzerne entschieden worden. Befürworterinnen und Befürworter dagegen sehen den ISDS als Voraussetzung für Direktinvestitionen. Sie erhoffen sich mehr grenzüberschreitende Investitionen durch besseren Eigentumsschutz. Tatsächlich übertreiben beide Seiten: Der Investorenschutz im CETA-Abkommen ist nach den jüngsten Nachbesserungen so vernünftig formuliert wie in keinem anderen wichtigen ISDS-Abkommen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich mit den jetzt vorgeschlagenen Regeln tatsächlich große Beschränkungen für die Regulierungsfähigkeit durch den Staat ergeben. Allerdings überzeichnen auch die Befürworter den Nutzen eines solchen Investorenschutzes enorm: Bei nüchterner Betrachtung gibt es nämlich kein wirklich überzeugendes Argument, warum CETA und TTIP überhaupt Regeln für einen Investorenschutz mit internationalen Schiedsgerichten enthalten sollten. (© HTW Berlin) Investitionsschutz führt nicht automatisch zu mehr Investitionen Das Argument, ISDS würde zu mehr Investitionen führen, ist sowohl empirisch als auch theoretisch fragwürdig. Empirisch zeigen die Studien zum Einfluss von IFV mit Schiedsverfahren auf Investitionsströme, dass ein solcher Einfluss entweder statistisch nicht stabil nachweisbar oder von einer zu vernachlässigenden Größe ist. Dabei dürften die akademischen Studien den zu erwartenden Effekt eines Investorenschutzes bei CETA und TTIP sogar noch überzeichnen: Die meisten IFV wurden mit Ländern mit extrem schwachen Institutionen und oftmals nicht funktionierenden Rechtssystemen abgeschlossen. Man kann deshalb erwarten, dass in diesen Fällen der positive Effekt deutlich höher ist als bei Abkommen zwischen entwickelten Volkswirtschaften. Theoretisch muss man sich außerdem fragen, warum Länder mit entwickelten und weitgehend korruptionsfreien Rechtssystemen eine weitere Instanz zum Investorenschutz brauchen. Es gibt heute wenig Indizien, dass ausländische Investoren in Kanada, Frankreich oder Deutschland aufgrund ihrer Nationalität enteignet oder ihnen danach im nationalen Rechtssystem aufgrund ihrer Nationalität ein fairer Prozess vorenthalten worden wäre. Zudem muss man sich klar machen, dass ISDS bei funktionierenden Rechtssystemen sogar zu Wettbewerbsverzerrungen führt: Ein solcher Investorenschutz schafft ungleiche Bedingungen zwischen inländischen und ausländischen Investoren. Fühlen sich sowohl inländische als auch ausländische Investoren von einer neuen staatlichen Regel unfair behandelt, kann der ausländische Investor neben dem normalen Rechtsweg auch noch jenen der internationalen Schiedsgerichte gehen, dem Inländer bleibt dieser Schritt verwehrt. Eine solche Ungleichbehandlung zwischen Ausländern und Inländern kann wirtschaftlich nicht effizient sein und ist auch politisch kaum zu rechtfertigen. Ein neuer Goldstandard beim Investitionsschutz heißt nicht, dass alte Regeln verbessert werden Ein letztes, gerne vorgebrachtes Argument ist, dass die bisherigen IFV zwischen den Industrieländern und ärmeren Ländern tatsächlich – wie von Kritikerinnen und Kritikern vorgebracht – oftmals schlecht funktionieren, im Ergebnis häufig willkürlich sind und in einigen Fällen auch die Regulierungsfähigkeit des Staates beschneiden. Ein Verabschieden von CETA und TTIP mit neuen, besseren Regeln würde so einen neuen „Goldstandard“ schaffen, der mittel- und langfristig zu einem gerechteren und besseren Investorenschutz weltweit führen würde. Doch auch dieses Argument ist nicht wirklich stichhaltig: Moderne ISDS-Regeln in CETA und TTIP bedeuten noch lange nicht, dass die Regeln in alten Verträgen angepasst werden. Jeder Versuch eines Entwicklungslandes, bestehende ISDS-Regeln nachzuverhandeln, wird absehbar an den Lobbybemühungen der Investoren mit Beteiligungen in den betroffenen Ländern scheitern. Warum sollte etwa Deutschland seine bilateralen Investitionsschutzabkommen mit afrikanischen Ländern zum Nachteil der eigenen Industrie nachverhandeln, nur weil die EU ein neues Abkommen mit Kanada oder den USA abgeschlossen hat? Wie man es dreht und wendet: Das Investor-Staat-Schiedsverfahren in CETA und TTIP ist völlig überflüssig. Der Schaden mag nicht so groß sein wie von Skeptikern gelegentlich vorgebracht, aber ein gesamtwirtschaftlicher oder gar gesamtgesellschaftlicher Nutzen ist auch nicht zu erkennen. (© BDI) Standpunkt Stormy-Annika Mildner/Christoph Sprich: Interner Link: "Ausländische Investoren müssen wissen, dass sie in einem fernen Land vor unrechtmäßiger Enteignung oder Diskriminierung gegenüber Inländern geschützt sind. (...) Deshalb müssen Staaten ein bestimmtes Maß an Sicherheit bieten, um als Investitionsziel für ausländische Investoren attraktiv zu sein." (© BDI)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-09-29T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/freihandel/234799/ein-nutzen-ist-nicht-zu-erkennen/
Der Investitionsschutz in den EU-Freihandelsabkommen CETA und TTIP ist überflüssig – und sogar ungerecht, meint der Berliner Ökonom Sebastian Dullien.
[ "Freihandel", "Protektionismus", "Debatte", "TTIP", "CETA", "Wirtschaft" ]
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Migration und Migrationspolitik in der Russischen Föderation | Regionalprofil Osteuropa | bpb.de
Mit einer zugewanderten Bevölkerung von mehr als elf Millionen Menschen gehört Russland neben den Vereinigten Staaten, Deutschland und Saudi-Arabien zu den bedeutendsten Einwanderungsländern der Welt. Insbesondere die Metropolen Moskau und St. Petersburg sind durch ein reges Migrationsgeschehen geprägt, wobei die überwiegende Mehrheit der Migrant:innen aus dem postsowjetischen Raum stammt. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der Interner Link: russische Angriffskrieg in der Ukraine und die damit einhergehenden Sanktionen gegen Russland den bereits durch die Interner Link: Corona-Pandemie eingesetzten Rückgang der Einwanderung weiter verstärken werden. Russlands Migrationsgeschichte Häufig entsteht der Eindruck, Russland sei erst mit dem Interner Link: Zerfall der Sowjetunion zu einem Migrationsmagneten geworden. Tatsächlich begann Russlands Einwanderungsgeschichte jedoch lange vor dem Zerfall der Sowjetunion und den darauffolgenden Massenwanderungsbewegungen im postsowjetischen Raum Anfang der 1990er Jahre. Insbesondere im spätsowjetischen Russland bestanden äußerst vielfältige und komplexe Migrationsverhältnisse. Mobilität war ein integraler Bestandteil des sozialistischen Modernisierungsprojekts und eng mit der Urbanisierung und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes verbunden. Vor allem die Metropolen Moskau und Leningrad – das heutige St. Petersburg – waren attraktive Ziele für Studierende, Arbeiter:innen, und Ingenieur:innen aus anderen Sowjetrepubliken, aber auch aus Mittel- und Lateinamerika, Asien und Afrika. Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion intensivierten die zunehmende wirtschaftliche Not und die wachsenden ethnischen und politischen Konflikte in den Sowjetrepubliken Tadschikistan, Armenien, Georgien und Aserbaidschan die Einwanderung nach Russland. Die Auflösung des multinationalen Imperiums in mehrere unabhängige Nationalstaaten verstärkte die bestehenden Einwanderungsbewegungen noch einmal. Hinzu kam, dass sehr viele ehemalige Sowjetbürger:innen aufgrund der neuen Grenzen über Nacht zu "Migrant:innen" wurden, ohne dass sie tatsächlich eine Grenze überschritten hatten. Gleichzeitig erlebte Russland in seiner Geschichte auch umfassende Auswanderungsbewegungen. So wanderten beispielsweise von Beginn der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre 2,7 Millionen Menschen in andere Sowjetrepubliken ab. Mit der Lockerung der strikten Ausreisebeschränkungen in den späten 1980er Jahren stieg zudem die Auswanderung von ethnischen Minderheiten wie Deutschen und Interner Link: Menschen jüdischen Glaubens aus der Sowjetunion und nahm nach 1989 Massencharakter an. Lebten der Volkszählung von 1989 zufolge knapp 842.300 Deutsche auf dem Gebiet der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), so waren es in der Russischen Föderation im Jahr 2010 rund 394.000. In Deutschland waren bis 2011 rund 612.000 Menschen aus dem Gebiet der Russischen Föderation als Interner Link: (Spät-)Aussiedler:innen aufgenommen worden. Insgesamt zählt die Russische Föderation neben Indien und Mexiko zu den Ländern mit der größten Zahl an Emigrant:innen. 2020 lebten rund elf Millionen in Russland geborene Menschen im Ausland. Unter denjenigen, die Russland verlassen, befinden sich viele gut ausgebildete Arbeitskräfte, Intellektuelle und politische Aktivist:innen, sodass diese Bewegungen auch unter dem Stichwort "Brain Drain" diskutiert werden. Der Brain Drain dürfte sich durch die Interner Link: russische Invasion in der Ukraine und die damit in Zusammenhang stehende weitere Einschränkung der Informations- und Meinungsfreiheit in Russland noch weiter verschärfen. Bereits Mitte März 2022 gingen erste Schätzungen von 200.000 russischen Intellektuellen aus, die das Land seit Beginn des Kriegs verlassen hatten. Statistische Daten zur eingewanderten Bevölkerung (© bpb, Migration Data Portal) Als PDF herunterladen (24.6kB) Die Zahl der in Russland lebenden Migrant:innen wurde zuletzt, im Jahr 2020, auf 11,6 Millionen geschätzt (siehe Abbildung 1) ; der Großteil davon stammt aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Zusätzlich zu diesen offiziellen Zahlen kann man von einer hohen Zahl ausländischer Staatsangehöriger ausgehen, die sich ohne Aufenthaltserlaubnis in Russland aufhalten. Die staatliche Migrationsbehörde schätzt, dass sieben bis acht Millionen ausländische Staatsangehörige illegal in Russland arbeiten; einige Politiker:innen sprechen von bis zu 15 Millionen illegal im Land lebender Menschen. Neben den Personen, die dauerhaft in Russland leben, prägen temporäre Arbeitsmigrant:innen das Einwanderungsgeschehen. Trotz eines starken Rückgangs der Zuwanderung aufgrund der Covid-19-Pandemie kamen im Jahr 2020 offiziell 594.146 Ausländer:innen nach Russland. Da im gleichen Jahr jedoch auch viele Menschen das Land verließen, betrug die Nettomigration nur etwa 100.000 Personen – ein starker Rückgang gegenüber den 285.103 Personen im Jahr 2019 (siehe Abbildung 2). (© bpb, Föderaler Dienst für staatliche Statistik (Rosstat)) Als PDF herunterladen (40.2kB) Die überwiegende Mehrheit der postsowjetischen Migrant:innen in Russland kommt aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Interner Link: Ukraine, Tadschikistan, Kasachstan, Armenien, Usbekistan, Kirgisien sowie aus Aserbaidschan (siehe Abbildung 3). Die treibende Kraft dieser Bewegungen ist die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung und das Einkommensgefälle zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken. Vor allem die zentralasiatischen Länder Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisien sind in hohem Maße auf Geldüberweisungen angewiesen, die von den Arbeitsmigrant:innen in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden. Interner Link: Hier kann die Tabelle mit den Daten zur Abbildung abgerufen werden. (© bpb, Föderaler Dienst für staatliche Statistik (Rosstat) Als PDF herunterladen (33.5kB) Neben der wirtschaftlich bedingten Zuwanderung hat der bewaffnete Konflikt in der ukrainischen Donbass-Region seit 2014 dazu geführt, dass ca. eine Million Menschen die Ukraine in Richtung Russland verlassen haben (Stand: 2017). Wie sich die Fluchtbewegungen aus der Ukraine nach Russland seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 und der Ausweitung des Kriegsgeschehens auf die gesamte Ukraine verändert haben, lässt sich bislang schwer sagen. Nach UN-Angaben waren bis zum 20. April 2022 rund 550.000 Menschen nach Russland geflohen. Auch soll es Medienberichten und dem amerikanischen OSZE-Botschafter Michael Carpenter zufolge Deportationen von tausenden Menschen aus der ukrainischen Stadt Mariupol nach Russland gegeben haben. Nach Angaben des russischen Generalobersts Michail Misinzew wurden seit Beginn des Krieges bis Ende April rund 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Russland gebracht, darunter etwa 200.000 Kinder. Die Ukraine warf Russland in diesem Zusammenhang die Verschleppung ihrer Bürger:innen aus den von Russland besetzten Gebieten im Osten und Süden des Landes vor. Grundzüge der aktuellen Migrationspolitik Ähnlich wie in vielen westlichen Einwanderungsländern ist die Interner Link: russische Migrationspolitik von einem Interner Link: Sicherheitsnarrativ geprägt: Einwanderung wird als potenzielle Bedrohung für die öffentliche Ordnung, das Sozialsystem und den sozialen Zusammenhalt dargestellt. So wird eine strikte staatliche Regulierung begründet, welche sich unter anderem in der Inhaftierung und Ausweisung von Migrant:innen sowie mehrjährigen Wiedereinreisesperren zeigt. Gleichzeitig ist Russland aus wirtschaftlichen Gründen auf Einwanderung angewiesen und gewährt der überwiegenden Mehrheit der Migrant:innen (insbesondere jenen aus Mitgliedsländern der Interner Link: GUS) eine visafreie Einreise. Aus diesem Gegensatz ergibt sich eine Interner Link: Gleichzeitigkeit liberaler und restriktiver Elemente, die sich teilweise gegenseitig blockieren und zu widersprüchlichen Regelungen führen. In der Folge verfügen sehr viele Migrant:innen über einen unsicheren Rechtsstatus und sind dadurch weitgehend schutzlos der Willkür des korrupten Sicherheitsapparats und des Rechtssystems ausgeliefert. Eine besondere Stellung im russischen Migrationsregime nehmen die so genannten "Landsleute" (russisch: sootechestvenniki) ein. Unter diese Migrationskategorie werden Personen aus dem ehemaligen sowjetischen Raum gefasst, die einen engen Bezug zur russischen Kultur aufweisen. Seit 2006 gibt es ein staatliches Programm, das die Einreise von "Landsleuten" fördert und sie durch schnellere Staatsbürgerschaftsverfahren gegenüber anderen Arbeitsmigrant:innen privilegiert. Das Programm ist allerdings aus verschiedenen Gründen äußerst schleppend angelaufen. Erst mit dem Kriegsbeginn in der Ostukraine 2014 und der damit verbundenen Fluchtmigration nach Russland hat das Programm an Fahrt aufgenommen. Im Zuge der neoimperialen russischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine hat der russische Präsident Interner Link: Wladimir Putin zudem im April 2019 Änderungen im russischen Staatsbürgerschaftsrecht auf den Weg gebracht. Seither können die Einwohner:innen der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk durch ein vereinfachtes Verfahren die russische Staatsbürgerschaft annehmen. Ausblick Viele Jahre zählte das postsowjetische Russland zu den zahlenmäßig bedeutendsten Einwanderungsländern der Welt. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine könnte einen Wendepunkt für das bestehende Migrationsregime darstellen. Einerseits lassen sich bereits im April 2022, wenige Wochen nach Beginn des Kriegs, vor allem von gut ausgebildeten, jungen Menschen große Auswanderungsbewegungen beobachten, die als "moralische Emigration" bezeichnet werden. Andererseits muss die russische Regierung befürchten, dass ein Aufenthalt in Russland für viele der temporären Arbeitsmigrant:innen aus Zentralasien durch die langfristigen Folgen der vom Westen verhängten Sanktionen nicht mehr lukrativ erscheint. Somit könnte sich der bereits in der Pandemie eingesetzte Abwärtstrend der Einwanderung nach Russland weiter fortsetzen. Dies könnte auch die Bevölkerung weiter schrumpfen lassen. 2021 verzeichnete Russland den größten natürlichen Bevölkerungsrückgang seit dem Zerfall der Sowjetunion. Binnen eines Jahres (Oktober 2020 bis September 2021) starben in Russland fast eine Millionen Menschen mehr als im selben Zeitraum geboren wurden. Hintergründe waren die alternde Bevölkerung des Landes und hohe Sterbefallzahlen während der Pandemie. (© bpb, Migration Data Portal) Als PDF herunterladen (24.6kB) (© bpb, Föderaler Dienst für staatliche Statistik (Rosstat)) Als PDF herunterladen (40.2kB) Interner Link: Hier kann die Tabelle mit den Daten zur Abbildung abgerufen werden. (© bpb, Föderaler Dienst für staatliche Statistik (Rosstat) Als PDF herunterladen (33.5kB) Sahadeo, J. (2019). Voices from the Soviet Edge: Southern Migrants in Leningrad and Moscow. Cornell University Press. Pilkington, H., & Flynn, M. (1999). From 'Refugee' to 'Repatriate': Russian Repatriation. The end of the refugee cycle?: refugee repatriation and reconstruction, 4, 171. Chudinovskikh, O. & Denisenko, M. (2017). Russia: A Migration System with Soviet Roots. 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Externer Link: https://www.handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-handel-und-finanzen-moskauer-militaer-200-000-ukrainische-kinder-nach-russland-gebracht/28297674.html (Zugriff: 04.05.2022). Kuznetsova, I., & Round, J. (2019). Postcolonial migrations in Russia: the racism, informality and discrimination nexus. International Journal of Sociology and Social Policy. Myhre, M. H. (2018). Forced migrant "compatriots" from Ukraine: Accessing legal residency and citizenship in the Russian Federation. Nationalities Papers, 46(6), 1028-1045. Burkhardt, F. (2020). Russlands "Passportisierung" des Donbas: die Masseneinbürgerung von Ukrainern ist nicht nur außenpolitische begründet. SWP-Aktuell, 58/2020. 30. Juni. Externer Link: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2020A58/ (Zugriff: 20.04.2022). Deutsche Welle (2022). "Moralische Emigration": Wie sich der Exodus aus Russland auswirkt. Externer Link: https://www.dw.com/de/intellektuelle-flucht-aus-russland-exodus/a-61352393 (Zugriff: 20.04.2022). Sauer, Pjotr (2021). Russia's population undergoes largest ever peacetime decline, analysis shows. The Guardian, 13. Oktober. Externer Link: https://www.theguardian.com/world/2021/oct/13/russias-population-undergoes-largest-ever-peacetime-decline (Zugriff: 20.4.2022).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-08T00:00:00"
"2022-05-04T00:00:00"
"2022-07-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/507965/migration-und-migrationspolitik-in-der-russischen-foederation/
Russland ist aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen. Eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Offenheit und Abwehr prägt die Einwanderungspolitik.
[ "Migrationspolitik", "Russische Föderation", "Ukraine-Krieg", "Russland", "Einwanderungsland", "postsowjetisch", "brain drain" ]
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Editorial | Europa | bpb.de
Am 25. März 2007 jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die sechs Unterzeichnerstaaten brachten damals ein "Projekt" auf den Weg, das bis heute einzigartig ist: den europäischen Einigungsprozess. Die Euphorie über "eine Art Vereinigte Staaten von Europa" (Winston Churchill) ist jedoch inzwischen der Ernüchterung gewichen. Die geopolitischen Veränderungen zu Beginn der 1990er Jahre haben nicht nur der östlichen Hälfte Europas die Freiheit gebracht, sondern auch zur Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union (EU) geführt. Bald wird die EU mehr als 30 Mitglieder umfassen. Ob sich die europäische Integration weiter nach dem Bild einer sich "allmählich ausweitenden Pfütze" (Daniel Cohn-Bendit) vollziehen wird, muss die Zukunft zeigen. Eine Debatte über die Finalität und Identität der EU ist überfällig. Der "Verfassungsvertrag", der eine "Gebrauchsanleitung für die Zukunft" (Valéry Giscard d'Estaing) sein und die Handlungsfähigkeit der EU auch im 21. Jahrhundert gewährleisten soll, wurde in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Deutschland hat ihn zwar ratifiziert, aber durch die Klage eines Bundestagsabgeordneten vor dem Bundesverfassungsgericht wurde dieser Prozess gestoppt. Erst mit der Unterschrift des Bundespräsidenten gilt die Ratifikation als abgeschlossen. Der "Verfassungsvertrag" dürfte in der vorliegenden Form nicht in Kraft treten. Aus vielen Umfragen werden diffuse Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor immer neuen Erweiterungsschritten einer zunehmend intransparenten Union deutlich. Es besteht offenbar eine Kluft zwischen dem Europa der Politiker und dem der Bürger.
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Watzal, Ludwig
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30613/editorial/
Am 25. März 2007 jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die sechs Unterzeichnerstaaten brachten damals ein "Projekt" auf den Weg, das bis heute einzigartig ist: den europäischen Einigungsprozess. Aus vielen Umfragen werden
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PR-Tipps des People-Powered-Netzwerks | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Aussagekräftig, aber einfach sollen Inhalte in der Öffentlichkeitsarbeit gehalten werden: Das ist der erste Punkt, den die Fachleute von Externer Link: People Powered uns allen an die Hand geben, wenn es darum geht, neue Aktive zu gewinnen. „Die Leute sind nun mal beschäftigt, und sie vermuten schnell, dass sie ihre Zeit verschwenden“, heißt es zuoberst im Kapitel „Outreach and participation“ – in etwa „Kontaktknüpfen und Teilnahme“. Eigentlich gehört der klar strukturierte Beitrag zum großen Thema „Externer Link: Guide to Digital Participation Platforms“, dem „Leitfaden für digitale Beteiligungsplattformen“. Aber ebenso gut kann man es eigentlich für alle Arten von Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen von Bürgerbeteiligung nutzen, deswegen hier ein kleiner Überblick über den in verschiedenen Sprachen (leider nicht Deutsch) lesbaren Artikel. "Aussagekräftig und einfach" – hinter diese Forderung steckt nicht nur, dass die Leute wenig Zeit haben. Genauso geht es darum, durch einen einfach Mitmach-Aufruf in Alltagssprache verständlich zu bleiben, statt mit komplizierten Fachausdrücken oder -abläufen um sich zu werfen. Denn eines ist klar: Überall gibt es das, was wir hierzulande die „stillen Gruppen“ nennen – Menschen, die nicht so einfach zu erreichen sind. Um Beteiligung aller zu schaffen, braucht es doppelt so viel Anstrengung, gerade auch sie anzusprechen. Dazu ist es gut herauszufinden, wo sie sich denn normal ihre Informationen holen oder nach Neuigkeiten suchen: Hören sie Lokalradio? Reden sie einfach miteinander? Verständigen sie sich über Chat-Gruppen? Tatsächlich berichtet der Beitrag von einem chinesischen Beteiligungscenter, das dafür ein Extra-Programm für einen beliebten Chat-Kanal entwickelt hat. Wohingegen in New York ein eigenes Team, die „Public Engagement Unit“, von Tür zu Tür unterwegs ist oder sich ans Telefon hängt. Oder in Kenia – und ganz ähnlich in Polen - Teilnehmende früherer Projekte als „Botschafter“ oder „Mentoren“ losziehen. Auch bei Werbung übers Internet oder Social Media gilt das ähnlich: „Die Leute machen nicht einfach mit, bloß weil du eine eigene Plattform [oder eine Internetseite] hast“, sagen die People-Powered-Leute geradeheraus. Erst muss ich also herausfinden, wo sich mein Zielpublikum aufhält, um es dann dort, auf seinen Lieblingskanälen, zu erreichen. „Und was hab ich davon, wenn ich mich beteilige?“ - Diese Frage stellen sich vor allem jene, die eher etwas skeptisch gegenüber solchen Aufrufen sind. „Teile den Zugewinn schon früh und häufig!“ empfehlen die Autoren. Zeige, welche positiven Veränderungen entstehen können. Auch, indem solche Ergebnisse permanent nachlesbar sind: „Wir haben gefragt, ihr habt etwas gesagt, wir haben es gemacht“ lautet (in etwa) eine Überschrift auf einer großen Beteiligungs-Plattform, die genau so, mit echten Beispielen, Skeptiker vom Nutzen ihres Einsatzes überzeugen will. Und das eben genau schon zu dem frühen Zeitpunkt, an dem sich neu Angesprochene entscheiden, ob sie mitmachen sollen oder nicht. Ebenso wichtig: fortschreiben, was mit vorgeschlagenen Ideen passiert. Wie ist der Entscheidungsstand, warum kann das eine umgesetzt werden und ein anderer Vorschlag vielleicht nicht? „Damit wird die Verbindung zwischen Engagement und Veränderung sichtbar“, so die Fachleute. Und betonen den Wert eines solchen fortlaufenden Austauschs: „Wenn Leute das Gefühl haben, ihnen wird zugehört, werden sie auch zukünftig eher mitmachen.“ - Auf der People-Powered-Seite können Sie den ganzen Externer Link: Beitrag im Original lesen – viel Spaß dabei! text: wolk; foto: picture-alliance/ dpa | Uwe Anspach
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-05-16T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/508362/pr-tipps-des-people-powered-netzwerks/
Wie bekomme ich Menschen dazu, sich zu beteiligen und sich längerfristig zu engagieren? Wertvolle Tipps dazu bieten Ratschläge von Profis aus dem People-Powered-Netzwerk.
[ "Aktivierung", "Öffentlichkeitsarbeit", "Netzwerk Bürgerhaushalt", "People Powered" ]
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Protest gegen Zensur - Die Zeitungen der Kirche | Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur | bpb.de
Kirche als Ort der Opposition: Anhänger demonstrieren gegen die Zensur kirchlicher Zeitungen. (© KONTRASTE, Rundfunk Berlin-Brandenburg) Diktatorische Herrscher sind auf Zensur angewiesen. Der Zensur in der DDR fehlte es jedoch zunächst an Einheitlichkeit und Klarheit. Heute konnte etwas verboten werden, was gestern erlaubt war und morgen schon wieder zugelassen wird. Diesen Umstand nahm folgender Witz auf: "Sitzen drei Häftlinge im Transport und unterhalten sich. Der Erste wird gefragt: 'Was hat Du denn gemacht?' Er antwortet: 'Ich war gegen H. Und Du?' Der Zweite antwortet: 'Ich war für H.' Die Reihe kommt an den Dritten: 'Und Du?' Er schmunzelt und sagt: 'Ich bin H.'" In den 1980er Jahren trieb die Zensur besonders überraschende Blüten. In der Gorbatschow-Ära wurden in der DDR mehrere Einzelhefte von sowjetischen Zeitschriften in deutscher Sprache nicht ausgeliefert, d.h. verboten, weil darin kritische Beiträge über die kommunistische Geschichte enthalten waren. Ebenso verhielt es sich mit mehreren sowjetischen Filmen, die in der DDR nicht gezeigt werden durften. Diese Verbote führten zu zahlreichen Protesten. Kirche als Ort der Opposition: Anhänger demonstrieren gegen die Zensur kirchlicher Zeitungen. (© KONTRASTE, Rundfunk Berlin-Brandenburg) Ähnlich war es mit Eingriffen der Zensur bei Zeitungen der Kirche. In der DDR erschienen fünf evangelische Wochenblätter in einer Gesamtauflage von etwa 150.000 Stück. Sie wurden nicht am Kiosk verkauft, sondern waren nur im Abonnement bzw. in den Kirchengemeinden erhältlich. Eine Ausgabe konnte nur erscheinen, wenn das DDR-Presseamt die Nummer freigegeben hatte. Zwar gab es auch schon vor den 1980er Jahren gelegentlich Zensureingriffe des Staates. Aber erst in den 1980er Jahren, als die Kirchenzeitungen zunehmend Forderungen der unter dem Dach der Kirchen agierenden oppositionellen Gruppen aufnahmen und häufiger grundlegende Reformen in der Gesellschaft einforderten, kam es besonders 1987/88 zu einer Fülle von Eingriffen, die entweder ganze Ausgaben oder aber Teile der geplanten Texte betrafen. Die veränderte gesellschaftliche Situation in der DDR zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sich am 10. Oktober 1988 etwa 150 Demonstranten schweigend vom Ostberliner Konsistorium zum Presseamt aufmachten, um gegen die Zensur zu demonstrieren. Sicherheitskräfte verhinderten die Demonstration und nahmen einen Teil der Demonstranten fest. Da die westlichen Medien breit über diesen Vorgang berichteten, erfuhren auch die meisten DDR-Bürger davon.
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Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk
"2022-02-01T00:00:00"
"2011-11-21T00:00:00"
"2022-02-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/kontraste/42444/protest-gegen-zensur-die-zeitungen-der-kirche/
Kontraste zeigt auf, wie die kirchlichen Zeitungen in der DDR zensiert werden. Systemkritiker protestieren gegen die staatlichen Einschränkungen und bestehen auf Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit.
[ "Magazin Kontraste", "SED-Staat", "Kirchliche Zeitungen in der DDR", "DDR" ]
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Chronik: Covid-19-Chronik, 13. – 26. September 2021 | Russland-Analysen | bpb.de
13.09.2021 Mehr als 500 von 3.400 Mitarbeiter:innen des Bolschoi-Theaters in Moskau haben sich in der Corona-Pandemie mit dem Sars-Cov-2-Virus infiziert, teilt der Generaldirektor des Theaters Wladimir Urin mit. Derzeit seien elf Menschen erkrankt. Das Theater hat Auslandstourneen wegen der Pandemie bis Frühjahr 2022 abgesagt. 13.09.2021 Das internationale Wissenschaftsjournal "The Lancet" publiziert eine Studie aus Argentinien, wonach die erste Impfung des russischen Impfstoffs "Sputnik V" zu 78,6 Prozent gegen eine Coronavirus-Infektion schützen soll. Dies wurde demnach jedoch nicht für die Delta-Variante des Virus geprüft. Der "Sputnik Light"-Impfstoff hat sich laut Studie bei älteren Menschen im Alter von 60 bis 79 Jahren zu 78,6 bis 83,7 Prozent als besonders wirksam gegen das Coronavirus erwiesen. 14.09.2021 Der russische Präsident Wladimir Putin begibt sich in Quarantäne. In seinem Umfeld hätten sich mehrere Personen mit dem Coronavirus infiziert, teilt der Kreml mit, Putin selbst sei gesund. Mitarbeiter:innen aus Putins Umfeld seien nicht rechtzeitig nachgeimpft worden, teilt die Nachrichtenagentur Interfax mit. Putins Sprecher Dmitrij Peskow sagt, dass sich Putin vor der Entscheidung zur Selbstisolation mit dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad getroffen habe. Er sei aber nicht wegen dieses Treffens in Quarantäne gegangen. Ein Treffen mit dem tadschikischen Präsidenten in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe nimmt Putin daraufhin per Videokonferenz wahr, außerdem nimmt er virtuell am Gipfel der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) teil, der Afghanistan zum Thema hat. 14.09.2021 Russland liefert 600 Liter Impfsubstanz zur Herstellung von "Sputnik V" nach Serbien. Dies reiche aus, um eine Million Dosen des Arzneimittels zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zu dosieren. Zuvor hatte der serbische Präsident Aleksandar Vucic mitgeteilt, dass Serbien 545.000 Dosen der ersten und zweiten Komponente des russischen "Sputnik V"-Impfstoffs hergestellt habe. 15.09.2021 In St. Petersburg eröffnet ein Zentrum zur Erforschung des Post-Covid-19-Syndroms. 15.09.2021 Die russische Verbraucherschutzbehörde "Rospotrebnadsor" teilt mit, dass etwa eine Million Russ:innen vollständig mit dem russischen Vakzin "EpiVac-Corona" geimpft wurden. 15.09.2021 In St. Petersburg steigt die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen von Covid-19-Patient:innen deutlich an. 300 Patient:innen seien eingewiesen worden, teilt die Stadtverwaltung mit, am Vortag waren es noch 193. 15.09.2021 Der Iran lässt den Impfstoff "Sputnik Light" zu, der eine Einfachimpfung gegen das Coronavirus vorsieht. 16.09.2021 In St. Petersburg erreicht die Zahl der in Krankenhäuser eingewiesenen Corona-Patient:innen einen neuen Höchststand. 345 Menschen seien zuletzt eingeliefert worden, teilt die Stadtverwaltung mit, das sei ein Höchststand seit Anfang August. 16.09.2021 Der russische Impfstoff "Sputnik V" hat laut einer Studie von Ärzt:innen der Argentinischen Nationalen Universität von Cordoba verglichen mit dem "Sinopharm"- und dem "AstraZeneca"-Impfstoff eine höhere Antikörperwirksamkeit. Dies gelte gegen den Delta-Stamm bei Patient:innen, die zuvor an Covid-19 erkrankt waren. Das teilt die Nachrichtenagentur Interfax mit und beruft sich auf Daten der Zeitung "La Nacion". 16.09.2021 Die Türkei erlaubt Russ:innen die Einreise nur noch mit einer "Sputnik V"-Corona-Impfung oder einem PCR- oder Antigentest. Andere russische Impfstoffe sind nicht zugelassen. 16.09.2021 Die WHO setzt das Zulassungsverfahren für den "Sputnik V"-Impfstoff in der Corona-Pandemie aus. Der stellvertretende Direktor der bei der WHO tätigen Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO), Jarbas Barbosa, begründet dies mit Produktionsmängeln, die überprüft würden. 17.09.2021 Russland und Nicaragua unterzeichnen einen Vertrag zur Lieferung der russischen Corona-Impfstoffe "Sputnik V" und "Sputnik Light". Details zu Umfang und Datum der Lieferungen werden zunächst nicht bekannt. 19.09.2021 Andrej Isajew, Leiter des Moskauer Zentrums für molekulargenetische Forschung (DNKOM), teilt mit, dass ein neuer Stamm des "mu"-Coronavirus in Russland angekommen sei. Diese Variante sei noch nicht in der Liste der besorgniserregenden Stämme der WHO enthalten, werde aber überwacht. 19.09.2021 Das russische Pharmaunternehmen R-Pharm beginnt mit der Produktion des britisch-schwedischen Coronavirus-Impfstoffs "AstraZeneca". Der Impfstoff solle ausschließlich exportiert werden, teilt die Nachrichtenagentur Ria Nowosti mit, da Russland selbst nur eigens entwickelte Vakzine nutze. 20.09.2021 Der russische Präsident Wladimir Putin ist wegen Covid-19-Fällen in seinem Umfeld weiter in Quarantäne und nimmt an Veranstaltungen nur virtuell teil, darunter ein Treffen mit den Leitern der Regionen, die bei den jüngsten Wahlen zur russischen Duma gewonnen haben. 20.09.2021 Armenien beginnt mit der Produktion des russischen Corona-Impfstoffs "Sputnik Light". 20.09.2021 Russland liefert 700.000 Dosen des Corona-Impfstoffs "Sputnik V" nach Guatemala. 21.09.2021 Russland nimmt wieder Flüge nach Spanien, Irak, Kenia und in die Slowakei auf, die während der Corona-Pandemie ausgesetzt worden waren. Auch Flüge in die Türkei und nach Ägypten finden von den internationalen Flughäfen Pskow, Magadan, Murmansk und Tschita wieder statt. Nach Spanien können Russ:innen weiter nicht zum Urlaub einreisen, nur zum Arbeiten, Studieren und zu ärztlichen Behandlungen. 21.09.2021 Russland liefert 200.000 Dosen des russischen Corona-Impfstoffs "Sputnik V" nach Venezuela. 21.09.2021 Finnland verlängert das coronabedingte Einreiseverbot für russische Tourist:innen bis 31. Dezember 2021. Die estnische Regierung teilt der Nachrichtenagentur Tass zufolge mit, dass alle geimpften Russ:innen ohne Einschränkungen einreisen dürften. Diese gelte bereits seit Juni. 22.09.2021 Dmitrij Ljosnow, Direktor des Smorodinzew-Forschungsinstitut in St. Petersburg teilt mit, dass das Institut bis Ende 2021 mit klinischen Studien zum von ihm entwickelten Corona-Impfstoff beginnen werde, der in die Nase injiziert werde. 22.09.2021 Russland liefert Laos 30.000 Dosen des Corona-Impfstoffs "Sputnik Light". 22.09.2021 In Russland ist der Nachrichtenagentur Tass zufolge eine neue Variante des Coronavirus mit Beta- und Delta-Stammmutationen gefunden worden. Demnach hätten Biolog:innen herausgefunden, dass diese Art des Coronavirus vermutlich bereits im Februar dieses Jahres in Russland aufgetaucht sei und sich ab Mai verbreitet habe. 22.09.2021 Die Corona-Inzidenz in Russland steigt wieder. Die Chefin der russischen Verbraucherschutzbehörde "Rospotrebnadsor", Anna Popowa, teilt mit, dass in 36 von 85 russischen Subjekten eine Zunahme der Coronafälle registriert worden sei, zuvor seien die Zahlen in nur elf Subjekten gestiegen. 23.09.2021 In St. Petersburg steigen die Zahlen der Krankenhauseinweisungen von Patient:innen mit dem Coronavirus erneut. Zuletzt seien 355 Patient:innen aufgenommen worden, eine Woche zuvor seien es 345 gewesen, teilt die Verwaltung des Gouvernements mit. Damit steige die Zahl auf einen neuen Höchststand seit August. Auf dem Höhepunkt der Epidemie Ende Juni hatte die Zahl der Krankenhauseinweisungen in St. Petersburg deutlich mehr betragen und 1.000 Einweisungen pro Tag überschritten. 23.09.2021 Südafrika lockert die Einreisebeschränkungen in der Corona-Pandemie und erlaubt Russ:innen wieder die Einreise, wenn sie einen negativen PCR-Test vorlegen. 24.09.2021 Russland wird keine Delegation zur Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) im französischen Straßburg entsenden. Hintergrund sei, dass die französischen Behörden den russischen Impfstoff "Sputnik V", der vor Covid-19-Infektionen schützen soll, nicht anerkennen, teilt die Nachrichtenagentur Interfax mit. 24.09.2021 Russland meldet einen Rekord an Covid-19-Toten. 828 Todesfälle durch Covid-19 seien registriert worden, teilt die Regierung mit. Außerdem sei die Zahl der Krankenhauseinweisungen von Patient:innen mit dem Coronavirus in der russischen Hauptstadt Moskau im Vergleich zur Vorwoche um 15 Prozent gestiegen, die der Neuinfektionen um 24 Prozent. Die Delta-Variante machte 100 Prozent aller Neuinfektionen aus. 24.09.2021 Mehrere Oblaste in Russland verschärfen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, darunter Sacha (ehemals Jakutien), wo der Zeitung "Moscow Times" zufolge Einkaufszentren wieder geschlossen seien und Schulen auf Fernunterricht umstellten. Verschärfungen seien auch in Kursk, Tscheljabinsk, Iwanowsk, Uljanowsk und Saratow der Fall. In Saratow habe die Zahl der seit Beginn der Pandemie mit dem Coronavirus infizierten Einwohner:innen 85.000 überschritten, zuletzt seien im Laufe eines Tages 272 Infektionsfälle registriert worden. Dies sei ein Höchstwert seit Dezember 2020, teilte die örtliche Regierung mit. In Udmurtien war beschlossen worden, die Bettenkapazität für Patient:innen mit dem Coronavirus zu erhöhen. In der Oblast Leningrad hatte der Gouverneur Besuche in Krankenhäusern, Waisenhäusern und Internaten untersagt. 24.09.2021 Ägypten lässt die in Russland entwickelte Einfach-Impfung mit "Sputnik Light" zu. Bereits im Februar 2021 war die Zweifach-Dosierung mit "Sputnik" zur Eindämmung der Corona-Pandemie anerkannt worden. 24.09.2021 Dschibuti erleichtert die Reisebeschränkungen für Russ:innen in der Corona-Pandemie. Mit einem Visum und einem PCR-Test könnten diese nun einreisen, teilt die Nachrichtenagentur Tass mit. 25.09.2021 Das vietnamesische Pharmaunternehmen "Vabiotech" teilt mit, dass es eine erste Charge des russischen Impfstoffs "Sputnik V" produziert habe und zur Eindämmung der Corona-Pandemie im eigenen Land nutzen werde. 26.09.2021 In St. Petersburg infizieren sich wieder mehr Menschen mit dem Coronavirus. Zuletzt hatten sich der Nachrichtenagentur Tass zufolge 2.055 Menschen pro Tag infiziert, erstmals war dieser Wert von 2.000 pro Tag im Juli überschritten worden. 26.09.2021 In Russland sterben wöchentlich mehr Menschen als seit Beginn der Corona-Pandemie gemessen wurde, das teilt die Nachrichtenagentur Tass mit. Demnach seien zuletzt 5.682 Tote registriert worden. Zusammengestellt von Clara Lipkowski
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"2021-11-08T00:00:00"
"2021-10-07T00:00:00"
"2021-11-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-407/341579/chronik-covid-19-chronik-13-26-september-2021/
Die Geschehnisse der Covid-19-Pandemie innerhalb Russlands im Überblick.
[ "Russland", "Gesundheit", "Covid-19 Pandemie" ]
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Einleitung | Deutsche Asylpolitik und EU-Flüchtlingsschutz im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems | bpb.de
Kaum ein innenpolitisches Thema ist in den letzten Jahren so kontinuierlich Gegenstand öffentlicher Debatten gewesen wie die Asylpolitik und der Umgang mit Flüchtlingen. Die seit 2009 deutlich steigende Zahl von Schutzbegehren – allein zwischen 2012 und 2014 hat sich das Antragsvolumen in Deutschland mehr als verdoppelt – hat eine neue politische und gesetzgeberische Dynamik mit zahlreichen Kontroversen entfacht. Zum einen wurde deutlich, dass Bund, Länder und Kommunen nicht ausreichend auf schnell wachsende Flüchtlingsströme vorbereitet waren, sodass es zu gravierenden Problemen bei der Unterbringung und zu Verfahrensstau beim zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kam. Zum anderen wurden Schutzsuchende wieder verstärkt mit dem Verdacht des "Asylmissbrauchs" belegt und politische Maßnahmen ergriffen, die das im internationalen Maßstab generöse deutsche Asylrecht einschränkten. Hierbei spielte vor allem die Sorge eine Rolle, ein liberales Asylrecht könnte als Pull-Faktor wirken und Flüchtlinge, die sich in anderen europäischen Ländern aufhalten, zur Weiterwanderung nach Deutschland motivieren. Genau hier zeigen sich die transnationalen Dimensionen der Flüchtlingspolitik: Mittlerweile ist das Asylrecht in Form von detaillierten Mindeststandards nahezu vollständig europäisiert und unterliegt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) – nur sehr begrenzt können daher auf nationaler Ebene restriktive Maßnahmen ergriffen werden. Die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren ist durch die Interner Link: Dublin-Verordnung eindeutig geregelt; gleichzeitig trägt die Europäische Union kollektive Verantwortung für seine Außengrenzen – und daher z. B. auch für die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer und die Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien. Eine Analyse der deutschen Asylpolitik kann daher nur eingebettet in eine Gesamtbetrachtung des gemeinsamen Systems des Flüchtlingsschutzes in der EU erfolgen. Dabei müssen stets zwei Facetten betrachtet werden: einerseits die empirisch beobachtbaren Fluchtbewegungen und andererseits die Reaktionen einzelner Staaten oder der Gemeinschaft im Umgang mit dieser Migration. Hier offenbaren sich in den nächsten Jahren für Deutschland, aber insbesondere für die EU eine Vielzahl von Herausforderungen. InfoboxSchutzbedürftige weltweit Ende 2013 befanden sich weltweit nach Interner Link: Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 51,2 Millionen Menschen aufgrund von Verfolgung, Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht ("forcibly displaced"). Dies ist die höchste Zahl seit Beginn derartiger Statistiken im Jahr 1989. Davon waren 16,7 Millionen registrierte oder anerkannte Flüchtlinge, 33,3 Millionen Binnenflüchtlinge und 1,2 Millionen Asylbewerber. 86 Prozent aller Flüchtlinge wurden von Entwicklungsländern aufgenommen. 98.400 Flüchtlinge wurden 2013 von 21 Ländern über Resettlement-Programme aufgenommen. 6,3 Millionen Flüchtlinge lebten seit langem unter schwierigen Lebensumständen ("protracted situations"), sowohl in großen Flüchtlingscamps, als auch häufig ebenso prekär auf sich allein gestellt in Großstädten.* * "Protracted Situations" sind definiert als Situationen, in denen mindestens 25.000 Flüchtlinge einer Nationalität im gleichen Aufnahmeland für mindestens fünf Jahre leben (UNHCR 2014b, S.6). Das Kurzdossier gibt zunächst einen Überblick über das Interner Link: internationale Flüchtlingsrecht, das den Rahmen für nationale Bestimmungen zum Flüchtlingsschutz bildet. Es folgt eine Übersicht nationaler Formen der Schutzgewährung. Anschließend setzt sich das Kurzdossier mit Interner Link: Asylrecht, Flüchtlingspolitik und humanitärer Zuwanderung in der Bundesrepublik Deutschland auseinander. Daraufhin folgt ein Blick auf Interner Link: Harmonisierungsbestrebungen der EU im Politikfeld Flucht und Asyl. Abgerundet wird der Beitrag durch eine Auseinandersetzung mit Interner Link: aktuellen Entwicklungen in Deutschland und einem Ausblick auf zukünftige Interner Link: europäische Herausforderungen beim Flüchtlingsschutz. Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Deutsche Asylpolitik und EU-Flüchtlingsschutz im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Ende 2013 befanden sich weltweit nach Interner Link: Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 51,2 Millionen Menschen aufgrund von Verfolgung, Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht ("forcibly displaced"). Dies ist die höchste Zahl seit Beginn derartiger Statistiken im Jahr 1989. Davon waren 16,7 Millionen registrierte oder anerkannte Flüchtlinge, 33,3 Millionen Binnenflüchtlinge und 1,2 Millionen Asylbewerber. 86 Prozent aller Flüchtlinge wurden von Entwicklungsländern aufgenommen. 98.400 Flüchtlinge wurden 2013 von 21 Ländern über Resettlement-Programme aufgenommen. 6,3 Millionen Flüchtlinge lebten seit langem unter schwierigen Lebensumständen ("protracted situations"), sowohl in großen Flüchtlingscamps, als auch häufig ebenso prekär auf sich allein gestellt in Großstädten.* * "Protracted Situations" sind definiert als Situationen, in denen mindestens 25.000 Flüchtlinge einer Nationalität im gleichen Aufnahmeland für mindestens fünf Jahre leben (UNHCR 2014b, S.6). Etymologisch griech. "ásylon": Ort, an dem ein Verfolgter nicht ergriffen werden darf und an dem Verfolgte Schutz finden können. So etwa im Kontext der Debatten um die Einstufung der Westbalkanländer als sichere Herkunftsstaaten; vgl. z. B. "Externer Link: De Maizière warnt vor Asylmissbrauch", FAZ vom 8. Februar 2014; Wortprotokoll der 15. Sitzung des BT-Innenausschusses vom 23. Juni 2014; BT-Pl. Pr. 18/46 vom 3. Juli 2014, S. 4180.
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"2021-11-19T00:00:00"
"2015-05-29T00:00:00"
"2021-11-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/207544/einleitung/
Kaum ein innenpolitisches Thema ist in den letzten Jahren so kontinuierlich Gegenstand öffentlicher Debatten gewesen wie die Asylpolitik und der Umgang mit Flüchtlingen. Zur Auflösung der Fußnote[1] Die seit 2009 deutlich steigende Zahl von Schutzbeg
[ "Asyl", "Asylpolitik", "Flüchtlingsschutz", "Flüchtling", "Flucht", "Asylsystem", "EU", "Asylantrag" ]
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Dokumentation: Das Gipfeltreffen im Normandie-Format | Ukraine-Analysen | bpb.de
Am 9. Dezember 2019 trafen sich zum ersten Mal seit 2016 der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der russische Präsident Wladimir Putin, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron im Normandie-Format in Paris. Im Vorfeld des Treffens hielt das NGO-Netzwerk Civic Solidarity Platform eine Konferenz in Bratislava ab und veröffentlichte ein Statement, in dem unter anderem die Besorgnis über die Menschenrechtslage in den nichtgerierungskontrollierten Gebieten in der Ostukraine zum Ausdruck gebracht wurde. Bei dem Gipfeltreffen einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf einen Waffenstillstand in der Ostukraine bis Ende 2019 sowie auf weitere Schritte zur Deeskalation der Lage in der Region. Im Folgenden veröffentlichen wir das Statement der NGO-Konferenz und die gemeinsam vereinbarten Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens von Paris. Die Redaktion der Ukraine-Analysen Statement of the OSCE Parallel Civil Society Conference on the occasion of the upcoming Normandie summit Bratislava, 4 December 2019 On December 9, 2019 the Normandie Summit will be held in Paris with the aim to negotiate a permanent ceasefire in eastern Ukraine and to define a framework for a political solution to the conflict. Since 2014, all fundamental OSCE principles have been violated by the Russian Federation in eastern Ukraine, starting with the inviolability of borders and the territorial integrity of States. The armed conflict in this region has led to over 13,000 deaths. Fundamental rights and freedoms are systematically violated in the non-government-controlled areas of eastern Ukraine. Over a hundred people are held today in places of illegal detention. We welcome the efforts by the OSCE in the process of conflict management in eastern Ukraine through the OSCE Special Monitoring Mission and the continuous work of the Trilateral Contact Group. We express our hope that diplomatic efforts at the upcoming Normandie summit will help to ensure that ceasefire is fully respected and that humanitarian and human rights organisations have access to non-governmental controlled areas. We demand that key OSCE principles are not abandoned or compromised by the participants of the Normandie format in the political process of conflict resolution. A sustainable solution of the armed conflict in eastern Ukraine requires that visible efforts by the Russian government are taken now, including withdrawal of military forces and special services from the territories, currently not controlled by the government of Ukraine. We call upon all stakeholders in Ukraine and OSCE to support comprehensive reintegration of these territories and citizens and to use all available means in the humanitarian, legal, economic, educational, cultural and other spheres. Meaningful local elections on the non-government-controlled territory can be held only when security is provided, when the legacies of five years of absent rule of law and free media on this territory are overcome and after Ukraine re-establishes its control over the Russian-Ukrainian border. Only when fundamental human rights which are not currently in force in the occupied territory - freedom of thought, freedom of expression, freedom of association, the right to be elected and elect, freedom of conscience and religion, access to justice - will be guaranteed, the international missions will be able to ensure a transparent and democratic process that can be called an election. The existence of a number of non-governmental-controlled areas in the OSCE region as well as the annexed Crimea shows that the emergence of new "grey areas” where fundamental OSCE principles are violated over a long period has extremely negative impact on the protection of the rights of people living in these areas. Therefore, we call upon all OSCE participating States, institutions and political bodies to renew their efforts to end armed conflicts in the OSCE region, build sustainable peace in conflict-affected areas and ensure the territorial integrity of all participating States. Attention should be focused now on eastern Ukraine as the most urgent situation which still has chances of not turning into a "frozen conflict” with no control of the government of the territory for decades. We also call upon OSCE participating states, institutions and political bodies to more energetically support Ukraine’s efforts of democratic and rule-of-law reforms. Quelle: Civic Solidarity Platform, Externer Link: http://civicsolidarity.org/sites/default/files/statement_csp_normandy_summit_9-th_paris_1.pdf Gemeinsam vereinbarte Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens von Paris im Normandie-Format Montag, 9. Dezember 2019 Der Präsident der Französischen Republik, die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, der Präsident der Russischen Föderation und der Präsident der Ukraine sind heute in Paris zusammengekommen. Die Minsker Vereinbarungen (Minsker Protokoll vom 5. September 2014, Minsker Memorandum vom 19. September 2014 und das Maßnahmenpaket von Minsk vom 12. Februar 2015) bleiben die Grundlage der Tätigkeit im Normandie-Format, dessen Mitgliedstaaten sich zur vollständigen Umsetzung dieser Vereinbarungen bekennen. Sie unterstreichen ihr gemeinsames Streben nach einer dauerhaften und umfassenden Vertrauens- und Sicherheitsarchitektur in Europa auf Grundlage der OSZE-Prinzipien, wofür die Beilegung des Konflikts in der Ukraine einen von mehreren wichtigen Schritten darstellt. Auf dieser Grundlage beschließen sie Folgendes: 1. Sofortige Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage im Konfliktgebiet Die Seiten verpflichten sich zu einer vollständigen und umfassenden Umsetzung des Waffenstillstands, der durch alle für den Waffenstillstand erforderlichen Unterstützungsmaßnahmen gestärkt wird, bis Ende des Jahres 2019. Sie unterstützen die Entwicklung und Durchführung eines aktualisierten Plans für die Minenräumung auf Grundlage der Entscheidung der Trilateralen Kontaktgruppe über Tätigkeiten zur Minenräumung vom 3. März 2016. Sie werden eine Vereinbarung im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe über drei weitere Entflechtungsgebiete sowie über den überprüfbaren Rückzug schwerer Waffen unterstützen, wobei das Ziel ist, Truppen und Ausrüstung bis Ende März 2020 erfolgreich zu entflechten. Sie ermuntern die Trilaterale Kontaktgruppe, die Freilassung und den Austausch von im Zusammenhang mit dem Konflikt Festgehaltenen nach dem Grundsatz "alle gegen alle" bis zum Ende des Jahres, beginnend mit "alle Identifizierten gegen alle Identifizierten", zu ermöglichen, mit der Maßgabe, dass internationalen Organisationen einschließlich des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) uneingeschränkter und unkonditionierter Zugang zu allen festgehaltenen Personen gewährt wird. Sie werden eine Vereinbarung im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe innerhalb von 30 Tagen über neue Übergangsstellen entlang der Kontaktlinie unterstützen, wobei primär humanitäre Kriterien die Grundlage hierfür sein sollten. Sie erinnern daran, dass die Sonderbeobachtermission der OSZE in der Ukraine (SMM) alle Möglichkeiten unter dem Mandat vom 21. März 2014 ausschöpfen sollte und überall in der Ukraine sicheren und geschützten Zugang haben sollte. 2. Maßnahmen zur Umsetzung der politischen Bestimmungen der Minsker Vereinbarungen Die Seiten bringen zum Ausdruck, dass sie daran interessiert sind, innerhalb des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe Übereinstimmung über alle rechtlichen Gesichtspunkte betreffend die besondere Ordnung der lokalen Selbstverwaltung ("Sonderstatus") bestimmter Regionen der Selbstverwaltungsgebiete Donezk und Luhansk zu erzielen – wie im Maßnahmenpaket von Minsk vom Februar 2015 skizziert –, um dessen dauerhafte Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Sie betrachten es als erforderlich, die "Steinmeier-Formel" in der im Rahmen des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe vereinbarten Fassung in ukrainisches Recht umzusetzen. 3. Folgemaßnahmen Sie beauftragen die Außenminister und ihre Politischen Berater, die Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen sicherzustellen, und sie vereinbaren ein erneutes Treffen in diesem Format binnen vier Monaten zu den politischen und Sicherheitsbedingungen, unter anderem für die Organisation von Kommunalwahlen. Quelle: Deutsche Bundesregierung, Externer Link: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/gemeinsam-vereinbarte-schlussfolgerungen-des-gipfeltreffens-von-paris-im-normandie-format-1705068
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"2021-06-23T00:00:00"
"2019-12-12T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/302143/dokumentation-das-gipfeltreffen-im-normandie-format/
Nach langjähriger Pause trafen sich Staatschefs der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich im Rahmen des Normandie-Formats am 09. Dezember 2019. Neben einem Statement der Civic Solidarity Platform im Vorfeld gibt die Dokumentation Aufschluss ü
[ "Normandie-Format", "Dokumentation", "Ukraine-Analysen", "Ukraine", "Militärischer Konflikt in der Ostukraine" ]
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Wie Fernunterricht die Unterrichtsmethoden verändert | Corona und die neue Lernwelt | bpb.de
Julia Hastädt, 27 Jahre, Sozialkunde/ Geschichte/ Berufliche Orientierung, Lehrerin und Medienbeauftragte, Mecklenburg-Vorpommern Julia Hastädt (© privat) "Während der Fokus zunächst auf der Wissensvermittlung lag, geht es nun viel mehr um die Beziehungsförderung, denn die psychischen Folgen dieser Krise belasten stärker als versäumte Inhalte der Curricula. Deshalb setze ich in Videokonferenzen noch stärker auf Interaktion und Gruppenaustausch in Breakout-Rooms . Zusätzlich biete ich meinen Schülerinnen und Schülern an, jeden Schultag gemeinsam per Videokonferenz zu beginnen und zu beenden, um sich über Anliegen, das Wetter, Fitnesstrends u.v.m. auszutauschen." Christian Wettke, 36 Jahre, Spanisch/ Sport, Baden-Württemberg Christian Wettke (© privat) "Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, meine Schülerinnen und Schüler nicht nur vor Aufgaben, sondern auch vor kreative Herausforderungen zu stellen, um sie so ein wenig aus Ihrem Trott herauszuholen. Neben dem „Ansprechbar- und Da-Sein“ ist das, so glaube ich, das Wichtigste in einer herausfordernden Zeit wie dieser." Bahar Aslan, 35 Jahre, Englisch/Sozialwissenschaften, Hauptschule, NRW Bahar Aslan (© privat) "Der Distanzunterricht mag bei Kindern und Jugendlichen, die aus gut situierten und bildungsnahen Familien kommen, funktionieren, dies trifft jedoch auf meine Schülerinnen und Schüler nicht zu. Vor allem im Hinblick auf die aktuell viel zitierte Bildungsgerechtigkeit, empfinde ich diesen Zustand als sehr belastend. Zum Wohle meiner Schülerinnen und Schüler versuche ich den Ressourcenmangel zu kompensieren, stoße hierbei jedoch immer wieder an meine Grenzen. Daher sollte es in der Debatte über Digitalisierung an Schulen, grundsätzlich ein stärkeres Problembewusstsein für die Schieflagen in unserem Bildungssystem geben." Lars Zumbansen, 43 Jahre, didaktischer Leiter am Gymnasium Harsewinkel, NRW Lars Zumbansen (© privat) "Gelingender Distanzunterricht zeichnet sich für mich vor allem durch eine gute Rhythmisierung aus, die Einseitigkeit (Materialpakete vs. Dauer-Videokonferenz) vermeidet. Dabei gilt es, Prinzipien des Interner Link: Blended Learning zu berücksichtigen und asynchrone Phasen selbstorganisierten Lernens mit synchronen Phasen abzuwechseln, die gemeinsame Resonanzräume für Peer-review und Diskussion ermöglichen." Birte Kampmann, 33 Jahre, Latein/Deutsch, Gymnasium, Berlin Birte Kampmann (© privat) "Die Herausforderung für Lehrerinnen und Lehrer in Zeiten von Schulschließungen besteht in der Koordination verschiedener Bereiche: der fachlich-inhaltlichen Vermittlung des Lernstoffes, der Übernahme pädagogischer Verantwortung durch regelmäßigen Kontakt und individuelles Feedback, der Ein- und Durchführung digitaler Lernarrangements, der Dokumentation und Verwaltung von Anwesenheit und Lernergebnissen sowie zum Teil der Bereitstellung einer IT-Infrastruktur als technische Basis für Bildung im Kontext von Digitalität. Hier werden aber auch Potenziale sichtbar: Lehrende könnten sich zukünftig überfachlich vernetzen und digitale Lernszenarien dauerhaft Eingang in den Unterrichtsalltag finden." Markus Christoph, 40 Jahre, Mathe/ Geschichte/ Politik/ u.v.m., Koordinator für digitale Medien und Tablet-Klassen, Niedersachsen Markus Christoph (© privat) "Ich fand es äußerst schwierig, ALLE Unterrichtsfächer digital vor- und nachzubereiten. Daher habe ich mir ein, zwei Schwerpunktfächer gesucht und diese digital-didaktisch stärker in den Fokus gerückt. Außerdem habe ich mich in das Drehen von Lernvideos eingearbeitet, was zwar viel Vorbereitungszeit kostet, aber auch unabhängig von Corona ein gutes digitales Medium ist, um den Unterricht zu differenzieren." Hilal Ebcin, 35 Jahre, Geschichte/ Sozialwissenschaften/ DaZ (Deutsch als Zweitsprache)/ Philosophie, Realschule, NRW Hilal Ebcin (© privat) "Wir sind nach dem ersten Lockdown sicherer im Umgang mit digitalem Unterricht geworden: Es wird darauf geachtet, dass Schülerinnen und Schüler nicht mit Hausaufgaben überhäuft werden und wir Lehrkräfte sind über Videokonferenztools organisierter, strukturierter und besser miteinander vernetzt als zuvor. Auch die Schülerinnen und Schüler können wir jetzt über ihre eigenen Videokonferenz-Accounts ganz einfach erreichen." Björn Nölte, 48 Jahre, Deutsch/ Geschichte/ Politik, Berlin Björn Nölte (© Frank Woelffing) "Meine Erfahrung aus der Pandemie zeigt, dass wir anhand der Leistung nicht vorhersehen können, welche Schülerinnen und Schüler welche Unterstützung benötigen. Unauffällige Schülerinnen und Schüler können in der digitalen Freiheit auch aufblühen, die leistungsstarken dagegen benötigen manchmal mehr Zuwendung oder Struktur, als wir denken. Also: Beziehungen stärken, individuelle Bedürfnisse ermitteln!" Steffen Jauch, 37 Jahre, Geschichte/ Politik/ Technik/ Informatik, Niedersachsen Steffen Jauch (© privat) "Unser langjähriges Engagement der internen Fort- und Weiterbildung des Kollegiums zu Themen der digitalen Didaktik, Methodik und Medienpädagogik gab uns in der ersten Schulschließung die nötige Sicherheit, um uns auf die Beziehungsarbeit mit den Lernenden zu konzentrieren und strukturierte Schultage online abwechslungsreich zu gestalten. Diese Sicherheit gibt sowohl den Lehrenden als auch den Schülerinnen und Schülern die nötige Resilienz mit, diese unsichere Pandemiezeit bestmöglich zu überstehen. Sie können so die Veränderungen durch eine digitalisierte Lebenswelt mit einer motivierenden Aufbruchstimmung in die Schulentwicklung einer Post-Pandemiezeit mitnehmen." Elke Noah, 56 Jahre, Stellvertretende Schulleiterin, Sachsen-Anhalt Elke Noah (© privat) "Im Distanzunterricht ist es wichtiger denn je, eine enge, ehrlich interessierte und herzliche Kommunikation zu pflegen. Nur mit Empathie und Rücksicht auf die sehr unterschiedlichen Bedingungen aller kann es trotz Entfernung gelingen, dass die Schulgemeinschaft näher zusammenrückt." Tobias Schreiner, 41 Jahre, Deutsch/ Ev. Religion/ IT, Schulleiter, Bayern Tobias Schreiner (© privat) "Lernen ist ein sozialer Prozess, der auf Basis gelingender Kommunikation und vertrauensvoller Beziehungen stattfindet. Wir haben deshalb bei der Auswahl der Tools wie auch beim Konzept für den Distanzunterricht den Beziehungsaspekt in den Fokus gestellt. Das hat sich auch aktuell im Winter-Lockdown bewährt und zukünftig wollen wir daran arbeiten, diese Erfahrungen auf den Präsenzunterricht zu übertragen, um auch dort digitale Werkzeuge für Zusammenarbeit und gemeinsame kreative Prozesse noch mehr zu nutzen." Julia Hastädt (© privat) Christian Wettke (© privat) Bahar Aslan (© privat) Lars Zumbansen (© privat) Birte Kampmann (© privat) Markus Christoph (© privat) Hilal Ebcin (© privat) Björn Nölte (© Frank Woelffing) Steffen Jauch (© privat) Elke Noah (© privat) Tobias Schreiner (© privat) Virtueller Raum innerhalb einer Videokonferenz – dafür geeignet, um etwa eine größere Gruppe in Kleingruppen aufzuteilen. Schülerinnen und Schüler lernen durch den Austausch untereinander
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"2022-08-25T00:00:00"
"2021-01-27T00:00:00"
"2022-08-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/326177/wie-fernunterricht-die-unterrichtsmethoden-veraendert/
Die zweite pandemiebedingte Schulschließung bedeutet für Lehrende: zurück zum Fernunterricht. Wir wollten wissen: Welche Erfahrungswerte aus der letzten Schulschließung kommen jetzt zum Einsatz?
[ "Digitale Bildung", "Homeschool", "Homeschooling", "Schulschließungen", "Pandemie Lockdown" ]
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M 04.01 Themenfindung | Partizipation vor Ort | bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-08-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/142516/m-04-01-themenfindung/
Dieses Material ist eine tabellarische Übersicht, in der wichtige Details, Ziele und Planungsschritte zu möglichen Projekten abgefragt werden. Es dient zur Themenfindung für ein Projekt.
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Aus russischen Blogs: 25. Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion | Russland-Analysen | bpb.de
Am 8. Dezember 1991 trafen sich in dem Jägerhaus "Wiskuli" im Beloweschskaja-Urwald drei Republikchefs: Leonid Krawtschuk, Präsident der Ukraine, Stanislaw Schuschkewitsch, Vorsitzender des Obersten Sowjets der Republik Belarus, und Boris Jelzin, Präsident der RSFSR. Sie beschließen, den Unionsvertrag von 1922 aufzuheben, und konstatieren, dass "die Union der SSR ihre Existenz als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität beendet" habe. So hieß es im Abkommen über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, das am gleichen Tag unterzeichnet wurde und die Beziehungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken regulieren sollte. Lange vor der formellen Auflösung der Sowjetunion hatte die sogenannte "Parade der Souveränitäten" begonnen, bei der zunächst die baltischen Republiken und dann weitere Sowjetrepubliken eine nach der anderen ihre Souveränität und ihre Unabhängigkeit von der UdSSR erklärten. Der gescheiterte Putsch reaktionärer Kräfte im August 1991 in Moskau begrub dann die letzten Versuche zur Transformation des sowjetischen Staatsgebildes endgültig. Am 25. Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion erinnern sich russische Kulturschaffende, Politiker, Schriftsteller, Blogger aus drei Generationen. Das Belowescha-Abkommen ist ein Verbrechen Eduard Limonow, Politiker und Schriftsteller; geb. 1943 "Der Zerfall der Sowjetunion ist natürlich eine Tragödie für uns alle. Putin hat darüber gesprochen; ich habe dieses Ereignis damals schon als schrecklichste Tragödie aller Zeiten und Völker bezeichnet. Dazu habe ich ganze Bücher geschrieben. Ich finde, das 25. Jubiläum des Belowescha-Abkommens zu begehen, ist eine Dummheit, als ob wir nun dessen gedenken, woran man sich täglich erinnern sollte. Die Belowescha-Verschwörung ist ein Verbrechen, was gibt’s da noch zu sagen. Es gibt keinerlei historische Gesetze, nach denen Großmächte zerfallen müssen. Nehmen wir die Vereinigten Staaten – die sind doch ein Imperium, das aus über 50 Staaten besteht. Sie wurde mit Feuer und Schwert geschaffen und es ist noch nicht so lange her, im 20. Jahrhundert, dass einige Staaten hinzukamen. Die Europäische Union ist auch ein Imperium – ein Zusammenschluss der reichsten Länder, der gegen den Rest der Welt gerichtet ist." Eduard Limonow am 8. Dezember 2016 im Interview für antimaidan.ru; Externer Link: https://antimaidan.ru/article/9525. Die betrügerische Privatisierung der neunziger Jahre schuf die Grundlagen des modernen Systems Grigorij Jawlinskij, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, Mitbegründer der Partei "Jabloko"; geb. 1952 "Vor 25 Jahren wurde Boris Jelzins Erlass über die sogenannte "Liberalisierung der Preise" veröffentlicht. Angesichts einer supermonopolisierten Wirtschaft, bei völlig fehlendem Privateigentum war das keine Liberalisierung der Preise, sondern der sowjetischen Staatsmonopole bei der Preisfestsetzung. Natürlich betrug die Inflation im Jahr 1992 dann 2.600 %. Als Ergebnis erfolgte die Beschlagnahmung aller Ersparnisse der Bürger des Landes. Bei solch einer Inflation, das ist klar, konnte eine Privatisierung nur betrügerisch erfolgen. Sie wurde in Form einer Affäre Namens "Pfandauktionen" durchgeführt. Bis jetzt fragen sich viele, was man hätte anders machen sollen? Die Lebensmittelläden waren ja leer… Ich war damals der Ansicht und bestand in Gesprächen mit Jelzin darauf, dass man zur Ausbalancierung von Nachfrage und Angebot nicht mit der Aufhebung der Preiskontrolle der Staatsmonopole, sondern mit einer massenhaften Privatisierung von kleinen und mittleren Unternehmen beginnen sollte. Und zwar, indem man den Menschen Läden, Friseursalons, Reinigungen, Lkws usw. gegen zu Sowjetzeiten erspartes Geld verkauft. Private Unternehmen hätten dann natürlich das Recht bekommen, die Preise frei festzulegen. Die Theken hätten sich wieder gefüllt und die Inflation wäre natürlich hoch gewesen, aber nicht in einer Höhe von Tausenden Prozent. Zu jener Zeit wollten die Menschen als Unternehmer tätig sein und man musste ihnen diese Möglichkeit geben. Dann wäre eine Mittelschicht im Lande entstanden. Stattdessen wurde dem Lande eine Hyperinflation beschert. Beschlagnahmung und betrügerische Privatisierung –Verschmelzung von Eigentum und Macht – dies hat die Grundlage des Systems geschaffen, in dem wir jetzt leben. […]" Grigorij Jawlinskij am 6. Dezember 2016 auf Facebook; Externer Link: https://www.facebook.com/yavlinsky.yabloko. Wir leben in einer etwas geänderten Form der Sowjetunion Maxim Trudoljubow, Journalist, Wedomosti; geb. 1970 "Unser materielles Umfeld – das, in dem wir wohnen und worauf wir gehen, inklusive der Häuser, Bezirke und ganzer Städte – ist in der Sowjetunion hergestellt worden. Vieles ist dort entwickelt worden – von Plattenbauten bis zu Weltraumraketen – und wird jetzt in einer etwas geänderten Form weiter verwendet. Der Großteil der Bevölkerung, mich eingeschlossen, stammt von Geburt aus dem sowjetischen Land. Es wächst aber die Zahl derjenigen, die keine persönliche Erfahrung mit jener Realität haben. Immerhin, 25 Jahre sind viel. Fünfundzwanzig Jahre bedeuten, wie der Historiker Wladislaw Subok (Autor des ersten Artikels der Reihe "Unser Sowjetisches", die der Erinnerung an die UdSSR gewidmet ist) bemerkt hat, dass die lebendige Erinnerung an die Ereignisse zu verschwinden beginnt. […] Eine Menge in unserem Leben ist unmittelbar von der Moderne (modernity) westlicher Art übernommen worden: bestimmte (nicht alle) Marktelemente, Autos, Kleidung, sogar "Kleidung für die Stadt", wenn man die Ausgestaltung der Städte so nennen kann. Aber die sowjetische Moderne, das ist die Grundlage, auf der sich die Supermärkte, Shopping-Malls am Stadtrand, Town-Houses, Fitnesszentren, Barber-Shops und Cafés häufen, die sich von ihren amerikanischen Geschwistern nicht unterscheiden. […]" Maxim Trudoljubow am 9. Dezember 2016 bei vedomosti.ru; Externer Link: http://www.vedomosti.ru/opinion/columns/2016/12/09/668915-sdelano. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Welt weniger sicher und weniger gerecht geworden Dmitrij Sablin, Duma-Abgeordneter und Co-Vorsitzender der "Antimaidan"-Bewegung; geb. 1968 "Der Zerfall der Sowjetunion war eine Tragödie. Darüber hat unser Präsident gesprochen, und so fühlen auch wir alle, die wir in diesem Land mit seiner großen heldenhaften und tragischen Geschichte geboren wurden. Die Welt, die sich vorübergehend zu einer unipolaren gewandelt hat, ist weniger sicher und weniger gerecht geworden. Diejenigen, die zum Belowescha-Abkommen applaudierten, hatten gehofft, dass das Große Russland für immer von der Weltkarte verschwunden sei. Heute sehen sie, dass sie sich geirrt haben. Wir werden weiter leben und vorwärts schreiten, und uns dabei von keinem Kapitel unserer Geschichte lossagen, die wir uns zu eigen gemacht, und deren Lehren wir aufgearbeitet haben." Dmitrij Sablin am 8. Dezember 2016 im Interview für antimaidan.ru; Externer Link: https://antimaidan.ru/article/9525. Die Politik Gorbatschows hat die Sowjetunion umgebracht Wladislaw Isajew, Pressesprecher des Investitionsunternehmens Finam; geb. 1972 "Bei aller Abneigung gegen bestimmte Teilnehmer muss ich daran erinnern, dass nicht die Unterzeichner von Belowesha die UdSSR zugrunde gerichtet haben. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich versammelten, gab es das Land als ein geschlossenes Ganzes schon nicht mehr: Das einheitliche Verwaltungssystem funktionierte nicht, das einheitliche Wirtschaftssystem war zum Teil schon auseinandergerissen und zum Teil gelähmt, und noch weniger gab es eine Einigkeit im sowjetischen Volk, das fast sechs Jahre einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. […] Die UdSSR ist durch die dilettantische Politik Gorbatschows umgebracht worden. Und Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch haben lediglich die Sterbeurkunde ausgestellt und das Hab und Gut aufgeteilt. […]" Wladislaw Isajew am 8. Dezember 2016 auf Facebook; Externer Link: https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=1362407790458600&id=100000681770994. Für mich ist die Sowjetunion nie gestorben Iosif Kobson, Schlager-Sänger und Duma-Abgeordnete; geb. 1937 "[…] Die UdSSR mag für Sie gestorben sein, für mich ist sie das nicht. Wie es die Bruderrepubliken gegeben hat, so gibt es sie immer noch; wie es eine nationale Kultur in allen Republiken gegeben hat, so gibt es sie immer noch. Wie es den Komsomol gegeben hat, wo eine anständige Jugend lernte, Russland zu lieben, so gibt es den immer noch. Deswegen gibt es die sowjetische Genetik immer noch – sie ist geblieben, obwohl einige [hier folgt ein vulgärer Kraftausdruck] wie etwa Gorbatschow und Jelzin die Großmacht zerstört haben. Für mich hat es die Sowjetunion gegeben und es wird sie immer geben, da gibt es keinerlei Ende für mich." Iosif Kobson am 8. Dezember 2016 im Interview für riafan.ru; Externer Link: https://riafan.ru/582670-kobzon-eto-dlya-vas-sssr-konchilsya-25-let-nazad-a-dlya-menya-on-ne-konchalsya. Die Sowjetmachthaber sind für mich Okkupanten Russlands Ilja Warlamow, Blogger und Fotograph; geb. 1984 "Heutzutage versuchen viele nostalgische Bürger zu meiner großen Verwunderung, die Leiche des "Sowok" [der Sowjetunion] aus dem Grab zu holen und wiederzubeleben. Nach 25 Jahren denken die Leute komischerweise, dass der "Sowok" so ein netter gerechter Staat war, wo glückliche schöne Menschen in sonnendurchfluteten Küchen Tee mit Kringeln trinken. Gagarin fliegt in den Weltraum. Kobson ist jung. Das Olympische Bärchen Mischka fliegt zum Himmel. Die Leute fahren nach Gagra und auf die Krim in Urlaub. Auf die sauberen hellen Straßen strömen die sanften Stimmen sowjetischer Sänger. Eis gibt es für ‘nen Groschen. Selbstverständlich war das Brot leckerer, das Wasser sauberer, die Bäume höher und vor allem haben sich alle vor uns gefürchtet! […] Politiker befeuern diese nostalgische Liebe und rufen dazu auf, den "Sowok" zurückzuholen. Die LDPR betreibt [damit] momentan völlig offen Werbung und verspricht, die Grenzen der UdSSR wiederherzustellen. Jedem Menschen, der im Kopf mehr als nur Grütze aus einer sowjetischer Kantine hat, muss klar sein, dass man in der modernen Welt keine der Grenzen der UdSSR wiederhergestellt werden kann. Der Wähler ist aber bereit, seine Stimme einem Traum zu geben. Man kann die Menschen schon verstehen, die sich aufrichtig nach dem "Sowok" zurücksehnen. Vor 30–40 Jahren waren sie jung und glücklich, haben ein sorgloses Leben geführt und ihnen ging es gut. Alles war klar und einfach. Heute sind sie alt und krank, ihre besten Zeiten sind dort geblieben, hinter einer Grenze von 25 Jahren. […] Die Sowjetmacht, das sind für mich Okkupanten Russlands. Das ist eines der blutigsten und unmenschlichen Regime des 20. Jahrhunderts. Sie haben die Schwäche des Zaren genutzt, um Macht zu erobern und 69 Jahre das Land vergewaltigt. Sie vernichteten das Bauerntum, die unternehmerischsten und am besten wirtschaftenden Menschen; sie vernichteten das Militär, die Geistlichen, die Politiker. Als von den für die Sowjetmacht fremden Elementen niemand mehr übrig war, begannen sie die eigenen Leute zu tilgen. Diejenigen, die den Sowjetstaat gegründet haben, wurden von demselben Staat vernichtet. Der berühmte 17. Parteitag der KP im Jahr 1934 wurde später "Parteitag der Erschossenen" genannt, weil mehr als die Hälfte der Teilnehmer in den Jahren des Großen Terrors repressiert wurde. Das ist nur eines der Kapitel. […] Vor 25 Jahren hat sich mein Land von der Unterdrückung durch die Okkupanten befreit. Das ist ein schöner, herrlicher Feiertag. Erziehen Sie Ihre Kinder zu freien Menschen. Ich hoffe, Russland wird genug Kraft haben, diese Pest endgültig zu besiegen." Ilja Warlamow am 21. August 2016 auf varlamov.ru; Externer Link: http://varlamov.ru/1905804.html. Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-12-19T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-327/239215/aus-russischen-blogs-25-jahrestag-der-aufloesung-der-sowjetunion/
Der Zerfall der Sowjetunion war ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung. In Russland blickt man mit gegensätzlichen Gefühlen auf diesen Wendepunkt zurück. Dies verdeutlichen auch die hier zusammengetragenen Stimmen aus russischen Blogs.
[ "Russische Blogs", "Sowjetunion", "UdSSR", "Staatszerfall", "Glasnost", "Perestroika", "Boris Jelzin", "Sowjetunion/Russland" ]
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Deutschland als Akteur in der globalen Gesundheitspolitik | Weltgesundheit | bpb.de
Mit dem weltweiten Ausbruch der neuartigen Infektionskrankheit Covid-19 sind globale Gesundheitsfragen in Deutschland in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Stärkung von Gesundheitssystemen, die Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das internationale Gesundheitskrisenmanagement stehen jedoch schon lange im Zentrum der globalen Gesundheitspolitik der Bundesregierung, und bereits vor Covid-19 hat sich Deutschland als zunehmend wichtiger Akteur auf diesem Politikfeld erwiesen. In diesem Beitrag werden Eckpunkte der deutschen globalen Gesundheitspolitik sowie die Rolle der Bundesrepublik in der globalen Gesundheitslandschaft beschrieben. Hierzu wird auf bisherige Entwicklungslinien, Protagonisten und Finanzierungsfragen eingegangen. Schließlich wird die Bedeutung von Covid-19 für eine neue Verantwortung Deutschlands in der globalen Gesundheitspolitik aufgezeigt. Entwicklungslinien der deutschen globalen Gesundheitspolitik Als Nationalstaat hat Deutschland in der globalen Gesundheitspolitik vier Interessen zu balancieren: die Gesundheit der Menschen in Deutschland zu sichern, die internationale Ordnung im Gesundheitssektor aufrechtzuerhalten und auszubauen, in der Gesundheitsaußenwirtschaftspolitik erfolgreich zu sein und der moralischen Verantwortung nachzukommen, allen Menschen das Menschenrecht auf Gesundheit zu gewährleisten. Dabei setzt die Bundesregierung auf die Stärkung von Gesundheitssystemen als eine Priorität ihrer globalen Gesundheitspolitik. Das lässt sich aus der deutschen Sozialgeschichte ableiten, die das "Bismarck-Modell" eines Sozialstaates mit entsprechenden Leistungen in Form von Kranken- und Unfallversicherungen hervorgebracht hat. Soziale Absicherung und Gerechtigkeit sind für die deutsche Gesundheitspolitik nicht nur im eigenen Land handlungsleitend, sondern auch in der bi- und multilateralen Kooperation und in der Zusammenarbeit mit der WHO. Hinter der Stärkung von Gesundheitssystemen verbirgt sich das Menschenrecht auf Gesundheit als Maxime. Demnach soll allen Menschen im Krankheitsfall der Zugang zu qualitativer und bedarfsgerechter Gesundheitsversorgung ermöglicht sowie ihre Gesundheit umfassend gefördert werden. In der Regelversorgung gilt es daher, gesundheitsförderliche Lebensbedingungen für alle Menschen sicherzustellen. Neben dem Gesundheitsschutz bildet das Menschenrecht auf Gesundheit einen ethischen Kompass für die Umsetzung von globalen Gesundheitspolitiken. Die Bundesrepublik war seit ihrer Gründung auf dem Feld der globalen Gesundheit aktiv, sei es in Form von gesundheitspolitischer Entwicklungszusammenarbeit oder einem starken Engagement in der WHO, der sie bereits ab 1951 angehörte, also über zwei Jahrzehnte vor ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen 1973. Eine strategischere Beschäftigung mit dem Politikfeld ist allerdings erst in den vergangenen zehn Jahren zu beobachten. 2013 legte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) das erste Konzept zur globalen Gesundheitspolitik vor. Das Papier legte drei Schwerpunkte fest: Schutz und Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland durch globales Handeln, Wahrnehmung globaler Verantwortung und Stärkung internationaler Gesundheitsinstitutionen. Als Reaktion auf den Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika startete Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 eine Initiative, die unter anderem die Einrichtung von schnell einsatzbereitem medizinischen Personal und Material sowie die Bereitstellung neuer finanzieller Hilfsmechanismen vorsah. Dieser "Punkte-Plan" entwickelte die Strategie der Bundesregierung mit einem starken Fokus auf die Bewältigung von Gesundheitskrisen weiter. Mit der Verabschiedung der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung durch die Vereinten Nationen 2015 bekam die globale Gesundheitspolitik Deutschlands einen neuen internationalen Rahmen. Sustainable Development Goal 3 (SDG3) formuliert das Ziel, bis 2030 die Gesundheit und das Wohlbefinden für alle Menschen weltweit zu gewährleisten, und steht für das Bemühen der Vereinten Nationen, das Menschenrecht auf Gesundheit politisch umzusetzen. Das passt wiederum zur deutschen Präferenz, in der globalen Gesundheitspolitik auf Gesundheitssysteme für alle zu fokussieren. Dieser systemische Blick sowie das klare Bekenntnis zum Multilateralismus sind stärker ausgeprägt als in den globalen Gesundheitsstrategien anderer Staaten des Globalen Nordens. Während ihres Vorsitzes der G7 2016 sowie der G20 2017 setzte die Bundesregierung Anliegen der globalen Gesundheit erstmals auf die Agenda dieser Formate. Zentrales Thema war anlässlich der Ebola-Epidemie die Bewältigung von Gesundheitskrisen. Aber auch zunehmende Antibiotikaresistenzen, vernachlässigte Tropenerkrankungen und die Stärkung von Gesundheitssystemen wurden in diesen Foren diskutiert. 2018 wurde die globale Gesundheitspolitik im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD als politisches Ziel der 19. Legislaturperiode hervorgehoben. Seitdem hat Deutschland im Schulterschluss mit Ghana und Norwegen innerhalb der WHO die Initiative Global Action Plan for Healthy Lives and Well-being for All ins Leben gerufen, die die Umsetzung des SDG3 beschleunigen soll. Diese bringt zwölf multilaterale Gesundheitsorganisationen zusammen, um ihre Arbeitsweisen besser abzustimmen. Nach einem zweijährigen Entwicklungsprozess legte die Bundesregierung 2020 die neue Strategie für globale Gesundheit vor. Fünf strategische Prioritäten sollen das deutsche Engagement bis 2030 leiten: "Gesundheit fördern, Krankheiten vorbeugen und adäquat begegnen; Umwelt, Klimawandel und Gesundheit ganzheitlich angehen; Gesundheitssysteme stärken; Gesundheit schützen – grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren begegnen; Forschung und Innovation für globale Gesundheit vorantreiben." Offen bleibt jedoch, wem letztendlich die deutsche globale Gesundheitspolitik in ihrer Umsetzung dient. Werden in der nächsten Krise die Grenzen wieder geschlossen, um die Gesundheit der deutschen Bevölkerung zu schützen? Oder wird die globale Gesundheitspolitik der Bundesregierung sich im politischen Tagesgeschehen sowohl dem Schutz und der Verbesserung der Gesundheit der Steuerzahler*innen in Deutschland als auch der Gesundheit der Menschen in anderen Ländern widmen? Deutsche Akteurslandschaft Als Politikfeld an der Schnittstelle von Gesundheitspolitik mit allen Außenpolitiken wird globale Gesundheitspolitik in verschiedenen Ministerien und somit dezentral in Form einer Aufgabenteilung bearbeitet. Federführend ist das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), das primär mit der WHO kooperiert und unter anderem, unterstützt durch das Robert Koch-Institut, der zentralen Einrichtung der Bundesregierung für Krankheitsüberwachung und -prävention, für den internationalen Gesundheitsschutz zuständig ist. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) deckt in erster Linie die bi- und multilateralen Programme gesundheitsrelevanter Entwicklungszusammenarbeit ab. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) konzentriert sich vor allem auf Gesundheitsforschung und internationale Forschungsnetzwerke, und das Auswärtige Amt (AA) ist vorrangig für humanitäre Hilfe bei Gesundheitskrisen zuständig. Künftig könnten auch andere Ministerien, beispielsweise in den Bereichen der Landwirtschafts-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik, ihre Arbeit stärker mit globaler Gesundheit verknüpfen. Anders als etwa in Großbritannien oder Japan gibt es in Deutschland bisher kein Komitee oder Gremium für globale Gesundheit, das einen regelmäßigen Austausch und Koordinierung zwischen den Ministerien sicherstellt. Zwar werden im Ausschuss der Staatssekretär*innen für nachhaltige Entwicklung auch Aspekte des Politikfelds, wie Antibiotikaresistenzen und Gesundheitskrisenmanagement, behandelt, aber die Akteurslandschaft erscheint auf Regierungsebene fragmentiert und in Teilen auch von Konkurrenz geprägt. Das hat zur Folge, dass Deutschlands globale Gesundheitspolitik nicht im Einklang mit der nationalen Gesundheitspolitik steht und Verknüpfungen mit der Handels- und Umweltpolitik weitestgehend fehlen. Im Parlament bildet der 2018 eingerichtete Unterausschuss für globale Gesundheit des Gesundheitsausschusses, dem neun Mitglieder aus allen Bundestagsfraktionen angehören, einen überparteilichen Koordinierungsmechanismus und verleiht globaler Gesundheitspolitik unter den Bundestagsabgeordneten mehr Sichtbarkeit und Relevanz. In Deutschland existiert eine rege Zivilgesellschaft zu globaler Gesundheit. Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Brot für die Welt, World Vision, Tierärzte ohne Grenzen, das Deutsche Institut für ärztliche Missionen oder die Deutsche Allianz für Klima und Gesundheit sind nur einige zivilgesellschaftliche Organisationen, die zum Teil im Dachverband der entwicklungspolitischen und humanitären Nichtregierungsorganisationen VENRO organisiert sind. Auch private globale Gesundheitsakteure entdecken Berlin als vielversprechendes Zentrum und Standort. So eröffneten die Bill und Melinda Gates Stiftung sowie der Wellcome Trust 2018 beziehungsweise 2019 ein Büro in der Hauptstadt. Ferner ist die deutsche Gesundheitsindustrie durch ihr Exportgeschäft ein globaler Player im Politikbereich globale Gesundheit. Seit 2010 haben sich die Exporte in der Gesundheitswirtschaft fast verdoppelt. Besonders relevant sind hier Exporte von Humanarzneimitteln, die 2019 über 50 Prozent der Exporte der industriellen Gesundheitswirtschaft ausmachten. Die Relevanz Deutschlands für nicht staatliche Akteure ist auch durch den 2009 von der Charité ins Leben gerufenen jährlichen World Health Summit in Berlin gestiegen, der Expert*innen aus Politik, Wissenschaft, der Privatwirtschaft und aus zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenbringt. 2019 eröffnete das BMG den Global Health Hub Germany, um alle Akteure, die in Deutschland zu globaler Gesundheit arbeiten, zu vernetzen und Synergien herzustellen. Finanzierung von globaler Gesundheit Seit Mitte der 2000er Jahre sind die durchschnittlichen jährlichen Ausgaben Deutschlands für globale Gesundheit von 579 Millionen auf fast 1,1 Milliarden US-Dollar erheblich gestiegen. Dennoch hat die Bundesregierung das WHO-Ziel, 0,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens für globale Gesundheit auszugeben, nicht erreicht. Dafür müsste sie dreimal so viel Mittel aufwenden. In Deutschland verfügt das BMZ über den größten Haushalt für globale Gesundheit. Zwischen 2014 und 2016 erhielten multilaterale Organisationen etwa 49 Prozent der deutschen Entwicklungsausgaben für Gesundheit, also 522 Millionen US-Dollar pro Jahr, wobei der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria mit 258 Millionen, die EU-Institutionen mit 118 Millionen, die Impfallianz Gavi mit 45 Millionen und die Weltbank mit 35 Millionen US-Dollar pro Jahr die größten Empfänger waren. Rund 51 Prozent, also 545 Millionen US-Dollar, gingen an 106 bilaterale Partner. Die Mittel für die WHO stammen aus dem BMG und beliefen sich 2018/19 auf 358 Millionen US-Dollar. Damit war Deutschland der fünftgrößte Geber unter den WHO-Mitgliedsstaaten. Das BMZ investierte mit jeweils 30 Prozent seiner Ausgaben für Gesundheit 2018 erheblich in die Förderung der Gesundheit von Mutter und Kind und in die Eindämmung von Infektionskrankheiten sowie mit über einem Viertel seiner Ausgaben 2018 in die Stärkung von Gesundheitssystemen. Einen regionalen Schwerpunkt bildete hierbei der afrikanische Kontinent. Politische Prioritäten und Aktivitäten in der Pandemie Angesichts der multilateralen Ausrichtung seiner globalen Gesundheitspolitik überraschte Deutschland 2020 zu Beginn der Covid-19-Pandemie mit einem nationalstaatlichen Impuls in Form eines Exportstopps für medizinische Ausstattung. Temporäre Grenzschließungen folgten. Dies sorgte für viel Kritik aus dem In- und Ausland, sodass die Bundesregierung sich durch Hilfslieferungen und die Versorgung von Patient*innen aus Nachbarländern bald solidarisch mit ihren europäischen Partnern zeigte. Der nationalstaatliche Reflex überkam nicht nur Deutschland, sondern zog sich quer durch Europa und ist ein Indikator für fehlende Handlungsfähigkeit auf europäischer und internationaler Ebene in globalen Gesundheitskrisen. Nach dem holprigen Start setzte sich Deutschland in verschiedenen Foren für den Zugang zu Covid-19-Diagnostika, -Impfstoffen und -Therapeutika als öffentliche Güter ein. Von einem Impfstoff, Medikamenten und Testverfahren sollen weltweit alle gleichermaßen unabhängig von ihrer Kaufkraft profitieren. Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung bei der Geberkonferenz der EU-Kommission im Mai 2020 zugesagt, die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das neuartige Corona-Virus mit 525 Millionen Euro zu unterstützen. Als erstes und bisher einziges deutsches Ministerium legte das BMZ ein internationales Sofortprogramm zur Eindämmung und Abfederung der Auswirkungen von Covid-19 vor. Trotz dieser Vorstöße beschränkt sich die Koordination des außenpolitischen Vorgehens in der Covid-19-Pandemie unter den Bundesministerien bislang aber auf informelle Gespräche. Es ist zu erwarten, dass Deutschlands internationales Engagement in der Pandemieeindämmung sich zum einen auf die EU-Ebene und zum anderen innerhalb der WHO konzentrieren wird. Zentraler Akteur ist dabei das BMG, das während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft primär globale Gesundheitsinitiativen vorantreibt und zugleich für die Ausarbeitung der deutschen Vorschläge zur Reform der WHO hauptverantwortlich ist. Die Covid-19-Pandemie sorgt neben den gesundheitspolitischen Herausforderungen auch in der Ausrichtung der staatlichen Institutionen für Veränderungen. So baut das BMZ seine Expertise zu Pandemieprävention und -eindämmung aus und konzentriert sich noch stärker auf den "One-Health"-Ansatz, der die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt miteinander verknüpft. Das AA legt eine zunehmende Offenheit für Fragen rund um die Bedeutung von globaler Gesundheitspolitik im internationalen Gefüge an den Tag, beispielsweise die Rolle der WHO für den Multilateralismus. Im deutschen Verständnis wird die internationale Diplomatie mit den Prinzipien und Regelwerken von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen verknüpft und fußt daher auf einer gemeinsamen Werteordnung. Die Debatte um Impfstoffe und Medikamente gegen Covid-19 als öffentliche Güter trägt genau diese Frage der Werteorientierung an die internationale Gemeinschaft heran, denn im Kern geht es hier um globale soziale Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang ist auch der angekündigte Austritt der Vereinigten Staaten aus der WHO ein Grund zur Sorge. Beides veranlasst das AA nun zu einer strategischeren Beschäftigung mit globaler Gesundheitspolitik. Die bisherigen Erfahrungen mit Covid-19 haben auch bei vielen Universitäten und Forschungsinstituten ohne primären Gesundheitsbezug Interesse für globale Gesundheitsthemen geweckt. Die Erfahrung, dass die Pandemie alle Politiksektoren von Bildungs- über Wirtschafts- bis hin zu Umweltpolitik betrifft, äußerte sich in den sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Krise. Durch diese Besonderheit ist in den kommenden Jahren mit einer Zunahme von wissenschaftlichen Kapazitäten zur Erforschung von globaler Gesundheit in Deutschland zu rechnen. So fördert das BMBF seit 2020 die German Alliance for Global Health Research, eine forschungsorientierte Plattform zur Unterstützung interdisziplinärer, internationaler und sektorübergreifender Forschung und Zusammenarbeit zu globaler Gesundheit inner- und außerhalb Deutschlands. Auch in der Aus- und Weiterbildung an Universitäten und Hochschulen werden neue Studiengänge für globale Gesundheit eingerichtet. Neue Verantwortung? Sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene steigen die Erwartungen an Deutschland, einen Beitrag dazu zu leisten, die globale Gesundheitsarchitektur aufrechtzuerhalten und auszubauen. Dies ergibt sich aus der Abkehr der USA vom Multilateralismus sowie in gewissem Ausmaß auch aus dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, durch deren Rückzug ein finanzielles und politisches Vakuum entsteht, das etablierte Akteure wie Deutschland oder Frankreich, aber auch aufstrebende Akteure wie China ausfüllen können. Die Covid-19-Pandemie hat das Potenzial, politische Agenden langfristig zu verschieben und die globale Gesundheitslandschaft neu zu sortieren. Deutschland rückt dabei in eine zentrale Position – auch weil die Bewältigung von Covid-19 hierzulande wirksamer und sozialverträglicher abläuft und Fall- und Todeszahlen niedriger sind als in vielen anderen Ländern. Zukünftig werden internationale Verhandlungen dominiert sein von Themen rund um Prävention und Management von Gesundheitskrisen. Es wird Deutschlands Verantwortung und Aufgabe sein, den Zugang zu und die Funktionsfähigkeit von bedarfsgerechten und resilienten Gesundheitssystemen an den Verhandlungstisch zu bringen, denn nur so lassen sich Gesundheitskrisen bewältigen und eine Regelversorgung langfristig aufrechterhalten. Mit ihrer neuen globalen Gesundheitsstrategie hat die Bundesregierung die Voraussetzungen geschaffen, den gestiegenen Erwartungen internationaler Partner und dem Geist der Agenda 2030 sowie den Zielen für nachhaltige Entwicklung gerecht zu werden. Ob die Strategie ihre volle Wirkung entfalten kann, wird der Gestaltungswille der deutschen Institutionen im Feld der globalen Gesundheitspolitik in den kommenden Jahren zeigen. Vgl. Ilona Kickbusch et al., Germany’s Expanding Role in Global Health, in: The Lancet 390/2017, S. 898–912. Vgl. Andreas Wulf, Das Menschenrecht auf Gesundheit, 12.9.2016, Externer Link: http://www.bpb.de/231964. Siehe auch den Beitrag von Michael Krennerich in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Bundesregierung, Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen. Konzept der Bundesregierung, Berlin 2013, Externer Link: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Globale_Gesundheitspolitik-Konzept_der_Bundesregierung.pdf. Vgl. Bundesregierung, Krisenmanagement verbessern: Weißhelme gegen Seuchen, 27.1.2015, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/-434538. Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, G7-Präsidentschaft, 2016, Externer Link: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/internationale-gesundheitspolitik/g7-praesidentschaft.html; G20, G20 Leaders’ Declaration. Shaping an Interconnected World, Hamburg 2017, Externer Link: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/E/Erklaerungen/G20-leaders-declaration.pdf. Vgl. World Health Organization, Global Action Plan, 2020, Externer Link: http://www.who.int/initiatives/sdg3-global-action-plan. Bundesregierung, Strategie der Bundesregierung zur globalen Gesundheit. Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten, Berlin 2020, Externer Link: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/GlobaleGesundheitsstrategie_Web.pdf, S. 3. Vgl. Maike Voss/Iris Hunger, Engagement für globale Gesundheit. Herausforderungen einer strategischen Neuausrichtung für Deutschland, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 56/2018, Externer Link: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2018A56_Voe_Hunger.pdf. Siehe Externer Link: http://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/der-staatssekretaersausschuss. Vgl. Bundesregierung, Globale Gesundheitspolitik, Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung. Beschluss vom 29.10.2018, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/resource/blob/975274/1543134/406b552b6dd4d98d87e2b4b4364b223f/2018-10-29-beschluss-sts-ausschuss-globale-gesundheitspolitik-data.pdf?download=1. Vgl. Kickbusch et al. (Anm. 1). Siehe Externer Link: http://www.bundestag.de/globale_gesundheit. Vgl. Bill & Melinda Gates Foundation, Bill & Melinda Gates Foundation Opens New European Office in Berlin, Pressemitteilung, 16.10.2018, Externer Link: http://www.gatesfoundation.org/Media-Center/Press-Releases/2018/10/New-European-Office-in-Berlin. Siehe auch Externer Link: https://wellcome.org/about-us/german-office. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft, Gesundheitswirtschaft: Fakten & Zahlen, Berlin 2019, 24.3.2020, Externer Link: http://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/gesundheitswirtschaft-fakten-und-zahlen-2019.html, S. 16, S. 48. Siehe Externer Link: http://www.globalhealthhub.de/de/content/ueber-den-hub. Gemittelte Werte im Zeitraum 2014–2016; eigene Berechnungen auf Basis der Daten der OECD. Vgl. Weltgesundheitsorganisation, Germany Impact: Shaping Global Health, 2020, Externer Link: http://www.who.int/about/planning-finance-and-accountability/financing-campaign/germany-impact. Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Strengthening Health, Saving Lives, 2020, Externer Link: http://www.bmz.de/en/issues/Health/index.html. Siehe auch Externer Link: https://vizhub.healthdata.org/fgh. Vgl. Bundesregierung, Globale Geberkonferenz der EU-Kommission. Milliarden Euro im Kampf gegen Corona, 4.5.2020, Externer Link: http://www.bundesregierung.de/-1750152. Vgl. BMZ, Corona-Sofortprogramm. Corona besiegen wir nur weltweit oder gar nicht, Bonn 2020, Externer Link: http://www.bmz.de/de/zentrales_downloadarchiv/Presse/bmz_corona_paket.pdf. Vgl. Hanns Maull, Multilateralismus. Varianten, Möglichkeiten, Grenzen, Erfolgsbedingungen, SWP-Aktuell 11/2020, Externer Link: http://www.swp-berlin.org/10.18449/2020A11. Siehe Externer Link: https://globalhealth.de.
Article
, Susan Bergner | , Maike Voss
"2021-12-07T00:00:00"
"2020-11-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/weltgesundheit-2020/318308/deutschland-als-akteur-in-der-globalen-gesundheitspolitik/
Deutschland war schon vor der Covid-19-Pandemie ein immer wichtigerer Akteur in der globalen Gesundheitspolitik. Die Pandemie sorgt jedoch für zusätzliche Verschiebungen in der globalen Gesundheitsordnung, die Deutschland noch stärker ins Rampenlicht
[ "Gesundheit", "Gesundheitspolitik", "Internationale Zusammenarbeit", "Corona", "Corona-Virus", "COVID-19", "Pandemie" ]
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The Ethiopian Path to "Development" – Land Grabbing, Displacement and Internal Migration | East Africa | bpb.de
Ethiopian development policy has taken a modernist approach that goes back to the expansionist empire-building project in the late 19th century. It goes along with narratives of transforming pastoralism into an agrarian system, shifting smallholder agriculture into commercial plantation farming, villagization (resettlement of people into designated villages), urbanization, and – in the post-1991 period – transforming peri-urban agricultural lands into building plots, industrial zones and floriculture plantations run by big companies. Over the last three decades, successive governments sought to develop Ethiopia through commercial agriculture, the expansion of industries and mega-development projects such as hydroelectric dams that have led to the displacement of thousands of people, land dispossession, and environmental pollution (e.g. in the cases of mining, flower farming, and tanner industries). As a consequence, land grabbing (the partly illegitimate appropriation of large-scale lands by corporate investors) became a major field of conflict in Ethiopia. Land grabbing both in the country’s pastoralist lowlands as well as agrarian highlands leads to a severe disruption of local communities’ livelihoods, which in turn is triggering migration and environmental destruction. This article provides a concise analysis of Ethiopia’s development and modernization path with an emphasis on land grabbing and resource appropriation that has led to displacement and internal migration. It also gives insights into the situation of (internal) migrants and the problems they face. Development through Dispossession: Ethiopia’s Top-down Development Model Since the mid-19th century, successive Ethiopian rulers and governments have sought to foster Ethiopia’s development by emulating development models from more developed states – an approach which Christopher Clapham described as "politics of development emulation". Despite differences in their political ideologies, successive regimes showed commonalities in terms of land policies, dispossession of peasants and pastoralists, and narratives of modernization. For instance, in the 1960s emperor Haile Selassie launched massive commercial farming in Awash Valley by granting concessions to foreign investors. The successive socialist military regime under Mengistu Haile Mariam continued on a similar path and pursued a nation-wide villagization program in the 1970s and 1980s. Likewise, the regime of the Ethiopian Peoples' Revolutionary Democratic Front (EPRDF ) – despite its Marxist ideology – pursued a development policy that meant a shift of the 1960s/70s motto of "land to the tiller" to "land to investors" by dispossessing smallholder farmers and pastoralists and leasing out large tracts of land to foreign and domestic investors. Since 1991, millions of hectares of arable land in lowlands as well as highlands have been leased out to investors for the cultivation of cash crops and cereals, real estate development, flower farms and ranching, resulting in the displacement of local communities. The EPRDF regime’s "developmental state"-model that granted the state uncontested power over development interventions and land appropriation without local community participation eventually made the state one of the major land grabbers – i.e. the state expropriates land from farmers and pastoralists and leases it out to foreign and domestic investors. Since 84 percent of Ethiopia's population lives in rural areas and highly depends on agricultural activities for income and subsistence, land grabbing has severe consequences for the livelihoods of large segments of the country's population. Peasant dispossession has been legitimated by legal frameworks and through the narrative of development across different regimes. For example, over the last two decades, millions of peasants in the administrative regions of Oromia, the Southern Nations, Nationalities, and Peoples' Region (SNNPR), Gambella, Benishangul-Gumuz and Afar lost their land due to the expansion of floriculture, industrial zones, urban areas (particularly the unregulated expansion of Addis Ababa) development and agribusiness projects. This development gained speed when in 2005 the ruling party officially adopted the so-called developmental state political economy that enhanced strong state intervention in development programs. This is reflected in the 2005 Land Expropriation Proclamation (Proclamation No. 455/2005) that gave power to the government to expropriate land when it is deemed needed for "public purposes". But the proclamation fails to define the scope of public interest and consultation procedures before the decision for expropriation is made. Similarly, another proclamation (Proclamation No. 456/2005) provided the government with unlimited power to transfer communal land to private ownership (cf. Article 5.3, and 5.4a). This framework enabled a decade of dispossessions, culminating in the 2014 "Master Plan" which was disclosed by Ethiopia's federal government and the Addis Ababa city administration and proposed to annex towns and rural villages in the region of Oromia within a radius of 100 kilometers around the capital. The plan led to Oromia-wide protest because it was considered as state-orchestrated land grabbing. The protests spread to other regions and eventually led to the resignation of Prime Minister Hailemariam Dessalegn, whereupon the reform-oriented Abiy Ahmed was appointed Prime Minister in 2018. However, so far this has not led to meaningful changes in terms of local communities' participation in decisions affecting property rights, including their consultation in decisions over land privatization or leasing out land to investors. Development-Migration Nexus in Ethiopia Poorly planned development programs often lead to social crisis and cause displacement, environmental degradation and conflict. In this regard, for the local population top-down development strategies that are planned, implemented and managed without active participation of the local population become a liability rather than an asset. They produce landlessness and therefore disrupt livelihoods of rural agrarian and pastoral communities who are forced to leave rural areas in search for possibilities of existence elsewhere. Displacement and migration in and from Ethiopia is historically associated with conflict, natural disaster, famine, and state-led persecution. More recently, it is triggered by worsening economic situations in rural areas related to landlessness as a result of land grabbing – all these factors made Ethiopia become one of the countries in the Horn of Africa with the highest number of internal and international migrants. Over the last fifteen years, internal migration patterns shifted from rural-rural to rural-urban and urban-urban migration. According to a study published by the World Bank, between 2000 and 2005 the major part (about 40 percent) of internal migration took place within a rural context whereas rural-urban migration was less relevant, representing about 25 percent during that period. This picture changed in subsequent years: While rural to rural migration decreased to 23 percent in 2008-2014, rural-urban migration soared to about 34 percent in 2008-2013. The capital Addis Ababa receives the highest share of internal migrants (46 percent), followed by Dire Dawa city as well as Benishangul-Gumuz, Gambella and Harari regions. The shift in migration patterns in Ethiopia coincides with the proliferation of land grabbing in the country following the 2007/8 global energy and food crisis, and the government’s 2005 adoption of the “developmental state model”. As life in rural areas became increasingly difficult due to land grabbing and the lack of necessary social infrastructures as well as due to increased persecution of the youth for their political perspectives , urban centers have increasingly become places of destination where economic opportunities seem to be better and which provide possibilities to hide from the state security apparatus. While Dire Dawa and Harar attract internal migrants for being business hubs, migration to Benishangul-Gumuz and Gambella regions deserves further explanation. Although both regions have become centers of land grabbing over the last fifteen years, they attract rising numbers of internal migrants in search for wage labor in agribusiness enterprises which are often set up on land plots that have been taken away from peasant and pastoral communities to be leased out to investors. Internal migrants are faced with difficulties related to legality. In Ethiopia, when people change their place of residence, they are required to get a new identity card indicating their new place of residence. That ID card is a requirement for employment in the new place of residence as well as for accessing state services, open bank accounts, joining associations and renting apartments. However, many internal migrants have problems getting a new identity card either because they cannot obtain a leave letter from the administration in their hometowns due to bureaucratic hurdles, or because urban government officials are reluctant to provide them with the ID card in an effort to discourage people from rural-urban migration. Furthermore, some domestic employers require internal migrants "to find someone who serves as a guarantor for the worker in case of misconduct, property damage or theft". Many migrants have difficulties to meet this requirement. Even migrants who change their place of residence within a region are often initially considered "illegal" and can have difficulties to find work – even if they speak the same language and belong to the same ethnic group as the natives. As Ethiopia is a multi-ethnic and multi-lingual country with strong regional differences, internal migrants may have difficulties communicating with the local population in their new places of residence and adapting to the local culture. People from rural areas may also find it difficult to adapt to an urban setting. Internal migrants are often viewed with suspicion and considered to be potential criminals. They are often confronted with sexual harassment and labor exploitation. Especially young migrants run the risk to be drawn into inter-group violence by manipulative political actors. The Ethiopian government portrays internal migration – particularly rural-urban migration – as barrier to development. The government’s rhetoric of agriculture-led industrialization policy promotes containing the productive force within rural areas. It also portrays rural-urban migration as spoiler of socio-economic conditions in urban areas by exacerbating unemployment, crime, and poverty, and increasing costs of life. One reason for this rhetoric may be the fact that wage labor of internal migrants has become the backbone of agribusiness development in rural areas because large plantations depend on cheap labor. Internal migrants are often employed under precarious conditions. On e.g. on floriculture farms, for example, they face health risks due to their unprotected exposure to toxic chemicals. Displacement induced by development projects such as the expansion of commercial agriculture is interlinked with other forms of displacement that force Ethiopians to leave their homes. Conflicts and natural disasters are two main reasons for internal displacement. In some cases, conflicts are the result of development policies and erupt from disputes over land and access to resources. Likewise, natural disasters may be a consequence of development strategies that speed up environmental degradation e.g. due to the massive expansion of commercial agriculture. At the end of 2019, the UN Refugee Agency (UNHCR) registered 1.7 million Internally Displaced Persons (IDPs) in Ethiopia. A year earlier there were even more than three million internally displaced persons, many of whom, however, returned to their hometowns as part of repatriation programs of the Ethiopian government. In 2019, the country ranked number nine among the countries with the highest number of IDPs worldwide. Although Prime Minister Abiy Ahmed promised to undertake economic reforms, improve youth employment, vowed to fight corruption and to ensure peace and stability, the country is currently descending to a critical political and economic crisis. Given these developments, internal displacement and migration will likely continue on a high level. Quellen / Literatur Abbink, Jan. (2011) “‘Land to the Foreigners’: Economic, Legal, and Socio-cultural Aspects of New Land Acquisition Schemes in Ethiopia”, Journal of Contemporary African Studies 29 (4): 513–535. Adamnesh, Atnafu et al. (2014) “Poverty, Youth and Rural-Urban Migration in Ethiopia”, Migrating out of Poverty Research Programme Consortium, Working Paper 17. Adugna, Girmachew (2019) "Migration patterns and emigrants’ transnational activities: comparative findings from two migrant origin areas in Ethiopia", Comparative Migration Studies, Externer Link: https://doi.org/10.1186/s40878-018-0107-1 (accessed: 29-9-2020). Bundervoet, Tom (2018) Internal Migration in Ethiopia: Evidence from a Qualitative and Quantitative Research Study, Washington, D.C., World Bank. Clapham, Christopher (2006) Ethiopian Development: The Politics of Emulation, Commonwealth & Comparative Politics 44 (1): 108–118. Lilley, Kesley (2017) “Ethiopia’s Crackdown on Dissent Leaves Youth with Dangerous Options”, World Politics Review, Externer Link: https://www.worldpoliticsreview.com/ (accessed: 20-8-2020). Markakis, John (2011) Ethiopia: The last two frontiers. Oxford, James Currey. Maru, Mehari Taddele (2017) Causes, Dynamics, and Consequences of Internal Displacement in Ethiopia, SWP Working Paper, Berlin. Rahmato, Dessalegn (2012) "The perils of development from above: land deals in Ethiopia", African Identities 12(1): 26-44. Tegegne, Atsede Desta / Penker, Marianne (2016) "Determinants of rural out-migration in Ethiopia: Who stays and who goes?", Demographic Research 35: 1011-1044. Zenawi, Meles (2006) African Development: Dead Ends and New Beginnings (unpublished monograph). Abbink, Jan. (2011) “‘Land to the Foreigners’: Economic, Legal, and Socio-cultural Aspects of New Land Acquisition Schemes in Ethiopia”, Journal of Contemporary African Studies 29 (4): 513–535. Adamnesh, Atnafu et al. (2014) “Poverty, Youth and Rural-Urban Migration in Ethiopia”, Migrating out of Poverty Research Programme Consortium, Working Paper 17. Adugna, Girmachew (2019) "Migration patterns and emigrants’ transnational activities: comparative findings from two migrant origin areas in Ethiopia", Comparative Migration Studies, Externer Link: https://doi.org/10.1186/s40878-018-0107-1 (accessed: 29-9-2020). Bundervoet, Tom (2018) Internal Migration in Ethiopia: Evidence from a Qualitative and Quantitative Research Study, Washington, D.C., World Bank. Clapham, Christopher (2006) Ethiopian Development: The Politics of Emulation, Commonwealth & Comparative Politics 44 (1): 108–118. Lilley, Kesley (2017) “Ethiopia’s Crackdown on Dissent Leaves Youth with Dangerous Options”, World Politics Review, Externer Link: https://www.worldpoliticsreview.com/ (accessed: 20-8-2020). Markakis, John (2011) Ethiopia: The last two frontiers. Oxford, James Currey. 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Tegegne/Penker (2016). Zenawi (2006). Adugna (2019). Bundervoet (2018). Bundervoet (2018). Lilley (2017). Bundervoet (2018). Adamnesh, Atnafu et al. (2014). This is a result of the author's own field research from November 2019 to April 2020 in the framework of which he conducted interviews with young internal migrants in Legetafo town in the province of Oromia (on the outskirts of Addis Ababa). Maru (2017).
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2020-11-05T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/318392/the-ethiopian-path-to-development-land-grabbing-displacement-and-internal-migration/
Development has been one of the major goals of successive Ethiopian governments. However, it has paved the way for large-scale land grabbing which dispossesses and displaces rural farmers and pastoralists and forces them to seek jobs in agribusiness-
[ "Land Grabbing", "Displacement", "internal migration", "Migration", "Ethiopia", "Ethiopia" ]
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Podcast: Netz aus Lügen – Der Ernstfall (4/8) | Digitale Desinformation | bpb.de
Interner Link: 00:00 – Einstieg - Sturm auf das Kapitol Interner Link: 02:36 – Um was geht es in Folge 4? Interner Link: 03:51 – Blick zurück: Die Präsidentschaftswahl 2020 Interner Link: 05:12 – Verifizierungsverfahren bei der US-Briefwahl Interner Link: 09:14 – Mehrheitswahlrecht in den USA Interner Link: 14:14 – Die bedrohte Auszählung im Bundesstaat Georgia Interner Link: 20:01 – Warum glauben Millionen von Menschen in den USA an der Erzählung des Wahlbetrugs? Interner Link: 22:50 – Antwort 1: Die Partei und das politische System Interner Link: 26:35 – (Nicht-)Aufarbeitung des Kapitolsturms im Kongress Interner Link: 30:17 – Antwort 2: Die Traditionellen Medien Interner Link: 32:48 – Fox News und Tucker Carlson Interner Link: 35:49 – Wer oder was ist die Sinclair Broadcasting Group? Interner Link: 38:47 – Rechte Radiosender und ihr Millionenpublikum Interner Link: 41:53 – Antwort 3: Die Sozialen Netzwerke Interner Link: 42:55 – Die Aufarbeitung des 6. Januars & die Verantwortung der Sozialen Netzwerke Interner Link: 46:40 – Wer sind die Menschen, die das Kapitol stürmten? Interner Link: 49:00 – Fazit Podcast Abonnieren Jetzt auch anhören bei Externer Link: Apple Podcasts, Externer Link: Amazon Music, Externer Link: Deezer, Externer Link: Spotify und bei Externer Link: YouTube. Transkript "Netz aus Lügen – Der Ernstfall (4/7) [00:00] Zuspieler Capitol Riots Wir hören hier, wie Menschen eine Demokratie bedrohen. Es ist "the insurrection" – "der Aufstand", wie es bis heute in den USA ganz einfach heißt. Diese Töne stammen vom 6. Januar 2021 aus Washington DC, vom Sturm auf das Kapitol, dem wichtigsten Regierungsgebäude in den USA. Rund 800 Menschen dringen an diesem Tag in das Parlamentsgebäude ein, die Security kann sie nicht aufhalten. Sie rufen drohend die Namen von Abgeordneten, die sie hassen. Sie fotografieren sich feixend auf den Bürosesseln der Volksvertreterinnen und Vertreter. Sie lümmeln auf dem Podium im Sitzungssaal. Es gibt auch eine zweite Lesart des Tages. Viele Menschen aus der republikanischen Partei und im konservativen Lager sagen bis heute, dass die Demonstrierenden in allererste Linie "besorgte Bürgerinnen und Bürger" gewesen seien. Menschen, die schlicht skeptisch waren, ob die Wahlergebnisse vom 3. November 2020 auch wirklich stimmen. Auch wenn eine Vertreterin der zweiten großen Partei des Landes das ganz anders erlebt hat. ZSP Ocasio-Cortez "Ich stehe hier und die Toilettentür geht so auf… und die Türangel ist genau hier…" Das ist Alexandria Ocasio-Cortez, eine 32 Jahre alte Abgeordnete der Demokraten. "Und ich höre nur: "Wo ist sie? Wo ist sie?" Und das war der Moment, in dem ich dachte, dass alles vorbei ist. Ich sinke runter… und… ich meine… Ich habe gedacht, ich werde sterben." Man muss sich das noch einmal genau vor Augen führen: Die älteste moderne Demokratie der Welt - bedroht, weil ein Mob durch das Parlamentsgebäude zieht und Todesangst verbreitet. Ein Polizist und vier Demonstrierende sterben an diesem Tag. 140 Einsatzkräfte werden verletzt. Der Sachschaden am Gebäude beträgt: 1,5 Millionen Dollar. In den Monaten danach nehmen sich mehrere Polizisten das Leben. [02:36] Jingle: "Netz aus Lügen – Die globale Macht der Desinformation" – ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 4 – Der Ernstfall --- Hallo mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und ihr hört Netz aus Lügen. Unsere Frage heute: Wie kam es eigentlich genau zu diesen Ereignissen vom 6. Januar 2021. Zu dem Sturm auf das Kapitol. Immerhin dem wichtigsten Parlamentsgebäude der USA - und damit auf ein weltweit bedeutendes Symbol für Demokratie an sich? Fest steht: In den Vereinigten Staaten hat sich gezeigt, welche Folgen es hat, wenn sich viele verschiedene Akteure aus Politik und Medien über Jahre immer weiter voneinander entfernen. Wenn öffentlich eben nicht mehr die gleichen Fakten oder Wahlergebnisse als wahr anerkannt werden und stattdessen immer extremer kommuniziert und gehandelt wird - und wenn Behauptungen unbelegt bleiben. Konkret zur Wahl im November 2020 heißt das zum Beispiel, dass in TV-Interviews zwar häufig von Wahlbetrug die Rede war, aber dort, wo dieser eigentlich verhandelt werden müsste - vor Gericht - diese Anschuldigungen nur selten angenommen wurden. Dutzendfach haben nach der Wahl im November Gerichte erklärt, dass die vorgelegten Informationen nicht genügen, um überhaupt einen Prozessbeginn zu rechtfertigen. [Pause] [03:51] Ein Mann treibt den Mob ganz besonders an. Er hat über Wochen diesen Protest beworben und schon am 19. Dezember 2020 auf Twitter versprochen: "Großer Protest in DC am 6. Januar. Seid da. Wird wild." Wenige hundert Meter entfernt vom Kapitol spricht er an diesem Tag vor dem Sturm vor Tausenden Menschen, die von überall aus dem Land angereist sind. Es ist der zu diesem Zeitpunkt amtierende US-Präsident Donald Trump. ZSP Trump "Ich hoffe, Mike Pence wird das Richtige tun. Denn wenn er das Richtige tut, dann gewinnen wir die Wahl. Die Staaten sind betrogen worden, sie haben die Wahlergebnisse aufgrund falscher Ergebnisse zertifiziert, nun wollen sie eine neue Zertifizierung. Das einzige, was Vizepräsident Pence tun muss, ist, die Resultate zurückzuschicken für eine neue Zertifizierung. Und wir sind Präsident und ihr alle seid glückliche Leute." Sie jubeln, wenn er sagt "Wir werden niemals aufgeben" und sie stimmen mit ein, als er "Stop the Steal" fordert - "Stoppt den Diebstahl" - den der Wahl. Es ist nicht das erste Mal, dass Trump in dieser Art, spricht, und es ist nicht das erste Mal, dass vor allem Mitglieder der republikanischen Partei versuchen, Lügen vom groß angelegten Wahlbetrug zu streuen. [05:12] Trump hat vorher monatelang die Verlässlichkeit der Briefwahl in Frage gestellt – genau wissend, dass laut Umfragen besonders viele Demokraten-Wählerinnen und -Wähler ihre Stimme per Post abgeben wollen. Erweitert hat er seine Vorwürfe darum, dass angeblich falsch ausgezählt wurde: Stimmen für ihn seien unterschlagen worden, Stimmen für seinen Konkurrenten Joe Biden zu Unrecht gezählt. Neun Monate nach der Wahl und sieben Monate nach dem Sturm des Kapitols haben Anfang August Yahoo News und YouGov die Amerikanerinnen und Amerikaner nach ihrer Meinung zur Auszählung gefragt. Unter denjenigen, die sich selbst als Republikaner bezeichneten, sagten 66 Prozent, "die Wahl war manipuliert und wurde Präsident Trump gestohlen". Gerade einmal 18 Prozent in dieser Gruppe glaubten, dass der heute amtierende US-Präsident Joe Biden fair gewonnen habe. Das zeigt: Bei Millionen Menschen verfängt die Wahllüge und sorgt für eine immer noch nicht ausgestandene Demokratiekrise in den Vereinigten Staaten. Der Aufstand vom 6. Januar wurde zu einem Symbol dieser Krise, aber die Ursachen gehen viel tiefer. Welche Rolle spielt dabei die gesellschaftliche Polarisierung der USA? Und was hat all das das mit Desinformation zu tun? Da das nicht so leicht zu beantworten ist, wollen wir in dieser Folge den Bogen etwas weiter spannen und uns drei unterschiedliche systemische Herausforderungen anschauen, die zum Ernstfall - dem Sturm auf das Kapitol - geführt haben: Das politische System, die Medienlandschaft und die Rolle der soziale Netzwerke als Radikalisierungstreiber. Aber zuerst gehen wir noch einmal zurück zur Wahl des neuen Präsidenten im November 2020 und schauen uns die Wochen danach einmal genauer an. ZSP Biden "Ein Tag noch. Morgen haben wir die Gelegenheit eine Präsidentschaft zu beenden, die diese Nation gespalten hat." Das ruft der demokratische Kandidat Joe Biden am 2. November 2020, einen Tag vor der Präsidentschaftswahl, in eine Menge - voller parkender Autos. Die USA stecken immer noch in der Pandemie und das heißt für Biden, dass er hunderten Fahrzeugen auf irgendwelchen Großparkplätzen im Land gegenübersteht, in denen seine Fans sitzen, ihm zujubeln und für ihn hupen - so wie an diesem Tag in Cleveland in Ohio. Die Umfragen sind zu diesem Zeitpunkt mehr als klar: Biden liegt vorne. Mal ist das mehr, mal ist es weniger deutlich. Aber… so richtig traut den Umfragen niemand. Denn auch vier Jahre zuvor, als Hillary Clinton gegen Donald Trump antrat, sah es den Umfragen zufolge nach einem Erdrutschsieg für Clinton aus. Jetzt, im Jahr 2020, kommt auch noch das Coronavirus dazu: Wegen der Pandemie weiß niemand, wie genau die Stimmabgabe ablaufen wird: Werden sich die Leute genauso lang anstellen wie in früheren Jahren - oder werden sie in nie gekannter Zahl per Post ihre Stimme abgeben? Heute wissen wir: 2020 haben so viele Menschen wie noch nie zuvor an der Wahl teilgenommen. Mehr als 159 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner gaben ihre Stimme ab - vorher waren es noch nie mehr als 140 Millionen gewesen. Und 46 % der Wählerinnen und Wähler haben einer Pew-Research-Umfrage zufolge vorab per Brief oder vor dem eigentlichen Wahltag auf dem Amt abgestimmt. Im November 2020 aber sind die Bedenken groß: Am Tag der Wahl selbst drohen trotz hoher Briefwahlbeteiligung lange Schlangen vor den Wahllokalen wie hier in Maryland. ZSP Wählerin1 "Ich bin seit heute morgen um 7 hier, und da war es richtig voll. Es gab eine lange Schlange, bis hier raus auf den Parkplatz. Ich glaube, jetzt ist es ruhiger, weil ich glaube, dass viele Leute in dieser Gegend ihre Stimme per Brief abgegeben haben, sie müssen also jetzt nicht mehr hierher kommen." Die Republikaner haben rund um den Wahltag eine klare Sorge: Sie wissen, dass in der Vergangenheit vor allem Demokraten per Brief abgestimmt haben. [09:14] Was ist, wenn das dieses Mal wieder so ist? Könnte es sein, dass großzügige Corona-Regeln mit wochenlangen Zeitfenstern zur Vorab-Stimmabgabe in Stadtverwaltungen und Schulen vor allem die Stimmabgabe für die Demokraten vereinfachen? Viele Republikaner kommen auf eine Idee, die später Donald Trump ausnutzen wird. Die Briefwahlstimmen sollen besonders genau verifiziert werden: Stimmt beispielsweise die Unterschrift der angeblich wählenden Person mit der im Wählerverzeichnis überein? In 32 Bundesstaaten wird jede einzelne Unterschrift mit jener Unterschrift im Wählerverzeichnis verglichen - wenn sich über die Jahre die Unterschrift verändert hat, beginnt also schon die Interpretation. Es gibt mancherorts sogar Rückmeldeschleifen, in denen Wählende die Gelegenheit bekommen, noch einmal ihre Identität zu bestätigen. In sechs Staaten braucht es dann noch die Unterschrift einer weiteren Person zur Bezeugung der korrekten Briefwahl-Stimmabgabe - eine Bestätigung der eigenen Versicherung also. Und der Bundesstaat Missouri schreibt sogar noch eine notarielle Beglaubigung vor. All das zu überprüfen braucht Zeit. Allen ist klar, dass die Auszählung Tage dauern könnte - Tage, in denen vermutlich zuerst die Republikaner vorne liegen könnten mit ihrem höheren Anteil an Vor-Ort-Wählenden, und in denen dann erst die Demokraten dank Briefwahl aufholen. Der vorgebrachte Grund für diese Regeln: Angeblich sei "Voter Fraud" ein großes Problem, sagen die Republikaner - also der Betrug mit der Stimmabgabe. Aber noch nie hat sich dieser Vorwurf bewahrheitet. 2012 hat der konservative Wahlkampfberater Dick Morris von einer Million ungeklärten Stimmen gesprochen, nach der Wahl 2016 behauptet Trump selbst , dass "Millionen Menschen" illegal gewählt hätten. Die Angst der Demokraten im Vorfeld der Wahl ist, dass der Präsident eine solche Lüge wiederholt und dass das zu Unruhe führt. Die Stimmung am Tag der Wahl ist deshalb… aufgekratzt. ZSP Wählerin2 "Ich muss sagen .. ich bin mit Politik groß geworden, meine Eltern waren politisch sehr aktiv, aber noch niemals hat es diese Angst vor der Wahl gegeben, oder dass ein Kandidat den Leuten versucht, das Wählen zu vermiesen, oder zu Gewalt und verstörendem Verhalten ermutigen würde. Es ist schockierend." Die Demokraten wissen außerdem, dass auch die Auszählung in den zuletzt für sie immer starken Großstädten oft länger dauert, weil dort so viel mehr Menschen ihre Stimmen abgeben - und deshalb fürchten sie, dass Trump sagen wird: "Ich habe am Wahlabend vorne gelegen. Alles, was danach ausgezählt wird, ist Betrug." Kaum vorstellbar eigentlich, dass der Ablauf des Auszählungsverfahrens eine solche dreiste Behauptung ermöglicht - aber genau diese Angst sollte sich bewahrheiten. In der Nacht nach der Wahl, am frühen Morgen des 4. November tritt Präsident Trump um kurz nach 2 Uhr vor die Kameras und sagt trotz Millionen noch ungezählter Stimmen: ZSP Trump "Das ist ein Betrug an der amerikanischen Öffentlichkeit. Das ist peinlich für unser Land. Wir waren dabei, diese Wahl zu gewinnen. Ehrlich gesagt: Wir haben diese Wahl gewonnen." Man werde bis zum Obersten Gerichtshof gehen, so Trump weiter. Er wolle einfach nicht, dass nachts um vier noch weitere Stimmen "gefunden" würden, sagt er - und meint damit natürlich die zu diesem Zeitpunkt noch später Auszuzählenden, von denen viele annehmen, sie enthielten mehr Demokraten-Stimmen. Der Ausgang der Wahl sieht in dieser Nacht auch enger aus, als es manche vermutet hatten. Einige Monate später zeigen detaillierte Analysen, dass Trump seinen Stimmanteil im Vergleich zu 2016 unter Menschen mit hispanischen Wurzeln und unter Jüngeren steigern konnte. Auf niedrigem Niveau legte er prozentual auch bei Schwarzen zu. Die Konzentration auf die enge Auszählung in einigen wenigen Staaten ist auch deshalb ein Problem, weil in den USA nicht die Person mit den landesweit meisten Stimmen die Wahl gewinnt, sondern jene, die am meisten Wahlleute auf sich vereinen kann - so etwas wie Delegierte, die jeder Bundesstaat abhängig von seiner Bevölkerungszahl entsenden darf. Wer in einem Bundesstaat vorne liegt, und sei es auch nur mit einer Stimme, erhält alle Wahlleute-Stimmen dieses Staates. Und so wird um die wenigen Staaten, in denen das Ergebnis besonders knapp ist, erbittert gefochten. Besonders umkämpft ist zum Beispiel der Bundesstaat Georgia im Südosten der USA. Rund 33 Prozent der Bevölkerung sind schwarz. Ihr Anteil unter den im Wählerverzeichnis Eingetragenen und Wahlberechtigten war überproportional niedrig, weshalb die Demokraten über Jahre daran gearbeitet haben, mehr Schwarze zum Wählen zu bewegen. 2020 gilt Georgia im Vorfeld wieder als "Battleground", als "Kriegsschauplatz", um den beide Parteien erbittert streiten. Tagelang wird ausgezählt, wochenlang diskutiert und schließlich monatelang gezankt, wie denn nun die Wahlergebnisse zu interpretieren seien. [14:14] Bei der Wahl kommt es genau so: Tagelang wird ausgezählt, noch länger wird um die Zählstände gestritten. Am 20. November wird der Sieg der Demokraten bestätigt - und das, nachdem die Republikaner bei den sechs Präsidentschaftswahlen zuvor gewonnen hatten. ZSP Sterling "Und, um ihnen einen kurzen Überblick zu geben: Das heute wird eine Art zweiteilige Pressekonferenz. Am Anfang werde ich mein Bestes geben, mich zusammenzureißen, denn all das ist zu weit gegangen. ALLES. Es muss aufhören. Herr Präsident, Sie haben diese Aktionen oder diese Sprache nicht verurteilt. Senatoren, Sie haben diese Sprache oder diese Aktionen nicht verurteilt. Das muss aufhören. Wir brauchen sie. Sie müssen mehr tun." Das ist Gabriel Sterling, am 1. Dezember 2020, drei Wochen nach der Präsidentschaftswahl. Er ist der "Voting System Implementation Manager" in Georgia, die Person, die unter dem Landeswahlleiter sicherstellt, dass das Abstimmungs- und Auszählungssystem überall in seinem Staat reibungslos abläuft - in den USA heißt das: dass alle Wahlmaschinen funktionieren. Dass eine solche administrative Verwaltungsaufgabe nicht besonders glamourös ist, weiß Sterling selbst. Er hat einmal im Podcast "The Daily" der New York Times, gesagt, dass eigentlich kein Mensch ihn kennen sollte – und niemand seinen Job kennen sollte. Warum so ein Mann trotzdem von der New York Times interviewt wird? Das liegt daran, dass auch nach Auszählung aller Stimmen dort die Wahl richtig knapp ist. Richtig, richtig knapp. 7,8 Millionen Wahlberechtigte standen am Ende im Wählerverzeichnis, rund 600.000 Wählende davon neu registriert. Anders als in Deutschland muss man sich in den USA zur Wahl anmelden, und in Georgia geschieht das seit 2016 beispielsweise automatisch über die Führerscheinstelle bei der Ausgabe eines neuen Führerscheins , online beim Landes-Innenministerium oder per Brief. Besonders viele der neu Wählenden sind schwarz und überwiegend aus dem Lager der Demokraten, neu registriert durch die Teams der seit Jahren besonders umtriebigen Wahlrechtsaktivistin Stacey Abrams - eine Frau, die zwei Jahre zuvor noch knapp als Gouverneurin unterlegen war, aber danach unermüdlich weiter durch den Staat reiste und Basisarbeit leistete. Anders als früher gelingt es den Demokraten dieses Mal, ihre Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren und zuzulegen, besonders rund um Atlanta, in Vororten mit vielen Schwarzen. Am Ende liegt Joe Biden vorne: 0,23 Prozentpunkte vor Donald Trump. 11.779 Stimmen. Und Donald Trump entscheidet sich, Gabriel Sterlings Chef anzurufen. Brad Raffensperger, Innenminister von Georgia. Und Republikaner. ZSP Trump "Also, schau. Ich möchte einfach nur 11.780 Stimmen finden, was eine mehr wäre, als wir haben" Eine Stunde lang redet er auf seinen Parteikollegen Raffensperger ein. Der amtierende Präsident fordert die Verantwortlichen für die Wahl zum Betrug auf. ZSP Trump "Also Brad, sag mir: Was machen wir jetzt? Wir haben diese Wahl gewonnen und es ist unfair, sie jetzt so von uns wegzunehmen. Das wird bitter auf viele Arten. Und ich denke, du musst sagen, dass du dir das noch einmal anschauen wirst." Aber Raffensperger bleibt standhaft. Er lehnt die Lüge ab. Trump macht sich bis heute deshalb über ihn lustig und stachelt seine Fans gegen ihn auf. Und der Wahl-Beamte Sterling? Nicht nur er bekommt in den Tagen nach der Wahl Drohungen, weil er sich weigert zu lügen. ZSP Sterling "Ich kann mich gerade nicht so gut ausdrücken, weil ich so wütend bin. Aber der Tropfen, der das Fass heute zum Überlaufen gebracht hat, ist die Sache mit dem 20-Jährigen Mitarbeiter einer Firma für Wahlmaschinen. Er hat einfach nur versucht, seinen Job zu erledigen. Einfach so. Seine Familie wird jetzt belästigt. Es gibt da draußen einen Galgen, auf dem sein Name steht. Das ist einfach nicht richtig. Ich habe Polizeischutz vor meinem Haus - Das ist OK, ich habe einen öffentlichkeitswirksamen Job. Das verstehe ich. Aber dieser Junge hat einfach nur einen Job angenommen. Er hat einfach einen Job angenommen! Ich kann gar nicht beschreiben, wie wütend ich gerade darüber bin. Und jeder Mensch in Amerika, jeder Mensch in Georgia, Republikaner und Demokraten zusammen - sie alle sollten die gleiche Wut in sich spüren." Dann ergänzte Sterling in Richtung von Donald Trump. ZSP Sterling "Was Sie gerade nicht können, aber tun müssen: Hören Sie auf Menschen zu möglichen Gewalttaten anzustiften. Sagen Sie es! Jemand wird verletzt werden. Jemand wird angeschossen werden. Jemand wird getötet werden. Das darf nicht sein!" Drei Wochen nach der Wahl haben Trump und seine Anwälte wie New Yorks ehemaliger Bürgermeister Rudy Giuliani und die ehemalige Bundesstaatsanwältin Sidney Powell felsenfest behauptet, dass in Georgia im großen Stil betrogen worden sei. Und sie haben damit Menschen so angestachelt, dass diese ganz normale Beamten mit Gewalt drohten. Erfolg hatten sie damit nicht. [20:01] Wahlmitarbeiter Gabriel Sterling und sein Chef, Georgias Innenminister Brad Raffensperger blieben standhaft. Zwei Mal wurde das Ergebnis nachgezählt. Von den fast fünf Millionen gültigen Stimmen in Georgia gingen am Ende 11.779 mehr an Joe Biden als an Donald Trump. Georgias 16 Wahlleute stimmten geschlossen für Biden. Doch Georgia allein hätte Trump ohnehin noch nicht den Sieg beschafft. Die Drohungen dort waren besonders extrem, aber er hätte auch in anderen Staaten noch mit ähnlichen Taktiken auf Basis von unbelegten Behauptungen Erfolg haben müssen. Nur dann wäre er insgesamt in den Vereinigten Staaten auf eine Mehrheit der Wahlleute gekommen. [Pause] Und trotzdem: Viele Millionen Menschen in den USA glauben bis heute nicht daran, dass Joe Biden der rechtmäßige Sieger der Wahl ist. Ein Grund dafür sind die vorab verbreiteten Lügen vom Wahlbetrug, ein weiterer sind die Zweifel aus der Wahlnacht, die Trump damit säte, sich zum Sieger zu erklären, obwohl noch Millionen Stimmen nicht ausgezählt waren. Und drittens kämpft er noch heute darum, dass in mehreren Bundesstaaten das Ergebnis noch einmal neu ausgezählt wird. Bei einer solchen Überprüfung in Arizona im Mai 2021 haben die Helferinnen und Helfer sogar geschaut, ob die Wahlzettel Spuren von Bambus enthalten, weil angeblich 40.000 Stimmzettel aus Südostasien eingeflogen und in die Wahlurnen gelangt seien sollen. Auch diese Hinweise haben sich nicht bewahrheitet. Mehr als 60 Gerichtsverfahren haben er und andere Republikaner laut Zählungen von Associated Press und USA Today seit der Wahl angestoßen. Bei vielen davon konnten sie nicht einmal genug Beweise vorbringen, dass überhaupt ein Prozessbeginn seitens der Gerichte akzeptiert wurde. Nur in einem einzigen Fall in Pennsylvania bekamen Trump und die Republikaner Recht. Dabei erkannte das Gericht aber keinen Betrug an, sondern entschied lediglich, eine Frist zu verkürzen für das Nachreichen von Ausweisinformationen bei Briefwahlstimmen, wo diese Daten fehlten. [Pause] Halten wir bis hierhin kurz die Atmosphäre fest, die so wenige Wochen vor dem Sturm auf das Kapitol in den USA spürbar war: Millionen Menschen vertrauten nicht auf die Wahlergebnisse: Wegen des langwierigen Auszählungsverfahrens in manchen Staaten, in denen erst Trump vorne lag und schließlich Biden gewann - so wie etwa in Georgia, wo Biden erst drei Tage nach der Wahl in der Auszählung an Trump vorbeizog. Wegen enger Ergebnisse in anderen Staaten. Wegen unzähligen Reden und Tweets von Trump und seinen Beraterinnen und Beratern, die die Rechtmäßigkeit der Resultate bestritten und das zur Grundlage ihrer Kampagne machten, wegen der dann am 6. Januar 2021 Tausende nach Washington fuhren. Wie sehen die Partei und das politische System aus, die solche Behauptungen nicht sofort im Ansatz ersticken? Ihr erinnert euch, wir wollen in drei Bereichen nach Hintergründen für den 6. Januar suchen - in Politik, Medien und Sozialen Netzwerken. [22:50] [Antwort 1: DIE PARTEI UND DAS POLITISCHE SYSTEM] Zeit, einmal auf den Zustand der Partei zu blicken, die Trump zu ihrem Kandidaten und schließlich Präsidenten machte – er ist ja längst nicht der Einzige, der vom "Voter Fraud" redet. Und an dieser Stelle müssen wir überhaupt erst einmal diesen Begriff kurz erläutern: Das Brennan Center for Justice der New York University versteht darunter "Fraud by Voters", also Betrug durch Wählende, beispielsweise indem sie versuchen, mehrfach zu wählen. Die Lüge vom großen Wahlbetrug hat sich bisher in der Realität noch nie bestätigt. Das Brennan Center hatte sich bereits 2007 für rund ein Jahrzehnt lang zurückliegende Wahlen daraufhin angeschaut, wie häufig offizielle Stellen und Medien von solchen Betrügereien berichten. Fazit: Vorfälle gab es bei 0,0003 bis 0,0025 Prozent aller Stimmen - und ein "Vorfall" ist noch nicht einmal ein anerkannter Betrug, sondern teilweise einfach eine fehlerhaft abgeglichene Datenbank - manchmal also eher menschliches Versehen statt böser Absicht. Wieso machen dann die Republikaner daraus ein so großes Problem? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Politologin Cathryn Clüver-Ashbrook, die an der Universität Harvard tätig war und nun zurück in Deutschland die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik leitet. Sie findet: Ein wichtiger Teil der Republikaner stützt Trump. ZSP Clüver "Man muss erst einmal sagen, dass ist nicht die ganze republikanische Partei, aber es ist zumindest ein mächtiger Teil der republikanischen Partei. Es ist ein Teil, der republikanischen Partei, die viel Geld eintreiben können und das auf sich vereinen können." Clüver-Ashbrook findet, dass es diesen Republikanern mit den guten Kontakten zu reichen Spendern um Kurzfristiges geht, um schnelle Taktik zum nächsten Wahlsieg, statt um eine dauerhafte Perspektive für die Partei. ZSP Clüver "Strategie wäre das Nachdenken zum längerfristigen Überleben der republikanischen Partei. Das sind Überlegungen, die eigentlich eher auf die 90er Jahre der Republikanischen Partei zurückgehen, wo es den einen Strang gab, das republikanische Zelt zu erweitern, durch konservative Latinos, zum Beispiel, durch konservativ-katholische Latinos, also eher da über wertebasierte Politik zu arbeiten, was aber dann eine Toleranz in der Partei vorgeben würde, gegenüber, wie sie das oft formulieren, nicht originären Amerikanern." In den 90er Jahren hörten die Forderungen, von denen sie spricht, nicht auf. Nach der Wahl 2012, dem zweiten Sieg von Barack Obama, hat die Parteiführung sogar einen Bericht in Auftrag gegeben, der die Gründe für die Niederlage finden sollte: "Growth and Opportunity Project" hieß das 100-seitige Papier, in etwa "Wachstums- und Chancen-Projekt" und die Analyse darin war ziemlich offen. ZITAT BERICHT "Ohne Veränderungen wird es in der nahen Zukunft immer schwieriger für Republikaner werden, eine Wahl zu gewinnen. (...) Die öffentliche Wahrnehmung der Partei erreicht negative Rekordwerte." "Wir müssen Gruppen erreichen, zu denen Republikaner normalerweise nicht gehen, um dort zuzuhören und unsere Ideen vorzubringen. Wir müssen mehr kämpfen um hispanische, Schwarze, asiatische und homosexuelle Amerikanerinnen und Amerikaner und ihnen zeigen, dass auch sie uns wichtig sind. Wir müssen mehr Kandidatinnen und Kandidaten finden, die Minderheiten verkörpern." Konservative Kräfte in der Partei, wie die damals beliebte Tea Party, wiesen solche Ideen schnell von sich - und sie wurden dabei von prominenten rechten Kommentatoren unterstützt. [26:35] ZSP Trump "So, Ladies and Gentlemen, I am officially running for President of the United States and we are going to make our country great again." Mehr als ein Dutzend Bewerberinnen und Bewerber kämpften um die Nominierung als Kandidatin oder Kandidat für das Präsidentschaftsamt. Keiner von ihnen war so bekannt wie Donald Trump. Nachdem er im Juni 2015 seine Kandidatur erklärt hatte, lag er in Umfragen schnell vorne. Das Image des erfolgreichen Immobilienunternehmers und TV-Stars aus der NBC-Show "The Apprentice" kam bei den Leuten an. Eine absolute Mehrheit von über 50 Prozent der befragten Partei-Anhängerinnen und -Anhänger hatte er zwar lange nicht hinter sich - aber die Konkurrenz konnte sich nicht durchringen, aus dem Rennen zu scheiden und sich gegen ihn zu verbünden. Trump gewann die Vorwahlen, wurde zum Kandidaten erklärt und entschied sich für eine Kampagne im klaren Widerspruch zu dem Bericht von drei Jahren zuvor. Im Wahlkampf 2016 hat er sich eben nicht für die darin ausformulierte offene Gesellschaft eingesetzt, sondern sich stark an die weiße Arbeiterschicht und Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen gewandt - eher das Kernklientel der Republikaner statt neue Gruppen. Hart in der Einwanderungspolitik, ausschließend, anstatt wie in dem Bericht gefordert "inklusiv und willkommen heißend". Aber der überraschende Wahlsieg 2016 hat die Reihen hinter ihm geschlossen. Die Republikanische Partei ist Trumps Kurs gefolgt und dabei nach rechts gerückt. ZSP Clüver "Es hat sich jetzt eine Definition von Konservatismus durchgesetzt, in diesem republikanisch-nationalistischen Stil, den ein Donald Trump an den Tag gelegt hat, der ja sehr ausländerfeindlich ist, der im Grunde gegen die Grundwerte der USA geht, nämlich, dass die USA ein Einwanderungsland ist, ein Melting Pot, dass sich diese Fraktion durchgesetzt hat und versucht taktisch, solange es noch möglich ist, numerisch, da geht es wirklich um die demografische Entwicklung der USA, ihre Agenda, wo eben auch dieser weiße Nationalismus mitschwingt, noch eben durchzubringen, solange es eben zahlenmäßig noch geht." Damit meint Clüver-Ashbrook: Die Republikaner versuchen generell eher an die Macht zu kommen, indem sie mit einem nationalistischen Kurs bisher nicht-wählende Weiße ansprechen, als dass sie breitere Angebote an Wählende mit hispanischen Wurzeln, an andere Minderheiten oder an Menschen in Großstädten machen. Obwohl diese Gruppen in den USA wachsen. Trump ist es aber auch gelungen, unter konservativen hispanischen Abstimmenden zuzulegen, beispielsweise in Florida. Dort hatte er im Wahlkampf davor gewarnt, dass Biden und der progressive Teil der Demokraten sozialistische Verhältnisse anstreben würden. An dem generell nationalistischen Kurs und an der Treue zu Donald Trump haben die Republikaner auch nach der Präsidentschaftswahl und dem 6. Januar 2021 festgehalten. Ursprünglich sollte sich ein sowohl vom Repräsentantenhaus als auch vom Senat unterstützter Untersuchungsausschuss mit dem Sturm auf das Kapitol beschäftigen. Im Repräsentantenhaus gab es eine klare Mehrheit, im Senat aber wären 60 von 100 Stimmen nötig gewesen, um in der Tagesordnung fortzufahren und über die Einsetzung des Ausschusses zu entscheiden - jedoch unterstützten nur sechs von 50 republikanischen Senatorinnen und Senatoren den Untersuchungsausschuss und das waren nicht genug. Nun gibt es lediglich Anhörungen in einer Kommission im Repräsentantenhaus. [30:17] Generell würden die Republikaner gerne das Thema hinter sich lassen - und sie haben dabei viele ihrer Wählerinnen und Wähler an ihrer Seite: Sechs Monate nach dem Kapitolsturm sagten in einer Umfrage von Morning Consult 68 Prozent der Parteiunterstützerinnen und -unterstützer, dass der 6. Januar zu viel Aufmerksamkeit bekomme. Unter den Demokraten sind das nur 23 Prozent. Politiker wie der House-Abgeordnete Jim Jordan beschreiben deshalb die Aufarbeitung des 6. Januar als Teil einer größeren Kampagne, die nur dem Zweck diene, Donald Trump schlecht dastehen zu lassen. Jordan und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter bekommen für diese Behauptung nicht nur im Parlament eine Bühne, sondern auch andernorts in der öffentlichen Debatte - im Fernsehen. [Antwort 2: DIE TRADITIONELLEN MEDIEN] ZSP Sommer "Das US-amerikanische Mediensystem ist im Moment sehr polarisiert. Es gibt diese Mainstreammedien, wenn man an die New York Times, die Washington Post oder CNN denkt. Und dann gibt es angeführt von Fox News dieses abgetrennte Medien-Ökosystem der Rechten, mit seinen eigenen Kabelfernsehsendern und eigenen Webseiten. Dadurch kann man sich vom Rest abschotten, besonders, wenn man Republikaner ist, und nur noch Dinge empfangen, die die eigene Weltsicht bestätigen." Der Mann, der uns das US-Mediensystem erklärt, heißt Will Sommer. Er ist Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt rechte Medien und Verschwörungsmythen. Dass er nur kurz die New York Times und die Washington Post anspricht, bevor er über TV-Sender und Webseiten spricht, hat einen Grund: Die Bedeutung von klassischen Printmarken ist in den USA schon seit längerem niedriger als in Deutschland. Aus rund 60 Millionen täglich verkauften Zeitungen 1993 wurden inzwischen etwa 24 Millionen - und das in einem Land mit rund 331 Millionen Menschen. Noch bevor aber irgendjemand an Internet daheim oder gar an das Smartphone dachte, stieg Mitte des 20. Jahrhunderts das Fernsehen zu einem wichtigen Informationsanbieter auf. Wer heute noch Fernsehen in den Vereinigten Staaten schaut, guckt einen Sender, der zu einer von zwei Kategorien gehört: Ein "Major Network"; oder ein Kanal aus einem Kabel- oder Satellitenfernseh-Paket. Die Majors gibt es gratis, Cable dagegen kann richtig teuer werden: Mehr als 100 Dollar im Monat sind keine Seltenheit. Zu diesen Kabelsendern zählt auch Fox News. ZSP Sommer "Die rechten Medien in den Vereinigten Staaten sind wirklich wahnsinnig groß. [32:48] Fox News ist der meistgeschaute Kabel-Nachrichtensender, Tucker Carlson, der Fox News Moderator, der vermutlich zu den extremeren Kabel-Nachrichtenmoderatoren gehört, die wir in den vergangenen Jahrzehnten gesehen haben, ist der meistgeschaute Kabel-Moderator im Fernsehen." Wer dem Mann, den Will Sommer hier anspricht, zuschaut, versteht schnell, was er mit "extrem" meint: Tucker Carlson sendet von Montag bis Freitag täglich zur besten Abendsendezeit eine Stunde. Im September 2021 haben laut Fox News täglich im Schnitt 3,3 Millionen Menschen seine Show gesehen - im Oktober 2020, dem Monat vor der Wahl, waren es sogar 5,3 Millionen, laut dem Nachrichtenmagazin Newsweek der erfolgreichste Monat für eine Sendung in der Geschichte der Kabel-Sender der USA. Auch den Sturm auf das Kapitol Anfang diesen Jahres hat Carlson oft kommentiert. Im Juni deutete er an, Ermittler des Federal Bureau of Investigation, kurz FBI, steckten hinter der Eskalation. Zitat: "Seltsamerweise sind einige der Schlüsselfiguren vom 6. Januar nicht angeklagt worden. Die Regierung nennt diese Menschen "nicht-angeklagte Mitverschwörer" Was heißt das? Dass sie möglicherweise in jedem einzelnen Fall FBI-Agenten waren." Um das klar zu sagen: Es gibt keine Belege für diese Behauptung. In einem Faktencheck der Erklärwebseite Vox sagte ein Mitarbeiter aus dem Verteidigungsministerium, dass die Theorie völlig an den Haaren herbei gezogen sei. Sie tauchte laut Vox erstmals auf einer Webseite eines früheren Trump-Redenschreibers auf. Und doch hatte sie Erfolg: Die rechten House-Abgeordneten Matt Gaetz und Marjorie Taylor Greene forderten öffentlichkeitswirksam Klarheit zur vermeintlichen Einbindung des FBI in den 6. Januar. "Wir brauchen Namen und Antworten", schrieb Taylor Greene bei Twitter und Gaetz forderte von FBI-Chef Christopher Wray die, Zitat, "vollständige Offenlegung zur Rolle des FBI während des Kapitolaufstands am 6. Januar". Das zeigt, wie manche besonders extreme Republikaner und Fox News sich gegenseitig befeuern und einander Öffentlichkeit verschaffen. Auch Will Sommer sieht eine engere Verbindung von Fox News mit der Partei als früher. Man komme davon wegen neuer Konkurrenten wie One America News Network und Newsmaxx nicht mehr los. ZSP Sommer "Es gibt einen großen Appetit in den Vereinigten Staaten für parteiische Medien, besonders unter Rechten. Wir haben mehrfach gesehen, dass wenn beispielsweise Fox News auch nur leicht kritisch über Donald Trump berichtete, die Zuschauer abschalten und zu einem anderen Medium wechseln. Diese Medien sind deshalb wie Geiseln ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer. Im Grunde müssen sie dauernd die Ansichten der Republikaner raushauen - nicht dass ihnen das wahnsinnig viel ausmachen würde, aber wenn sie es nicht tun, dreht sich das Publikum weg und geht zu einem ihrer Konkurrenten." [35:49] Werfen wir aber auch noch einen Blick auf die Nachrichten bei den frei empfangbaren Majors: ABC, NBC und CBS, oft wird auch noch FOX dazugezählt. Kleines Obacht: Hier ist eben nicht der Nachrichtensender Fox News gemeint, sondern ein allgemeines Unterhaltungsprogramm, das nur "Fox" heißt. Für regionale Nachrichten arbeiten sie mit einem Netz kleiner Lokal-Stationen zusammen, die ihnen zuliefern, die sogenannten Local Affiliates. Im Abendprogramm gibt es dann Nachrichten, die nicht vom nationalen Sender, sondern von diesen lokalen Stationen bespielt werden – ähnlich wie bei den Regionalsender-Fenstern im deutschen Fernsehen. Und genau da gibt es ein weiteres Problem, sagt Will Sommer: ZSP Sommer "Wir sehen, dass es zu einer Handvoll an riesigen Lokalnachrichten-Zusammenschlüssen kommt. Ein Beispiel ist die Sinclair Broadcasting Group, der eine riesige Menge an Sendern gehört und die sehr konservativ ist. Vorher haben die Lokalnachrichten sich vielleicht auf echte lokale Nachrichten konzentriert, jetzt aber - nachdem sie von Sinclair aufgekauft wurden, stellen sie zum Beispiel einen früheren Trump-Mitarbeiter ein, lassen ihn Fake-News-Nachrichtensendungen aufnehmen, die im Grunde genommen nur Kernbotschaften der Republikaner sind, und dann dröhnen sie damit das ganze Land zu." Das Unternehmen, von dem Sommer hier spricht, hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen: Die Sinclair-Gruppe ist familiengeführt, sie war im Juni 2021 in 86 von 210 regionalen US-Märkten vertreten und erreicht so rund 40 Prozent aller US-Haushalte. Es ist das größte Konglomerat an lokalen Nachrichtensendern - und es ist so entschieden rechts, dass sogar Michael Copps, der vom republikanischen Präsidenten George W. Bush eingesetzte frühere Chef der Kommunikationsaufsichtsbehörde FCC, einmal sagte: "Sinclair ist vielleicht die gefährlichste Firma, von der die meisten Menschen noch nie gehört haben." Kommunikationsforscherinnen und -forscher kommen zu dem Ergebnis: Der Mann hat recht. Sobald Sinclair einen Sender aufkauft, wandert dieser nach rechts. Die Emory University hat sich das schon zwischen Juni 2017 und Dezember 2017 genau angeschaut, als Sinclair noch ein paar weniger Sender in lokalen Märkten hielt. Mehr als 7,4 Millionen zweieinhalbminütige Segmente wurden für die Studie ausgewertet, in ihrer Stimmung bewertet und Themenbereichen zugeschlagen. Das Fazit: Sobald Sinclair einen Sender aufkauft, baut er im Vergleich zu anderen im gleichen Markt seine Berichterstattung zur Bundespolitik um rund 25 Prozent aus, reduziert seine Lokalpolitikberichterstattung und rückt ideologisch nach rechts. Wichtig ist dabei: Sinclairs Sender belegen oft keine kompletten eigenen Programmplätze, sondern das Unternehmen bestückt mit lokalen Nachrichtensendungen die Regionalfenster auf großen Networks wie ABC oder NBC. Für die Zuschauenden macht es das schwerer zu verstehen, dass da nicht der neutrale Sender sendet, mit dem sie vertraut sind. [38:47] Stattdessen gibt es diese konservativen Inhalte in einem seriösen Gewand. Es sind aber nicht nur die Tucker Carlsons des Fernsehens, die in den USA ein Millionenpublikum haben. Auch das Radio erreicht Millionen Zuhörende. Besonders die Wirkung konservativer Talkshows sei oft unterschätzt, schreibt Paul Matzko, Autor eines Buchs über rechtes Radio. Allein die 15 erfolgreichsten Sendungen werden pro Woche 15 Millionen mal angehört - und viele von ihnen seien eingeschworene Fans, die sich dank vieler Insider Scherze mehr und mehr als Gemeinschaft empfinden. Mit häufig bis zu drei Stunden Länge würden viele Shows von Moderatoren wie Michael Savage oder dem kürzlich verstorbenen Rush Limbaugh vielerorts schlicht ständig im Hintergrund laufen. Zu hören gibt es von den besonders erfolgreichen Radiomännern ebenfalls oft Extremes. ZSP Beck "Es ist Zeit, zu kämpfen. Es ist Zeit, zu reißen, zu krallen und zu kratzen. Es ist Zeit, in den Krieg zu ziehen" Das ist zum Beispiel Moderator Glenn Beck, zwei Tage vor dem 6. Januar. Auch er hat beeindruckende Einschaltquoten und erreicht über Dutzende Sender in den Vereinigten Staaten, laut New York Times, 10,5 Millionen Zuhörende. Entschieden ging es auch in der Sendung von Moderator Sean Hannity zu. Er bestückt auf Fox News auch die Fernsehstunde direkt nach Tucker Carlson, und seine Radiosendung wird von 600 großen und kleinen Radiosendern der USA ausgestrahlt. Das Massachusetts Institute of Technology hat zusammen mit der New York Times 45 Folgen zwischen dem 22. November und dem 5. Januar 2021, dem Tag vor dem Kapitolsturm, ausgewertet. In 35 Folgen hieß es, die Wahl sei "betrügerisch", "manipuliert", "gestohlen" oder "illegal". Buchautor Matzko schreibt, dass eine solch extreme Parteinahme überhaupt nur möglich sei, weil unter US-Präsident Ronald Reagan in den 1980er-Jahren die sogenannte "Fairness-Doktrin" abgeschafft wurde, wonach Medien stets ausgeglichen zu berichten haben. Konservative Moderatoren hätten nie vergessen, wie zwei weitere Jahrzehnte zuvor der Demokrat John F. Kennedy versucht habe, ihre Sendungen zu verbieten - bis heute sei diese Antipathie gegenüber den Demokraten ein Grund für die vielen sehr extremen Radioshows. Heutzutage ergänzen weitere Nachwuchsmoderatoren wie die jüngeren Rechten Ben Shapiro und Dan Bongino die Landschaft. Sie haben sowohl im Radio als auch als Podcaster Erfolg. Auch Steve Bannon, der Trump-Berater, der mit der rechten Website Breitbart News berühmt wurde, hat einen Podcast, von dem er selbst sagt: er habe "Millionen Downloads". Alle drei dieser Beispiele waren im Oktober 2021 unter den Top 30 der Podcasts bei iTunes, die am meisten heruntergeladen wurden. Sie alle verstehen es neben ihren Audio-Inhalten außerdem sehr genau, eine weitere Medienform für ihre Inhalte zu nutzen: Social Media. Nach der Politik und den traditionellen Medien sind soziale Netzwerke nun das dritte Rädchen, das wir uns im Zusammenhang mit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar anschauen wollen. [41:53] [ANTWORT 3: DIE SOZIALEN NETZWERKE] ZSP Sommer "Es gibt sehr viele, sehr erfolgreiche konservative Nachrichtenseiten und die sind sehr gut darin, in Netzwerken wie Facebook häufig geteilt zu werden. Es gibt jede Woche diese Top 10 mit den erfolgreichsten Postings bei Facebook und acht oder neun davon kommen konstant von konservativen Nachrichtenseiten. Da sind oft Beiträge mit niedriger Qualität von Talkradiomoderatoren dabei, die im Wesentlichen die Nachrichten mit einem konservativen Dreh nacherzählen." Das ist noch einmal Will Sommer, der Experte für rechte Medien und Verschwörungsmythen. Er bezieht sich auf Daten der Analytics-Plattform Crowdtangle. Mittlerweile von Facebook gekauft, wertet sie nach eigenen Angaben auf Facebook mehr als sieben Millionen Seiten aus und schaut, wie viele Interaktionen die Postings auslösen. Die gerade schon genannten Ben Shapiro, Dan Bongino und vereinzelt auch Sean Hannity tauchen regelmäßig und oft mit mehreren Einträgen am Tag unter den Top 10 auf. [42:55] Im Zusammenhang mit dem 6. Januar waren Soziale Netzwerke aber nicht nur ein Weg, auf dem Informationen über den angeblichen Wahlbetrug gestreut und diskutiert wurden. Sie dienten vorab auch der Organisation des Mobs und später sogar der Verbreitung von Live-Videos aus dem Inneren des Kapitol. Im Repräsentantenhaus konnten die Demokraten die schon genannte Kommission zur Aufarbeitung des 6. Januar durchsetzen - und die beschäftigt sich laut einer Mitteilung des Ausschusses auch ausgiebig mit der Rolle von Facebook, Twitter und Co. ZSP Zitat "Vorsitzender Thompson fordert in Briefen an die Unternehmen mehr Informationen und Unterlagen über die Verbreitung von Fehlinformationen, über die Versuche, die Wahlen 2020 zu unterwandern, über gewalttätigen Extremismus innerhalb der USA, und über die ausländische Einflussnahme auf die Wahl. Die folgenden Firmen erhielten Anfragen vom Ausschuss: 4chan, 8kun (früher 8chan), Facebook, Gab, Google, Parler, Reddit, Snapchat, Telegram, theDonald.win, Tik-tok, Twitch, Twitter, YouTube, Zello." Der Ausschuss hat diese Netzwerke außerdem aufgefordert, die Kommunikation von einigen hundert Accounts wegen möglicher Strafverfolgung zu speichern - in mehr als 600 Verfahren schauen Ermittlerinnen und Ermittler auf Postings und Chatnachrichten der Verdächtigen. Auch im Leak der "Facebook Papers" im Herbst 2021 steckte ein interner Report zur Rolle der Plattform am 6. Januar. Diese Dokumente des Leaks wurden von der Whistleblowerin Frances Haugen veröffentlicht, einer Facebook-Produktmanagerin, die intern zur Wirkung der Plattform auf den öffentlichen Diskurs arbeitete. In den Dokumenten heißt es, dass Facebook die Protestbewegung zu lange in einzelnen kleineren Gruppen betrachtet hat, anstatt den Gesamtumfang des Protestes und seines Gewaltpotentials zu verstehen. Die Frage, welchen Anteil Social Media an der Polarisierung des Landes und an extremen Ereignissen wie dem 6. Januar spielt, beschäftigt Kommunikationsforschung und Politikwissenschaft immer mehr. 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben gemeinsam im Fachmagazin Science einen Aufsatz dazu veröffentlicht, wie gesellschaftliche Spaltung vorangetrieben wird. Sie definieren das als "Sektierertum" mit drei Elementen: "Ausgrenzung/Othering", "Abneigung/Aversion" und "Moralisierung". Drei Autoren des Think Tanks Brookings Institute haben darüber hinaus mehr als 50 Einzelstudien zu Sozialen Netzwerken ausgewertet und um 40 Interviews ergänzt. Ende September 2021 veröffentlichten sie ihr Fazit - es heißt darin: "Die weit verbreitete Nutzung von Social Media hat die extreme Polarisierung befeuert, was wiederum dazu geführt hat, dass das Vertrauen in demokratische Werte, in Wahlen und sogar in wissenschaftliche Fakten gesunken ist. Wer diese Entwicklungen nicht erkannt oder nichts gegen sie tut, riskiert, dass sich der 6. Januar am Kapitol wiederholt - oder Schlimmeres." Was aber, wenn die Inhalte in den Sozialen Netzwerken auf Menschen treffen, die gar nicht erst verführt werden müssen - sondern wenn bereits eine grundsätzliche Sympathie für Extrempositionen vorhanden ist? Schon in Folge zwei über Desinformation und die Briefwahl in Deutschland haben wir ja kurz über ein Phänomen aus der Psychologie gesprochen: "Confirmation Bias" oder auf Deutsch Bestätigungsverzerrung. Die Idee dahinter: Wir sind schneller bereit, neue Informationen zu akzeptieren, wenn sie unserem eigenen größeren Weltbild entsprechen. Übertragen auf den 6. Januar könnte das bedeuten, dass die Lügen zum Wahlbetrug auf einen fruchtbaren Boden bei Menschen fielen, die ohnehin schon dem Staat und den demokratischen Prozessen misstrauten. [46:40] Zeit, dass wir uns anschauen, wer da eigentlich genau ins Kapitol eingedrungen ist. Teilen die Demonstrierenden ein ähnliches Weltbild, oder: Haben sie vielleicht einen gemeinsamen Hintergrund? Um das genauer zu betrachten, hat die Universität Chicago das Forschungsprojekt "Understanding American Domestic Terrorism" gestartet und darin die Frage untersucht, wie in den USA Terror im Inland entsteht. Ihr konkretes Untersuchungsobjekt: der Sturm auf das Kapitol. Dazu schauten die Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf die Biografien von 377 Menschen, die bis Ende März 2021 wegen der Geschehnisse am 6. Januar festgenommen wurden: Aus welchem County stammen sie und welche demografischen Hintergründe haben sie persönlich und diese Counties allgemein? Und wie unterscheiden sie sich im Vergleich zu Rechtsextremen, die zwischen 2015 und 2020 festgenommen wurden? Ergänzt wurde diese Auswertung um zwei Umfragen zum 6. Januar in der breiten Bevölkerung und speziell unter Konservativen. Ihre Ergebnisse zeichnen ein viel komplexeres Bild von den Menschen beim Sturm auf das Kapitol - eines, das zeigt, dass da nicht nur der rechte Rand war. Demnach waren die Kapitol-Festgenommenen im Vergleich zu in früheren Jahren festgenommenen Rechtsextremen älter, sie waren seltener arbeitslos und sie gehörten viel seltener Bürgerwehren oder rechten Gangs an. In den Heimat-Counties der 377 Festgenommenen fiel dem Projekt ein Zusammenhang besonders auf: Sie kamen besonders oft aus einem County, in dem der Anteil der nicht-hispanischen weißen Bevölkerung zurückgegangen war. Die daraus abgeleitete These lautet, dass die Wut besonders dort groß ist, wo Weiße ihre gesellschaftliche Vormachtstellung bedroht sehen. Die beiden ergänzenden Umfragen von den Forscherinnen und Forschern aus Chicago stützen diese These. In ihrer Zusammenfassung schließen die Autorinnen und Autoren, dass es sich beim 6. Januar eben nicht nur um eine Bewegung der bisher bekannten extremen Rechten handelte, sondern um eine, Zitat: "breite Massenbewegung, die im Kern gewaltbereit ist". [Pause] [49:00] Also, ein letztes Mal tief Luft holen. Was heißt das jetzt alles für unsere Ausgangsfrage dazu, wie es genau zu dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 kam? Fest steht: Politik, Medien, und Soziale Netzwerke tragen eine Mitverantwortung: Wir haben gehört, wie Republikaner und besonders ihr Präsident Donald Trump Lügen vom Wahlbetrug verbreiten und Zweifel daran säen, dass Joe Biden der rechtmäßige Wahlsieger ist. Wir haben erfahren, wie auch einflussreiche Moderatoren wie Tucker Carlson bei Fox News oder der Radiomoderator Glenn Beck diese Lügen befeuern und wie die Macht von konservativen Firmen mit großer Reichweite immer mehr wächst, so wie jene der Sinclair Group. Soziale Netzwerke haben die Effekte weiterverteilt - und waren am Tag des Aufstandes selbst für die Demonstrierenden so wichtig, dass sich die juristische und politische Aufarbeitung auf viele der dort geschriebenen Nachrichten stützt. Und wir haben von den rechten und in der Gesellschaft verwurzelten Einstellungen der Demonstrierenden erfahren, die Angst davor haben, gesellschaftlich an Einfluss zu verlieren. Jemand liest einmal eine Lüge bei Facebook und wählt dann anders oder stürmt das Kapitol? So einfach ist das natürlich nicht. Aber als Teil eines größeren Systems, unterstützt durch Medien und Politik, da scheint Desinformation zu verfangen. Und Facebook ist ein gutes Stichwort. Denn in der nächsten Folge kümmern wir uns endlich um den Elefanten im Raum - die großen Internet-Plattformen. ZSP Haugen "Heutzutage bestimmt Facebook unsere Wahrnehmung von der Welt, indem es darüber bestimmt, welche Informationen wir sehen. Auch Menschen, die Facebook nicht benutzen, werden von der Mehrheit beeinflusst, die es tun. Ein Unternehmen mit einem so beängstigenden Einfluss auf so viele Menschen und ihre innersten Gedanken und Gefühle braucht eine wirkliche Aufsicht. Aber Facebooks geschlossenes Design sorgt dafür, dass es keine wirkliche Aufsicht gibt. Nur Facebook weiß, wie es deinen Feed für dich personalisiert." Das war die vierte Folge von "Netz aus Lügen - Die globale Macht der Desinformation". Diese Folge wurde geschrieben von Christian Fahrenbach. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Simone Hundrieser. Fact-Checking: Karolin Schwarz. Produktionshilfe: Lena Kohlwes. "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation” ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Bis nächstes Mal!
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-31T00:00:00"
"2021-11-09T00:00:00"
"2022-03-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/desinformation-der-globale-blick/343266/podcast-netz-aus-luegen-der-ernstfall-4-8/
800 Menschen stürmten am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington, DC. Fünf Menschen starben an diesem Tag. Die politischen und gerichtlichen Folgen dauern bis heute an. Was aber führte zum Angriff auf das wichtigste Regierungsgebäude in den USA? In
[ "Netz aus Lügen", "Podcast", "Entwicklungshelfer" ]
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Dokumentation: Russlands Wissenschaftler*innen protestieren – Offene Briefe gegen den Krieg | Russland-Analysen | bpb.de
Die Bevölkerung Russlands steht nicht geschlossen hinter dem Krieg gegen die Ukraine. Trotz aller Bemühungen der staatlichen Propaganda, den Krieg in der russischen Öffentlichkeit als "Spezialoperation" zu inszenieren, regt sich vielerorts Widerstand. Die Proteste begannen unmittelbar nach dem russischen Angriff. Nicht nur in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg, sondern in vielen Städten gingen tausende Menschen auf die Straßen und Plätze um gegen den Krieg zu demonstrieren. Eine vom Bürgerrechtler Lew Ponomarew am 24. Februar initiierte Petition auf der Plattform change.org haben bis zum 2. März mehr als 1,1 Millionen Menschen unterschrieben. In sozialen Medien wird der Hashtag #НетВойне (dt. Nein zum Krieg) millionenfach genutzt, geteilt und gelikt – auch von prominenten Künstler*innen und Intellektuellen. Jede einzelne Unmutsäußerung erfordert großen persönlichen Mut und Zivilcourage im Angesicht des staatlichen Repressionsapparats. Innerhalb einer Woche sind mehrere tausend Menschen (kurzzeitig) inhaftiert worden, die sich an Protestaktionen beteiligt hatten. Es kann als sicher gelten, dass es in naher Zukunft zu zahlreichen Verfahren mit vermutlich drakonischen Haft- und Lagerstrafen kommen wird. Noch viel mehr Menschen werden ihre Arbeitsstellen verlieren und Karrierechancen einbüßen. Und dennoch äußern sich viele russische Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und Journalist*innen deutlich gegen den Krieg. Gegenwärtig kursieren mehrere "Offene Briefe", die binnen kürzester Zeit von hunderten oder gar tausenden Personen unterzeichnet wurden. Sie alle eint das Entsetzen über den Krieg, den Russland entfesselt hat. Dass ihre Stimmen in Deutschland gehört werden, ist wichtig in einer Situation, in der deutsche und europäische Wissenschaftsinstitutionen ihre teils seit Jahrzehnten bestehenden Kooperationen mit russischen Universitäten und Forschungseinrichtungen auf unbestimmte Zeit unterbrochen oder gänzlich beendet haben. Deshalb werden hier drei dieser Dokumente in Auszügen übersetzt und so für ein deutschsprachiges Publikum dokumentiert. Am 24. Februar wurde ein "Offener Brief russischer Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten gegen den Krieg mit der Ukraine" veröffentlicht (Externer Link: https://t-invariant.org/2022/02/we-are-against-war/). Diesem Aufruf haben sich bis zum 2. März 2022 mehr als 6100 Unterzeichner*innen angeschlossen. In dem Text heißt es: "Wir, russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, erklären unseren entschiedenen Protest gegen die kriegerischen Handlungen, die von den Streitkräften unseres Landes auf dem Territorium der Ukraine begonnen wurden. Dieser fatale Schritt führt zu großen menschlichen Opfern und erschüttert die Grundlagen, die dem System der internationalen Sicherheit zugrunde liegen. Die Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa liegt vollständig auf Russland. Für diesen Krieg gibt es keine vernünftigen Begründungen. […] Es ist vollkommen klar, dass die Ukraine keine Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes darstellt. Der Krieg gegen sie ist ungerechtfertigt und offensichtlich sinnlos. Die Ukraine war und ist ein Land, das uns sehr nahe ist. Viele von uns haben in der Ukraine Verwandte, Freunde und Kollegen. Unsere Väter, Großväter und Urgroßväter haben gemeinsam gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Die Entfesselung eines Krieges aufgrund der geopolitischen Ambitionen der Führung der RF [Russischen Föderation RK], die von fragwürdigen historischen Phantasien geleitet wird, ist ein zynischer Verrat an ihrem Andenken. Wir respektieren die ukrainische Staatlichkeit, die sich auf funktionierende demokratische Institutionen stützt. Wir haben Verständnis für die Entscheidung unserer Nachbarn für Europa. Wir sind davon überzeugt, dass alle Probleme in den Beziehungen unserer Staaten friedlich gelöst werden können. […] Indem Russland den Krieg entfesselt hat, hat es sich selbst zur internationalen Isolation verurteilt und sich in die Position eines Paria-Landes begeben. Für uns Wissenschaftler bedeutet das, dass wir unsere Arbeit nicht mehr in der gewohnten Weise fortsetzen können, denn wissenschaftliche Forschung ist ohne die umfassende Kooperation mit Kollegen aus anderen Ländern nicht denkbar. Die Isolierung Russlands bedeutet die weitere kulturelle und technologische Degradierung unseres Landes ohne jede positive Perspektive. Der Krieg mit der Ukraine ist ein Schritt ins Nichts. […] Wir fordern, dass die Souveränität und die territoriale Integrität des ukrainischen Staates respektiert werden. Wir fordern Frieden für unsere Länder." Einen "Offenen Brief russischer Historiker gegen den Krieg mit der Ukraine" (Externer Link: https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSfGnGJbaEzHgcovcOZ-AvwXcXESefK49X9GH1EyNyLg02y7Hg/viewform) haben bis zum 2. März 2022 mehr als 550 Personen unterschrieben; jeweils auch mit ihrer institutionellen Affiliation. In dem Schreiben heißt es: "Wir, russische Historiker – Wissenschaftler, Dozenten, Studenten, Doktoranden und Absolventen historischer Fakultäten – erklären unseren entschiedenen Protest gegen die kriegerischen Aktivitäten, die russische Streitkräfte auf dem Gebiet des souveränen Staates Ukraine. In der Vergangenheit sind viele vernichtende Kriege und aggressive Handlungen mit dem Hinweis auf die historische Unzulänglichkeit anderer Staaten und Völker begründet worden. Im 21. Jahrhundert ist eine solche Manipulation der Geschichte unannehmbar. Streitfragen müssen in Diskussionen, bei diplomatischen Verhandlungen und wissenschaftlichen Konferenzen gelöst werden, aber nicht auf dem Schlachtfeld. Alle Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass Kriege mit Katastrophen für alle Beteiligten enden. Der Einsatz von Waffen führt zu Opfern in der Zivilbevölkerung, zur Zerstörung von Gebäuden und Kommunikationseinrichtungen und am Ende zu einer humanitären Katastrophe. […] Die Ukraine war und ist für Russland ein wirkliches Bruderland, mit dem uns verwandtschaftliche, freundschaftliche und berufliche Beziehungen verbinden, unsere gemeinsame historische Erfahrung. Wir sprechen über das Heldentum unserer Völker während des Großen Vaterländischen Krieges. […] In der Zukunft werden wir auf die Fragen unserer Kinder und Enkel nach den Gründen der Katastrophe antworten müssen, die sich vor unseren Augen abspielt. Uns allen, der russischen Gesellschaft, steht die große Aufgabe bevor, unserer Verantwortung für diese Ereignisse gerecht zu werden. Wir fordern die sofortige Beendigung des Krieges." Direkt an Vladimir Putin wenden sich die "Absolventen, Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des MGIMO" (Externer Link: https://docs.google.com/document/d/1uAiGSF97ysGKbzC3-6qDGNb0xb6xjvHcKChsQtx9Af4/edit). Beim MGIMO handelt es sich um die Kaderschmiede des russischen Außenministeriums; praktisch alle russischen Diplomaten werden dort ausgebildet. Auch ihrem Selbstverständnis nach gehören Absolventen des MGIMO zur Elite des russischen Staatsapparates. Dies macht diesen Text so bemerkenswert. Am 2. März haben bereits mehr als 1200 Personen unterschrieben. "Wir, Absolventen, Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen MGIMO des Außenministeriums der Russischen Föderation, die diesen Aufruf unterzeichnet haben, lehnen die Militäraktionen der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine kategorisch ab. Wir halten es für moralisch inakzeptabel, zur Seite zu treten und zu schweigen, während Menschen in einem Nachbarstaat sterben. Sie sterben durch die Schuld derer, die Waffen der friedlichen Diplomatie vorgezogen haben. In seiner Geschichte hat Russland hat sich immer wieder für die Verteidigung der Schwachen eingesetzt und sie unterstützt, auch wenn dies einen hohen Preis erforderte. Die Führer unseres Staates haben trotz aller ideologischen Differenzen selbst die schwierigsten Krisensituationen friedlich gelöst. Wir fordern, dass diese außenpolitische Tradition auch heute fortgeführt wird: Truppen vom Territorium der Ukraine müssen abziehen, die Bombardierung ukrainischer Städte muss enden und ein ehrlicher Verhandlungsprozess muss beginnen – ohne Ultimaten und Kapitulationsforderungen an die andere Seite. […] Wir sind für das Leben und Arbeiten in einer offenen Welt ausgebildet. Wir bereiten uns darauf vor, Repräsentanten eines Landes zu sein, für das die ganze Welt offen steht – und Russland ist offen für die ganze Welt. Uns wurden Diplomatie, internationales Recht, journalistische Standards beigebracht, uns wurde der Wert internationaler Zusammenarbeit erklärt, von Kooperationen, kulturellem Austausch. Besonderer Wert wurde immer auf die Bedeutung internationaler Anstrengungen zur Schaffung einer internationalen Übereinkunft zur Reduzierung von Atomwaffen gelegt. Die Handlungen der russischen Streitkräfte auf dem Territorium der Ukraine haben Bedingungen geschaffen, angesichts derer die Umsetzung der Werte, die uns im Laufe unseres Studiums beigebracht wurden, unmöglich erscheint. Wir, die Absolventen, Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des MGIMO, streben danach, die traditionellen außenpolitischen Werte Russlands zu bewahren: Sicherheit, friedliche Zusammenarbeit und Dialog. Aber wenn diese Werte in der gegenwärtigen Situation von der offiziellen Position des Außenministeriums und des Staates insgesamt abweichen, haben wir keine Scheu uns offen zu ihnen zu bekennen." Diese Dokumentation wurde erstmals am 3. März 2022 veröffentlicht. Einen Tag später, am 4. März, verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das für die Verbreitung von "falschen Nachrichten" über das Militär und die sogenannte "Spezialoperation" in der Ukraine Geldbußen oder Haftstrafen von bis zu 15 Jahren vorsieht. Das Gesetz wurde sofort rigoros angewendet. Abgesehen von wenigen Einzelfällen und individuellen Manifestationen des Protests endete damit das massenhafte öffentliche Auftreten gegen den Krieg. Angesichts der Repressionsdrohung des Staates zogen sich die meisten Unzufriedenen ins Private zurück, viele verließen in den letzten Monaten das Land. Der Widerstand gegen den Krieg ist damit nicht erloschen, aber sein Umfang nahm ab. Seitdem dominierten öffentlich weniger sichtbare Protestformen. Und auch das gehört zur Realität dieses Krieges: Die meisten russischen Wissenschaftler*innen, Studierenden oder Journalist*innen versuchen sich mit den Verhältnissen zu arrangieren oder unterstützen die Politik ihrer Regierung. Erstveröffentlicht: 03.03.2022. Aktualisiert: 29.06.2022 Quelle: Kindler, Robert: Russlands Wissenschaftler*innen protestieren – Offene Briefe gegen den Krieg. In: Zeitgeschichte Online, 03.03.2022, Externer Link: https://zeitgeschichte-online.de/themen/russlands-wissenschaftlerinnen-protestieren
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Robert Kindler (Freie Universität Berlin)
"2022-08-24T00:00:00"
"2022-07-25T00:00:00"
"2022-08-24T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-422/511098/dokumentation-russlands-wissenschaftler-innen-protestieren-offene-briefe-gegen-den-krieg/
Die Bevölkerung Russlands steht nicht geschlossen hinter dem Krieg gegen die Ukraine. Wir dokumentieren offene Briefe russischer Wissenschaftler:innen gegen den Krieg vom 24.02.2022.
[ "Russland", "Russland", "Russland", "Bildung und Wissenschaft", "Zivilgesellschaft", "Russlands Angriffskrieg 2022" ]
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Analyse: Die politische Ökonomie der Abfallwirtschaft in Russland | Russland-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Die Entsorgung von Hausmüll ist eine der zahlreichen ökologischen Herausforderungen, vor denen Russland heute steht. Die landesweite Reform der Abfallwirtschaft im Jahr 2019 soll diesem Problem durch die Förderung von Recycling entgegenwirken. Diese geriet jedoch landesweit ins Stocken, was auf einige Besonderheiten der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Russland zurückzuführen ist. Der Mangel an Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen und die Bedeutung persönlicher Beziehungen zwischen den Unternehmen und den föderalen bzw. regionalen Behörden behindern die Umsetzung der Reform und führen zu suboptimalen Ergebnissen bei der Bekämpfung des Abfallproblems. Einleitung Bei Umweltfragen wie Luftverschmutzung oder Waldsterben stehen bedeutende politische und wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel. Hierzu gehören die Interessen der Industrielobby, die sich für niedrigere Umweltsteuern einsetzt, oder die Interessen der grünen Parteien, die genau das Gegenteil erreichen wollen. Die russische Abfallwirtschaft ist hier keine Ausnahme. Viele Akteure sind involviert, und das Politikfeld ist insgesamt höchst umstritten. Auf kommunaler Ebene ist die Lage bei der Entsorgung fester Abfälle erbärmlich, denn mehr als 90 Prozent des Haushaltsmülls werden ohne Weiterverarbeitung auf schlecht betriebene Deponien gebracht. Die Kapazitäten von Deponien sind in Dutzenden Regionen fast erschöpft. Dadurch ist der Haushaltsmüll zu einem besonders akuten Problem geworden. Die föderale Regierung erkannte 2019 endlich den Ernst der Lage und brachte eine landesweite Abfallwirtschaftsreform auf den Weg. Das Ziel der Reform ist, die Nutzung von Deponien zu begrenzen und den Anteil des recycelten Abfalls durch den Einsatz moderner umweltfreundlicher Technologien zu erhöhen. Allerdings blieben sowohl der Entwurf als auch die Umsetzung der Reform bisher hinter den Erwartungen zurück, wie dies so oft in Russland der Fall ist (Externer Link: https://ach.gov.ru/statements/byulleten-schetnoy-palaty-9-274-2020-g). Einige Probleme, die im Zuge dieser Reform auftreten, liegen in der Natur der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Russland begründet. Russlands Abfallwirtschaft seit 2019 Das System der Abfallwirtschaft blieb nach dem Ende der Sowjetunion jahrzehntelang unreformiert. In den 2010er Jahren wurde überdeutlich, dass das System höchst ineffizient und dringend reformbedürftig war. Das Aufkommen an Haushaltsabfällen ist im Laufe der Jahre stetig gewachsen (336.000 Kubikmeter Haushaltsabfälle im Jahr 2020 im Vergleich zu 210.000 Kubikmeter im Jahr 2007), was auf den gestiegenen Verbrauch und die Urbanisierung zurückzuführen ist. Überfüllte Deponien, fehlendes Abfallrecycling und wiederkehrende Probleme bei der Abfallsammlung und -entsorgung in mehreren russischen Städten machten deutlich, dass die Abfallwirtschaft von Behörden und Entsorgungsunternehmen schlecht gemanagt wurde. Dutzende von Umweltprotesten in ganz Russland brachten die Besorgnis der russischen Bevölkerung über den Missstand in der Abfallentsorgung zum Ausdruck. Die Reform der Abfallwirtschaft begann offiziell im Jahr 2019. Um diese auf den Weg zu bringen, mussten alle russischen Regionen einen oder mehrere regionale Entsorgungsbetriebe bestimmen, die für den gesamten Ablauf von der Sammlung bis zur Entsorgung von Hausmüll in der Region verantwortlich sind. Im Mai 2021 gab es 189 Entsorgungsunternehmen in 83 Regionen Russlands (ohne die Krim und die Stadt Sewastopol, die international als ukrainisches Staatsterritorium anerkannt sind). Die Entsorgungsbetriebe werden über ein öffentliches Ausschreibungsverfahren ausgewählt, und die siegreichen Bieter erhalten einen langfristigen Vertrag (in der Regel für 10 Jahre) im Wert von vielen Hundert Millionen Rubel. In der russischen Abfallwirtschaft geht es um viel Geld. Bis Mitte 2020 beliefen sich die Verträge, die mit regionalen Entsorgungsunternehmen unterzeichnet wurden, auf 2 Billionen Rubel (Externer Link: https://istories.media/reportages/2020/06/18/musornaya-reforma-v-tsifrakh-i-grafikakh/). Es ist jedoch allgemein bekannt, dass das öffentliche Beschaffungswesen in Russland aufgrund von Korruption und fehlender Transparenz mit vielen Mängeln behaftet ist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere die Zivilgesellschaft Bedenken hat hinsichtlich der Qualität und Effizienz von Unternehmen, die öffentliche Ausschreibungen gewinnen, um die regionale Abfallentsorgung zu übernehmen. Es ist offensichtlich, dass es bei den Ausschreibungen an offenem Wettbewerb mangelt: Bis November 2020 hatten nur 15 Prozent der 227 öffentlichen Ausschreibungen in 80 Regionen mehr als einen Bewerber (Externer Link: https://ac.gov.ru/news/page/sistema-obrasenia-s-tbo-ostaetsa-neprozracnoj-26777). Darüber hinaus hatten diejenigen Unternehmen, die die Ausschreibung gewonnen haben, in mindestens 11 Regionen keine vorherige Erfahrung in der Abfallwirtschaft (Externer Link: https://istories.media/investigations/2020/06/18/v-11-regionakh-rossii-musornimi-operatorami-stali-firmi-bez-opita-obrashcheniya-s-otkhodami/). Zum Beispiel erhielt der Archangelsker Entsorgungsbetrieb "Ekointegrator" im Jahr 2019 von der Regionalregierung einen Vertrag für zehn Jahre über eine Summe von 28,3 Milliarden Rubel, obwohl das Unternehmen erst neu gegründet worden war und nur vier Mitarbeitende hatte. Infolgedessen kommt es in verschiedenen russischen Regionen immer wieder zu Abfallkrisen, wenn Entsorgungsbetriebe ihren vertraglichen Verpflichtungen zur regelmäßigen Sammlung und Verarbeitung von Hausmüll nicht nachkommen. Dieser Mangel an Wettbewerb spiegelt sich auch in den von den regionalen Entsorgungsunternehmen festgesetzten Tarifen für die Sammlung von Hausmüll wider. Diese sind meist höher, als sie es bei öffentlichen Ausschreibungen wären, die unter wettbewerblichen Bedingungen abgehalten werden. Seit Beginn der Reform der regionalen Abfallwirtschaftssysteme müssen die Bürger:innen viel mehr für die Entsorgung von Hausmüll bezahlen als noch davor. Dabei gibt es sehr große regionale Unterschiede, wie hoch die Gebühren sind, die die Bevölkerung an die regionalen Entsorgungsbetriebe entrichten muss. Je nach Region wurde im Jahr 2019 zwischen 244 und 1411 Rubel für einen Kubikmeter Hausmüll berechnet. Die höchsten Gebühren sind derzeit in Moskau, in der Oblast Leningrad sowie im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen zu verzeichnen. 2021 stiegen die Gebühren um durchschnittlich vier Prozent. Während in einer Reihe von Regionen die Tarife gesenkt wurde (etwa um 9,2 Prozent in der Oblast Magadan), mussten andere Regionen erhebliche Preissteigerungen hinnehmen. In der Oblast Nowosibirsk mussten die Bürger:innen 39,2 Prozent mehr Gebühren als im Vorjahr verrichten, in der Republik Tatarstan waren es 24,8 Prozent mehr (Externer Link: https://www.rbc.ru/society/03/03/2021/603cb7cb9a79475c8729c21e). Außerdem bleibt es für die Bevölkerung in den Regionen undurchsichtig, wie die Gebühren zustande kommen und warum auf einmal für die gleiche Leistung mehr als bisher verlangt wird, während es oft keine Anzeichen für eine Verbesserung der Abfallsituation gibt. Infolgedessen weigerte sich 2019 ein Viertel der Bevölkerung, die Gebühren zu bezahlen. Dies war eine der Ursachen für die prekäre finanzielle Situation einiger regionaler Entsorgungsunternehmen, da diese Gebühren die Haupteinnahmequelle der Betriebe sind (Externer Link: https://ach.gov.ru/statements/byulleten-schetnoy-palaty-9-274-2020-g). Daraus entsteht ein Teufelskreis: Die Haushalte weigern sich, die gestiegenen Gebühren zu entrichten, und dem regionalen Unternehmen fehlen Finanzmittel, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Dies führt bei der lokalen Bevölkerung zu erheblicher Frustration über den Zustand der Müllabfuhr in ihrer Umgebung. Diese Unzufriedenheit ist einer der Gründe, die Gebührenzahlungen schlicht zu verweigern. Probleme bei der Finanzierung von Recycling-Infrastruktur Das erklärte Ziel der Reform von 2019 war es, den Recyclinganteil zu erhöhen. Allerdings stellt sich die Frage, wer die dazu benötigte Infrastruktur wie zum Beispiel Abfallsortier- und Recyclinganlagen bauen und finanzieren soll. Regionale Entsorgungsbetriebe sind nicht am Recycling interessiert, da dieses keinen zusätzlichen Profit bringt. Deswegen sind die Anreize gering, in den Bau von Recyling-Einrichtungen zu investieren. Firmen, die Wertstoffe aus dem Recycling nutzen, sind üblicherweise kleine und mittelständische Unternehmen, die keine Ressourcen für Investitionen haben, während die regionalen Budgets schon strapaziert sind (Externer Link: https://expert.ru/expert/2020/46/musornoj-reforme-ne-hvataet-privlekatelnosti/). Auch wenn private Investitionen eine wichtige Rolle in der Abfallwirtschaft spielen, so ist es doch klar, dass es öffentliche Förderung für Investoren geben muss. Schon bei der Organisation der ersten Stufe des Recycling-Prozesses – der Müllsortierung – tun sich große Schwierigkeiten auf. Weder die regionalen Behörden noch die Abfallwirtschaftsunternehmen bemühen sich ausreichend, ein öffentliches Bewusstsein für die Vorteile der Mülltrennung und des Abfallrecyclings zu erzeugen. Eine Analyse regionaler Abfallwirtschaftskonzepte ergab, dass die Hälfte keine Maßnahmen zur Mülltrennung vorsahen (Externer Link: https://ach.gov.ru/statements/byulleten-schetnoy-palaty-9-274-2020-g). Viele Haushalte können den Haushaltsmüll nur mit sehr großem Aufwand trennen, da oft Mülltonnen fehlen, die eine Trennung des Abfalls erlauben. Diesbezüglich gibt es regional sehr große Unterschiede: 2019 hatten etwa 60 Prozent der Bürger:innen in Pensa Recycling-Tonnen in der Nähe ihrer Wohnungen verfügbar, während es in Chabarowsk (einer gleich großen Stadt) nur elf Prozent waren (Externer Link: https://greenpeace.ru/blogs/2020/03/12/rejting-greenpeace-kazhdyj-tretij-zhitel-krupnogo-goroda-rossii-imeet-dostup-k-razdelnomu-sboru/). Aus einer Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2020 wird ersichtlich, aus welchen Gründen Russ:innen ihren Hausmüll nicht sortieren. Während einige keine Zeit oder keinen Platz in ihrer Wohnung haben, um den Hausmüll zu sortieren, ist der eigentliche Hauptgrund, dass viele es als sinnlos empfinden. 29 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass der Hausmüll sowieso auf einer Deponie landen und nicht dem Recycling zugeführt werden würde (Externer Link: https://www.levada.ru/2020/05/13/razdelnyj-sbor-othodov/). Ein weiterer Stolperstein auf dem Weg zu einer höheren Recycling-Quote ist die Müllverbrennung als vermeintliche Lösung für das Abfallproblem, die aktiv sowohl von Unternehmen als auch von der föderalen Regierung unterstützt wird. Ursprünglich sah die Reform vor, das Recycling mithilfe von Hochtechnologien voranzutreiben. Allerdings wurde schon im Dezember 2019 deutlich, dass der Müllverbrennung zentrale Bedeutung zukommen würde, als Wladimir Putin ein Gesetz unterzeichnete, das die Müllverbrennung rechtlich dem Recycling gleichstellte (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/4349953). Eine Erklärung dafür ist, dass die föderale Regierung feststellte, dass sie ansonsten das erklärte Ziel des Nationalprojekts "Ökologie" für die Jahre 2018–2024 nicht erreichen würde, 36 Prozent des Haushaltsmülls zu recyceln. Außerdem gibt es eine mächtige Industrielobby, der auch RT-Invest angehört, ein teilweise von der Staatsholding Rostec kontrolliertes Unternehmen. RT-Invest baut derzeit fünf Müllverbrennungsanlagen in der Oblast Moskau und in der Republik Tatarstan und plant mit den staatlichen Unternehmen Rosatom und VEB.RF 25 weitere Verbrennungsanlagen in den russischen Regionen. Die Entscheidung wurde von Umweltschützer:innen und Wissenschaftler:innen heftig kritisiert, da die Müllverbrennung gegenüber dem Recycling zahlreiche Nachteile aufweist (Externer Link: https://www.rbc.ru/society/08/04/2021/606f18899a7947348f112b50). Informelle Verbindungen zwischen Staat und Unternehmen in der Abfallwirtschaft Informelle Verbindungen zwischen Staat und Unternehmen, etwa zwischen regionalen Entsorgungsbetrieben sowie der Abfallwirtschaft insgesamt und den Verwaltungen, geraten immer wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Investigative Journalisten stellten fest, dass die Abfallwirtschaftsreform insbesondere zu solchen Geschäftsabschlüssen geführt hat, die aufgrund von persönlichen Verbindungen zu föderalen oder regionalen Eliten zustande gekommen sind. Im Mai 2021 haben wir eine Datenbank aller regionalen Abfallentsorgungsbetrieben in Russland mit den wichtigsten grundlegenden Informationen zu den Unternehmen zusammengestellt. Wir haben außerdem verschiedene Internetquellen (wie z. B. lokale Medien) nach Informationen über ihre Eigentumsform und Verbindungen zu kommunalen, regionalen oder föderalen Behörden durchsucht. Obwohl es in einer Reihe von Fällen unmöglich war, relevante Informationen zu finden, konnten wir dennoch ein umfassendes Gesamtbild der Eigentumsstrukturen und der informellen Netzwerke regionaler Abfallunternehmen erstellen. Auch wenn die Maßnahme, Entsorgungsunternehmen ins Leben zu rufen, von "oben" – also vom föderalen Zentrum in Moskau – ausging, so konnten wir dennoch selbst innerhalb einer Region verschiedene Eigentumskonstellationen ausmachen. Wie Tabelle 1 zeigt, sind einige Entsorgungsunternehmen ganz oder teilweise im öffentlichen Besitz. In den Oblasten Smolensk und Tambow gehören die regionalen Entsorgungsbetriebe zum Beispiel zu 100 Prozent der regionalen Regierung. In der Oblast Leningrad gehören 25 Prozent des Entsorgungsunternehmens dem regionalen Komitee für die Verwaltung des Staatseigentums, der Rest wird vom privaten Investor "AneksFinans" gehalten. In rund 30 Regionen gehören die Abfallentsorgungsunternehmen Geschäftsleuten mit persönlichen Verbindungen zu kommunalen oder regionalen Verwaltungen. So sind in der Republik Komi beispielsweise die beiden ehemaligen regionalen Abgeordneten Witalij Gabujew und Jewgenij Ljadow Mitgründer des einzigen regionalen Abfallentsorgungsunternehmens "Uchtashilfond". In der Oblast Orenburg ist Anatolij Kilanow einer der Direktoren des kommunalen Entsorgungsunternehmens "Priroda". Zuvor war er Leiter der regionalen Strafvollzugsbehörde und dann stellvertretender Bürgermeister von Orenburg. Es wird auch vermutet, dass Anatolij Tschernjawskij eine:r der Besitzer:innen des Unternehmens ist, der Schwiegersohn des Orenburger Vizegouverneurs Oleg Dimow. Darüber hinaus haben einige der großen Unternehmen im Geschäft mit Feststoff-Abfällen gute Verbindungen zu den föderalen Eliten. So ist "Chartija", ein regionaler Entsorger in verschiedenen russischen Regionen, einer der größten Akteure im Abfallgeschäft in Russland. Das Unternehmen gehört Igor Tschajka, einem Sohn von Jurij Tschajka, der aktuell Präsidialvertreter im Föderationskreis Nordkaukasus ist und zwischen 2006 und 2020 russischer Generalstaatsanwalt war (Externer Link: https://thebell.io/dengi-ne-pahnut-kto-podelil-rynok-musora-v-200-mlrd-rublej). In Moskau betreibt "Chartija" die Abfallsammlung und -entsorgung in zwei der 12 Bezirke. Die russische Hauptstadt ist ein großer Erzeuger von Haushaltsabfällen und einer der wichtigsten "Abfallmärkte" in Russland. Zwei weitere Moskauer Bezirke werden von "Ecoline" betreut, einem Unternehmen, das angeblich Arkadij Rotenberg gehört, einem russischen Oligarchen und engen Freund von Wladimir Putin (Externer Link: https://istories.media/investigations/2020/06/18/lyudi-iz-okruzheniya-prezidenta-rossii-podelili-mezhdu-soboi-musornii-rinok-na-2-trilliona-rublei/). Diese engen Verbindungen zwischen Abfallwirtschaft und den föderalen und regionalen Verwaltungen führen oft zu Konflikten in den Regionen, die dann Unterbrechungen in der Abfallsammlung und -verwertung nach sich ziehen, wie etwa in der Oblast Kirow in den vergangenen zwei Jahren. Schlussfolgerungen Auch wenn die föderale Abfallreform mit der guten Absicht begonnen wurde, die Regionen vom Haushaltsmüll zu entlasten, sind bisher nur wenige positive Entwicklungen zu verzeichnen. Ohne systematische statistische Analysen lässt es sich nur schwer nachweisen, dass Unternehmen, die enge Verbindungen zu den Behörden haben oder Ausschreibungen ohne Wettbewerb gewinnen, bessere oder schlechtere Leistungen erbringen als andere Entsorgungsunternehmen. Trotzdem ist die Abfallentsorgung ein anschauliches Beispiel, wie die Wirtschaft in Russland tatsächlich funktioniert. Es zeigt eindrücklich, wie Korruption, hartnäckige informelle Praktiken und das Bestreben von Eliten, Renten abzuschöpfen, auch für die Abfallwirtschaft charakteristisch sind und jene Phänomene illustrieren, die in der Wissenschaft als "bad governance" (in etwa "schlechte Regierungsführung") und "limited access order" (politökonomische Systeme, in denen Konkurrenten von privilegierten Eliten nur beschränkten Zugang zu Ressourcen haben) bezeichnet werden. Ein derartiges (Miss-)Management in der Abfallwirtschaft zieht viele negative Konsequenzen nach sich: Die Haushalte müssen höhere finanzielle Belastungen stemmen, weil sie gezwungen sind, mehr für die Müllentsorgung zu zahlen. Außerdem kommt es zu einer Verschwendung von Geldern für den Bau von neuen Anlangen für das Recycling von Haushaltsmüll, während Städte buchstäblich im Abfall versinken. Der Krieg in der Ukraine wird das Abfallproblem in Russland nur noch verschärfen. Einerseits werden Investitionen in Hochtechnologie-Recyclinganlagen zusammengestrichen werden. Andererseits wird es nur wenige Möglichkeiten geben, ausländische Recyclinganlagen oder Abfallsammelfahrzeuge zu erwerben. Die Menschen werden zunehmend Schwierigkeiten haben, die Gebühren für die Müllabfuhr zu bezahlen, weil ihr Einkommen sinkt. Dadurch werden Umweltthemen für die Politik immer weniger wichtig werden. Dies wird sich negativ auf den Umweltschutz, die Lebensqualität und die Gesundheit der Russ:innen auswirken. Übersetzung aus dem Englischen: Yana Lysenko Eine ausführlichere Analyse des Abfallwirtschaftssystems in Russland ist im IERP-Diskussionspapier der Autorinnen "Environmental Politics in Authoritarian Regimes: Waste Management in the Russian Regions" (Externer Link: https://media.suub.uni-bremen.de/handle/elib/5929) zu lesen. Die Autorinnen bedanken sich bei Grigory Yakovlev für seine Unterstützung bei der Datenerhebung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-06-30T00:00:00"
"2022-06-28T00:00:00"
"2023-06-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-421/509912/analyse-die-politische-oekonomie-der-abfallwirtschaft-in-russland/
Die Abfallwirtschaftsreform sollte Recycling fördern und das russische Hausmüllproblem lösen. Mangelnde Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen behindert jedoch die Reform.
[ "Russland", "Russland", "Russland", "Wirtschaftslobbies", " Oligarchen", "Umwelt", "Korruption und Kriminalität" ]
29,988
Rede von Bundespräsident Johannes Rau | Presse | bpb.de
I. Politische Bildung ist für unser Gemeinwesen und für seine Bürgerinnen und Bürger ein Gebot der Selbsterhaltung. Eine freiheitliche Demokratie ohne politische Bildung zerfällt, und dann werden aus Bürgern Untertanen oder gar Rechtlose. Darum geht politische Bildung alle an. Darum ist die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung wichtig, und darum bin ich heute gern gekommen, um mit Ihnen das fünfzigjährige Bestehen der Bundeszentrale zu feiern und um allen Dank zu sagen, die in und für sie arbeiten. II. Was heißt und zu welchem Ende lehrt und erwirbt man "politische Bildung"? Der Begriff ist aus zwei anderen zusammengesetzt, die je für sich schon schwer genug zu fassen sind. Politisch ist, was das Gemeinwesen als Ganzes betrifft. Politisch sind die Regeln, die Einstellungen, die Verhaltensweisen und die gemeinsamen Aufgaben, die das Zusammenleben in der Bürgerschaft prägen und gestalten. Politisch ist auch der Bereich demokratischer Willensbildung und staatlichen Handelns. Freilich macht er nur einen Teil des Politischen aus. Vieles von dem, was für die Allgemeinheit wichtig ist, leisten die Bürger aus eigenem Recht und aus eigener Verantwortungsbereitschaft. Das Politische ist in einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung eben kein Vorrecht der Parlamente und Regierungen und kein staatliches Monopol, sondern Sache aller Bürgerinnen und Bürger und ein Anliegen der ganzen Gesellschaft. "Bildung" ist, sehr allgemein gesprochen, ein Ensemble von Wissen, Fähigkeiten und Haltungen, das lebenstüchtig und gemeinschaftsfähig macht. Das Wort steht zugleich für den Vorgang des Bildens, der zur Bildung führt und der vor allem ein Vorgang des Sich-selber-Bildens ist, denn so groß das Bildungsangebot auch sein mag, gebildet wird nur, wer sich bildet. Mit dem Wort Bildung kann außerdem schließlich noch die äußere Gestalt gemeint sein, etwa wenn Goethe von der lieblichen Bildung eines Mädchens oder wenn Winckelmann von der Bildung griechischer Statuen spricht. "Politische Bildung" hat es also mit dem Bestand an Kenntnissen, Fähigkeiten und Haltungen zu tun, der nötig ist, um die Angelegenheiten des Gemeinwesens und die politischen Fragen des Zusammenlebens zu verstehen, mitzugestalten und mitgestalten zu wollen. "Politische Bildung" bedeutet zugleich die Vermittlung dieses Bestandes und seine Aneignung durch alle, die sich politisch bilden. Wo von "politischer Bildung" die Rede ist, da schwingt die Frage mit, welches Bild ein Gemeinwesen abgibt, in welcher politischen Verfassung es sich befindet. Politische Bildung soll den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Zusammenleben in Staat und Gesellschaft dienen. Darum muss sie auf die praktische Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse achten und auf breite Anwendung drängen – auf verständiges Beobachten, auf vernünftiges Auswählen und auf das Mittun möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger in den gemeinsamen Angelegenheiten. Das bedeutet auch, dass politische Bildung nicht vom Hier und Jetzt abstrahieren kann, denn sie soll ja der Teilhabe an einer konkreten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung dienen. Natürlich gibt es einen großen Vorrat an Gemeinsamkeiten im Fundus der politischen Bildung aller freiheitlichen Demokratien, und dieser Vorrat wächst dank der europäischen und der internationalen Einigung. Es gibt aber auch Unterschiede. Sie trennen uns nicht von unseren Partnern und Freunden im Ausland, aber sie unterscheiden uns. Sie liegen vor allem in den unterschiedlichen Verfassungsordnungen, in den unterschiedlichen Nationalgeschichten und in den Unterschieden dessen, was man die "politische Kultur" nennt. Das beginnt übrigens schon damit, dass es in vielen anderen Sprachen gar kein Äquivalent für unseren Begriff "politische Bildung" gibt. Politische Bildung in und für Deutschland ist darum immer Bildung im Zeichen des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte mit ihren guten, aber auch mit ihren schrecklichen Kapiteln. III. Politische Bildung findet überall statt, wo die politische Meinung der Bürger und ihr Wissen um die Angelegenheiten des Gemeinwesens beeinflusst werden. Parlamentsbeschlüsse und Behördenbescheide, Fernsehnachrichten und Zeitungskommentare, Erfahrungen am Arbeitsplatz und Gespräche mit Nachbarn, Diskussionen in der Bürgerinitiative und Gespräche am Stammtisch – sie alle können Beiträge zur politischen Bildung sein (wenn auch nicht immer erbauliche). Dazu kommen noch das reiche und von Vielen genutzte Angebot der politischen Parteien und Stiftungen und der breite Strom politischer Literatur, die ja durchaus auch ihre Käufer und Leser findet. Was rechtfertigt da eigentlich zusätzliches staatliches Handeln? Wozu brauchen wir da noch der Anstrengungen der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung, wozu den einschlägigen Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen, bei der Bundeswehr und in den Zivildienstschulen? Droht da nicht eine Indoktrination der Bürger durch den Staat? Man sollte die Frage nicht zu leicht abtun. Schon Wilhelm von Humboldt wandte sich, freilich vor allem Monarchien vor Augen, dagegen, "dass der Staat der Meinung der Bürger auch nur auf irgendeine Weise eine gewisse Richtung geben wolle." Die Weiße Rose geißelte in einem ihrer Flugblätter die "Weltanschauliche Schulung" der Nazis als eine "verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken", und Steffi Spira wünschte sich in ihrer Rede bei der Demonstration auf dem Alex am 4. November 1989 für ihre Urenkel, "dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde". In Westdeutschland rangierte 1984 bei einer Umfrage zu den Feldern staatlicher Verantwortung das Thema "moralische Vorstellungen und Leitbilder der Menschen" ganz am Schluss. Nur 30 Prozent der Befragten wollten dem Staat hier eine Zuständigkeit zusprechen, während 47 Prozent für die Erfüllung dieser Aufgabe auf gesellschaftliche Gruppen und Einrichtungen und 22 Prozent auf private Kräfte wie etwa die elterliche Erziehung verwiesen. Gerechtfertigt ist das staatlich organisierte Angebot politischer Bildung durch die demokratisch legitimierte Entscheidung dafür, also durch den Willen des Volkes. Diese Entscheidung ist Ausdruck einer Überzeugung und einer Erkenntnis: Die Überzeugung lautet: Die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes ist es wert, für ihren Bestand zu werben und für die bewahrt zu bleiben, die nach uns kommen. Aus dieser Überzeugung spricht Zuneigung: zu den Nachkommenden und zu unserer Verfassung. Schon bei Montesquieu steht, die Tugend der Republiken und Demokratien sei "die Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterland". Die Erkenntnis hinter der Entscheidung für staatlich organisierte politische Bildung lautet: Bewahrt werden kann unsere freiheitliche Ordnung auf Dauer nur dann, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger es als eigene Aufgabe erkennen und auf sich nehmen, diese Ordnung zu erhalten. Mit den mittlerweile längst klassischen Worten von Wolfgang Böckenförde gesprochen: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Er ist für seine Freiheitlichkeit auf das Engagement seiner Bürger für das friedliche, für das gute Miteinander und für den Bestand des Gemeinwesens angewiesen, aber er kann dieses Engagement nicht anordnen oder gar erzwingen, ohne eben diese Freiheitlichkeit aufzugeben. Darum ist staatliche politische Bildung unter dem Grundgesetz ihrem Wesen nach nicht Gebot, sondern Angebot, nicht Indoktrination, sondern die Aufforderung, auch in politischen Angelegenheiten selber zu denken, sich sachkundig zu machen und sich kräftig in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Nicht blinden Gehorsam und erzwungene Gefolgschaft will sie erreichen, sondern eigene Einsicht und den freiwilligen Beitrag möglichst Vieler zum Wohle der Allgemeinheit. Das Ziel dieser Bildung ist nicht der "durch sieben Staatsexamina gegangene Patentpreuße", der schon Theodor Fontane zu Recht ein Graus war. Worauf es ankommt, braucht keine langwierigen Studien und formalen Abschlüsse. Nötig sind solide Grundkenntnisse und wacher Bürgersinn. Der nun wurzelt gutteils in denselben Tugenden der Gemeinsamkeit, der Rücksichtnahme und Solidarität, die auch im Familienkreis, in der Nachbarschaft, in der Dorfgemeinschaft oder im Stadtteil nötig sind und geübt werden können. Daran kann und soll politische Bildung anknüpfen, um die Bereitschaft zum Engagement zu stärken und den Sinn für das Politische zu kräftigen. Freilich fragt sich zunächst einmal, wie es denn heute um den Sinn für das Politische und um die Bereitschaft zum politischen Engagement überhaupt bestellt ist. IV. Eine Reihe von Untersuchungen deutet darauf hin, dass der Sinn für Politik und für Politisches zurückgeht. Das Interesse zumindest für Fragen der überregionalen, bundesweiten und internationalen Politik lässt nach. Das mag zum Teil eine Form von Luxus sein, den man sich in Schönwetterperioden glaubt leisten zu können; wenn man sich aber erst in der Krise für Politik interessiert, kann es schon zu spät sein. Zudem gibt es Anlass zur Sorge, dass besonders junge Leute beim Thema Politik abwinken: Nach den Ergebnissen der jüngsten Shell-Jugendstudie bezeichnet sich mittlerweile nur noch jeder dritte junge Mensch zwischen 12 und 24 Jahren als politisch interessiert – vor 20 Jahren war es noch jeder zweite. Laut der jüngsten OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" geben von den deutschen Vierzehnjährigen nur zwei Drittel an, dass sie als Erwachsene wahrscheinlich zur Wahl gehen wollen – in Dänemark und Ungarn haben das neun von zehn Jugendlichen vor. Die ganz überwiegende Mehrheit der Jugendlichen hält zwar unsere Demokratie für eine gute Staatsform, aber sie sind - ganz ähnlich wie immer mehr Erwachsene - mit der politischen Praxis immer weniger zufrieden und sie haben das Gefühl, selber wenig bis gar nichts ändern zu können, selbst wenn sie wählen gehen. Die Gründe für diese Einstellungen sind vielfältig. Zwar bescheinigt die erwähnte OECD-Studie deutschen Jugendlichen politische Kenntnisse, die dem internationalen Durchschnitt entsprechen; aber allzu viele junge und ältere Menschen finden doch die politischen Entscheidungsabläufe zu komplex, zu undurchschaubar und schon allein dadurch abschreckend. Tatsächlich können ja selbst Fachleute in unserem kooperativen, europäisch integrierten und international ausgerichteten Bundesstaat oft nur noch mit Mühe sagen, welche staatliche Ebene und welche supra- und internationale Organisation eigentlich für was zuständig ist. Das große Thema "Reform der föderalen Ordnung" hat darum auch für das politische Interesse, Verständnis und Engagement der Bürgerinnen und Bürger eminente Bedeutung. Freilich sind längst nicht Wissenslücken allein der Grund dafür, dass der Sinn, das Interesse und die Sympathie für das Politische schwinden. Auch Mängel der politischen Praxis tragen dazu gehörig bei. Mitunter könnte man fast glauben, die schwarzen Schafe, die es leider in allen politischen Parteien gibt, hätten sich reihum abgesprochen, damit der Republik nur ja die Skandale und Skandälchen nicht ausgehen. Im politischen Meinungskampf und von den Medien wird allerdings auch aus mancher Mücke ein Elefant gemacht. Auch das trägt zur Politikverdrossenheit und zum Desinteresse an Politik bei. Wohlgemerkt: Niemand leistet einen besseren Beitrag zur politischen Bildung als unabhängige, freiheitlich gesinnte, informative und kritische Medien. Wie groß ihre positive Wirkung sein kann, daran sind wir erst jüngst erinnert worden: In der sogenannten "Spiegel-Affäre" haben sich vor vierzig Jahren die politische Kultur und das demokratische Engagement der Bürger vortrefflich bewährt, und dieser Erfolg war nicht zuletzt gerade dem Beitrag zu verdanken, den "Der Spiegel" bis dahin zur politischen Bildung bereits geleistet hatte. So positiv die Medien ihre öffentliche Aufgabe erfüllen können, so schädlich können sie aber wirken, wenn sie um der Quote und Auflage willen und aus Lust am Knalleffekt dem Publikum Politik nur noch als eine Art Panoptikum unfähiger und selbstsüchtiger Politiker präsentieren. Das liegt fernab der Wirklichkeit, das tut ungezählten Menschen Unrecht, die sich für das Gemeinwohl engagieren, und das richtet unverantwortlichen Flurschaden auf dem Feld der politischen Akzeptanz an. Insgesamt scheinen all diese Faktoren eine Sichtweise und eine Haltung zu begünstigen, die ziemlich scharf zwischen der "Politik der Politiker" und dem eigenen gesellschaftlichen Engagement unterscheidet und trennt. Das läuft für viele Zeitgenossen auf folgende Einteilung hinaus: - hier die beträchtliche eigene Bereitschaft zur freiwilligen Arbeit für gemeinschaftliche Ziele und für andere Menschen, - dort die dem eigenen Einfluss weitgehend entzogen scheinende, schwer verständlich wirkende, streitbeladene und nicht immer appetitlich anzusehende "Politik der Politiker". Immerhin steckt darin auch eine gute Nachricht: Die Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen Engagement ist in Deutschland stark und entwicklungsfähig. Das zeigt eindrucksvoll zum Beispiel der sogenannte Freiwilligensurvey von 1999, eine bundesweite Erhebung der Bundesregierung und der Robert Bosch Stiftung zur ehrenamtlichen Tätigkeit und freiwilligen Arbeit in Deutschland. Die Studie ergab, dass jeder dritte Deutsche über vierzehn Jahren sich freiwillig in Kommunen, Vereinen und Initiativen, Parteien, Kirchen und Gewerkschaften aktiv engagiert, also nicht nur mitmacht – das tun sogar zwei Drittel der Bevölkerung über vierzehn Jahren – sondern freiwillig Aufgaben und Arbeiten übernimmt, für gemeinschaftsbezogene Ziele und für andere Menschen. Dafür gibt jeder dieser Aktiven durchschnittlich immerhin fünf Arbeitsstunden pro Woche. Das Potential für solches freiwilliges Engagement ist obendrein noch längst nicht ausgeschöpft: 40% derer, die noch nicht aktiv sind, sind nach eigenen Angaben bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren – das wären nochmals 20 Millionen Menschen, die in der Gesellschaft mitarbeiten und Verant-wortung übernehmen. Das freiwillige Engagement ist unverzichtbar für den bürgerschaftlichen Zusammenhalt. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die positiven Wirkungen weit über die Gemeinden und Regionen hinausreichen und für die Demokratie als ganze und für alle staatlichen Entscheidungsebenen förderlich sind. Schon Tocqueville hat das eindrucksvoll geschildert, und die heutigen Erfahrungen beim Wechsel von Diktaturen zu Demokratien bekräftigen diesen Befund. Freilich darf die Bereitschaft zum freiwilligen gesellschaftlichen Einsatz nicht mit einer Entfremdung von den größeren politischen Fragen und Zusammenhängen einhergehen oder gar ein Ausdruck dieser Entfremdung sein, gewissermaßen eine "Ausweichbewegung ins Unpolitischere". Dann nämlich droht sich ein Graben zwischen eigenem Engagement und politischem Bewusstsein aufzutun, der für die gesamtstaatliche politische Integration schädlich ist. Das wirft die Frage auf, was eigentlich die Menschen heutzutage dazu bewegt, sich freiwillig zu engagieren. Ist es der Blick auf das große Ganze des Gemeinwesens? Ist es die Tugend von Bürgerinnen und Bürgern, die mit John F. Kennedy fragen, was sie für ihr Land tun können? Nun, die Freiwilligen von heute sehen ihren Einsatz längst nicht mehr vor allem als "Pflichterfüllung", "Opfer" und "Dienst", sondern auch als einen Weg zur Selbstverwirklichung. Das eigene Tun soll Spaß machen, man möchte sympathische Menschen kennen lernen und anderen helfen, und der Einsatz für das Gemeinwohl soll auch die eigenen Kenntnisse und Erfahrungen erweitern und eigenverantwortlich gestaltet werden können. Die Fähigkeit zum selbstlosen Einsatz ist weiter da, aber die Frage: "Was bringt mir das?" ist erlaubt, wird gestellt und verlangt Antworten. Der Motivwandel hat Folgen: Die Bereitschaft zur langfristigen Bindung an große Organisationen mit weit gespannten Zielen und Aufgabenfeldern sinkt, das punktuelle und befristete Engagement gewinnt an Bedeutung, und es wachsen die kritischen Ansprüche der Freiwilligen an den guten Sinn und an die gute Ausführung dessen, wofür sie sich engagieren sollen. Eine zunehmend anspruchsvollere Kundschaft also, mit der es die politische Bildung da zu tun hat: ganz überwiegend gut demokratisch gesinnt, aber mit innerer Distanz zum politischen Betrieb, zum Engagement bereit, doch nur für überzeugend begründete Anliegen und mit dem Wunsch nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, nicht sonderlich geneigt, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen, aber durchaus dafür zu interessieren und zu gewinnen. V. Wo also beginnen? Ich meine, dass zum Fundament der politischen Bildung Klarheit darüber gehört, was Politik ist und in welchen Bahnen sie sich in unserer freiheitlichen Ordnung vollzieht. Obenan sollte dabei die Vermittlung der Erkenntnis stehen, dass Politik ein um der Sache willen nötiges Ringen um Macht und Einfluss ist und dass weder der Zusammenprall widerstreitender Meinungen und Interessen unschicklich ist noch der Kompromiss, der den Streit beendet und die Interessen ausgleicht. Zum Grundrüstzeug gehören auch die Einsicht in den unschätzbaren und unabdingbaren Wert des Verzichts auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung und der Respekt vor dem Ergebnis demokratischer Entscheidungen. Ebenso nötig ist es, die Grundzüge unserer Verfassungsordnung zu kennen und eine deutliche Vorstellung vom Gehalt der Grund- und Menschenrechte und des Rechtsstaates zu haben. Nur wer all das in seiner Bedeutung erfasst, kann wirklich schätzen und kann ermessen, wie viel Freiheit, Frieden und Sicherheit diese Ordnung allen bietet und wie sehr es sich darum lohnt, für sie einzutreten und sie jeden Tag neu mit Leben zu erfüllen. Die Demokratie ist ein Fortsetzungsroman, von dem wir an jedem Tag ein neues Kapitel schreiben müssen. Genauso wichtig ist es, den Menschen den politischen Alltag näher zu bringen: Was passiert eigentlich so auf einer Parteiversammlung und bei einer Sitzung des Stadtrats? Wer sind meine Wahlkreisabgeordneten? Was machen die eigentlich so im Parlament? Wen kann ich ansprechen, wenn ich Hilfe brauche? Welche Chancen habe ich überhaupt, eigene Wünsche politisch durchzusetzen – vom Zebrastreifen vor dem Haus bis zum höheren Kindergeld? Ich glaube, dass es einen sehr großen Bedarf auch an solchen ganz handfesten Informationen gibt. Auf diesem Fundament solider Kenntnisse können dann weitere Angebote aufbauen. Die politische Bildung hat auch die Aufgabe, den Bürgerinnen und Bürgern zu besonders wichtigen Politikbereichen vertiefende Informationen zu bieten: Wie geht es weiter auf dem Weg der europäischen Einigung? Vor welche Herausforderungen stellt uns der Prozess der Globalisierung? Wie gut ist die deutsche Einheit vorangekommen? Welche Chancen und Risiken birgt die Gentechnik? Was ist zu tun, damit Alteingesessene und Zuwanderer im Einwanderungsland Deutschland gut miteinander leben? Welchen Beitrag kann jeder von uns im Kampf gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus leisten? Zu allen diesen Fragen sollte die politische Bildung gut fundiertes Orientierungswissen anbieten. Politische Bildung kann aber natürlich nicht bei der reinen Wissensvermittlung stehen bleiben, so wichtig sie ist. Sie muss auch die Fähigkeiten fördern, die der mündige Bürger für die politische Teilhabe braucht. Das sind keine Spezialkenntnisse, sondern Talente, die in vielen Lebensbereichen nützlich sind: - das Vermögen etwa, einen Streit sachlich zu bewerten und sich selber ein Urteil zu bilden; - das Geschick, die Fülle der Medien effizient und mit dem nötigen kritischen Blick zu nutzen; - die Fähigkeit, eigene Interessen zu definieren, sie angemessen zu begründen und dafür Zustimmung zu organisieren. Kurzum: Es geht im Grunde darum, sich zum Denken des eigenen Kopfes zu bedienen, Meinungsverschiedenheiten mit Respekt vor dem anderen und konstruktiv auszutragen, vernünftige Kompromisse zu finden und den Grundsatz zu beherzigen: Trau, schau wem. Diese Fähigkeiten erwerben sich nicht per Frontalunterricht und auch nicht durch Abschreiben von der Wandtafel. Sie wollen praktisch eingeübt sein. Darum muss die politische Bildung hinein in die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger, sie muss Beteiligungsmöglichkeiten schaffen und Trainingsfelder für gute Demokraten. Die Möglichkeiten dazu sind schier unbegrenzt: Sie reichen von der Ausbildung von Streitschlichtern in Schulen über den studentischen Debattierclub bis zum Lehrgang, wie man eine Bürgerinitiative organisiert. Dazu will ich mit einer Initiative beitragen, die ich vor zwei Tagen im Schloss Bellevue der Öffentlichkeit vorgestellt habe: Der Bundeswettbewerb "Jugend debattiert". Er soll junge Menschen ermutigen und in die Lage versetzen, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. "Jugend debattiert" verbindet einen Wettbewerb, in dem Schüler nach genau fest gelegten Regeln debattieren, mit Trainingsphasen, die der sprachlichen und der politischen Bildung gelten. Teilnehmen können Schülerinnen und Schüler aus den Jahrgängen 8 bis 13 an weiterführenden und berufsbildenden Schulen. Der Bundeswettbewerb "Jugend debattiert" steht unter meiner Schirmherrschaft und wird von mehreren großen Stiftungen getragen: der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Robert-Bosch-Stiftung, der Heinz-Nixdorf-Stiftung und der Stiftung Mercator. Die Kultusministerkonferenz und die Bildungs- und Kultusminister aller Länder unterstützen ihn. Übrigens: die Idee dieses Wettbewerbs geht auf bürgerschaftliches Engagement zurück. Vor zehn Jahren hat sich ein Verein "Jugend streitet" gebildet und sich zum Ziel gesetzt, die sprachliche und politische Bildung junger Menschen zu verbessern und damit die demokra-tische Kultur unseres Landes zu beleben. Wer für die Bürgerschaft Vortreffliches leistet, verdient Anerkennung. Darum ist es gut und richtig, dass die Bundeszentrale für politische Bildung den Preis für Verdienste um die deutsche Einheit gestiftet hat. Ich habe nachher das Vergnügen, den Preis in der Kategorie "Begegnung in der Einheit" zu überreichen. Das Wort "Vergnügen" wähle ich mit Bedacht, denn der Preis geht an jemanden, der ein wichtiges Thema mit leichter Hand zu vermitteln weiß: Herr Döll aus Felsberg in Hessen gewinnt den Preis der Bundeszentrale für ein von ihm ins Leben gerufenes Kabarettfestival. In der Begründung der Jury heißt es "Kleinkunstfestival", doch in Wahrheit ist es eine große Kunst, die Herr Döll beherrscht: Er hat vielen Menschen aus Ost und West dazu verholfen, einander kennen zu lernen, miteinander zu lachen und ins Gespräch zu kommen. Begonnen hat alles in Thüringen und Hessen, mittlerweile sind auch Orte in Niedersachen, Sachsen-Anhalt und Bayern dabei, und nun ist das Festival sogar hier in Berlin angekommen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Döll! Ich habe von dem Wissen gesprochen, das politische Bildung vermitteln muss und von den Fähigkeiten, die sie fördern soll. Alles Wissen über Politik und alle politischen Fähigkeiten freilich nutzen nichts, wenn sie nicht eingesetzt werden. Entscheidend ist, wie sich die Bürgerinnen und Bürger auf Dauer verhalten, welche Haltung sie in sich ausbilden. Die politische Bildung unserer freiheitlichen Demokratie zielt auf eine Haltung, deren Zeichen Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn, Solidarität, Toleranz und Verantwortungsbereitschaft für das Gemeinwesen sind; und alle diese Tugenden beweisen sich allein durch die Tat. Erich Kästner hat das einmal so ausgedrückt: "Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breitmacht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder einzelne zur Hilfe mitaufgerufen, nicht nur die jeweils 'zuständige' Stelle. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt. Und jeder von uns (...) muss es spüren, wenn die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handle, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem. Fühlt er es nicht, so muss er´s fühlen lernen. Beim einzelnen liegt die große Entscheidung."
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-08-29T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2022-08-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50977/rede-von-bundespraesident-johannes-rau/
Rede von Bundespräsident Johannes Rau. Anlass war der Festakt zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeszentrale für politische Bildung am 23. November 2002 in Berlin.
[ "Unbekannt (5273)", "Bundespräsident" ]
29,989
"Verfemte Musik" - Projektarbeit in Schwerin | Kulturelle Bildung | bpb.de
Interner Link: Link zur Methode von "Verfemte Musik" Wie alles begann Im Jahr 1996 wurde im Rahmen der Musikschularbeit des Konservatoriums Schwerin ein Projekt gesucht, an dem möglichst viele Kinder teilnehmen sollten. Das Leitungsteam stieß so während der Recherche auf ein durch die Jeunesses Musicales Deutschland initiertes Jugendprojekt, nämlich die Kinderoper "Brundibár“ des Komponisten Hans Krasa. Insgesamt wurde die Inzenierung mehrmals in Schwerin, später dann in Dänemark und im Jahr 1997 in Israel aufgeführt. An diesem Musikschulprojekt waren ca. 70 Kinder und Jugendliche beteiligt. Während der Einstudierungsphase wurde schnell erkannt, dass neben der Musikaufführung eines verfemten, also von den Nationalsozialisten geächteten, verfolgten oder ermordeten, Komponisten ein enormes Potenzial für die Aufarbeitung der deutschen, europäischen und nicht zuletzt der Geschichte des Staates Israel bestand. Der Komponist Hans Krása (1899-1944) wurde von Prag nach Interner Link: Theresienstadt verschleppt und später gemeinsam mit vielen weiteren bedeutenden Musikern nach Auschwitz deportiert, wo er im Oktober 1944 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurde. Dieser Tatsache geschuldet wurde ein Weg gesucht, pädagogische und künstlerische Ideen zu verbinden und neben moralischen und ethischen Aspekten zusätzlich auch historisch-didaktische Ansätze in der Vermittlung musikalischer Werte mit einzubeziehen. Allgemeinbildende Schulen wurden in die Projektarbeit eingebunden. Die Schaffung von Ausstellungen im Begleitprogramm, Besuche von Zeitzeugen in Schulen und vielfältige Öffentlichkeitsarbeit wurde dann Basis für spätere Projekte in der Thematik Verfemte Musik, die bis heute durchgeführt werden. Es entstanden Kontakte zu Überlebenden des Holocaust aus Deutschland und Israel, die dann später zu öffentlichen Veranstaltungen nach Schwerin eingeladen wurden. Es gelang, Fernsehteams zur Dokumentation von Aufführungen zu bewegen und bei der Konzertreise nach Israel wertvolle Bild- und Tondokumente zu schaffen, die heute noch für Bildungszwecke oder bei Gedenkveranstaltungen gezeigt werden und die auch im Internet zugänglich sind . Weiterentwicklung des Projektes Seit der Aufführung der Kinderoper in Israel entwickelte sich ein intensiver Kontakt zur Gedenkstätte Beit Theresienstadt im Kibbuz Girat Chaim Ichud in Israel. Weitere Organisationen in Theresienstadt und Deutschland wurden Partner des Konservatoriums Schwerin und des Landesverbands Jeunesses Musicales Mecklenburg-Vorpommern als zukünftig durchführende Trägerorganisation. Unter dem Titel “History, Music & Remembrance“ wurden zwischen 1999 und 2003 unter Leitung von Volker Ahmels, Prof. Dr. David Bloch († 2010) und Anita Tarsi Meisterkurse in Israel mit Überlebenden des Holocaust als Dozenten veranstaltet, zunächst auf bilateraler Basis mit jungen deutschen und israelischen Musikern und später mit internationalen jungen Künstlern. Diese Form der Meisterkurse war sicherlich weltweit einmalig. Der Lerneffekt und die Motivation wurden durch die aktive künstlerische Gestaltung und durch die Aufführung von Musikwerken verfemter Komponisten geprägt. Gerade durch die künstlerische Vermittlung der Zeitzeugen wurde die Begegnung mit den ihnen authentisch und weichenstellend für die weitere Entwicklung der jungen Musiker. Prominente Politiker und Botschafter übernahmen die Schirmherrschaft dieser Projekte, wie z.B. SE Avi Primor und SE Rudolf Dressler. In unvergesslicher Erinnerung bleibt die Gestaltung der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3.10.2001 in der Residenz des damaligen Deutschen Botschafters Rudolf Dressler, bei der Deutsche und Israelis gemeinsam die Nationalhymnen beider Länder sangen und musizierten, was aufgrund der Geschichte beider Länder alles andere als selbstverständlich war. Auch für die eingeladenen Zeitzeugen war dieser Versöhnungsakt ein einmaliges Erlebnis. Der anwesende Shimon Peres zeugte großen Respekt vor dieser gemeinsamen Projektarbeit. Der künstlerische, pädagogische und historische Ansatz führte schließlich zu der Schaffung des Festivals Verfemte Musik in Schwerin, das seit dem Jahr 2001 in der Landeshauptstadt Schwerin veranstaltet wird, seit 2002 im 2-jährigen Rhythmus. Das Festival Verfemte Musik in Schwerin Anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus für den 27.1.2001 entstand die Idee, ein Musik-Festival zu veranstalten. Es wurde die erste Kooperation des Landesverbandes Jeunesses Musicales Mecklenburg-Vorpommern mit dem Konservatorium Schwerin und der Akademie für politische Bildung unter der Leitung von Dr. Wolfgang Donner. Die musikalisch-künstlerische Ausgangssituation bestand darin, dass nur Musikwerke von Komponisten erklingen sollten, die durch die Nationalsozialisten verfolgt wurden. Die Erfahrungen mit den Meisterkursen in Israel hatten gezeigt, dass die Vorbereitung von kammermusikalischen Werken von Komponisten wie Viktor Ullmann oder Pavel Haas extrem aufwändig waren. Daher sollte ein Interpretationswettbewerb zusätzliche Motivation schaffen. Dabei wurden Zeitzeugen in die Jurys berufen, die das KZ Theresienstadt oder das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben, u.a. der Violinprofessor Paul Kling († 2005) oder die Pianistin Edith Kraus (geb. 1913). Bei den Wettbewerben wurden für das Rahmenprogramm Themenschwerpunkte gesetzt, wie zum Beispiel die Schülerausstellung "Warschauer Ghetto“, die von mehr als 1200 Gästen besucht wurde. Die überwältigende Anerkennung führte zu einer Übersetzung der Ausstellung ins Englische. Die überarbeitete Version wurde 2007 im Museum of Tolerance in Los Angeles durch die Schüler/-innen des Gymnasiums Fridericianum präsentiert, im Rahmen einer Konzerttournee der Wettbewerbs-Preisträger/-innen. Etwa 10.000 Besucher/-innen sahen die Ausstellung in Los Angeles. Im Rahmen des Projektes "Verfemte Musik“ 2008 wurden die Lebenswege deutschsprachiger Künstler ins kalifornische Exil in einer Ausstellung erarbeitet. Inhaltlicher Schwerpunkt war der weltberühmte Pianist und Pädagoge Artur Schnabel, dessen Kompositionen bis heute nahezu unbekannt sind. Trotz seiner internationalen Anerkennung und seiner Einbindung in das Deutsche Kulturleben verließ er 1933 Deutschland und emigrierte später in die USA. Das Festival und der Wettbewerb Verfemte Musik fanden im Jahr 2010 unter der Schirmherrschaft der Oberbürgermeisterin von Schwerin, Angelika Gramkow und des Stadtpräsidenten von Oświęcim (Auschwitz), Janusz Marszalek statt. Im Mittelpunkt der Aktivitäten des Festivals stand das Leben und Werk des polnisch-französischen Komponisten und Pianisten Alexandre Tansman, der auf Grund des Krieges und der Judenverfolgung 1941 in die USA fliehen musste. Dank der Recherchearbeit des Landesverbands sind viele Informationen über sein Schicksal erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Diese Rechercheergebnisse führten dazu, dass eine 6. Klasse des Schweriner Gymnasiums Fridericianum mit ihrer Lehrerin und einer Theaterpädagogin ein Theaterstück über die Flucht der Familie Tansman ins Exil erarbeitete und aufführte. Darüber hinaus konzipierten und erstellten Studierende der Hochschule für Musik und Theater Rostock eine Ausstellung zum Leben und Werk von Alexandre Tansman mit etlichen Originaldokumenten und Hörstationen. Die Projekte im Rahmen von "Verfemte Musik“ waren stets geprägt durch die aktive Teilnahme von Zeitzeugen aus Europa, Israel, den USA und Kanada . Weitere Bestandteile des Festivals "Verfemte Musik“ sind durch Zeitzeugen und Historiker gestaltete Vorträge und zahlreiche Sonderkonzerte. Seit 2001 tritt der international anerkannte Jazzmusiker und Auschwitzüberlebende Coco Schumann auf. Weiterhin waren Prof. Dr. Barbara Zeisl Schoenberg (Los Angeles), Schwiegertochter von Arnold Schönberg und Dr. Gottfried H. Wagner (Mailand), Urenkel von Richard Wagner zu Gast. Charlie Chaplins Sohn Michael hielt einen beeindruckenden Vortrag über den Film "Der große Diktator“. Der Sohn des italienischen Komponisten Aldo Finzi besuchte einen Konzert- und Gesprächsabend, der seinem Vater gewidmet war, der in seinem Heimatland wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt wurde. Etablierung der Aktivitäten im Bundesland Mecklenburg- Vorpommern Im Jahr 2008 wurde in Rostock an der Hochschule für Musik und Theater das Zentrum für Verfemte Musik unter der Leitung von Volker Ahmels eingerichtet, das in Kooperation mit Schulen, dem Bildungsministerium und dem Landesverband Jeunesses Musicales Mecklenburg-Vorpommern sowie weiteren Partnerinstitutionen in Europa wie dem Verein exilarte in Wien (Prof. Dr. Gerold Gruber) Lehrveranstaltungen, Konzerte, Fortbildungen und Forschungsarbeit durchführt. Eine mittlerweile beachtliche Sammlung von Noten und Videodokumenten ist in Schwerin beheimatet. Diese soll jungen Künstlern/-innen, Lehrkräften und Wissenschaftlern/-innen Möglichkeiten zur Entdeckung und Hilfestellung bei der Recherche unbekannter Musikwerke geben. Z.B. bei Externer Link: www.lernen-aus-der-geschichte.de Ein weiteres Schülerprojekt, das die Lebensgeschichte des Komponisten Izzy Fuhrmann in einer Ausstellung präsentiert, wird hier beschrieben: Interner Link: http://www.bpb.de/lernen/unterrichten/42363/izzy-fuhrmann
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Volker Ahmels
"2022-01-12T00:00:00"
"2012-02-22T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/65397/verfemte-musik-projektarbeit-in-schwerin/
Musik von Komponisten, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, steht im Mittelpunkt der Projektreihe "Verfemte Musik“ in Schwerin. Zahlreiche internationale Kooperationen, Wettbewerbe und das Festival verbinden sehr engagiert musikalische un
[ "Verfemte Musik" ]
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Seidenstraße vor Ort | Chinas neue Seidenstraßen | bpb.de
In diesem Beitrag stelle ich mehrere Projekte der "neuen Seidenstraßeninitiative", im Englischen bekannt als "Belt and Road Initiative" (BRI), vor. Eine Übersicht über alle Projekte zu erhalten ist sehr schwierig, denn die chinesische Regierung führt keine offizielle Liste mit BRI-Projekten. Es gibt keine allgemein zugänglichen Informationen zu Projektfortschritten und auch keine Definition darüber, was laut Beijing ein "BRI-Projekt" ausmacht. In den Reden chinesischer Offizieller werden einzelne Projekte erwähnt, allerdings nicht ausführlich erläutert. In BRI-Dokumenten werden fünf "Kooperationsprioritäten" aufgeführt, aber diese Prioritäten, die von der "Vernetzung von Einrichtungen" bis hin zur "Förderung zwischenmenschlicher Beziehungen" reichen, sind so abstrakt, dass sie praktisch alle möglichen Aktivitäten umfassen können. Die BRI ist somit sehr breit angelegt, und ihre Grenzen sind nicht klar umrissen, weshalb es nicht möglich ist, mit einer begrenzten Auswahl von Beispielen ein schlüssiges Gesamtbild der Initiative zu zeichnen. Dennoch soll die Vorstellung einzelner Projekte es ermöglichen, Einblicke in die geografische Verteilung, in die verschiedenen Wirtschaftssektoren und in unterschiedliche thematische Schwerpunkte der BRI zu erhalten. BRI-Projekte als Türöffner für Staatsunternehmen Autobahn Bar-Boljare in Montenegro Die knapp einen Kilometer lange Morača-Brücke, die sich in 200 Metern Höhe über die gleichnamige Schlucht spannt, bildet den Höhepunkt eines 41 Kilometer langen Autobahnprojekts, das von Smokovac in der Nähe der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica nach Mateševo im Norden führt. Es ist Teil eines langfristigen Vorhabens, den Hafen von Bar an der Küste Montenegros mit Boljare an der serbischen Grenze zu verbinden. Der Abschnitt von Smokovac nach Mateševo ersetzt eine kurvige zweispurige Straße. Die neue Strecke mit ihren 20 Brücken und 16 Tunneln, die auf direktem Weg durch die gebirgige Landschaft Montenegros führt, verkürzt die einst gefährlichen 180 Kilometer zu einer deutlich sichereren 30-minütigen Fahrt. Allerdings hat diese beeindruckende Ingenieursleistung einen stolzen Preis. 85 Prozent der Kosten für den Bau, der von der China Road and Bridge Corporation (CRBC) durchgeführt wird, sind durch einen Kredit der Export-Import Bank of China (Exim) gedeckt, einer staatlichen chinesischen Bank, die sehr aktiv bei der Finanzierung von BRI-Projekten ist. Unter Berücksichtigung von Währungsschwankungen und zusätzlichen Arbeiten wird sich der Preis der Autobahn bei Fertigstellung auf über eine Milliarde Euro belaufen. Das ist viel Geld für eine Strecke von 41 Kilometern. Der Preis ist allerdings noch höher, wenn man ihn ins Verhältnis zur Größe Montenegros setzt – einem Land, in dem weniger Menschen als in Frankfurt am Main leben und dessen Bruttoinlandsprodukt etwa dem der Stadt Bamberg entspricht. Die Bemühungen um den Bau der Autobahn reichen noch in die Zeit vor Montenegros Unabhängigkeit 2006 zurück. Montenegro wandte sich zunächst an die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und die Europäische Investitionsbank (EIB), doch die Finanzinstitute waren skeptisch bezüglich des wirtschaftlichen Nutzens im Verhältnis zu den Kosten. 2010 nahmen Mitglieder der montenegrinischen Regierung inoffiziell Kontakt zu chinesischen Stellen auf und verkündeten schließlich 2013, CRBC werde die Autobahn bauen, wobei sie gleichzeitig einen von der EIB unterstützten Vorschlag ablehnten, stattdessen bestehende Straßen auszubauen. Der Abschnitt von Smokovac nach Mateševo ist ein typisches Beispiel für die BRI, weil er einen weit verbreiteten Kritikpunkt an der Initiative illustriert und die Mechanismen chinesischer Finanzierung von Infrastrukturprojekten weltweit aufzeigt: Gäbe es China nicht, wäre die wirtschaftlich fragwürdige Autobahn wahrscheinlich gar nicht gebaut worden. Im Rahmen der BRI ermöglicht China den Projektländern ein – wie manche Analysten sagen würden – wirtschaftlich unverantwortliches Handeln. Wählt man eine andere Perspektive, könnte man sagen, dass Beijing mit seinem Ansatz, den Partnern keine Vorschriften zu machen, auf die von den Projektländern geäußerten Bedürfnisse eingeht. Beijing hebt Chinas Identität als Entwicklungsland hervor und positioniert sich im Gegensatz zu westlichen Institutionen als Partner, der andere Länder nicht von oben herab behandelt, sondern ihre Wünsche akzeptiert. Beijing und auch die lokalen Eliten vermarkten die Finanzierung der BRI-Projekte oft damit, dass diese an keine Bedingungen geknüpft sei. Da man chinesische Kredite oft einfacher bekommt und sie mit weniger Auflagen verbunden sind als westliche Finanzierungen, trifft das in gewisser Weise auch zu. Eine wichtige Bedingung gibt es allerdings doch: Das Projekt muss zum wirtschaftlichen Vorteil Chinas sein. So folgen Projekte wie die Autobahn in Montenegro dem Modell des gebundenen Kredits, bei dem die Finanzierung daran geknüpft ist, dass der Auftrag an ein chinesisches Unternehmen geht. Ein weiteres Verkehrsprojekt in Europa, das ebenfalls im Juli 2022 eingeweiht wurde, macht deutlich, wie Beijing dieses Modell zu seinem Vorteil nutzt. Pelješac-Brücke in Kroatien Die Pelješac-Brücke verbindet den südlichsten Zipfel Kroatiens mit dem kroatischen Festland und umgeht so den Neum-Korridor, einen schmalen Küstenstreifen, der zu Bosnien und Herzegowina gehört. Wie der Abschnitt von Smokovac nach Mateševo auf der Bar-Boljare-Autobahn wurde die Brücke von der chinesischen Staatsfirma CRBC gebaut. Doch im Gegensatz zur montenegrinischen Autobahn wurden die 420 Millionen Euro Baukosten für die Pelješac-Brücke unter anderem mit 375 Millionen Euro aus dem EU-Kohäsionfonds bezahlt. Der Auftrag für die Pelješac-Brücke wurde im Rahmen einer offenen und transparenten öffentlichen Ausschreibung vergeben. Dennoch verärgerte die Entscheidung für CRBC europäische Baufirmen wie die Strabag, die sich an der Ausschreibung beteiligt hatten und feststellen mussten, dass ihr Angebot um 20 Prozent unterschritten worden war. Obwohl das Verwaltungsgericht in Zagreb eine Klage der Strabag auf Verschiebung des Brückenprojekts abwies, verstärkte sich in der Folge die Sorge über einen Wettbewerbsvorteil subventionierter chinesischer Unternehmen beim Zugang zum EU-Markt. CRBC konnte die Ausschreibung in diesem Fall zwar ohne eine günstige Finanzierung durch eine chinesische Bank für sich entscheiden. Allerdings wäre es vermutlich nie dazu gekommen, wenn der chinesische Staat nicht schon zuvor in der Region aktiv gewesen wäre. Kredite für Projekte wie die montenegrinische Autobahn fungierten praktisch als staatliche Subventionierung, die es CRBC ermöglichten, sich mit dem Umfeld und den herrschenden Regularien vertraut zu machen und sich gleichzeitig wertvolles Projektwissen anzueignen. Hier zeigt sich eine der wesentlichen treibenden Kräfte für die BRI: die Förderung chinesischer Staatsunternehmen, mit dem Ziel, sie global wettbewerbsfähig zu machen. Mit chinesischen Finanzmitteln als Türöffner verschafft die BRI chinesischen Staatsunternehmen einen besseren Marktzugang und stärkt ihre wirtschaftliche Dominanz in den Projektländern. Das Modell der gebundenen Kredite findet sich auch bei der Finanzierung von anderen BRI-Projekten in Europa wieder. In EU-Ländern, wo diese Vorgehensweise durch das Gesetz zur öffentlichen Auftragsvergabe verboten ist, ist Beijing nur an wenigen Infrastrukturprojekten beteiligt. Der Schwerpunkt der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und China liegt auf dem Handel und ausländischen Direktinvestitionen, nicht aber auf Infrastrukturprojekten. Doch in europäischen Ländern, die nicht der EU angehören und deren Vorschriften lockerer sind – oder nicht ganz so streng umgesetzt werden –, ist das BRI-Modell weit verbreitet. Wiederbelebung kontinentaler Konnektivität Khorgos Gateway in Kasachstan Der offizielle Start der BRI war 2013 in Kasachstan, als der chinesische Staatspräsident Xi Jinping an einem Rednerpult der Nasarbajew-Universität in der Hauptstadt Astana stand und seine Absicht verkündete, einen "Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtel" (Silk Road Economic Belt) durch Eurasien zu bauen. Xi versprach, dass die neue BRI ein "großartiges Vorhaben" werde, von dem "die Menschen aller Länder entlang der Route" profitieren würden. In Ländern wie Kasachstan, das an der Peripherie bestehender Handelsrouten liegt, galt die durch China in Aussicht gestellte Konnektivität als Schlüssel für zukünftiges Wachstum. Das Konzept der BRI geht mittlerweile weit über Eurasien hinaus und umfasst sogar Lateinamerika, doch seine Ursprünge liegen in der Idee einer kontinentübergreifenden Verbindung zwischen den beiden Polen des eurasischen Superkontinents. Bereits der Name nimmt Bezug auf den Mythos der alten Seidenstraßen in Zentralasien und die zentrale Position Eurasiens. Mit dem Rückgriff auf die glorreiche Vergangenheit Zentralasiens macht die Initiative Versprechen für die Zukunft. Sie erzählt die Geschichte eines wiederauferstehenden trans-euroasiatischen Handels und verheißt eine Ära des allgemeinen Wohlstands, gestützt auf eine verstärkte Vernetzung. Kein anderes Projekt in Zentralasien fängt diese chinesische Vision besser ein als das Khorgos Gateway. Angepriesen als Kronjuwel des wiederauflebenden Ost-West-Handels entlang der BRI wird das Khorgos Gateway, das in der Nähe des "eurasischen Pols der Unzugänglichkeit" liegt, von internationalen und chinesischen Medien als Handelszentrum dargestellt, das aus dem Wüstenstaub und der bisherigen geografischen Versenkung auferstanden ist. Die Realität ist etwas prosaischer. Tatsächlich bezieht sich der Name Khorgos auf zwei separate Projekte der Initiative. Das eine, Khorgos Gateway, ist ein Güterumschlagplatz, an dem Kasachstan die Mehrheit der Anteile hält. Bei diesem sogenannten Trockenhafen wird chinesische Fracht von Zügen mit chinesischer Spurbreite auf Züge mit russischer Spurbreite umgeladen, bevor sie ihre Fahrt nach Westen fortsetzt. Das andere Projekt ist ein internationales Zentrum für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (Centre of Cross-Border Cooperation, ICBC) – eine visafreie neutrale Zone, die sich über die kasachisch-chinesische Grenze erstreckt und als zollfreies Einkaufsviertel in der Größe einer Stadt fungiert. Khorgos wächst schnell, dennoch wurde seine Bedeutung für den Welthandel überschätzt. 2021 wurden in Khorgos 210000 TEU (Twenty-Foot Equivalent Units) umgeschlagen, eine standardisierte Einheit zur Erfassung von Frachtkapazitäten. Das ist eine erhebliche Menge und eine gewaltige Steigerung im Vergleich zu den 136000 TEU im Jahr 2018, allerdings sollte man die Zahlen in einem größeren Zusammenhang betrachten, um sie besser einordnen zu können. Ein Containerschiff der größten Klasse hat heute eine Kapazität von rund 20000 TEU, also bereits ein Zehntel der 2021 in Khorgos umgeschlagenen Warenmenge. Außerdem wurden 2021 nur 5,2 Prozent des gesamten Handels zwischen der EU und China per Bahn abgewickelt. Auch der Erfolg der ICBC-Zone ist überschaubarer, als die Medien in der Vergangenheit suggerierten. Ursprünglich als Handelszone zum Vorteil beider Seiten konzipiert, hat sich das ICBC sehr einseitig zu einem Lager für billige chinesische Konsumgüter entwickelt. Wie bei vielen chinesischen Projekten in Zentralasien haben Korruption und ausufernde Bürokratie zur Folge, dass die Realität weit hinter der ursprünglichen Vision zurückbleibt. Während auf der chinesischen Seite eine Reihe von Wolkenkratzern und futuristischen Ausstellungsgebäuden dominiert, entwickelt sich die kasachische Seite nur langsam. Die wenigsten chinesischen Projekte in Zentralasien halten mit den großen BRI-Narrativen über eine kontinentübergreifende Konnektivität Schritt. Selbst Verkehrsprojekte wie die Nord-Süd-Straße in Kirgisistan oder der Kamchiq-Tunnel in Usbekistan fungieren eher als lokale Verbindungen, anstatt Teil der BRI-Korridore zu sein. Die meisten Projekte werden von lokaler Seite vorgeschlagen, es gibt keine chinesische Blaupause, der die Projekte folgen. Will man die treibenden Kräfte hinter den Projekten untersuchen, sollte man daher zuerst den lokalen Kontext betrachten, als sich auf die Berichte in den Medien zu stützen, die die BRI als Marke verkaufen. Ein neuer "Qualitätsansatz" Nairobi Expressway in Kenia Der Nairobi Expressway, eine 27 Kilometer lange Schnellstraße, die die kenianische Hauptstadt mit ihrem wichtigsten Flughafen verbindet, steht für die veränderte Zielsetzung, die sich in BRI-Projekten zurzeit zeigt. Durch die Fahrzeitverkürzung von zwei Stunden auf 20 Minuten ist die Schnellstraße für lokale Pendler ein echter Fortschritt. Im Gegensatz zu vielen anderen Projekten der BRI wurde der Bau nicht über einen chinesischen Kredit finanziert. China ist seit den 1960er Jahren an Infrastrukturprojekten auf dem afrikanischen Kontinent beteiligt und in den meisten afrikanischen Ländern wirtschaftlich sehr präsent. Der Handel zwischen China und den Staaten Afrikas stieg von 9,86 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 auf 175,91 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020. Zwischen 2000 und 2019 haben chinesische Geldgeber Darlehen in Höhe von 153 Milliarden US-Dollar an öffentliche Kreditnehmer vergeben. Doch in den vergangenen Jahren sind die BRI-Kredite drastisch zurückgegangen; 2020 wurden nur 1,9 Milliarden US-Dollar vergeben. Das spiegelt einen allgemeinen Trend wider, der auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen ist, darunter auch ein Umdenken, was Beijings Risikofreude bei der Kreditvergabe angeht. Dazu kommt eine wachsende Anzahl von Ländern, die Projekte aufgrund der Sorge vor einer Verschuldung abgesagt oder verschoben haben. Generell kann man jedoch sagen, dass die chinesische Führung die treibende Kraft hinter dieser Neuausrichtung ist und stärker darauf achtet, ob Projekte verantwortbar finanziert werden können. Beijing präsentiert diesen Wandel als Qualitätsförderung. Im innenpolitischen chinesischen Kontext ist "qualitativ hochwertige Entwicklung" ein nebulöses Konzept, das eine allgemeine Verbesserung in der chinesischen Wirtschaft impliziert. Beim zweiten Forum zur BRI 2019 wurde die Forderung nach "hoher Qualität" erneut hervorgehoben. Sie bedeutet in diesem Zusammenhang eine stärkere Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und unter anderem die Betonung grüner und digitaler Aspekte. Zum Teil ist das ein rhetorischer Schachzug, der durch die nationale und internationale Kritik an der mangelnden Transparenz und Nachhaltigkeit der Projekte motiviert ist. Dahinter steht aber auch die Notwendigkeit, die Qualität der Projekte tatsächlich zu verbessern und gleichzeitig ihre Kosten zu senken. Auf dem Papier rückt die BRI mit ihrer verstärkten Betonung der Nachhaltigkeit näher an westliche Normen bei der Finanzierung von Entwicklungs- und Infrastrukturprojekten. Ähnlich verhält es sich beim Einsatz privaten Kapitals. Westliche Reaktionen auf die BRI wie die "Global Gateway"-Initiative der EU erklären in ihren Richtlinien, den Privatsektor zu nutzen, um die globale Nachfrage nach Infrastruktur zu befriedigen, und auch der neue "Qualitätsansatz" der BRI nennt innovativere Finanzierungsmethoden. Chinesische Offizielle sprechen im Zusammenhang mit Projekten zunehmend von Private Public Partnership (PPP). Tatsächlich wurde der Nairobi Expressway nicht über Kredite finanziert, sondern über PPP. CRBC hat den Bau der Schnellstraße vorfinanziert, wird sie 27 Jahre lang betreiben und die Mautgebühren erhalten, bevor die Straße an den kenianischen Staat übergeht. Da die CRBC ein staatliches Unternehmen ist, ist das Projekt nicht direkt privatwirtschaftlich finanziert. Dennoch steht es für eine Veränderung bei der BRI-Finanzierung. Im Gegensatz zu einem anderen Projekt in Kenia, der Standard Gauge Railway (SGR), die Nairobi mit der Hafenstadt Mombasa verbindet, liegt die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg des Vorhabens nicht bei der kenianischen Regierung. Aufgrund der Verluste der SGR lief die kenianische Regierung Gefahr, den Kredit in Höhe von 3,2 Milliarden US-Dollar nicht mehr bedienen zu können, den sie bei einer staatlichen chinesischen Bank für den Bau des Projekts aufgenommen hatte. Die Rentabilität des Nairobi Expressway ist mit ähnlichen Fragezeichen versehen. Da die Straße nicht über einen Kredit finanziert wurde, liegt die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg jedoch bei der CRBC. Der Einsatz alternativer Finanzierungsmechanismen ist nur ein Aspekt der Qualitätsoffensive. Er verdeutlicht jedoch, dass sich chinesische und westliche Entwicklungskonzepte annähern und die BRI anpassungsfähig ist. Digitale Seidenstraße Huawei in Indonesien Im August 2022 wählte der chinesische Telekommunikationsriese Huawei zehn indonesische Studenten für die Teilnahme an einem Programm zur Talentförderung in Bangkok aus, das Huawei "Seeds for the Future" nennt. Ein leitender Angestellter von Huawei Indonesien erklärte dazu: "Seeds for the Future ist Teil des anhaltenden Engagements von Huawei in Indonesien (…). Wir haben uns verpflichtet, bis 2025 mindestens 100000 digitale Nachwuchskräfte auszubilden. Bis heute haben wir bereits 64000 gefördert und damit über die Hälfte unserer Zielsetzung erreicht." In Südostasien finden sich viele der bekanntesten BRI-Infrastrukturprojekte, darunter der Tiefseehafen Kyaukphyu in Myanmar und die Hochgeschwindigkeitsstrecke Jakarta-Bandung in Indonesien. Doch bei der BRI geht es um mehr als um die physische Infrastruktur. Mittlerweile steht die "Informations-Seidenstraße", später in "digitale Seidenstraße" umbenannt und neu vermarktet, im Vordergrund. Denn Beijing wendet sich zunehmend von Infrastrukturdarlehen in großer Höhe ab und konzentriert sich stattdessen auf Hightech- und digitale Branchen. Die digitale Seidenstraße wurde 2015 vorgestellt. Beim zweiten Forum zur BRI 2019 setzte Staatspräsident Xi Jinping die Kooperation in der digitalen Wirtschaft und eine innovationsgetriebene Entwicklung als neue Priorität. Der Vorsprung von Huawei gegenüber den Vereinigten Staaten beim weltweiten Übergang zur 5G-Technologie sorgte für besonders viele Schlagzeilen, doch die digitale Seidenstraße umfasst auch "Smart Citys", den E-Commerce, Künstliche Intelligenz und andere Anwendungen im Zusammenhang mit der digitalen Wirtschaft. Wie bei der BRI im Ganzen gibt es keine konkrete Route, keine Blaupause oder Definition, was ein Projekt der digitalen Seidenstraße ausmacht. Vielmehr umschreibt diese Bezeichnung die Bereiche der BRI, die Digitalität und Innovationen betreffen. China ist seit 2009 der wichtigste Handelspartner des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN). Obwohl die Volksrepublik noch nicht der größte Investor in Südostasien ist, stiegen die chinesischen Investitionen zwischen 2005 und 2019 um das 20-fache, wobei vor allem nach dem Start der BRI 2013 ein rapider Zuwachs zu beobachten war. Als einer der wichtigsten Projektpartner der BRI und als großes Land mit einer erheblichen digitalen Präsenz und einem starken E-Commerce-Markt ist Indonesien zu einem wichtigen Standort für die chinesischen Bemühungen geworden, bei der Digitalisierung eine führende Rolle zu übernehmen. Anders als in anderen Bereichen der BRI stehen private chinesische Unternehmen wie Huawei, Alibaba, JD.com und Tencent bei diesem Vorstoß in vorderster Reihe. Huawei war aktiv am Ausbau der digitalen Infrastruktur Indonesiens beteiligt, unterstützte aber auch verschiedene Ausbildungsinitiativen und Schulungsprogramme. Die Ausbildung der Einheimischen verschafft Unternehmen wie Huawei nicht nur Kunden und Sympathien, sondern fördert auch die Akzeptanz chinesischer Technologie, eines der wichtigsten Ziele Beijings. Alibaba und Tencent haben Milliarden in indonesische E-Commerce-Anwendungen und -Unternehmen investiert. Chinesische Investitionen halfen auch, Gojek auf den Weg zu bringen, ein indonesisches Start-up für Finanztechnologie mit einem Geschäftsmodell, das dem von Alibaba und Tencent ähnelt. Gojek fusionierte später mit seinem Konkurrenten Tokopedia, einem weiteren Technologie-Start-up, in das Alibaba Hunderte Millionen Dollar investiert hatte. Die Durchdringungsrate des E-Commerce in der Region ist mit 38 Prozent nur gut halb so hoch wie in China, womit reichlich Raum für Wachstum bleibt. 2025 wird die digitale Ökonomie Südostasiens bei über 240 Milliarden US-Dollar liegen. Man kann daher davon ausgehen, dass die Digitale Seidenstraße im Verhältnis zur allgemeinen BRI in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnt. Grüne Seidenstraße Cauchari Solarpark und Lithium-Abbau in Argentinien Kurz vor der Grenze zu Chile, im Nordwesten des argentinischen Departamentos Susques, befindet sich auf einer Höhe von 4000 Metern ein riesiges Feld mit Solarmodulen auf über 800 Hektar trockenem Land. Das ist der Cauchari-Solarpark, die zweitgrößte Solarenergieanlage in Lateinamerika und der höchst gelegene Solarpark der Welt. Die Exim-Bank streckte 331 Millionen US-Dollar für das Projekt vor und ermöglichte so den Kauf von 960000 in Shanghai gefertigten Solarmodulen. China ist jedoch nicht nur an der Herstellung des fertigen Produkts beteiligt, sondern befindet sich auch am Anfang der Lieferkette. Wenn man auf der chilenischen Seite weiter nach Süden fährt, erreicht man eines der bedeutendsten Lithium-Vorkommen der Welt, den Salzsee Tres Quebradas. Er befindet sich im Lithium-Dreieck, einem Gebiet, das sich über Teile von Argentinien, Bolivien und Chile erstreckt. Man nimmt an, dass sich dort etwa die Hälfte der weltweiten Lithium-Vorkommen befindet – ein Mineral, das in fast allen modernen Energietechnologien zum Einsatz kommt. Am 8. Oktober 2021 wurde bekannt gegeben, dass die Zijin Mining Group Co. Ltd. die kanadische Neo Lithium Corporation für 737 Millionen US-Dollar übernommen und sich somit Zugang zu diesen Vorkommen verschafft hat. Der Kauf ist nur eine von mehreren großen Investitionen, die chinesische Unternehmen getätigt haben, um sich Lithium-Vorkommen in der Region zu sichern. Zur Qualitätsoffensive Beijings im Rahmen der BRI gehört auch die Förderung einer "grünen Seidenstraße". Spätestens seit 2016 hat sich Beijing zumindest rhetorisch dazu verpflichtet, BRI-Projekte "grüner" zu gestalten. China hat außerdem eine Reihe grüner Finanzierungsinitiativen ins Leben gerufen und grüne BRI-Richtlinien erlassen. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass es sich dabei um ein symbolisches "Greenwashing" handeln könnte. Einige Versprechen sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, etwa Xi Jinpings Versprechen, die chinesische Finanzierung von Kohlekraftprojekten im Ausland zu beenden. Abgesehen vom Jahr 2020 ging es bei den BRI-Investitionen seit 2013 größtenteils um Öl-, Gas- oder Kohleprojekte. 2021 machten Gasprojekte 39,5 Prozent der Investitionssumme aus, Öl lag bei 30,95 Prozent und Solar- und Windenergie bei nur 13,58 Prozent. Die Versuche, die BRI "grüner" zu gestalten, lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen. Die erste Kategorie umfasst chinesische Investitionen in neue und kohlenstoffärmere Technologien, die zweite das Bemühen, die umweltschädlichen Aspekte der Infrastrukturprojekte zu reduzieren. Beide Ansätze signalisieren, dass China ein globaler Player ist, der den Umweltschutz ernst nimmt. Damit will Beijing an internationaler Glaubwürdigkeit und Soft Power gewinnen. Investitionen in grüne Technologien haben zudem den willkommenen Nebeneffekt, dass China auch in diesem Bereich einen Fuß in in die Tür bekommt. Mit der Verschärfung der Klimakrise und dem weltweiten Trend, Energiequellen zu diversifizieren und auf fossile Brennstoffe zu verzichten, wird der Wettbewerb zwischen China und dem Westen auch in diesem Bereich immer härter werden. Beijing wird die Finanzierung von BRI-Projekten dazu nutzen, um auf den Märkten für erneuerbare Technologien in den Ländern des Globalen Südens Fuß zu fassen. Gleichzeitig, und oft in denselben Ländern, wird die Initiative dazu dienen, chinesischen Unternehmen den Zugang zu wichtigen Rohstoffen zu sichern. Schluss Die verschiedenen Projekte und Schwerpunkte haben verdeutlicht, welcher Dynamik die BRI in ihrer Entwicklung unterliegt. Die BRI beschränkt sich mittlerweile nicht mehr nur auf die chinesische Finanzierung von (physischen) Infrastrukturprojekten. Stattdessen greift China zunehmend auf alternative Finanzierungsmechanismen zurück und setzt neue Schwerpunkte wie die grüne oder die digitale Seidenstraße. Mit Blick auf die "Qualitätsoffensive" und die grüne Seidenstraße bleibt dabei abzuwarten, wie ernst Chinas Verlautbarungen zu nehmen sind, BRI-Projekte nachhaltiger zu gestalten. Fest steht jedoch bereits jetzt, dass sich chinesische und westliche Entwicklungskonzepte zunehmend annähern und die BRI durchaus anpassungsfähig ist. Aus dem Englischen von Heike Schlatterer. Siehe beispielsweise Externer Link: http://2017.beltandroadforum.org/english/n100/2017/0410/c22-45.html. Vgl. Mladen Grgic, Bar–Boljare Highway, 7.7.2021, Externer Link: http://www.thepeoplesmap.net/project/bar-boljare-highway. Vgl. Mustafa Canka, Crna Gora: Autoput u rikvercu, 2.10.2011, Externer Link: http://www.dw.com/sr/crna-gora-autoput-u-rikvercu/a-15431891. Vgl. Europäische Kommission, Bridging Gaps with EU-Funds: The Inauguration of the Pelješac Bridge in Croatia, 27.7.2022, Externer Link: https://ec.europa.eu/regional_policy/en/newsroom/panorama/2022/07/27-07-2022-bridging-gaps-with-eu-funds-the-inauguration-of-the-peljesac-bridge-in-croatia. Vgl. Strabag Files Court Complaint Against Peljesac Bridge Tender, 17.4.2018, Externer Link: https://n1info.hr/english/news/a295310-strabag-files-court-complaint-against-peljesac-bridge-tender. Siehe Externer Link: https://glashrvatske.hrt.hr/en/economy/court-rejects-strabag-no-obstacles-to-construction-of-peljesac-bridge-1879101. Vgl. Mirela Petkova/Frans-Paul van der Putten, Building the "Belt and Road" in Europe?, Clingendael China Centre, Policy Brief, April 2020, Externer Link: http://www.clingendael.org/sites/default/files/2020-04/Policy_brief_Building_Belt_and_Road_in_Europe_April_2020.pdf. Xi Jinping, Promote Friendship Between Our People and Work Together to Build a Bright Future, 8.9.2013, Externer Link: http://hk.ocmfa.gov.cn/eng/jbwzlm/xwdt/wsyw/201309/t20130918_7781702.htm. Siehe Externer Link: http://www.fmprc.gov.cn/ce/cebel/eng/zxxx/t1078088.htm. Vgl. The Prime Minister of the Republic of Kazakhstan, Almaty Region – an Important Transport and Logistics Hub of the Country, 17.9.2021, Externer Link: http://www.primeminister.kz/en/news/reviews/almaty-oblysy-elimizdin-manyzdy-kolik-logistikalyk-haby-1782841. Vgl. Eurostat, Extra-EU Trade since 2000 by Mode of Transport, by NST/R, 15.9.2022, Externer Link: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=DS-022469&lang=en. Siehe Externer Link: http://www.sais-cari.org/data-china-africa-trade. Vgl. Zainab Usman, What Do We Know About Chinese Lending in Africa?, 2.6.2021, Externer Link: http://www.carnegieendowment.org/2021/06/02/what-do-we-know-about-chinese-lending-in-africa-pub-84648. Vgl. Etsehiwot Kebret/Yike Fu, Why Did Chinese Loans to Africa Fall so Much in 2020?, 5.5.2022, Externer Link: https://thediplomat.com/2022/05/why-did-chinese-loans-to-africa-fall-so-much-in-2020. Vgl. High-Quality Belt and Road Cooperation: Partnership on Connectivity. Report on the Findings and Recommendations from theMeetings of the Advisory Council of the Belt and RoadForum for International Cooperation in 2019 and 2020, 23.12.2021, Externer Link: http://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjbxw/202112/P020211218394332617729.pdf. Siehe hierzu auch den Beitrag von Jonathan Holslag in dieser Ausgabe (Anm. der Red.). Vgl. Ye Yu, Making the Belt and Road Initiative "Small and Beautiful", 24.5.2022, Externer Link: http://www.eastasiaforum.org/2022/05/24/making-the-belt-and-road-initiative-small-and-beautiful. Siehe Externer Link: https://mobile.twitter.com/WuPeng_MFAChina/status/1425774815705649157. Vgl. Carlos Mureithi, Kenya's Expensive Chinese-built Railway is Racking up Losses Even as Loans Come Due, 20.7.2022, Externer Link: http://www.qz.com/africa/1915399/kenyas-chinese-built-sgr-railway-racks-up-losses-as-loans-due. ICTIndonesia, Huawei Sends Off 10 Indonesian Top Talents to Join 2022 Asia Pacific Seeds for the Future, 18.8.2022, Externer Link: http://www.ictindo.com/2022/08/huawei-sends-off-10-indonesian-top.html. Vgl. Matthew Mingey/Agatha Kratz, China’s Belt and Road: Down But Not Out, 4.1.2021, Externer Link: http://www.rhg.com/research/bri-down-out. Vgl. The Second Belt and Road Forum for International Cooperation, Xi Jinping Chairs and Addresses the Leaders' Roundtable of the Second Belt and Road Forum for International Cooperation (BRF), 28.4.2019, Externer Link: http://www.beltandroadforum.org/english/n100/2019/0429/c22-1392.html. Vgl. David Sacks, China's Huawei Is Winning the 5G Race. 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Rajan Anandan/Rohit Sipahimalani, Southeast Asia's Accelerating Internet Economy, 19.11.2018, Externer Link: http://www.temasek.com.sg/en/news-and-resources/stories/future/Southeast-Asia-accelerating-internet-economy. Vgl. Silvia Naishtat, In Argentina, A Visit To World's Highest Solar Energy Park, 18.10.2021, Externer Link: http://www.worldcrunch.com/green/solar-power. Vgl. Reuters, China's Zijin Mining to acquire Neo Lithium in $737 million deal, 9.10.2021, Externer Link: http://www.reuters.com/article/neo-lithium-m-a-zijin-mining-idUSKBN2GZ010. Ministry of Ecology and Environment – The People's Republic of China, Guidance on Promoting Green Belt and Road, 28.6.2018, Externer Link: https://english.mee.gov.cn/Resources/Policies/policies/Frameworkp1/201706/t20170628_416864.shtml. Vgl. Christoph Nedopil, Green Finance for Soft Power: An Analysis of China’s Green Policy Signals and Investments in the Belt and Road Initiative, in: Environmental Policy and Governance 2/2022, S. 85–97. Vgl. Valerie Volcovici/David Brunnstrom/Michelle Nicols, In Climate Pledge, Xi Says China Will Not Build New Coal-fired Power Projects Abroad, 22.9.2021, Externer Link: http://www.reuters.com/world/china/xi-says-china-aims-provide-2-bln-vaccine-doses-by-year-end-2021-09-21. Vgl. Green Finance and Development Center, Brief: China Belt and Road Initiative (BRI) Investment Report 2021, 2.2.2022, Externer Link: http://www.greenfdc.org/brief-china-belt-and-road-initiative-bri-investment-report-2021.
Article
Mardell, Jacob
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-10-19T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/chinas-neue-seidenstrassen-2022/514464/seidenstrasse-vor-ort/
Ein Gesamtüberblick über Projekte der "neuen Seidenstraße" ist kaum möglich. Einzelprojekte geben Einblicke in die geografische Verteilung, Wirtschaftssektoren und thematische Schwerpunkte.
[ "China", "Seidenstraße", "BRI" ]
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Eine konviviale Menschheit? | Essen | bpb.de
Ob wir es wollen oder nicht, das Essen beschäftigt uns Menschen ständig und auf vielerlei Weise. Für unser täglich’ Brot müssen die meisten von uns, viel kostbare Lebenszeit verschwendend, arbeiten gehen; die dafür verbrauchten Energien oder Kalorien füllen wir in der Pause am schnellen Mittagstisch wieder auf; dann gibt es schon bald einen Snack oder Kaffee und Kuchen; im Anschluss müssen wir im Supermarkt einige Lebensmittel einkaufen, um rechtzeitig zum Abendessen noch eine Kleinigkeit oder doch etwas mehr (wie die Gesundheitsstatistiken regelmäßig belegen) naschen zu können; der Tag geht schließlich bei einem alkoholischen Getränk und ein bisschen Salzgebäck zu Ende; der kommende Morgen beginnt selbstverständlich gleich wieder – mit Essen, Frühstück eben; oder es geht mit einem Becher Kaffee gleich zur Arbeit; und so weiter, Tag für Tag. So oder etwas modifiziert durch individuelle und kulturelle Variationen prägt das Essen unser Leben. Obwohl es die Menschen ständig beschäftigt und von anderen Tätigkeiten nur kurzfristig unterbrochen wird, denken sie nicht groß über diese Allgegenwärtigkeit des Essens nach. Würden sie das Essen so groß denken, wie es in Wirklichkeit ist, wäre schnell klar: "Der Mensch ist" nicht, "was er isst", wie der Philosoph Ludwig Feuerbach meinte; stattdessen gilt, dass die menschliche Existenz, mehr als irgendetwas anderes, diese eine Angelegenheit ist – "Essen". Ich schlage vor, diese wesentliche, jedoch bislang kaum erforschte Dimension des Menschseins – der Existenzialität und Essenzialität des menschlichen Essens – als ihre Essistenz zu bezeichnen (in Ermangelung einer brauchbaren Begrifflichkeit). Wir Menschen können selbstverständlich mehr tun als nur essen; wir könnten ebenso auch philosophisch "über den Tellerrand schauen", das heißt über die Omnipräsenz des Essens ins Denken kommen, statt unsere Essistenz weiter so abzutun wie üblich. Um die schöne, obgleich nicht nachweisliche Formel des Ethnologen Claude Levi-Strauss (wonach "ein Nahrungsmittel gut zu essen ist, wenn es gut zu denken" sei) zu variieren: Die allgemeinste und häufigste Aktivität des täglichen Lebens ist keineswegs bloß dafür gut, uns satt zu machen und unseren ewigen Hunger kurzfristig zu vertreiben. Sie ist genauso dafür gut, dass wir uns mit ihr bewusst – theoretisch, wissenschaftlich, gastro-philosophisch – beschäftigen und alles, was mit ihr vernetzt ist, zum Thema der politischen Öffentlichkeit machen. Denn es ist für uns alle gut und dem Allgemeinwohl förderlich, das vermeintlich nebensächliche und allzu alltägliche Essen mental mit vielerlei Problemen unserer Gesellschaft in Verbindung zu bringen oder kurzzuschließen. Um das Ergebnis dieser Verbindung gleich vorwegzunehmen: Man kann das Essen vorzüglich nutzen, um über das gesellschaftliche Ganze, die globale Gesellschaft nachzudenken und über die utopischen oder dystopischen Perspektiven, die Welt zu retten. Denn wer sich mit der zukünftigen Gesellschaft beschäftigt, kann – und sollte – wissen, dass das Essen alle Mahl gut dafür wäre, Mahlgemeinschaften zu kultivieren. Menschen können essen, um in Gesellschaft mit anderen zu genießen, kurz: wir können, sofern wir wollen, die planetare Tischgesellschaft ins normative Zentrum der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung stellen. Neuer Humanismus In dieser (zugegebenermaßen utopischen) Absicht geht es mir, anknüpfend an die von der Weltgemeinschaft vereinbarten Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG), um das zukunftsethische Ziel – und die narrative Erfindung – einer konvivialen Menschheit als einer humanen, im wahrsten Sinne des Wortes guten Gesellschaft. Dafür wäre ein philosophisches Navigationssystem hilfreich, das die gesellschaftspolitische Koordinate der UN-Ziele mit der gesellschaftstheoretischen Koordinate des konvivialistischen Manifests verbindet. Während es bei den Zielen für nachhaltige Entwicklung etwa darum geht, Armut und Hunger zu beenden und allen Menschen ein friedliches, gesundes Leben zu ermöglichen, ohne die Umwelt zu zerstören, kritisiert der Konvivialismus das gesellschaftliche Primat des Utilitarismus’ und den unbedingten Glauben an Wirtschaftswachstum. Er fordert vielmehr, den Fokus auf das Zusammenleben (lat. con-vivere) zu legen: Gutes Leben brauche "eine neue Philosophie und praktische Formen des friedlichen Miteinanders". Der Konvivialismus, eine noch junge Bewegung aus der Sozialphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialwissenschaft und dem Commons-Diskurs, denkt den Begriff der Konvivialität allerdings ohne begrifflichen Bezug zum Essen und all seinen existenziellen und essenziellen Facetten. Daher versteht sich mein Beitrag als programmatische Erweiterung einer konvivialistischen Philosophie. Ein namhafter Vordenker ist der Aufklärer und Vernunfttheoretiker Immanuel Kant, der wegen seiner täglich veranstalteten Mittagsgesellschaft aus eigener Erfahrung von der praktischen Möglichkeit dieser "wahren Humanität" wusste: "Gute Mahlzeiten in guter Gesellschaft" als der dem Menschen mögliche "Genuss einer gesitteten Glückseligkeit". Aus dem Kreis der zeitgenössischen Konvivialisten wird an einen anderen, von Kants Gastrosophie inspirierten Avantgardisten des Konvivialismus erinnert: Der Schriftsteller Jean Anthèlme Brillat-Savarin beschreibe in seinem Buch "La physiologie du goût, ou Méditations de gastronomie transcendante" (1825) "die Freude des Beisammenseins, der guten und freundschaftlichen Kommunikation im Rahmen einer Tischgesellschaft", die sich zum konvivialen Tafelvergnügen versammelt. Konsequenterweise kultiviert die internationale Slow-Food-Bewegung, die unter den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen der Gegenwart die programmatischste Selbstorganisation der globalen Ernährungswende ist, "Konvivien" als Keimzellen und Bildungszentralen ihrer Utopie einer guten Gesellschaft. Bedauerlicherweise bleibt diese zukunftsweisende Praxis bislang gastrosophisch unterbelichtet. Mit anderen Worten: Essen und erst recht gutes Essen als globale Praxis und als Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens ist gut geeignet, um den Wert einer Utopie einer konvivialistischen Gesellschaft für eine neohumane Anthropoethik zu entdecken. Dazu gehört die Option, dass wir das, was wir sowieso ständig tun, zum kulturellen Zentrum unseres täglichen Lebens machen. Inmitten der digitalen Revolution einer posthumanen Zukunft könnte sie jeden von uns dazu bewegen, der Frage aller Fragen nachzugehen: Was macht uns als Menschheit aus und worin besteht Humanität? "Es geht darum, einen neuen, radikalisierten und erweiterten Humanismus zu erfinden, und das bedeutet die Entwicklung neuer Formen der Menschlichkeit." Dabei muss die totale Digitalisierung unserer Welt nicht zwangsläufig die ultimative Dehumanisierung zur Folge haben. Sie bringt die menschheitsgeschichtlich vermutlich letzte Chance mit sich, dass wir uns selbst noch einmal neu erfinden und unsere spezifisch menschlichen Stärken entdecken, die so schnell kein superschlauer Roboter, keine artifizielle Intelligenz, keine digitalen Humanoiden dem Homo sapiens streitig machen? Sapiens hat übrigens, neben weise sein, seinen begrifflichen Ursprung auch in sapio, ich schmecke: Menschliche Intelligenz, unsere höchsten geistigen Fähigkeiten stehen kulturevolutionär im direkten Zusammenhang mit geschmacklichem Urteilsvermögen und gastrosophischem Bewusstsein. Zur Gastrosophie der Ernährungswende Als "Gastrosophie" bezeichne ich alle Erkenntnisse, Wissenschaften, Techniken, Bildungsprozesse und Praktiken der "Ernährungswende": Das allgemeine Bewusstsein von der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Transformation – einer anthropoethischen Verbesserung – unserer vorherrschenden Ernährungsverhältnisse mit umfassenden Auswirkungen nimmt überall auf der Welt zu. Tatsächlich wächst gegenwärtig, um Hölderlins stilvolle Wendung aufzugreifen, "das Rettende dort, wo auch Gefahr ist": Denn Tag für Tag nimmt das gesellschaftliche Unbehagen gegenüber den vielschichtigen Problemen und Erscheinungsformen einer globalen Ernährungskrise zu (insbesondere der unintelligenten Art und Weise der Landwirtschaft und Ressourcennutzung). Während Martin Heidegger den anthropoethischen Sinn von Hölderlins Befreiungsphilosophie in eine hoffnungslos unzeitgemäße Befreiungstheologie verkehrte – indem er glaubte, dass "nur noch ein Gott uns retten kann" – möchte ich daran anknüpfend die Idee zu einer Weltrettungsaktion skizzieren, die bei einem vernünftigeren oder nachhaltigeren Umgang mit dem natürlichen Wachstum der Früchte dieser Erde beginnt. Erste Ansätze davon keimen bereits überall: Immer mehr Menschen legen Wert auf hochwertige Lebensmittel aus biologischer und solidarischer Landwirtschaft, kaufen lokale Produkte, finanzieren fairen Handel und angemessene Preise, beteiligen sich an Selbsternte-Aktionen oder Urban-Gardening-Initiativen und laden andere – Freunde, aber auch fremde Gäste – zu sich nach Hause ein, um miteinander zu kochen und selbstgemachte Köstlichkeiten (im Idealfall sind es raffinierte Freistil-Kunstwerke und kreative Commons aus ethisch möglichst korrekten Zutaten) zu genießen. Noch zögerlich, aber doch spürbar, beginnt sich vielerorts eine neue Haltung und Wertschätzung gegenüber einem guten Essen für alle zu entwickeln. Die allgemeine Bereitschaft, die übliche Fast-Food-Philosophie zu hinterfragen und durch ein anderes Ernährungsdenken zu überwinden, wächst zu einer "kritischen Masse" heran. Mit anderen Worten: Der gesellschaftliche Wandel, der von einer Ernährungswende ausgeht, wird von einer täglich größer werdenden Menge an begeisterten Anhängern und Besseressern in allen Teilen der Welt vorangetrieben. Rufen wir ihnen zu: "Kulinarier aller Länder, vereinigt Euch – und genießt miteinander!" Man kann das Gleiche auch anders wenden: Warum sollte die Menschheit in Zukunft nicht "das höchste Gute" kultivieren, das Kant als unbekannter Vordenker der Gastrosophie in "der guten Lebensart" erkannte, jeden Tag eine "gute Mahlzeit in guter Gesellschaft" zu genießen? Dieses allmähliche "gastrosophische Umdenken" manifestiert sich inzwischen nicht nur im Verhalten privater Konsumenten, sondern auch in diversen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen: Einige Beispiele dafür sind etwa die erste Fachtagung "Deutschland auf dem Weg zur Ernährungswende – Lokale Ernährungskonzepte", die im Oktober stattfand und vom Institut für Welternährung organisiert wurde. Eingeladen waren Vertreter von Ernährungswende-Initiativen aus mehreren Städten. Kurz darauf wurde in der Stadt Essen unter dem Motto "Ernährungsdemokratie jetzt!" ein Netzwerk von mehr als 40 Ernährungsräten und ernährungspolitischen Initiativen aus dem deutschsprachigen Raum gegründet. Das 2016 gegründete "Netzwerk deutscher Biostädte" bietet einen (gemeinsam mit Experten für Vergaberecht und für Gemeinschaftsverpflegung erstellten) äußerst detaillierten und praxisnahen "Leitfaden für mehr Bio in Kommunen". Auch international spiegelt sich dieses gestiegene Interesse an Ernährung und Essen und am Versuch einer gesellschaftlichen Ernährungswende wider, auch wenn sie vielerorts von der allgemeinen Öffentlichkeit und der Regierungspolitik der Staaten weitestgehend unbemerkt bleibt. Entscheidende Akteure befinden sich eher auf regionaler und lokaler Ebene: in den großen Metropolen der Welt ebenso wie in kleineren Städten und Kommunen. So wurde anlässlich der Weltausstellung (Expo) 2015 zum Thema "Den Planeten ernähren, Energie fürs Leben" von einigen Pionier-Städten das bemerkenswerte "Mailänder Abkommen über städtische Ernährungspolitik" vereinbart. Neben diesem und den Sustainable Development Goals der UN liegt inzwischen mit der "Lima Declaration: Open Letter to the Chefs of Tomorrow" ein bemerkenswertes Manifest des gastrosophischen Konvivialismus vor: Namhafte Starköche wollen in Zukunft ihren gut bezahlenden Gästen eine politisch korrekte "Gute Küche" servieren und so meinungsstarken (häufig akademisch gebildeten) Mitmenschen eine Welt schmackhaft machen, in der kulinarische Ästhetik und planetare Ethik sich nicht länger widersprechen. Selbst in der Wirtschaft, wo Bio und Produkte aus fairem Handel boomen, greift eine weitsichtige Unternehmensphilosophie ökonomische Trends und nachwachsende Kräfte auf, die vor allem mit gutem Essen für alle die Erde samt ihrer Menschheit retten wollen. Auch in wissenschaftlichen Publikationen, Fachtagungen, Fortbildungsangeboten und universitären Studiengängen oder Schulprojekten kommt das gastrosophische Umdenken langsam an: An der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Fulda veranstaltete etwa eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen eine Tagung zum Thema: "Ernährung kehrt in die Stadt zurück – Innovative Ansätze urbaner Food Governance". Mit den Food Studies sind im angelsächsischen Raum erste curriculare Institutionalisierungen entstanden. Hierzulande werden schon Stimmen laut, die entsprechende Studiengänge und Lehrstühle, Forschungsprojekte und Exzellenzinitiativen fordern. Promotionsprojekte und Graduiertenprogramme für Ernährungsethik werden bereits ausgeschrieben. Seit einigen Jahren besteht die Möglichkeit, an der Universität Salzburg einen fünfsemestrigen Master-Studiengang in Gastrosophischen Wissenschaften zu absolvieren; darüber hinaus hat sich das hochkarätig besetzte Kuratorium Kulinarisches Erbe Österreich ausdrücklich die programmatische "Weiterentwicklung der österreichischen Kulinarik und Gastrosophie" vorgenommen. Eine neue Generation von internationalen "Ökogastronomen" wird Jahr für Jahr an der Slow Food Universität für gastronomische Wissenschaften im italienischen Städtchen Bra ausgebildet. Abenteuerliche Ankunft in besseren Welten Wer genauer hinschaut, sieht, wie die rettenden Kräfte und die notwendigen Bewegungen des neuen Gastro-Kosmopolitismus "von unten" wachsen. Den Futurismus einer konvivialen Menschheit überall wahrzunehmen und zu verstärken, wo dieser nicht in ferner Zukunft oder in unmenschlich-außerirdischer Entfernung liegt, sondern bereits hier und jetzt – durch eine abenteuerliche Ankunft in besseren Wirklichkeiten – alltäglich praktiziert wird, ist die weltrettende Aufgabe der Gastrosophie. All die Initiativen und Ernährungswende-Politiken versuchen die erst 2015 von den Vereinten Nationen erneut bekräftigten und erweiterten "Ziele für nachhaltige Entwicklung" praktisch umzusetzen (Von-oben-Politik und Von-unten-Bewegungen zusammenführend). Viele Aktivitäten der gastropolitischen Weltretter gehen aber weit über die SDG-Ziele hinaus (denen ein unkonkretes "Leben in Würde" aller Menschen auf diesem Planeten vorschwebt): Sie verbinden die Zukunft einer nachhaltigen Gesellschaft mit der neohumanen Entwicklung eines besseren Essens aller Erdbewohner – einer planetaren Tischgesellschaft. Trotzdem darf man angesichts der moralischen und völkerrechtlichen Selbstverpflichtungen der SDG seitens der Staatengemeinschaft durchaus etwas staunen: Ein Großteil dieser utopischen Ziele lassen sich durch nichts anderes erreichen als durch eine umfassende Verbesserung der globalen Ernährungsverhältnisse. Trotzdem bleibt beispielsweise die viel beschworene Energiewende ein bloßer Wunschtraum, solange nicht einer ihrer Hauptfaktoren – die Landwirtschaft – ins Zentrum der gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit rückt. Oder wurden im Zuge der diversen Klimaabkommen und Energiewende-Politiken entsprechende Programme verabredet, die die konsequente Umstellung auf eine ökologisch und ökonomisch nachhaltige, solidarische Landwirtschaft in allen Ländern und Städten der Erde ermöglichen? Dabei ist die Agrarwende bloß einer der vielen Not-Wendigkeiten einer globalen Ernährungswende und einer humanen Politik des Essens. Halten wir also fest, dass sich wie vielerorts rund um den Erdball auch hierzulande allmählich ein kosmopolitisches "Food Movement" formiert. Dagegen wird zwar in den Medien bereits polemisiert (mit absatzförderlichen Schlagzeilen wie: "Ernährung wird zur Ersatzreligion!"). Diese oft ideologisch motivierte Abwehrreaktion wird jedoch kaum etwas daran ändern, dass immer mehr Menschen als sich ihrer Verantwortung bewusste "erdverbundene Wesen" den Tatsachen ins Auge sehen: Zahlreiche Krisensymptome unserer Zivilisation lassen den drohenden Weltuntergang – sollte es zu keiner umfassenden Ernährungswende kommen – von Tag zu Tag wahrscheinlicher werden. Gastrowissenschaften und gastropolitische Bildung Wer sich also als Politikerin oder als einfacher Bürger ein wenig mit unserer menschlichen Essistenz beschäftigt, merkt bald, dass längst ausgereifte praktische und wissenschaftliche Diskurse darüber existieren, was im Sinne eines "guten Essens für alle" getan werden müsste. Es lässt sich beobachten, dass zurzeit so etwas wie neuartige Gastrowissenschaften entstehen, das heißt innovative und vernetzte Formen des Wissens, der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, die sich mit gastrosophischen Erkenntnissen, Techniken und Praktiken der Ernährungswende beschäftigen. Sie können diverse Erkenntnisse und normative Standards, die bereits etablierten Gerechtigkeitskonzepten oder der Tierethik, den Nachhaltigkeits- und Gesundheitswissenschaften zugrunde liegen, für sich nutzen. Um die detailreichen Zusammenhänge dieses gesellschaftlichen Wandels (inklusive der gastropolitischen Strategien) zu erfassen und in ihrer Komplexität aufeinander zu beziehen, bedarf es jedoch einer eigenständigen multidisziplinären Wissenschafts- und Forschungspraxis, wie sie auch bei anderen Themen und Bereichsethiken inzwischen üblich ist. Zweifelsohne werden sich die Gastrowissenschaften mithilfe einer entsprechenden Förderung ähnlich erfolgreich etablieren können, wie dies bei anderen bereichsspezifischen Ethiken und multidisziplinären Wissenschaften festzustellen ist. Noch aber leidet dieser junge Hoffnungsträger an chronischer Unterversorgung und mangelnder wissenschafts- und bildungspolitischer Anerkennung. Während Bioethik oder Neurowissenschaften inzwischen zum etablierten Wissenschaftskanon gehören, glauben viele weiterhin, dass kaum ein größerer und unüberbrückbarer Gegensatz vorstellbar ist als der zwischen Wissen und Essen. Allzu fraglos lebt in den Köpfen – und Küchen – der meisten die Unvernunft fort, dass so etwas Lebensweltliches wie das Essen nichts mit strenger Wissenschaft zu tun habe; zumindest nichts, was nennenswert über die vorhandene Ernährungswissenschaft hinaus weise. Angesichts der skizzierten Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft ist jedoch abzusehen, dass die abschätzige Haltung gegenüber gastrosophischen Denkweisen und Wissensformen sich selbst als eine ebenso unzeitgemäße wie unethische Mentalität ins Abseits stellt. Fast-Food-Platonismus – posthumaner Fortschritt? Woher rührt nun diese abschätzige Haltung? Es sei daran erinnert, dass die heute selbstverständliche Fast-Food-Mentalität, die eine andere, bessere Welt des Essens und die tägliche Kultur einer konvivialen Lebensart für uninteressant und wenig erstrebenswert hält, auf wirkungsmächtige Traditionen und tief verwurzelte Denkgewohnheiten der abendländischen Kulturgeschichte verweist. Sie versetzt uns zurück in die Geburtsstunde der westlichen Philosophie, als der Platonismus einen fatalen Grundgedanken unserer Kultur zur Welt brachte. Das Menschenbild, das die klassische Metaphysik damals entwarf und das in den darauf folgenden Jahrhunderten vom christlichen Heilsversprechen eines ewigen Lebens im Himmel aufgegriffen und durchgesetzt wurde, errichtete eine weltanschauliche Distanz zu den ganz irdischen "leiblichen Bedürfnissen" – speziell den vernunftlosen, animalischen "Lüsten des Essens und Trinkens". Vernünftige Wesen würden ihre richtige Lebensweise, die Tugend (virtus) und die geistige Potenz (sapiens) ihres wahren Menschseins, dadurch unter Beweis stellen, dass sie die kulinarischen Dinge für niedrig und dem wahren Menschen unwürdig erachten. Als intelligente Wesen möchten sie sich stattdessen mit angeblich höheren, geistigen Dingen beschäftigen. Die geschichtliche Bestimmung der Menschheit sei, so will es diese Anti-Gastro-Philosophie, die Weltflucht in eine göttliche Transzendenz; die kosmische Wesenserfüllung des Homo sapiens verlange die ultimative Befreiung von den Zwängen einer erdgebundenen Essistenz hin zu der tugendhaften oder buchstäblich virtuellen Sphäre einer künstlichen Intelligenz, die – endlich – ganz ohne Essen und Trinken auskäme. Dieser Fast-Food-Platonismus ist keine Sache der Vergangenheit. Das althergebrachte Bild des Menschen als eines denkenden Dings (res cogitans, wie der Rationalist René Descartes Jahrhunderte später an der Schwelle zur modernen Gesellschaft bekräftigte) beherrscht bis heute die intensiv geförderte Neurophilosophie und Hirnforschung nicht weniger als das kollektive Bewusstsein und treibt nun, durch digitale Technologien forciert, die futuristischen Bestrebungen einer Selbsttranszendierung des Menschen in den virtuellen Cyberspace oder in das himmlische Weltraum-Jenseits an. Worin wird der Unterschied zwischen Menschen und Maschinen, zwischen uns als denkenden Dingen und anderen künstlichen Intelligenzen bestehen, die, wie manche Extropianer und andere Futuristen frohlocken, die humane Intelligenz irdischen Ursprungs in absehbarer Zeit übersteigen könnte? Sollten wir nicht besser ab morgen (statt unsere Lebenszeit im Weiter-so-Modus mit Arbeit zu vergeuden, die in Zukunft ohnehin Maschinen für uns verrichten) intensiv über das erdgeschichtlich bedeutende Ereignis nachdenken, dass derzeit mithilfe immenser öffentlicher und privater Gelder die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für diesen "posthumanen Fortschritt" geschaffen werden – für eine illusorische Selbstabschaffung des Homo sapiens als Erdbewohner und esskulturellem Wesen. Konfrontiert mit einer total digitalisierten Welt der Algorithmen und Dataismen wird uns gar nichts anders übrig bleiben, als wieder einmal unbekannte Formen, Praktiken und Denkweisen der Menschlichkeit zu erfinden. Statt des einseitigen Fokus und Förderungsschwerpunkts auf "gesunde Ernährung" sollte dabei im Sinne des gesellschaftstheoretischen und -politischen Weitblicks stärker die Glücksdimension des Themas zur Sprache kommen. Indem die Ernährungswende vielmehr als eine (gar nicht so unangenehme) Alltagspraxis eines "guten Lebens" vermittelt wird, kann "gutes Essen" sogar dafür gut sein, die uns überfordernd erscheinende Menschheitsaufgabe, ein ethisches Leben zu gestalten, ebenso interessant wie erstrebenswert zu machen. Außerdem sollte die kulturelle Dimension des Themas Essen stärker berücksichtigt werden. Statt gesellschaftlichen Wandel primär von ökonomischen und technischen Entwicklungen zu erwarten, würde die kulturelle Evolution vor allem durch eine gastrosophische Bildungsoffensive auf allen Ebenen profitieren. Ebenso stecken unendlich erneuerbare Ressourcen einer humanen Entwicklung darin, die zeitgenössische Kunstpraxis, trendige Experimentalküchen, Mitesszentralen und alle anderen innovativen Kräfte einer Kunst des Essens bestmöglich zu fördern und gutzuheißen. Dazu gehört die Option, dass wir das, was wir sowieso jeden Tag tun, endlich ins Zentrum unserer Vorstellung von einem guten Leben rücken. Die Utopie, zu der die Gastrosophie also einlädt, lautet in einem weiteren aufrüttelnden Zuruf schlicht: "Lasst uns zu konvivialen Menschen werden!" Siehe hierzu auch den Beitrag von Maria Gose et al. in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Ausführlich zu Feuerbachs Annäherung an die menschliche Essistenz vgl. Harald Lemke, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Bielefeld 2016. Vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen, Resolution der Generalversammlung, Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, A/RES/70/1, 25.9.2015. Vgl. Claus Leggewie/Frank Adloff (Hrsg.), Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld 2014, S. 9. Erste Ansätze dafür finden sich bei Marianne Gronemeyer, die beiläufig erwähnt: "Conviva ist der Tischgenosse; Convivium ist eine Gesellschaft geladener Gäste, ein Gastmahl, eine Tischgesellschaft; convivere bedeutet zusammenleben, miteinander speisen." Dies., Konvivialität, in: Silke Helfrich/David Bollier/Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns, Bielefeld 2015, S. 56. Vgl. dazu ausführlich Lemke 2016 (Anm. 2), S. 227–314. Frank Adloff, "Es gibt schon ein richtiges Leben im falschen." Konvivialismus – Zum Hintergrund einer Debatte, in: Leggewie/Adloff (Anm. 4), Einleitung, S. 12. Vgl. aber z.B. Carlo Petrini, Slow Food Revolution. A New Culture for Eating and Living, 2006; eine entsprechende kritische Würdigung der Slow Food Philosophie ist enthalten in: Harald Lemke, Politik des Essens. Wovon die Welt von morgen lebt, Bielefeld 2012, S. 235–274. Leggewie/Adloff (Anm. 4), S. 58. Vgl. Harald Lemke, Gastrecht für alle oder: "Lasst uns mal zusammen was essen", in: Burkhard Liebsch/Michael Staudigl/Philipp Stoellger (Hrsg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit, Weilerswist 2016, S. 298–314. "Kritische Masse" ist ein Begriff aus der Spieltheorie. Er besagt, dass nicht eine ganze Gruppe überzeugt werden muss, sondern nur eine bestimmte Anzahl aller Mitglieder – der Schwellenwert –, um das Verhalten der ganzen Gruppe zu ändern. Institut für Welternährung, Deutschland auf dem Weg zur Ernährungswende – Lokale Ernährungskonzepte, Pressemitteilung, 25.11.2017. Vgl. Ernährungsrat Hamburg, Bericht 1. Ernährungsrat Kongress, Pressemitteilung, 22.11.2017. Netzwerk deutscher Biostädte, Mehr Bio in Kommunen. Ein Praxisleitfaden des Netzwerkes deutscher Biostädte. Vgl. Milan Urban Food Policy Pact, Externer Link: http://www.milanurbanfoodpolicypact.org. Vgl. Lima Declaration: Open Letter to the Chefs of Tomorrow, Externer Link: http://www.theworlds50best.com/blog/Events/-lima-declaration-open-letter-to-the-chefs-of-tomorrow.html. Vgl. z.B. Wulf Rüskamp, "Warum die Uni Freiburg einen Lehrstuhl für Gastrosophie braucht", 23.8.2016, Externer Link: http://www.badische-zeitung.de/kolumnen-sonstige/warum-die-uni-freiburg-einen-lehrstuhl-fuer-gastrosophie-braucht.html. Kuratorium Kulinarisches Erbe Österreichs, Externer Link: http://www.kulinarisches-erbe.at/ueber-uns. Vgl. auch Lemke (Anm. 8). Michael Pollan, The Food Movement, Rising, The New York Review of Books, 10.6.2010, Externer Link: http://www.nybooks.com/articles/2010/06/10/food-movement-rising/. Bruno Latour, Der Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017, S. 475. Platon, Phaidros, 96a; vgl. auch ausführliche Darstellung in: Lemke 2016 (Anm. 2), S. 63–106. Vgl. Harald Lemke, Philosophie der allgemeinen Ernährungsbildung oder: Bildungsoffensive für eine Ernährungswende, in: Steffen Wittkowske/Michael Polster/Maria Klatte (Hrsg.), Essen und Ernährung. Herausforderungen für Schule und Bildung, Bad Heilbrunn 2017, S. 207–225. Vgl. ders., Kunst des Essens. Zur Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld 2007.
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, Harald Lemke
"2022-02-17T00:00:00"
"2018-01-02T00:00:00"
"2022-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/262267/eine-konviviale-menschheit/
Wissenschaft und Gesellschaft sehen den Menschen nach wie vor hauptsächlich als denkendes Wesen; sich mit Lebensweltlichem wie Essen und Ernährung zu beschäftigen gilt als trivial. Dabei ist es höchste Zeit, auch die "Essistenz" des Menschen mitzuden
[ "Ernährung", "Essen", "gutes Leben", "Zusammenleben", "Philosophie" ]
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Deutschlands Grenzen: Tauziehen um das Recht auf Bewegungsfreiheit | Europas Grenzen | bpb.de
Arrash sitzt auf der Rückbank des Polizeiautos, die Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Zur Erleichterung versucht er sich hinzulegen. Das verhindert einer der Beamten, indem er sich neben ihn setzt. Vier Stunden dauert die Fahrt. Arrash hat kein Verbrechen begangen, fühlt sich aber wie ein Verbrecher behandelt. Und seine Handgelenke schmerzen höllisch. Warum wird dieser Mann über Hunderte Kilometer im Polizeiauto quer durch Deutschland transportiert? Wo liegen Deutschlands Grenzen? Für Arrash verlief schon um das Asylheim eine Grenze; in einem Dorf am Niederrhein, in dem er untergebracht war. Der heruntergekommene Flachbau steht am Ende einer Sackgasse in einem ansonsten idyllischen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern. Die Bewohner des Heims haben mit den Einheimischen nichts zu tun. "Wir grüßen uns", sagt Marwin aus Nigeria, der auch dort wohnt, "aber wir kennen unsere Namen nicht." Es ist eine gefühlte Grenze, um die sich eine weitere, "harte" Grenze legt, der alle Asylbewerber in Deutschland unterliegen: die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde das Bundesland nicht verlassen – in Bayern und Sachsen nicht einmal den Regierungsbezirk. Grenzen mitten in Deutschland. Der Staat und seine Behörden bemühen sich, die freie Bewegung jener Menschen zu kontrollieren, denen bestimmte Freiheitsrechte nicht zugestanden werden, und stoßen dabei ebenfalls an ihre Grenzen. Wir sollten den Begriff der Grenze daher nicht in Ausdrücken der Geometrie wie Linie oder Kreis beschreiben. Grenzen haben eher mit sozialer Physik zu tun. Ein Feld, in dem entgegengesetzte Kräfte aufeinandertreffen. Eine Beziehung zwischen Menschen, in denen um den Zugang zu gleichen Rechten gestritten wird. Arrash hat sich nämlich nicht an die Residenzpflicht gehalten. Er verließ Nordrhein-Westfalen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Er fuhr nach Würzburg und schloss sich anderen politischen Flüchtlingen aus dem Iran an. Diese Männer begannen im Frühjahr 2012 – nach dem Selbstmord eines Asylsuchenden in einer Massenunterkunft für Flüchtlinge – gegen die Missstände in den Heimen und für ihre Anerkennung in Deutschland zu demonstrieren. Die Polizei kontrollierte Arrash mehrmals am Protestzelt in der Würzburger Innenstadt. Weil er wiederholt der "Aufenthaltsbeschränkung" zuwidergehandelt habe, sollte er 800 Euro Strafe zahlen. Am Ende fuhren ihn die Polizeibeamten in Handschellen zurück ins Heim nach Grefrath. "Das hat mir nur geholfen", konstatiert Arrash, "besser zu verstehen, dass das Gerede vom freien Europa sehr oberflächlich ist." Aufgehalten hat es ihn nicht. Auf den Oberarmen und dem Schulterblatt trägt Arrash Tattoos. Neuerdings hört er wieder mit Begeisterung Nirvana. Das sei ein wenig Nostalgie, schmunzelt er, "es erinnert mich an die Zeit als ich Anfang zwanzig war." Als junger Mann rebellierte er gegen das Regime im Iran, wurde Atheist, hielt sich nicht an den Ramadan und war an Protesten beteiligt. Er wurde mehrmals festgenommen und mit Lötkolben gefoltert, erklärt er dem Asylrichter in Deutschland, als er seinen Unterarm hebt und ihm die Brandmale zeigt. Arrash musste 2006 fliehen. Ein Schlepper brachte ihn über die Berge in die Türkei. Dort lebte er fünf Jahre, arbeitete als Maler und Tapezierer und engagierte sich weiterhin politisch. Deswegen bekam er auch mit der türkischen Polizei Probleme und erhielt kein Asyl. Dann zahlte er 2.000 Euro, um nach Griechenland zu gelangen. Wieder zu Fuß über die Grenze, durch Wälder und den Grenzfluss. Nach Deutschland reiste er mit dem Flugzeug. "Ich glaube, Grenzen sind dafür gemacht, dass die Menschen sie überwinden", betont Arrash. "Einfach gesagt, es leben sieben Milliarden Menschen auf der Welt", hebt er an, "wer ist gefragt worden, ob wir überhaupt diese Grenzen haben wollen?" In der Asylbewerberunterkunft, die ihm zugewiesen wurde, blieb er nur drei Monate. Das trostlose Zimmer kam ihm vor wie ein Gefängnis. Statt Geld gab es Gutscheine. Die Gängelung seines Lebens erinnerte ihn an den Iran. Um frei zu sein, nimmt er in Kauf, keine Asylbewerberleistung zu erhalten, weil er nicht im Heim bleibt. "Ich bin nicht des Geldes wegen nach Deutschland gekommen", stellt er klar, seine Eltern gehören der Teheraner Mittelschicht an. "Ich bin gekommen, weil ich frei sein will." Lieber schläft er mit anderen Aktivisten in Schlafsäcken auf der Straße oder in den Wohnungen von Unterstützern der Proteste. In Würzburg nähen sie sich die Lippen zu. Das geht durch die Medien. "Wir mussten schockieren. Das war zu diesem Zeitpunkt unsere einzige Möglichkeit, gehört zu werden", erklärt Arrash, "im Heim depressiv zu werden, ist viel schlimmer, als sich einmal die Lippen zuzunähen." Daraufhin entstehen auch in anderen deutschen Städten Protestgruppen von Geflüchteten. Der Übersetzer Reza (links) und der Asylbewerber Arrash Dosthossein aus dem Iran (Mitte) geben am 5. November 2012 in Berlin eine Pressekonferenz. Die Flüchtlinge protestieren gegen die Residenzpflicht, Sammelunterkünfte und die Asylpolitik in Deutschland. (© picture-alliance/dpa) Im September 2012 marschieren sie nach Berlin, sprechen mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, fordern das Ende der Massenunterkünfte für Asylbewerber und einen Abschiebestopp. Das Treffen sei ihm wie politisches Theater vorgekommen. "Sie sprach zu uns wie zu kleinen Kindern", findet Arrash, "ja, wir wissen um eure Probleme, ihr habt ja Recht", hätte die Politikerin gesagt, "aber ihr müsst warten." Die Politik reagiert, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten. Das Arbeitsverbot für Asylsuchende wurde von zwölf auf neun Monate verkürzt, die Integrationsbeauftragte macht sich für eine gesetzliche Bleiberechtsregelung stark. In Bayern, so die bayerische Sozialministerin, wohne nur noch die Hälfte der Betroffenen in Gemeinschaftsunterkünften. Für Asylsuchende, die dort ausziehen wollen, gebe es neuerdings Berater vor Ort. Minderjährige sollen auch in Bayern nicht mehr dort untergebracht werden. Bei der Forderung nach einem Abschiebestopp hören alle weg. Und ihre Rebellion stößt auf Grenzen der Akzeptanz. Die Öffentlichkeit kann mit Geflüchteten besser umgehen, wenn sie als Empfänger von Mitgefühl erscheinen. Selbstbewusste Typen, die sich so verhalten, "als wären sie hier zu Hause", sprengen diesen Rahmen. Dabei sind es gerade diese Protestierenden, die für demokratische Rechte kämpfen. Sie nennen sich "non-citizens", Nicht-Bürger, die Bürger sein wollen. Die meisten illegalisierten Migranten und Asylsuchenden sind nicht so politisch. Doch in einem wesentlichen Punkt handeln sie auf die gleiche Weise. Der US-Forscher Luis Cabrera hat dies in Gesprächen mit Einwanderern aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Staaten festgestellt, die illegal in die USA migrieren. Sowohl Gegner als auch Unterstützer der illegalisierten Einwanderer gehen davon aus, dass Bürgerrechte etwas sind, das auf den Nationalstaat begrenzt ist. Die unerlaubten Migranten aber, bringt es Cabrera auf den Punkt, handeln heute schon so, als ob es längst möglich wäre, ein Weltbürger zu sein. Sie praktizieren eine "global citizenship". Wer nur auf das Leid blickt, das beim unerlaubten Übertreten der Grenze und in der Bekämpfung dieser Migration entsteht, übersieht, dass dabei etwas praktiziert wird, das man ein Weltbürgerrecht nennen kann, das Recht, selbst zu entscheiden, wo auf dieser Welt man leben möchte. Viele Menschen haben zudem Verwandte oder Freunde in anderen Staaten, die es ihnen erleichtern, in diese Staaten zu gelangen. Das ist ein wichtiger Aspekt der Weltgesellschaft. Wir sind alle schon überall, Menschen aller Nationalitäten finden sich in fast allen Staaten dieser Welt. All dies relativiert die bestehenden Grenzen. Illegalisierte Freiheit Dies veranschaulicht auch die Geschichte von Ferhad (Name geändert). Er ist Vater mit Leib und Seele. Wenn er seinen zwei Jahre alten Sohn auf die Rutsche setzt, ziert ein breites Lächeln sein Gesicht. Das mit der großen Nase, dem dunklen Teint und den schwarzen Haaren. Er ist einer der Menschen, die mit ihrer Anwesenheit dafür sorgen, dass Politiker davon sprechen, Deutschland sei ein weltoffenes Land. Ist es auch. Selbst wenn Ferhad ein Teil dieser Welt ist, der gar nicht in Deutschland sein dürfte. Aber auf dem Spielplatz wie an vielen Orten unseres Alltags trifft sich die ganze Welt. Im Sandkasten tummeln sich die Kinder der deutsch-deutschen Eltern – vom Arbeiter bis zum Akademiker –, aber auch afro-deutsche Kids, indische, marokkanische, griechische und eben Ferhads Sohn. Der Kurde ist illegal nach Deutschland gekommen. Mit dem LKW aus Griechenland. Zu sechst versteckten sie sich auf der Ladefläche, 3.000 Euro habe er für den Transport bezahlt. In München ließen ihn die Schlepper raus. Er rief seinen Cousin in Hannover an, der in abholte. Ferhad stellte einen Asylantrag, lebte im Asylheim, fasste aber schnell Fuß. House keeping habe er gemacht, in einem Hotel die Zimmerböden gesaugt. Und vor allem in Restaurants in der Küche gearbeitet. Ferhads Asylantrag wird nicht anerkannt – das wusste er schon vorher –, er bleibt mit einer Duldung im Land. Die deutschen Behörden schieben ihn nicht ab. Er zeigt auf seine Fingerkuppen, "isch habe nix gegeben", er konnte es in Griechenland immer vermeiden, seine Fingerabdrücke registrieren zu lassen. Wäre er dort registriert, hätte man ihn bei einem Asylantrag in Deutschland auf Grundlage europäischer Regelungen zurück nach Griechenland geschickt. Vor drei Jahren folgte seine Frau aus dem Irak. Mittlerweile hat sie das zweite Kind geboren. Zu viert leben sie auf 45 Quadratmetern in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Seit drei Jahren. Ständig meldet er sich auf Wohnungsanzeigen, neulich besichtigte er eine 80-Quadratmeter-Wohnung. "Ich zahle sogar mehr Provision", habe er der Maklerin gesagt. Aber gegen ein junges Paar mit Job hatte er keine Chance. Im Moment hat Ferhad keine Arbeit. Sein Ziel lautet jetzt "B1". Er besucht einen Deutschkurs und will die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er eine richtige Aufenthaltserlaubnis ergattern kann. 2002 war der Kurde zum ersten Mal aus dem Irak geflohen. Über die Türkei und das Grenzgebiet am Evros-Fluss rüber nach Griechenland. "Wir sind viel zu Fuß gelaufen", verzieht er das Gesicht, "das war schwierig." In Saloniki wurde er als Illegaler festgenommen. Vier Mal sei er in die Türkei zurückgeschoben worden. Einmal habe ihn die Türkei in den Irak abgeschoben. Er gab zunächst auf und wartete. 2004 versuchte er es dann noch einmal. "Ich habe viel Geld verloren", resümiert er, aber aus seiner Sicht hat es sich gelohnt. In Griechenland findet er Arbeit bei einem Dachdecker. Er schleppt Ziegel. Für 40 Euro am Tag. "Ich habe schneller geschleppt als andere und auch bei anderen Arbeiten geholfen", grinst der kräftige Mann. Sein Meister sollte sehen, dass er gut arbeitet. Dann hat sein Chef den anderen Helfer entlassen und ihn behalten. Er bekam fortan 70 Euro. Gutes Geld für ihn. Aber dort hatte er trotzdem keine Perspektive auf eine reguläre Aufenthaltserlaubnis, winkt er ab. Sein "Ausweis", erklärt Ferhad, war "schwarz". Ein gefälschter Aufenthaltstitel, der von einem Iraker an den anderen weitergereicht wird. Die Gültigkeit musste er immer wieder erneuern. Dass das Papier gefälscht wurde, fiel nicht auf. Bevor er Griechenland verließ, habe er es für 300 Euro verkauft. Als die Wirtschaftskrise in Griechenland ausbrach, wurde es immer schlechter mit den Jobs, erzählt der Kurde, dazu die Konkurrenz zu den "neuen Leuten", die ins Land kamen. Er wollte weg und ging nach Deutschland, weil hier zwei seiner Cousins und drei seiner Schwestern leben. Zurückzukehren in den Irak kommt für ihn nicht infrage. Den Leuten im kurdischen Norden des Iraks gehe es zwar relativ gut, aber das gelte hauptsächlich für Muslime. Christen und Yeziden würden diskriminiert. Die Polizei drangsaliere sie, helfe ihnen bei Übergriffen nicht. Auch bei der Arbeitssuche würden sie benachteiligt. "Deswegen gehen viele Christen und Yeziden nach Europa", erklärt Ferhad. Er ist Yezide. "Du glaubst an die Sonne?", frage ich ihn. "Ja", antwortet er. Ferhad und Arrash wissen – so wie viele Menschen, die auf ähnlichen Wegen in die EU gelangen –, dass es möglich ist, die EU-Grenzen zu überwinden. Dabei sind das mörderische Grenzen. Etwa 1.500 Menschen sind im Jahr 2011 laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) beim Versuch, europäisches Festland zu erreichen, im Mittelmeer ertrunken. Ins Boot steigen nur jene Flüchtlinge, die keine andere Möglichkeit sehen. Aber auch über diesen Weg haben es im selben Jahr 58.000 Menschen geschafft. Das ist das Entscheidende. Die Migranten wissen, dass sie ihr Leben riskieren, aber auch, dass sie es schaffen können. Minderjährige Flüchtlinge protestieren am 21. August 2009 mit dem Slogan "We want freedom we don’t want food" gegen ihre Internierung in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. (© picture-alliance/dpa, epa ANA) Die Randstaaten der EU erhalten Geld, um die unerlaubte Einwanderung zu bekämpfen und Migranten abzuschrecken. Deutsche Grenzen außerhalb Deutschlands. Mit dem Geld werden auch Gefängnisse finanziert, bei denen die Verletzung der Menschenrechte einkalkuliert ist. 2012 eröffnete das griechische Innenministerium in der Nähe Athens ein mit Stacheldraht umzäuntes Containerlager, in dem über 1.000 Menschen festgehalten werden, denen Aufenthaltspapiere fehlen, die auf ihre Abschiebung warten oder die einen Asylantrag gestellt haben. Auf engstem Raum leben sogar Minderjährige in diesem Lager. Obwohl laut EU-Recht die Inhaftierung nur als letztes Mittel vorgesehen ist, mutiert sie hier zur Regel. Dabei ist das Lager auch deshalb entstanden, weil die Asylbedingungen in Griechenland eigentlich verbessert werden sollten. Die desolate Lage in dem Land hatte dazu geführt, dass Deutschland die Abschiebung von Geflüchteten nach Griechenland, die dort schon registriert worden waren und nicht hätten weiterreisen dürfen, vorerst einstellen musste. Ein Asylsystem nach EU-Standards – zum Beispiel durch die Errichtung regulärer Unterkünfte – sollte die Wiederaufnahme der Zurückschiebungen ermöglichen. Wie die Realität für die dort eingesperrten Menschen aussieht, führte die Niederschlagung eines Aufstands im August 2013 vor Augen. Die Migranten rebellierten, nachdem ihnen die griechischen Polizisten, welche die Unterkünfte bewachen, mitgeteilt hatten, dass ihre Haftzeit von 12 auf 18 Monate verlängert wird. Sie weigerten sich, in die Container zurückzukehren, wurden geschlagen, begannen mit Steinen zu werfen und wurden von der Polizei dann unter dem Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken niedergerungen, so berichten Zeugen. Die inhaftierten Migranten beklagen immer wieder Gewalt und Beleidigungen seitens der Polizei. Die Öffentlichkeit sowohl in Griechenland als auch im Rest Europas schaut größtenteils weg. "Die Verlagerung der Grenzkontrollen an die Ränder der Europäischen Union geht einher mit der Ausbreitung von Migrationsgefängnissen", und das Frappierende dabei ist: Nach dem Fall der Berliner Mauer, "nach dem Siegeszug der ‚Freiheit‘ also, hat sich ein System der Abschiebegefängnisse etabliert, in die Menschen nur deshalb eingesperrt werden, weil sie das Versprechen der Freiheit ernst nehmen". Das Grenzregime stellt jedoch ein Paradoxon dar: Es soll die Bewegung von Menschen verhindern, in einer Welt, die mehr denn je durch Mobilität gekennzeichnet ist. Die Kontrollen stellen eine künstliche Verknappung des Gutes Bewegungsfreiheit dar, das heute einfacher denn je hergestellt werden kann. Die andere Seite der Medaille ist daher, dass Migranten trotz der beschriebenen Politik durchbrechen. Grenzen durchziehen Deutschland Geografische Grenzen verlieren auch für jene Menschen, die ohne die dafür notwendigen Papiere ihren Lebensort wechseln wollen, an Bedeutung. Die Möglichkeiten zu reisen, sind heute so groß wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Umso absurder wirkt es, wenn das Recht, diese Möglichkeiten zu nutzen, bestimmten Menschen verweigert wird. Am Flughafen Düsseldorf gibt es jeden Tag fast 600 Starts und Landungen. Als der Flug aus Thessaloniki an einem Sonntagmittag im Juli 2013 landet, steigen etwa 200 Passagiere aus. Jüngere, Ältere, Familien mit Kindern, die Reisenden sind braun gebrannt. Sie schreiten die Gangway entlang in das Gebäude des Flughafens. Es geht eine Treppe hinauf. Nach dem Ende der Stufen hasten alle auf eine Glastür zu, manche schauen etwas irritiert nach links und laufen ohne Grenzkontrolle weiter zum Gepäckband. Alle bis auf einen. Auf dem Gang sind fünf Männer und eine Frau postiert. Die Polizisten haben die Passagiere im Blick und halten als einzigen einen jungen Mann an. Er trägt beige Shorts, die Sonnenbrille hat er über die Stirn gezogen, den Rollkoffer zieht er hinter sich her. Seine Haut ist etwas dunkler als die der anderen Passagiere. Obwohl Griechenland und Deutschland dem Schengen-Raum angehören, in dem zwischen EU-Staaten sowie Norwegen, der Schweiz, Island und Liechtenstein Freizügigkeit herrscht, wird dieser Mann einer Grenzkontrolle unterzogen, die so nicht genannt werden will. "Das ist keine Kontrolle", sagt die Beamtin der Bundespolizei, "das ist eine Befragung." Derweil begutachtet der Polizist den türkischen Reisepass des Mannes, schaut sich die Stempel darin an und hält ihn waagerecht gegen das Licht, um seine Echtheit zu prüfen. Mehrere Minuten reden sie mit dem Reisenden. Bundespolizisten dürfen in Zügen und auf Bahnhöfen, im Grenzgebiet und auf Flughäfen "lagebildabhängige Befragungen" vornehmen, um die Identität von Reisenden zu kontrollieren. Grenzen durchziehen Deutschland. Das Ziel ist, die illegale Einreise zu verhindern. Die Bundespolizei beteuert, dass dabei nicht nur die Hautfarbe des Menschen eine Rolle spielt, sondern auch Informationen über Schleuserrouten. Faktisch werden Bürger aber schlicht aufgrund ihrer Hautfarbe kontrolliert, sie werden damit zu Unrecht verdächtigt. Ein afro-deutscher Student hatte 2012 dagegen geklagt. Das Oberverwaltungsgericht in Koblenz urteilte, dass diese Kontrollen verfassungswidrig sind. Sie verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot. Die Bundespolizei sagt, ihre Beamten würden schon in ihrer Ausbildung in Grundrechtsfragen sensibilisiert. Auf die Frage, wie garantiert werde, dass keine verfassungswidrigen Kontrollen mehr stattfinden, antwortet die Polizistin am Flughafen: "Das können wir nicht garantieren." Als diese faktischen Grenzkontrollen im Inland 1998 eingeführt wurden, stellte die Bundespolizei 40.000 Fälle von unerlaubter Einreise fest. Seitdem sind die Zahlen kontinuierlich auf etwa die Hälfte gesunken. Denn viele neue EU-Bürger erhielten die Möglichkeit, legal einzureisen, und auch die Kriege im damaligen Jugoslawien, die viele Menschen zur Flucht zwangen, wurden beendet. Die Zahl der Personenkontrollen hat sich jedoch zwischen 2005 und 2012 verdreifacht: von einer Million auf über drei Millionen jährlich. Die meisten finden im Grenzraum bis 30 Kilometer ins Inland hinein statt. Deutsche Polizeibeamte diskriminieren dadurch immer mehr Menschen mit "ausländischem" Aussehen in Deutschland, denn im Verhältnis zur Zahl dieser Kontrollen bleibt die Zahl der tatsächlich wegen unerlaubter Einreise Festgenommenen gering. Manchmal werden infolge dieser Kontrollen auch Diebstähle aufgedeckt. Der abschreckende Effekt auf Migranten sollte allerdings nicht überschätzt werden. Wenn Kriege ausbrechen und Menschen fliehen müssen, können auch diese mobilen Grenzkontrollen nicht verhindern, dass mehr illegale Einreisen stattfinden. Seit 2011 steigt deren Zahl wieder an. 2012 wurden etwa 25.000 Fälle von der Bundespolizei aufgedeckt. Am Düsseldorfer Flughafen hat die Bundespolizei im Jahr 2012 etwa 4.600 Menschen kontrolliert. 89 Personen wurden wegen unerlaubter Einreise festgehalten. 98 Prozent der Betroffenen wurden zu Unrecht verdächtigt. Und manch einer ist wohl einfach nicht aufgefallen. Der türkische Tourist aus Saloniki durfte nach erfolgter Kontrolle weitergehen. Dieses Glück haben jene Menschen nicht, die in Deutschland Schutz suchen und dann festgenommen und in Abschiebegefängnisse gesteckt werden. So soll ihre Zurückschiebung in andere EU-Staaten durchgesetzt werden. "In grenznahen Abschiebehaftanstalten – wie z.B. Rendsburg oder Eisenhüttenstadt – sind bis zu 90 Prozent der Inhaftierten Asylsuchende (die über EU-Drittstaaten in Deutschland einreisten, Anm. d. Red.), die von der Bundespolizei aufgegriffen wurden", berichtet die Organisation ProAsyl und kritisiert, dass durch die gegenwärtige Praxis "die Schutzmechanismen für Asylsuchende systematisch unterlaufen" werden. Dadurch wird Abschiebehaft zur Norm, obwohl sie ursprünglich als absolute Ausnahme gedacht war. Menschen, die sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nehmen, werden behandelt, als hätten sie ein Verbrechen begangen. Der Übersetzer Reza (links) und der Asylbewerber Arrash Dosthossein aus dem Iran (Mitte) geben am 5. November 2012 in Berlin eine Pressekonferenz. Die Flüchtlinge protestieren gegen die Residenzpflicht, Sammelunterkünfte und die Asylpolitik in Deutschland. (© picture-alliance/dpa) Minderjährige Flüchtlinge protestieren am 21. August 2009 mit dem Slogan "We want freedom we don’t want food" gegen ihre Internierung in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. (© picture-alliance/dpa, epa ANA) Die Residenzpflicht galt lange Zeit bundesweit für den Regierungsbezirk und wurde infolge der Proteste der Flüchtlingsbewegung, die 2000 ihren Anfang nahmen, gelockert. Die Flüchtlinge verlangen gleichwohl ihre Abschaffung. Luis Cabrera, The Practice of Global Citizenship, Cambridge 2010. Vgl. den Brief der Europäischen Grünen an den griechischen Innenminister Nikos Dendias vom 30.11.2012 infolge der Besichtigung des Lagers durch die grüne EU-Parlamentarierin Rebecca Harms, Externer Link: http://www.greens-efa.eu/fileadmin/dam/Documents/Letters/20121130__Letter__Minister_Dendias.pdf (1.10.2013). Miltiadis Oulios, Blackbox Abschiebung, Berlin 2013, S. 302. Marei Pelzer/Uli Sextro, Schutzlos hinter Gittern, hrsg. von ProAsyl und Diakonisches Werk in Hessen und Nassau, Frankfurt/M. 2013, S. 14f.
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, Miltiadis Oulios
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-11-11T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/172370/deutschlands-grenzen-tauziehen-um-das-recht-auf-bewegungsfreiheit/
Grenzen manifestieren sich heute durch Kontrollen in Innenstädten, auf Flughäfen oder auch am Mittelmeer. Menschen, die sich trotz fehlender Erlaubnis das Recht auf Bewegungsfreiheit nehmen, praktizieren ein Weltbürgerrecht.
[ "Residenzpflicht", "Duldung", "illegale Einwanderer", "Grenzkontrolle", "Deutschland" ]
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Der Zweite Weltkrieg und seine Vorläuferkonflikte | Zeitalter der Weltkriege | bpb.de
1931-1939 1931 Einfall Japans in die Mandschurei 1932 Proklamation des von Japan abhängigen chinesischen Marionettenstaates Mandschukuo 1935 Überfall Italiens auf Abessinien 1936-1939 Spanischer Bürgerkrieg 1936 Begründung der Achse Rom-Berlin, Antikominternpakt mit Japan 7. März 1937 Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes 1937 Beitritt Italiens zum Antikominternpakt 7. Juli 1937 Beginn des chinesisch-japanischen Krieges 12. März 1938 "Anschluss" Österreichs 1. Oktober 1938 "Anschluss" des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1939 15. März 1939 "Zerschlagung" der Tschechoslowakei 1. September Deutscher Überfall auf Polen 3. September Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens an das Deutsche Reich 17. September Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee 25. - 27. September Schlacht um Warschau 27. September Kapitulation Polens 1940 9. April - 10. Juni Deutsche Truppen besetzen Dänemark und Norwegen 24. April - 28. Mai Schlacht um Narvik 30. April Errichtung eines ersten Gettos in Lódz´ 10. Mai - 22. Juni Deutscher Angriff auf Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich 15. Mai Kapitulation der Niederlande 26. Mai - 4. Juni Evakuierung der französischen und britischen Truppen bei Dünkirchen 28. Mai Kapitulation Belgiens 5.-22. Juni Schlacht um Frankreich 10. Juni Kriegserklärung Italiens an Frankreich 22. Juni Abschluss des deutsch-französischen Waffenstillstands in Compiègne 13. August - Frühjahr 1941 "Luftschlacht um England" 13. September Italienischer Angriff auf Ägypten 27. September Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan 28. Oktober Italienischer Angriff auf Griechenland Ende 1940 - Februar 1941 Erfolgreiche Gegenoffensive der Briten in Nord- und Ostafrika 1941 11. Februar Entsendung deutscher Truppen nach Nordafrika (Tripolis), Rückeroberung der Cyrenaika 6. April Deutscher Überfall auf Griechenland und Jugoslawien 6.-17. April Besetzung Jugoslawiens 6.-30. April Besetzung Griechenlands, ab Mitte April Stellungskrieg an der libysch-ägyptischen Grenze 13. April Neutralitätspakt zwischen Japan und der Sowjetunion 20. Mai - 1. Juli Nach deutscher Luftlandeoperation "Merkur" wird Kreta von dt. Truppen erobert 22. Juni Deutscher Angriff auf die Sowjetunion 26. Juni - 9. Juli Kesselschlachten von Bialystok und Minsk 16. Juli - 5. August Schlacht bei Smolensk 26. Juli Japanische Besetzung Französisch-Indochinas 14. August "Atlantik-Charta" von Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt 15.-26. September Schlacht bei Kiew September 1941 - 27. Januar 1944 Deutsche Belagerung von Leningrad (Petersburg) 2.-20. Oktober Doppelschlacht bei Wjasma und Brjansk 18. November Erfolgreiche britische Operation "Crusader" drängt deutsche Truppen an den Westrand der Cyrenaika zurück 5. Dezember Beginn der sowjetischen Gegenoffensive vor Moskau 7. Dezember Japanischer Angriff auf die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor 10. Dezember Entsetzung der seit April 1941 von Deutschen eingeschlossenen brit. Festung Tobruk 11. Dezember Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die USA 1942 1. Januar Bildung der Anti-Hitler-Koalition aus USA, Großbritannien, UdSSR und 23 weiteren Staaten 20. Januar Wannsee-Konferenz zur Organisation des Völkermords an den Juden Europas Frühjahr Beginn der systematischen Ermordung der Juden durch Giftgas 26. Mai Britisch-sowjetischer Bündnisvertrag 7. Juni - 1. Juli Deutsche Eroberung von Sewastopol 30. Juni - 2. November Schlacht um El Alamein 3.-7. Juli Amerikanischer Sieg bei den Midway-Inseln 23. August - 2. Februar 1943 Schlacht um Stalingrad 7./8. November Landung alliierter Truppen in Nordafrika (Marokko und Algier) 1943 Ausdehnung des alliierten Flächenbombardements vom Westen her auf ganz Deutschland 14.-26. Januar Konferenz von Casablanca zwischen Roosevelt und Churchill Ende Januar Deutsche Truppen geben Libyen auf 31. Januar / 2. Februar Kapitulation der 6. dt. Armee in Stalingrad 19. April - 16. Mai Warschauer Getto-Aufstand 13. Mai Kapitulation der deutsch-italienischen Truppen in Nordafrika (Tunis) 24. Mai Abbruch des deutschen U-Boot-Krieges im Nordatlantik 5.-13. Juli Panzerschlacht bei Kursk 9. Juli Landung der alliierten Truppen in Salerno südlich von Neapel 10. Juli Alliierte Landung auf Sizilien 17. Juli Beginn der Sommeroffensive der Sowjetarmee mit Rückeroberung Charkows, des Donez-Beckens und des Kuban-Brückenkopfes auf der Halbinsel Taman 25. Juli Sturz Mussolinis 3. September Die Alliierten setzen auf das italienische Festland über 6. November Befreiung von Kiew 28. November - 1.Dezember Konferenz von Teheran zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin Ende 1943 Alliierter Vormarsch in Italien stoppt an der nördlich von Neapel quer durchs Land verlaufenden "Gustav-Linie" 24. Dezember - 27. Januar 1944 Sowjetische Winteroffensive gegen die Heeresgruppe Süd 1944 sämtliche Fronten des Krieges verschieben sich in Richtung Deutsches Reich 17. Januar-18. Mai Schlacht um Monte Cassino 20. Januar Rückeroberung Nowgorods durch die Rote Armee 27. Januar Entsetzung Leningrads Ab März 1944 Uneingeschränkte Luftherrschaft der Alliierten über Deutschland 4. März - 12. Mai Sowjetische Frühjahrsoffensive mit Einnahme von Odessa und, Ende April, der Ukraine 12. Mai Rückeroberung der Krim 4. Juni Einzug der alliierten Truppen in Rom 6. Juni Landung der Alliierten in Nordfrankreich 10. Juni Massaker von Oradour-sur-Glane 15.Juni - 10. August Schlacht um die Marianen-Inseln Juni/Juli Sowjetische Großoffensive. Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe Mitte 31. Juli Durch eine Frontlücke bei Avranches gelangt die US-Armee nach Süden, Richtung Loire, nach Westen zur Bretagne und nach Osten Richtung Seine Anfang August steht die Rote Armee vor Warschau 1. August - 2. Oktober Warschauer Aufstand 3.-6. Oktober See- und Luftschlacht im Golf von Leyte 15. August Französische und US-Einheiten landen an der fanzösischen Mittelmeerküste zwischen Toulon und Cannes 25. August Die Westalliierten marschieren in Paris ein. Ende des Vichy-Regimes 25. August Rumänien kündigt Deutschland das Bündnis auf 8. September Bulgarien kündigt Deutschland das Bündnis auf 11. September US-Truppen betreten erstmals deutschen Boden 19. September Finnland kündigt Deutschland das Bündnis auf 21. Oktober Mit Aachen wird die erste deutsche Großstadt von den Westalliierten eingenommen 16. Dezember - 27. Dezember Ardennenoffensive 27. Dezember - 5. März Die Alliierten erobern das gesamte linksrheinische Gebiet 1945 12. Januar Beginn der sowjetischen Winteroffensive auf Ostpreußen und Schlesien 21. Januar Östlich von Breslau betritt die Rote Armee erstmals deutsches Reichsgebiet 27. Januar Befreiung der letzten Häftlinge von Auschwitz durch die Rote Armee 4.-11. Februar Konferenz von Jalta zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin 19. Februar - 26. März Schlacht um Iwojima Mitte Februar Die Rote Armee setzt über die Oder 1. April - 30. Juni Schlacht um Okinawa 16. April - 2. Mai Schlacht um Berlin 25. April Treffen von US-und Sowjet-Truppen in Torgau an der Elbe 30. April Selbstmord Hitlers in Berlin 4. Mai Kapitulation der deutschen Streitkräfte in Dänemark, Nordwestdeutschland und den Niederlanden 7./8. Mai Deutsche Kapitulation in Reims und Berlin-Karlshorst 17. Juli - 2. August Potsdamer Konferenz zur Behandlung Deutschlands 6./9. August Amerikanische Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki 8. August Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan 2. September Förmliche Kapitulation Japans zusammengestellt nach: Externer Link: www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/index.html; Brockhaus-Verlag (Hg.), Weltgeschichte der Neuzeit. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Mannheim 2005, Seite 310; Putzger – Historischer Weltatlas, Cornelsen Verlag, Berlin 2011 Seite 199 ff.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-19T00:00:00"
"2014-05-09T00:00:00"
"2022-01-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/zeitalter-der-weltkriege-321/183901/der-zweite-weltkrieg-und-seine-vorlaeuferkonflikte/
Einfall Japans in die Mandschurei 1932 Proklamation des von Japan abhängigen chinesischen Marionettenstaates Mandschukuo..
[ "Zweite Weltkrieg", "Weltkrieg", "Konflikt", "2. Weltkrieg", "USA", "Japan" ]
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Bundesinnenminister Schäuble besucht Best-Practice-Projekt zur Prävention von extremistisch motivierten Gewaltstraftaten | Presse | bpb.de
Anlässlich seines Besuchs bei Violence Prevention Network informierte sich Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble über die neuesten und nachweislich effektiven Methoden zur Verringerung von vorurteilsmotivierten Gewaltstraftaten. Mit der von Violence Prevention Network entwickelten Methode der Verantwortungspädagogik® konnte die Rückfallquote bei den betreuten Gewaltstraftätern seit 2001 deutlich gesenkt werden. Zugleich wurden damit im Justizvollzugsbereich signifikant Kosten eingespart. Angesichts der durchschnittlichen bundesdeutschen Rückfallquote von 78% bei Gewaltstraftaten von Jugendlichen und den damit verbundenen hohen Ausgaben zeigte sich der Innenminister beeindruckt. "Wir müssen Projekte wie dieses in die Breite tragen. Dass mit einer solchen klugen und gezielten Arbeit auch noch immense Kosten gespart werden können, ist ein erfreuliches Nebenprodukt", betonte der Minister im Anschluss an die Projektpräsentation. "Politik hat die Aufgabe dafür zu sorgen, dass sich die Menschen in unserem Land dieser Gesellschaft zugehörig fühlen und ihr nicht feindselig gegenüber stehen. Gerade jungen Männern müssen wir eine Perspektive fern ab von Gewalt und Extremismus bieten. Das aber kann der Staat, kann die Politik nicht allein gewährleisten. Das Gute ist: Andere können das auch - wie wir an diesem Projekt sehen. In Kooperation und mit Unterstützung der Bundesregierung werden bei diesem Projekt verschiedene Kompetenzen zusammengebracht und erfolgreich umgesetzt", sagte der Minister in Berlin. Das von Violence Prevention Network entwickelte Programm "Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt" legt den Schwerpunkt auf eine Verbindung von politischer Bildungsarbeit und Anti-Gewalt-Training mit rechtsextremistisch bzw. fundamentalistisch gefährdeten jugendlichen Gewaltstraftätern. Ziel des Programms ist es, vorurteilsmotivierte Gewaltstraftaten von Jugendlichen zu reduzieren und Wiederholung und Rückfall zu verhindern. Im Rahmen eines freiwilligen pädagogischen Gruppentrainings in der Haft und eines gezielten Einzelcoachings nach der Haftentlassung erreichen die jugendlichen Gewaltstraftäter gemeinsam mit den Trainerinnen und Trainern ein straffreies Leben durch selbstverantwortliche Lebensführung und Distanz zu menschenverachtenden Ideologien und Handlungen. Die Finanzierung des Programms ist zunächst für ein weiteres Jahr gesichert. Ulrich Dovermann von der Bundeszentrale für politische Bildung wies nachdrücklich auf die Probleme bei der Überführung erfolgreicher Projekte in dauerhafte Arbeit hin. Er hat für die Bundeszentrale für Politische Bildung das Programm "Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt" im Jahr 2001 mit entwickelt und seither wissenschaftlich begleitet. Violence Prevention Network ist ein Verbund erfahrener Fachkräfte, die seit Jahren in der Präventions- und Bildungsarbeit tätig sind. Das Programm "Verantwortung übernehmen - Abschied von Hass und Gewalt" wird seit sieben Jahren mit Erfolg in mittlerweile sieben Bundesländern umgesetzt. Ab 2009 übernehmen zwei weitere Bundesländer das Programm; zudem soll die Übertragung des Ansatzes nach Nordirland erfolgen. Weitere Informationen über: Externer Link: www.violence-prevention-network.de Externer Link: www.bmi.bund.de Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version 96 KB Ansprechpartner Violence Prevention Network e. V. Judy KornGeschäftsführerin Tel +49 (0)30 917054-64 Ansprechpartner/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Ulrich Dovermann Fachbereich Extremismus Adenauerallee 86 53113 Bonn Pressekontakt Bundesministerium des Innern Stefan Paris (verantwortlich) Pressereferat Tel +49 (0)30 18681-1022/1023 Redaktion: Markus Beyer Gabriele Hermani Dr. Christoph Hübner Daniela-Alexandra Pietsch Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Pressestelle Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50298/bundesinnenminister-schaeuble-besucht-best-practice-projekt-zur-praevention-von-extremistisch-motivierten-gewaltstraftaten/
Anlässlich seines Besuchs bei Violence Prevention Network informierte sich Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble über die neuesten und nachweislich effektiven Methoden zur Verringerung von vorurteilsmotivierten Gewaltstraftaten.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Editorial | 15 Jahre Mauerfall | bpb.de
"In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung." So begann der Gründungsaufruf des Neuen Forums im September 1989. Die Feier zum 40. Jahrestag der DDR wenig später war eine gespenstische Veranstaltung. Am 7. Oktober tauschten Erich Honecker und der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow im Palast der Republik Trinksprüche aus, während "das Volk" vor der Tür skandierte: "Gorbi, hilf!" Die Sicherheitskräfte reagierten mit kompromissloser Härte. Von Erich Mielke, der nach Gorbatschows Abreise den Polizeieinsatz persönlich leitete, ist der Satz überliefert: "Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus!" Zwei Tage später schien es in Leipzig zum Showdown zwischen den Montagsdemonstranten und der Staatsmacht zu kommen. Im Juni hatte die Volksbefreiungsarmee unter den protestierenden Studenten in Peking ein Blutbad angerichtet. Vieles deutete darauf hin, dass die SED-Führung gegen die bereits seit dem Spätsommer andauernden Massenproteste die "chinesische Lösung" in Betracht ziehen wollte: Panzer fuhren auf, Straßen wurden abgesperrt und "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" mobilisiert. In Leipzig fiel an diesem 9. Oktober 1989 nicht ein einziger Schuss. Angesichts der schieren Masse der Demonstranten wichen die Sicherheitsorgane zurück. Nach Friedensgebeten zogen über 70000 friedlich über den Ring und riefen "Wir sind das Volk", "Keine Gewalt", "Neues Forum zulassen", "Freie Wahlen" und "Wir bleiben hier". Die Machtfrage war gestellt. Die SED suchte ihr Heil in der Ablösung Honeckers. Sein Nachfolger Egon Krenz behauptete live im DDR-Fernsehen, dass nun eine "Wende" eingeleitet werde, um "die politische und ideologische Offensive" wiederzuerlangen. Die Partei habe "die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug" eingeschätzt. In Wirklichkeit war das Politbüro der SED von der Fluchtwelle Hunderttausender und den Massenprotesten der "Hierbleiber" förmlich überrollt worden. Während des Oktobers hing dieweitere Entwicklung in der Schwebe. Die Massendemonstrationen breiteten sich über das ganze Land aus. Am 9. November kam es zur überstürzten und in jener Nacht wohl unbeabsichtigten Öffnung der Mauer in Berlin. Für die Dialogrhetorik der SED interessierte sich niemand mehr. "Dritte Wege" wurden schon bald ad acta gelegt und die Zeichen auf Vereinigung mit der Bundesrepublik gestellt. Das war der ausdrückliche, im März 1990 mit großer Mehrheit in einer freien Wahl geäußerte Wunsch der Bürgerinnen und Bürger der DDR. Die friedliche Revolution in der DDR war Teil einer Kette von bis dahin kaum vorstellbaren Ereignissen, an deren Ende sich die bipolare Weltordnung auflöste. Worin liegt 15 Jahre danach die Bedeutung jenes "wind of change", der damals durch Europa wehte? Der rasche und weitgehend geräuschlose Zusammenbruch des Ostblocks belegt, dass legitime Macht nicht auf Bajonettspitzen ruht oder aus Gewehrläufen kommt. Ohne demokratische Legitimation haben Regime keine Überlebenschance. Dazu gehören Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Rechtssicherheit, freie Medien, Parteienwettbewerb und freie Wahlen, Reisefreiheit, eine saubere Umwelt und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Dies gilt es hervorzuheben, wenn die Erinnerungen an den Alltag in der DDR zunehmend im Nebel des Vergessens verschwinden. Wer die notwendigen Mühen demokratischer Aushandlungsprozesse mit dem mutigen Aufbegehren gegen eine Diktatur verwechselt, begeht Geschichtsklitterung.
Article
Hans-Georg Golz
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28048/editorial/
Im Herbst 1989 wurde die SED von der Fluchtwelle Hunderttausender und den Massenprotesten der so genannten "Hierbleiber" überrollt. Die friedliche Revolution in der DDR war Teil einer Kette von Ereignissen, an deren Ende sich die bipolare Weltordnung
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Grenzen und Identitäten im Wechselspiel nach 1989/91 | bpb.de
1989 und 1991 – der Mauerfall und der Zusammenbruch der Sowjetunion – markieren das Ende des sozialistischen Systems in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion. Diese Daten stehen für die Hoffnungen – und im Rückblick auch für Enttäuschungen – auf Neuanfänge auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene. Nach etwas mehr als drei Jahrzehnten ordnet sich dieser historische Moment in einen größeren Zusammenhang ein. Das Ende des sozialistischen Systems und der Sowjetunion begann lange vor 1989/91, und das imperiale Erbe wirkt bis heute nach. Der Begriff der Grenze ist untrennbar mit den Entwicklungen von 1989 und 1991 verbunden. Die Maueröffnung 1989 ist das Symbol schlechthin für das Durchbrechen einer physischen und systemischen Grenze. Die Öffnung dieser in Beton gegossenen, gewaltsam kontrollierten Grenze beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion und die damit einhergehende postimperiale Neuordnung auf der Grundlage unabhängiger Nationalstaaten. Dieser Beitrag nähert sich den Nachwirkungen des Schlüsselmoments 1989/91 als Trias von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Die Fokussierung auf Prozesshaftigkeit nimmt dem Grenzbegriff seine Aura der Statik und Irreversibilität. Diese Perspektive umfasst verschiedene Akteure an konkreten Orten und gibt damit den Erfahrungen, Ansichten und Identitäten der Bevölkerung mehr Raum, als es in strukturalistischen oder elitenorientierten Erklärungsansätzen der Transformationsforschung üblich ist. In ihrer Definition als "Orte" (places) richten Grenzen den Blick auf die Erfahrungen, Praktiken und Meinungen der in Grenzgebieten lebenden und durch sie geprägten Bevölkerung. So wird zum Beispiel die Wahrnehmung rechtlicher und alltäglicher Grenzregime durch eine neue Art der Grenzziehung durch die EU-Osterweiterung auf lokaler Ebene in den östlichen Nachbarstaaten der EU greifbar. Diese führte nach einer Phase der Grenzöffnungen zu neuen Mobilitätseinschränkungen und Anpassungen sowohl im Alltag als auch auf der politischen Ebene, so zum Beispiel entlang der Westgrenze der Ukraine zu Polen, Ungarn, der Slowakei und Rumänien. Grenzen definieren oftmals umstrittene Regionen, in denen historisch gewachsene oder gegenwärtige politische Ansprüche und Projekte aufeinanderprallen. Viele Grenzen sind aus Kriegen, Okkupation oder Unabhängigkeitsbestrebungen hervorgegangen. Der Soziologe Steffen Mau hat Grenzen kürzlich als "Sortiermaschinen" bezeichnet und dabei auf das Paradox hingewiesen, dass die Bedeutung von (ex)territorialen Grenzen und Grenzkontrollen im Zuge der Globalisierung zu- und nicht abnimmt und dabei eine Eigendynamik entfaltet. Das multi- und interdisziplinäre Feld der Grenzforschung hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr dynamisch entwickelt. Hier knüpft dieser Beitrag an und nimmt die Verknüpfung von Grenzen und Identitäten in den Blick. Die Border Studies beruhen in erster Linie auf geografischen und ethnografischen Ansätzen, mit denen Grenzen "von unten" betrachtet werden, das heißt, im Vordergrund stehen die Praktiken, Erfahrungen und Einstellungen derjenigen, für die die Grenzen zum Lebensalltag gehören. Von den metaphorischen "Linien im Sand" re-orientiert sich die Forschung zu den facettenreichen Grenzpraktiken von staatlichen und insbesondere nicht-staatlichen Akteuren. Auch Hinterlassenschaften in der Form von Phantomgrenzen, die infrastrukturell, mental oder elektoral nachwirken, gehören zu diesem Forschungsansatz. In der nachfolgenden Darstellung liegt der Fokus auf den mit gewaltsamen Konflikten verbundenen Grenzziehungen und dem Wechselspiel von Grenzen und Identitäten im postsowjetischen Raum. Konflikte und De-facto-Staaten Der Desintegrationsprozess der auf dem Papier als Föderation verfassten Sowjetunion führte zu einer Reihe von gewaltsamen Territorialkonflikten. Die ersten Konflikte waren unmittelbar mit der Auflösung der Sowjetunion und der nationalen Politik der Nachfolgestaaten verknüpft (Nagorny-Karabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien), in einigen Fällen kam es zu einem zweiten Konfliktzyklus (Abchasien und Südossetien 2008 und Nagorny-Karabach 2020). Der gewaltsame Konflikt in der Ostukraine begann erst 2014, ist aber ebenfalls eng mit den Hinterlassenschaften der Sowjetunion verknüpft. Neben wirtschaftlichen und infrastrukturellen Verflechtungen haben sich vor allem politische Ansprüche und Denkmuster des ehemaligen imperialen Zentrums erhalten. Die Nicht-Anerkennung der ukrainischen staatlichen Unabhängigkeit, die in der Rhetorik vom "slawischen Brudervolk" zum Ausdruck kommt, zieht sich durch die Reden und die gesamte Politik des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin. Insgesamt wird der Zusammenbruch der Sowjetunion im Vergleich mit den mit dem Zerfall Jugoslawiens verknüpften Kriegen oft als erstaunlich friedlich dargestellt. Dieses Bild greift jedoch zu kurz. Allein der Krieg in der Ostukraine hat bisher etwa 14000 Menschen das Leben gekostet; mindestens 1,5 Millionen Menschen aus dem Donbass sind zu Binnenflüchtlingen geworden, weitere etwa 1 Million sind aus dem Donbass nach Russland geflüchtet. Im Abchasienkonflikt starben bis 1993 über 15000 Menschen, und etwa 200000 Georgier*innen flohen beziehungsweise wurden vertrieben. In erneuten gewaltsamen Auseinandersetzungen im Russisch-Georgischen Krieg 2008 starben etwa 1000 weitere Menschen; über 100000 flohen. In Transnistrien forderte der kurze gewaltsame Konflikt 1992 etwa 1000 Menschenleben. Im Krieg um Nagorny-Karabach, der mehrheitlich armenischen Enklave in Aserbaidschan, die ab 1988 versuchte, sich von Aserbaidschan loszusagen, kamen in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1991 und 1994 etwa 30000 Menschen ums Leben, und Hunderttausende mussten fliehen. Der erneute Konflikt 2020 brachte weitere 6000 bis 7000 Opfer mit sich. Das Ausmaß an Gewalt und der Effekt auf Wahrnehmungen und Identitäten sind somit über einen längeren Zeitraum zu berücksichtigen. In der sowjetischen Praxis waren Grenzziehungen und Zwangsumsiedlungen ein wichtiges Mittel der imperialen Kontrolle von Vielfalt, aber auch Willkür prägte die internen Grenzen und die abgestuften Autonomie-Regelungen innerhalb der 15 Sowjetrepubliken (die nächsthöhere Ebene war die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik, ASSR, innerhalb einer Sowjetrepublik). Dem komplexen hierarchischen System der in der sowjetischen Verfassung aufgeführten Autonomierechte, zum Teil verbunden mit Zugeständnissen in der Sprachenpolitik oder einer Überrepräsentanz nationaler Minderheiten in den politischen Institutionen, war in der praktischen Umsetzung ein enger Rahmen gesetzt. Staatliche Institutionen waren den Strukturen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion untergeordnet. Dennoch boten diese formellen Rechte auf verschiedenen Ebenen des Systems institutionelle Anknüpfungspunkte, um politische Ansprüche und Identitäten im Reformprozess der 1980er und 1990er Jahre zu formulieren und zu mobilisieren. Autonomie als Mittel der Eindämmung von Konfliktpotenzial beziehungsweise Konfliktmanagement wird in der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung nach wie vor kontrovers diskutiert. Die sowjetischen Autonomien per se waren nicht die direkte Ursache der ethnoterritorialen Konflikte in den frühen 1990er Jahren. Vielmehr waren es die Versuche, diese genau zu dem Zeitpunkt abzuschaffen, als formal bestehende Rechte auf verschiedenen politischen Ebenen aktiv eingefordert wurden. Das sowjetische System der Autonomien, ein integraler Bestandteil der imperialen Strategie des divide et impera, entwickelte sich somit von einem je nach Einzelfall stabilisierenden beziehungsweise unbedeutenden institutionellen Rahmen zu Zeiten der Sowjetunion zu einem signifikanten Faktor im Desintegrationsprozess und in der Eskalationsspirale in Transnistrien (Moldau), Abchasien und Südossetien (Georgien). Diese Richtung in der Kausalitätskette hat bisher durch eine Fokussierung auf Autonomie als ein opportunes Mobilisierungsinstrument von Eliten nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten. Detaillierte Fallanalysen zeigen jedoch, wie institutionelle Mechanismen Identitäten prägen und Kristallisationspunkte für Mobilisierung bieten, wenn – so die Wahrnehmung – gegen bereits bestehende Institutionen, Normen oder Möglichkeiten verstoßen wird. Bis heute ist keiner dieser Territorialkonflikte aus den 1980er und 1990er Jahren gelöst beziehungsweise beständig durch interne oder externe Akteure reguliert worden. Der im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs weit verbreitete Begriff der "eingefrorenen Konflikte" vermag die Realität dieser Konflikte nicht abzubilden. Der Begriff passt nicht zu einem dynamischen Verständnis von Grenzen und beschreibt eher den Wunschgedanken internationaler Akteure, die den Konflikt de-eskalieren oder beenden wollen. Die suggerierte Stabilität ist längst widerlegt worden: Gewalt mag sich für einen gewissen Zeitraum regulieren oder eindämmen lassen, doch die Möglichkeit einer erneuten Eskalation ist stets gegeben, wie etwa 2008 in Georgien und 2020 in Nagorny-Karabach. Auch ohne erneute gewaltsame Auseinandersetzungen verändern sich die lokalen Dynamiken der Konflikte. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird der Begriff der "eingefrorenen Konflikte" mit Bezug auf Nagorny-Karabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien zunehmend durch den Begriff der "De-facto-Staaten" ersetzt. Unter diesen Begriff werden staatsähnliche Gebilde gefasst, die das Resultat von Sezession, dem teilweisen oder vollständigen Kontrollverlust durch den Mutterstaat beziehungsweise durch Abhängigkeit von einem anderen, als Patron fungierenden Staat sind. De-facto-Staaten verfügen zumindest in Teilen über ein Gebiet, ein Volk und staatliche Institutionen, doch fehlt ihnen die mehrheitliche internationale Anerkennung als Staat. Wie die Beispiele in Osteuropa zeigen, sind De-facto-Staaten keine temporäre oder homogene Erscheinung. Sie sind auch mehr als nur politische Instrumente geopolitischer Interessen. Die Resilienz von De-Facto-Staaten erhält allmählich in sozialwissenschaftlichen Debatten mehr Aufmerksamkeit. Forschung zu De-facto-Staaten stellt Wissenschaftler*innen vor zahlreiche Herausforderungen – vom erschwerten Zugang zum jeweiligen Territorium bis hin zur Erhebung empirischer Daten. Nach wie vor ist zu wenig bekannt über die Erfahrungen und Einstellungen der Bevölkerung der osteuropäischen De-Facto-Staaten. Die wenigen existierenden systematischen, mit lokalen Partnern umgesetzten Umfragen zeigen neben Unterschieden zwischen den einzelnen Fällen eine vergleichbare wachsende lokale Legitimität der Regime auf. Mit dem seit 2014 andauernden Krieg in der Ostukraine sind zwei De-facto-Staaten hinzugekommen: die "Volksrepublik Donezk" und die "Volksrepublik Luhansk" – beide von lokalen Separatisten mit militärischer und finanzieller Unterstützung Russlands errichtet und erhalten. Anhand der Ukraine samt ihrer internen Diversität lassen sich die postimperialen Herausforderungen und die langfristigeren Nachwirkungen des sowjetischen institutionellen und mentalen Erbes gut veranschaulichen. Ukraine: Krim und Ostukraine Anders als in den gewaltsamen Konflikten, die aus der Mobilisierung gegen die Abschwächung oder Abschaffung sowjetischer Autonomien im Kontext einer neuen nationalstaatlichen Politik hervorgingen, war die Ausgangslage auf der Krim eine andere: Um lokale Autonomiebestrebungen einzubinden, hatte der Oberste Sowjet der Ukraine noch 1991 das Prinzip einer regionalen Autonomie innerhalb der Ukrainischen Sowjetrepublik gebilligt. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine bestand die Herausforderung darin, diese institutionelle Hülse als direkte Hinterlassenschaft aus der späten Sowjetzeit mit Inhalt zu füllen. Eine interne institutionelle Grenzziehung, die Flexibilität bei der Ausgestaltung zuließ, erwies sich als konflikthemmende Anreizstruktur für unterschiedliche politische Kräfte und ihre Vorstellungen für einen angemessenen Status für die Region. Die Krim, die erst 1954 durch eine sowjetische Grenzverschiebung von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zur Ukrainischen Sowjetrepublik transferiert worden war, wurde nach 1991 zur ersten großen territorialen Herausforderung für den jungen ukrainischen Staat, der in den von der Sowjetunion geprägten Grenzen zum ersten Mal in seiner Geschichte seine Unabhängigkeit ausgestalten konnte. Das Konfliktpotenzial bestand aus vier Dimensionen: erstens einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine (dieser Konflikt wurde in zeitgenössischen Analysen und Kommentaren besonders betont), zweitens einem intraregionalen Konflikt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen auf der Krim, drittens einem gesellschaftlichen Konflikt in Verbindung mit der Integration der Krimtataren und viertens einem politischen Konflikt zwischen dem Zentrum Kiew und der Krim als Peripherie im neuen Staatsgefüge. Letztendlich wurde die Krim in der frühen postsowjetischen Phase zu einem Paradebeispiel für das Management von Konfliktpotenzial und der Anerkennung regionaler Identitäten. Eine Schlüsselrolle kam bei diesem Konfliktmanagement den Verhandlungen über einen Autonomiestatus der Krim zu. Sowohl auf der Krim als auch im Zusammenspiel zwischen den politischen Institutionen auf nationaler und regionaler Ebene wurden von 1991 bis 1998 das Prinzip und die Definition der Autonomie im Verfassungsprozess verhandelt. Die "Autonome Republik der Krim" (mit separatem Status für die Stadt Sewastopol) wurde in der ukrainischen Verfassung trotz der Definition eines unitären Staates verankert (Art. 10) und in der Krim-Verfassung von 1998 im Detail ausgeführt. Dieser Kompromiss unterstreicht die Bedeutung interner Grenzziehungen bei der Anerkennung von Diversität im Staat. Die 1998 in der ersten von Kiew akzeptierten Krim-Verfassung definierten Autonomierechte sind begrenzt – beispielsweise die Festlegung von drei offiziellen Sprachen (Ukrainisch, Russisch, Krimtatarisch) und die Möglichkeit, lokal erhobene Steuern einzubehalten. Auch die Symbolik einer verfassungsrechtlichen Autonomie ist ein wichtiges Element beim Management von Konfliktpotenzial. In der Konfliktforschung werden häufig Fragen des institutionellen Designs als Mittel der Konfliktprävention, Konfliktresolution oder Konflikttransformation hervorgehoben. Auf der Krim war es weniger das finale institutionelle Format der Krim-Autonomie, sondern die Verhandlung von institutionellen Optionen (institution-making), Interessen und Identitäten, die konfliktentschärfend wirkte. Verschiedene Faktoren begünstigten die Verhandlungen über den Autonomiestatus, insbesondere die bewusst zurückhaltende Rolle Russlands unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin in Hinblick auf die Mobilisierung einer pro-russischen Bewegung (Republikanische Bewegung der Krim beziehungsweise Block Russland) auf der Krim, die internen Schwächen dieser Bewegung, die sich in der Bevölkerung vor allem durch ökonomische Inkompetenz rasch diskreditierte, der Pragmatismus der politischen Eliten in Kiew und die diffusen ethnopolitischen Trennlinien in einer multiethnisch, mehrheitlich russischsprachigen Region. Als Vermittler trug die OSZE, insbesondere der gerade neu institutionalisierte Hohe Kommissar für nationale Minderheiten, Max van der Stoel, dazu bei, den Rahmen für die Autonomieverhandlungen aktiv mitzugestalten. Eine Reihe von Herausforderungen auf der Krim blieb vom ausgehandelten institutionellen Kompromiss über den Status der Region unberührt, insbesondere die Integration der etwa 250000 Krimtataren, die aus den Orten ihrer Deportation in Zentralasien und Russland auf die Krim zurückkehrten, und die wirtschaftliche Entwicklung der Halbinsel. Politisch wurde sie jedoch ein fester Bestandteil des Südostens der Ukraine. Separatistische Bewegungen gab es bis zur Krim-Annexion durch Russland 2014 nicht, auch wenn dies in der offiziellen russischen Staatsrhetorik heute anders dargestellt wird. Die Annexion der Krim 2014 überraschte die Ukraine, einschließlich der Krimbevölkerung, die EU und die USA – und vermutlich ebenso die Bevölkerung Russlands. Sie verstieß gegen internationales Recht und schuf schnell neue Fakten vor Ort. Russische Sondereinheiten besetzten die Krim im Februar, gefolgt von einem regionalen "Referendum" über den Status der Krim am 16. März 2014. Die Abstimmung, die weder frei noch fair verlief, generierte nach russischen Angaben bei einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent eine Mehrheit von etwa 96 Prozent für die Wiedervereinigung mit Russland. Es folgten ein offizielles Beitrittsgesuch, eine programmatische Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 18. März verbunden mit der Unterzeichnung des Vertrags über den Beitritt der Krim und Sewastopols zur russischen Föderation und schließlich die Ratifizierung durch den Föderationsrat. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Die eigenmächtige Grenzziehung im Widerspruch zu völkerrechtlichen Normen und dem Budapester Abkommen von 1994, das der Ukraine ihre territoriale Integrität im Gegenzug für den Transfer der nach der Auflösung der Sowjetunion auf ihrem Territorium verbliebenen Nuklearwaffen nach Russland garantieren sollte, hat die internationalen Spannungen zwischen den USA und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite stark erhöht. Die Krim-Annexion war sowohl für die EU und die USA als auch für Putins Regierung ein Novum, das ein koordiniertes Vorgehen durch die EU erforderte. Die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sind seitdem auf einem Tiefpunkt. In Russland stieg nach der Krim-Annexion die in Umfragen gemessene Beliebtheit von Präsident Putin auf über 80 Prozent. Die Krim-Annexion blieb kein Projekt der politischen Elite in Russland, sondern gab Russ*innen ein Gefühl von Identität und staatlicher Größe, ein Gefühl, das seit 1991 keinen konkreten Inhalt oder Auslöser mehr gehabt hatte. Die Zugehörigkeit der Krim zu Russland und die hohen Subventionen für die Region werden bis heute weder von den Eliten noch von der Gesellschaft hinterfragt. Es besteht ein übergreifender Krim-Konsens (Krym nash – Die Krim gehört uns.). Das offizielle russische Narrativ spiegelt sich in Teilen auch in westlichen Diskursen. Die Behauptung, dass die Krim "schon immer russisch" gewesen sei, ist weit verbreitet, obwohl bei dieser These Jahrhunderte krimtatarischer Geschichte ausgeblendet werden. Im Rückblick gewinnt auch die russische Rechtfertigung des Einsatzes von Sondertruppen als eine Reaktion auf die angebliche Bedrohung der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim durch Kiew beziehungsweise auf eine regionale Mobilisierung für Unabhängigkeit oder einen Anschluss an Russland über russische Grenzen hinaus an Verbreitung, obwohl diese Mobilisierung mit Russlands Eingreifen forciert wurde. Die Euromaidan-Massenproteste und die Entscheidung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die Ukraine zu verlassen, schufen die Gelegenheit für Putin, einen sorgfältig ausgearbeiteten, vom Westen nicht antizipierten Plan umzusetzen. Mit dem Krieg in der Ostukraine, der im April 2014 auf die Annexion der Krim folgte und bei dem Russland lokale Separatisten militärisch und finanziell unterstützt, werden weitere neue Grenzen in den ukrainischen Staat eingeschrieben. Die Ukraine hat die Kontrolle über einen Teil ihrer Grenze mit Russland verloren, und an der im Rahmen des Minsker Abkommens verhandelten Waffenstillstandslinie, die sogenannte Kontaktlinie, an der bisher kein vereinbarter Waffenstillstand von Dauer war, ist ein neues Grenzregime im Entstehen. Beide Grenzziehungen durch Russland unterminieren die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine und haben Implikationen für den Alltag, die Ansichten und Identitäten der lokalen Bevölkerung und der Bevölkerung der Ukraine insgesamt. Eine Waffenstillstandslinie, zunächst als temporäre Grenze gezogen, durchtrennt integrierte wirtschaftliche und soziale Netzwerke und bleibt in der Regel nicht nur eine temporäre Erscheinung. Grenzziehungen beziehen sich nicht nur auf territoriale Grenzen im engeren Sinne, sondern auch auf Praktiken wie die Ausgabe von russischen Pässen in den "Volksrepubliken", insbesondere vor der russischen Duma-Wahl, oder den Zugang zu russischen Medien und Mobilfunknetzen. Die Möglichkeiten zur Überquerung der Kontaktlinie sind stark eingeschränkt; die Kontakte sind darüber hinaus sehr ungleich verteilt: Aus den "Volksrepubliken" kommen vor allem ältere Leute in die von Kiew kontrollierten Gebiete des Donbass, um ihre Rentenzahlungen zu kassieren. Ethnografische Feldforschung und soziologische Umfragedaten des Zentrums für Ostereuropa- und internationale Studien (ZOiS) 2019 zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Überquerungen der "Kontaktlinie" aus den "Volksrepubliken" und dem weiterhin stark ausgeprägten Verständnis der Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat (mit oder ohne Sonderstatus). Insgesamt überquerte 2019 etwa die Hälfte der Befragten in den "Volksrepubliken" mit variabler Regelmäßigkeit die Kontaktlinie in Richtung der von Kiew kontrollierten Gebiete, davon etwa 14 Prozent einmal pro Monat und etwa 16 Prozent einmal in 6 Monaten. Überquerungen in die andere Richtung sind selten: Etwas über 90 Prozent der Befragten gaben 2019 an, nie auf die andere Seite der Donbass-Region zu gehen. Etwa 50 Prozent der Befragten in den "Volksrepubliken" gaben 2019 an, Verwandte oder Freunde auf der von Kiew kontrollierten Seite zu haben; anders herum waren es nur 31 Prozent (in beide Richtungen war der Trend zwischen 2016 und 2019 rückläufig). Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den Auswirkungen von Krieg auf Identitäten in der Ukraine insgesamt. Die historisch bedingte regionale und ethnolinguistische Vielfalt der Ukraine ist weder gleichbedeutend mit einer klaren Ost-West-Spaltung des Landes noch ein alltägliches Konfliktthema. 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist eine auf den Staat und die ukrainische Staatsbürgerschaft ausgerichtete Identität in der Vorstellung der Bevölkerung und der politischen Eliten fest verankert. Laut der vom ZOiS über den gesamtukrainischen KIIS Omnibus (ohne "Volksrepubliken" und die Krim) erhobenen repräsentativen Umfragedaten kristallisierte sich eine staatsbürgerliche Identität (civic identity) zwischen 2017 und 2018 als wichtigste persönliche Identität bei knapp unter 50 Prozent der Befragten heraus. In dieser Hinsicht hat die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass genau zum Gegenteil von Putins Intentionen geführt: Die Grenzziehungen durch Annexion und Krieg haben eine auf den gemeinsamen Staat ausgerichtete Identität gestärkt, anstatt intern polarisierend zu wirken. Die Konfliktforschung geht in der Regel von einer Polarisierung von Identitäten im Krieg aus. Forschung zu Kroatien und Bosnien und Herzegowina hat jedoch auch gezeigt, dass Ethnonationalismus unter denen, die direkt betroffen sind, schwächer ausgeprägt sein kann. Aus der KIIS Omnibus-Umfrage ist zu ersehen, dass in einem Kriegskontext signifikante Identitätsverschiebungen innerhalb kurzer Zeit erfolgen können. Darüber hinaus war die Mehrheitsmeinung differenzierter und inklusiver als die offizielle Rhetorik des damaligen ukrainischen Präsidenten, der mit dem Slogan "Armee, Sprache, Glauben" 2019 in den Wahlkampf zog und haushoch gegen den Politneuling Wolodymyr Selenskyj mit seiner inklusiven Wahlrhetorik verlor. Zusammenfassung und Ausblick Eine Perspektive, die sich dem Wechselspiel zwischen Grenzen und Identitäten anhand von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen nähert, fokussiert sich auf konkrete Orte, Praktiken, Ansichten und Erinnerungen. Diese Erfahrungen prägen sowohl Konfliktpotenzial und Konfliktmanagement als auch die Identitäten der lokalen Bevölkerung. Der historische Moment 1989/91 ging mit physischen und mentalen Grenzöffnungen einher, doch in der Praxis blieben viele Hoffnungen der Bevölkerung in Grenzregionen unrealistisch beziehungsweise unerreicht. Neue Grenzziehungen, wie die EU-Osterweiterung und die mit ihr einhergehenden Grenzkontrollen an der EU-Außengrenze, schränkten die neu erworbene beziehungsweise erhoffte Mobilität und wirtschaftliche Möglichkeiten wieder ein. Der begrenzete, stark kontrollierte Zugang zu einem Kriegsgebiet kann einerseits Kontakte unterbinden und eine persönliche, wirtschaftliche oder politische Neuorientierung nach sich ziehen, andererseits gibt es trotz aller widrigen Umstände Grenzüberquerungen an Waffenstillstandslinien. Diese prägen Einstellungen und Identitäten und fungieren somit auch im übertragenen Sinne als Grenzüberschreitungen. Die enge Verknüpfung von Grenzen mit Identität und Identitätswandel eröffnet ein weites empirisches Forschungsfeld. Bisher gibt es vergleichsweise wenige systematisch erhobene Daten aus Kriegs- oder Krisenkontexten, die überlappende Dynamiken von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen erfassen. Dies ist Teil einer breiteren, multidisziplinären Aufgabe an der Schnittstelle der Border Studies, Forschung zu Identitäten und Studien zu Konfliktpotenzial und Konfliktmanagement. Dieser Beitrag baut in Teilen auf Diskussionen in der Research Unit Borders und dem Projekt "The Liberal Script in Ukraine’s Contested Border Regions" im Kontext des Exzellenzclusters "Contestations of the Liberal Script" (EXC 2055, Project-ID: 390715649) auf, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert wird. Vgl. Chris Rumford, Towards a Multiperspectival Study of Borders, in: Geopolitics 4/2012, S. 887–902. Vgl. James Anderson/Liam O’Dowd, Borders, Border Regions and Territoriality: Contradictory Meanings, Changing Significance, in: Regional Studies 7/1999, S. 593–604. Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert, München 2021. Für einen Überblick über dieses Forschungsfeld, einschließlich neuerer konzeptueller und methodologischer Überlegungen, vgl. Dominik Gerst/Maria Klessmann/Hannes Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden Baden 2021. Vgl. auch Vladimir Kolossov, Border Studies: Changing Perspectives and Theoretical Approaches, in: Geopolitics 4/2005, S. 606–632. Vgl. Noel Parker/Nick Vaughan-Williams, Critical Border Studies: Broadening and Deepening the "Lines in the Sand" Agenda, in: Geopolitics 4/2012, S. 727–733. Vgl. Béatrice Hirschhausen et al. (Hrsg.), Phantomgrenzen: Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Göttingen 2015. Das Feld der Critical Geopolitics, das die geopolitischen Einstellungen der Bevölkerung als eine wichtige Dimension von Geopolitik und Internationalen Beziehungen versteht, verfolgt eine ähnliche Forschungsstrategie. Vgl. Gerard Toal, Understanding Critical Geopolitics: Geopolitics and Risk Society, in: Geopolitics 2–3/1999, S. 107–124. Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Ukraine: Operational Update, December 2016, Externer Link: http://reporting.unhcr.org/sites/default/files/UNHCR%20Ukraine%20Operational%20Update%20-%20December%202016.pdf; Ukrainisches Ministerium für Sozialpolitik, 2020, Externer Link: http://www.kmu.gov.ua/news/oblikovano-1-437-406-vnutrishno-peremishchenih-osib. Vgl. UNHCR, Ukraine: Operational Update, December 2016, Externer Link: http://reporting.unhcr.org/sites/default/files/UNHCR%20Ukraine%20Operational%20Update%20-%20December%202016.pdf. Vgl. Uppsala Conflict Data Program (UCDP), Conflict Encyclopedia, 20.12.2021, Externer Link: http://www.ucdp.uu.se; Norwegian Refugee Council, 20.12.2021, Externer Link: http://www.nrc.no/global-figures. Vgl. James Hughes/Gwendolyn Sasse (Hrsg.), Ethnicity and Territory in the Former Soviet Union: Regions in Conflict, London 2001, S. 239. Vgl. Svante Cornell, Autonomy as a Source of Conflict: Caucasian Conflicts in Theoretical Perspective, in: World Politics, 2/2002, S. 245–276. Vgl. Sabine Fischer (Hrsg.), Nicht eingefroren! Die ungelösten Konflikte um Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach im Lichte der Ukraine-Krise, SWP-Studie 2016/S 13, Juli 2016; Externer Link: http://www.swp-berlin.org/publikation/nicht-eingefroren-konflikte-im-postsowjetischen-raum. In der Völkerrechtsliteratur findet sich der Begriff des "de-facto Regimes". Vgl. Jochen Abr. Frowein, Das de Facto-Regime im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Rechtsstellung "nichtanerkannter Staaten" und ähnlicher Gebilde, Köln–Berlin 1968. Für eine Kontextualisierung vgl. Andreas Heinemann-Grüder, Post-sowjetische De-facto-Regime, 20.11.2020, Externer Link: http://www.laender-analysen.de/russland-analysen/394/RusslandAnalysen394.pdf; Nina Caspersen, Unrecognized States: The Struggle for Sovereignty in the Modern International System, Cambridge 2011; Rebecca Bryant/Mete Hatay, Sovereignty Suspended: Building the So-Called State, Philadelphia 2020. Zu den ersten Abhandlungen, die eine genauere Auseinandersetzung mit den postsowjetischen De-facto-Staaten einforderten, gehörte: Dov Lynch, Engaging Eurasia’s Separatist States: Unresolved Conflicts and De Facto States, Washington, D.C. 2004. Vgl. auch Mikhail Minakov/Gwendolyn Sasse/Daria Isachenko (Hrsg.), Post-Soviet Secessionism: Nation-Building and State-Failure after Communism, Stuttgart 2021. Vgl. John O’Loughlin/Vladimir Kolossov/Gerard Toal, Inside the Post-Soviet De Facto States: A Comparison of Attitudes in Abkhazia, Nagorny Karabakh, South Ossetia and Transnistria, in: Eurasian Geography and Economics 5/2014, S. 423–456; Vladimir Kolosov/Maria Zotova, "De-Facto Borders" as a Mirror of Sovereignty. The Case of the Post-Soviet Non-Recognized States, in: Historical Social Research 3/2021, S. 178–207. Vgl. Tatiana Zhurzhenko, Borderlands into Bordered Lands. Geopolitics of Identity in Post-Soviet Ukraine, New York 2014. Vgl. Gwendolyn Sasse, The Crimea Issue: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge MA 2007. Vgl. die detaillierte Chronik und Analyse der Putin-Rede unter Externer Link: https://crimea.dekoder.org/archipel. Vgl. Sam Greene/Graeme Robertson, Putin v. the People: The Perilous Politics of a Divided Russia, New Haven 2019. Vgl. Sabine von Löwis/Gwendolyn Sasse, A Border Regime in the Making? The Case of the Contact Line in Ukraine, in: Historical Social Research 3/2021, S. 208–244. Für die methodologischen Details und die Daten aus der ZOiS-Umfrage im Donbass vgl. ebd., S. 221. Vgl. ebd., S. 223. Vgl. Gwendolyn Sasse, Public Perceptions in Flux: Identities, War and Transnational Linkages in Ukraine, ZOiS Report 4/2018, Externer Link: http://www.zois-berlin.de/publikationen/public-perceptions-in-flux-identities-war-and-transnational-linkages-in-ukraine; dies./Alice Lackner, War and Identity: The Case of the Donbas in Ukraine, in: Post-Soviet Affairs 2–3/2018, S. 139–157; Volodymyr Kulyk, Shedding Russianness, Recasting Ukrainianness: The Post-Euromaidan Dynamics of Ethnonational Identification in Ukraine, in: Post-Soviet Affairs 2–3/2018, S. 119–138. KIIS Omnibus ist eine regelmäßige Bevölkerungsumfrage des Kiewer International Institute of Sociology. Vgl. Sasse (Anm. 23), S. 4. Vgl. Karin Dyrstad, After Ethnic Civil War: Ethno-Nationalism in the Western Balkans, in: Journal of Peace Research 6/2012, S. 817–831; Garth M. Massey et al., Nationalism, Liberalism, and Liberal Nationalism in Post-War Croatia, in: Nations and Nationalism 1/2003, S. 55–82; Damir Sekulic, Civic and Ethnic Identity: The Case of Croatia. Ethnic and Racial Studies 3/2014, S. 215–243.
Article
Gwendolyn Sasse
"2022-09-26T00:00:00"
"2022-01-03T00:00:00"
"2022-09-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/umbrueche-in-europa-nach-1989-und-1991-2022/345427/grenzen-und-identitaeten-im-wechselspiel-nach-1989-91/
Der Begriff der Grenze ist untrennbar mit den Entwicklungen von 1989 und 1991 verbunden. Der Beitrag nähert sich den Nachwirkungen dieses Schlüsselmoments als Trias von Grenzöffnungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen.
[ "Grenzen", "Identität", "Sowjetunion", "Maueröffnung", "Ukraine", "Unabhängigkeit", "Konflikt", "Eingefrorene Konflikte", "De-Facto-Staaten", "Integration", "Desintegration", "Georgien", "Krieg", "Krim", "Autonomie", "Russland" ]
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Die öffentliche Meinung und die Sichtweise des Journalisten | Krieg in den Medien | bpb.de
Objektivität bedeutet so viel wie Unparteilichkeit oder Neutralität. Das Gegenteil von Objektivität ist Subjektivität, also Einseitigkeit oder Voreingenommenheit. Ein Journalist kann sich zwar um eine objektive Darstellungsweise bemühen, die frei von seiner eigenen Meinung und Sichtweise oder der einer bestimmten Kriegspartei ist, ganz gelingen wird ihm das allerdings nie. Denn jede Mediendarstellung ist zwangsweise auch immer eine Deutung dessen, worüber berichtet wird, beeinflusst beispielsweise von der Weltanschauung des Journalisten oder der öffentlichen Meinung. Um ein objektiveres bzw. umfassenderes Bild von einem Ereignis zu erlangen, muss der Interessierte daher verschiedene Informationsquellen nutzen, um so verschiedene Sichtweisen kennenzulernen. Aber auch ein umfassendes Bild ist kein Abbild der Kriegsrealität. Es lohnt sich dennoch, sich sein eigenes Urteil über eine Krisenregion erst dann zu bilden, wenn man sich durch verschiedene Quellen informiert hat. Weltanschauung des Journalisten Einer der wichtigsten Gründe für die Unerreichbarkeit von Objektivität ist, dass Journalisten – wie alle anderen Menschen auch – eine bestimmte Herkunft und Weltanschauung haben. Ein Reporter, der ein fremdes Krisengebiet besucht, trägt immer eine ganze Reihe von persönlichen und kulturellen Werten oder Vorurteilen mit sich, die seinen Blick auf die Realität beeinflussen. Vorurteilslos oder wertfrei darf er auch gar nicht sein, sonst würde er sich an die vorgefundenen Bedingungen anpassen und könnte nicht kritisch über sie berichten. Denn was einem westlichen Journalisten vielleicht skandalös erscheint, zum Beispiel die Einschränkung der Rechte von Frauen oder das Fehlen der Pressefreiheit, ist für die Menschen in manchen nichtwestlichen Ländern möglicherweise ganz normal. Verschiedene Sichtweisen Den Konfliktparteien, die sich im Fall eines Krieges gegenüberstehen, kann es eigentlich keine journalistische Darstellung recht machen. Was die eine Seite für wahrheitsgetreu hält, bezeichnet die andere als Lüge und fordert Gegendarstellungen. So werden die Medien selbst zu einem Kampfschauplatz. Von Beginn an wurde zum Beispiel bei der Auseinandersetzungen zwischen Israel und Libanon 2006 jedes Wort, das TV-Reporter aus dem Kriegsgebiet sendeten, und jedes Bild, das die Auswirkungen der Kämpfe zeigte, von den Anhängern der beteiligten Konfliktparteien auf die Goldwaage gelegt. Anhänger Israels bemängeln etwa die ihrer Meinung nach araberfreundliche Berichterstattung in den deutschen Medien: Jeder Bombeneinschlag in der libanesischen Hauptstadt Beirut habe Scharen von Journalisten angelockt, doch kaum einer habe sich für das Schicksal der israelischen Familien interessiert, die in Kellern Schutz vor den Katjuscha-Raketen der Hisbollah gesucht hätten. Im Gegenzug beklagen Israelgegner, dass das Leid der libanesischen Zivilbevölkerung in der Berichterstattung nicht ausreichend Gehör gefunden habe. Journalistische Auffassung Wie sehr darf sich ein Reporter oder Korrespondent im Krisengebiet von seinen persönlichen Gefühlen bei der Arbeit beeinflussen lassen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Einerseits scheint die Antwort klar: Journalistische Neutralität und Objektivität lassen wenig Platz für emotionale Anteilnahme. Um die verschiedenen Aspekte eines Sachverhalts gleichwertig zu erfassen, ist es hilfreich, eine gewisse emotionale Distanz zu wahren und einseitige Anteilnahme zu vermeiden. Vor Ort, im Krisengebiet, sieht die Sache allerdings oft anders aus: Die Leidtragenden eines Konflikts erwecken Mitgefühl. Zu einer unkritischen Parteinahme ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Eine solche hat aber unter Umständen auch noch andere Folgen als einen durch subjektive Gefühle geprägten Bericht. Denn auch die Erzählungen von Menschen, die Opfer von Unterdrückung, Vertreibung und Kriegsgewalt wurden, muss der gewissenhafte Reporter auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Emotionale Verbundenheit kann dies erschweren. Neben Medienvertretern, die für eine distanzierte Haltung plädieren, gibt es auch solche, die die gegenteilige Meinung vertreten. Der Kriegsfotograf James Nachtwey äußerte in einem Interview beispielsweise (Tagesspiegel Online 21.07.2000): "Ich möchte die Leute mit meinen Fotos bewegen, also muss ich selbst empfänglich sein. Meine Gefühle müssen in Bilder umgeleitet werden."
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-11T00:00:00"
"2012-04-17T00:00:00"
"2022-01-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/krieg-in-den-medien/130641/die-oeffentliche-meinung-und-die-sichtweise-des-journalisten/
Kriegsereignisse lassen viele unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven zu. Ein Journalist muss sich in seinem Bericht zwangsweise für eine Sichtweise entscheiden.
[ "Journalismus", "Medien", "Krieg", "Öffentliche Meinung", "Kriegsberichterstattung" ]
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Verstaatlichungspolitik in Bolivien | Lateinamerika | bpb.de
"Verstaatlicht, Eigentum der Bolivianer" steht auf einem Banner am San-Alberto-Gasfeld in Bolivien. (© AP) Seit ihrem Amtsantritt Anfang 2006 hat die bolivianische Regierung mit einer Reihe ungewöhnlicher Maßnahmen international für Aufsehen gesorgt. Die bislang folgenreichste war die Anfang Mai 2006 verkündete "Nationalisierung" der Öl- und Gasindustrie des Landes. Am 1. Mai erklärte Präsident Evo Morales auf dem Gasfeld San Alberto im Süden des Landes: "Die Plünderung der natürlichen Ressourcen durch die transnationalen Konzerne ist vorbei." Mit sofortiger Wirkung mussten die in Bolivien operierenden Mineralölkonzerne ihre Produktion dem Staatsunternehmen YPFB (Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos) unterstellen. Dieses ist seitdem für Handel, Weiterverarbeitung, Export sowie Festlegung der Preise zuständig; die internationalen Konzerne besorgen zwar weiterhin die Förderung von 90 Prozent des Erdgases, sie sind aber nicht mehr Eigentümer der Rohstoffe. Vor dem öffentlichen Akt des Präsidenten in San Alberto besetzten Armeeeinheiten symbolträchtig 56 Gas- und Ölfelder und die beiden größten Raffinerien Boliviens. Die Bilder, die um die Welt gingen, markierten eine Abkehr von der bisherigen liberalen Wirtschaftspolitik. Seit Anfang der 1980er-Jahre hatten bolivianische Regierungen versucht, mit Hilfe von Privatisierungen von Staatsbetrieben, Deregulierung und einer Öffnung der Märkte ausländische Investitionen anzulocken, um das hochverschuldete Land aus der Krise zu führen. Kontrolle der Rohstoffe Evo Morales, der Ende 2005 als erster Indigena zum bolivianischen Staatsoberhaupt gewählt worden war, hatte den Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik mehrfach angekündigt. Im Wahlkampf versprach der Präsidentschaftskandidat für die "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), dem bolivianischen Staat die Souveränität über die natürlichen Ressourcen des Landes zurückzugeben. In seiner Rede zum Amtsantritt am 22. Januar 2006 erklärte der ehemalige Kokabauer: "Wir wollen das neoliberale Wirtschaftsmodell ändern und den Kolonialstaat abschaffen." Morales trat für das an, wofür soziale Bewegungen in den vorangegangenen zehn Jahren in Bolivien gekämpft hatten: eine gerechtere Verteilung der Gewinne aus dem Gasgeschäft – vor allem die Menschen indigener Abstammung hatten bislang nur wenig von der Ausbeutung der nationalen Ressourcen profitiert. Doch das einseitige Vorgehen Morales´ stieß bei Vertretern europäischer Regierungen auf Kritik – obwohl Bolivien versprach, keine Enteignungen ohne Entschädigungen durchzuführen. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte, die Maßnahme schaffe keine günstigen Voraussetzungen für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Bolivien. Vor allem Unternehmen aus der Europäischen Union – wie Repsol YPF (Spanien), BG (Großbritannien) und Total (Frankreich) sind es, die in Bolivien neben dem brasilianischen Mineralölkonzern Petrobras an der Exploration, Förderung, Verarbeitung und dem Transport des Rohstoffs beteiligt sind. Vertreter internationaler Hilfsorganisationen hingegen werteten die Nationalisierungsinitiative als entwicklungspolitisch sinnvoll: Mittel- und langfristig könnte das Land dadurch aus der Armut geführt werden. Thomas Fritz vom Umweltverband BLUE 21 verweist auf das Scheitern bisheriger Entwicklungsstrategien: Nach der Privatisierung des Rohstoffsektors 1996 hatte sich die Erdgasproduktion bis 2006 zwar fast verdreifacht, jedoch schrumpften gleichzeitig die staatlichen Einnahmen beträchtlich. Im Zeitraum von 1990 bis 1996 erhielt Bolivien im Durchschnitt jährlich 326,69 Millionen US-Dollar, von 1997 bis 2004 waren es nur noch rund 204,3 Millionen. Im Zuge der Privatisierung waren die Lagerstätten neu klassifiziert und die Abgabenquote für einige der größten Gasfelder drastisch gesenkt worden. Das bolivianische Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung schätzt, dass dem Staat dadurch bis 2006 mehr als drei Milliarden US-Dollar verloren gegangen sind. Armes, reiches Land Bolivien verfügt nach Venezuela über die größten Erdgasreserven Südamerikas: 2003 wurde ihr Volumen auf 28,69 TCF (Kubikfuß) geschätzt, ihr Wert mit 100 Milliarden US-Dollar veranschlagt. 2005 exportierte Bolivien Erdgas für 984 Millionen US-Dollar, 80 Prozent der gesamten Produktion. Doch der Reichtum an natürlichen Ressourcen – neben Gas und Öl gibt es auch bedeutende Zink-, Silber-, Eisen- und Zinnvorkommen – hat in der Vergangenheit nicht dazu geführt, die Situation der Bevölkerungsmehrheit entscheidend zu verbessern. Bolivien hat mit 3.100 US-Dollar das niedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr auf dem südamerikanischen Kontinent. Zwei Drittel der 9,119 Millionen Bolivianer gelten laut offiziellen Zahlen als arm. Schuld daran ist vor allem die fehlende industrielle Entwicklung des Landes. Bisher wurde größtenteils versäumt, mit den Gewinnen aus dem Rohstoffgeschäft produktive Investitionen zu tätigen. Die Verstaatlichung von 2006 ist bereits die dritte in der Geschichte Boliviens. Erstmals wurde ein solcher Schritt gegen Standard Oil im Jahr 1937 unternommen. Eine nationalistische Militärregierung verfügte, die Produktionsanlagen des US-Konzerns dem wenige Monate zuvor gegründeten Staatsunternehmen YPFB einzugliedern. Nach der bolivianischen Revolution vom April 1952 wurden unter dem Präsidenten Paz Estenssoro die YPFB-Produktion ausgeweitet, die Minengesellschaft verstaatlicht und eine erste Agrarreform durchgeführt. Zum zweiten Mal wurde eine Verstaatlichung der fossilen Energieträger im Jahr 1969 von einer linksgerichteten Militärregierung beschlossen. Betroffen war damals mit der Gulf Oil Company ebenfalls ein US-Unternehmen. Nach der Militärdiktatur von General Hugo Banzer (1971-1978) durchlitt Bolivien in den 1980er-Jahren eine schwere Wirtschaftskrise. YPFB musste immer höhere Anteile seines Gewinns an den Staat abführen, um den Haushalt zu sanieren. Ab 1993 trieb Gonzalo Sánchez de Lozada die Privatisierungen voran. Diese Entwicklung gipfelte 1996 im Verkauf der fünf wichtigsten Staatsbetriebe. YPFB wurde aufgelöst. Während die ertragreichen Gasfelder international zur Konzessionsvergabe ausgeschrieben wurden, übernahmen drei Nachfolgeunternehmen von YPFB die kleineren Lagerstätten sowie das Pipeline-Netz. Gleichzeitig ließ Sánchez de Lozada die für Gas- und Ölförderung zu entrichtenden Abgaben drastisch senken. Bei 95 Prozent der Quellen mussten die Firmen nur noch 18 Prozent des Produktionswertes an den Staat abführen. Damit erhob Bolivien die niedrigsten Abgaben des amerikanischen Kontinents. Der Widerstand der Bevölkerung Seit Ende der 1990er-Jahre mehrte sich der Widerstand der Bevölkerung gegen die Folgen der Privatisierungen. Wochenlange Proteste zwangen im Jahr 2000 die lokalen Autoritäten in Cochabamba zur Kündigung des Konzessionsvertrages mit einem Wasserversorger. Das Beispiel Cochabamba ermutigte in der Folgezeit soziale Bewegungen und Gewerkschaften, gegen den Ausverkauf der natürlichen Rohstoffe Boliviens zu protestieren. Vor allem Ureinwohnerorganisationen und Nachbarschaftsräte wurden zu treibenden Kräften der Widerstandsbewegung. Im Jahr 2003 kam es zu einem Aufstand gegen geplante Gasexporte in die USA, die zu sehr ungünstigen Bedingungen für Bolivien verlaufen wären. Der so genannte Gaskrieg begann auf dem Land. Bewohner der beiden Ortschaften Sorata und Warisata errichteten aus Protest gegen den Gasexport Straßensperren. Als die Regierung das Militär einsetzte, um die Blockaden aufzulösen, sprang der Funke auf El Alto über: In der an La Paz angrenzenden Stadt solidarisierten sich die Indigenas mit den Aymara-Rebellen auf dem Land. Unter dem Druck massiver Proteste trat Sánchez de Lozada am 17. Oktober zurück. Zuvor hatten die Sicherheitskräfte bei der versuchten Niederschlagung des Aufstands mehr als 80 Menschen getötet. Die Forderungen nach einer Nationalisierung der natürlichen Rohstoffe und der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung stehen seitdem auf der Agenda der sozialen Bewegungen. Im Juli 2004 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum für die Wiederverstaatlichung der Öl- und Gasreserven. Neue Entwicklungsperspektiven Die 2006 von Morales eingeleitete Nationalisierung ist ein langsamer Prozess: Aktien zuvor privatisierter Unternehmen können nur nach und nach rückübertragen werden; dem Staatskonzern YPFB fehlt das Kapital für einen vollständigen Erwerb. Im August 2007 gingen die beiden größten Raffinerien des Landes wieder in staatlichen Besitz über. Befürchtungen, Bolivien könnte durch die Verstaatlichung international isoliert werden, haben sich bislang nicht bewahrheitet. Kein Mineralölkonzern hat das Land verlassen. Ende 2006 stimmten die Unternehmen neu ausgehandelten Konzessionsverträgen zu. Ihre Abgaben erhöhten sich auf mindesten 50 Prozent, für die ertragreichsten Gasfelder für eine Übergangszeit sogar auf 82 Prozent. Die staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft stiegen von 200 Millionen US-Dollar auf 1,2 Milliarden pro Jahr an. Geld, das Bolivien 2006 zum ersten Mal nach 20 Jahren einen Haushaltsüberschuss bescherte und die Wirtschaft um 4,1 Prozent wachsen ließ. Doch auch Morales' Nationalisierung hat sich in erster Linie daran zu messen, ob es gelingt, das Land vom reinen Rohstoffexporteur zum Produzenten industrieller Güter weiterzuentwickeln. Die Verarbeitung der Rohstoffe im Land kann ein erster Schritt sein. Langfristig müssen alternative Einnahmequellen erschlossen werden: Die Gasvorräte sind endlich und ihre Förderung stellt eine nicht zu unterschätzende Belastung für die Umwelt dar. Quellen Externer Link: Ministerium für Kohlenwasserstoffe und Energie - Ministerio de Hidrocarburos y Energía. Externer Link: Centro de Estudios para el Desarolla Laboral y Agrario CEDLA. Externer Link: Unidad de Análisis de Políticas Sociales y Económicas UDAPE. Externer Link: CIA - The World Factbook. Externer Link: Nachrichtenagentur Bolpress. Externer Link: Tageszeitung La Razón, La Paz. Literatur Fritz (2006), Thomas: Die Plünderung ist vorbei. Boliviens Nationalisierung der Öl- und Gasindustrie, Berlin, Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika FDCL. Mesa u. a. (1998), Carlos: Historia de Bolivia, zweite korrigierte und aktualisierte Ausgabe, La Paz, Editorial Gisbert y CIA S.A. "Verstaatlicht, Eigentum der Bolivianer" steht auf einem Banner am San-Alberto-Gasfeld in Bolivien. (© AP)
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Timo Berger
"2022-02-02T00:00:00"
"2011-12-02T00:00:00"
"2022-02-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/lateinamerika/44650/verstaatlichungspolitik-in-bolivien/
Am 1. Mai 2006 verkündete Präsident Evo Morales, dass die "Plünderung der natürlichen Ressourcen durch die transnationalen Konzerne" vorbei sei. Es setzte eine Welle der "Nationalisierung" ein, der sich selbst die mächtigsten Mineralölfirmen unterord
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