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Bayerische Dialektik | Bayern | bpb.de
"Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische." (Karl Valentin) Bayern, wo der Himmel weiß-blau und die Regierung schwarz ist, das Volk gottesfürchtig und die Welt noch in Ordnung – so verkauft sich das flächengrößte deutsche Bundesland gern selbst, tatkräftig unterstützt von der lange Zeit mit Bayern fast symbiotisch verbunden wirkenden Christlich-Sozialen Union, einer der genialsten Erfindungen der deutschen Parteiengeschichte. Unabhängig davon, wer in Berlin regiert, die CSU ist immer irgendwie in der Opposition, und das macht sie für Bankdirektoren wie Bankräuber gleichermaßen wählbar. So kam es für viele durchaus überraschend, dass die bayerischen Wählerinnen und Wähler diese Commedia dell’arte kürzlich mit einem fulminanten Ergebnis ausgerechnet für die Grünen beendeten. Doch man sollte 13 Millionen Bayern eben nie unterschätzen. Bayern ist nämlich weit mehr als das Land, in dem Europas größte Glückskeksanlage steht. Zum einen ist Bayern ein Freistaat, und auch wenn sich daraus keinerlei föderale Sonderrechte ergeben, sind wir ein bisschen stolz auf diesen Umstand, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Da sind die einen, die glauben, Bayern sei so freiwillig Teil der Bundesrepublik, dass es jederzeit austreten könnte. Immerhin hat der Bayerische Landtag 1949 das Grundgesetz abgelehnt. Die Bayern sind also die Schotten Deutschlands. Bisher aber hat es, sehr zum Leidwesen der Bayernpartei, noch nie ein Austrittsreferendum gegeben. Dabei könnten sich 23 Prozent der Bevölkerung einen eigenen Staat durchaus vorstellen, und manch einer gar eine bayerische Monarchie. Aus gutem Grund stolz auf den Freistaat kann man jedoch eingedenk der Tatsache sein, dass er das Produkt einer Revolution ist: Vor 100 Jahren fegte der Sozialist Kurt Eisner im Verbund mit Arbeitern, Soldaten, Frauenrechtlerinnen und bayerischen Bauern die Monarchie hinweg und erklärte Bayern als erstes deutsches Land zur Republik. Nun ist eine Revolution nicht unbedingt das, was einem beim Stichwort "Bayern" in den Sinn kommt. Klischeehaft gelten alle, die außerhalb Münchens leben, als grantelnde, Bier trinkende Hinterwäldler, die auch einmal Fünfe gerade sein lassen – was dann als liberalitas bavariae verkauft wird. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Bayern ist das Land der scheinbar unvereinbaren Gegensätze, die sich auf geradezu mysteriöse Weise am Ende in einer für alle passenden Synthese auflösen. Mia san Mia und Multikulti So ist das Land, das sich von einem Fußballverein das überhebliche und ausgrenzende Motto "Mia san Mia" borgt, der es wiederum von den k. und k. Soldaten Kaiser Franz Josephs übernommen hat, ein Vielvölkerstaat, der seit Jahrhunderten beweist, dass Multikulti funktioniert. Die Bayern sind eine Verbindung aus drei Stämmen, die sich ihrerseits in einzelne Volksgruppen unterteilen: Altbayern (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz), Schwaben und Franken (Oberfranken, Unterfranken, Mittelfranken). Seit 1954 bilden die Sudetendeutschen den vierten Stamm. Alle Volksgruppen legen größten Wert auf ihr Brauchtum und ihre Küche. Zudem bedienen sie sich so unterschiedlicher Dialekte, dass es innerhalb Bayerns durchaus zu Verständigungsschwierigkeiten kommen kann. Deutschkenntnisse sind deshalb gerade für einen Bayern unabdingbar. Deutschkurse sind allerdings nicht verpflichtend, und man hat auch noch nie davon gehört, dass die Franken zwecks Integration statt "Drei im Weggla" – drei Rostbratwürstchen im Brötchen – nunmehr Weißwürste essen sollen. Dies würde auch nichts bringen, denn die Weißwurst stammt aus Frankreich, wie eine ganze Menge Ausdrücke des Bayerischen auch: Plafond (Zimmerdecke), Trottoir (Bürgersteig), Böfflamott (bœuf à la mode), Paraplü (Regenschirm) und Sakradi (sacre dieu). Auch aus dem Italienischen haben wir einiges übernommen – Nockerl (gnocchi), strawanzen (stravaganza), Gspusi (sposa) – und zeigen damit, dass die Bayern im Grunde verkappte Lateiner sind. Dass München die "nördlichste Stadt Italiens" ist, weiß ohnehin jeder. Die bayerischen Stämme sind ihrerseits ein Potpourri aus Kelten, Germanen, Alemannen, Römern, Slawen, Awaren, Böhmen, Nariskern sowie fränkischen, thüringischen, ostgotischen und langobardischen Geflüchteten. Aus all denen, die einst durch unseren Landstrich zogen, entwickelten sich zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert die Bajuwaren und das Stammesherzogtum Bayern, einer der ältesten Staaten Europas. Der Einteilung in drei Volkstämme trägt bis heute der Regionalproporz Rechnung, wonach die CSU Ämter nicht nach Kompetenz, sondern nach Stammeszugehörigkeit vergibt. Dies hindert hier aber niemanden daran, gegen einen anderen Proporz zu wettern: die Frauenquote. Wahrscheinlich ist man der Meinung, es sei ausreichend, dass die höchsten Posten im Freistaat mit der Patrona Bavariae als Schutzheilige und der Bavaria als Symbolgestalt Bayerns ohnehin in Frauenhand sind. So sehr in Bayern von anderen oftmals nicht nur Integration, sondern gar Assimilation erwartet wird, so viel Rücksicht nimmt man hier auf die angeblichen Eigenheiten der Urbevölkerung: Auf ihrer Homepage erklärt die Bayerische Staatsregierung die Altbayern für weltoffen, beharrlich und musisch. Die Franken hätten "Gemeinschaftssinn, Organisationstalent, Heiterkeit und ein schnelles Auffassungsvermögen", und die Schwaben würden sich durch Sparsamkeit und einen "Hang zur Untertreibung" auszeichnen. Tatsächlich fühlen sich die Franken gegenüber den Altbayern immer ein wenig benachteiligt, bezüglich einiger Dürer-Gemälde fällt da schon einmal das Wort "Beutekunst" in Richtung München. Zu den Ur-Bayern kommen noch etwa 2,7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund hinzu – "Preußen" nicht mitgezählt. Migrationshintergrund haben auch die Alpen, das Bier und der Jodler: Die Alpen, an denen Bayern als einziges deutsches Bundesland Anteil hat, verdanken wir bekanntlich dem Zusammenprall der europäischen Kontinentalplatte mit Afrika, das Bier stammt aus dem alten Orient, und gejodelt wird auch im Kaukasus. Vielfalt zeigt selbst unser heimliches Wappentier. Auch wenn der Bayerische Löwe das offizielle Wappen des Freistaats schmückt, das wichtigste Tier in Bayern ist der Wolpertinger – ein Mischwesen zumeist aus Eichhörnchen, Ente und Hase. Vor etwa 100 Jahren als Resultat einer großen Liebe zwischen einem Hasen und einem Rehbock entstanden, wurde er im Tierreich zum Symbol dafür, dass Liebe alle Grenzen überwinden kann – eine Erkenntnis, für die die CSU, die zunächst eine Verfassungsklage gegen die Ehe für alle erwog, wohl noch Jahrzehnte brauchen wird. Falls Sie nicht glauben können, dass es inzwischen sogar Wolpertinger mit Hechtflossen gibt, empfehle ich Ihnen einen Besuch im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum in München, wo zahlreiche präparierte Exemplare dieser seltenen Spezies zu bestaunen sind. Dass in einem sich so konservativ gebenden Land die Diversität zu Hause ist, zeigt sich einmal mehr in unserer Musik. Den bayerischen Staat verkörpern vor allem die Bayernhymne "Gott mit dir du Land der Bayern" und der "Bayerische Defiliermarsch", die Auftrittsmusik des Ministerpräsidenten. Fast noch bekannter als die offizielle Hymne unterstützt dieses bayerische Kulturgut Politiker dabei, Bierzelte einzunehmen. Der beliebteste Volkstanz in Bayern ist jedoch der Zwiefache, der ganz ohne Pathos auskommt, dafür aber ein Höllentempo vorlegt. Der unregelmäßige Wechsel zwischen Walzer und Dreher macht ihn zur Königsdisziplin der baierischen Tänze. 2016 wurde er von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt. Die Tatsache, dass sich innerhalb einer einzigen Phrase der Takt verändert, also ein ständiger Wechsel zwischen ungeradem Dreivierteltakt und geradem Zweivierteltakt stattfindet, ist irgendwie typisch bayerisch: Kaum glaubt man, bei etwas durchzublicken, ist wieder alles anders. Tourismus und Tradition Was überhaupt nicht typisch bayerisch ist, sondern die Erfindung einer rührigen Tourismusbranche, ist nahezu alles, was man auf den ersten Blick mit Bayern in Verbindung bringt: So ist das Schuhplattln ein Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelter Schautanz für Touristen und ähnlich dem griechischen Sirtaki eine dreiste Brauchtumsfälschung. Dirndl und Lederhosen wurden im 19. Jahrhundert erst durch das Hause Wittelsbach im Zuge einer regelrechten Trachtenbegeisterung salonfähig gemacht. Dass die bayerischen Könige Lederhosen und Trachtenjanker trugen, hatte vor allem mit der Hoffnung zu tun, dass dies die Entwicklung des Nationalbewusstseins fördern würde. Tracht schreit ja förmlich "Heimat" und hat immer dann Hochkonjunktur, wenn die Welt als unsicherer Ort gilt – wie gerade heute. Die touristisch-folkloristische Vermarktung Bayerns war so erfolgreich, dass Deutschland heute weltweit häufig mit Bayern gleichgesetzt wird. Egal ob in China, in den USA oder im Königreich Eswatini, die Vorstellungen von Deutschland ähneln sich: Oktoberfest, Königsschlösser, FC Bayern München, Bier aus riesigen Gläsern, Dirndl, Lederhosen und Blasmusik – welcome dahoam! Interessanterweise gibt es seit einigen Jahren vor allem junge Kulturschaffende wie die Musikformationen Kofelgschroa und LaBrassBanda, die sich auf tatsächliche Traditionen besinnen und diese neu interpretieren. Dies zeigt sich auch in der Renaissance des Dialekts, der lange als soziales Stigma galt. Während es in den 1970er Jahren an bayerischen Schulen verpönt war, Mundart zu sprechen, weiß man spätestens seit Marcus H. Rosenmüllers Erfolgsfilm "Wer früher stirbt ist länger tot" um die wunderbaren Zwischentöne des Dialekts. Dennoch sind an Münchner Gymnasien nur noch 2,1 Prozent der Schüler des Bayerischen mächtig. 2009 hat die UNESCO Bayerisch neben Sorbisch und Ostfriesisch auf die Liste der gefährdeten Sprachen gesetzt. Dass es eine Hochsprache, die vor allem der einfachen Verständigung dient, mit der Bildhaftigkeit, Sinnlichkeit und dem tiefgründigen Witz einer über Jahrhunderte weiterentwickelten Mundart niemals aufnehmen kann, ist eine Erkenntnis, die sich leider abseits von Kulturschaffenden, Musikern und Heimatpflegern gerade in der bayerischen Landeshauptstadt kaum durchsetzt. Im schlimmsten Fall wird eines Tages niemand mehr die zuschauerstärkste Sendung des Bayerischen Rundfunks, das Politikerderblecken auf dem Nockherberg, verstehen – quo vadis Bayern? Ruhe und Revolution Obwohl ein Viertel der deutschen Wälder in Bayern liegt und die Natur im Leben der meisten Bayern eine große Rolle spielt, gilt Bayern nicht unbedingt als grünes Bundesland. Dass die CSU hier 1970 das erste Umweltministerium der Welt ins Leben rief, ist angesichts der Hartnäckigkeit, mit der man 15 Jahre später die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf vorantrieb und dabei auf den unterschätzten Widerstandsgeist der einheimischen Bevölkerung stieß, kaum zu glauben. Vier Jahre lang marschierten die "gutmütigen" Oberpfälzer, unterstützt von Naturschützern und Atomkraftgegnern aus der ganzen Republik, zum Bauzaun, ließen sich beschimpfen, mit CS-Gas besprühen und mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln drangsalieren – ohne zu weichen. Die Hüttendörfer "Freie Oberpfalz" und "Freie Republik Wackerland", die Anti-WAAhnsinns-Musikfestivals und nicht zuletzt die Widerstandssocken, die Irmgard Gietl, Hausfrau und Anti-WAA-Aktivistin, zu Tausenden für die Demonstranten strickte, zeugen von der Kreativität eines letztlich erfolgreichen Widerstands: Am 31. Mai 1989 wurden die Bauarbeiten an der WAA eingestellt. Wieder einmal hatte eine Regierung fälschlicherweise darauf vertraut, dass in einem über Jahrhunderte agrarisch geprägten Land die Welt statischer und die Bevölkerung nur schwer zu mobilisieren sei. Die Bayern gelten als angepasst, konservativ und ordnungsliebend, und so scheint es nur folgerichtig, dass Law-and-order-Forderungen auf Bundesebene gerne von Politikern aus dem Freistaat erhoben werden. Völlig außer Acht gelassen wird dabei eine urbayerische Eigenart: Renitenz. Anders als das weiß-blaue Klischee glauben macht, sind wir ein Volk von Aufständischen, Widerständlern und Querköpfen. Eine Historie voll von Sozialrebellen, Bauernbündlern, bayerischen Suffragetten und Kaffeehaus-Revolutionären zeugt von einem tief verwurzelten Widerspruchsgeist, in dessen würdiger Nachfolge bis heute nicht nur Schriftsteller und Kabarettisten, sondern auch unzählige bayerische Bürgerinnen und Bürger stehen. So lehnten sich 1705/06 die bayerischen Bauern mit dem Schlachtruf "Lieber bairisch sterben als kaiserlich verderben" gegen die Habsburger auf und mussten dies in der Sendlinger Mordweihnacht und der Bauernschlacht bei Aidenbach teuer bezahlen. Als Bayern in den Umbruchsjahren des 18. und 19. Jahrhunderts zum Verfassungsstaat wurde, war es Heimat berühmter Räuber und Wildschützen. Sozialrebellen à la Robin Hood wie der Bayerische Hiasl oder Michael Heigl wurden als Staatsfeinde verfolgt, vom Volk jedoch unterstützt und verehrt. Ihre Taten waren Ausdruck eines archaischen vorpolitischen Protests einer Landbevölkerung, die man fälschlicherweise für gleichmütig hielt. Parallel zum ländlichen Widerstand forderte Mitte des 19. Jahrhunderts das emanzipierte Bürgertum in den Städten seine politischen Rechte ein. Die 14 Bamberger Artikel, in denen 1848 das allgemeine Wahlrecht, Pressefreiheit, gleiche Bildungschancen für alle und die Abschaffung der Adelsprivilegien gefordert wurden, zeigen, dass es bei der Märzrevolution um etwas mehr ging als um Ludwigs I. Turtelei mit Lola Montez. Der Münchner Stadtteil Schwabing war um die Jahrhundertwende ein Hort revolutionärer Ideen. Hier schrieb Lenin an "Was tun?", und Erich Mühsam publizierte die anarchistische Zeitschrift "Kain". Das liberale München war der Gegenentwurf zum preußischen Militarismus und das Zuhause von Frauenrechtlerinnen wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, von existenzialistischen Schriftstellern wie Ernst Toller und radikalen Humanisten wie Gustav Landauer. Auch der ländliche Raum wurde durch Dienstbotenvereine und Knechtsvertretungen politisiert. Sogar die Bauern organisierten sich, und neben dem Bayerischen Christlichen Bauernverein entstand der radikale Bayerische Bauernbund mit dem Sozialisten Ludwig Gandorfer an der Spitze. Auf seinem Hof im niederbayerischen Mallersdorf-Pfaffenberg versteckte Karl Liebknecht während des Ersten Weltkrieges seinen Sohn Helmi. Gandorfer spielte in der Revolution 1918 eine entscheidende Rolle. Die SPD saß in Bayern schon früh im Landtag. Dass die bayerischen Genossen lange vor der Revisionismusdebatte jeglichen Radikalismus ad acta gelegt hatten, erwies sich als Erfolgsrezept der als "königlich bayerische Sozialdemokraten" verspotteten Parteimitglieder. Der legendäre bayerische SPD-Vorsitzende Georg von Vollmar war ein Verfechter des Frauenstudiums und sorgte dafür, dass dieses Thema im Landtag so lange auf die Tagesordnung kam, bis Bayern 1903 als zweites Land nach dem liberalen Baden das Frauenstudium einführte. Bei so viel renitentem Geist – ist es da ein Wunder, dass es Bayern war, das Deutschland bei der Revolution 1918 vorauseilte? Und als die Revolution in Berlin längst vorbei war, wurden in Bayern erst eine anarchistische und dann eine kommunistische Räterepublik ausgerufen. Vor allem die erste, die Republik der Literaten, verdient es, in einem Atemzug mit der Pariser Kommune 1871 und dem Petersburger Sowjet 1905 genannt zu werden, als mutiger Versuch, eine radikale Demokratie umzusetzen. Nach der Niederschlagung der Revolution wurde Bayern zur "Ordnungszelle" des Reiches und München zur "Hauptstadt der Bewegung". Doch auch aus diesen schlimmen Zeiten ist von Widerstand zu berichten. Neben den bekannten und unbekannten Helden wäre da Oskar Maria Graf zu nennen, der nach der Bücherverbrennung 1933 in einem Protestaufruf darum bat, man möge doch bitteschön auch seine Bücher verbrennen, Therese Giehse und die Geschwister Mann, die mit ihrem Kabarett Pfeffermühle gegen den Faschismus anspielten, und nicht zuletzt die Widerstandsgruppe "Die Weiße Rose". Auch in der bundesrepublikanischen Demokratie blieben wir unserem rebellischen Geist treu. So gab es in Schwabing schon Krawalle, als in Berlin noch studiert wurde. In der Radikalität blieb die Studentenbewegung in Berlin zwar unübertroffen, zumindest aber fand die Gründungsdiskussion der Kommune 1 in der idyllischen Umgebung des Kochelsees statt. Und ganz nebenbei war das schönste Gesicht der Revolte ein Export aus Bayern: Uschi Obermaier. Egal ob es gegen den Donauausbau oder die Autobahn durchs Isental geht, ob Populisten Rassismus und Xenophobie wieder hoffähig machen wollen und das Residenztheater deshalb vor der "Idiotisierung des Abendlandes" warnt – lautstark geäußerter, bunter Protest findet hier stets zahlreiche Unterstützer, die sich voll Empathie in eine lange Ahnengalerie von rebellischen Vorgängern einreihen, die ihrem Unmut freien Lauf gelassen haben. Und während die Touristen zu den Königsschlössern pilgern, wallfahren wir zum Grab vom Wildschütz Jennerwein und erweisen legendären Räubern wie Mathias Kneißl die Ehre. Wir Bayern lieben unsere Anarchisten und deren spontane Ausbrüche gegen die Obrigkeit. Mit organisiertem Widerstand tut man sich hingegen ungleich schwerer. Hier geht es selten um die Weltrevolution, sondern meist um konkrete Zwänge. Die Bayern sind Revolutionäre im ursprünglichen Wortsinn von revolvere: zurückdrehen. Meist wird um die Wiederherstellung eines früheren Zustandes gerungen, für den man sich gern auch auf vorstaatliches Naturrecht beruft. Hier wird rebelliert, um am Ende das zu bekommen, was der Bayer am meisten schätzt: seine Ruhe. Oskar Maria Graf hat dies bei einer hitzigen Diskussion im Frühjahr 1919, als es um die Fortsetzung der Revolution ging, selbst erlebt. Nachdem man sich nicht einigen konnte, ergriff schließlich ein verdienter Genosse das Wort: "Naja Genossen, mach mir hoit a Revolution, dass a Ruah is!" Katholizismus und Kirschgeist Die Hälfte der Bevölkerung Bayerns ist katholisch, zumindest auf dem Papier. Auch hier hat die Kirche mit massivem Vertrauensverlust und Kirchenaustritten zu kämpfen. Die meisten Katholiken leben in Altbayern, während Teile Frankens evangelisch geprägt sind. Muslime, nach den Christen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Bayern, finden sich vorwiegend in den Städten. Dass Bayern trotz der Reformation eine Hochburg des Katholizismus blieb, verdankt sich einer höchst erfolgreich agierenden Gegenreformation. Mithilfe der Jesuiten, Folter und Zwang haben die Wittelsbacher dereinst den Protestantismus zurückgedrängt. Die Redewendung "jemanden katholisch machen" wird noch heute benutzt, um auszudrücken, dass jemand auf den rechten Weg zurückgebracht werden muss. Tatsächlich passt das Römisch-Katholische so gut zu Bayern wie die vielen Barockkirchen, die es hier gibt: ausschweifend, sinnlich, prächtig, mit viel Pathos, ein wenig Mystik und einem Schuss Humor. Die Ernsthaftigkeit, das Pflichtbewusstsein und die Strebsamkeit des Protestantismus ist uns immer ein wenig fremd geblieben: Hier ist man eher barock als bigott. In Bayern glaubt man übrigens nicht an Gott, sondern an den Herrgott, zu dem man ein ganz eigenes Verhältnis pflegt. Der Herrgott, früher in jedem Haus im Herrgottswinkel persönlich anwesend, ist kein strafender Gott, sondern gütig und voller Verständnis für die großen und kleinen Sünden, die man in der katholischen Kirche Dank der Beichte ziemlich einfach wieder los wird. Die Vorstellung, als ewiger Sünder auf der Welt zu wandeln, ist ganz und gar nicht bayerisch, das Büßerische, Zerknirschte und Frömmelnde ist hier, zum Glück für die CSU, nicht zu Hause. Obwohl nur 5,5 Prozent der Gläubigen am Sonntag die Messe besuchen, wird auch von Menschen, die längst auf Distanz zur Amtskirche gegangen sind, kollektives religiöses Brauchtum gelebt: Ob Kirchweihfeste, Fronleichnamsumzüge oder Leonhardiritte – die Bayern lieben alles, was einer gewissen Folklore nicht entbehrt. Ansonsten ist der Glaube hier trotz Kreuzerlass der Bayerischen Staatsregierung immer schon etwas sehr Persönliches gewesen. In Altötting, Bayerns berühmtestem Wallfahrtsort, rutschen die einen mit einem Holzkreuz beladen um die Kapelle der Schwarzen Madonna, während die anderen ihr Papst-Bier aus dem Halbe-Flascherl trinken. Dass die Passionsspiele von Oberammergau 2020 die Rolle des Judas mit einem Muslim besetzen, ist nur eine weitere Facette bayerischer Vielfalt auch in der Religion. Und so ist es kein Wunder, dass eines der Lieblingstheaterstücke der Bayern eine Geschichte von schier gotteslästerlicher Frivolität ist: Kurt Wilhelms Theaterfassung einer Erzählung von Franz von Kobell, in der der Brandner Kasper den Boandlkramer (Tod) mit Kirschgeist betrunken macht und ihm beim Kartenspiel weitere Lebensjahre abluchst. In diesem Stück erfährt man übrigens auch, wie der Himmel der Bayern aussieht: voller Kultur, Gesang, Philosophie und Bier – und gänzlich ohne "Preißn". Irgendwie und Sowieso Nichts an Bayern ist so einfach und eindimensional, wie es auf den ersten Blick scheint. So blieben Oskar Maria Graf und Emerenz Meier auch im amerikanischen Exil Bilderbuchbayern und standen dennoch politisch immer weit links. Wenn Bayern nun so schwer zu fassen ist, wie soll man dann mit diesem Landstrich und seinen Bewohnern umgehen? Der "Spiegel" schrieb in einer Titelgeschichte 1964 über Bayern: "Es ist zu widersprüchlich, sich selbst zu verstehen, geschweige denn von anderen verstanden zu werden." Vielleicht sollte man einfach diejenigen nach dem bayerischen Selbstverständnis fragen, die in Bayern gern zu solch philosophischen Fragen gehört werden: Fußballer, Fernsehköche und Fernsehhelden. In der bayerischen Kultserie "Irgendwie und Sowieso" von Franz Xaver Bogner lautet die Wahrheit über Bayern schlicht und einfach: "Bayern liegt genau in der Mitte von Europa. Und Europa is genau die Mitte von der Welt. Und wemma von irgendwos die Mittn is, komma die Umgebung selbst bestimmen." Noch Fragen? Zit. nach Oskar Maria Graf, Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918–1933, München 1985, S. 64. Mir san Mir, in: Der Spiegel, 6.1.1964, Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46162638.html Irgendwie und Sowieso, Folge 3: Sir Quickly und die Frauen, Erstes Deutsches Fernsehen 1986.
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, Michaela Karl
2022-02-17T00:00:00
2018-12-12T00:00:00
2022-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/282404/bayerische-dialektik/
Der Freistaat Bayern ist das Land der Gegensätze und Widersprüche – schwer zu begreifen und manchmal noch schwerer zu ertragen. Daher empfiehlt es sich, es in Sachen Bayern mit Goethe zu halten: "Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, is
[ "APuZ 2018/51-52", "Bayern", "Freistaat", "Klischees", "CSU", "Widersprüchlichkeit", "Gegensätze", "Besonderheit" ]
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Operation Heimkehr. Vier Porträts | Bundeswehr | bpb.de
Die Fotografien und Porträts auf den folgenden Seiten stammen aus unserem Projekt "Operation Heimkehr. Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr berichten über ihr Leben nach dem Auslandseinsatz". Im Mittelpunkt des Projekts steht die Frage, wie sich die deutsche Gesellschaft mit den Erfahrungen auseinandersetzt, die Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen sammeln. Interessiert sich die Gesellschaft überhaupt für die Heimkehrenden und macht sich bewusst, dass die Soldatinnen und Soldaten im Auftrag unseres Parlaments große Gefahren und auch eine große Verantwortung auf sich genommen haben? Wie begegnet die Bevölkerung jenen, die körperlich oder seelisch verletzt aus dem Einsatz zurückkehren? Können sie mit Verständnis und Unterstützung rechnen? Beurteilen können das aus unserer Sicht vor allem die Soldaten selbst. Deshalb haben wir 70 Soldatinnen und Soldaten aus verschiedenen Einsätzen porträtiert und befragt. In den Interviews wird auch deutlich, dass viele der Heimkehrer durch die Erlebnisse in den Krisenstaaten einen neuen Blick auf das Leben in Deutschland gewinnen. Man kann sogar von einem Wertewandel sprechen, den die Soldaten selbst als positiv empfinden. Die Ausstellung zum Projekt ist für Frühjahr 2014 geplant, das Buch erscheint im März 2014 im Ch. Links Verlag. Holger Roßmeier gehört einem multinationalen Verband an. Von Juli 2009 bis Februar 2010 war er im NATO-Hauptquartier in Kabul/Afghanistan eingesetzt. Dort hatte er die Aufgabe, Planungsoffiziere zu Terminen zu begleiten und zu fahren. Jede Fahrt glich einer kleinen Militäroperation, für die Roßmeier die Gefahrenlage auswerten und eine möglichst sichere Route finden musste. Dennoch geriet er mehrfach in lebensbedrohliche Situationen. Zur Angst um sein eigenes Leben kam in solchen Momenten die Sorge um die Kameraden und Vorgesetzten, für die er Verantwortung übernehmen musste. Bei Nachtfahrten musste er außerdem immer fürchten, jemanden zu überfahren. Holger Roßmeier wurde in Kabul auch Zeuge, wie Afghanen von Landsleuten brutal gequält wurden. Diese Erlebnisse verfolgen Holger Roßmeier bis heute und trieben ihn zeitweise an den Rand des Selbstmordes. Er leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die er aber lange nicht wahrhaben wollte. Holger Roßmeier hat die Initiative "Roter Freitag" gegründet. Vorbild ist eine kanadische Initiative, freitags aus Solidarität mit Soldaten rote Kleidung zu tragen. "Vor meiner Zeit bei der Bundeswehr war ich bei einem Autohaus beschäftigt und dachte, mein Glück hänge von guten Verträgen ab. Ein Grundschulkamerad, der bei der Bundeswehr war, erzählte mir dann, wie er in Somalia Trinkwasseraufbereitungsanlagen aufgebaut hat und damit Menschen vor dem Verdursten retten konnte. Das hat mich nicht mehr losgelassen. In Artikel 2 des Grundgesetzes heißt es ja, jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, dort steht aber kein Wort darüber, dass sich dies nur auf Bürger unseres Landes bezieht. Holger Roßmeier hat im Einsatz Tagebuch geführt. Heute versucht er, seine traumatischen Erlebnisse aus Afghanistan in einer Therapie aufzuarbeiten. Bearbeitete Seiten streicht er. (© Sabine Würich und Ulrike Scheffer) Ich bin Soldat geworden, weil ich davon überzeugt bin, dass wir dringend Streitkräfte benötigen, um uns im Bündnis mit anderen für die Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen. Das kann nun einmal nicht die Bäckerinnung leisten. Zu den meisten Deutschen dringt die neue Realität der Bundeswehr allerdings kaum durch. In unser Gruppengedächtnis hat sich eingebrannt, dass deutsche Soldaten schlimme Gräueltaten begangen haben. Ich finde es aber beschämend, wenn sich meine Söhne anhören müssen, 'dein Vater ist ein Mörder'. Das ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die mit Herzblut an ihre Aufgabe herangehen. Im Grundgesetz steht auch, die Würde des Menschen ist unantastbar. Doch Soldaten scheinen da irgendwie ausgeklammert. Niemand verlangt, dass die Leute ständig mit der Flagge herumlaufen und die Soldaten feiern. Wenn mich jemand fragt, was er für die Soldaten tun kann, dann sage ich: 'Bete doch mal für sie oder denk’ einfach über sie nach.‘ Ich würde mir wünschen, dass jeder mal kurz innehält und sich klarmacht, was die weit verbreitete Ablehnung für die Soldaten und ihre Familien bedeutet. Wir sind ja nicht nur Soldaten in Uniform, sondern auch Väter, Ehemänner, Söhne und Töchter. Ich kann auch verstehen, dass sich die Menschen nicht mit dem Tod von Soldaten auseinandersetzen wollen. Und mit der Tatsache, dass sie als Wähler letztlich dafür verantwortlich sind. Sie müssen aber verstehen, dass Frieden und Freiheit, so wie wir sie heute genießen, nicht gottgegeben sind. Sie waren nicht einfach da, sondern mussten hart erkämpft werden. Nach dem Einsatz ging es mir zunächst gut. Die Bedrohung war schlagartig vorbei, die ganze Angst fiel von mir ab. Das war ein sehr befreiendes Gefühl. Krank wurde ich erst Monate später. Es ist schwer, diesen Einschnitt hinzunehmen. Ich hatte Angst davor, wertlos zu sein und eine Last für meine Familie. Früher war ich jemand, der immer alles hinbekommen hat, einer, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte. Und plötzlich schaffte ich es nicht einmal mehr, morgens aufzustehen. Ich wollte aber nicht als Weichei dastehen. Deshalb habe ich jede Therapie zunächst abgelehnt. Was sollte ich mit Entspannungsübungen? Allein dieses Wort Selbstfürsorge. Ich wollte auch nicht in eine Selbsthilfegruppe. Das war für mich etwas für Leute mit langen Haaren, die Matetee trinken. Inzwischen habe ich selbst eine Selbsthilfegruppe gegründet. Und ich kann jedem Soldaten, der Probleme hat, nur raten, psychologische Hilfe anzunehmen. Sich zu einer psychischen Erkrankung zu bekennen, ist keine Schwäche, es ist im Gegenteil sogar eine Stärke, denn es erfordert viel Mut. Ich mache weder die Bundeswehr noch die Politik für meine Erkrankung verantwortlich. Ich habe mich ja aus einer höheren Überzeugung heraus für diesen Dienst entschieden. Und ich bin für den Einsatz über Jahre hinweg gut ausgebildet worden. Der Preis für den Einsatz ist natürlich hoch. So viele Soldaten sind gestorben. Man kann das aber nicht in die Waagschale legen. Auch Feuerwehrleute und Polizisten begeben sich jeden Tag für unsere Gesellschaft und zu unserem Schutz in Lebensgefahr. Ob wir unsere Ziele in Afghanistan erreicht haben, kann ich nicht beurteilen. Ich habe aber viele Menschen gesehen, deren Lebenssituation sich verbessert hat. Ich persönlich habe in Afghanistan einen guten Kameraden verloren. Ich möchte nicht, dass sein Tod umsonst war. Ich möchte, dass wir an dem eingeschlagenen Weg festhalten und uns auch weiter für andere einsetzen." Holger Roßmeier hat im Einsatz Tagebuch geführt. Heute versucht er, seine traumatischen Erlebnisse aus Afghanistan in einer Therapie aufzuarbeiten. Bearbeitete Seiten streicht er. (© Sabine Würich und Ulrike Scheffer) Uwe K. verpflichtete sich 1975 für 25 Jahre zum Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR. Er wollte für sein Vaterland einstehen, dem er viel zu verdanken hatte, wie er sagt. Seine vier Geschwister und er bekamen in der DDR als erste Generation seiner Familie eine ordentliche Schulbildung und profitierten von vielen Sozialleistungen. Zur Wendezeit war K. stellvertretender Kommandeur eines Aufklärungsbataillons in Dresden. Er rang viele Wochen mit sich, bevor er sich entschied, bei der Bundeswehr weiterzumachen. Mit der Offiziersausbildung begann er noch mal von vorn, als Richtschütze auf dem Kampfpanzer Leopard 2. Bereut hat er diesen Schritt nicht. Weitere Verwendungen folgten in Thüringen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und an der Offizierschule Dresden. Seit 2003 ist er in Leipzig stationiert und mit Sicherheitsanalysen betraut. Uwe K. war 2004, 2006 und 2009 jeweils für vier bis sechs Monate in Kundus/Afghanistan im Einsatz. Er war dort für die Einschätzung der Sicherheitslage, die Führung der Aufklärungskräfte und für die Sicherung des Bundeswehrlagers verantwortlich. "Ich habe gehört, dass 80 Prozent der Deutschen nicht in der Lage sind, bei einem Verkehrsunfall eine Wiederbelebung durchzuführen, 60 Prozent könnten keine starken Blutungen stillen und noch weniger eine stabile Seitenlage durchführen. Offenbar fühlen sich die Leute dafür nicht zuständig, denn wir haben in dieser Gesellschaft für jede Situation Spezialisten. Bei einem Unfall kommen Rettungssanitäter, wenn es brennt, kommt die Feuerwehr. Und wenn es im Ausland brennt, dann geht eben die Bundeswehr dorthin. Die Soldaten sind ja dafür ausgebildet, und der normale Bürger muss sich mit dem Thema dann gar nicht mehr befassen. Ich würde aber schon erwarten, dass sich nicht nur der Politiker oder der Soldat, den es von Berufs wegen betrifft, mit den Auslandseinsätzen beschäftigt, sondern auch der normale Bürger. Schließlich werden wir von ihm als dem Souverän dieses Staates in den Einsatz geschickt. Die Auseinandersetzung mit Auslandseinsätzen ist aber immer auch eine Auseinandersetzung mit Tod und Verwundung. Das ist unangenehm. Dass im Einsatz in Afghanistan schon mehr als 50 Soldaten ums Leben gekommen sind, will niemand hören. Auch die Bundeswehr blendete solche Fragen meiner Wahrnehmung nach in der Ausbildung lange aus. Als ich Ende der 1990er Jahre als Ausbilder an die Offizierschule des Heeres kam, wurden in den Lehrgängen Szenarien besprochen, in denen es vielleicht mal einen Leichtverletzten gab, aber nie einen Toten. Ich habe das dann mal am Beispiel eines Panzers, der in ein Minenfeld fährt, durchgespielt. Laut Lehrplan gab es in der Situation ein paar Verletzte, ich habe das weitergeführt und gesagt, die sind jetzt verstorben. Die Teilnehmer sollten sich nun ein Blatt Papier nehmen und einen Brief an die Eltern der Gefallenen schreiben, denn als Kompaniechef muss man so etwas tun. Da saßen um die 20 junge Männer eine halbe Stunde lang vor einem leeren Papier – weil sie sich selbst nicht mit dem Thema Tod und Verwundung beschäftigt hatten. Bei mir persönlich war das anders. In meiner Offiziersausbildung bei der NVA gehörten die ethischen und handwerklichen Aspekte von Tod und Verwundung zwar ebenfalls nicht zum offiziellen Lehrstoff. Im Kameradenkreis haben wir uns aber sehr konkret überlegt, wie wir uns verhalten würden, wenn wir in Gefangenschaft geraten oder verwundet werden. Oder wie wir mit Gefangenen umgehen würden. Ich wurde zum Aufklärer und Fallschirmjäger ausgebildet, im Ernstfall hätte das bedeutet, dass wir als Trupp auf uns allein gestellt gewesen wären. Und jetzt haben wir einen Gefangenen und keinen Platz, um den zu transportieren. Was machen wir also mit dem? Der größte Verzicht im Einsatz, so sagt Uwe K., war für ihn, sich nicht um die Familie kümmern zu können. Seine Frau und seine Tochter haben aber ein Foto machen lassen, um es ihm mit in den Einsatz zu geben. (© Fotoatelier Dähn) Dadurch, dass ich mir solche Fragen gestellt hatte, war ich gedanklich gut vorbereitet, als ich in den ersten Afghanistan-Einsatz ging. Ich glaube, das hilft einem, um psychisch stabil zu bleiben. Der andere Punkt ist, dass man belastende Ereignisse nachbereiten muss. Man kann Dinge verarbeiten, wenn man darüber spricht. Wo das nicht passiert, können die Erinnerungen irgendwann krankhaft werden. Das entspricht jedenfalls meinen Erfahrungen, denn psychisch Kranke habe ich in meinem Umfeld mehrfach gehabt. Meine Frau sagt, dass auch ich nach den Einsätzen verändert war. Sie sagt, es ist nun genug. Es war für mich nach den Einsätzen eine erhebliche Umstellung, mit den täglichen Banalitäten im Friedensdienst zurande zu kommen, mit der Diskrepanz der Anforderungen. In Afghanistan habe ich mich im Grunde genommen den ganzen Tag mit Aufgaben beschäftigt, von denen das Leben meiner Kameraden abhing. Was mich bewegt hat, war: Was passiert, wenn ich meiner Truppe eine falsche Information über die Lage auf ihrem Patrouillenweg gebe? Und dann kommt man nach Hause und der Auftrag lautet: Parkplatzordnung. Das, was ich im Einsatz geleistet habe, wird im Familien- und Freundeskreis gewürdigt, es wird hier im Dienst gewürdigt und überspitzt gesagt durch den Innenminister des Landes Sachsen beim Neujahrsempfang der 13. Panzergrenadierdivision. Das ist zwar schon eine ganze Menge, aber irgendwo lebt man als Soldat schon auf einer militärischen Insel." Der größte Verzicht im Einsatz, so sagt Uwe K., war für ihn, sich nicht um die Familie kümmern zu können. Seine Frau und seine Tochter haben aber ein Foto machen lassen, um es ihm mit in den Einsatz zu geben. (© Fotoatelier Dähn) Melanie Baum ist als Wachtmeisterunteroffizierin in der Personalverwaltung auf der Fregatte Sachsen eingesetzt. Auf See übernimmt sie außerdem Dienste auf der Brücke. Die gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte aus Köln ging 2007 zur Marine, weil sie herausfinden wollte, ob sie es schafft, weit weg vom Elternhaus auf eigenen Füßen zu stehen. Bis 2019 hat sie sich als Zeitsoldatin verpflichtet. Eine erste, mehrmonatige Übungsfahrt absolvierte Melanie Baum 2009, 2012 folgten viereinhalb Monate in der Anti-Piraten-Mission der Europäischen Union, ATALANTA, am Horn von Afrika. "Ich glaube nicht, dass die Einsatz-Erfahrungen der Soldaten auch die Gesellschaft hier verändern werden. Wer nicht selbst erlebt hat, wie das ist, wenn man aus einer Konsumgesellschaft wie Deutschland in ein Land kommt, wo es nichts gibt, der kann das wohl nicht nachempfinden. In Djibouti oder Afghanistan fangen die Leute an zu weinen vor Freude, wenn man ihnen eine Flasche Wasser in die Hand drückt. Das ist etwas anderes, als wenn man in Italien am Strand einen Bauchladenverkäufer trifft. Die sind zwar aufdringlich, aber in Djibouti betteln die Händler förmlich darum, dass man etwas kauft. Wenn die nichts verkaufen, können die abends nichts zu essen auf den Tisch bringen. Einmal kam sogar ein Mann auf mich zu und wollte mir für 100 Euro sein vier Jahre altes Kind verkaufen. Dann steht man da und ist geschockt. "Qui quaerit invenit", "Wer suchet, der findet", hat sich Melanie Baum auf der Rückfahrt von ihrem Einsatz im Hafen von Malta auf den Unterarm tätowieren lassen – weil sie auf der Reise neue Charakterzüge an sich entdeckt und eine neue Einstellung zum Leben gefunden hat, wie sie sagt. (© Sabine Würich und Ulrike Scheffer) Seit meinem Einsatz habe ich viel über meine eigene Existenz nachgedacht. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der wir jedes Jahr Urlaub machen konnten, und ich habe auch Klassenfahrten gemacht. Dabei haben andere Kinder nicht mal Zugang zu Bildung. Man denkt immer, die Medien übertreiben, wenn sie Bilder aus solchen Ländern zeigen. Aber es ist wirklich so, die Menschen schlafen da in irgendwelchen Ecken auf der Straße und waschen sich in Pfützen. Nach meiner Rückkehr habe ich mit meinen Eltern zusammengesessen, ihnen Fotos gezeigt und erklärt, was es in einem auslöst, wenn man das sieht. Man wird sich bewusst, dass man unglaublich Glück hat, in Deutschland geboren und so privilegiert zu sein. Dass man ein Konto hat, von dem man jederzeit einfach 100 Euro abheben kann. Ich gebe das Geld jetzt nicht mehr mit beiden Händen aus. Einmal war ich mit meiner Mutter und meiner besten Freundin in der Stadt, es war eine perfekte Shopping-Situation. Da habe ich ein Oberteil für 20 Euro gesehen, das ich sehr schön fand. Aber ich brauchte es nicht und habe es wieder zurückgehängt. Das kannten die von mir gar nicht. Meine Mutter war total glücklich über diese Veränderung. Die hat gesagt, endlich verstehst du den Sinn von Geld. Im Moment habe ich immer diese Bilder aus Djibouti im Hinterkopf und denke, man sollte sich einfach überlegen, ob es jetzt das Handy für 500 Euro sein muss oder andere High-Tech-Schicki-Micki-Sachen. Wenn ich mit Leuten darüber spreche, die mich nicht so gut kennen, dann sagen die: Warum soll ich mir selbst diese Grenze setzen? Ich gehe ja dafür arbeiten. Die verstehen das zwar, lassen sich aber nicht von ihrer Meinung abbringen. Es ist nun mal ein Statussymbol, ob man ein iPhone 5 hat oder die neuesten Sneaker, man ist dann halt was. Ich binde aber auch nicht jedem auf die Nase, dass ich bei der Marine bin. Ich habe schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Als ich vor drei Jahren meine alte Schule in Köln besucht habe, hat mich meine alte Lehrerin vom Gelände verwiesen, als sie hörte, ich bin jetzt bei der Bundeswehr. Sie hat mich als bezahlte Mörderin bezeichnet. Das war ein Schlag ins Gesicht, denn im Verteidigungsfall sind das die Leute, die man schützen muss." Projektförderung Das Projekt wird gefördert durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, das Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbandes – Karl-Theodor-Molinari-Stiftung – und Prof. Dr. Reiner Pommerin, Sprecher im Beirat für Fragen der Inneren Führung, den Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V. sowie das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr, das Katholische Militärbischofsamt und den "Tagesspiegel". "Qui quaerit invenit", "Wer suchet, der findet", hat sich Melanie Baum auf der Rückfahrt von ihrem Einsatz im Hafen von Malta auf den Unterarm tätowieren lassen – weil sie auf der Reise neue Charakterzüge an sich entdeckt und eine neue Einstellung zum Leben gefunden hat, wie sie sagt. (© Sabine Würich und Ulrike Scheffer) Das Projekt wird gefördert durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, das Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbandes – Karl-Theodor-Molinari-Stiftung – und Prof. Dr. Reiner Pommerin, Sprecher im Beirat für Fragen der Inneren Führung, den Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V. sowie das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr, das Katholische Militärbischofsamt und den "Tagesspiegel".
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, Sabine Würich | , Ulrike Scheffer
2021-12-07T00:00:00
2013-10-21T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/170801/operation-heimkehr-vier-portraets/
Wie geht die Gesellschaft mit den Erfahrungen um, die Bundeswehrsoldaten in Aus­landseinsätzen sammeln? Interessiert sie sich für die Heimkehrer? Wie haben diese den Einsatz und ihre Rückkehr erlebt? Vier Soldaten und Soldatinnen berichten.
[ "Soldat", "Soldatin", "Bundeswehrsoldaten", "Auslandseinsatz", "Bundeswehr", "Deutschland" ]
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Irregular Migration | Australia | bpb.de
Unauthorised Arrivals (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Als JPG herunterladen (106.6kB) There is a well-organised route with migrants flying in to Malaysia and travelling by land and sea through Indonesia to Australia. The Australian government is making intensive efforts to collaborate with Indonesia and Malaysia to reduce this flow. A large number of irregular migrants in Australia is attributed to the persons who enter on valid visas and then subsequently overstay. All foreigners visiting Australia must hold a valid visa and are registered on entry and exit, so counting of overstayers is possible. It is estimated that in mid-2008 there were 48.500 overstayers in Australia, with around 10 percent of those being from China. While most unauthorised arrivals apply for asylum after entry, the majority of overstayers avoid contact with immigration authorities. Unauthorised Arrivals (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Als JPG herunterladen (106.6kB) DIAC (2009a).
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Graeme Hugo
2022-01-18T00:00:00
2012-01-25T00:00:00
2022-01-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/58228/irregular-migration/
Australia does not share any land borders with other countries; its isolated island geography has been a major factor in the low levels of irregular migration that it experiences. The Figure shows the numbers of unauthorised arrivals in Australia ove
[ "Australien", "Australia", "irregular migration", "irreguläre Migration", "Irreguläre Zuwanderung" ]
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15. November 1988: PLO erklärt staatliche Unabhängigkeit Palästinas | Hintergrund aktuell | bpb.de
Am 8. Dezember 1987 brach im Westjordanland und im Gazastreifen die "Interner Link: Erste Intifada" aus – ein gewaltsamer Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung. In dieser Zeit fasste die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) den Entschluss, einen eigenständigen palästinensischen Staat auszurufen. Die PLO hatte ihren Sitz zu diesem Zeitpunkt in Tunis und kontrollierte keines derjenigen Gebiete, die aus ihrer Sicht nun Teil eines Staates Palästina werden sollten. Der Schritt war zu diesem Zeitpunkt somit ausschließlich symbolischer Natur. Und doch hat er eine Debatte angefacht, die bis heute anhält. Am 15. November 1988 beschloss der Palästinensische Nationalrat, das legislative Organ der PLO, im Rahmen einer Tagung in Algier die Annahme einer palästinensischen Unabhängigkeitserklärung. Der Text der Erklärung stammte unter anderem von dem palästinensischen Schriftsteller Mahmud Darwisch. PLO-Chef Jassir Arafat verlas das dreieinhalbseitige Dokument auf der Tagung. In der Externer Link: Unabhängigkeitserklärung des Staates Palästina heißt es unter anderem: "In Ausübung der nationalen Rechte des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung, politische Unabhängigkeit und Souveränität über sein Land proklamiert der Palästinensische Nationalrat im Namen Gottes und im Namen des palästinensischen Volkes die Gründung des Staates Palästina auf seinem palästinensischen Boden mit Jerusalem als Hauptstadt." Indirekte Anerkennung des Existenzrechts Israels In der Unabhängigkeitserklärung wird bemängelt, dass das "palästinensische Volk" in Zeiten, "als die moderne Welt ihre Werte und Normen neu formulierte", vom "allgemeinen Lauf der Geschichte" ausgeschlossen worden sei. Explizit nimmt die Deklaration auch Bezug auf die Externer Link: UN-Resolution 181 vom 29. November 1947, dem Teilungsplan der Vereinten Nationen für das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, in dem bereits die Schaffung eines arabischen und eines jüdischen Staates gefordert wurde. Mit harschen Worten wird in der Deklaration von 1988 die israelische Besatzungspolitik kritisiert. Unerwähnt bleibt jedoch, dass die Besetzung von palästinensischen Gebieten das Ergebnis mehrerer kriegerischer Versuche arabischer Staaten gewesen war, die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu verhindern oder rückgängig zu machen. In einer Externer Link: politischen Zusatzerklärung, die zeitgleich veröffentlicht wurde, erkannte die PLO letztlich auch die UN-Resolution 242 von 1967 an, in der die "Souveränität, territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit eines jeden Staates in der Region" garantiert wurde. Indirekt hatte die PLO damit das Existenzrecht Israels bestätigt – eine Vorbedingung für weitere Gespräche mit den USA und Israel. Diese Entscheidung bestätigte die PLO fünf Jahre später im Rahmen der Osloer Verträge. In der Folge wurde das Existenzrechts Israels von Vertretern der PLO dennoch immer wieder öffentlich in Zweifel gezogen. Zuletzt teilte der Nationalrat der Palästinenser, ein Gremium der Dachorganisation PLO, im Januar 2018 mit, Israel vorerst nicht mehr als Staat anerkennen zu wollen. Heute erkennen 137 Länder die Staatlichkeit Palästinas an Seine Proklamation eines Palästinenserstaates wiederholte Jassir Arafat im Dezember 1988 vor der UN-Vollversammlung, die dies in der Resolution 43/177 "zur Kenntnis" nahm. Zudem wurde der Externer Link: seit 1974 existierenden PLO-Delegation bei den Vereinten Nationen das Recht eingeräumt, künftig unter dem Namen "Palästina" zu firmieren. Bis Mai 1989 erkannten Externer Link: weltweit insgesamt 92 Länder den Staat Palästina an, darunter die meisten kommunistischen Regime. Obwohl der Oslo-Friedensprozess ab Mitte der 1990er-Jahre die Einrichtung einer palästinensischen Autonomiebehörde möglich machte, änderte sich am Status des Palästinas bei den Vereinten Nationen danach lange Zeit wenig. Mittlerweile ist Palästina von 137 UN-Mitgliedsländern als Staat anerkannt worden, zuletzt von Kolumbien im August 2018. Auch zahlreiche EU-Mitgliedsstaaten haben zur palästinensischen Autonomiebehörde bereits diplomatische Beziehungen aufgenommen: Bulgarien, Malta, Polen, Rumänien, Schweden, die Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern. Die DDR hatte Palästina bereits 1988 anerkannt. Das wiedervereinte Deutschland hat diesen Schritt bis heute nicht vollzogen, ebenso wie beispielsweise Italien, Kanada, die Niederlande, die Schweiz und die USA. Seit 2012 hat Palästina einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen Seit 2012 hat Palästina einen Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedsstaat bei den Vereinten Nationen und damit auch Interner Link: Zugang zu UN-Unterorganisationen. Deutschland enthielt sich bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung. Im Jahr 2015 trat Palästina dem Römischen Statut bei. Seitdem können Vertreter der Autonomiebehörde Klagen beim Internationalen Gerichtshof und beim Internationalen Strafgerichtshof erheben. Wann ist ein Staat ein Staat? Obwohl die Mehrheit der UN-Mitgliedsländer Palästina anerkennt, ist die Staatlichkeit der palästinensischen Autonomiegebiete international umstritten und Gegenstand von bisweilen emotional geführten Auseinandersetzungen. "Es existiert keine völkerrechtliche Regelung, die Staaten zur Anerkennung eines Staates zwingen könnte", heißt es dazu in einem Sachstandbericht der Externer Link: Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom Mai 2018. "Die Nichtanerkennung bedeutet jedoch nicht zwingend die völlige Ignorierung Palästinas durch den jeweiligen Staat. Vielmehr gibt es de facto Abstufungen zwischen Anerkennung und Nichtanerkennung." So gelte zum Beispiel die Palästinensische Autonomiebehörde der Bundesrepublik Deutschland als legitimer Ansprechpartner in Fragen der Entwicklungszusammenarbeit. Norwegen behandle die Vertretung der Autonomiebehörde in Oslo rechtlich wie eine Botschaft und deren Mitarbeiter wie ausländische Diplomaten – obwohl die Regierung in Oslo den Palästinenserstaat bisher nicht anerkannt hat. Kritiker sagen, Palästina erfülle nicht die rechtlichen Kriterien, um als Staat zu gelten. So schrieb etwa im Jahr 2015 der inzwischen verstorbene CDU-Politiker Philipp Mißfelder in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Die Welt", dass Palästina "insbesondere nicht das Kriterium einer effektiven Regierungsbildung" erfülle. Damit bezog sich Mißfelder auf die weitgehend anerkannte "Drei-Elemente-Lehre" des Völkerrechtlers Georg Jellinek aus dem frühen 20. Jahrhundert, wonach sich ein Staat durch ein abgeschlossenes Territorium mit klar definierten Grenzen, ein Staatsvolk und eine von einer stabilen Regierung ausgeübte Staatsgewalt konstituiere. Welche Maßstäbe dafür herangezogen werden müssen, ist allerdings umstritten. So behindert unter anderem der Konflikt zwischen der radikal-islamischen Hamas, die seit Juni 2007 den Gazastreifen kontrolliert, und der Fatah-Bewegung, die unter Präsident Mahmoud Abbas die Autonomiegebiete im Westjordanland regiert, die Herausbildung einer einheitlichen Staatsgewalt. Mehr zum Thema: Interner Link: Vereinte Nationen machen Palästina zum Beobachterstaat Interner Link: Der "Staat Palästina": Herausforderung deutscher Außenpolitik Obwohl die Mehrheit der UN-Mitgliedsländer Palästina anerkennt, ist die Staatlichkeit der palästinensischen Autonomiegebiete international umstritten und Gegenstand von bisweilen emotional geführten Auseinandersetzungen. "Es existiert keine völkerrechtliche Regelung, die Staaten zur Anerkennung eines Staates zwingen könnte", heißt es dazu in einem Sachstandbericht der Externer Link: Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom Mai 2018. "Die Nichtanerkennung bedeutet jedoch nicht zwingend die völlige Ignorierung Palästinas durch den jeweiligen Staat. Vielmehr gibt es de facto Abstufungen zwischen Anerkennung und Nichtanerkennung." So gelte zum Beispiel die Palästinensische Autonomiebehörde der Bundesrepublik Deutschland als legitimer Ansprechpartner in Fragen der Entwicklungszusammenarbeit. Norwegen behandle die Vertretung der Autonomiebehörde in Oslo rechtlich wie eine Botschaft und deren Mitarbeiter wie ausländische Diplomaten – obwohl die Regierung in Oslo den Palästinenserstaat bisher nicht anerkannt hat. Kritiker sagen, Palästina erfülle nicht die rechtlichen Kriterien, um als Staat zu gelten. So schrieb etwa im Jahr 2015 der inzwischen verstorbene CDU-Politiker Philipp Mißfelder in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Die Welt", dass Palästina "insbesondere nicht das Kriterium einer effektiven Regierungsbildung" erfülle. Damit bezog sich Mißfelder auf die weitgehend anerkannte "Drei-Elemente-Lehre" des Völkerrechtlers Georg Jellinek aus dem frühen 20. Jahrhundert, wonach sich ein Staat durch ein abgeschlossenes Territorium mit klar definierten Grenzen, ein Staatsvolk und eine von einer stabilen Regierung ausgeübte Staatsgewalt konstituiere. Welche Maßstäbe dafür herangezogen werden müssen, ist allerdings umstritten. So behindert unter anderem der Konflikt zwischen der radikal-islamischen Hamas, die seit Juni 2007 den Gazastreifen kontrolliert, und der Fatah-Bewegung, die unter Präsident Mahmoud Abbas die Autonomiegebiete im Westjordanland regiert, die Herausbildung einer einheitlichen Staatsgewalt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-04-12T00:00:00
2018-11-08T00:00:00
2022-04-12T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/279844/15-november-1988-plo-erklaert-staatliche-unabhaengigkeit-palaestinas/
Vor 30 Jahren rief die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) einen unabhängigen palästinensischen Staat aus. Mittlerweile wird er von zwei Dritteln der UN-Mitgliedsländer anerkannt. Deutschland hat diesen Schritt bisher nicht vollzogen.
[ "Hintergrund aktuell", "30 Jahre Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO)", "Palästina", "Erste Intifada", "Vereinten Nationen", "UN-Resolution 242", "Resolution 43/177" ]
29,703
Digitale Preisverleihung am 12. Oktober: Wettbewerb "Aktiv für Demokratie und Toleranz" | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) hat in den Wettbewerbsjahrgängen 2019 und 2020 insgesamt 131 Initiativen und Projekte aus 525 Bewerbungen für ihr vorbildliches und nachahmenswertes zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz als Preistragende ausgewählt. Die Preise sind mit 1.000 € bis 5.000 € dotiert. Am 12. Oktober 2021 werden 16 Preistragende aus Nordrhein-Westfalen geehrt. Die Laudationen übernehmen die BfDT-Beiratsmitglieder Prof. Dr. Beate Küpper und Helge Lindh, MdB. Auf einen Blick: Digitale Preisverleihung Wettbewerb "Aktiv für Demokratie und Toleranz" Wann: Dienstag, den 12.10.2021, 16:00 bis 18:00 Uhr Wo: Livestream auf den Facebook- und YouTube-Kanälen des BfDT: Facebook: Externer Link: https://www.facebook.com/buendnisdemokratietoleranz/live/ Youtube: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=cEI8t_A1jhA Wir laden Sie herzlich zur Berichterstattung über den Wettbewerb und seine Preistragenden ein und würden uns über Ihre Teilnahme am Livestream sehr freuen. Der Wettbewerb "Aktiv für Demokratie und Toleranz" wird jährlich durch das BfDT ausgeschrieben. Den Gewinnern winken Preisgelder in Höhe von 1.000 € bis 5.000 €, ein jährliches Workshopangebot sowie eine verstärkte Präsenz in der Öffentlichkeit. Auf insgesamt neun (digitalen) Preisverleihungen werden die Preisträgerprojekte der Wettbewerbsjahrgänge 2019 und 2020 in diesem Jahr gemeinsam ausgezeichnet, da die Preisverleihungen 2020 pandemiebedingt leider abgesagt werden musste. Damit unterstützt das BfDT zivilgesellschaftliche Aktivitäten im Bereich der praktischen Demokratie- und Toleranzförderung. Am 23. Mai 2000 gründeten die Bundesministerien des Innern und der Justiz das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt. Seit dem Jahr 2011 ist die Geschäftsstelle des Bündnisses für Demokratie und Toleranz Teil der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Weitere Informationen zu den Preistragenden finden Sie unter: Externer Link: www.buendnis-toleranz.de/aktiv-wettbewerb Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Pressemitteilungen der bpb abonnieren/abbestellen: Interner Link: www.bpb.de/presseverteiler
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-11-08T00:00:00
2021-10-08T00:00:00
2021-11-08T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/341596/digitale-preisverleihung-am-12-oktober-wettbewerb-aktiv-fuer-demokratie-und-toleranz/
Sechszehn Projekte aus Nordrhein-Westfalen werden als Preistragende im bundesweiten Wettbewerb "Aktiv für Demokratie und Toleranz" nachholend für 2019 und 2020 geehrt
[ "BfDT Aktivwettbewerb Demokratie" ]
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Die Verbindung von Körper und Emotion | Volksgemeinschaft - Ausgrenzungsgemeinschaft | bpb.de
Interner Link: Dr. Daniel Wildmann, Leo Baeck Institute London und Universität London, setzt sich mit der Frage auseinander, wie Emotionen transportiert werden. Im Interview mit Interner Link: Miriam Menzel erklärt er, dass durch das Teilen von Emotionen auch Normen geteilt werden können. Im Nationalsozialismus habe dies darüber funktioniert, dass eine Verbindung zwischen körperlichen Merkmalen und Emotionen stattgefunden habe, wodurch am Ende gemeinsame moralische Normen entstanden seien. Daniel Wildmann hielt am zweiten Konferenztag den Vortrag "Ekel - Der Film ‚Jud Süss’ (1940)* in Nazi-Deutschland". Den Textbeitrag zu Daniel Wildmanns Vortrag finden Sie Interner Link: hier. Im Interview: Daniel Wildmann Daniel Wildmann Daniel Wildmann ist stellvertretender Direktor des Leo Baeck Institute London und Senior Lecturer für Geschichte am Queen Mary College der Universität London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen deutsch-jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichte der Männlichkeit, Körpergeschichte, Emotion, Antisemitismus und Visualität. Zu seinen Publikationen gehören u.a.: Der Begehrte Köper. Konstruktion und Inszenierung des "arischen“ Männerkörpers im "Dritten Reich“, Würzburg 1998; Schweizer Chemieunternehmen im "Dritten Reich, Zürich 2001 (zusammen mit Lukas Straumann); Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen 2009. Gegenwärtig arbeitet Daniel Wildmann an einem neuen Forschungs- und Buchprojekt mit dem Arbeitstitel: A history of visual expressions of antisemitism, emotions and morality. Daniel Wildmann Daniel Wildmann ist stellvertretender Direktor des Leo Baeck Institute London und Senior Lecturer für Geschichte am Queen Mary College der Universität London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen deutsch-jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichte der Männlichkeit, Körpergeschichte, Emotion, Antisemitismus und Visualität. Zu seinen Publikationen gehören u.a.: Der Begehrte Köper. Konstruktion und Inszenierung des "arischen“ Männerkörpers im "Dritten Reich“, Würzburg 1998; Schweizer Chemieunternehmen im "Dritten Reich, Zürich 2001 (zusammen mit Lukas Straumann); Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen 2009. Gegenwärtig arbeitet Daniel Wildmann an einem neuen Forschungs- und Buchprojekt mit dem Arbeitstitel: A history of visual expressions of antisemitism, emotions and morality. Daniel Wildmann
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-05T00:00:00
2013-01-28T00:00:00
2022-01-05T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/154121/die-verbindung-von-koerper-und-emotion/
Dr. Daniel Wildmann, Leo Baeck Institute London und Universität London, setzt sich mit der Frage auseinander, wie Emotionen transportiert werden. Im Interview mit Miriam Menzel erklärt er, dass durch das Teilen von Emotionen auch Normen geteilt werde
[ "Ausgrenzung", "Gemeinschaft", "Normen", "Nationalsozialismus" ]
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Islam im Klassenzimmer | Presse | bpb.de
Interner Link: Programm (PDF-Version: 227 KB) Rund 200 Experten aus Politik und Bildung werden die Frage diskutieren, wie Integration durch Bildung gelingen kann. Zu der zweitägigen Fachtagung haben die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und die Körber-Stiftung eingeladen. Deutschpflicht auf dem Schulhof? Mehr Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund? Abschaffung von Hauptschulen? Oder einfach die Ausweisung auffälliger ausländischer Schüler? Nach dem Hilferuf von Lehrern der Berliner Rütli-Schule werden teilweise untragbare Forderungen gestellt. Hilfreiche Diskussionen mit Lehrern, Schülern und Eltern kommen jedoch zu kurz. Welche konkrete Unterstützung brauchen Lehrer im schulischen Alltag? Welche Hilfe aus der Schule und von den Eltern brauchen junge Migranten, um sich eine Zukunftsperspektive schaffen zu können? Und welche Rahmenbedingungen muss der Staat schaffen, um der Losung "Integration durch Bildung" Rechnung zu tragen? Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Ute Erdsiek-Rave, und Sanem Kleff, Hrsg. des Buches "Islam im Klassenzimmer" (edition Körber-Stiftung) diskutieren zur Eröffnung der Tagung am 18. Mai im KörberForum. Am 19. Mai erörtert Yasemin Karakaşoğlu, Professorin für interkulturelle Bildung an der Uni Bremen, mit Migrationsexperten aus Großbritannien, Frankreich, Österreich und den Niederlanden die Frage, was die Deutschen in Sachen Integration und Bildung von den europäischen Nachbarn lernen können. In Workshops werden Projekte aus der Praxis zu Themen wie Sprachförderung, Stadtteilentwicklung, Lehrerausbildung oder Islamunterricht vorgestellt, die zeigen, dass Integration gelingen kann. Information zur Tagung telefonisch unter: +49 (0) 40 - 808 192 141 oder im Internet unter: Externer Link: www.praxisforum-schule-und-islam.de Pressekontakt/Körber-Stiftung KörberForum Christine Reese Kehrwieder 12 20457 Hamburg Tel.: +49 (0) 40 - 808 192 141 Fax: +49 (0) 40 - 808 192 302 E-Mail: E-Mail Link: praxisforum@koerber-stiftung.de Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Pressearbeit Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-12-23T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50587/islam-im-klassenzimmer/
Rund 200 Experten aus Politik und Bildung werden die Frage diskutieren, wie Integration durch Bildung gelingen kann. Zu der zweitägigen Fachtagung haben die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und die Körber-Stiftung eingeladen.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Vita von Elisa Klapheck | Deutschland Archiv | bpb.de
2012 promovierte sie summa cum laude mit einer Dissertation über die jüdische Religionsphilosophin Margarete Susman. Nach Stationen mit Lehraufträgen an Universitäten bundesweit ist Elisa Klapheck seit 2016 Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn, wo sie im Jahr 2021 die Gründung des „Pnina Navè Levinson Seminars für Jüdische Studien“ initiierte. Im Wintersemester 2021/2022 fand dort die öffentliche Ringvorlesung „Judentum am Dienstag“ zum Thema „Judentum, Feminismus und Genderstudien“ statt. 2004 wurde Elisa Klapheck vom Aleph Rabbinic Program in den USA zur Rabbinerin ordiniert. 2005 ging sie nach Amsterdam, wo sie als erste Rabbinerin in der niederländisch-jüdischen Geschichte angestellt war. Während ihrer vierjährigen Tätigkeit für die Amsterdamer Jüdische Gemeinde „Beit Ha’Chidush“ (Haus der Erneuerung) kam sie regelmäßig nach Frankfurt, um den Egalitären Minjan durch die Vermittlung jüdischer Kenntnisse, etwa für die Gestaltung von G'ttesdiensten oder den Umgang mit inhaltlichen Entwicklungen der jüdischen Tradition, zu stärken. 2009 kehrte sie nach Deutschland zurück und ist seitdem offiziell Rabbinerin der liberalen Synagogengemeinschaft „Egalitärer Minjan“ in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Zuvor hat Elisa Klapheck bereits in den 1990er-Jahren als Mitbegründerin der liberalen Synagoge der Oranienburger Straße in Berlin einen Egalitären Minjan mit ins Leben gerufen. 1999 gründete sie zusammen mit Lara Dämmig und Rachel Herweg die Gruppe „Bet Debora“, die im Jahr später die erste „Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen und rabbinisch gelehrter Jüdinnen und Juden“ ausrichtete. 1997 wurde Elisa Klapheck Pressesprecherin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Chefredakteurin der Gemeindezeitschrift jüdisches berlin. Als Journalistin schrieb sie für Zeitungen wie die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, den Tagesspiegel, die taz und AVIVA-Berlin und arbeitete für Rundfunk und Fernsehen, darunter die Deutsche Welle. Sie hält Vorträge zu gesellschaftlichen Themen aus jüdischer Sicht und schreibt regelmäßig rabbinische Kommentare in den Medien. Von ihr erschienen sind unter anderem die Bücher „Fräulein Rabbiner Jonas –Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ (1999), „Bertha Pappenheim – Gebete / Prayers“ (2003) und „So bin ich Rabbinerin geworden. Jüdische Herausforderungen hier und jetzt“ (2005), „Wie ich Rabbinerin wurde“ (2012), „Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie“ (1. Auflage 2014; 2. Aufl. 2021). Seit 2015 gibt sie die Schriftenreihe „Machloket / Streitschriften“ heraus, in der sie Gegenwartsautor*innen dazu einlädt, eine inhaltliche Auseinandersetzung zur Weiterentwicklung der jüdischen Tradition zu führen. Damit eröffnet sie ein Forum für jüdische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Gegenwartsfragen. Elisa Klapheck ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland (ARK) sowie associate member des Rabbinic Board von Liberal Judaism in Großbritannien. Außerdem ist sie Vertrauensdozentin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks für jüdische Begabtenförderung (ELES). Darüber hinaus hat Elisa Klapheck mit Frankfurter Juden/Jüdinnen und Nichtjuden/Nichtjüdinnen „Torat Hakalkala – Verein zur Förderung angewandter jüdischer Wirtschafts- und Sozialethik e.V.“ gegründet. Elisa Klapheck ist mit dem Rechtsanwalt Abraham de Wolff, dem Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, verheiratet. Interner Link: Hier geht es zum Interview mit Elisa Klapheck >> Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK), https://kw.uni-paderborn.de/zekk/juedische-studien/, zuletzt aufgerufen am 28.12.2021. The ALEPH Ordination Program trains rabbis, cantors, rabbinic pastors and mashpi’im (spiritual directors) to be community builders, teachers, spiritual leaders, counselors, liturgists and artists of the Jewish tradition, https://aleph.org/aop/, zuletzt aufgerufen am 2.1.2022. Der Egalitäre Minjan ist eine Synagogengemeinschaft der liberalen Juden und Jüdinnen in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. „Minjan“ bedeutet zehn gezählte Personen – in der jüdischen Tradition ist das die Mindestzahl für eine Gemeinde. „Egalitär“ bedeutet, dass Männer und Frauen gleichberechtigt gezählt werden. http://www.minjan-ffm.de/inhalt/rabbinerin, zuletzt aufgerufen am 2.1.2022.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-08-18T00:00:00
2022-01-28T00:00:00
2022-08-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/504453/vita-von-elisa-klapheck/
Elisa Klapheck, geboren 1962 in Düsseldorf, wuchs in Deutschland und in den Niederlanden auf, wo sie Politikwissenschaften und öffentliches Recht, später auch Judaistik studierte.
[ "Elisa Klapheck", "Rabbinerin", "Jüdinnen in Deutschland nach 1945" ]
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Internationalen Tag zum Kampf gegen Islamophobie | Deine tägliche Dosis Politik | bpb.de
🌅 Guten Morgen, heute feiert die UN den ersten Internationalen Tag zum Kampf gegen Islamophobie. Worum geht es hierbei? 🔎 Hintergrund Die Resolution zur Ausrufung des Welttages wurde vor knapp einem Jahr von der UN-Vollversammlung einstimmig beschlossen. Der 15. März wurde in Erinnerung an den Terroranschlag von 2019 in Christchurch, Neuseeland, gewählt. Bei dem Anschlag tötete ein Rechtsextremist 51 Muslime und verletzte weitere 40. Der Tag erinnert an die Notwendigkeit, aktiv gegen wachsenden Hass, Diskriminierung und Gewalt gegen muslimische Personen vorzugehen. ⁉️ Islamophobie oder Antimuslimischer Rassismus? "Islamophobie" und "Islam- und Muslimfeindlichkeit" beschreiben individuelle angst- und hassbasierte Feindseligkeit, Ausgrenzung und Gewalt gegen Menschen muslimischen Glaubens. Der Begriff "Antimuslimischer Rassismus" (AR) bezieht zusätzlich eine gesellschaftliche Perspektive und strukturelle bzw. politische Dimensionen der Diskriminierung mit ein. Er ist damit umfassender und komplexer. Diese Vielschichtigkeit zeigt sich u.a. bei der Diskriminierung muslimischer Frauen, die in besonderem Maße von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. 💬 Antimuslimischer Rassismus in Politik und Gesellschaft AR ist auch im öffentlichen Leben in Deutschland präsent. Muslimische Personen erleben häufig einen Generalverdacht, sexistisch, gewalttätig und demokratiefeindlich zu sein. Ein wichtiger Schritt wäre daher, dass Stimmen aus der Gruppe der Muslime in der Öffentlichkeit mehr gehört werden. Dadurch könnte AR stärker reflektiert und die Darstellung muslimischer Personen nachhaltig verändert werden. Wer versteht, wie Diskriminierung funktioniert, kann auch dagegen vorgehen. Mehr Informationen zu Antimuslimischem Rassismus findest du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1901 Viele Grüße Deine bpb Social Media Redaktion
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-03-15T00:00:00
2023-03-15T00:00:00
2023-03-15T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/519155/internationalen-tag-zum-kampf-gegen-islamophobie/
Heute feiert die UN den ersten Internationalen Tag zum Kampf gegen Islamophobie. Worum geht es hierbei?
[ "Deine tägliche Dosis Politik", "Islamophobie", "Internationaler Tag", "UN", "antimuslimischer Rassismus" ]
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Vor 65 Jahren: Gründung der NATO | Hintergrund aktuell | bpb.de
Am 4. April 1949 gründeten 12 Staaten den Nordatlantik-Pakt (North Atlantic Treaty Organization). In den ersten 40 Jahren bestand ihre Aufgabe in der Abschreckung des politischen Gegners durch militärische (und nukleare) Stärke. Der Gegner - das waren die Länder des 1955 gegründeten Interner Link: Warschauer Paktes unter Führung der Sowjetunion. Inzwischen sind viele der früheren Ostblock-Staaten teils schon Mitglieder der NATO, andere wollen es noch werden. Heute hat die NATO Interner Link: 28 Mitglieder. Das Bündnis definiert sich nicht nur als militärische Partnerschaft und System kollektiver Sicherheit, sondern als ein Zusammenschluss, der auf gemeinsamen Werten basiert. Die NATO verlangt von neuen Mitgliedern militärische Reformen (u.a. zivile Kontrolle der Armee), aber auch den Aufbau tragfähiger Marktwirtschaften und stabiler demokratischer Institutionen. Alle NATO-Staaten verpflichten sich zudem, im Falle einer Bedrohung oder eines bewaffneten Angriffes auf eines ihrer Mitglieder, diesem militärisch beizustehen. Der Bündnisfall Zentral für die Rolle der Nato als Militärbündnis und System der kollektiven Sicherheit ist der sogenannte Bündnisfall: Artikel 5 des Externer Link: Nordatlantikvertrages regelt für die Mitgliedstaaten, "dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird". Den Mitgliedstaaten ergibt sich daraus eine Beistandspflicht, die sie im Rahmen ihres durch Externer Link: Kapitel VII, Artikel 51 der UN-Charta gewährleisteten Rechts auf "individuelle oder kollektive Selbstverteidigung" wahrnehmen sollen. Ein Automatismus zum militärischen Beistand besteht allerdings nicht: Jede Vertragspartei hat im Bündnisfall die Freiheit, unabhängig für sich "die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, [zu treffen], die sie für erforderlich erachtet", um die Sicherheit des NATO-Gebietes zu gewährleisten. Strategiewechsel nach 1991 und 2001 Seit ihrer Gründung hat sich die Rolle der NATO Interner Link: stark verändert. Nachdem sie bereits mit dem Ende der Block-Konfrontation 1991 einen grundlegenden Strategiewechsel vollzogen hatte – von der klassischen Bündnisverteidigung hin zur Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum -, veränderte sich die Bedrohungslage nach den Anschlägen des 11. September 2001 erneut. In der Folge wurde erstmals der Bündnisfall ausgerufen und NATO-Truppen marschierten unter US-Führung in Afghanistan ein. Die stets sichtbare, territorial gebundene Bedrohung des Ost-West-Konflikts war nun einer globalen und in der Regel nicht staatlichen Aggression gewichen. Zugleich wurde deutlich, dass sich der Sicherheitsanspruch der NATO zunehmend auch über das eigene Territorium hinaus erstreckt. Von einem Bündnis vorrangig zur (Landes-)Verteidigung hat sich die Rolle der NATO immer mehr hin zu einer Interner Link: global eingreifenden Ordnungsmacht verschoben – ein Wandel, der unter den Mitgliedstaaten umstritten ist. Die NATO engagiert sich mittlerweile vermehrt auch außerhalb ihres Bündnisgebietes im Rahmen der Friedenserhaltung und dem "Nation Building". Dazu intensiviert sie immer mehr den Dialog mit internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen (UN) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Aktuelle Einsätze Seit 1990 haben NATO-Truppen in vielen Konflikten und Katastrophenregionen der Welt eingegriffen: unter anderem in Bosnien-Herzegowina (1995), in Serbien und dem Kosovo (1999), in Mazedonien (2003), im Irak (2004-2011), mit Hilfseinsätzen nach dem Erdbeben in Pakistan und dem Wirbelsturm Katrina im Süden der USA (beides 2005). 2011 beeinflusste die Nato mit Luftschlägen entscheidend den Verlauf des Bürgerkriegs in Libyen und unterstützte die libysche Opposition beim Sturz des Diktators Muammad al-Gaddafi. Aktuell laufen NATO-Einsätze u.a. in Afghanistan (ISAF), im Kosovo (KFOR), im Mittelmeerraum („Active Endeavour“), vor dem Horn von Afrika und als Partner der Afrikanischen Union in Somalia. Seit Januar 2013 stehen NATO-Soldaten zur Flug- und Raketenabwehr an der Grenze des NATO-Mitglieds Türkei zu Syrien, darunter auch bis zu 400 Soldaten aus Deutschland. Stationen in der Geschichte der NATO 4. April 1949: Gründung des Nordatlantikpaktes in Washington: Zehn westeuropäische Staaten (Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Italien, Dänemark, Luxemburg, Norwegen, Island und Portugal) gründen gemeinsam mit den USA und Kanada ein Bündnis zur politischen und militärischen Verteidigung. Aufgabe des Bündnisses ist die Verteidigung des Bündnisterritoriums gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt. 1955: die Pariser Verträge ermöglichen die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland. 1989: Fall der Berliner Mauer - Ende der Blockkonfrontation: Beginn einer zunehmend gesamteuropäischen Verantwortung. 1999: Als erste ehemalige Gegner in Mittel- und Osteuropa treten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei. 2001: Die Anschläge des 11. September 2001 leiten die dritte Entwicklungsphase der NATO ein: Das Bündnis ruft erstmals in seiner Geschichte den Bündnisfall aus. 2004: In Rahmen des Programms "Partnership for Peace" treten sieben weitere Staaten bei - Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. 2009: 60-jähriges Jubiläum: Gipfel in Baden-Baden, Kehl und Straßburg; Begrüßung der neuen Mitglieder Albanien und Kroatien. Rückkehr Frankreichs in die integrierte Kommandostruktur. Formulierung eines neuen strategischen Konzepts für die NATO. In Afghanistan sind im Rahmen der unter NATO-Kommando stehenden internationalen Schutztruppe ISAF ("International Security Assistance Force") noch etwa 52.600 ausländische Soldaten aus 49 Ländern im Einsatz. Deutschland beteiligt sich seit Dezember 2001 an dem Einsatz und hat zurzeit etwa 2.900 Bundeswehrsoldaten im Land stationiert. Interner Link: Zum Ende des Jahres 2014 sollen die NATO-Truppen abgezogen und die Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden. Noch rund 4.900 alliierte Soldaten sind heute im Rahmen der Einsatztruppe KFOR im Kosovo stationiert. Der NATO-Einsatz begann im Juni 1999, nachdem die Nato durch Luftangriffe auf Ziele in Serbien Interner Link: in den Kosovo-Konflikt eingegriffen hatte. Auch Deutschland beteiligte sich am Einsatz. Diese Beteiligung war innenpolitisch stark umstritten, da der Militäreinsatz ohne UN-Mandat und damit ohne völkerrechtliche Legitimation durchgeführt wurde. Derzeit sind noch etwa 700 Bundeswehrsoldaten in Kosovo stationiert. Osterweiterung und Verhältnis zu Russland Neben der Bedrohungslage hat sich auch das Verhältnis der NATO zu ihren ehemaligen Gegnern grundlegend gewandelt. Im Jahr 1999 waren Polen, die Tschechische Republik und Ungarn dem Bündnis beigetreten. 2004 schlossen sich weitere sieben osteuropäische Staaten an, die ehemals dem Warschauer Pakt angehörten: Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Slowakei, Estland, Lettland und Litauen. Seit diesem Zeitpunkt grenzt die Ostgrenze der Nato direkt an Russland. Russland sah im Beitritt der baltischen Länder eine Interner Link: direkte Verletzung seiner Sicherheitsinteressen und hatte die Erweiterung der NATO Richtung Osteuropa seit den 1990er Jahren fortwährend kritisiert. Interner Link: Zu den Dauerstreitpunkten zwischen Russland und dem Bündnis gehört auch das geplante NATO-Raketenabwehrprogramm sowie der mögliche Beitritt Georgiens. 2002 wurde zur besseren Zusammenarbeit der NATO-Russland-Rat gegründet. Durch einen Sondervertrag ist Russland seitdem in die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der NATO eingebunden, ohne selbst Mitglied zu sein. Die NATO in der Krim-Krise Durch Interner Link: die Krise in der Ukraine und Interner Link: das militärische Eingreifen Russlands auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim hat sich das Verhältnis zur NATO deutlich verschlechtert. Die Mitgliedstaaten hatten die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat vorerst ausgesetzt, auch bilaterale Rüstungs- und Sicherheitsabkommen wurden auf Eis gelegt. Einen militärischen Eingriff in der Ukraine hat die NATO aber ausgeschlossen. Stattdessen verstärkt das Bündnis seine Präsenz an den östlichen Außengrenzen, vor allem im Baltikum. Mehrere NATO-Staaten haben zusätzliche Jagd- und Aufklärungsflugzeuge für die Luftraumüberwachung (Air Policing) über Estland, Lettland und Litauen abgestellt, Deutschland will sich ebenfalls beteiligen. Damit wurde unter anderem Forderungen der rumänischen und polnischen Regierungen entsprochen, die eine aktivere Rolle der Nato in Osteuropa gefordert hatten. Eine Entsendung von Bodentruppen lehnt die NATO bislang ab. Mit dem Krim-Konflikt wurde auch die Debatte über einen möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO wieder angefacht. Die Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten, darunter die USA und Deutschland, lehnen eine Mitgliedschaft der Ukraine derzeit ab. Russland fordert einen generellen Verzicht der Ukraine auf einen NATO-Beitritt. Einen formellen Antrag auf eine Mitgliedschaft hatte bislang noch keine ukrainische Regierung gestellt. Mehr zum Thema Interner Link: Martin Schmid, Johannes Varwick: Perspektiven für die deutsche Nato-Politik Interner Link: Johannes Varwick: Das neue strategische Konzept der NATO Interner Link: Martin A. Smith: Partnerschaft, Kalter Krieg oder Kalter Frieden? Zentral für die Rolle der Nato als Militärbündnis und System der kollektiven Sicherheit ist der sogenannte Bündnisfall: Artikel 5 des Externer Link: Nordatlantikvertrages regelt für die Mitgliedstaaten, "dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird". Den Mitgliedstaaten ergibt sich daraus eine Beistandspflicht, die sie im Rahmen ihres durch Externer Link: Kapitel VII, Artikel 51 der UN-Charta gewährleisteten Rechts auf "individuelle oder kollektive Selbstverteidigung" wahrnehmen sollen. Ein Automatismus zum militärischen Beistand besteht allerdings nicht: Jede Vertragspartei hat im Bündnisfall die Freiheit, unabhängig für sich "die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, [zu treffen], die sie für erforderlich erachtet", um die Sicherheit des NATO-Gebietes zu gewährleisten. 4. April 1949: Gründung des Nordatlantikpaktes in Washington: Zehn westeuropäische Staaten (Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Italien, Dänemark, Luxemburg, Norwegen, Island und Portugal) gründen gemeinsam mit den USA und Kanada ein Bündnis zur politischen und militärischen Verteidigung. Aufgabe des Bündnisses ist die Verteidigung des Bündnisterritoriums gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt. 1955: die Pariser Verträge ermöglichen die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland. 1989: Fall der Berliner Mauer - Ende der Blockkonfrontation: Beginn einer zunehmend gesamteuropäischen Verantwortung. 1999: Als erste ehemalige Gegner in Mittel- und Osteuropa treten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei. 2001: Die Anschläge des 11. September 2001 leiten die dritte Entwicklungsphase der NATO ein: Das Bündnis ruft erstmals in seiner Geschichte den Bündnisfall aus. 2004: In Rahmen des Programms "Partnership for Peace" treten sieben weitere Staaten bei - Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. 2009: 60-jähriges Jubiläum: Gipfel in Baden-Baden, Kehl und Straßburg; Begrüßung der neuen Mitglieder Albanien und Kroatien. Rückkehr Frankreichs in die integrierte Kommandostruktur. Formulierung eines neuen strategischen Konzepts für die NATO.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-04-20T00:00:00
2014-03-31T00:00:00
2022-04-20T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/181725/vor-65-jahren-gruendung-der-nato/
Der Ost-West-Konflikt prägte die ersten 40 Jahre der NATO nach ihrer Gründung 1949. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und den Anschlägen vom 11. September 2001 erhielt das Bündnis eine neue Rolle als globaler Sicherheitsakteur. Aktuell fordert die
[ "Nato", "Ost-West-Konflikt", "Nordatlantikpakt", "Warschauer Pakt", "Sicherheitsbündnis", "Verteidigungsbündnis" ]
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Politik zum Anklicken: Genius – Im Zentrum der Macht | Presse | bpb.de
Interner Link: Presseeinladung (PDF-Version: 132 KB) Wie würden Sie regieren, wenn Sie die Chance hätten, König von Deutschland zu werden? Wie sähe Ihr Programm aus? Welche politischen Kompromisse wären Sie bereit zu schließen? Pünktlich zur Buchmesse veröffentlicht der Cornelsen Verlag in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb die Aufbausimulation "Genius - Im Zentrum der Macht". Hier können Spielerinnen und Spieler von zwölf bis 99 Jahren nach den Spielregeln der Demokratie politische Macht erlangen und Bundeskanzler/in werden. Gerne möchten wir Sie zu dieser besonderen Pressekonferenz einladen. Termin 10. Oktober 2007 15:30 Ort Frankfurter Buchmesse Raum EFFEKT Halle 3.C Ostfoyer Als Gesprächspartner erwarten Sie: Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische BildungWolf-Rüdiger Feldmann, Geschäftsführer Cornelsen VerlagDr. Carsten Kindermann, Cornelsen-Redaktionsleiter Digitale Medien Wir würden uns freuen, Sie in Frankfurt persönlich begrüßen zu dürfen. Bitte teilen Sie uns Ihr Kommen per E-Mail mit! Pressekontakt Cornelsen Cornelsen Verlag Nico Enger Mecklenburgische Str. 53 14197 Berlin Tel.: +49(0) 30 8 97 85-0 Fax : +49(0) 30 8 97 85-299 E-Mail: E-Mail Link: nico.enger@cornelsen.de Internet: Externer Link: www.cornelsen.de Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Raul Gersson Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 (0) 228 99 515-284 Fax: +49 (0) 228 99 515-293 E-Mail: E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-12-23T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50495/politik-zum-anklicken-genius-im-zentrum-der-macht/
Zur Buchmesse veröffentlicht der Cornelsen Verlag in Kooperation mit der bpb eine Software, mit der spielend die Regeln der Demokratie vermittelt werden.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Herausforderungen | Kanada | bpb.de
Unter Rückgriff auf Zensusdaten haben zahlreiche Wissenschaftler gezeigt, dass das Einkommen aufeinanderfolgender Einwandererkohorten seit den 1970er Jahren gesunken ist, trotz eines Anstiegs des Qualifikationsniveaus dieser Bevölkerungsgruppe. Eine Studie zeigt, dass dieser Einkommensrückgang sowohl auf Unterbeschäftigung (z.B. Arbeit in einem Job unterhalb des eigenen Qualifikationsniveaus) als auch auf geringere Einnahmen im Vergleich zu Arbeitnehmern kanadischer Herkunft mit gleichem Qualifikationsniveau zurückzuführen ist. Beide Faktoren führen zu einem Verlust von jährlich 11 Milliarden Dollar für die Wirtschaft Erklärungen für diese Entwicklung konzentrieren sich entweder auf die Qualität der Qualifikationen und Fähigkeiten der Einwanderer, Nachteile dieser Bevölkerungsgruppe auf dem Arbeitsmarkt oder weitreichende institutionelle Faktoren wie das zunehmende Qualifikationsniveau der kanadischen Bevölkerung und Arbeitsmarktzyklen. Viele der migrationspolitischen Veränderungen der vergangenen Jahre, die in diesem Länderprofil aufgezeigt wurden, können als Antwort auf das Phänomen der Nicht-Nutzung von Qualifikationen zurückgeführt werden. Die Regierung hofft, dass die Ausweitung der Entscheidungshoheit von Provinzen und Territorien bei der Auswahl von Einwanderern, die Einschränkung des dauerhaften Zuzugs von qualifizierten Einwanderern (in Bezug auf ihre Anzahl sowie bestimmte Berufsgruppen) zugunsten der Vergabe von befristeten Aufenthaltsgenehmigungen und einer zweischrittigen Einwanderung (two-step immigration) (z.B. Programme für die temporäre Einwanderung, die dann die Möglichkeit des Erhalts einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung bieten) sowie die stärkere Einbindung von Arbeitgebern in die Auswahl von Einwanderern dieses Problem beheben werden. Auf der anderen Seite sind Wissenschaftler besorgt, dass die zunehmende temporäre Migration (besonders von niedrigqualifizierten Arbeitskräften), die Einschränkung dauerhafter Einwanderung und die Übertragung von Verantwortung von der staatlichen in private Hand bei der Auswahl der Einwanderer und dem Wechsel von einem befristeten in einen unbefristeten Aufenthaltsstatus zu neuen Problemen führen könnten. Sie argumentieren, dass der Erfolg des kanadischen Einwanderungsmodells weitgehend auf der Tatsache beruhe, dass der Großteil der Einwanderer umgehend eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhielt, dass der Familiennachzug großzügig gehandhabt wurde und den Einwanderern ein rascher Zugang zur Staatsangehörigkeit ermöglicht wurde. Mit anderen Worten: ihnen wurde die rechtliche und soziale Sicherheit geboten, der es bedarf, um sich und ihren Familien ein Leben in Kanada aufzubauen. Heute aber verfügt eine zunehmende Zahl von Neuzuwanderern nur über eine befristete Aufenthaltserlaubnis, eingeschränkte Rechte, fast keinen Zugang zu Integrationsleistungen und niedrige Qualifikationen. Diese prekäre Situation könnte sich negativ auf die wirtschaftliche und soziale Integrationsfähigkeit der Einwanderer auswirken, wenn sie von einem befristeten in ein unbefristetes Aufenthaltsverhältnis wechseln. Es erhöht außerdem ihre Anfälligkeit für die Ausbeutung durch Arbeitgeber, die nach und nach Staatsbedienstete als Gatekeeper bei der Kontrolle von Einreisen von Einwanderern und Statuswechseln ersetzen. Insgesamt werden die hier dargestellten politischen Entwicklungen tiefgreifende Auswirkungen auf die kanadische Gesellschaft und die Wahrnehmung des kanadischen Einwanderungssystems in der internationalen Gemeinschaft haben. Siehe z.B. Frenette/Morissette (2005) und Reitz et al. (2013). Reitz et al. (2013). Siehe z.B. Goldring/Landolt (2011).
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-10T00:00:00
2013-10-18T00:00:00
2022-01-10T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/170749/aktuelle-entwicklungen-und-zukuenftige-herausforderungen/
In den vergangenen zehn Jahren wurde verstärkt auf Arbeitsmarktprobleme von Einwanderern hingewiesen.
[ "Einwanderer", "Migrationspolitik", "Einwanderungspolitik", "Kanada" ]
29,711
Notizen aus Moskau: Russland und China – eine besondere Freundschaft | Russland-Analysen | bpb.de
In den Notizen vor zwei Wochen habe ich, bei der Diskussion über die mauen wirtschaftlichen Aussichten Russlands, eine zumindest an jener Stelle nicht belegte Behauptung aufgestellt: "Die demonstrativ nach der Krim-Annexion und den ersten westlichen, noch eher symbolischen Sanktionen vorgenommene Wendung 'nach Osten', symbolisiert vor allem durch den Abschluss des Gasvertrags mit China, kommt nicht in Gang." Heute will ich das nachholend mit ein paar Thesen unterfüttern. Unmittelbar nach der Annexion der Krim im März schlossen Russland und China einen Gasliefervertrag ab, über den seit mehr als zehn Jahren verhandelt worden war, ohne zu einem Abschluss zu kommen. Dazu soll eine neue Pipeline von Zentralsibirien über das Altai-Gebirge nach China gebaut werden. Russische Meldungen sprachen im Frühjahr triumphierend davon, der vereinbarte Preis pro 1.000 Kubikmeter Gas sei vergleichbar mit dem, den europäische Abnehmer russischen Gases zahlten (und die zahlen, mit Ausnahme Japans, die höchsten Preise weltweit). Außerdem leiste China eine Anzahlung in Milliardenhöhe, mit der der Bau der Pipeline zumindest teilweise finanziert werden könne. Tatsächlich erstaunen die öffentlich bekannt gewordenen Vertragsbedingungen auf den ersten Blick. Zehn Jahre lang war der Deal gerade an den doch sehr unterschiedlichen Preisvorstellungen gescheitert und nun hatte China einem bisher als zu hoch abgelehnten Preis zugestimmt, obwohl es Russland war, das wegen der Konfrontation mit den USA und der EU dringend diesen wirtschaftlich, vor allem aber symbolisch sehr wichtigen Vertrag brauchte. Aber die Beziehungen zwischen Russland und China sind vielfältiger und viel komplizierter als es die in Moskau laut verkündete Wendung nach Osten (oder besser: das Abwenden vom Westen) erscheinen lassen mag. Aus chinesischer Sicht mögen folgende Gründe eine Rolle gespielt haben, die schwache russische Position jetzt nicht für einen kurzfristigen Gewinn auszunutzen: So schlecht ist der Preis nicht. Zwar ist er, wie schon geschrieben, höher als die Chinesen bisher zu zahlen bereit waren. Dafür wurde er, soweit bekannt, für einen langen Zeitraum festgelegt. Aufs Ganze gerechnet lässt sich damit wohl durchaus leben. Die massiven Umweltprobleme vor allem in Nordostchina führen schon seit einiger Zeit zu einer Umorientierung der chinesischen Energiepolitik. Das russische Gas wird wohl vor allem eingesetzt werden, um die dreckige heimische Kohle zu ersetzen. Es ist bei weitem nicht die einzige Gasquelle, aber ein wichtiger Teil einer etwas weniger auf Umweltvernutzung setzenden Gesamtstrategie (der kräftige Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energiequellen ist ein anderer). Zwar haben sich chinesische Spitzenpolitiker und Medien in der Bewertung der Krim-Annexion zurück gehalten, aber sie haben sie, trotz eigener ähnlich gelagerter Probleme – ethnische Konflikte in Tibet und Xinjiang, Autonomiefragen in Hongkong und Alleinvertretungsansprüche gegenüber Taiwan – auch nicht kritisiert. Ein Grund dürfte in den eigenen Ambitionen im Pazifik liegen (die, je nach Sichtweise, mal imperialistisch, mal expansionistisch genannt werden). Ein anderer aber dürfte das Interesse sein, "Russland im Spiel" zu halten. Es kommt China sicher zu Pass, dass durch den Konflikt um die Ukraine sowohl westliche Aufmerksamkeit und Ressourcen (vor allem natürlich der USA) als auch russische Aufmerksamkeit und Ressourcen gebunden werden. Umso weniger Kraft bleibt bei allen Beteiligten, sich um China zu kümmern (wobei den Machthabern in Peking sicher auch klar ist, dass mittelfristig Russland das Spiel nicht gewinnen kann, aber das ist wohl heute zunächst egal). Zudem liegt ein instabiles Russland (auch) nicht im chinesischen Interesse. Soweit hat es Putin nämlich inzwischen gebracht, dass eine zu schnelle und zu offene Niederlage im Ukraine-Konflikt nicht nur seine Herrschaft, sondern auch die Stabilität Russlands insgesamt ernsthaft gefährden würde. Trotzdem hat der Gasdeal, oder besser: die gesamte "Wendung nach Osten", mit China einen klaren Gewinner. Es besteht, wie Pawel Bajew vom Peace Research Institute Oslo schreibt (http://www.ponarseurasia.org/memo/upgrading-russia’s-quasi-strategic-pseudo-partnership-china), zwischen China und Russland keine Beziehung "auf Augenhöhe" mehr, also etwas, worauf die russische Führung (und die öffentliche Meinung im Land) vor allem in Bezug auf den Westen aber auch sonst immer besonderen Wert legen. Das zeigen auch die unterschiedlichen Diskussionen über den Gasdeal in beiden Ländern. Während in Russland die geopolitischen Fragen im Vordergrund stehen, dreht sich die Diskussion in China fast ausschließlich um die wirtschaftlichen Aspekte. Der Vertrauensverlust, zu dem die russische Politik inzwischen in Europa geführt hat, dürfte auch in Bezug auf China eine Rolle spielen. Das mag ein wenig mit dem rauen und wenig auf Regeln achtenden Auftreten der russischen Außenpolitik in den vergangenen Jahren zu tun haben, mehr aber noch mit einer Art Systemkonkurrenz zwischen autoritären Regimen. In China gibt es eine durch die kommunistische Partei institutionell abgesicherte kollektive Führung mit klar ausgeprägten Nachfolgeregeln, die, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, auch ohne wesentliche Reibungsverluste funktionieren. Das ist ein wichtiger Grund für die Stabilität des chinesischen Staates. In Russland dagegen hängt heute alles an einem Alleinherrscher ohne Rettungsschirm, einem Präsidenten, der, wenn er das wollte, noch nicht einmal zurücktreten könnte ohne die Gefahr, dass das Land im Chaos versinkt. Ja mehr noch, ein Präsident, der genau diesen Zustand systematisch aus Gründen der Machtsicherung herbeigeführt hat. Diese beiden autoritären Welten stehen sich, trotz der ihnen gemeinsamen Systemkonkurrenz mit dem liberal-demokratischen Westen reichlich fremd gegenüber. Zusätzlich kommen noch unterschiedliche Interessen im Fernen Osten und Ostasien und, neuerdings, in der Arktis hinzu. China schürt seit einiger Zeit im Westpazifik eine ganze Reihe von begrenzten Konflikten um kleinere Inselgruppen (so mit Japan, Vietnam und den Philippinen). Russland verfolgt in manchen dieser Konflikte eigene Ziele (Japan und die Kurilen) oder pflegt etwa mit Vietnam enge politische und wirtschaftliche Beziehungen. Die größte Sprengkraft dürften langfristig aber die Forderungen Chinas sein, die Arktis zu "internationalen Gewässern" zu erklären und damit die Rohstoffausbeutung dort prinzipiell jedem Land der Welt zugänglich zu machen. Russland beharrt, auch in der Auseinandersetzung mit den anderen Arktisanrainerstaaten (zu denen China nicht gehört), darauf, dass etwa die Hälfte der Arktis zum russischen Festlandschelf zu rechnen sei und damit Russland das ausschließlich Recht zur Ausbeutung der dort vermuteten enormen Vorkommen an Öl, Gas und anderen Rohstoffen zukommt. Diese Vorkommen sind wichtiger Teil des russischen Wunsches, auch künftig eine der größeren Mächte dieses Planeten zu bleiben. Ganz zum Schluss bleibt noch der Hinweis, dass eine tiefe russische Angst gegenwärtig nur von der (propagandistisch unterfütterten) Euphorie des "Krim ist unser!" verdeckt wird: Die Angst, dass die vielen hundert Millionen Chinesen irgendwann in gar nicht allzu ferner Zukunft und egal ob nun offen oder (was für wahrscheinlicher gehalten wird) einfach aufgrund eines großen, so genannten "Bevölkerungsdrucks" das "urrussische" Sibirien übernehmen könnten. Wie Pawel Bajew schreibt, glaubt sich die russische politische Elite angesichts der Konfrontation mit dem Westen gegenwärtig "gezwungen, so zu tun als ob die Unterstützung durch China ein Zeichen gemeinsamer Interessen" sei. In Wirklichkeit glaubt das natürlich kaum jemand. Im Gegenteil sind viele davon überzeugt, dass China bei erster Gelegenheit, zum Beispiel wenn der Putinsche Staat in sich zusammen kracht, die Schwäche Russlands ausnutzen wird. Schöne Aussichten. Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.
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Jens Siegert
2021-06-23T00:00:00
2014-10-13T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-283/192867/notizen-aus-moskau-russland-und-china-eine-besondere-freundschaft/
Im neuen Antagonismus zwischen Russland und dem Westen eröffnet sich für China eine Chance. Durch mehr als nur billiges Gas profitiert der nicht weniger autoritär regierte Nachbar.
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Aktivität in der Entwicklungszusammenarbeit 2011 | Frankreich | bpb.de
Interner Link: Grafik: Aktivität in der Entwicklungszusammenarbeit 2011 Laut Zahlen der französischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit wurden die meisten finanziellen Mittel für Projekte in afrikanischen Ländern südlich der Sahara bereitgestellt (39,6 Prozent). In der Mittelmeerregion und im Nahen Osten sowie in den französischen Überseegebieten wurden jeweils 16,1 Prozent der Mittel eingesetzt. 15,6 Prozent wurden in Lateinamerika und in der Karibik verwendet. Nach Asien wurden 11,5 Prozent der Ausgaben geleitet. Mit Ausgaben von fast zehn Milliarden Euro, die einen Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,46 Prozent bilden, steht Frankreich hinter den USA, Deutschland und Großbritannien weltweit an vierter Stelle im Bereich der öffentlichen Ausgaben für internationale Entwicklungszusammenarbeit.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-07T00:00:00
2013-06-26T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/164131/aktivitaet-in-der-entwicklungszusammenarbeit-2011/
Der Etat für Entwicklungszusammenarbeit belief sich im Jahr 2011 in Frankreich auf 9,3 Milliarden Euro.
[ "Frankreich", "Entwicklungszusammenarbeit (EZ)", "Entwicklungszusammenarbeit
" ]
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E.ON AG | Energiepolitik | bpb.de
E.ON Konzernzentrale in Düsseldorf (© AP) E.ON ist der umsatzstärkste Energiekonzern und der zweitgrößte Stromerzeuger Deutschlands. Seine Tochtergesellschaft Ruhrgas ist hierzulande der wichtigste Importeur von Erdgas. Mit dem russischen Staatskonzern Gazprom hat das Unternehmen jahrzehntelange Lieferverträge abgeschlossen. E.ON engagiert sich stark im Ausland, seine Beteiligungen an kleineren einheimischen Energielieferanten hat der Konzern in den vergangenen Jahren – teilweise auf politischen Druck hin – dagegen stark eingeschränkt. Von allen Energiekonzernen betreibt E.ON die meisten Atomkraftwerke und investiert gleichzeitig am intensivsten in erneuerbare Energien. Firmensitz Düsseldorf Leitung Vorstandsvorsitzender: Johannes Teyssen Aufsichtsratsvorsitzender: Werner Wenning Mitarbeiter Deutschland: 35.133 Ausland: 43.756 Umsatz (2011) 113 Mrd. Euro Gewinn (Konzernfehlbetrag/ -überschuss, 2011) -1,86 Mrd. Euro (2010: 6,3 Milliarden Euro) Investitionen (2011) 6,5 Mrd. Euro davon in erneuerbare Energien: 1,1 Milliarden Euro geplant: Offshore Windpark Amrumbank West (288 MW), Inbetriebnahme 2015 Anteilseigner Streubesitz Kundenzahl Strom: 6 Millionen Gas: 1 Million Stromerzeugungsmix Stromerzeugungsmix E.ON (© bpb) produzierte Strommenge (2011) 86 TWh Anteil Stromverbrauch in Deutschland: 14,2% Kraftwerkskapazität + Anteil Stromerzeugung Deutschland: 20.763 MW davon erneuerbare Energien: 2.635 MW Anteil Kraftwerkspark in Deutschland: 12,9% Ausland: 48.794 MW Noch laufende AKW mit Datum der Stillegung Grafenrheinfeld, 31.12.2015 Grundremmingen B (Anteil: 25%), 31.12.2017 Grohnde (Anteil: 83,3%), 31.12.2021 Grundremmingen C (Anteil: 25%), 31.12.2021 Brokdorf (Anteil: 80%), 31.12.2021 Isar 2 (Anteil: 75%), 31.12.2022 Größte Erzeugungsanlagen erneuerbare Energien Windpark Brandenburg (50,7 MW) Sparten Stromerzeugung Stromverteilnetze Stromvertrieb Gasförderung Gasfernleitungen (Nord Stream) Gasverteilnetze Gasvertrieb Ölförderung Energie- und Emissionshandel Energiedienstleistungen Auslandsaktivitäten 24 europäische Staaten, Argentinien, Brasilien, Chile, Indonesien, Kanada, Russland, USA Quelle: E.ON Geschäftsbericht 2011 Erläuterungen Die Leistung von Kraftwerken wird in Megawatt (MW = 1 Million Watt) gemessen. Kraftwerksleistungen in Deutschland im Vergleich: Solaranlage – Hausdach 0,005 MW Solarpark – Freifläche 1-150 MW Windenergieanlage an Land 2-3 MW Windenergieanlage auf See 3-6 MW Biomassekraftwerk 2-100 MW Wasserkraftwerk 0,2-130 MW Gaskraftwerk 30-850 MW Kohlekraftwerk 100-1.100 MW Atomkraftwerk 800-1.500 MW Installierte Kapazität in Deutschland (Stand 12.9.2012) Konventionelle Kraftwerke: 101.200 MW Erneuerbarer Energien: 71.200 MW Jahreshöchstlast (Stromverbrauch zum Zeitpunkt der höchsten Nachfrage): 79.000 MW Die Menge an erzeugtem und verbrauchtem Strom wird in Kilowattstunden (kWh) gemessen. Umrechnungsfaktoren: 1 Megawattstunde (MWh) = 1.000 kWh 1 Gigawattstunde (GWh) = 1 Million kWh 1 Terrawattstunde (TWh) = 1 Milliarde kWh Strombedarf typischer Verbraucher pro Jahr: Zwei-Personen-Haushalt: 3.300 kWh Großstadt mit 100.000 Einwohnern: 730 Millionen kWh Brutto-Inlandsstromverbrauch (= vor technischen Verlusten): 608,5 Milliarden kWh Netto-Inlandsstromverbrauch (= nach technischen Verlusten): 540,8 Milliarden kWh davon private Haushalte: 140 Milliarden kWh E.ON Konzernzentrale in Düsseldorf (© AP) Stromerzeugungsmix E.ON (© bpb) Die Leistung von Kraftwerken wird in Megawatt (MW = 1 Million Watt) gemessen. Kraftwerksleistungen in Deutschland im Vergleich: Solaranlage – Hausdach 0,005 MW Solarpark – Freifläche 1-150 MW Windenergieanlage an Land 2-3 MW Windenergieanlage auf See 3-6 MW Biomassekraftwerk 2-100 MW Wasserkraftwerk 0,2-130 MW Gaskraftwerk 30-850 MW Kohlekraftwerk 100-1.100 MW Atomkraftwerk 800-1.500 MW Installierte Kapazität in Deutschland (Stand 12.9.2012) Konventionelle Kraftwerke: 101.200 MW Erneuerbarer Energien: 71.200 MW Jahreshöchstlast (Stromverbrauch zum Zeitpunkt der höchsten Nachfrage): 79.000 MW Die Menge an erzeugtem und verbrauchtem Strom wird in Kilowattstunden (kWh) gemessen. Umrechnungsfaktoren: 1 Megawattstunde (MWh) = 1.000 kWh 1 Gigawattstunde (GWh) = 1 Million kWh 1 Terrawattstunde (TWh) = 1 Milliarde kWh Strombedarf typischer Verbraucher pro Jahr: Zwei-Personen-Haushalt: 3.300 kWh Großstadt mit 100.000 Einwohnern: 730 Millionen kWh Brutto-Inlandsstromverbrauch (= vor technischen Verlusten): 608,5 Milliarden kWh Netto-Inlandsstromverbrauch (= nach technischen Verlusten): 540,8 Milliarden kWh davon private Haushalte: 140 Milliarden kWh
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-01-10T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/energiepolitik/152847/e-on-ag/
Eon ist der umsatzstärkste Energiekonzern und der zweitgrößte Stromerzeuger Deutschlands. Seine Tochtergesellschaft Ruhrgas ist hierzulande der wichtigste Importeur von Erdgas. Von allen Energiekonzernen betreibt Eon die meisten Atomkraftwerke und in
[ "Eon", "Energie", "Energiepolitik", "Kohle", "Strom", "Gas", "Erneuerbare Energien", "Atomkraft", "AKW" ]
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Future Schock: Smart Cities, Big Data (englisch) | Sensible Daten - Die Kunst der Überwachung | bpb.de
EVGENY MOROZOV gehört zu den berühmtesten Kritikern solcher Entwicklungen aus dem Silicon Valley, YVONNE HOFSTETTER ist Geschäftsführerin eines Münchner Unternehmens, das mit Big Data arbeitet, und schreibt Bestseller wie "Das Ende der Demokratie – Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt". Das Panel fand im Rahmen der Konferenz "Sensible Daten - Kunst der Überwachung" in München statt. Eine gemeinsame Veranstaltung der Münchner Kammerspiele, des Goethe-Instituts und der Bundeszentrale für politische Bildung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-02-03T00:00:00
2017-02-08T00:00:00
2022-02-03T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/242171/future-schock-smart-cities-big-data-englisch/
Wer regiert die Stadt der Zukunft: Wenn wir unsere Wohnungen online vermieten, um den Lebensstandard zu halten, wenn in Kleinstädten eine App den öffentlichen Verkehr ersetzt, und wenn unser digitaler Datenverkehr privaten Firmen nützt, die ehemals ö
[ "Big Data", "Smart City", "Datenschutz", "Demokratie", "Stadtplanung", "Partizipation" ]
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Fazit der Anhörungen und Recherchen | Deutschland Archiv | bpb.de
Die septemberlichen Montags-Demonstrationen in Leipzig, die Geschehnisse vom 4. Oktober in Dresden, wo es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kam, sowie die sich täglich erhöhende Resonanz der Mahnwachen in der Berliner Gethsemane-Kirche für zu unrecht inhaftierte Bürger waren Ereignisse, welche die Partei- und Staatsführung am Vorabend des 40. Jahrestages in zunehmendem Maße beunruhigten. … Die vom Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED, Wolfgang Herger, erarbeitete und vom Politbüro Ende September 1989 beschlossene Vorlage „Information und Schlussfolgerungen zu einigen aktuellen Fragen der feindlichen Einwirkung auf Bürger der DDR“ stuft kirchliche Kreise, oppositionelle Kräfte und selbst unzufriedene Bürger als antisozialistisch und staatsfeindlich ein. Die Hauptschuld an der gespannten innenpolitischen Lage wird dem Gegner mit seiner Einmischung über die westlichen Medien zugeschoben. … Am 27.9.1989 erließ der damalige Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates, Honecker, einen Befehl zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung in der DDR zum 40. Jahrestag. … Er geht in der Präambel davon aus, dass „bestimmte Kreise in der BRD und Westberlin sowie von ihnen ausgehaltene Gruppen die Vorbereitung und Durchführung des Jahrestages zu einer Hetzkampagne gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und zur Störung des normalen Lebens benutzen“. … Als Hauptaufgabe (für die Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen – d.Red.) wurde u.a. … ein offensives Reagieren auf provokatorische Handlungen und Aktionen festgelegt. Dieser Befehl lässt eine direkte Anweisung zur Gewaltanwendung nicht erkennen, schließt sie aber auch nicht aus. … Wie perfekt der Parteiapparat in Verbindung mit den Staatsorganen bei der ideologischen Aufrüstung funktionierte, bestätigten Aussagen und Verhalten vieler VP-Angehöriger. Im Politunterricht zum 40. Jahrestag wurde ihnen ein Feindbild von ungewohnter Schärfe suggeriert. … Einige Aussagen, die die Grundstimmung der Polizeikräfte damals charakterisieren: „Auf der Stargarder Straße überall Menschen, überall Kerzen, flackernde Lichter…, alles durcheinander – ein Höllentor. Ich wusste nicht, dass die Konterrevolution so aussieht …“ „Ich wurde über die Situation um den 7. Oktober von den Vorgesetzten unterrichtet, dass eine konterrevolutionäre Bewegung zu unterbinden ist. Das hat auch das Handeln vieler Volkspolizisten beeinflusst.“ „Man sollte diejenigen suchen, die uns am 7. Oktober 1989 in den frühen Abendstunden gesagt haben, dort draußen marschiert die Konterrevolution.“ … Zur Vorbereitung (der Volkspolizei) muss im weiteren Sinne auch das Training von Bereitschaftspolizisten für Einsätze gegen Demonstranten gerechnet werden. Eine Intensivierung dieses Trainings erfolgte spätestens seit der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981. … Bereitschaftspolizisten übten den Einsatz in Wohngebieten und gegen Demonstranten. … In den folgenden Jahren wurde in immer stärkerem Maße gegen die „inneren Gegner“ aufgerüstet. … Der Präsident der VP erarbeitete einen Befehl zur Vorbereitung des 40. Jahrestages. In Vorbereitung der geplanten Maßnahmen besichtigte er u.a. den zentralen Zuführungspunkt Rummelsburg. … Zur Absicherung der Leitungslinien wurde im VP-Präsidium eine … Führungsgruppe gebildet. Alle Führungsgruppen waren mit dem MfS verbunden. Eine besondere Mission hatte (der VP-Stabschef) Oberst Dietze, der die Verbindung zwischen dem VP-Präsidium und der Zentralen Führungsgruppe im Haus des Lehrers herstellte und Befehle des MfS direkt weiterleitete. … Die Entscheidungen aller Führungspunkte wurden durch übergeordnete Befehle einer zentralen Stelle überlagert. … Das Kommando hatte der damalige Minister für Staatssicherheit, Mielke. … Die Bezirkseinsatzleitung hatte … in einer früheren Sitzung die Grundsatzentscheidung gebilligt, dass Aufläufe im Stadtgebiet zum 40. Jahrestag nicht zuzulassen und nötigenfalls durch Zuführungen aufzulösen sind. Das direkte Eingreifen des Ministers Mielke ist auch in zwei Einzelfragen vom Präsidenten der VP bestätigt worden. Er hat den Zeitpunkt des massiven Eingreifens der Sicherheitskräfte am 7.10.1989 gegen Bürger in der Innenstadt bestimmt. Er hat angeordnet, dass Zugeführte länger als gesetzlich statthaft in Gewahrsam bleiben mussten und nach Blankenburg verfrachtet wurden. Quelle: Andreas Förster, "Interner Link: Eine Sternstunde des demokratischen Aufbruchs - Die Untersuchungskommission zur Polizeigewalt am 7. und 8. Oktober 1989 in Ostberlin", Deutschland Archiv vom 12.10.2021
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-10-12T00:00:00
2021-10-12T00:00:00
2021-10-12T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/341988/fazit-der-anhoerungen-und-recherchen/
[ "Themen und Materialien", "7. Oktober 1989", "Untersuchungskommission", "Ostberlin" ]
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Kommentar: Krieg – die neue Normalität in der Ukraine? | Ukraine-Analysen | bpb.de
Einleitung Ein Krieg, der lange anhält, wird langsam zu Normalität – sowohl für die am Krieg Beteiligten und die betroffene Bevölkerung als auch für Außenstehende. Längst ist der Krieg in der Ukraine, der 2014 begann, bereits über 10.000 Menschen das Leben gekostet und über zwei Millionen Menschen zu Geflüchteten gemacht hat (davon mindestens 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge und 1 Million nach Russland Geflüchtete), weitgehend aus den Nachrichten verschwunden. Es ist fraglich, wie vielen Deutschen der Krieg, der sich in täglichen Kampfhandlungen fortsetzt, (noch) im Bewusstsein ist. Bereits vor Kriegsausbruch war der Informationsstand über die Ukraine und ihre historisch gewachsene, jedoch nicht zwingend mit Konflikt verbundene regionale, ethnolinguistische, politische und wirtschaftliche Diversität generell begrenzt. Zwischenzeitlich war die Ukraine im öffentlichen Bewusstsein etwas präsenter, aber nun bleibt vor allem der Nachgeschmack, dass dieses Land unwiderruflich mit Krieg, Instabilität und der Anspannung im Verhältnis des Westens zu Russland verbunden ist. Die gefühlte Distanz zwischen Berlin und Kiew bzw. dem Donbass ist deutlich größer als die geografische Entfernung. Es ist ein Krieg in Europa, der ganz Europa angeht, der jedoch nicht als solcher gesehen wird und momentan von innenpolitischen Themen in vielen europäischen Staaten zusätzlich überschattet wird. Auch in Kiew hat man sich inzwischen mit dem Krieg eingerichtet. In der Hauptstadt geht das Leben seinen Gang; es fällt schwer, sich die Realität in der Kriegszone vorzustellen – und nahe der Kriegsgrenze im Donbass erscheint Kiew als sehr weit weg. Niemand in der Ukraine erwartet eine rasche Lösung des Konflikts. Es fehlt an Initiativen und politischem Willen, auf eine konkrete Lösung hinzuarbeiten. 2019 stehen Präsidentschaft- und Parlamentswahlen an, die bereits jetzt den innenpolitischen Kontext prägen. Hier dient der Krieg eher als Erklärung für schleppende Reformen und nicht als Anlass für eine Intensivierung von Friedensbemühungen oder eine Politik, die sich an den Bedürfnissen der Geflüchteten oder der Bevölkerung der selbsternannten, von Russland getragenen, "Volksrepubliken" Donetsk und Luhansk, orientiert. Das neue Gesetz, das die Re-Integration der durch Russland besetzten Gebiete postuliert, beinhaltet keine konkreten Schritte, die zu wirklicher Re-Integration führen könnten. In erster Linie geht es um die Benennung Russlands als Besatzungsmacht. "Einfrieren"? Die Idee des "Einfrierens" des Konflikts ist ein beliebter Terminus in der ukrainischen, russischen und EU-weiten Diskussion über den Krieg. Während der Status eines "eingefrorenen" Konflikts seit langem in anderen post-sowjetischen Konflikten als Bestandsaufnahme kursiert – zu Unrecht, denn auch auf niedrigem Niveau schwelende Konflikte stehen nie still und können jederzeit wieder aufleben – wird der Begriff des "Einfrierens" in Bezug auf den Donbass gar im Voraus als eine Art Strategie und die bestmögliche Option verhandelt. Dies ist ein Trugschluss – der Begriff geht an der jetzigen und zukünftigen Realität eines ungelösten Konflikts vorbei, da er suggeriert, dieser Prozess und seine Folgen ließen sich koordinieren. Viel wahrscheinlicher ist bei diesem Szenario ein politischer Kontrollverlust auf allen Seiten, einschließlich der Ukraine, Russlands und der "Volksrepubliken", der anderen, kriminellen und gewaltsamen Strukturen den Weg freimacht. Alle Beteiligten am Minsk-Prozesses sind sich einig, dass der Prozess nicht funktioniert. Die Minsker Abkommen von 2014 und 2015 haben die Gewalt eingedämmt, aber keinen dauerhaften Waffenstillstand garantieren können. Das amerikanische Sanktionsregime, die Ankündigung von Waffenlieferungen aus den USA, auch wenn diese als Verteidigungswaffen definiert werden, das politische Kalkül Moskaus vor der russischen Präsidentschaftswahl im März 2018 und die durch die komplizierte Regierungsbildung in Berlin reduzierte Sichtbarkeit deutscher Außenpolitik erschweren den Dialog zusätzlich. In Ermangelung von Alternativen gilt es, die Option einer UNO-Blauhelmmission systematischer auf internationaler Ebene zu diskutieren. Der Überraschungsvorschlag von russischer Seite dazu ist in seiner Form politisch nicht umsetzbar, doch wurde er nicht schnell und umfassend genug als der kleine Fensterspalt gesehen, der er sein kann. Bis zu den russischen Wahlen besteht für diese Art der Diskussion ein gewisses Zeitfenster. Die Diskussion über eine UNO-Mission muss auch gleich die Idee einer internationalen Übergangsadministration mit einschließen, um die von Moskau und Kiew umstrittene Reihenfolge der Politik- und Sicherheitsdimensionen von Minsk II in kleinere, ineinander verschränkte Sequenzen umzustrukturieren. Ukrainische Geschlossenheit Insgesamt hat der Krieg das Gegenteil von dem bewirkt, was Russland durch seine Unterstützung für die "Volksrepubliken" zu erreichen hoffte: Die Idee vom ukrainischen Staat ist gestärkt worden und vereint weite Teile des Landes mehr als je zuvor, und auch die Westorientierung der Ukraine steht nicht in Frage. Eine Reihe neuer Umfragen – darunter auch eine Umfrage des ZOiS in der Donbass-Region und unter den Geflüchteten – zeigen, dass die Annahme zu kurz greift, dass sich diejenigen radikalisieren, die den Krieg und seine Kosten direkt miterleben. Diese Erkenntnis deckt sich mit dem, was wir über andere Konflikte, z. B. im Westbalkan, wissen. Es ergibt sich ein komplexeres Bild, demzufolge der Krieg im Donbass sowohl zu einer Polarisierung von Identitäten als auch zum Erhalt oder gar zur Stärkung gemischter und auf die staatliche Einheit fokussierter Identitäten geführt hat. Darüber hinaus heben die Umfragen die Bedeutung ukrainischer Staatsbürgerschaft als Identitätskategorie hervor sowie eine größere Bereitwilligkeit der Bevölkerung, die ukrainische Sprache eng mit dem Staat zu assoziieren und zugleich mono- und bilinguale (Ukrainisch und Russisch) Sprachenwelten des Alltags explizit mit der Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat zu verknüpfen. Diese integrativen Identitäten bieten eine gute Voraussetzung für die Zukunft des ukrainischen Staates, aber sie werden nur dann von politischer Konsequenz sein, wenn Kiew, Moskau, Berlin, Paris, Brüssel und Washington den Friedensprozess zu einer innen- und außenpolitischen Priorität machen. Lesetipps Gwendolyn Sasse und Alice Lackner: War and Identity: The Case of the Donbas in Ukraine, in: Post-Soviet Affairs (erscheint im Februar 2018).Die im Text zitierten Umfragen des ZOiS sind online frei zugänglich unter: Externer Link: https://www.zois-berlin.de/fileadmin/media/Dateien/ZOiS_Reports/ZOiS_Report_2_2017.pdf und Externer Link: https://www.zois-berlin.de/fileadmin/media/Dateien/ZOiS_Reports/ZOiS_Report_1_2017.pdf
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V
2021-06-23T00:00:00
2018-01-29T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/263707/kommentar-krieg-die-neue-normalitaet-in-der-ukraine/
In Osteuropa herrscht seit 2014 ein Krieg, der mehr als 10.000 Todesopfert gefordert und zwei Millionen Menschen zur Flucht getrieben hat und scheinbar in Vergessenheit gerät. Was hat dieser Konflikt mit der Identität der Ukrainer gemacht? Und gibt e
[ "Ukraine-Analyse" ]
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Verfügbare Haushaltseinkommen | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de
Da die Haushalte die eigentlich gemeinsam wirtschaftenden Einheiten sind, ist der Haushalt wichtig bei Verteilungsanalysen des Einkommens. In die verfügbaren Haushaltseinkommen fließen sämtliche Einkommen der Haushaltsmitglieder ein. Bei der Analyse geht es vor allem um Vergleiche innerhalb und zwischen sozialen Gruppen (z. B. Alter, Haushaltsgröße, Erwerbsstatus, Deutsche/Ausländer). Betrachtet man die Entwicklung über die Zeit, stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich die Verteilungsrelationen verändert haben. Um die Haushaltseinkommen miteinander vergleichen zu können, muss die Zahl der Haushaltsmitglieder berücksichtigt werden. Es liegt auf der Hand, dass bei einem gleichen Haushaltseinkommen die Versorgungslage eines Mehrpersonenhaushalts schlechter ist als in einem Zwei- oder gar Einpersonenhaushalt. Allerdings reicht es nicht aus, einfach von den pro-Kopf Einkommen auszugehen. Denn in Haushalten mit mehreren Personen entstehen sogenannte Haushaltsgrößenersparnisse. Zugleich haben Kinder einen geringeren Bedarf als Erwachsene. Aus diesem Grund werden in der Regel die gesamten Einkommen aller Haushaltsmitglieder in sogenannte Äquivalenzeinkommen umgerechnet. Dazu erhalten alle Personen entsprechend der sogenannten neuen OECD-Skala sogenannte Bedarfsgewichte (Haushaltsvorstand: 1; jede weitere Person ab 14 Jahre: 0,5; Kinder im Alter bis unter 14 Jahre: 0,3); eine andere Methode der Berechnung von Bedarfsgewichten, die zu ähnlichen Ergebnissen kommt und in letzter Zeit gerade international in Mode kommt, ist die Verwendung der Quadratwurzel der Zahl der Haushaltsmitglieder . Das Gesamteinkommen aller Haushaltsmitglieder wird durch die Summe der Bedarfsgewichte geteilt; es ergibt sich das Äquivalenzeinkommen. Wichtige Vergleichskennziffern sind das Durchschnittseinkommen (arithmetisches Mittel) und hier vor allem der Median (das ist der Wert, der eine Population genau in zwei Hälften teilt). Der Median hat gegenüber dem Durchschnitt den Vorteil, dass er für Ausreißer (z. B. extrem hohe Einkommen) weniger reagibel ist. Durchschnitte und auch der Median sagen über die Verteilung (z. B. die Streuung der Haushaltseinkommen) jedoch noch nichts aus. Dazu werden die Haushalte etwa nach Zehnteln (Dezile) oder Prozent (Perzentile) geschichtet. Dann kann man auf dieser Ebene wiederum Durchschnitte (bzw. Medianwerte) errechnen und diese Werte z. B. für das reichste Zehntel mit dem ärmsten Zehntel vergleichen. Etablierte Indikatoren sind auch die 90:10-Relation oder 80:20-Relation etc. Bei der 90:10-Relation wird die Untergrenze des obersten Zehntels durch die Obergrenze des untersten Zehntels dividiert. Kumuliert man die Anteilswerte für die Population, so entsteht die sogenannte Lorenzkurve. Je "bauchiger" diese Kurve ist, umso ungleicher ist die Verteilung, je näher sie an der Gleichverteilungskurve liegt, umso gleichmäßiger sind die Einkommen in der Gesellschaft verteilt. Eine weitere gebräuchliche Kennziffer ist der nach einem italienischen Statistiker benannte Gini-Koeffizient. Er errechnet sich, indem die Fläche zwischen der Gleichverteilungskurve und Lorenzkurve durch die Hälfte des Rechteckes dividiert wird. Der Gini-Koeffizient kann daher zwischen 0 (=völlige Gleichverteilung) und 1 (=Einer besitzt alles) schwanken. Die im Kasten wiedergegebene stilisierte Lorenzkurve erläutert das Konzept der Lorenzkurve und die Berechnungsweise des Gini-Koeffizienten. Beide Indikatoren werden sowohl bei der Analyse der Einkommensverteilung als auch der Vermögensverteilung angewandt, ebenso aber z. B. um Umsatzanteile von Gütern im Handel abzubilden. Neben den genannten Kennziffern gibt es eine ganze Reihe weiterer statistischer Maßzahlen, mit denen sich Verteilungen beschreiben lassen . Solche spezielleren Kennziffern werden in diesem Themenspecial an denjenigen Stellen erklärt, an denen sie verwendet werden. Vgl. im Überblick Faik 2015, S. 47 ff.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-26T00:00:00
2016-11-16T00:00:00
2022-01-26T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/237400/verfuegbare-haushaltseinkommen/
In die verfügbaren Haushaltseinkommen fließen sämtliche Einkommen der Haushaltsmitglieder ein. Was ergibt sich aus Analysen der Vergleiche innerhalb und zwischen sozialen Gruppen? Welche Daten werden für die Analyse der Haushaltseinkommen verwendet?
[ "Kennziffern", "Datengrundlagen", "Datenprobleme", "Einkommensverteilung" ]
29,718
We are the 1%: Über globale Finanzeliten | Oben | bpb.de
Das Schwierige am Thema dieses Beitrags besteht darin, dass es sich bei dem einen Prozent der Reichsten der Welt um eine heterogene Gruppe handelt, deren Mitglieder ihr Vermögen und ihr Einkommen aus vielfältigen Quellen beziehen. Wer eigentlich das eine Prozent ausmacht, fragte sich auch das "Forbes Magazine" und ermittelte, dass man die Top-Verdiener mindestens 29 Berufsgruppen zuordnen kann, unter denen sich entgegen der landläufigen Meinung nur "wenige Unternehmer" befinden. Diejenigen, "auf die alle so wütend sind", die Kapitalgeber, Manager und Geschäftsführer, stellen weit weniger als die Hälfte auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt; sie machen etwa 0,1 Prozent aus. Auf diesen Kreis richtet dieser Artikel sein Augenmerk. Die Macht von diesen 0,1 Prozent ist, so meine These, nicht etwa auf ihr persönliches Charisma, ihre Autorität oder ihren Einfluss, sondern darauf zurückzuführen, dass sie Kapital besitzen und kontrollieren. Das Verbindende unter ihnen definiert sich durch ihren Besitz und dadurch, dass sie die Produktionsmittel, das heißt Arbeits- und Betriebsmittel, steuern. Sie sind ein Bruchteil der Gesellschaftsklasse, die im Kapitalkreislauf die Fäden in der Hand hält. Bei dieser Spitzengruppe sind Finanzkapital, Realvermögen und Einkommen schwer auseinanderzuhalten. Nur wenige (19 Prozent 2008) mit einem Einkommen von über zehn Millionen US-Dollar erwerben dieses durch die Ausübung eines Berufs, die meisten dagegen durch Zinsen, Dividenden oder Lizenzgebühren. Im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten hat es allerdings in den Führungsetagen enorme Gehaltszuwächse gegeben. Zwischen 1980 und 2003 haben Managergehälter um 560 Prozent zugenommen, sodass Vermögen heute mehr als früher aus "Gehältern für leitende Angestellte" stammt. Es ist schwierig, die "Geldaristokratie" bestimmten Standorten zuzuordnen. Sind die Leute "da oben" eine transnational operierende kleine Gesellschaftsschicht? Auch wenn ihre Investitionen eher national (in erster Linie innerhalb eines Landes verortet) und international (durch Marktintegration) denn transnational (Produktintegration durch Produktketten) erfolgen, sind doch einige, wenn nicht sämtliche Beteiligungen in liquiden Mitteln oder im globalen Rahmen angelegt. Die transnationale Finanzelite besitzt die finanziellen Mittel, überall Vermögenswerte zu produzieren und zu beschaffen. Sie agiert im zunehmend länderübergreifenden Kontext, in der das Kapital in alle Regionen und Nationalstaaten vordringt, gestützt auf lockere transnationale Netzwerke zwischen Staatsapparaten, die Kapitalakkumulation begünstigen und so dazu beitragen, dass die Macht des einen Prozents erhalten bleibt. Die zu dem einen Prozent Zugehörigen haben die finanziellen Mittel, eine im wahrsten Sinne transnationale Finanzelite zu sein, weil sie die vorrangigen Besitzer von Vermögen und Einkommen sind und zum Teil auch über Produktionsprozesse und -ketten bestimmen. Dennoch macht das aus ihnen noch keine homogene Gruppierung. Sie unterscheiden sich voneinander und verhalten sich unterschiedlich je nach Ort und Zeit. Sie verwenden diverse Mittel – Geld-, Produktions- oder Warenkapital –, die im Akkumulationskreislauf eine jeweils andere Rolle spielen. Als kleine Gesellschaftsschicht beeinflusst die transnationale Finanzelite Prozesse der Kapitalakkumulation, die es schon so lange gibt wie den Kapitalismus selbst. Doch ihr gegenwärtiges Umfeld ist eine sich wandelnde Finanzarchitektur. Die Akteure wehren sich gegen staatliche Eingriffe in den Markt, wie sie angelehnt an Ideen von John Maynard Keynes zwischen 1945 und 1980 üblich waren, um die Unternehmer an den Produktionskosten zu beteiligen (mittels progressiver Besteuerung, Regulierung von Gesundheits- und Sicherheitsstandards, Verstaatlichung von Schlüsselindustrien). Seit dieser Zeit gewinnen Finanzinstitute und unregulierte Märkte immer mehr an Boden, und das Finanzestablishment zielt darauf ab, eine noch gewichtigere Rolle bei der Kapitalakkumulation zu übernehmen. Im Folgenden wird ein Überblick über die transnationale Finanzwelt gegeben. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern sich aufgrund von Entwicklungen des Finanzmarktkapitalismus seit den 1980er Jahren die Rolle des Finanzkapitals verändert hat. Anschließend wird jene Gesellschaftsschicht, die einen Bruchteil des einen Prozents der Allerreichsten ausmacht, aufgegliedert und den Bereichen Realvermögen, Finanzkapital und Einkommen zugeordnet, um aus den Belegen für ihre Erfolge und für die Diversifikation ihres Kapitals abzuleiten, ob sich die ökonomische Rolle und der Einfluss dieser Gesellschaftsschicht verändert hat. Überblick über die transnationale Finanzwelt Die Entwicklung des Finanzmarktkapitalismus seit den 1980er Jahren hat spekulative Gewinne freigesetzt – ein Phänomen, das Susan Strange verschiedentlich als "Casinokapitalismus" oder als "mad money" – entfesseltes Geld – bezeichnet hat. Daneben haben sich transnationale Produktion und Dienstleistungen entwickelt, insbesondere das Internet. Darunter sind aber auch verbilligte Transportsysteme und neue Technologien zu fassen, die Kosten einsparen und grenzüberschreitenden Kapitalverkehr beschleunigen. Die Volkswirtschaften wurden infolgedessen reorganisiert und in einen globalen Rahmen integriert, den es so nie zuvor gegeben hat. Durch die Deregulierung des Finanzsektors wurde die Entwicklung neuer Instrumente zur Akkumulation des Kapitals erleichtert. Das betrifft beispielsweise variable Zinssätze, Währungs-Swapgeschäfte oder Darlehensverkäufe, Euro-Geldmarktpapiere und Zins-Swap, wodurch sich immer mehr spekulative Profite erzielen lassen. Das Kreditsystem ist der Mittelpunkt der vorgeblich nationalen Banken, großen Geldgeber und Nutznießer in ihrem Dunstkreis geworden. Es verleiht ihnen die Macht, nicht nur periodisch die Industrie zu schwächen, sondern auch auf höchst riskante Weise in die Produktionsabläufe einzugreifen, obwohl sie keine Ahnung von der Produktion und auch keine Berührung mit ihr haben. Die veränderten finanziellen Strukturen wurden an neue politische Strukturen gekoppelt, befördert durch neoliberale Think-Tanks. Mithilfe dieser Ideologie konnte man die Finanzwirtschaft deregulieren und Angebotspolitik wie beispielsweise regressive Besteuerung befördern. Im Kern war diese Strategie gegen den Einfluss der Gewerkschaften und gegen Etatismus (nationalstaatliche Regulierungen) gerichtet und zeigte den Firmen Wege auf, wie sie auf den globalen Märkten wirtschaften können. Neoliberale Politik wurde die bevorzugte Strategie von Berufspolitikern fast jeder Couleur. Die dadurch ausgelöste Deregulierung ließ Lavaströme flüssigen Kapitals über Ländergrenzen hinweg überall dorthin fließen, wo die transnationalen Finanzeliten Möglichkeiten witterten, ihre Profite zu maximieren. Diese Profite waren geografisch ungleich verteilt, aber nicht mehr eingeengt von staatlichen Eingriffen im keynesianischen Sinne. Das Kapital konnte nun in eine zu weiten Teilen (erneut) von Regeln und Vorschriften befreite Welt vordringen. Die Nutzung von Steueroasen und damit in Verbindung stehende Kartellgründungen taten in diesem Prozess ein Übriges. Damit soll nicht die Bedeutung der komplexen Rolle des Nationalstaats im Kreislauf des Geldes bestritten werden – von der Bildung, der Kontrolle und der Organisation der Arbeit über die Regulierung der Banken bis hin zu Subventionen für Banken, wenn sie ernsthaft in einer Krise stecken. Die Rolle des Staates ist gewichtiger geworden, indem er eine wachsende Kontrolle über große Massen von (legalen und illegalen) Arbeitskräften, über ihre Lenkung, Disziplinierung und Organisation ausübt. Der Arbeitsmarkt selbst ist immer internationaler ausgerichtet. Jedoch sind mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973, in dessen Folge die Unternehmer immer mächtiger wurden, die Barrieren transnationalen Wachstums größtenteils gefallen. Mit der systematischen Aufhebung der Vorschriften, die das Kapital einengen, ist die herrschende Oberschicht immer wohlhabender geworden. Realvermögen Der Besitz von Vermögen polarisiert sich auf der ganzen Welt, doch insbesondere in den USA. 2010 befanden sich 65 Prozent des Vermögens in den Händen von 99 Prozent der Bevölkerung, während eine Oberschicht, die nur ein Prozent der Bevölkerung verkörpert, 35 Prozent besaß. Dieses Muster der Vermögensverteilung und die Schwelle zum oberen Ein-Prozent-Bereich sind in Tabelle 1 (vgl. PDF-Version) ablesbar. Ersichtlich ist hier auch die Kluft zwischen mittlerem Haushaltsvermögen der oberen Schicht im Vergleich zu den mehr als 14.000 US-Dollar Schulden der unteren Schicht, zu der 40 Prozent der Bevölkerung gehören. Im zeitlichen Verlauf sehen wir, dass sich das Vermögen der 400 reichsten Milliardäre in den USA bis auf einen der Finanzkrise folgenden Einbruch im Jahr 2009 stetig vergrößert (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version). Untersuchungen zeigen, dass in Australien der Vermögensanteil der Ein-Prozent-Spitzengruppe im 20. Jahrhundert stetig fiel – von 35 Prozent 1915 auf 10 Prozent in den 1970er Jahren. Dann aber stieg er zwischen 1984 und 2010 dramatisch an: Bei den oberen 0,001 Prozent der Vermögenden verdreifachte sich der Vermögensanteil. In den USA und in Großbritannien verteilte sich das Vermögen durchweg ungleicher als in Australien. In beiden Ländern gab es Abschwächungen des Trends bis in die 1980er Jahre und Verstärkungen danach. Die "Ultra-High Net Worth Individuals" mit Vermögenswerten von 30 Millionen US-Dollar oder mehr finden sich überwiegend in den USA (35.000), China (5.000), Deutschland, der Schweiz und Japan, dicht gefolgt von Großbritannien und Frankreich. Wenn wir die USA auf dem Stand von 2000 mit anderen wohlhabenden Ländern vergleichen, dann sehen wir, dass sie an zweiter Stelle stehen, was das in den Händen einer Spitzengruppe von zehn Prozent konzentrierte Vermögen betrifft (vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version). Der Soziologe George William Domhoff stellt fest, dass "die oberen zehn Prozent der Erwachsenen der Welt etwa 85 Prozent des Reichtums der Welt kontrollieren, hier grob definiert als alle Vermögenswerte minus Schulden". Grundsätzlich gibt es auch eine Konzentration bei Aktienbesitz. Das kann entscheidenden Einfluss des oberen einen Prozents auf Firmen mit sich bringen. Tabelle 3 (vgl. PDF-Version) zeigt, dass im Jahr 2010 die oberen 20 Prozent der Aktionäre in den USA 89,6 Prozent der Aktien in den USA besaßen. 2012, also vier Jahre nach der schweren Finanzkrise, betrug das Vermögen der an der Spitze stehenden 400 Milliardäre insgesamt zwei Billionen US-Dollar, was etwa dem gesamten Bruttoinlandsprodukt von Russland 2012 entspricht. Finanzvermögen Der Sektor des Finanzkapitals (Kapital, mit dem Versicherungsgesellschaften, Banken und Investitionsmaklergeschäfte umgehen) war in den 1980er Jahren weltweit im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren wie Einzelhandel und Produktion geringfügig. Nur schätzungsweise 20 Prozent der Aktienanteile in den USA wurden mittels Finanzkapital gehalten, weshalb man davon ausgehen muss, dass das Finanzkapital nur einen kleineren Teil der Gesamtkapitalsumme darstellte. Nach 1973 setzte eine Phase der Finanzialisierung des Kapitals ein, mit Auswirkungen bis ins alltägliche Leben hinein. Dabei gewannen die Finanzmärkte, -institutionen und -eliten größeren Einfluss auf die Wirtschaftspolitik und die Gesellschaftsformation und transformierten "die Funktionsweise der Wirtschaftssysteme auf Makro- wie auf Mikroebene". Und zwar so, dass "die Bedeutung des Finanzsektors in Bezug auf den Realsektor verändert oder verstärkt (und) das Einkommen aus dem Realsektor in den Finanzsektor verschoben wurde". In Studien zum weltweit verteilten Eigentum fällt dessen zunehmende Konzentration – "wenn nicht Konzentration von Besitz an Banken, dann zumindest von Besitz in den Händen des Finanzkapitals" – bei BlackRock ins Auge, einem in den USA gegründeten Vermögensverwaltungsunternehmen. Es war 2009 und 2010 die Nummer eins der Großaktionäre in den USA, in Kanada und Australien und die Nummer drei in Deutschland. Die Firma kontrolliert ferner sechs Prozent aller Anteile der 300 größten Aktiengesellschaften der Welt. Richten wir den Blick darauf, wie Vermögenswerte in Finanzinstrumente verpackt werden, indem wir beispielsweise die Verteilung der Beteiligungen an Finanzkapital in den USA untersuchen, so zeigt sich, dass 2009 und 2010 der Aktienbesitz an diesen Firmen in Form von Finanzkapital auf 66 Prozent gestiegen ist. Der mittlere Aktienanteil betrug in beiden Jahren 49 Prozent, zweieinhalb Mal mehr als 1974. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass seit 1974 immer mehr Vermögenswerte in Finanzinstrumente verwandelt wurden, und es zeigt klar die Umkehr des von dem US-amerikanischen Ökonomen Edward S. Herman festgestellten Trends zurückgehender finanzieller Macht, der sich durch das gesamte 20. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre abgezeichnet hatte. Investmentfondsvermögen ballt sich in den Händen jener obersten Gesellschaftsschicht, die ein Prozent der Gesellschaft ausmacht, wie Tabelle 4 (vgl. PDF-Version) veranschaulicht. 2010 hielten in den USA die oberen zehn Prozent (das eine Spitzenprozent sowie neun gleich danach einzustufende Prozent) aller Investoren 91,9 Prozent des Eigenkapitals, 81 Prozent der Trusts, 93,9 Prozent der finanziellen Sicherheiten und 80,8 Prozent der Aktien und Investmentfonds. George William Domhoff behauptet folglich zu Recht: "Da man das Finanzvermögen als Steuerungsinstrument für Einkommen schaffende Vermögenswerte betrachtet, kann man sagen, dass nur zehn Prozent der Bevölkerung die USA besitzen." Wenn wir auf die Vermögensverteilung der oberen Gesellschaftsschicht schauen, sehen wir diese Art Konzentration von "Kapital in wenigen Händen". Das hat ernsthafte Auswirkungen auf die unteren Schichten: "Das Finanzsystem kassiert unsere Kautionen und leiht uns Geld für ein Haus oder ein Kleinunternehmen, es legt fest, ob wir wohlhabender oder ärmer werden – und es bestimmt darüber, ob wir uns die Erfüllung unseres Lebenstraums, Grundeigentum zu kaufen und uns sorglos aufs Altenteil zurückzuziehen, leisten können." Einkommen Einkommen konzentriert sich nicht so stark wie das Vermögen. Dennoch nahm das obere ein Prozent 2009 in den USA 17 Prozent des Gesamteinkommens ein (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version). Mit anderen Worten: Diese Spitzenverdiener des oberen einen Prozents "haben zusammen mehr vorsteuerliches Einkommen als die 120 Millionen ärmsten Menschen" in den USA. Der Einkommenszuwachs bei den oberen zehn Prozent in den USA geht größtenteils auf das Konto dieses einen Prozents. Die globalen Kapitalflüsse haben bislang ungekannte Ausmaße erreicht, die Handel und Dienstleistungen der vergangenen drei Jahrzehnte in den Schatten stellen. Das hat den Finanzkapitalisten einen neuen Vorteil verschafft. Dieser Prozess läuft nicht in allen Ländern gleich ab, da Pfadabhängigkeiten (geografisch, historisch, ökonomisch, infrastrukturell) bestehen. In geografischer Hinsicht gab es ungleichmäßige Veränderungen bei der Einkommensverteilung. In anderen Studien hat sich gezeigt, dass der Einkommensanteil des oberen einen Prozents in allen englischsprachigen Ländern bis in die 1970er Jahre hinein, also während der Zeit, da die Volkswirtschaften staatlich reguliert wurden, abgenommen hat. In jeder Region wuchs dann in den 1980er, 1990er und frühen 2000er Jahren der Einkommensanteil dieser kleinen Oberschicht sehr schnell, mitunter verdoppelte er sich sogar fast. Die nordeuropäischen Länder, in denen es Anfang des 20. Jahrhunderts einen erheblicheren Anteil an Spitzeneinkommen als in den englischsprachigen Ländern gab, verzeichneten bis Ende der 1970er Jahre einen steileren Abwärtstrend bei der Ungleichheit. Ab den 1980er Jahren gab es dort einen allerdings eher moderaten Zuwachs bei den Spitzeneinkommen. Anderswo, wie in einigen südeuropäischen und in den entwickelten asiatischen Ländern, gab es geringfügige Zuwächse beim Einkommensanteil des oberen einen Prozents der Gesellschaft zwischen den 1970er Jahren und 2007. Schlussfolgerungen Theoretiker des globalen Kapitalismus vertreten die Auffassung, dass ein qualitativ neuer Kapitalismus des 21. Jahrhunderts im Entstehen begriffen ist. Dieser Prozess hat – entweder durch ihr Vermögen oder durch ihr Einkommen oder beides – die Ein-Prozent-Spitzengruppe hervorgebracht. Der einst von Karl Marx beschriebene Produktionskreislauf ist inzwischen transnationalisiert worden, wodurch der Produktionsprozess sich zunehmend dezentralisiert und die produzierten Güter und erstellten Dienstleistungen weltweit in zunehmend transnationalen Staaten vermarktet werden, die aus "einem locker geknüpften transnationalen Netzwerk aus übernationalen politischen und wirtschaftlichen Institutionen mit Nationalstaatsapparaten bestehen, die von transnationalen Kräften durchdrungen und geformt worden sind". Das unterscheidet sich qualitativ von den transnationalen Geldströmen, wie sie früher zu beobachten waren. Die internationale Finanzelite tummelt sich im Herzen der globalen Wirtschaftskreisläufe, die sich immer stärker in Richtung Finanzmarktkapitalismus entwickeln. Die Kehrseite zeigt wieder deutlichere Gegensätze zwischen den Klassen und zwischen Ausbeutung und Dominanz, wobei man ein Nord-Süd-Gefälle erkennen kann. Die Ein-Prozent-Spitzengruppe, die Vermögenden, die mit den Top-Einkommen und die transnationale Finanzelite – mit diesen unterschiedlichen, doch sich überlappenden Begriffen kann man die Männer und die (wenigen) Frauen beschreiben, die durch ihren Kapitalbesitz und/oder die Verfügungsgewalt über Kapital an den Hebeln der Macht sitzen und direkt oder indirekt Kontrolle über uns ausüben. Tim Worstall, Who Actually Are the One Percent?, in: Forbes Magazine vom 28.12.2011, Externer Link: http://www.forbes.com/sites/timworstall/2011/12/28/who-actually-are-the-one-percent (18.3.2014). Ebd. Vgl. Charles Camic/Philip S. Gorski/David M. Trubek (Hrsg.), Max Weber’s "Economy and Society". A Critical Companion, Stanford 2005. Vgl. grundlegend Karl Marx, Capital, Bd. 2, London 1974 (dt. Original: 1885); Christian Palloix, The Self-Expansion of Capital on a World Scale, in: Review of Radical Political Economics, 9 (1977) 2, S. 3–28. Vgl. Floyd Norris, Off the Charts: In ’08 Downturn Some Managed to Eke Out Millions, in: New York Times vom 23.7.2010, S. B-5. Vgl. David Peetz/Georgina Murray, Plutonomy and the One Percent, in: Susan K. Schroeder/Lynne Chester (Hrsg.), Challenging the Orthodoxy: Reflections on Frank Stilwell’s Contribution to Political Economy, Heidelberg 2013, S. 137. Vgl. William K. Carroll/Meindert Fennema, Is There a Transnational Business Community?, in: International Sociology, 17 (2002) 3, S. 393–419, hier: S. 409ff.; William I. Robinson, Global Capitalism, Global Crisis, London 2014 (i.E.), S. 4. Vgl. Peter Dicken, Global Shift: Reshaping the Global Economic Map in the 21st Century, New York 2003, S. 201. Vgl. David Harvey, The Enigma of Capital: And the Crisis of Capitalism, London 2010. Vgl. Greta R. Krippner, The Financialisation of the American Economy, in: Socio Economic Review, 3 (2005) 2, S. 173–208. Susan Strange, Casino Capitalism, Oxford 1986. Dies., Mad Money, Manchester 1996. Vgl. P. Dicken (Anm. 8); Philip McMichael, Development and Social Change: A Global Perspective, Thousand Oaks 1996. Vgl. Jerry Harris, Outward Bound: Transnational Capitalism in China, in: Georgina Murray/John Scott (Hrsg.), Financial Elites and Transnational Business. Who Rules the World?, Cheltenham 2012, S. 220–241. Vgl. William I. Robinson/Jerry Harris, Toward a Global Ruling Class? Globalization and the Transnational Capitalist Class, in: Science and Society, 64 (2000) 1, S. 11–54; William I. Robinson, Global Capitalism and Its "Anti-Human" Face: Organic Intellectuals and Interpretations of the Crisis, in: Globalisations, 10 (2012) 5, S. 659–671. Vgl. Doug Henwood, Wall Street, 2005, Externer Link: http://www.wallstreetthebook.com/WallStreet.pdf (18.3.2014). Vgl. grundlegend Karl Marx, Capital, Bd. 3, New York 1894; ders., Capital, New York 1981 (dt. Original: 1867–1894), Kapitel 33. Vgl. Richard Cockett, Thinking the Unthinkable: Think Tanks and the Economic Counter Revolution 1931–1983, London 1995; Bernd Hamm, The Study of Futures and the Analysis of Power, in: Futures, (2010), S. 1007–1018, hier: S. 1011. Vgl. Peter Dicken, Global Shift Mapping the Changing Contours of the World Economy, London 2007; William I. Robinson, Global Capitalism Theory and the Emergence of Transnational Elites, in: Critical Sociology, 38 (2012) 3, S. 349–363. Vgl. Anthony van Fossen, The Transnational Class and Tax Havens, in: G. Murray/J. Scott (Anm. 14), S. 76–99. Vgl. Ray D. Madoff, Immortality and the Law: The Rising Power of the American Dead, Cambridge, MA 2010. Vgl. Emiliano Grossman/Cornelia Woll, Saving the Banks: The Political Economy of Bailouts, in: Comparative Political Studies, 47 (2014) 4, S. 574–600. Vgl. Leslie Sklair/Jason Struna, The Icon Project: The Transnational Capitalist Class in Action, in: Globalizations, 10 (2013) 5, S. 747–763. Vgl. W.I. Robinson (Anm. 15), S. 353. Nach Edward N. Wolff, in: George William Domhoff, Power in America. Wealth, Income, and Power, 2005/2013, Externer Link: http://www2.ucsc.edu/whorulesamerica/power/wealth.html (18.3.2014). Vgl. Pamela Katic/Andrew Leigh, Top Wealth Shares in Australia 1915–2012, März 2013, Externer Link: http://www.melbourneinstitute.com/downloads/hilda/Bibliography/Other_Publications/2013/Katic_etal_Top_wealth_shares_in_Australia.pdf (18.3.2014). Vgl. ebd. Vgl. Giles Keating et al., Global Wealth Report 2011, Zürich 2012. G. W. Domhoff (Anm. 25). Vgl. Luisa Kroll, Inside the 2013 Forbes 400: Facts and Figures on Americas Richest, 16.9.2013, Externer Link: http://www.forbes.com/sites/luisakroll/2013/09/16/inside-the-2013-forbes-400-facts-and-figures-on-americas-richest (11.3.2014). Vgl. Edward S. Herman, Corporate Control, Corporate Power, Cambridge 1981. Vgl. Richard Peet, Inequality, Crisis and Austerity in Finance Capitalism, in: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society, 4 (2011) 3, S. 383–399, hier: S. 384. Vgl. Randy Martin, Financialization of Daily Life, Philadelphia 2002. Thomas I. Palley, Financialization: What It Is and Why It Matters, Levy Economics Institute Working Paper No. 525, Washington, D.C. 2007. Vgl. David Peetz/Georgina Murray/Werner Nienhueser, The New Structuring of Corporate Ownership, in: Globalizations, 10 (2013) 5, S. 711–730. Vgl. D. Peetz/G. Murray (Anm. 6), S. 141. Vgl. D. Peetz/G. Murray/W. Nienhueser (Anm. 35), S. 718. Vgl. E. S. Herman (Anm. 31). G.W. Domhoff (Anm. 25). Vgl. K. Marx (Anm. 4), Kapitel 25. Mark Bouris, Five Steps to a Fairer Financial World, in: The Sydney Morning Herald vom 8.12.2013. Vgl. G.W. Domhoff (Anm. 29). Ebd. Vgl. P. Dicken (Anm. 8), S. 438. Vgl. D. Peetz/G. Murray (Anm. 6). Vgl. J. Harris (Anm. 14); Georgina Murray/David Peetz, The Financialisation of Global Corporate Ownership, in: G. Murray/J. Scott (Anm. 14), S. 26–53; W.I. Robinson (Anm. 7), S. 4; Leslie Sklair, The Transnational Capitalist Class and Contemporary Architecture in Globalizing Cities, in: International Journal of Urban and Regional Research, 29 (2005) 3, S. 485–500; Jeb Sprague, Transnational Capital Class in the Global Financial Crisis, in: Globalizations, 6 (2009) 4, S. 499–507; L. Sklair/J. Struna (Anm. 23). Vgl. William I. Robinson, Global Capitalism Theory and the Emergence of Transnational Elites, in: Critical Sociology, 38 (2012) 3, S. 349–363. William I. Robinson, Theories of Globalization, in: George Ritzer (Hrsg.), The Blackwell Companion to Globalization, Oxford 2008, S. 125–143, hier: S. 131. Vgl. Raewyn Connell/Nour Dados, Where in the World Does Neoliberalism Come From?, in: Theory and Society, 43 (2014), S. 117–138.
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, Georgina Murray
2021-12-07T00:00:00
2014-04-01T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/181768/we-are-the-1-ueber-globale-finanzeliten/
Mit dem Ende der keynesianischen Marktregulierung, der Entwicklung zum Finanzmarktkapitalismus und dem Fortschreiten der Globalisierung hat sich eine transnationale Finanzelite etabliert, die ihr Kapital länderübergreifend einsetzt.
[ "oben", "Eliten", "Finanzelite", "Geldaristokratie", "Reichtum", "Finanzvermögen", "Vermögensverteilung", "Deutschland", "weltweit" ]
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Der Europawahlblog auf bpb.de | Themen | bpb.de
In unserem Europawahlblog setzen wir verschiedene Schwerpunkte. Dabei wollen wir Ihnen einen Überblick geben, was die Bundeszentrale für politische Bildung rund um die Europawahl anbietet - online und gedruckt. Nicht fehlen darf dabei natürlich der Wahl-O-Mat. Wir schauen hinter die Kulissen des Frage-Antwort-Tools.  Im Blog wird uns auch die Frage beschäftigen: Was hat die Europawahl eigentlich mit Ihnen zu tun? Wie beeinflusst "Europa" Ihr Leben konkret? Wir wollen uns auf Spurensuche begeben, auch mit Blick auf die Wahlbeteiligung, die bei Europawahlen traditionell niedrig ist – nur warum?  Wir wollen außerdem die wichtigsten Themen aufgreifen, die im Wahlkampf eine Rolle spielen. Worum geht es bei diesen Themen? Welche Positionen stehen zur Debatte - und welche Akteure vertreten sie? Auch der Kritik an der Europäischen Union gehen wir nach, greifen die Einwände auf und stellen die diskutierten Positionen dar. Bei uns analysieren und debattieren nicht nur Experten, sondern auch Sie! Wir laden Sie zum Mitdiskutieren ein - in Chats, aber natürlich auch zu unseren Beiträgen.  Denn wir wollen wissen: Was interessiert Sie an Europa? Welche Themen bewegen Sie zur Europawahl? Und welche Fragen haben Sie?  Wir freuen uns über Ihre Kommentare und Anmerkungen! Ihr Europawahlblog-Team der bpb
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
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2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/europawahlblog-2014/178689/der-europawahlblog-auf-bpb-de/
Am 25. Mai ist Europawahl. Die Wahlbeteiligung in Deutschland ist seit langem niedrig. Das Institutionengefüge der Europäischen Union ist selbst für Interessierte nur schwer zu durchschauen. Im Europawahlblog wollen wir auf die Arbeit der Institution
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Analyse: Die Ukraine nach dem EU-Gipfel in Vilnius | Ukraine-Analysen | bpb.de
Auf den "EuroMaidans" wird nicht nur die Rückkehr zur proeuropäischen Außenpolitik gefordert, sondern auch der Rücktritt der Regierung und die Amtsenthebung des Präsidenten. Nach dem 30. November radikalisierten sich die Massenproteste, als die Polizei eine pro-europäische Demonstration gewaltsam auflöste. Sofort wurde der Ukraine ein Schicksal von Jugoslawien oder Belarus prophezeit. Aber heute ist es absehbar, dass sich die Ereignisse in der Ukraine auf ihre eigene Weise entwickeln werden. Stimmungsänderung: vom "Euromaidan" zur "Eurorevolution" Die Stimmungsänderung auf dem EuroMaidan ist sehr auffällig. Noch vor dem Gipfel in Vilnius waren die Proteste hauptsächlich unpolitisch und die Demonstranten forderten von Janukowytsch nur die Unterzeichnung eines EU-Abkommens. So duldeten zum Beispiel die Studenten am 26. November keine Politiker, einschließlich des Box-Weltmeisters und heutigen Oppositionsführers Witalij Klitschko, bei ihrer eigenen Kundgebung. An einem gewissen Punkt gab es sogar zwei Zentren der Proteste – ein unpolitischer auf dem Platz der Unabhängigkeit und ein politischer auf dem Europa-Platz. Gleichwohl wurden die beiden EuroMaidans am 27. November zu einem verschmolzen und es wurde beschlossen, die Proteste ohne Parteisymbole durchzuführen. Nach Polizeigewalt gegen Demonstranten in den frühen Morgenstunden am 30. November radikalisierten sich die Proteste. Die Auflösung war extrem brutal: Die Polizei-Sondereinheit Berkut schlug alle, einschließlich Frauen und Passanten, mit Knüppeln. Mehreren hundert Demonstranten gelang es, der Verfolgung durch Flucht ins St. Michaelskloster zu entkommen. Laut der Initiativgruppe EuroMaidanSOS waren 157 Personen betroffen, laut der Generalstaatsanwaltschaft nur 79. Früh am 30. November erklärte ein Abgeordneter aus der Partei der Regionen, dass die Demonstranten die Aufstellung eines Weihnachtsbaumes auf dem Maidan der Unabhängigkeit behindert hätten. Anschließend wurde der Weihnachtsbaum im Volksmund als "blutig" bezeichnet und später mit Nationalflaggen geschmückt. Die Gewaltanwendung löste eine Welle der Wut aus und die Proteste schöpften neue Kraft. Am 1. Dezember kamen ca. 350.000 bis 500.000 Menschen auf die Straße. Die Opposition forderte den Rücktritt der Regierung, die Amtsenthebung des Präsidenten und die vorzeitige Auflösung des Parlaments. Einige Demonstranten begannen zur Revolution aufzurufen. Jedoch ist die Mehrheit für die Fortsetzung der friedlichen Demonstrationen. Allerdings haben regierungskritische Demonstranten in Kiew eine Lenin-Statue gestürzt. In sozialen Netzwerken sind die Aufrufe zum Boykott ukrainischer Unternehmen zu hören, die Abgeordneten aus der Partei der Regionen gehören. Darüber hinaus wurde für eine Online-Petition zu persönlichen Sanktionen gegen den ukrainischen Präsidenten auf der Internetseite des US-amerikanischen Weißen Hauses in nur vier Tagen die notwendige Zahl der Unterzeichner von 100.000 erreicht. Am 1. Dezember gab es einen weiteren blutigen Zwischenfall. Eine organisierte Gruppe von jungen Männern in Masken versuchte, die Präsidialverwaltung mit einem Bulldozer zu stürmen. Dabei leisteten die jungen Soldaten, die in den ersten Reihen vor der Spezialeinheit Berkut standen, zunächst keinen Widerstand gegen die Angriffe der Demonstranten. Die Konfrontation dauerte drei Stunden und endete mit der Niederschlagung durch die Spezialeinheit Berkut. Von insgesamt 165 Verletzten wurden 109 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert. Unter den Opfern waren mehr als 100 Polizeibeamte, etwa 40 Journalisten und Demonstranten. Für die Verschärfung der politischen Krise in der Ukraine spricht auch die Ausdehnung der Proteste. Am 8. Dezember fand in Kiew ein "Marsch der Millionen" statt, an dem mindestens 500.000 Menschen teilnahmen. Wie vor zwei Wochen hat die Partei der Regionen erneut eine Kundgebung in Kiew organisiert, um die Politik des Präsidenten zu unterstützen. Die Kundgebung "Wir bauen Europa in der Ukraine" besuchten nach Angaben der Partei der Regionen ca. 15.000 Menschen. Seit Anfang Dezember versuchen die Protestierenden, drei Verwaltungsgebäude zu blockieren: das Ministerkabinett, die Präsidialverwaltung und das Parlament. Am 1. Dezember stürmten sie erfolgreich das Kiewer Rathaus und das Haus der Gewerkschaften. Hier wurden anschließend ein "Stab des Nationalen Widerstands" und eine Unterkunft für Demonstranten eingerichtet. Am 8. Dezember besetzen die Demonstranten das gesamte Regierungsviertel mit Barrikaden und Zelten. Der Sicherheitsdienst hat sofort Strafverfahren wegen des Versuchs der illegalen Machtübernahme eingeleitet. Zwei Tage später räumte die Polizei die von Demonstranten errichteten Zelte und Barrikaden und sperrte vorübergehend zentrale U-Bahn-Stationen. Am gleichen Tag wurde auch die Zentrale der oppositionellen Vaterlandspartei gestürmt. Die Konfrontation verschärft sich weiter (Stand 10. Dezember). Als Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen verlangte die Regierung, die Belagerung öffentlicher Gebäude zu beenden. Darauf hat die Opposition mit eigenen Forderungen reagiert: Die Verhandlungen mit der Regierung seien nur nach dem Rücktritt der Regierung, Bestrafung der Verantwortlichen für die Gewalt gegen Demonstranten und nach der Freilassung der inhaftierten Demonstranten möglich. Am 9. Dezember erklärte sich Präsident Janukowytsch bereit, einen trilateralen Dialog mit ehemaligen Staatschefs und Vertretern der Opposition aufzunehmen. Am nächsten Tag fanden Verhandlungen am Runden Tisch zwischen dem aktuellen und den ehemaligen Präsidenten der Ukraine statt. Dabei wurde die Opposition, nach eigener Angabe, nicht eingeladen. Die Reaktion der ukrainischen Führung Die ukrainische Führung reagierte sehr unterschiedlich auf die beiden Vorfälle vom 30. November bzw. 1. Dezember. Am Morgen des 30. November ließ die Kiewer Polizei verlautbaren, seitens der Demonstranten seien Provokationen erfolgt. Diese erste Version wurde schon abends durch eine neue Version ersetzt. Verantwortlich dafür sind offensichtlich die Aufnahme des Vorfalls, ihre weite mediale Verbreitung, die Fortsetzung der Massenproteste und die Verurteilung der Ereignisse durch westliche Staaten und die EU. Ministerpräsident Asarow und Präsident Janukowytsch verurteilten die Gewalt in jeweils eigenen Erklärungen und versprachen, dass die Verantwortlichen in entsprechenden Untersuchungen zur Rechenschaft gezogen würden. Schon am nächsten Tag legten die Sicherheitsbehörden eine andere Version der Ereignisse vor: Innenminister Walerij Sachartschenko entschuldigte sich für das übertrieben brutale Vorgehen der Spezialeinheit Berkut. Gleichzeitig erklärte Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka, dass sich "die Menschen legal auf dem Maidan aufgehalten haben". Gleichwohl kehrte die ukrainische Führung nach den Ereignissen vom 1. Dezember zu ihrer früheren Version der Provokateure zurück. In einem Interview erklärte Wiktor Janukowytsch am 2. Dezember, dass am 30. November "die Sicherheitsdienste den Bogen überspannt" hätten, dass sie jedoch "etwas dazu provoziert" habe. Janukowytsch bewertete darüber hinaus die Konsequenzen aus dem 30. November und dem 1. Dezember sehr unterschiedlich. In einem Kommentar über die Niederschlagung der Demonstration forderte er die Bestrafung der Schuldigen. In einer Einschätzung der Handlungen der Sicherheitskräfte erwähnte der Präsident mit keinem Wort, dass er sie wegen der Übertretung ihrer Befugnisse zur Verantwortung ziehen wolle, sondern sprach lediglich über nötige Schlussfolgerungen und Bewertungen. Mykola Asarow kommentierte die Geschehnisse ähnlich. Bei einer Parlamentssitzung am 3. Dezember bat er für die Handlungen der Sicherheitskräfte auf dem Maidan um Entschuldigung, bemerkte jedoch, dass "die Sicherheitsbehörden zur Wiederherstellung der Ordnung keine Gewalt angewendet" hätten, und dass am 30. November nur "ein Mensch im Alter von 17 Jahren" zu Schaden gekommen sei. Diese Äußerung steht in starkem Kontrast zu Aussagen von Aktivisten des EuroMaidans, die behaupten, bei der Aktion am 30. November seien mindestens 35 Personen unter 25 Jahren verletzt worden. Man gewinnt leicht den Eindruck, dass die Ereignisse vom 1. Dezember eigens dafür provoziert wurden, damit die Diskussionen über den gewaltsamen Einsatz vom Vortag aufhören. So betont die ukrainische Führung heute in ihren Äußerungen die Provokationen durch den extremistischen Flügel des EuroMaidans, die juristische Verantwortung für den Sturm der Präsidialadministration und die Besetzung anderer Verwaltungsgebäude. Die Reaktion der Justiz ist ebenfalls bemerkenswert. Schon am zweiten Tag nach den Ereignissen vom 1. Dezember begannen Gerichte damit, erste Arreststrafen für Demonstranten anzuordnen – gleichzeitig wurde bisher (Stand 10. Dezember) niemand wegen der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstration am 30. November verhaftet. Bisher sind alle Versuche der Regierung, die Situation im Land unter Kontrolle zu bringen, missglückt. Seit dem Beginn der Proteste haben Gerichte 27 Demonstrationsverbote verhängt, und zwar in 13 von 24 Regionen des Landes, sowie auf der Krim und in Sewastopol. Die Proteste gingen jedoch, der Verbote ungeachtet, weiter. Die Regionen reagieren ziemlich unterschiedlich auf die politische Krise. EuroMaidans gibt es in ausnahmslos allen Regionen des Landes, jedoch in unterschiedlicher Teilnehmerzahl. Die größten Demonstrationen finden sich im Westen der Ukraine (8.000 bis 50.000 Teilnehmer). In den letzten Tagen sind jedoch auch in einigen östlichen Regionen die Teilnehmerzahlen auf mehrere Tausend angestiegen. Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung gab es in sechs östlichen Regionen, die größten darunter waren in Charkiw (70.000 Menschen) und in Donezk (15.000). Die Kommunisten veranstalteten einige kleinere Aktionen zur Integration in die Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan. Vier Regionalparlamente süd-östlicher Gebiete riefen zudem Präsident Janukowytsch dazu auf, die Lage im Land zu stabilisieren. Das Parlament der Krim forderte gar, den Ausnahmezustand auszurufen. Im Gegensatz dazu deklarierten drei westliche Regionen am 2. Dezember den Beginn einen unbegrenzten Generalstreiks. Die ukrainische Führung hat keinen exklusiven Zugriff auf die Medienlandschaft, weshalb es ihr auch in dieser aktuellen Krise nicht gelang, genug Medienressourcen für ihre Ziele einzusetzen. Vor dem EuroMaidan war die Situation der Pressefreiheit in der Ukraine ziemlich kritisch – unbequemen Fernsehkanälen entzog man die Lizenz und verteilte sie an loyale Medien. Heute scheint es jedoch, dass die Oligarchen, denen ein Großteil der ukrainischen Fernsehsender gehört, sich auf die Seite der Protestierenden stellen. Sogar die Demonstranten selbst gaben zu, dass die Berichterstattung objektiv ablaufe. Anders werden die Ereignisse vom staatlichen Sender und den Medien der jüngst gegründeten UMH-Holding dargestellt. Diese Gruppe gehört zur Einflusssphäre Janukowytschs. Jedoch haben bereits drei Journalisten dem staatlichen Sender aus Protest gegen seine Redaktionspolitik gekündigt. Trotzdem findet Ministerpräsident Asarow, dass die wichtigen Kanäle zu wenig über die Kundgebungen zur Unterstützung der Regierung berichten. Zudem wurde am 2. Dezember ein Gesetzesprojekt zur Bekämpfung von Extremismus eingebracht, das es erlaubt, friedliche Versammlungen und bestimmte Medien im Interesse der nationalen Sicherheit zu verbieten. Es kann zurzeit jedoch nicht darüber abgestimmt werden, da die Opposition das Parlament blockiert. Darüber hinaus stürmte Polizei am 9. Dezember die Büros des oppositionellen Senders INTV, der Internetseite "Censor.net" und der Zeitung "Abendnachrichten" und beschlagnahmte ihre Server. Nach der gewaltsamen Auflösung der Proteste am 30. November begann es auch in der Partei der Regionen zu brodeln. Vier Abgeordnete verurteilten öffentlich die Gewaltanwendung, zwei davon traten aus der Partei aus. Es gelang jedoch relativ schnell, die Parteidisziplin wiederherzustellen. So stimmte lediglich ein Abgeordneter der Partei der Regionen am 3. Dezember bei einem Misstrauensvotum gegen die Regierung. Dementsprechend gelang es dem Parlament nicht, die Regierung aufzulösen – dafür stimmten nur 186 Abgeordnete, 226 wären nötig gewesen. Momentan haben weder die Partei der Regionen, noch die Führung des Landes einen Plan, wie ein Ausweg aus der politischen Krise aussehen könnte. Bis vor kurzem bestand die Taktik darin, alle Forderungen der Demonstranten komplett zu ignorieren und darauf zu hoffen, dass die Proteste irgendwann von selbst nachlassen. Präsident Janukowytsch war beispielsweise, abgesehen von zwei Interviews und einer auf seiner Website veröffentlichten Stellungnahme, öffentlich nicht aufgetreten. Im Kontrast zu seinem "Verstummen" in der Innenpolitik, war er jedoch in der Außenpolitik äußerst aktiv: unmittelbar nach den blutigen Vorfällen wurden Regierungsdelegationen nach Brüssel und Moskau geschickt, und der Präsident selbst sagte seine geplante Chinareise nicht ab. Nach der Form dieser Gespräche zu urteilen, beabsichtigte der Präsident, zunächst die ökonomische Situation des Landes über Auslandskredite zu stabilisieren, und sich erst danach mit den aktuellen politischen Fragen zu beschäftigen. Die Taktik der Opposition und die Wiederbelebung der Zivilgesellschaft Die renommierte ukrainische Journalistin Julia Mostowa schrieb am 6. Dezember über den EuroMaidan wie folgt: "Das Problem ist, dass sich der Maidan 2013 als problematisch für fast alle erwies: Die Oppositionsführer wissen nicht wirklich, was damit anzufangen ist; die Regierung reagiert darauf aggressiv und hat Angst; Russland äußert offenen Hass; und der Westen ist nicht bereit, Unterstützung anzubieten, die wenn nicht von den Demonstranten, dann von den Oppositionsführern erwartet wird." Zwar handeln die drei Oppositionsführer – Witalij Klitschko (Partei UDAR), Arsenij Jazenjuk (Partei Vaterland) und Oleh Tjahnybok (Partei Freiheit) – heute schlüssig, hatten aber lange Zeit keinen konkreten Plan. Erst am 5. Dezember erstellte die Opposition eine Aufgabenliste. Dabei ist der Großteil der Maßnahmen auf Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angelegt. Ansonsten besteht die Haupttaktik der Opposition in unbefristeter Fortsetzung der friedlichen Proteste. Eine fehlende Strategie ist durch die Tatsache zu erklären, dass die heutigen Proteste, im Gegensatz zu den Protesten vom Jahr 2004, von unten initiiert wurden und die Oppositionsparteien kalt erwischt haben. So wurde behauptet, dass das Rückgrat der Revolte – Intellektuelle, Studenten und Vertreter der Mittelklasse – nach der Orangen Revolution enttäuscht und demoralisiert sei. Doch am 26. und 27. November gab es in der ganzen Ukraine Studentenstreiks, der größte von ihnen fand mit über 15.000 Teilnehmern in Kiew statt. Der Mittelstand bietet heute den Demonstranten gratis Tee und Internet in ihren Cafés an und die intellektuelle Elite unterstützt die Protestgeist der Demonstranten durch verschiedene Konzerte oder kostenlose medizinische und juristische Hilfe. Der EuroMaidan in Kiew ist hervorragend organisiert und funktioniert ununterbrochen. Täglich wird Verpflegung für etwa 80.000 Menschen organisiert, für ca. 20.000 Angereiste wird eine Unterkunft angeboten. Die Demonstranten schützt ein Team von Freiwilligen, das ständig auf den Straßen patrouilliert. Über das Internet verbreiten die Aktivisten Informationen über die Bedürfnisse von Demonstranten. Einfache Bürger und Bürgerinnen bringen warme Kleidung, Lebensmittel, bieten Unterkunft für Angereiste oder spenden. Laut der offiziellen Facebook-Seite des EuroMaidans wurden in Kiew im Zeitraum vom 21. November bis zum 2. Dezember mehr als 600.000 Hrywnja (etwa 54.000 Euro) Spenden gesammelt. Alle Ausgaben sind transparent. Das Solidaritätsgefühl wächst beim gemeinsamen Singen der Nationalhymne auf den Straßen und sogar in der U-Bahn. Auch wenn die Demonstranten am Ende nicht alle ihre Ziele erreichen, hat der EuroMaidan schon eine Wirkung – die Wiederbelebung der Zivilgesellschaft in der Ukraine. Friedliche Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern stehen in starkem Kontrast zu zwei blutigen Zwischenfällen, die am 30. November und 1. Dezember stattfanden. Für Außenseiter ist schwer zu beurteilen, was in diesen Tagen wirklich passiert ist. Während die ukrainische Führung die Schuld an den Ereignissen den ultraradikalen Nationalisten zuschreibt, spricht die Opposition über von der Regierung bezahlte Provokateure, sogenannte Tituschki. So werden in den ukrainischen Medien die Straßen-Hooligans genannt, die speziell für Gewaltaktionen rekrutiert werden. Der Name kommt von einem Wadim Tituschko, der im Mai 2013 zwei Journalisten bei einer Aktion der Opposition verprügelt hat. Der EuroMaidan tickt auf seine eigene Weise und hat keinen eindeutigen Anführer. So will die Initiativgruppe "1. Dezember", die im Jahr 2011 von Vertretern der nationalen Intelligenz gegründet wurde, den Dialog mit der Regierung aufnehmen, obwohl sie auch den Rücktritt der Regierung, Bestrafung der Verantwortlichen für die Gewalt gegen Demonstranten und die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU fordert. Julia Tymoschenko forderte dagegen die Ukrainer in einem Brief auf, keine Gespräche mit der Regierung aufzunehmen und hat ebenso einen eigenen Aktionsplan vorgeschlagen. Dieser sieht den Übertritt der Armee auf die Seite der Protestierenden, die Verhängung internationaler Sanktionen gegen Janukowytsch und die Fortsetzung der friedlichen Proteste vor. Ein weiterer Teil der intellektuellen Elite, der von dem Schriftsteller Juri Andruchowytsch geleitet wird, formulierte auch den eigenen Plan, "Aufgabe 5/12". Laut diesem wollen die Unterzeichner bei allem Hass zu Janukowitsch nicht "seinen Kopf auf einem Teller", sondern ein Land, in dem die Konzentration der Macht in wenigen Händen unmöglich sei. Somit fordern sie eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU, die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes und eines Gesetzes zur Lustration in den Gerichten, Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden. Darüber hinaus werden auch konkrete Forderungen an die Opposition gestellt, so etwa die Vorstellung des künftigen Kabinetts und eines konkreten Reformplans für das erste Jahr an der Macht. Die Reaktion der EU Trotz der harten Worte hofften die europäischen Politiker beim EU-Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius bis zum letzten Moment auf einen Erfolg. Im Hintergrund blieb sogar die Frage der Freilassung von Julia Tymoschenko. Am Ende wurde in Vilnius jedoch kein Abkommen unterzeichnet, weil die ukrainische Seite eine Woche vor dem Treffen plötzlich zwei neue Forderungen stellte. Erstens wollte sie eine finanzielle Entschädigung für die Verluste aufgrund der russischen Handelsaktionen. Zweitens wurde die Bildung einer trilateralen Kommission unter Beteiligung von Russland, der EU und der Ukraine noch vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens verlangt. Beide Anforderungen haben die europäischen Politiker sehr überrascht. Am 26. November teilte der EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle mit, dass Kiew keinen offiziellen Antrag bei den EU-Behörden bezüglich der Entschädigung eingereicht habe. Die Summe in Höhe von 160 Mrd. Euro, die laut Wiktor Janukowytsch für die Anpassung der ukrainischen Wirtschaft an europäische Standards nötig sei, bezeichneten die europäischen Politiker als unbegründet. Später erklärte die ukrainische Seite, dass für die Berechnung der Durchschnittsbetrag der EU-Hilfe für die Länder Mitteleuropas in den vergangenen zwei Jahrzehnten herangezogen wurde. Nach dem Gipfel reduzierte Kiew die Summe der dringend notwendigen Investitionen auf 10 Mrd. Euro. Die Position der EU besteht dabei darin, dass die Freihandelszone mit der EU für die Ukraine wirtschaftlich und finanziell vorteilhaft sei. Darüber hinaus seien die Vereinbarungen für die Ukraine langfristig von Vorteil, während die Verluste im Handel mit Russland kurzfristiger Natur sind. Auch die zweite Forderung lehnte die EU kategorisch ab. Am 29. November schloss der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Möglichkeit dreiseitiger Verhandlungen komplett aus, unter Berufung auf die Tatsache, dass bei bilateralen Verhandlungen eine dritte Partei überflüssig sei. Demgemäß scheiterten die Versuche Janukowytschs, zwischen Russland und der EU zu manövrieren. Bei dem Gipfel in Vilnius war der Präsident der Ukraine anstatt des Siegers ein eindeutiger Verlierer. Trotz der Enttäuschung hat die EU ihre Position nicht verändert. Die EU-Politiker betonen, dass das Abkommen vor allem von der ukrainischen Regierung abgelehnt wurde, die Türen nach Europa blieben für die Ukraine geöffnet. Doch trotz der Aussagen Janukowytschs über die mögliche Unterzeichnung eines Abkommens im Frühjahr 2014 hat die EU momentan keine Absicht, das konkrete Datum in naher Zukunft zu bestimmen. Die Massenproteste in der Ukraine haben die EU-Politiker ebenso kalt erwischt. Die ersten Schlagzeilen über den Sieg Russlands nach dem Kurswechsel der Ukraine wurden schnell durch Schlagzeilen über die Massenproteste ersetzt. Die EU hat ihre Solidarität mit den Demonstranten in der Ukraine demonstriert. Manche Spitzenpolitiker besuchten den Euromaidan persönlich. Noch vor dem 30. November waren die litauische Parlamentspräsidentin Loreta Graužinienė, der polnische Abgeordnete Marcin Święcicki, die Europaabgeordneten Rebecca Harms und Paweł Kowal auf den EuroMaidan gekommen. Am 1. Dezember haben polnische Politiker den Euromaidan besucht. Fünf Tage später reiste eine Delegation von Europaabgeordneten der EVP-Fraktion in die Ukraine. Während der OSZE-Konferenz in Kiew haben den EuroMaidan auch der deutsche und der kanadische Außenminister besucht. Die Unterstützung der EU bestand allerdings bisher nur in Worten und nicht in Taten. So wurden die Aufrufe der Ukrainer nach Verhängung von Sanktionen gegen Präsident Janukowytsch außer Acht gelassen, weil sie als direkte Einmischung in interne Angelegenheiten der Ukraine eingestuft werden. Noch am 26. November haben die beiden Europaparlamentarier Elmar Brok (EVP, DE) und Jacek Saryusz-Wolski (EVP, PL) die ukrainische Regierung vor Gewaltanwendung gewarnt, andernfalls würden ernsthafte Konsequenzen gezogen werden. Trotz dieser Warnung kam es in der Ukraine, wie bekannt, zu Polizeigewalt gegen Demonstranten. Die Reaktion darauf war in der westlichen Welt, nicht jedoch in Russland, Verurteilung. Die EU, die UNO, die OSZE und sogar die NATO bekundeten ernsthafte Besorgnis über die Situation in der Ukraine. Neben mehreren Außenministerien der europäischen Länder haben auch das polnische und das litauische Parlament in besonderen Erklärungen die Gewaltanwendung durch die Polizei verurteilt. Einige Länder wie etwa die USA, Frankreich und Großbritannien und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sagten ihre Teilnahme am OSZE-Treffen in Kiew am 5. und 6. Dezember ab. Als sich die Lage in der Ukraine verschärfte, rief der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in zwei Telefongesprächen mit Präsident Janukowytsch am 2. und 8. Dezember zu einem Dialog mit der Opposition auf. In der Ukraine wird die EU-Außenbeauftragte Ashton am 10. und 11. Dezember einen Vermittlungsversuch unternehmen. An diesen Tagen will auch das EU-Parlament in einem Beschluss Stellung zu den Ereignissen in der Ukraine beziehen. Die Reaktion Russlands Russland reagierte auf die Kehrtwende des außenpolitischen Kurses der Ukraine ziemlich zurückhaltend. Präsident Putin nahm sofort die Einladung der ukrainischen Seite zu trilateralen Gesprächen zwischen Russland, der Ukraine und der EU an, stellte jedoch die Bedingung, dass diese vor Kiews Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU stattfinden sollen. Darüber hinaus nannte man im Kreml die Absage der Ukraine an die EU eine souveräne Entscheidung der Ukraine. Aufgrund der ausdrücklich formulierten Position der Nichteinmischung gibt es nur relativ wenige Stellungnahmen der russischen Führung. Gleichwohl war die Ernennung von Putins Berater Sergei Glasjew zum "Menschen des Jahres 2013" für Verdienste bei der "Unterstützung der Rückkehr der Ukraine in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Russland" vielsagend. Die Reaktion Russlands auf die Massenproteste in der Ukraine war vorauszusehen. So wie vor acht Jahren während der Orangen Revolution, ist es auch heute eine zentrale Aufgabe des Putin-Regimes, die Ausbreitung der Protestlaune nach Russland zu verhindern und in Russland selbst für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aus diesem Grund bezeichnete Putin die Proteste in der Ukraine als gut vorbereitet und erklärte, dass sie eher einem Pogrom als einer Revolution glichen. Die russischen Medien portraitierten die Demonstrationen derweil als einen Putsch, als verfassungswidrige Machtübernahme durch die Opposition. Friedliche Proteste sind in russischen Berichten "Straßenunruhen", die Teilnehmeranzahl wird zu niedrig angegeben, die Proteste als gekauft dargestellt und die Zusammenstöße mit der Polizei als Provokationen seitens der Protestierenden verkauft. Dabei wird der Schwerpunkt der Berichterstattung auf die verletzten Polizisten gelegt, die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung findet keine Erwähnung. Bemerkenswert ist außerdem, dass die russischen Massenmedien die ersten waren, die die Information über die mögliche Ausrufung des Ausnahmezustandes in der Ukraine verbreiteten – was bisher (Stand 10. Dezember) unterblieben ist. Ein weiterer Strang in der russischen Rhetorik ist die Verurteilung von Wort und Tat der EU-Politiker in Bezug auf die Ukraine, die Präsident Putin am 22. November als Erpressung bezeichnet hatte. Auf diese Weise setzt sich die Rivalität zwischen Russland und der EU fort. So fiel auch die Reaktion des russischen Außenministeriums auf eine gemeinsame Erklärung von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso vom 25. November sehr deutlich aus. In der Erklärung hatten die EU-Beamten zum wiederholten Male Russlands Position in Bezug auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU verurteilt. Das russische Außenministerium erklärte daraufhin, dass "eine solche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates die oppositionell ausgerichteten Teile der ukrainischen Bevölkerung zu Protest und rechtswidrigen Handlungen gegen die gesetzmäßige ukrainische Macht aufstachelt." (Erklärung siehe S. 10). Von russischen Medien werden gleichfalls ähnliche Berichte über EU-Politiker verbreitet, die angeblich von der Tribüne des Maidans zum Ungehorsam gegen die Machthaber aufrufen. In seiner beliebten Wochenschau am 1. Dezember verglich der Journalist Dmitri Kiseljow den Gipfel von Vilnius gar mit Ereignissen in München im Jahr 1933 und nannte Schweden, Polen und Litauen (die das Assoziationsabkommen mit der Ukraine maßgeblich vorangetrieben hatten) eine antirussische Allianz, die jetzt Rache für Poltawa nehmen wollen (in der Schlacht bei Poltawa im Jahr 1709 besiegte die Armee Peters des Großen das Heer des Schwedenkönigs Karl XII; dies war der Wendepunkt des Großen Nordischen Krieges, nach dem Russland seine Vorherrschaft im Ostseeraum behaupten konnte). Übrigens wird Dmitri Kiseljow bald die neue Internationale Agentur "Russland Heute" leiten, die Präsident Putin am 9. Dezember per Erlass formiert hat. Laut Kiseljow werde seine neue Aufgabe darin bestehen, eine "faire Einstellung zu Russland" wiederherzustellen. Bisher hat die russische Seite die Absage Kiews an das Assoziierungsabkommen mit der EU materiell noch nicht belohnt, wobei die Handelsbeschränkungen von Seiten Russlands bereits aufgehoben wurden. Gazprom, und wenig später Putin, bestritten die Aussage Asarows, dass Russland sich mit der Ukraine darauf geeinigt habe, den Gasvertrag vom Jahr 2009 neu zu verhandeln. Ebenfalls zurückgewiesen wurde die Erklärung der ukrainischen Seite, dass die Zahlungen für eine Gaslieferung für Oktober bis Dezember 2013 erst im Frühjahr 2014 entrichten werden könnten. Zusätzlich unterstrich der Gazprom-Chef Aleksej Miller, dass die Ukraine Russland noch zwei Milliarden US-Dollar für Lieferungen von August bis November schulde. Nach Äußerungen von Putin schulde die Ukraine russischen Banken zusätzlich etwa 30 Milliarden US-Dollar. Jedoch hat Russland, nach einigen Angaben, mit dem Kauf ukrainischer Staatsanleihen begonnen. Der rasche Anstieg des Ankaufs ukrainischer Wertpapiere durch Ausländer – im Moment beläuft sich die Summe auf mindestens 500 Millionen US-Dollar – setzte unmittelbar nach der Unterbrechung der Verhandlungen mit der EU ein. Händler verknüpfen diese Bewegungen mit russischen Investoren, insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland der Ukraine inoffiziell bereits zum jetzigen Zeitpunkt finanzielle Unterstützung zukommen lässt. Für den 17. Dezember wird erwartet, dass die Ukraine und Russland beim Treffen der bilateralen russisch-ukrainischen Regierungskommission, ein Abkommen über eine strategische Zusammenarbeit unterzeichnen werden. Wie bekannt wurde, fanden am 4. Dezember in Moskau Gespräche auf Ebene der Vize-Ministerpräsidenten statt, am 6. Dezember traf sich Präsident Janukowytsch in Sotschi mit Präsident Putin. In der Ukraine gingen Gerüchte um, dass Janukowytsch sich zum Beitritt zur Zollunion bereiterklärt habe. Die Pressestellen beider Präsidenten wiesen diese Information jedoch sofort zurück. Es ist gut möglich, dass die Absprache in erster Linie die Frage der Gaslieferungen betrifft. Aus dem Russischen von Katerina Malygina und Jan Matti Dollbaum Lesetipps: Malygina, Katerina: Die Ukraine vor dem EU-Gipfel in Vilnius: Einflussversuche externer Akteure, abrupter Kurswechsel der Regierung und die Volksversammlung zugunsten der europäischen Integration, in Ukraine-Analysen Nr. 124 (vom 26.11.2013) Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen124.pdf. Meister, Stefan: "Die Ukraine nach dem Vilnius-Gipfel: Eine erste Einschätzung", Deutsche Beratergruppe Newsletter 62/2013, Dezember 2013. Externer Link: http://www.beratergruppe-ukraine.de/download/Newsletter/2013/Newsletter%2062_2013_Deutsche%20Beratergruppe.pdf?PHPSESSID=4dbd6a95064cbff94bb8d951ba74e2a5 Olszański, Tadeusz A./Konończuk, Wojciech: "The political crisis in Ukraine", OSW Analysis, 4.12.2013. Externer Link: http://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analyses/2013-12-04/political-crisis-ukraine
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-12-16T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/175251/analyse-die-ukraine-nach-dem-eu-gipfel-in-vilnius/
Am 21. November beschloss die ukrainische Regierung, die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU auszusetzen. In der ganzen Ukraine begannen sofort Massenkundgebungen zur Unterstützung der europäischen Integration. Während der letzten
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Tierethische Positionen | Bioethik | bpb.de
In der alltäglichen Moral und im Recht hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass Tiere als fühlende Wesen um ihrer selbst willen moralisch zählen. In Deutschland und der Schweiz ist dieser sogenannte ethische Tierschutz sogar in der Verfassung verankert. Gleichzeitig ist aber immer noch die aus der christlichen Tradition stammende Überzeugung von einem speziellen Wert des Menschen verbreitet. So heißt es im Deutschen Tierschutzgesetz §1: "Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen." Das Tier wird also einerseits als Wesen gesehen, das wie wir lebt und sein Wohl sucht. Andererseits wird mit dem Verantwortungsbegriff aber auch dem Menschen eine Sonderstellung zugeschrieben, mit der Schutzpflichten, aber auch Nutzungsrechte verbunden sind. Denn weiter lautet die Bestimmung: "Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Ein "vernünftiger Grund" ist aber nicht immer ein moralisch relevanter Grund. Wo bleibt dann der Schutz der Tiere um ihrer selbst willen? Offensichtlich liegt also in den derzeitigen Vorstellungen eine gewisse Spannung, die man in zwei Richtungen bereinigen könnte. Die eine Richtung betont die Besonderheit des Menschen, macht bestimmte personale Fähigkeiten zum Kriterium für die Zugehörigkeit zur Moral und trägt der Einbeziehung der Tiere durch indirekte Hilfsargumente Rechnung. Die andere betont die eigenständige moralische Bedeutung der Tiere und sucht nach einer Konzeption, welche die Rücksicht auf Tiere konsequent zu Ende denkt, wobei häufig ein gleicher moralischer Status für Mensch und Tier angenommen wird. Indirekte Argumente für die Rücksicht auf Tiere Kants Vernunftmoral Kant erklärt die Sonderstellung des Menschen nicht religiös.Vielmehr gründet für ihn die Würde des Menschen darin, dass dieser nicht nur in der Erfahrungswelt lebt, sondern Anteil an der Welt der Vernunft hat, die einen absoluten Wert besitzt. Während unsere Antriebe in der Erfahrungswelt den Kausalgesetzen unterworfen sind, sind wir als Mitglieder der Vernunftwelt autonom, d.h. wir besitzen die Fähigkeit, uns selbst das Moralgesetz zu geben. Sofern alle Wesen mit dieser Fähigkeit eine Würde haben, ist das Moralgesetz gleichbedeutend damit, dass wir alle vernünftigen Wesen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandeln sollen. Da Tiere keine Vernunftwesen sind, kommt ihnen nach Kant nur ein relativer Wert zu, sie sind nur Mittel für Personen, und er bezeichnet sie daher als Sachen. Dennoch spricht er sich aus indirekten Gründen für die Rücksicht auf Tiere aus, nämlich mit dem Verrohungsargument: Wer Tiere misshandelt und ihnen gegenüber grausam ist, wird moralisch abstumpfen und dann auch im Umgang mit direkten Gegenständen der Moral, also menschlichen Personen, zu Grausamkeit tendieren. Die diesem Argument zugrundeliegende Annahme einer Analogie zwischen Menschen und Tieren ist aber nur sinnvoll, wenn man die Vernunft als eine in der Evolution entstandene Fähigkeit ansieht und sie nicht wie Kant in einer höheren Welt ansiedelt. Moral als Vertrag Der Kontraktualismus setzt nur die zweckrationale Vernunft voraus. Er besagt, dass es im vormoralischen Interesse rationaler Individuen ist, sich auf Normen wechselseitiger Rücksicht zu einigen, weil der Vorteil, den der Gewinn an Sicherheit vor Übergriffen bedeutet, den Verzicht überwiegt, der in der Einschränkung der eigenen Interessen mit Rücksicht auf die Interessen der anderen liegt. Solche Abmachungen können nur Wesen schließen, die über Sprache, die Fähigkeit zum Einhalten von Versprechen usw. verfügen, also Wesen, die man als Personen bezeichnen kann. Tiere haben diese Fähigkeiten nicht und können daher in dieser Konzeption wechselseitiger Rechte und Pflichten keine Rechte haben, nicht direkt Gegenstand moralischer Rücksicht sein. Man müsste vielmehr die Vertragskonzeption durch andere Gesichtspunkte ergänzen, z. B. dadurch, dass wir die Tugend des Mitgefühls als motivationale Grundlage brauchen und dass in deren Inhalt die Ausdehnung auf alle fühlenden Wesen angelegt ist (Carruthers). Aus dieser notwendigen Ergänzung ergibt sich, dass Tiere, auch wenn sie nicht die Fähigkeiten besitzen, die moralische Akteure auszeichnen, aufgrund ihrer Leidensfähigkeit ohne weiteres Gegenstände moralischer Rücksicht sein können (vgl. das "pathozentrische" Argument in Krebs, Naturethik). Direkte Argumente für die Berücksichtigung der Tiere Mitleidsethik Eine direkte Ausdehnung der Moral auf Tiere auf dieser Basis finden wir in Schopenhauers Mitleidsethik. Dieser betont gegen Kant, dass moralisches Handeln sich nur verstehen lässt, wenn wir ein empirisches Motiv dafür finden können. Er verweist auf altruistische Gefühle, genauer auf den natürlichen Affekt des Mitleids, in welchem wir direkt auf das Wohl anderer fühlender Wesen bezogen und von ihrem negativen Erleben betroffen sind. Allerdings ist das Mitleid wie alle Affekte launisch und kann daher nur zur Grundlage einer moralischen Position werden, wenn es zu einer dauerhaften Einstellung, einer Tugend verfestigt wird. Die Mitleidskonzeption ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den ethischen Tierschutz zum Inhalt hat, d. h. die Rücksicht auf individuelle Tiere um ihrer selbst willen. Damit dürfte sie diejenige Grundlegung der Tierethik sein, die am besten an die im Alltagsbewusstsein und im Recht verankerten Vorstellungen anknüpft. Die Anwendbarkeit des Mitleids auf alle Wesen, die ein Wohl haben, ergibt weiterhin einen gleichen moralischen Status für Menschen und Tiere. Andererseits bleibt die Stärke ihrer Konsequenzen offen, da sich allein aus einer altruistischen Haltung einer Person weder moralische Forderungen an andere Personen noch Rechte der betroffenen Wesen ableiten lassen (Tugendhat). Utilitarismus Den Anstoß zur heutigen Tierethik-Debatte hat Peter Singers utilitaristische Position gegeben. Für den Utilitarismus ist moralisches Handeln auf das Ziel der Nutzenmaximierung bezogen. Der Nutzen wird im klassischen Utilitarismus bei Bentham als Lust, in Singers sog. Präferenzutilitarismus als Interessenbefriedigung interpretiert. Am besten ist dann diejenige Handlung, die insgesamt die beste Bilanz von Lust/Unlust bzw. die meisten befriedigten Interessen zur Folge hat. Die Voraussetzung dafür, Lust empfinden oder Interessen haben zu können, ist die Empfindungsfähigkeit, womit Tiere eingeschlossen sind. Da Singer neben dem Maximierungsprinzip einen Gleichheitsgrundsatz voraussetzt, zählen im Rahmen des Kalküls alle empfindungsfähigen Wesen gleichermaßen. Wer Tiere schwächer gewichtet, weil sie keine Personen sind, zieht sich den Vorwurf des Speziesismus (Bevorzugung der eigenen Spezies) zu (so auch schon Ryder). Denn Menschen (z. B. Neugeborenen oder Dementen) gestehen wir auch dann einen vollwertigen moralischen Status zu, wenn sie nicht die Fähigkeiten von Personen haben. Wenn wir Tiere, welche ähnliche oder sogar höhere intellektuelle Fähigkeiten haben, schwächer berücksichtigen, weil sie nicht der menschlichen Gattung angehören, liegt, so Singer, eine unbegründete Diskriminierung vor, die strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Formen der Diskriminierung wie dem Rassismus oder Sexismus aufweist. Unterschiede gibt es für Singer allerdings in der Tötungsfrage. Denn hier bewirken die besonderen Fähigkeiten von Personen, ihr Verfügen über Selbstbewusstsein und Zukunftsbezug, ein spezifisches Interesse am Weiterleben. Das gilt nicht nur für menschliche Personen, sondern auch für Tiere mit hohen intellektuellen Fähigkeiten, insbesondere Primaten. Wesen, die solche Fähigkeiten nicht haben, lässt sich kein explizites Interesse am Weiterleben zuschreiben, weshalb Singer ihre Tötung (wenn sie Leiden vermeidet) für unbedenklich hält, wenn das getötete Wesen durch ein neues Wesen mit vergleichbarem oder höherem Beitrag zum Gesamtnutzen ersetzt wird. Prinzipiell ist im Utilitarismus weder die Leidenszufügung noch das Töten von Tieren ausgeschlossen, solange der Gesamtnutzen dadurch befördert wird. Dass Singer die meisten etablierten Tiernutzungspraktiken ablehnt, liegt daran, dass das damit verbundene Leiden der Tiere den Nutzen für Menschen bei weitem überwiegt. Problematisch am Utilitarismus ist, dass er individuelle leidensfähige Wesen lediglich als Träger von verrechenbaren Interessen betrachtet, wohingegen diese nach alltäglicher Vorstellung vor Nutzenstrategien zu schützen sind Interner Link: (siehe auch den Beitrag Argumentationslinien der praktischen Philosophie). Theorie der Tierrechte Diese Vorstellung kann am besten eine Konzeption moralischer Rechte erfassen, wie sie Tom Regan entwickelt. Regan nimmt Kants Begriff der Autonomie auf, versteht ihn aber weiter, nämlich als sogenannte Präferenzautonomie. Diese besitzen nicht nur Personen, sondern alle Wesen, die Präferenzen und Wünsche haben und Handlungen in Gang setzen können, die auf die Befriedigung dieser Wünsche ausgerichtet sind. Regan bezeichnet Wesen, welche diese Form der Selbstbestimmung besitzen, als "Subjekte-eines-Lebens". Hierzu zählen für Regan nicht nur Personen, sondern alle Menschen und ebenso alle geistig ‚normal‘ entwickelten Säugetiere (außerdem Vögel und eventuell Fische) ab dem Alter von einem Jahr. Diesen Wesen kommt laut Regan ein "inhärenter" Wert zu, d. h. ein Wert, der unabhängig ist von ihrer Nützlichkeit. Der inhärente Wert ist nicht nach Höhe der Fähigkeiten abgestuft, sondern für alle Wesen mit Präferenzautonomie derselbe. Für Regan begründet die Tatsache, dass ein Wesen inhärenten Wert besitzt, ein moralisches Recht, d. h. einen Anspruch darauf, mit Rücksicht behandelt zu werden bzw. nicht instrumentalisiert zu werden. Entsprechend ist Regan der Auffassung, dass sämtliche Tiernutzungspraktiken abzulehnen sind. Ähnlich wie Singer zieht auch Regan in der Tötungsfrage ein Zusatzkriterium heran. So unterscheidet er zwischen Personen und nicht-personalen Wesen und kommt zu dem Schluss, dass für kognitiv überlegene Wesen mit einem reicheren geistigen Leben – wie Personen – der Verlust ihres Lebens einen größeren Schaden bedeutet als für nicht-personale Wesen. Daher ist in Konfliktsituationen, in denen nur entweder eine Person oder ein Tier gerettet werden kann, der Person der Vorrang zu geben. Regans Konzeption wird der wichtigen Vorstellung gerecht, dass moralischer Schutz Individuen gilt und die Form von Rechten hat, die starke Schutzzonen markieren und dadurch das Handeln moralischer Akteure einschränken. Problematisch ist jedoch die Annahme eines gleichen inhärenten Werts, welche mit Bezug auf die Tiere bisher nicht von allen geteilt wird. Teilweise wird auch die Verwendung des Rechtsbegriffs mit Bezug auf Tiere als unsinnig kritisiert, mit dem Argument, dieser Begriff sei wesentlich auf Menschen bezogen, weil nur sie die Fähigkeit zum moralischen Urteilen besitzen. (Cohen). Dagegen radikalisieren andere Autoren Regans Auffassung dahingehend, dass Tiere im Hinblick auf Gerechtigkeit in die Moral gehören (Nussbaum) oder sogar Bürgerrechte erhalten sollten (Donaldson/Kymlicka). Was sind überhaupt moralische Rechte? Heute glauben nur noch wenige, dass solche Rechte in der Realität oder von Natur aus vorgegeben sind. Ohne eine solche Annahme bedeutet ein moralisches Recht einfach, dass man aufgrund geeigneter Kriterien Gegenstand der Moralprinzipien ist (dass ein Wesen ein moralisches Recht hat, nicht verletzt zu werden, bedeutet dann, dass die Norm "Verletze niemanden!" auf es anwendbar ist). Der Begriff des Rechts ist dann genau genommen nur eine Abkürzung. Dennoch ist seine Verwendung in praktischen Zusammenhängen wichtig, weil sie den Anspruch auf rücksichtsvolle Behandlung betont. Verwenden wir den Begriff eines moralischen Rechts in diesem harmlosen Sinn, entfällt allerdings Regans Basis der Gleichheit, und es bleibt dann die Frage offen, wie man zwischen dem Anspruch des ethischen Tierschutzes und der Überzeugung vom Wert des Menschen vermitteln kann. Gleicher moralischer Status für Tiere? Wenn es moralische Normen gibt, die auf Tiere direkt anwendbar sind, dann muss man sich fragen, warum Tiere in dieser Hinsicht weniger zählen sollten als Menschen. Wenn das Verbot der Leidenszufügung auch für Tiere gilt, dann sollte man denken, dass der Schmerz eines Tiers prinzipiell dieselbe moralische Relevanz hat wie der ungefähr gleiche Schmerz eines Menschen und so zumindest dort, wo kein Konflikt zwischen dem moralischen Recht eines Menschen und dem eines Tiers vorliegt, berücksichtigt werden müsste. Warum wird er dann aber doch in vielen Fällen schwächer gewichtet? Argumentiert wird durch den Hinweis auf Unterschiede, wobei diese teils Fähigkeiten, teils Beziehungen betreffen. Wert oder Würde des Menschen: Wenn jemand aus religiösen oder anderen Gründen an einen besonderen Wert des Menschen glaubt, dann ändert das nichts daran, dass Menschen und Tiere die Leidensfähigkeit teilen. Wer glaubt, dass Tiere Mitgeschöpfe sind, müsste sehen, dass Tiere als Wesen geschaffen sind, welche auf besondere Weise schutzlos und verletzlich sind (Linzey). Vernunft, Selbstbewusstsein, Zeitbewusstsein, Moralfähigkeit des Menschen: Dass Tiere hier manche Fähigkeiten nicht haben, trifft zu, heißt aber nur, dass manche moralischen Normen auf sie gar nicht anwendbar sind. Man muss hier scharf unterscheiden zwischen "gleichen Rechten (gleichem Status)" und "Gleichbehandlung" (Dworkin). Z. B. haben Menschen mit Behinderung ein Recht auf besondere Hilfsmittel, Gesunde nicht. Diese Ungleichbehandlung bedeutet natürlich nicht, dass Gesunde einen schwächeren moralischen Status haben, sondern erklärt sich aus der Verschiedenheit der Bedürfnisse. Dass Tiere kein Recht auf Anerkennung haben, kommt also nicht daher, dass sie einen schwächeren moralischen Status haben, sondern liegt daran, dass sie kein entsprechendes Interesse haben, das man verletzen könnte. Außerdem gilt hier Singers Argument des Speziesismus. Spezielle Beziehungen: Gegen das Speziesismusargument könnte man einwenden, dass wir gegenüber Mitgliedern der eigenen Spezies, da sie uns näher stehen, stärkere Verpflichtungen haben als gegenüber Wesen anderer Arten (Becker). Daran ist richtig, dass Nähe ein moralisch relevantes Kriterium sein kann. Aber das Argument ist in vielfacher Hinsicht konfus. Nähe fällt nicht automatisch mit den Speziesgrenzen zusammen, viele Menschen fühlen zu ihrem Hund eine größere Nähe als zu einem unbekannten Menschen. Vor allem aber ist Nähe keine Minderung der Gleichheit, sondern ein Zusatzargument, das nur dann akzeptabel ist, wenn zwei Ansprüche zusammentreffen, die zu einem moralischen Konflikt führen. Wenn jemand nur ein Kind aus dem Feuer retten kann, rechtfertigt das Argument der Nähe, dass er das eigene Kind wählt, wenn ein Kind oder einen Hund, dass er das Kind wählt. Aber das Leiden, das die heutige Tiernutzung Tieren zufügt, hat nichts mit einer solchen Rettungsboot-Situation zu tun (Midgley). Anwendungsfragen Die drängendsten Anwendungsfragen, die in der Tierethik diskutiert werden, sind die Nutzung von Tieren zu Nahrungszwecken und Tierversuche. Weitere Fragen betreffen die Zulässigkeit der Jagd, des Stierkampfs, der Zirkus- und Zoohaltung sowie der Pelztierzucht. Probleme werfen auch der Umgang mit den sogenannten Kulturfolgern (Füchsen, Ratten usw.) und der Konflikt mit Wildtieren um begrenzte Ressourcen auf. Wenn eine ernsthafte ethische Berücksichtigung der Tiere das Zusprechen eines gleichen Status erfordert, dann erscheinen viele Praktiken der Tiernutzung als bedenklich. Denn dann können menschliche Interessen wie kulinarischer Genuss, ästhetische Lust, Kulturbewahrung, die eine große Bandbreite von Befriedigungsmöglichkeiten haben, nicht als Rechtfertigung dafür dienen, Tieren erhebliches Leiden in Form von Schmerzen, Angst oder Beraubung von Betätigungsmöglichkeiten und sozialen Kontakten zuzufügen, Leiden also, welches das Erreichen des Wohls unmöglich macht. Tierversuche Am ehesten könnte man dann Tierversuche für gerechtfertigt halten, weil durch sie Leiden von Menschen behoben bzw. verhindert werden soll. Aber hier liegt kein direkter Konflikt vor, weil nicht ein bestimmtes Leiden eines Tiers einem konkreten Menschen hilft, sondern Tierversuche Teil einer langfristigen Strategie sind, die nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit Möglichkeiten zur Bekämpfung von Krankheiten liefern wird. Wenn wir nicht vom Utilitarismus, sondern von individuellen Rechten ausgehen, liegt schon deswegen kein Konflikt vor, weil die Pflicht, anderen zu helfen, unbestimmt und gerade durch die Rechte der anderen Wesen, nicht Nutzenstrategien geopfert zu werden, begrenzt ist. Konsum von Tierprodukten Die Massentierhaltung in der heutigen Form, welche Tieren großes Leiden zufügt, lässt sich nicht rechtfertigen, da die Menschheit sich auch mit weniger Tierprodukten ernähren könnte. Strittig ist, ob die Nutzung und Tötung von Tieren überhaupt legitim ist. Wenn Grundlage für die Berücksichtigung der Tiere die Leidensfähigkeit ist, wie ist dann das Töten von Tieren zu bewerten? Hier müsste man zwischen Tieren mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterscheiden. Wo Tiere über hochentwickelte mentale Fähigkeiten verfügen, die es nahelegen, ihnen ein bewusstes Interesse am Weiterleben zuzuschreiben, lässt sich das Töten nicht rechtfertigen. Bei niedrigeren Tieren kann man das Töten für akzeptabel halten, wo dabei kein Leiden zugefügt wird. Aber ist nicht die dem Töten vorhergehende Haltung von Nutztieren, z. B. von Legehennen oder Milchkühen, mit großem Leiden verbunden? Faktisch ist das sicher meistens der Fall, es wäre aber zu klären, ob das grundsätzlich so sein muss. Tiere sind in ihrem Verhalten flexibel und lernfähig und nicht auf genau eine Lebensweise festgelegt. Daher kann man sich tierfreundliche Formen der Nutzung vorstellen, die es den Tieren ermöglichen, eine Form des Wohls zu realisieren. Da wir derzeit von einer solchen Tierhaltung weit entfernt sind, ist die wachsende Attraktivität der veganen Lebensweise verständlich, die nicht nur wie der Vegetarismus auf das Essen von Fleisch und Fisch verzichtet, sondern auf die Nutzung jeglicher Tierprodukte. Literatur Armstrong, Susan J. / Botzler, Richard G. (Hg.) (2008): The Animal Ethics Reader. London/New York. Balzer, Philipp / Rippe, Klaus Peter / Schaber, Peter (1998): Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Freiburg i. Br. / München. Becker, Lawrence C. (1983): The Priority of Human Interests. In: Harlan B. Miller / William Williams (Hg.): Ethics and Animals. Heidelberg, 225-238. [Dt. (Auszüge): Der Vorrang menschlicher Interessen. In: Ursula Wolf (Hg.) (2008): Texte zur Tierethik. Stuttgart, 132-149.] Bekoff, Marc / Meaney, Carron A. (Hg.) (1998): Encyclopedia of Animal Rights and Animal Welfare. Westport. Borchers, Dagmar / Luy, Jörg (Hg.) (2009): Der ethisch vertretbare Tierversuch. Kriterien und Grenzen. Paderborn. 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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-01-14T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/176364/tierethische-positionen/
Dürfen wir das Wohl und Leben der Tiere unseren Zwecken unterordnen? Oder müssen wir Tiere auf die gleiche Weise moralisch berücksichtigen wie Menschen? Jens Tuider und Ursula Wolf führen in Grundfragen der Tierethik ein.
[ "Bioethik", "Tierethik", "tierethische Positionen", "Singer", "Dworkin", "Hoerster", "Cohen", "Regan", "Kant" ]
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Menschenrechte und Islam | Menschenrechte | bpb.de
Die Menschenrechte, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen von 1948 festschreibt, erheben den Anspruch, überall auf der Welt, zu jeder Zeit und für alle Menschen gleichermaßen gültig zu sein. In den Jahren nach der Herausgabe der Erklärung mehrten sich jedoch kritische Stimmen, die in der Deklaration ein spezifisch westliches Ideal von Menschenrechten verwirklicht sahen. Neben Kritikern aus asiatischen und afrikanischen Staaten waren es vor allem muslimische Vertreter, die die Allgemeingültigkeit des Dokuments in Frage stellten. Mit der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam", herausgegeben 1981 vom Islamrat für Europa, und der "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam", 1990 veröffentlicht von der Organisation der Islamischen Konferenz, wurden zwei islamische Gegenentwürfe zur UN-Deklaration vorgelegt. Die islamischen Erklärungen stellen die Scharia, das islamische Recht, als Grundlage und Auslegungshorizont über alle anderen Rechte. In beide Erklärungen wird Kollektivrechten ein wesentlich höherer Stellenwert eingeräumt als in der Erklärung der Vereinten Nationen. Dies kann so interpretiert werden, dass das Wohl der Gemeinschaft – sei es die Familie oder die umma, die Gemeinschaft aller Muslime,– im Zweifelsfall über das individuelle Wohl zu stellen ist. Stärkung und Schutz der umma sind im Islam von hoher Bedeutung. Wie die meisten anderen Religionen erhebt der Islam den Anspruch, dass allein seine Glaubensgrundsätze wahr und befolgenswert sind. Ziel ist es daher, die Religion so weit wie möglich zu verbreiten. Zur Entstehungszeit des Islam war mit der Ausbreitung der Religion zudem ein politischer Machtanspruch verbunden. Wenn nötig, mussten dem Ziel der Stärkung der umma individuelle Ansprüche untergeordnet werden. Diese Ausfassung kommt in beiden islamischen Erklärungen deutlich zum Ausdruck und veranschaulicht die enge Verknüpfung von Politik, Recht und Religion im Islam bis heute. 7 Viele islamisch geprägte Staaten verfolgen homosexuelle Handlungen. In sieben Staaten mit Scharia-Gesetzgebung – Iran, Jemen, Mauretanien, Nigeria, Saudi-Arabien, Somalia und Sudan – sind homosexuelle Handlungen mit der Todesstrafe belegt. Quelle: The International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) Zudem betonen die islamischen Dokumente den Zusammenhang von Rechten und Pflichten. Viele Pflichten sind dabei an das Wohlergehen der Gemeinschaft geknüpft. Zu den Pflichten gehört, die Familie zu schützen und der Gemeinschaft zu dienen, kulturelles Erbe zu erhalten und individuelle Rechte wie das Recht auf Bildung oder Arbeit wahrzunehmen, um somit zum Gemeinwohl beizutragen. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – beispielsweise durch die Entscheidung, nicht zu arbeiten oder keine Familie zu gründen – gilt nach konservativ-islamischem Menschenrechtsverständnis daher nur mit Einschränkungen. Gemeinschaftsrechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft können somit die Rechte des Einzelnen schwächen. Gleichzeitig können sie dem Einzelnen Schutz geben und sein Wohlergehen stärken. So ist es für viele Muslime beispielsweise schwer verständlich, dass es in vielen westlichen Gesellschaften üblich ist, alte Menschen zur Pflege in ein Altenheim zu geben, statt sie in der Familie zu versorgen. Konflikte zwischen dem westlich und dem islamisch geprägten Menschenrechtsverständnis werden nicht nur anhand von Rechtstexten deutlich, sondern auch anhand vieler Fragen, die in Deutschland alltäglich die Medien, die Politik und mitunter die Justiz beschäftigen: Sind Männer und Frauen im Islam gleichberechtigt? Werden Muslimen und Nicht-Muslimen die gleichen Rechte zugestanden? Ist das Tragen des Kopftuchs Ausdruck von Religionsfreiheit? Entspricht eine Zwangsverheiratung der Scharia? Dabei sind dies keine abstrakten, theologischen Überlegungen – sondern konkrete Fragen, die entscheidend sind für ein friedliches Zusammenleben der Religionen und Kulturen. Für viele Nicht-Muslime ist der Begriff "Scharia" negativ besetzt: Sie verbinden damit vor allem drastische Körperstrafen oder die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Auch wenn dies Aspekte der Scharia sein können, ist sie doch viel weitreichender und vielschichtiger. Frommen Muslimen gilt sie als ein positiver Leitfaden, der ihnen in allen Lebenslagen helfen kann, islamgemäß zu handeln. So legt die Scharia zahlreiche Regeln für den Alltag fest: wann und wie das rituelle Gebet zu verrichten ist, welche Speisen und Getränke erlaubt sind, wie Muslime sich zu kleiden haben, was im Falle einer Eheschließung, im Erbfall oder bei einer Scheidung zu beachten und wie mit Angehörigen anderen Religionen umzugehen ist. Inwieweit sich Muslime an diese Vorschriften halten, hängt – wie in allen Religionen – selbstverständlich von der Frömmigkeit jedes Einzelnen ab. Was genau ist die Scharia? Die Scharia setzt sich zusammen aus dem Koran und den Überlieferungen der Taten und Aussprüche des Propheten Mohammed. Die einzelnen Überlieferungen heißen auf Arabisch hadithe. Die Gesamtheit der hadithe wird sunna, zu Deutsch "Tradition", genannt. Die Überlieferungen wurden über zwei Jahrhunderte nach Mohammeds Tod hinweg zusammengetragen. Die Scharia ist also kein Gesetzbuch, in dem einzelne Artikel und Sachverhalte genau nachgeschlagen werden können, sondern eine umfangreiche Sammlung verschiedener Texte, die zum Teil schwer verständliche oder auch widersprüchliche Aussagen enthalten. Entscheidend ist daher, wie diese Texte interpretiert werden. Im Gegensatz zu konservativen Muslimen sind liberale Vertreter durchaus der Auffassung, dass die Scharia im Lichte der heutigen Zeit neu interpretiert werden könne. Dies gilt insbesondere für Fragen, die erst in der Moderne entstanden sind – etwa, ob die Anwendung von Reproduktionsmedizin oder Gentechnologie im Islam erlaubt sei, die Nutzung des Internet oder der Besuch eines öffentlichen Schwimmbads. Auf die meisten Fragen gibt es daher keine eindeutigen Antworten. Muslime können sich mit ihren Fragen an einen islamischen Rechtsgelehrten wenden, der dann ein Rechtsgutachten, eine fatwa, erstellt. Mittlerweile gibt es auch viele fatwa-Dienste im Internet, die umfangreiche Datenbanken mit Fragen und Antworten bereithalten. Problematisch ist, dass zahlreiche Vorschriften der Scharia im Gegensatz zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stehen. Dies gilt zum einen für den Geltungsbereich der Rechte: Wie bereits erwähnt, gehen konservative Interpreten davon aus, dass die Scharia über allen anderen Rechten steht und diese beschränken kann. Das Wesensmerkmal der Unteilbarkeit der Menschenrechte wird somit verworfen. Auch der Anspruch der Egalität, das heißt, dass alle Menschen ohne Unterschied die gleichen Rechtsansprüche haben, wird durch die Scharia in Frage gestellt. Konkret zeigen sich die Unterschiede vor allem in den Bereichen der Religions- und Meinungsfreiheit, der Gleichberechtigung der Religionen sowie der Gleichstellung von Frauen und Männern. Viele liberale Muslime hingegen berufen sich auf den Grundsatz: "Es gibt keinen Zwang in der Religion" in Sure 2, 256 des Koran. Sie treten für einen Islam ein, der die Entscheidung über die Art der Religionsausübung, über die Abwendung vom Islam oder die Hinwendung zu einer anderen Religion jedem Einzelnen überlässt. Einschlägige Vorschriften der Scharia unterlaufen dieses Freiheitsgebot jedoch. Auch wenn diese drastischen Maßnahmen kaum noch Anwendung finden, sieht die Scharia für Muslime, die sich von ihrem Glauben abwenden, die Todesstrafe (für Männer) bzw. bis zu lebenslange Haftstrafen (für Frauen) vor. Muslimen und Nicht-Muslimen kommt laut Scharia eine unterschiedliche Rechtsstellung zu. In den meisten islamischen Staaten, das heißt in Staaten, deren Gesetzgebung auf der Scharia basiert, können Nicht-Muslime keine hohen Ämter in Politik oder Verwaltung einnehmen. Mitglieder der shura – ein Gremium, welches das Staatsoberhaupt berät – können nur muslimische Männer sein; Frauen und Nicht-Muslimen bleibt der Zugang verwehrt. Da im Islam die Religionszugehörigkeit des Mannes an die Kinder übergeht, dürfen muslimische Frauen keine Nicht-Muslime heiraten, muslimische Männer hingegen dürfen auch jüdische oder christliche Frauen ehelichen. Auch die Beschränkung der Meinungsfreiheit betrifft Nicht-Muslime stärker: Insbesondere die Verbreitung von Ansichten, die möglicherweise die umma schwächen könnten, sind verboten. Ein Missionsverbot lässt sich daraus ebenso ableiten wie ein Verbot kritischer Äußerungen über den Islam. Diese Rechtsbeschränkungen liegen zum Teil in der engen Verknüpfung von Religion und Politik insbesondere in der Frühzeit des Islam begründet. Die Ausbreitung der neuen Religion war an einen Machtanspruch geknüpft und die politische Gemeinschaft definierte sich über die Religion. Die Abkehr vom Islam kam daher dem Hochverrat gleich. Juden und Christen wurden als sogenannte "Schutzbefohlene" (arab. dhimmis) allerdings eine Sonderstellung eingeräumt. Sie mussten eine zusätzliche Steuer zahlen und erhielten im Gegenzug das Recht, auf islamischem Gebiet zu leben und ihre Religion sowie bestimmte Autonomierechte auszuüben. Viele Muslime zitieren heute das damalige Zusammenleben der Religionen als Beispiel für eine friedliche, multireligiöse Gesellschaft. Gleichberechtigt waren und sind Muslime und Nicht-Muslime im islamischen Recht jedoch nicht. Ebenfalls sind Männer und Frauen im islamischen Recht nicht gleichgestellt. Dem Mann wird "Vollmacht und Verantwortung" (Sure 4,34) seiner Frau gegenüber zugeschrieben. Sie muss ihm gehorchen und jederzeit – auch sexuell – zur Verfügung stehen (Sure 2,223). Gehorcht eine Frau ihrem Mann nicht, soll er sie bestrafen. Dem Mann werden auch größere Pflichten auferlegt. Ihm kommt es zu, die Familie zu ernähren. Deshalb ist für Männer auch ein größerer Erbteil vorgesehen als für Frauen. Ein Mann darf bis zu vier Frauen heiraten – eine Regel, die ursprünglich verwitweten Frauen ein Auskommen sichern sollte. Zwangsverheiratungen sind entgegen vieler anderslautender Meinungen allerdings nicht islamgemäß. Auf einen Ausspruch Mohammeds wird zurückgeführt, dass jede Frau und jeder Mann das Recht habe, einen ausgewählten Ehepartner abzulehnen. So schreibt es auch die ansonsten sehr konservative Menschenrechtserklärung des Islamrats vor. Wird eine Ehe arrangiert und sind sich beide Familien bereits einig, wird eine Ablehnung des ausgewählten Partners in der Regel jedoch als große Schande aufgefasst. Vor allem junge Frauen sind häufig so sehr zum Gehorsam erzogen, dass sie auch eine Entscheidung gegen ihren Willen mittragen. Im Islam wird die Ehe als verpflichtend angesehen. Abweichende Lebensentwürfe sind nicht vorgesehen, Homosexualität wird geächtet. In Staaten mit überwiegender Scharia-Gesetzgebung wie Jemen, Iran, Saudi-Arabien oder Teile des Sudan und Nigerias steht auf homosexuelle Handlungen die Todesstrafe. Andere islamische Staaten wie Pakistan, Ägypten oder Marokko sehen Haftstrafen vor. In Ländern wie der Türkei oder Jordanien – die zwar islamisch geprägt sind, das staatliche Recht jedoch nicht auf der Scharia basiert – steht Homosexualität nicht unter Strafe. Sie wird dennoch von vielen Familien und weiten Teilen der Gesellschaft verfemt. Bekennenden Schwulen und Lesben droht nicht selten der Verlust des Arbeitsplatzes, der Bruch mit der Familie oder gar Verfolgung und körperliche Bedrohung. Gegen allen Widerstand ist in den vergangenen Jahren der Protest der Betroffenen jedoch lauter geworden und Schwule und Lesben in islamischen Ländern organisieren sich zunehmend, um für ihre Rechte zu kämpfen. Generell verbietet der Islam Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe. In konservativ-islamischen Gesellschaften wie in Afghanistan, in Saudi-Arabien, dem Jemen oder dem Iran, aber auch in traditionell geprägten Teilen der ansonsten sehr modernen Türkei wird daher auf die Trennung der Geschlechter großen Wert gelegt. Auch in Deutschland führt dies immer wieder zu Problemen, z. B. wenn muslimische Familien ihren Töchtern verbieten, an Klassenfahrten oder am Sport- oder Schwimmunterricht teilzunehmen, um ihre Kinder vor "unkeuschem" Verhalten zu bewahren. Ob der Islam die Frauen verpflichtet ein Kopftuch zu tragen, ist hingegen auch unter muslimischen Experten umstritten. Im Koran steht, Frauen sollen "ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen" (Sure 24,31). An anderer Stelle heißt es, sie sollen "etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen" (Sure 33,59). Diese Textstellen können sehr unterschiedlich interpretiert werden – von strenger Ganzkörperverhüllung bis hin zu der liberalen Auffassung, Frauen sollten lediglich ihren Schambereich und ihre Brüste bedecken. Zu "keuschem" Verhalten fordert der Koran im Übrigen auch die Männer auf: "Sprich zu den gläubigen Männern, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren" (Sure 24, 30). In der Praxis sind es jedoch in erster Linie Mädchen und Frauen, die in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, damit ihre "Reinheit" und somit die Ehre der Familie nicht gefährdet werde. Heute treten zahlreiche Muslime nicht nur für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Islam ein, sondern für die Anerkennung der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit. Sie argumentieren, dass Menschenrechte und Islam keinen Gegensatz darstellten, sondern die Scharia – zeitgenössisch interpretiert – mit den Menschenrechten durchaus vereinbar sei. Diese moderne Koranauslegung ruft den Widerstand konservativer Theologen hervor, die der Auffassung sind, dass der Koran Gottes authentisches Wort und somit für alle Zeiten unveränderbar gültig sei. Im Hinblick auf Frauenrechte argumentieren moderne Theologinnen und Theologen, dass mit dem Einzug des Islam – gemessen an den damaligen Verhältnissen – sehr fortschrittliche Rechte für Frauen festgelegt worden seien, vor allem indem ihnen eine eigene Rechtspersönlichkeit zugestanden wurde. Dieser koranische Auftrag – die Stärkung der Frauenrechte – müsse daher in der heutigen Zeit mit angemessenen Mitteln fortgeführt werden. Es sei also gerade nicht islamkonform, so die Sicht vieler progressiver islamischer Theologinnen und Theologen, Mädchen und Frauen zu unterdrücken und ihre Rechte zu beschneiden. Vielmehr sei es im Sinne des Islam, Frauenrechte, allen voran das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Bildung sowie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, zu schützen und zu fördern.
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Anne Duncker
2021-12-07T00:00:00
2011-11-03T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38719/menschenrechte-und-islam/
Ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein westliches Ideal von Menschenrechten verwirklicht? Vor allem Vertreter muslimischer Länder und Organisationen stellen die Allgemeingültigkeit des Dokuments in Frage. Die islamischen Erklärungen
[ "Menschenrechte", "Islam", "islamisches Recht", "Scharia" ]
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Was tun mit Deutschlands "IS"-Terroristen?5 x 10-20 Minuten, ProSieben, 2022 Interner Link: Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor59 Minuten, NDR, 2019 Interner Link: Der Gefährder – Ein Islamist packt aus44 Minuten, phoenix, 2018 Interner Link: Tracing Addai30 Minuten, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 1.2 Prävention, Radikalisierung & Islamismus Interner Link: Mechelen. Wie ein belgischer Bürgermeister gegen Extremismus vorgeht37 Minuten, Der Standard, 2021 Interner Link: Dokumentation zur Präventionspraxis in Deutschland35 Minuten, mobyDOK, 2019 Interner Link: Salafismus im Kinderzimmer20 Minuten, BR24, 2018 Interner Link: Allahs deutsche Schwerter27 Minuten, Landeszentrale für politische Bildung NRW, 2012 1.3 Dschihadismus, Terrorismus & der "Islamische Staat" Interner Link: Gefangen vom "Islamischen Staat": Jesidin Jihan überlebt Genozid18 Minuten, funk: TRU DOKU, 2022 Interner Link: Das Geschäft mit dem Terror. Geheimdienste und der Dschihad60 Minuten, Hessischer Rundfunk, 2022 Interner Link: Anschlag Breitscheidplatz – Neue Spuren3 x 31-38 Minuten, rbb, 2022 Interner Link: 13. November: Angriff auf Paris3 x 47-58 Minuten, Gedeon und Jules Naudet, 2018 Interner Link: Life Inside Islamic State17 Minuten, BBC Radio 4, 2017 1.1 Portraits von radikalisierten Menschen und ihren Angehörigen Deutsche im Dschihad. Kämpfen für Allah 44 Minuten, ZDF, 2022 Über 1.150 deutsche Bürgerinnen und Bürger haben sich in den vergangenen Jahren dem "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak angeschlossen. Die Dokumentation erzählt von den (ehemaligen) "IS"-Mitgliedern, ihrem Leben bei der Terrororganisation und ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik. Verfügbar auf Externer Link: zdf.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Leonora M. – Einmal IS-Terror und zurück 3x 30-40 Minuten, NDR, 2022 Mit 15 Jahren schließt sich Leonora M. der Terrororganisation "Islamischer Staat" in Syrien an und lebt dort sieben Jahre lang mit einem Dschihadisten zusammen. Die dreiteilige Reportage erzählt von den Erlebnissen der jungen Frau beim "IS" und dem jahrelangen Kampf ihres Vaters, seine Tochter zurückzuholen. Wie ist Leonora die Rückkehr gelungen, wie funktioniert ein Neuanfang in Deutschland? Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Erbe des Dschihad. Was tun mit Deutschlands "IS"-Terroristen? 5 x 10-20 Minuten, ProSieben, 2022 Wie kommt ein 19-jähriger Deutscher dazu, sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" anzuschließen? Warum tut sich Deutschland so schwer, ehemalige Angehörige des "IS" zurückzuholen? Um diese Fragen zu klären, reist Journalist Thilo Mischke nach Syrien. Mit dabei: die Großmutter eines deutschen "IS"-Kämpfers, die ihren Enkel wiederfinden will. Ganze Folge verfügbar auf Externer Link: prosieben.de Teil 1 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 2 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 3 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 4 verfügbar auf Externer Link: youtube.com Teil 5 verfügbar auf Externer Link: youtube.com In der Talkshow "Zervakis & Opdenhövel" spricht Mischke über die Dreharbeiten und deren Nachwirkungen. Zum Talk mit Zervakis & Opdenhövel auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Leonora – Wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor 59 Minuten, NDR, 2019 Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten Vater und Tochter Kontakt. Verfügbar auf Externer Link: ndr.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Gefährder – Ein Islamist packt aus 44 Minuten, phoenix, 2018 Eren R. gilt bei Sicherheitsbehörden als potenzieller Attentäter. In der Dokumentation spricht er über seinen Lebensweg. Er berichtet, wie er als Mitglied einer kriminellen Bande in die islamistische Szene hineinkam und Geld für den islamistischen Kampf beschaffte. Er saß mehrfach im Gefängnis, dennoch arbeitete er für Sicherheitsfirmen bei großen Veranstaltungen. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Tracing Addai 30 Minuten, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, 2018 Der Dokumentarfilm "Tracing Addai" zeichnet die letzten Spuren des 21-jährigen Deutschen Addai nach, der sich einer salafistischen Vereinigung anschließt und im Syrienkrieg unter mysteriösen Umständen mutmaßlich ums Leben kommt. Mit seiner dokumentarischen Erzählung rekonstruiert der Film fragmentarisch die letzten Monate eines jungen Mannes, dessen Weg ohne Wiederkehr über eine islamistische Gruppe nach Syrien führte und lässt ihn durch animierte szenische Bilder noch einmal lebendig werden. Pädagogische Begleitmaterialien machen den Film für Lernkontexte ideal einsetzbar. Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite 1.2 Prävention, Radikalisierung & Islamismus Mechelen. Wie ein belgischer Bürgermeister gegen Extremismus vorgeht 37 Minuten, Der Standard, 2021 Von der unsichersten Stadt Belgiens zum Vorzeigemodell für Integration und Extremismusprävention – dank Bart Somers hat die Stadt Mechelen diesen Wandel geschafft. Für ein Porträt hat sich die österreichische Tageszeitung Der Standard mit dem langjährigen Bürgermeister getroffen, um mehr über sein Erfolgsrezept zu erfahren: Wie lässt sich Integration in einer multikulturellen Stadt wie Mechelen fördern? Und welche seiner Strategien haben sich in der Extremismusprävention bewährt? Verfügbar auf Externer Link: derstandard.at Interner Link: Zum Anfang der Seite Dokumentation zur Präventionspraxis in Deutschland 35 Minuten, mobyDOK, 2019 Im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden zahlreiche Präventionsprojekte gefördert. Im Dokumentarfilm berichten Präventionsakteure von ihrer Arbeit. Eine Web-Dokumentation bietet Hintergründe zum Film. In Animationen werden ausschnitthaft Szenen wiedergegeben, die das Filmteam während der Reise durch Deutschland erlebt hat. Verfügbar auf der Externer Link: Dokumentations-Website projekt-praevention.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus im Kinderzimmer 20 Minuten, BR24, 2018 Der Beitrag des BR-Politmagazins "kontrovers" beschäftigt sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der salafistischen Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen. Die Journalistinnen und Journalisten sprechen mit Verantwortlichen der "Beratungsstelle Radikalisierung" beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie beim LKA Bayern. Sie berichten über die bayerischen Präventionsprojekte "MotherSchools" und "ReThink". Sie reden mit der Mutter eines Salafisten über die salafistische Erziehung ihrer Enkelkinder und versuchen – vergeblich – mit salafistischen Moscheen Kontakt zu diesem Thema aufzunehmen. Verfügbar auf Externer Link: br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Allahs deutsche Schwerter 27 Minuten, Landeszentrale für politische Bildung NRW, 2012 Die Dokumentation zeigt ein weites Spektrum an Islamisten in Deutschland: Von strenggläubigen Salafisten über die Sauerland-Gruppe, die konkrete Anschläge plante, bis zu Pierre Vogel, dem einflussreichsten deutschen Konvertiten und Hassprediger. Ein Aussteiger berichtet über Ziele und Methoden der salafistischen Szene. Auch die moderatere, vom Verfassungsschutz beobachtete Vereinigung "Millî Görüş" ist Thema. Verfügbar auf Externer Link: politische-bildung.nrw.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 1.3 Dschihadismus, Terrorismus & der "Islamische Staat" Gefangen vom "Islamischen Staat": Jesidin Jihan überlebt Genozid 18 Minuten, funk: TRU DOKU, 2019 Die Reportage erzählt die Geschichte der 18-jährigen Jihan. Die Jesidin überlebt 2014 die Gefangenschaft des sogenannten Islamischen Staates in Syrien. Sie und ihre Familie werden von "IS"-Kämpfern entführt, versklavt und zum Teil vergewaltigt. Jihan konnte entkommen, doch bis heute weiß sie nicht, was mit ihrem Vater und allen Geschwistern passiert ist. Triggerwarnung: Im Video geht es um Krieg und sexualisierte Gewalt. Das kann belastend oder retraumatisierend sein. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Geschäft mit dem Terror. Geheimdienste und der Dschihad 60 Minuten, Hessischer Rundfunk, 2022 Wer steht hinter den islamistischen Terroristinnen und Terroristen, die Europa angreifen? Wer plant, beauftragt und finanziert die Anschläge? Die Dokumentation forscht nach den Hintergrundakteuren, die die Terroranschläge der vergangenen Jahre initiierten und koordinierten. Die Spuren führen zum pakistanischen Geheimdienst ISI. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Anschlag Breitscheidplatz – Neue Spuren 3 x 31-38 Minuten, rbb, 2022 Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Journalisten des rbb sprechen für die Video-Serie mit Opfern, Ermittlungsbehörden und Vertrauten des Täters Anis Amri und gehen neuen Spuren nach, um die Hintergründe der Tat aufzuarbeiten. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 13. November: Angriff auf Paris 3 x 47-58 Minuten, Gedeon und Jules Naudet, 2018 Die dokumentarische Mini-Serie "13. November: Angriff auf Paris" ist auf Netflix verfügbar. In drei Episoden zeichnet sie die Geschehnisse der Pariser Terroranschläge im November 2015 nach und erzählt die Geschichten von Überlebenden, Feuerwehr, Polizei und Regierung. Das sei "atemlos spannend", so Spiegel.de. Allerdings wird auch kritisiert, dass die Serie traumatische Erlebnisse funktionalisiere und daraus Unterhaltungsware mache. Verfügbar auf Externer Link: netflix.com (kostenpflichtiges Abo notwendig) Interner Link: Zum Anfang der Seite Life Inside Islamic State 17 Minuten, BBC Radio 4, 2017 In einer animierten Kurzdokumentation berichtet ein Aktivist, der sich gegen den "IS" einsetzt, aus Raqqa vom Horror des alltäglichen Lebens unter der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats. Für die Dokumentation stand BBC Radio 4 Korrespondent Mike Thomson in sporadischem Kontakt mit dem Aktivisten, der ihm tagebuchartige Aufzeichnungen übermittelte. Verfügbar auf Externer Link: vimeo.com Interner Link: Zum Anfang der Seite 2. Spielfilme und Serien Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Black Crows30 x 30 Minuten, Leen Fares, 2017 Interner Link: Der Himmel wird warten1 Stunde und 55 Minuten, Neue Visionen Filmverleih, 2016 Black Crows 30 x 30 Minuten, Leen Fares, 2017 Auf Netflix ist die fiktive Serie "Black Crows" verfügbar, die das tägliche Leben unter der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats darstellt. Dabei spielen Frauen zentrale Rollen, wie eine jesidische Sklavin, eine Undercover-Reporterin und eine Mutter, die den "IS" unterstützt. Auch die Ausbildung von Kindern zu Kämpfern wird nacherzählt. Produziert wurde die 30-teilige Serie vom Sender MBC, der seinen Hauptsitz in Dubai hat. Laut kino.de stützt sich die Serie inhaltlich auf Berichte von Augenzeugen, die den Terror überlebt haben oder früher selbst "IS"-Anhänger waren. Verfügbar auf Externer Link: netflix.com (kostenpflichtiges Abo notwendig) Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Himmel wird warten 1 Stunde und 55 Minuten, Neue Visionen Filmverleih, 2016 Was bringt junge Frauen in Europa dazu, sich dem Dschihad anzuschließen? Und wie können sie den Weg zurück in unsere Gesellschaft finden? Diesen Fragen geht das Spielfilmdrama "Der Himmel wird warten" nach. Die Geschichten der Protagonistinnen Mélanie und Sonia beschreiben eine Entwicklung in entgegengesetzte Richtungen: den Weg von der Normalität in die Radikalisierung und umgekehrt. Dabei werden die einzelnen Stufen von Mélanies Radikalisierungsprozess ebenso detailliert nachgezeichnet wie die schrittweisen Erfolge, die Sonia durch die Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm und die Unterstützung ihrer Eltern erlebt. Begleitend zu dem Film stellt die bpb Arbeitsaufgaben zur Verfügung. Neben diesen Unterrichtsmaterialien gibt es auch eine Filmbesprechung, themenbezogene Hintergrundtexte sowie ein Interview mit Pierre Asisi, einem Präventionsexperten von ufuq.de. Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite 3. Erklärvideos Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Radikalisierung hat kein Geschlecht11 x 11-20 Minuten, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Interner Link: Forschungsprojekt "Gesellschaft Extrem"6 x 6-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2018 Interner Link: Radikalisierung von Muslimen19 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Interner Link: Strategien gegen Radikalisierung20 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Interner Link: Forschungsprojekt "Salafismus in Deutschland"6 x 7-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2016 Interner Link: Was ist Salafismus?12 Minuten, Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013 Radikalisierung hat kein Geschlecht 11 x 11-20 Minuten, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 2022 Wie hängen Geschlecht und Radikalisierung zusammen? Wie beeinflussen Geschlechterklischees die Wahrnehmung von Radikalisierung? Und wie geht geschlechtersensible Präventionsarbeit? Die Videoreihe erklärt Begriffe, thematisiert Vorurteile und beleuchtet praktische Präventionsansätze in Bezug auf Gender und Extremismus phänomenübergreifend. Neben den Videos werden Infomaterialien und Plakate zur Verfügung gestellt. Verfügbar auf Externer Link: stmas.bayern.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Forschungsprojekt "Gesellschaft Extrem" 6 x 6-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2018 In sechs kurzen Videos erläutern Fachleute die zentralen Thesen sowie die wichtigsten Handlungsoptionen ihrer Forschungsprojekte. Die Expertinnen und Experten sind Teil des vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) koordinierten Forschungsprojekts "Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland". Die Themen: Radikalisierung von Individuen Brücken-Narrative Radikalisierung der Gesellschaft? Herausforderung Deradikalisierung Die Rolle des Internets und sozialer Medien für Radikalisierung und Deradikalisierung Evaluation in der Extremismusprävention Verfügbar auf Externer Link: gesellschaftextrem.hsfk.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung von Muslimen 19 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Viele der Tatbeteiligten der Anschläge in Paris und Brüssel sind in Frankreich und Belgien aufgewachsen und haben sich dort radikalisiert. Auch in Deutschland radikalisieren sich junge Musliminnen und Muslime. Für die Gesellschaft ist das eine enorme Herausforderung. Fachleute beantworten unter anderem diese Fragen: Wer radikalisiert sich, und warum? Ist das vergleichbar mit anderen Extremismen? Und welche Rolle spielt dabei der Islam? Die Interviewten: Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (Professor für Islamische Religionspädagogik, Universität Münster), Ahmad Mansour (Psychologe, European Foundation for Democracy), Prof. Dr. Christine Schirrmacher (Islamwissenschaftlerin, Universität Bonn), Dr. Guido Steinberg (Islamwissenschaftler, Stiftung Wissenschaft und Politik), Dr. Marwan Abou Taam (Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz) Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite Strategien gegen Radikalisierung 20 Minuten, Bundeszentrale für politische Bildung, 2017 Wie kann man gegen die Radikalisierung junger Menschen vorgehen? Fünf Fachleute legen im Erklärfilm dar, wie Gesellschaft und Sicherheitsbehörden dieser Herausforderung begegnen können. Sie beantworten unter anderem diese Fragen: Wo kann Präventionsarbeit ansetzen, um Radikalisierung zu verhindern? Welche Rolle kann islamischer Religionsunterricht spielen? Wie kann Deradikalisierung gelingen? Welche Sicherheitsmaßnahmen sind sinnvoll? Die Interviewten: Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (Professor für Islamische Religionspädagogik, Universität Münster), Ahmad Mansour (Psychologe, European Foundation for Democracy), Prof. Dr. Christine Schirrmacher (Islamwissenschaftlerin, Universität Bonn), Dr. Guido Steinberg (Islamwissenschaftler, Stiftung Wissenschaft und Politik), Dr. Marwan Abou Taam (Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz) Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite Forschungsprojekt "Salafismus in Deutschland" 6 x 7-10 Minuten, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2016 Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung hat im Rahmen des Forschungsprojekts "Salafismus in Deutschland" eine Reihe von Video-Beiträgen online veröffentlicht. Die sechs Reports sollen einen differenzierten Blick auf Salafismus und Dschihadismus in Deutschland bieten. In maximal zehn Minuten vermitteln Fachleute die wichtigsten Grundlagen und stellen aktuelle Trends sowie Handlungsempfehlungen vor. Themen sind unter anderem die Organisation und Anwerbungspraxis der salafistischen Bewegung, die Motivationen und Karrieren von Dschihadisten, mögliche Gegennarrative und Ansätze für Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Verfügbar auf Externer Link: salafismus.hsfk.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Was ist Salafismus? 12 Minuten, Arte/Bundeszentrale für politische Bildung, 2013 In dieser Folge der Arte-Sendung "Mit offenen Karten" wird erklärt, was es mit der fundamentalistischen Doktrin des Salafismus auf sich hat. Es wird beschrieben, worum es sich bei dieser sich westlichen Einflüssen verschließenden, ultrakonservativen Strömung des Islam handelt. Darüber hinaus wird die Entwicklung des Salafismus nach den Protesten in der arabischen Welt, bei denen in Nordafrika neue politische Freiräume entstanden sind, untersucht. Verfügbar in der Interner Link: Mediathek der bpb Interner Link: Zum Anfang der Seite 4. Kurzbeiträge Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Gaming und Extremismus: Verfassungsschutz Niedersachsen nimmt Online-Plattformen ins Visier4 Minuten, Sat.1 Regional, 2021 Interner Link: Antisemitismus in islamischen Verbänden8 Minuten, ZDF frontal, 2021 Interner Link: Angeworben im Netz der Dschihadisten9 Minuten, NDR Panorama 3, 2016 Gaming und Extremismus: Verfassungsschutz Niedersachsen nimmt Online-Plattformen ins Visier 4 Minuten, Sat.1 Regional, 2021 Online-Gaming-Plattformen werden von Extremistinnen und Extremisten zur Rekrutierung genutzt. Laut dem niedersächsischen Verfassungsschutz können hier extremistische Aussagen gut "versteckt" platziert werden. Der Verfassungsschutz Niedersachen will daher zukünftig virtuelle Netzwerke und die dortigen Aktivitäten verstärkt ins Visier nehmen – ohne die Gaming-Szene dabei zu stigmatisieren. Verfügbar auf Externer Link: sat1regional.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Antisemitismus in islamischen Verbänden 8 Minuten, ZDF frontal, 2021 Antisemitismus durch Musliminnen und Muslime ist ein zunehmendes Problem in Deutschland, berichtet das ZDF-Magazin frontal. Jüdische Einrichtungen und ihre Mitglieder seien in den letzten Monaten vermehrt mit Angriffen durch Musliminnen und Muslime konfrontiert. Der wieder entfachte Nahostkonflikt führe dazu, dass jüdische Menschen auf Demonstrationen und in sozialen Netzwerken angefeindet würden. Einige islamische Verbände spielten in der Auseinandersetzung eine entscheidende Rolle, heißt es in dem Beitrag. Verfügbar auf Externer Link: zdf.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Angeworben im Netz der Dschihadisten 9 Minuten, NDR Panorama 3, 2016 Wie geraten junge Menschen in Deutschland in die Fänge von Dschihadisten? Wie läuft die Anwerbung im Internet tatsächlich ab? Wie werden aus Jugendlichen Kämpfer? Eine Panorama 3-Autorin nimmt im Selbstversuch Kontakt zu radikalen Salafisten auf. Verfügbar auf Externer Link: ardmediathek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 5. Gespräche mit Fachleuten Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Diskurse über muslimische Menschen in Deutschland16 Minuten, ufuq.de, 2022 Interner Link: Dschihadismus im Wandel?30 Minuten, ARD: alpha-demokratie, 2022 Interner Link: Der Nahostkonflikt im Unterricht13 Minuten, ufuq.de, 2022 Interner Link: Deutsch-französische Perspektiven zu Islamismus und Rechtsextremismus23 Minuten, France Fraternités & ufuq.de, 2022 Interner Link: Kampf gegen Islamismus – Frankreich zwischen Terror und Polizeigewalt?43 Minuten, Deutsche Welle, 2021 Interner Link: Zwischen rechter Instrumentalisierung und linkem Schweigen: Können wir keine Islamismus-Kritik?108 Minuten, Bildungsstätte Anne Frank: "StreitBar", 2021 Interner Link: Anwerbungstaktiken auf Gaming-Plattformen30 Minuten, Radicalisation Awareness Network, 2021 Interner Link: Aladin El-Mafaalani beim ufuq-Couch Talk: Integrations-Paradox10 Minuten, ufuq.de, 2019 Interner Link: Debatte mit Behnam Said und Götz Nordbruch: Islamistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann63 Minuten, sagwas.net, 2017 Interner Link: Erin Marie Saltman: How young people join violent extremist groups — and how to stop them63 Minuten, TED, 2016 Diskurse über muslimische Menschen in Deutschland 16 Minuten, ufuq.de, 2022 Warum wird in Deutschland und Europa so viel über Musliminnen und Muslime gesprochen? Welche Funktion erfüllen solche "Diskursexplosionen" und wie werden sie von historischen Islamdebatten beeinflusst? Diesen und weiteren Fragen widmet sich ein Fachgespräch von ufuq.de. Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami analysiert aktuelle Debatten und erklärt, warum es wichtig ist, Rassismus in Verbindung mit Religion und Säkularismus zu betrachten. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Dschihadismus im Wandel? 30 Minuten, ARD: alpha-demokratie, 2022 Im Sommer 2021 konnten die Taliban weite Teile Afghanistans einnehmen. Wird das den Dschihadismus international stärken? Wie anpassungsfähig ist er und welche Rolle spielen soziale Medien? Für alpha-demokratie sprach Vera Cornette mit Dr. Guido Steinberg. Der Islamwissenschaftler arbeitet und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und ist Experte für islamistischen Terrorismus. Verfügbar auf Externer Link: br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Nahostkonflikt im Unterricht 13 Minuten, ufuq.de, 2022 Wie kann man den Nahostkonflikt erfolgreich im Unterricht thematisieren? Darüber spricht Mehmet Can im "ufuq Couch Talk". Er ist Lehrer an einer Berliner Schule und hat gemeinsam mit Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern eine Reise nach Israel und Palästina unternommen. Außerdem hat er eine "Jerusalem AG" ins Leben gerufen und einen Comic zum Thema herausgebracht. Im Gespräch mit Sakina Abushi von ufuq.de erzählt er von seinen Erfahrungen und gibt Tipps für die Praxis. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Deutsch-französische Perspektiven zu Islamismus und Rechtsextremismus 23 Minuten, France Fraternités & ufuq.de, 2022 Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen Islamismus und Rechtsextremismus in Deutschland und Frankreich? Wie lassen sich die Erkenntnisse für die Radikalisierungsprävention nutzen? Diesen und weiteren Fragen geht der Film von ufuq.de und France Fraternités nach. Den Ausgangspunkt bilden Gespräche mit deutschen und französischen Fachkräften aus Präventionspraxis und Wissenschaft. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Kampf gegen Islamismus – Frankreich zwischen Terror und Polizeigewalt? 43 Minuten, Deutsche Welle, 2021 In dieser Ausgabe von "Auf den Punkt" wird diskutiert über die Absichten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, radikale Moscheen überwachen zu lassen und ein umstrittenes Gesetz gegen Islamistischen Separatismus durchzusetzen. Journalistin Hélène Kohl, Terrorexperte Raphael Bossong (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Soziologin Yasemin Ural (Universität Leipzig) sind zu Gast; Hajo Schumacher moderiert. Verfügbar auf Externer Link: dw.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Zwischen rechter Instrumentalisierung und linkem Schweigen: Können wir keine Islamismus-Kritik? 108 Minuten, Bildungsstätte Anne Frank: "Streitbar", 2021 Der politischen Linken wird häufig vorgeworden, zu islamistischer Gewalt zu schweigen. Stimmt das? In der "StreitBar" diskutieren Kevin Kühnert und Saba-Nur Cheema unter anderem über die Instrumentalisierung von Opfern islamistischer Gewalt durch das rechte Spektrum sowie die Reaktion der Linken. Außerdem steht die Frage im Raum, wie rassismusfreie Kritik geübt und Islamismus trotzdem angeprangert werden kann. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Anwerbungstaktiken auf Gaming-Plattformen 30 Minuten, Radicalisation Awareness Network, 2021 Mit welchem Taktiken werben Extremisten junge Menschen auf Gaming-Plattformen an? Jordy Nijenhuis und Veera Tuomala sprechen mit Expertinnen und Experten über ihre Erfahrungen in der Praxis. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Aladin El-Mafaalani beim ufuq-Couch Talk: Integrations-Paradox 10 Minuten, ufuq.de, 2019 In der ersten Folge des "Couch Talks" von ufuq.de spricht Aladin El-Mafaalani über seine Thesen vom "Integrations-Paradox": Demnach führt gelungene Integration zu mehr Konflikten. Im Video geht es darum, was dies für die praktische Arbeit mit Jugendlichen bedeutet, wie Lehrkräfte mit Konflikten in der Klasse umgehen können – und mit der Debatte darüber, ob "der Islam" zu Deutschland gehört. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Debatte mit Behnam Said und Götz Nordbruch: Islamistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann 63 Minuten, sagwas.net, 2017 Eine Online-Live-Debatte des Projekts sagwas.net hat sich im Dezember 2017 mit aktuellen Entwicklungen in Bezug auf islamistische Radikalisierung sowie Prävention von Radikalisierung in Deutschland beschäftigt. Dazu hat die Friedrich-Ebert-Stiftung Dr. Götz Nordbruch (Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus) und Dr. Behnam Said (Islamwissenschaftler und Mitarbeiter beim Verfassungsschutz Hamburg) eingeladen, die in einem einstündigen Gespräch die Fragen der Online-Community beantworteten. Verfügbar auf Externer Link: sagwas.net Interner Link: Zum Anfang der Seite Erin Marie Saltman: How young people join violent extremist groups — and how to stop them 63 Minuten, TED, 2016 Erin Marie Saltman ist bei Facebook für Counterterrorism Policy verantwortlich. In ihrem Vortrag spricht sie über Push- und Pull-Faktoren, die dazu führen, dass sich Menschen extremistischen Gruppen anschließen. Außerdem stellt sie innovative Maßnahmen zur Prävention und zur Begegnung von Radikalisierung vor – wie das "One to One"-Programm des Londoner Think Tanks "Institute for Strategic Dialogue". In dem Programm werden zunächst auf Facebook Nutzer/-innen identifiziert, die extremistische Gedanken äußern. Anschließend werden diese mit dem Ziel der Deradikalisierung von ehemaligen Extremisten kontaktiert. Verfügbar auf Externer Link: ted.com Interner Link: Zum Anfang der Seite 6. Präventionsprojekte Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Webvideo-Projekt: Jamal al-Khatib18 x 2-9 Minuten, TURN und bpb, 2017-2020 Interner Link: Webvideo-Projekt: Say My Name15 x 5-25 Minuten, Kooperative Berlin und bpb, 2019 & 2020 Interner Link: Webvideo-Projekt: Reflect Your Past3 x 23-27 Minuten, endemol und bpb, 2019 Interner Link: Junge Muslime gegen Antisemitismus15 Minuten, Jungs e. V., 2019 Webvideo-Projekt: Jamal al-Khatib 18 x 2-9 Minuten, TURN und bpb, 2017-2020 Der Impuls für "Jamal al-Khatib – Mein Weg" ging von einem inhaftierten Jugendlichen aus. Nach seinem Ausstieg aus der dschihadistischen Szene wollte er sich dafür einsetzen, andere Jugendliche davor zu bewahren, die gleichen Fehler zu begehen. Die erste Staffel ist bereits 2017 erschienen, die dritte Staffel ist im April 2020 gestartet. Die Videos sind auf Facebook, Instagram und YouTube verfügbar. Auf bpb.de gibt es eine Themenseite zum Projekt mit den bereits veröffentlichten Videos und umfangreichen Hintergrundinformationen. Verfügbar auf Externer Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Webvideo-Projekt: Say My Name 15 x 5-25 Minuten, Kooperative Berlin und bpb, 2019 und 2020 Das Webvideoprojekt "Say My Name" richtet sich an Frauen und behandelt die Themenkomplexe Zusammenleben, Integration und Identifikation. "Say My Name" arbeitet mit jungen diversen YouTuberinnen beziehungsweise Creatorinnen zusammen, die sich gegen alle Formen von Extremismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Hassrede einsetzen. Die Creatorinnen berichten in ihren Videos über eigene Erfahrungen oder sprechen mit Menschen, die weitere Sichtweisen auf die Themen werfen. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Webvideo-Projekt: Reflect Your Past 3 x 23-27 Minuten, endemol und bpb, 2019 Die Webvideoreihe "Reflect Your Past" veranschaulicht Radikalisierungsprozesse anhand von Lebensgeschichten. Die YouTuberinnen und YouTuber Nihan, Cheng Loew und Diana zur Löwen treffen Aussteigerinnen und Aussteiger aus verschiedenen extremistischen Bereichen. Darunter ist auch der ehemalige Salafist Dominic Schmitz, der von seinem Weg in den Salafismus und seinem Ausstieg berichtet. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Junge Muslime gegen Antisemitismus 15 Minuten, Jungs e. V., 2019 Im Projekt "Junge Muslime in Auschwitz" des Trägers Jungs e. V. werden jährlich Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz für Jugendliche in Duisburg organisiert. Anschließend entwickeln die Teilnehmenden Theaterstücke und Videos. Damit möchten sie sensibilisieren und junge Menschen zum Nachdenken bringen. Sie möchten den online kursierenden antisemitischen Videos, die täglich von Jugendlichen konsumiert und für "die Wahrheit" gehalten werden eine andere Position entgegenstellen. Die Zielgruppe sind Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren. Der Kurzfilm enthält mehrere Episoden zum Thema und ist insgesamt 15 Minuten lang. Verfügbar auf Externer Link: youtube.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-09-05T00:00:00
2020-04-03T00:00:00
2022-09-05T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/infodienst/307406/video-dokumentationen-filme-erklaervideos/
Die Videos berichten über Islamismus und Präventionsarbeit sowie über den "IS". Sie erklären, was Salafismus ist, und zeichnen Geschichten von Menschen nach, die sich radikalisiert haben.
[ "Islamismus", "Radikalisierung", "Extremismus", "Prävention", "Dokumentationen", "Reportagen", "Filme" ]
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Aktuelle Entwicklungen | Italien | bpb.de
1991 sah sich Italien erstmals mit einer Form von 'Massenzuwanderung' konfrontiert. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Albanien landeten am 7. März und am 8. August, also an nur zwei Tagen, rund 50.000 albanische Flüchtlinge an der Küste von Apulien. Die Bilder dieses Ereignisses, die von den Medien verbreitet wurden, erweckten den Anschein einer 'Invasion' und schürten in der italienischen Öffentlichkeit Ängste und Vorbehalte gegenüber Zuwanderung. 25.000 Albaner wurden in ihr Heimatland zurückgeschickt. Die Zuwanderung aus Albanien riss jedoch nicht ab. Seit 1997 zählen albanische Staatsangehörige zu den zwei größten Migrantengruppen in Italien. Alleine zwischen 2003 und 2004 nahm ihre Zahl um 40% zu. Insgesamt ist die Zuwanderung aus Osteuropa in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen, wodurch sich auch die Zusammensetzung der Einwandererbevölkerung in Italien stark verändert hat. Am auffälligsten ist dabei die wachsende Zahl rumänischer und ukrainischer Staatsangehöriger (vgl. Tabelle 2). Zwischen 2003 und 2004, also in nur einem Jahr, nahm die Zahl rumänischer Einwanderer um 140% zu, in den drei darauffolgenden Jahren stellten sie die größte Migrantengruppe in Italien. Auch die Zahl der in Italien lebenden ukrainischen Staatsangehörigen stieg deutlich an, von 15.000 im Jahr 2003 auf 117.000 im Jahr 2004 – ein Zuwachs um 700% in nur einem Jahr. Diese Entwicklung kann auch auf die Legalisierung einer großen Zahl irregulärer Migranten im Jahr 2002/2003 zurück geführt werden (vgl. 'Irreguläre Migration'). Neben der steigenden Präsenz von Zuwanderern aus Osteuropa hat auch die Zuwanderung aus China in den letzten Jahren entscheidend an Bedeutung gewonnen (vgl. Tabelle 2). In den letzten dreißig Jahren hat sich Italien von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland entwickelt. Die Schnelligkeit dieser Entwicklung, die neben Italien auch für andere Mittelmeer-Länder wie beispielsweise Griechenland, Portugal und Spanien typisch ist, hat einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der italienischen Migrationspolitik. Für weitere Informationen zum Umgang mit Zuwanderung in den Mittelmeerländern siehe Pugliese (2002).
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-10T00:00:00
2012-10-08T00:00:00
2022-01-10T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/145670/aktuelle-entwicklungen/
1991 sah sich Italien erstmals mit einer Form von 'Massenzuwanderung' konfrontiert. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Albanien landeten am 7. März und am 8. August, also an nur zwei Tagen, rund 50.000 albanische Flüchtlinge an der
[ "Migration", "Einwanderung", "Auswanderung", "Flucht", "Flüchtling", "Osteuropa", "Zuwanderung", "Italien", "Albanien", "Apulien" ]
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Bildungshacks: Tipps für Lernspiele im Unterricht | Bildungshacks | bpb.de
Die Werkstatt bei Twitter: Externer Link: twitter.com/werkstatt_bpb Und Instagram: Externer Link: instagram.com/werkstatt_bpb Schickt uns eure Wünsche für kommende Themen an redaktion@werkstatt.bpb.de, schreibt uns hier in die Kommentare oder bei Twitter und Instagram. Link-Tipps von Lukas Opheiden Spiele Externer Link: Through the Darkest of Timesist ein kommerzielles Strategiespiel des deutschen Spielentwickler-Teams Paintbucket Games, bei dem die Spielerinnen und Spieler eine fiktive Widerstandsgruppe in der NS-Zeit koordinieren. Das Ziel des Spiels ist es, das Nazi-Regime zu schwächen. Dabei können Spielerinnen und Spieler auch den Geschichtsverlauf beeinflussen. Through the Darkest of Times ist das erste Spiel, in dem in Deutschland verfassungswidrige Symbole wie das Hakenkreuz gezeigt werden dürfen. Unter Berücksichtigung der sogenannten Interner Link: Sozialadäquanz ist das Spiel freigegeben ab 12 Jahren. Externer Link: Assassin’s Creedist eine kommerzielle Open-World-Videospielserie des französischen Spieleunternehmens Ubisoft. Spielerinnen und Spieler reisen in der Rolle eines Auftragsmörders ("Assassinen") in die Vergangenheit zurück und können in den verschiedenen Ablegern des Spiels beispielsweise in die Renaissance oder den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eintauchen. Neben realen historischen Ereignissen steht dabei der Kampf zwischen Assassinen und Templern im Fokus des Spiels. Wegen gewalthaltiger Inhalte und weil Gewalt auch als Lösung für Probleme vermittelt wird, ist das Spiel erst ab 16 Jahren freigegeben. Externer Link: Minecraftist ein kommerzielles Open-World-Spiel des schwedischen Spielentwickler-Unternehmens Mojang Studios. Seit 2014 gehört es zum US-Technologiekonzern Microsoft. Spielerinnen und Spieler können die, auf quadratischen Blöcken basierte, Spielwelt erkunden und Ressourcen sammeln, um daraus Werkzeuge und Materialien zum Bau einer sicheren Unterkunft herzustellen. In dieser können sie sich vor nächtlichen Angreifern schützen. Zusätzlich gibt es einen Kreativmodus, in dem Spielerinnen und Spieler sich dem freien Bauen eigener Gebäude widmen können. Neben der kostenpflichtigen Vollversion gibt es die kostenfreie Open-Source-Alternative Externer Link: Minetest mit reduzierten Funktionalitäten. Darüber hinaus gibt es die Externer Link: Minecraft Education Edition, die sich für den Einsatz im Unterricht eignet. Neben einem Klassenraum-Modus zur Kommunikation und Verwaltung stehen bereits vorbereitete Unterrichtseinheiten zur Verfügung. Minecraft wird empfohlen ab einem Alter von 6 Jahren. Externer Link: Gartic Phoneist ein kostenfreies Online-Spiel, das sich am Spielprinzip von „Stille Post“ orientiert. Die Begriffe werden von Spielerin zu Spieler jedoch nicht mündlich, sondern im Stil der „Montagsmaler" als digitale Zeichnung weitergegeben. Die Datenschutzbedingungen lassen sich unter Externer Link: https://garticphone.com/de/privacy finden. Externer Link: Pokémon GOist ein in der Grundversion kostenfreies Location-basiertes Spiel des japanischen Spieleunternehmens Nintendo, bei dem Spielerinnen und Spieler in ihrer realen Umgebung Fantasiewesen fangen müssen. Das Spiel lässt sich auf Smartphones und Tablets spielen. Es finanziert sich allerdings über In-App-Käufe und erfordert weitreichende Datenfreigaben. Die Datenschutzbedingungen lassen sich unter Externer Link: https://www.pokemon.com/de/datenschutzerklaerung/ nachlesen. Plattformen Externer Link: Spielbar.de ist eine Website der Bundeszentrale für politische Bildung mit Rezensionen und Tipps zu Spielen. Externer Link: Spieleratgeber-nrw.de ist eine Website der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW mit Tipps zu digitalen Spielen. Externer Link: Digitale-spielewelten.de ist eine Website der TH Köln und der Stiftung Digitale Spielekultur, auf der ganze Unterrichtsmodule zu digitalen Spielen veröffentlicht werden. Über unseren Interviewpartner Lukas Opheiden ist als Medienpädagoge der Stadtbibliothek Minden für den Bereich Gaming zuständig. In seinem Podcast Externer Link: Eduthek spricht er über Medienpädagogik in Bibliotheken. Über Bildungshacks Im neuen Werkstatt-Format dreht sich alles um digitale und zeitgemäße Lehrmethoden in der Schule und der außerschulischen Bildung. Jeden Monat beantwortet Filli Montag gemeinsam mit Expertinnen und Experten Fragen der Werkstatt-Community – praxisnah und verständlich. Lukas Opheiden ist als Medienpädagoge der Stadtbibliothek Minden für den Bereich Gaming zuständig. In seinem Podcast Externer Link: Eduthek spricht er über Medienpädagogik in Bibliotheken.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-04-25T00:00:00
2021-06-30T00:00:00
2023-04-25T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/334858/bildungshacks-tipps-fuer-lernspiele-im-unterricht/
Gaming kann außerschulischen wie schulischen Unterricht erweitern und eignet sich auch für hybrides Gruppenlernen – Medienpädagoge Lukas Opheiden gibt Tipps für spielerisches Lernen.
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Praxis: Mojane – Multimedial unterwegs | Lokaljournalismus | bpb.de
Katrin Steinert ist als mobile Journalistin multimedial im Auftrag der Rhein-Zeitung aus Koblenz unterwegs. Im August 2009 startete die junge Journalistin in ihre neue Aufgabe. Ihre Mission: Reichweite und Image der regionalen Tageszeitung steigern. Ihr Auftrag: "Werden Sie eine Marke" – knapp und präzise von der Chefredaktion formuliert. "Ich fing bei Null an. Meine ersten Erfahrungen musste ich ganz alleine machen, ich konnte niemanden fragen", erinnert sich Katrin Steinert an ihren Wechsel aus der Print-Redaktionsstube in die elektronisch-digitale Welt. Katrin Steinert Katrin Steinert (© Anke Vehmeier) Katrin Steinert, geboren 1980 in Oldenburg. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Ethnologie in Trier, absolvierte sie von 2006-2008 ein Print-Volontariat bei der Rhein-Zeitung mit dem Hauptsitz in Koblenz. Im Anschluss an ihre journalistische Ausbildung war sie als Redakteurin in der Lokalredaktion Bad Kreuznach tätig - bis sie im August 2009 begann als Redakteurin das neue Projekt "Mobiler Journalismus" aufzubauen: von der Konzeption, der Theorie bis zur Praxis. Seit Februar 2012 ist sie Redakteurin für Andernach und die VG Pellenz. Das Mojo-Projekt wird seitdem weitergeführt und weitere mobile und multimedial arbeitende Journalisten berichten aus der Region. Die Berichte von Katrin Steinert über das Pionier-Projekt kann man im Externer Link: Blog der Rhein-Zeitung nachlesen. Die Voraussetzungen im August 2009 waren eine echte Herausforderung: keine Multimedialeute im Verlag, keine Lokalvideos, nur überregionale von dpa und reuters, kaum aktuelle Online- Berichterstattung aus dem Lokalen (Regioticker), riesiges Verbreitungsgebiet. Für Katrin Steinert brachte der Wechsel gleich mehrere Veränderungen und Herausforderungen mit sich: ein neuer Standort (Umzug nach Koblenz), neue Technik, die eigene Identität war printgeprägt, die Kollegen waren skeptisch, die ganze Branche schaute zu (denn die Chefredaktion hatte das Projekt mit dem Starttag in den Branchenmedien angekündigt). "Für uns bedeutete das allerdings auch, die ganze Entwicklung transparent zu machen", sagte Steinert. Vorbild für die MoJane (in die Namensfindung wurde die Twittergemeinde mit einbezogen – mobiler Journalist (Mojo) und Jane, Tarzans Freundin im Dschungel) war das Vorarlberger Medienhaus in Österreich. Dort haben die Mojos eine eigene Marke: Vol live. Vol live versteht sich als eine Nachrichtenagentur fürs das Internetportal des Externer Link: Vorarlberger Medienhauses. Fünf Leute liefern täglich Fotos, Videos und Kurztexte. Sie verstehen sich als Konkurrenz zum ORF. Ihr Motto: "So schnell kann’s gehen." Ihre Themen (die vier Ts des Boulevard: "Titten, Tränen, Tiere, Tote"). Ihr Pensum: Jeder produziert jeweils zwei Videos pro Tag – plus Rufbereitschaft am Wochenende. Ihr Status – im Gegensatz zur deutschen MoJane: Sie sind keine Redakteure. Katrin Steinert erinnerte sich an ihre ersten Gehversuche: "Die Erfahrungen: Autsch!!!" Sie konnte niemanden um Rat fragen. Aber ganz wichtig war: "Die Chefredaktion stand hinter mir – das war wichtig für die Durchsetzung des Projekts." Heute schaut sie zurück und hat seitdem vieles verändert: "Ich wollte alles liefern, heute weiß ich, dass das nicht geht. Außerdem gab es noch kein Videoformat, beziehungsweise MoJane- Format. Und es hagelte Kritik von allen Seiten." Katrin Steinert (© Anke Vehmeier) Katrin Steinert, geboren 1980 in Oldenburg. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Ethnologie in Trier, absolvierte sie von 2006-2008 ein Print-Volontariat bei der Rhein-Zeitung mit dem Hauptsitz in Koblenz. Im Anschluss an ihre journalistische Ausbildung war sie als Redakteurin in der Lokalredaktion Bad Kreuznach tätig - bis sie im August 2009 begann als Redakteurin das neue Projekt "Mobiler Journalismus" aufzubauen: von der Konzeption, der Theorie bis zur Praxis. Seit Februar 2012 ist sie Redakteurin für Andernach und die VG Pellenz. Das Mojo-Projekt wird seitdem weitergeführt und weitere mobile und multimedial arbeitende Journalisten berichten aus der Region. Die Berichte von Katrin Steinert über das Pionier-Projekt kann man im Externer Link: Blog der Rhein-Zeitung nachlesen. Katrin Steinert (© Anke Vehmeier) Was gehört zum Job der mobilen Journalistin? Im Interview mit Lokaljournalisten lässt Katrin Steinert ihr erstes Jahr als Mojane Revue passieren, spricht über Reaktionen und Anforderungen und sagt: "Jeder hat eine Geschichte zu erzählen" - Interview: Julia Grunschel, Marler Zeitung; Kamera: Michael Walter, Rhein-Neckar-Zeitung Ein Jahr später ist Mojo eine feste Größe bei der RZ (rzmobil), alle Volontäre machen dort Station. Die Akzeptanz in der Branche und unter den Kollegen sei stark gestiegen und die Marke MoJane werde immer bekannter. Die Rhein-Zeitung schreibe das Projekt fort: Inzwischen gibt es einen zweiten Mojo, weitere seien geplant. Und auch der Erfolg habe sich eingestellt: Das Image des Verlags sei gestiegen, die Reichweite ausgebaut. Der Alltag der MoJane ist nichts für ruhige Gemüter: Sie hat keinen festen Standort, beliefert zwölf Lokalausgaben und muss sich auch mit dem Mantel und der Online-Redaktion abstimmen. Ihr Arbeitsplatz ist das Auto, ihre multimediale Technik trägt sie im Rucksack, ihre Arbeitszeiten sind unregelmäßig. Dafür bestimmt sie selbst, welche Themen für welches Format sie anpackt: "Ich kann alles, mache aber nicht alles gleichzeitig." Der typische Tagesablauf: Thema finden, twittern, Abstimmung mit Lokales/Mantel, twittern, drehen, twittern/Facebook, schneiden, Screenshot an Mantel schicken, schreiben, Video hochladen, Links twittern und über Facebook promoten. Die Sozialen Netzwerke nutzt sie sehr stark: Twitter ist zum Beispiel der Marktplatz, um die eigenen Videos anzukündigen und Themen zu finden: etwa die Eisdiele, die schon im Winter öffnet oder die lokale Gruppe, die einen Krimi in der Region dreht – und die, die MoJane als Darstellerin gewinnen möchte. Das Projekt MoJo sei für die Rhein-Zeitung sehr wichtig. Es stehe als Symbol für den Wandel und die Bewegung des Zeitungsverlags zum Medienhaus und wirkt intern wie extern: Die Printredakteurin kann sich weiterentwickeln, die RZ entwickelt sich ebenfalls. Die Mojos stünden außerdem für Experimentierfreude, um auszuprobieren, was multimedial bei einer Tageszeitung geht – aber: "Nicht jeder soll ein Mojo werden; wir sind SPEZIALISTEN", so Katrin Steinert. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Dokumentation des bpb-Modellseminars "Das Netz ist lokal" im November 2010
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-29T00:00:00
2012-12-14T00:00:00
2021-09-29T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/151681/praxis-mojane-multimedial-unterwegs/
Mikro, Kamera, Laptop werden im Rucksack verstaut und ins Auto gepackt. Die Absprachen sind getroffen, die Themen für Kollegen und Fans getwittert: "MoJane" bei der Rhein-Zeitung zu sein, bedeutet mobil, multimedial und von überall aus der Region zu
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Herausforderungen für das transatlantische Bündnis | Transatlantische Beziehungen | bpb.de
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehören mehr oder weniger regelmäßige Bestandsaufnahmen der transatlantischen Beziehungen in Europa zur Selbstvergewisserung der eigenen Rolle in der Welt. Während des Kalten Krieges wurde die Partnerschaft zwischen den USA und dem westlichen Europa von keiner der beiden Seiten in Frage gestellt. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation gab es zwar vereinzelt Rufe nach der Abschaffung der NATO, das Ende der Partnerschaft forderte jedoch kaum jemand. Dennoch ließ bei den langjährigen NATO-Mitgliedstaaten das Bedürfnis nach einem engen Verhältnis nach. Gleichzeitig beförderten neue Entwicklungen unter transatlantisch orientierten Europäern die Sorge, die USA könnten das Interesse an Europa verlieren. Durch den Aufstieg neuer Mächte wie China, Indien oder Brasilien, die nun zunehmend auch eine Rolle in der internationalen Politik einforderten, verlor der "Westen" relativ an Macht. Die Diskussion in den USA über eine Hinwendung nach Asien trug nicht dazu bei, Sorgen in Europa auszuräumen. Dabei waren die verschobenen Prioritäten der USA durchaus ein Resultat der Erfolgsgeschichte Europas. Europa galt als friedlich und stabil, sodass man sich anderen Krisenregionen zuwenden konnte. In den beiden Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges hat sich in der transatlantischen Debatte ein Muster herausgebildet. Weil internationale Politik meist krisengetrieben ist, finden Phasen guter Beziehungen nur wenig Aufmerksamkeit. Denn gute Phasen sind meist solche ohne besondere Vorkommnisse, in denen der Austausch über den Atlantik hinweg vor allem auf der Arbeitsebene stattfindet. Paradoxerweise wird gerade zu solchen Zeiten von Transatlantikern lamentiert, dass die Beziehungen nicht mehr den Stellenwert hätten, der ihnen gebührt. Intensiv diskutiert wird dagegen vor allem in Krisenzeiten, entweder wenn innerhalb des Bündnisses Konflikte auftreten oder es sich mit einer äußeren Herausforderung konfrontiert sieht. Zuletzt sind genau solche krisenhaften Entwicklungen verstärkt aufgetreten. Sowohl in Europa als auch den Vereinigten Staaten genießt das transatlantische Verhältnis daher eine deutlich höhere Priorität als noch Anfang des Jahres 2013. Insbesondere zwei Krisen haben ihre Schatten auf die Partnerschaft geworfen: zum einen die Krise in der Ukraine, die sich zunehmend zu einer Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, insbesondere den Mitgliedstaaten der NATO entwickelt hat; zum anderen die Enthüllungen des ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden über die Überwachungs- und Spionageaktivitäten der National Security Agency (NSA) und ihrer ausländischen Partnerdienste. Das Wesen der transatlantischen Beziehungen In der Debatte über die transatlantischen Beziehungen finden sich unterschiedliche Annahmen über die Natur des Bündnisses, die nicht immer explizit gemacht werden. Dies betrifft vor allem die Grundlage der Partnerschaft und den Stellenwert der NATO. Für manche ist die NATO nach wie vor die zentrale Institution der westlichen Gemeinschaft. Nach dieser Argumentation besteht die grundlegende Motivation im Verhalten von Staaten in einem Bedürfnis nach Sicherheit. Die NATO als Verteidigungsallianz ist Ausdruck der gemeinsamen Sicherheitsinteressen des Westens. Während des Kalten Krieges bestimmte die kollektive Verteidigung das Verhältnis und half dabei, Spannungen innerhalb des Bündnisses beizulegen. Andere Aspekte der transatlantischen Beziehungen wie gemeinsame Werte und Ideen dienten bestenfalls als ideologischer Überbau für das Verteidigungsbündnis. Nach dieser Sichtweise wurde also das westliche Bündnis vor allem durch die andauernde sowjetische Bedrohung zusammengehalten. Entsprechend prognostizierten ihre Anhänger nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes auch das mittelfristige Ende der NATO und damit auch der besonderen Partnerschaft zwischen den USA und Europa. Die Osterweiterung und die Suche der NATO nach neuen Aufgaben wurden demnach als letzte Regungen einer sterbenden Organisation interpretiert. Doch diese Prognosen basierten auf der von der relativen Ruhe der 1990er-Jahre geprägten Erwartung, dass die Bedrohungslage sich für den Westen dauerhaft verbessert hätte. Denn die grundlegende Annahme, dass Sicherheitsinteressen die Basis des transatlantischen Bündnisses bilden, lassen auch den Schluss zu, dass eine erneute Bedrohung der Gemeinschaft zu einer Revitalisierung der NATO führen kann. Eine zweite Sichtweise ist, dass die NATO mehr ist als nur eine Verteidigungsallianz. Deren Anhänger bestreiten nicht, dass die Bedrohung durch die Sowjetunion ein Faktor bei der Herausbildung des nordatlantischen Bündnisses war. In der Folge sei jedoch das entstanden, was Karl Deutsch als "pluralistische Sicherheitsgemeinschaft" bezeichnet. Die Mitglieder eint mehr als nur ein gemeinsamer äußerer Gegner. Es ist vielmehr eine Partnerschaft entstanden, in der das Vertrauen zwischen ihren Mitgliedern so weit wuchs, dass kriegerische Auseinandersetzungen untereinander undenkbar wurden. Statt eines äußeren Gegners machen demnach geteilte Interessen, Institutionen und eine gemeinsame Identität die Grundlage dieser Gemeinschaft aus. All dies schwingt mit, wenn man weniger präzise von der "westlichen Wertegemeinschaft" oder einfach "dem Westen" spricht. Russlands Revisionismus und die Ukraine-Krise Folgt man der Interpretation, dass die NATO vor allem eine Reaktion auf eine äußere Bedrohung ist, drängt sich die Frage auf, wie sich das aggressive Auftreten Russlands in der Krise um die Zukunft der Ukraine auf die Beziehungen zwischen den USA und Europa auswirkt. Eine Hypothese lautet: je größer die äußere Bedrohung, desto stärker der Zusammenhalt im Bündnis. Es wäre also zu erwarten, dass in der Krise nicht nur die NATO Aufwind bekommt, sondern die transatlantischen Beziehungen sich generell verbesserten. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass die Kohäsion im NATO-Bündnis seit der Annexion der Krim durch Russland zugenommen hat. Die Mitgliedstaaten haben demonstrativ einen Schulterschluss vollzogen und besonders neueren Mitgliedern wie Polen und den baltischen Ländern ihre Solidarität zugesichert. Konflikte sind zwar nicht verschwunden, werden jedoch zugunsten der Gemeinsamkeiten zurückgestellt. Die NATO spielt wieder eine prominentere Rolle und hat eine Reihe gemeinsamer Aktivitäten initiiert. Am offensichtlichsten sind die militärischen Maßnahmen der NATO seit Ausbruch der Krise. So wurden die Anzahl und der Umfang der gemeinsamen Übungen erhöht, die militärische Präsenz der NATO in den östlichen Mitgliedstaaten verstärkt sowie beschlossen, die schnelle Eingreiftruppe der NATO um eine in Stettin angesiedelte Einheit mit noch höherer Einsatzbereitschaft und kürzerer Reaktionszeit zu ergänzen. Doch die militärischen Aktivitäten sind nur ein Aspekt. Mindestens ebenso wichtig ist, dass sich auch die Wahrnehmung der europäischen Sicherheitslage unter den NATO-Mitgliedstaaten angenähert hat. In Deutschland und Frankreich tauchte Russland nach Ende der Blockkonfrontation auf dem Radarschirm kaum noch als Bedrohung auf. Die zunehmend autoritären Züge der russischen Regierung wurden in erster Linie als Problem der russischen Innenpolitik wahrgenommen. Man setzte auf gute Beziehungen und Wandel durch Handel. In Polen und den baltischen Staaten, die Jahrzehnte unter sowjetischer Besatzung gelitten hatten, war die Sorge vor einer russischen Aggression dagegen nie ganz verschwunden. Dabei spielten sicherlich die eigene Verwundbarkeit durch die geografische Nähe und die relative militärische Schwäche gegenüber Russland eine zentrale Rolle. Entscheidend ist jedoch, dass die Regierungen Polens und der baltischen Staaten im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich nicht überzeugt waren, dass Russland keine aggressiven Absichten hegte. Diese Staaten reagierten sehr viel sensibler auf die regelmäßig von russischen Politikern und Militärs formulierten Ansprüche auf eine russische Großmachtrolle einschließlich einer eigenen Einflusszone im postsowjetischen Raum. Die latente Bedrohungswahrnehmung war insbesondere in Staaten mit russischstämmigen Minderheiten immer präsent und wurde immer wieder durch Zwischenfälle genährt. Besonders die Cyber-Angriffe russischer Hacker auf estnische Regierungsserver im Jahr 2008 schürten neue Ängste. Im Gegensatz zu westeuropäischen Staaten waren die baltischen Staaten und Polen von Beginn an überzeugt, dass nur militärische Stärke eine Garantie gegen russische Expansionsbestrebungen sei. Folglich bemühten sie sich um die schnellstmögliche Aufnahme in die EU und die NATO. Die gewaltsame Einmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und die Annexion der Halbinsel Krim machen deutlich, dass für Moskau Verstöße gegen die Souveränität anderer Staaten kein Tabu sind und daher die Bedrohung durch Russland für seine Nachbarn nun nicht mehr nur hypothetisch ist. Auch die Verschleppung eines Mitarbeiters des estnischen Nachrichtendienstes von der estnisch-russischen Grenze nach Russland unter nicht eindeutig geklärten Umständen sowie die zahlreichen Verletzungen des NATO-Luftraumes durch russische Kampfflugzeuge verfestigen diesen Eindruck. Es ist nicht klar, ob Russland weitere territoriale Ambitionen hegt. Aber während beispielsweise die Furcht der Balten vor einer russischen Invasion in Deutschland lange belächelt wurde, nimmt man die Bedenken der östlichen Nachbarn nun deutlich ernster. Außerhalb der NATO werden die politischen Aktivitäten gegenüber Russland ebenfalls eng koordiniert. Das gilt besonders für die Sanktionen. Die USA haben sich früh zu Sanktionen entschieden, die jedoch wegen der schwächer ausgeprägten Handelsbeziehungen wenig Druck entfalteten. Nach anfänglichem Widerstand hat die EU eingewilligt, in enger Abstimmung mit den USA ebenfalls Sanktionen zu verhängen, die zwar für Russland deutlich schmerzhafter sind als die der USA, aber auch von der europäischen Wirtschaft Opfer erfordern. Dass die Sanktionen Russland zu einem schnellen Einlenken bewegen, erwartet niemand. Es geht vor allem darum, Russland deutlich zu machen, dass Eingriffe in die Souveränität anderer Staaten nicht akzeptabel sind. Die veränderte Wahrnehmung Russlands hat sich auch auf die Selbstwahrnehmung des Westens ausgewirkt. Im Zuge der Krise hat die internationale Berichterstattung über die Situation in Russland deutlich zugenommen. Dabei hat das Verhalten Moskaus dem Westen deutlich vor Augen geführt, was die politische Lage in Russland von der in den Demokratien der transatlantischen Gemeinschaft unterscheidet. Dazu gehörten die Repressalien der russischen Führung gegen die innenpolitische Opposition, die im Verlauf der Krise noch zugenommen haben. Auch die Berichterstattung der staatsnahen Medien in Russland verdeutlichte den Kontrast zur Debatte in Europa und den USA. Nicht nur gibt es in Russland kaum noch unabhängige Medien, sondern die staatsnahen Medien überschlugen sich vor Propaganda, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Sie beschränkten sich in der Berichterstattung über die Ukraine-Krise nicht auf eine andere Interpretation oder Schwerpunktsetzung, sondern arbeiteten stark mit Fabrikationen und Unwahrheiten. Auch wenn die westliche Berichterstattung gerade in Krisenzeiten durchaus auch zur Einseitigkeit tendiert und auch im Fall der Ukraine-Krise kein Ruhmesblatt ist, waren die qualitativen Unterschiede zwischen einer demokratischen freien Presse und der Propagandamaschine des Putin-Regimes nicht zu leugnen. Sie haben der sonst eher floskelhaften Betonung von Demokratie und Freiheit als Basis der westlichen Wertegemeinschaft wieder eine neue Relevanz gegeben. Die Beobachtung, dass die Ukraine-Krise innerhalb des westlichen Bündnisses zu mehr Einigkeit geführt hat, lässt sich zum Teil mit der Annahme erklären, dass die NATO vor allem eine Verteidigungsallianz gegen äußere Bedrohungen ist. Angesichts der gemeinsamen Bedrohung halten die NATO-Staaten zusammen. Darüber hinaus hat das Verhalten Russlands dazu beigetragen, die gemeinsame Identität des Westens – Karl Deutsch nennt dies das "Wir-Gefühl" – zu stärken, indem es den Mitgliedern vor Augen führt, was man nicht ist. Der Westen sieht sich konfrontiert mit einem Gegner, der weder freie Demokratie noch Rechtsstaat ist und zudem noch internationale Normen wie das Gewaltverbot und die Souveränität anderer Staaten verletzt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Meinungsunterschiede innerhalb des westlichen Bündnisses weniger bedeutsam. Das bedeutet jedoch nicht, dass es diese Meinungsunterschiede nicht gäbe. Herausforderung von innen: Die NSA-Affäre Die Bedrohlichkeit der Ukraine-Krise hat die Spannungen infolge der NSA-Affäre in den Hintergrund treten lassen. Dennoch sind die zu Tage getretenen Konflikte über die Legitimität von Spionage und Überwachung nicht ausgeräumt. Zwei Aspekte der Geheimdienstaktivitäten, die durch Enthüllungen Edward Snowdens von den Medien aufgedeckt worden sind, haben zu transatlantischen Konflikten geführt. So zeigen Snowdens Dokumente zum einen, dass die NSA und ihre Partnerdienste – darunter das britische Government Communications Headquarters (GCHQ) – die elektronische Kommunikation der Bevölkerung fast aller Staaten umfassend überwachen und speichern. In den USA selbst und gegenüber den eigenen Bürgern sind den Aktivitäten der NSA gesetzliche Grenzen gesteckt, und es gibt ein Minimum an institutioneller Kontrolle. Doch auch US-Bürger sind nicht wirksam vor der Verletzung ihrer Privatsphäre geschützt. Für Aktivitäten der US-Geheimdienste im Ausland gibt es allerdings praktisch keine Beschränkungen. Zum zweiten spionieren die USA gegen andere Regierungen und unterscheiden dabei nicht zwischen Freund und Feind. Dabei ruft das Ausmaß der Spionage gerade auch gegenüber den Regierungen von Partnerstaaten – Abhören der persönlichen Kommunikation der Staatsoberhäupter eingeschlossen – und nicht zuletzt der Umgang mit der Kritik an dieser Praxis zu Recht Unmut bei den Betroffenen hervor. Beide Aspekte der NSA-Affäre haben Implikationen für das transatlantische Verhältnis. Die gezielte Spionage hat Vertrauen zerstört, das die Basis für eine enge und konstruktive Zusammenarbeit ist. Die USA, die immer wieder den Anspruch auf eine wertebasierte Außenpolitik erheben und sich deklaratorisch von reiner Machtpolitik abgrenzen, wirken scheinheilig, zumal wenn sie Vertrauen in die Ziele amerikanischer Außenpolitik und Gefolgschaft bei deren Umsetzung erwarten, ihr eigenes Verhalten gegenüber den Partnern jedoch von Misstrauen bestimmt ist. Gleichzeitig stellen die Enthüllungen in Europa besonders diejenigen Politiker bloß, die sich als überzeugte Transatlantiker sehen, die die USA vor Kritik in Schutz nehmen und die Westbindung der Bundesrepublik und Europas befürworten. Dadurch berauben sich die USA wichtiger Mitstreiter im Kampf um die öffentliche Meinung. Dagegen fühlen sich jene bestätigt, die die Motive der USA schon immer in Frage gestellt haben. Auch die institutionelle Zusammenarbeit wird erschwert. Bisher haben die europäischen Nachrichtendienste sehr eng mit den US-amerikanischen kooperiert. Die Prämissen waren, dass die Interessen sich weitgehend decken, dass die USA Partner sind und kein Gegner, und dass der enge Austausch von beiden Seiten politisch gewollt ist. Dementsprechend hat die deutsche Politik bei den Aktivitäten der USA in Deutschland nicht so genau hingeschaut und die Dienste haben wohl in einer Weise kooperiert, die mit dem eigenen Auftrag nur schwer zu vereinbaren war. Denn zur Aufgabe jedes Nachrichtendienstes in einer Demokratie gehört es, die Souveränität der Verfassungsorgane und politischen Institutionen zu gewährleisten, also auch den eigenen Staat, seine Organe und die Bevölkerung vor Spionage zu schützen. Nach Bekanntwerden von immer mehr Details lässt sich die bisherige Form der Zusammenarbeit mit den USA kaum aufrechterhalten. Die Enttarnung eines Mitarbeiters des Bundesnachrichtendienstes, der für die USA spionierte, sowie die Ausweisung des Beauftragten der USA für die amerikanischen Nachrichtendienste sind Indizien für ein Umdenken auf deutscher Seite. Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft schließt per definitionem gewaltsame Auseinandersetzungen unter ihren Mitgliedern aus. Weniger klar ist, ob – wie die deutsche Regierung reklamiert – Spionage ebenso inakzeptabel ist. Diese Unklarheit hängt wohl auch damit zusammen, dass Spionage im Völkerrecht nicht umfassend geregelt ist und während des Kalten Krieges auch innerhalb des Westens gang und gäbe war. Und dennoch: Die Undenkbarkeit von Krieg innerhalb der Sicherheitsgemeinschaft beruht auf Vertrauen. Spionage dagegen zeugt von Misstrauen. Sie ist zwar weit entfernt von der Anwendung von Gewalt, und doch ist sie ein Mittel, dass man wohl eher dem Verhalten von Gegnern zuordnen würde als dem von Partnern. Es ist bemerkenswert, dass die Maxime trust, but verify, die Präsident Ronald Reagan einst gebrauchte, um den US-Ansatz in der Rüstungskontrolle mit der Sowjetunion zu beschreiben, auch den diplomatischen Umgang der gegenwärtigen US-Regierung mit der EU und ihren Mitgliedstaaten treffend zu charakterisieren scheint. Bleibt die Spionage unentdeckt, berührt sie die Sicherheitsgemeinschaft nicht. Im Fall der Aufdeckung kann sie nachhaltig Schaden nehmen. Förderlich ist ein solches Verhalten für die Beziehungen jedenfalls nicht. Auch die anlasslose massenhafte Überwachung von elektronischer Kommunikation und das Verhalten der USA im Cyberspace werfen grundsätzliche Fragen für die Wertegemeinschaft auf. Das bereits offengelegte Ausmaß der Überwachung bedeutet die systematische Verletzung der Privatsphäre und damit einen Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger. Die Überwachung ist kein Einzelaspekt, sondern Teil einer breiteren Kontroverse darüber, wie weit der Staat in seinen Bemühungen bei der Abwehr von terroristischen Bedrohungen gehen kann, also über die richtige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Im Kontext des Krieges gegen den Terrorismus seit dem 11. September 2001 haben die USA und Europa diese Frage immer wieder unterschiedlich beantwortet. Neben Überwachung gaben die unbegrenzte Inhaftierung Terrorismusverdächtiger ohne gültiges Gerichtsurteil, die Anwendung von Folter zur Informationsbeschaffung sowie die gezielte Tötung mutmaßlicher Terroristen durch Drohnen oder Spezialkommandos Anlass zu Konflikten. Auf die Frage der richtigen Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gibt es keine einfachen Antworten. Auch verlaufen die Trennungslinien zwischen den Lagern ebenso oft innerhalb von Gesellschaften wie zwischen Staaten. Auf der einen Seite hat sich in den USA seit den Enthüllungen von Snowden bemerkenswerter Widerstand gegen die Praxis der Nachrichtendienste formiert, der vom libertären Flügel des konservativen Lagers bis hin zu linken Menschenrechtsaktivisten reicht. Auf der anderen Seite sind die Europäer keineswegs so vereint in ihrer Kritik, wie die Praxis des britischen GCHQ zeigt, dessen institutionelle Kontrolle noch geringer ausgeprägt zu sein scheint als bei der NSA. Auch in anderen europäischen Staaten wollen die Sicherheitsbehörden auf so manches Mittel der Überwachung und Speicherung von Kommunikation nur ungern verzichten. Generell sind die Exekutiven und Innenministerien sehr viel weniger um den Schutz der Privatsphäre besorgt als die Opposition und die Datenschutzbeauftragten – und das gilt auch für Deutschland. Auch ist die Reaktion in den deutschen Medien auf die NSA-Affäre nicht repräsentativ; in kaum einem anderen europäischen Land empörten sich Politiker, Medien und Öffentlichkeit in ähnlicher Weise. In Deutschland scheint ein weitreichender Konsens darüber zu bestehen, dass die Aktivitäten der US-Geheimdienste gegen grundlegende Normen verstoßen. Dies ist für die transatlantischen Beziehungen relevant, zum einen, weil Deutschland inzwischen erheblichen Einfluss in Europa genießt, zum anderen, weil die deutsche Position auch von einigen Akteuren in den EU-Institutionen, insbesondere im Europäischen Parlament geteilt wird. Wenn es politisch gewollt ist, hat die Bundesrepublik also durchaus Handlungsmöglichkeiten, die über Symbolik hinausgehen. Als gemeinsame Wertebasis der transatlantischen Gemeinschaft werden meist Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die freie Marktwirtschaft genannt. Wie sich diese genau definieren, wird oft wohl bewusst vage gehalten, um trotz erheblicher Differenzen eine Zusammenarbeit zu ermöglichen. Und dennoch steht fest: Die Spionage-Affäre berührt alle drei. Nachrichtendienste, die im Geheimen weitgehend autonom von effektiver politischer Kontrolle arbeiten, sind nicht mit den Anforderungen der Demokratie nach Transparenz und einer informierten Öffentlichkeit, die als Souverän Entscheidungen legitimiert, zu vereinbaren. Die Auswüchse der Überwachung, in denen Gerichtsprozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und den Angeklagten mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit die Möglichkeit genommen wird, Beweise gegen sie zu hinterfragen, verletzt grundsätzliche rechtstaatliche Prinzipien. Und Wirtschaftsspionage, selbst wenn – wie die US-Regierung behauptet – keine Industriegeheimnisse erforscht werden, sondern "nur" die Wirtschaftspolitik anderer Staaten ausspioniert wird, um die Marktbedingungen für heimische Wirtschaftssektoren zu verbessern, widerspricht Prinzipien der freien Marktwirtschaft, insbesondere dem fairen Wettbewerb. Was für eine transatlantische Gemeinschaft wollen wir? Der Ukraine-Krise und der Überwachungsaffäre ist gemeinsam, dass sie die transatlantischen Beziehungen zurück auf die Agenda gebracht haben und dass sie die Dynamik zwischen den Verbündeten verändern. Hier endet jedoch die Gemeinsamkeit. Die Konfrontation mit Russland ist eine Herausforderung von außen, die die Kohäsion innerhalb des westlichen Bündnisses eher stärkt. Die Überwachungsaffäre dagegen ist hausgemacht, sie geht in erster Linie auf Spannungen zwischen den Partnern zurück und schwächt daher den Zusammenhalt. Daraus sollte man jedoch nicht schließen, dass sich die Folgen gegenseitig aufheben. Welche Implikationen die beiden Krisen für die Politik haben, hängt entscheidend von den Vorstellungen darüber ab, was das Wesen des transatlantischen Verhältnisses ausmacht. Folgt man der realpolitischen Sicht, sind Interessenskonflikte innerhalb der westlichen Partnerschaft unvermeidlich, und das Bündnis kann nur zusammengehalten werden, wenn die äußere Bedrohung stärker bleibt als die inneren Fliehkräfte. Nach dieser Lesart hat die Ukraine-Krise nicht nur die NATO wiederbelebt, sondern auch den steten Verfall der transatlantischen Beziehungen aufgehalten. Diese Sicht lässt wenig Raum für eine positive Agenda im Bündnis; seine einzige Chance zu überleben liegt in der fortdauernden Präsenz äußerer Bedrohungen. Zynisch überspitzt ließe sich sagen, dass die NATO nur eine Zukunft hat, wenn man den Konflikt mit Putin weiter schürt. Bei einem umfassenderen Verständnis der transatlantischen Beziehungen liegt es in der Hand der westlichen Partner selbst, die Sicherheitsgemeinschaft zu pflegen und mit Inhalten zu füllen. Dazu ist es jedoch notwendig, sich aktiv damit auseinanderzusetzen, worin die Basis der Gemeinschaft besteht. In Zeiten äußerer Bedrohung mag es opportun sein, über Differenzen hinwegzusehen. Aber wenn das Konzept der westlichen Wertegemeinschaft nicht zu einer leeren Hülle verkommen soll, ist ein kritischer Dialog darüber notwendig, was sie beinhaltet und wo die Grenzen akzeptablen Verhaltens liegen. Dies betrifft nicht nur die Verbündeten innerhalb des Bündnisses, sondern auch dessen Rolle in der Welt. Mit den globalen Verschiebungen wirtschaftlicher und militärischer Macht werden weiche Machtfaktoren wie die Attraktivität eines Gesellschaftsmodells oder die Achtung der Menschenrechte wieder wichtiger. Diese kann man jedoch nur glaubhaft nach außen vertreten, wenn man sich selbst daran hält. Anzeichen von Doppelmoral machen angreifbar. Das gilt unter anderem auch für die Auseinandersetzung mit Putins Russland. Diese Sicht basiert auf Annahmen der realistischen Theorie der Internationalen Beziehungen, insbesondere der Balance of Threat-Theorie. Vgl. Stephen Walt, Alliance Formation and the Balance of World Power, in: International Security, 9 (1985) 4, S. 3–43. Vgl. Stephen M. Walt, The Ties That Fray: Why Europe and America are Drifting Apart, in: The National Interest, 54 (1998/1999), S. 3–11. Vgl. Karl W. Deutsch et al., Political Community in the North Atlantic Area, Princeton 19682. Vgl. Thomas Risse, The Crisis of the Transatlantic Security Community, in: Dimitris Bourantonis et al. (Hrsg.), Multilateralism and Security Institutions in an Era of Globalization, London–New York 2008, S. 78–100. NATO, Wales Summit Declaration. Issued by the Heads of States and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales, 5.9.2014, Externer Link: http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm (10.11.2014). Vgl. hierzu und zum folgenden Tobias Bunde, Transatlantic Collective Identity in a Nutshell. Debating Security Policy at the Munich Security Conference (2002–2014), Transworld Working Paper 45, 2014, Externer Link: http://www.transworld-fp7.eu/wp-content/uploads/2014/10/TW_WP_45.pdf (10.11.2014). Auch die nahezu bedingungslose Solidarität des "neuen Europa" mit der US-Politik, die auch die aktive Mitwirkung an der US-Invasion im Irak 2003 einschloss, waren wesentlich dadurch motiviert, dass man mit Blick auf Russland vor allem auf US-amerikanische Sicherheitsgarantien setzte. Bereits im Georgien-Krieg 2006 zeigte sich, dass Russland nicht zimperlich beim Einsatz militärischer Mittel auf dem Territorium anderer Staaten ist. Anders als zuletzt im Fall der Ukraine war die militärische Auseinandersetzung jedoch damals von der georgischen Regierung provoziert worden. So wurde zum Beispiel über die zivilen Opfer der Militärkampagne der ukrainischen Armee im östlichen Teil des Landes in deutschen und US-Medien kaum berichtet. Vgl. Peter Rudolf, Vertrauen wär’ gut, in: Internationale Politik, 69 (2014) 6, S. 26–33. So äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel folgendermaßen: "Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht", Vgl. Spiegel Online, 24.10.2013, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/handy-spaehaffaere-um-merkel-regierung-ueberprueft-alle-nsa-erklaerungen-a-929843.html (1.11.2014). Vgl. Theo Sommer, Sind das noch unsere Freunde?, 15.7.2014, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/usa-deutschland-spionage-werte-interessen (20.10.2014). Vgl. David E. Sanger/Alison Smale, U.S.–Germany Intelligence Partnership Falters Over Spying, 16.12.2013, Externer Link: http://www.nytimes.com/2013/12/17/world/europe/us-germany-intelligence-partnership-falters-over-spying.html (20.10.2014). Vgl. Wolfgang Ischinger, Restoring Trans-Atlantic Trust, 1.11.2013, Externer Link: http://www.nytimes.com/2013/11/02/opinion/repairing-trust-among-allies.html (20.10.2014). Im Gegensatz zu den USA genießen in Großbritannien Medien, die Enthüllungen verbreiten, keinen besonderen Schutz. Nach Berichten arbeitete außerdem eine Abteilung innerhalb des GCHQ auch daran, die aus Überwachung gewonnenen Informationen gezielt zu nutzen, um politische Gegner zu diskreditieren. Vgl. Matthew Cole et al., Snowden Docs Show British Spies Used Sex and ‚Dirty Tricks‘, 7.2.2014, Externer Link: http://www.nbcnews.com/feature/edward-snowden-interview/exclusive-snowden-docs-show-british-spies-used-sex-dirty-tricks-n23091 (12.11.2014). Vgl. Daniela Kietz/Johannes Thimm, Zwischen Überwachung und Aufklärung, SWP-Aktuell A51/2013, Externer Link: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2013A51_ktz_tmm.pdf. Vgl. Jesselyn Radack, Why Edward Snowden Wouldn’t Get a Fair Trial, 22.1.2014, Externer Link: http://online.wsj.com/news/articles/SB10001424052702303595404579318884005698684 (26.9.2014).
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Bundeszentrale für politische Bildung
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2022-03-23T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/197165/herausforderungen-fuer-das-transatlantische-buendnis/
Durch die beiden Krisen haben die transatlantischen Beziehungen wieder an Relevanz gewonnen. Wie sich diese Herausforderungen auswirken, hängt davon ab, worin der Kern der Sicherheitsgemeinschaft gesehen wird.
[ "USA", "transatlantische Beziehungen", "Nato", "Transatlantiker", "Verteidigungsallianz", "Sicherheitsinteressen", "Russland", "Ukraine-Krise", "NSA-Affäre", "NSA", "Spionage", "Überwachung", "Geheimdienst" ]
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Sachanalyse | Partizipation vor Ort | bpb.de
1. Beteiligung und (Wettbewerbs-)Gesellschaft So vielfältig die Beteiligungsmöglichkeiten und -formen in unserer Gesellschaft sind, so wichtig ist die Beteiligung für die Entwicklung der agierenden Personen und der mit ihnen interagierenden sozialen Systeme. Diese dynamische Wechselbeziehung zwischen Mensch und System findet sich bei Schülerinnen und Schülern in der Klasse, aber auch bei Fußballspielern in ihrer Mannschaft und bei Politikern in ihren politischen Parteien sowie für viele andere soziale Bereiche. Die Beteiligungschancen werden von den Akteuren allerdings unterschiedlich genutzt, obwohl bekannt ist: Nur wer sich beteiligt, hat die Möglichkeit, (Einfluss) zu gewinnen und seine Chancen zu verbessern. Wer sich nicht beteiligt, hat schon verloren. Stützt das System die Akteure, setzen die Akteure sich für das System ein – eine gut funktionierende wechselseitige Stabilisierung, die im Alltag erfolgreicher sozialer Beziehungen immer wieder zu beobachten ist. Interessant sind die "Störungen", wenn diese Wechselbeziehung nicht oder nur unzureichend funktionieren und die Akteure die Beteiligungschancen kaum oder gar nicht nutzen. Wer nutzt die Chancen, wer nicht? Liegen diese Unterschiede am Akteur oder am System? Darauf wird noch einzugehen sein, wenn nach pädagogischen Fördermaßnahmen gesucht wird. (© S. Hofschlaeger / pixelio.de; www.pixelo.de) Beteiligung – das zeichnet sich deutlich ab — ist einerseits wichtig für den Akteur, da er dabei die Welt aktiv in sich aufnimmt, seine Eindrücke verarbeitet und auch emotional verortet (z. B. nach positiv – negativ, Freund – Feind, Lust – Unlust), gleichzeitig kognitiv vielfältige Informationen aufnimmt und mit vorhandenem Wissen verknüpft, sich seine biographische Orientierung aufbaut und seine sozialen Beziehungen zu den anderen knüpft. Ein einfaches Beispiel aus dem modernen "Hochgeschwindigkeits-Fußball" möge das verdeutlichen: Das Doppel-Pass-Spielen muss in den Köpfen verstanden, in den Herzen gewollt und in den Beinen der Akteure gekonnt sein, wenn es sich aus dem Spielverlauf organisch ergeben und den Gegner überraschen soll. Auch wenn es kaum fundierte empirische Studien über die Wirkung von partizipativen Handlungen auf Identität, Kreativität und politisches Interesse von jugendlichen Akteuren gibt (vgl. Fatke 2007, S.35), so kann auf der Ebene von Plausibilitätsüberlegungen davon ausgegangen werden, dass das Verantwortungsgefühl und die Kompetenz von Jugendlichen gestärkt werden, wenn sie frühzeitig in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden und dabei Verantwortung übernehmen (learning by doing). Weiterhin gibt es durchaus erste Belege, dass demokratische Gruppenprozesse positives soziales Verhalten von Kindern und Jugendlichen fördern, autoritäre oder strukturlose Gruppenprozesse dieses hingegen behindern. (Vgl. Oser/Biedermann 2003, S. 20.) Beteiligung ist andererseits auch für das soziale System (sei es die Klasse in der Schule, sei es das Fußballspiel oder die politische Partei) von enormer Bedeutung, da es nur so funktionsfähig, leistungsfähig, konsensfähig, umweltsensibel und entwicklungsfähig bleibt. Generell kann man sagen, dass Beteiligung das zentrale Moment in der Konstitution von Selbst und Welt, von Subjekt und sozialem System ist. Der "Symbolische Interaktionismus" (vgl. H. Steinert 1972) hat uns früh schon gezeigt, dass die Gesellschaft ein soziales Konstrukt ist, und die Wissenssoziologen P. Berger und T. Luckmann haben in den 60er Jahren entschlüsselt, wie "die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (1969) funktioniert. In der gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit werden Intersubjektivität und auch Gemeinsinn entwickelt, wie P. Foray im Anschluss an I. Kant und H. Arendt darlegt: "Menschen haben nur deshalb einen Gemeinsinn, weil sie in Beziehung zueinander leben und weil ein jeder mit den anderen eine gemeinsame Welt, eine ‚Gemeinwelt‘ hat. Nach Arendt kann es ohne eine Gemeinwelt, in der wir alle unseren Platz finden und in der wir zusammen leben können, keinen Gemeinsinn geben." (Foray 2007). Dieser dynamische Zusammenhang zwischen Beteiligung und Konstruktion von Gemeinsamkeit fällt uns heute besonders auf, da wir Mitglieder einer Gesellschaft sind, in der viele sozialen Beziehungen unter einen enormen Konkurrenzdruck geraten und infolge von technisch-wissenschaftlichen Innovationen vielfältigen Veränderungen ausgesetzt sind. Die Orientierung auf die Gemeinschaft hin und die Individualisierungstendenzen stehen dabei in einem starken Spannungsverhältnis. In der internationalen neurobiologischen Forschung setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch: Wir sind nicht nur auf Egoismus und Konkurrenz (homo oeconomicus) eingestellt, sondern auf Kooperation und Resonanz. Der wahre Egoist kooperiert. Der Neurobiologe Joachim Bauer hat in mehreren Publikationen diesen Aspekt anschaulich beschrieben: "Das Gehirn belohnt gelungenes Miteinander durch Ausschüttung von Botenstoffen, die gute Gefühle und Gesundheit erzeugen. Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Zuwendung, Wertschätzung und erst recht Liebe zu finden und zu geben. Was wir im Alltag tun, wird meist direkt oder indirekt dadurch bestimmt, dass wir sozialen Kontakt gewinnen oder erhalten wollen." (Bauer 2013) Was für die Welt des Profifußballspiels gilt, trifft auch vielfach für unsere Gesellschaft zu: Wer sich beteiligt und neue schnelle Interaktionssysteme schafft und zu nutzen lernt, hat gute Aussichten, in dieser Wettbewerbs-Gesellschaft eine Win-Win-Situation zu schaffen. Unser Verständnis von Beteiligung in der Erziehung, Kultur, Politik und Gesellschaft hat sich grundlegend geändert und ist dynamischer geworden. Auch Kinder und Jugendliche werden schon früh gefordert und gefördert, im Freundeskreis, in der Schule, in der Freizeit und im Sport sowie der Politik eine aktive Rolle einzunehmen. "Herkömmliche Formen politischer Partizipation, wie etwa die Teilnahme an Wahlen, sind durch unkonventionelle Formen wie Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Petitionen usw. erweitert worden. Die Ausweitung der politischen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist daher auch als Teil eines Reformprojektes zu sehen, das auf die 'Demokratisierung liberaler Demokratie' zielt." (Fatke, S. 43) Auf den hier erkennbaren zentralen Zusammenhang zwischen Selbst- und Mitbestimmung in der heutigen Zeit weist der Berliner Philosoph Volker Gerhardt in seinem umfassenden Werk mit dem bezeichnenden Titel "Partizipation - Das Prinzip der Politik" überzeugend hin. Für ihn ist gerade im Bereich der demokratischen Politik Partizipation der Dreh- und Angelpunkt schlechthin. Seine Definition von Partizipation ist auch für unsere Überlegungen zur Beteiligung von Jugendlichen durchaus geeignet. Auch wenn der Anspruch hoch ist, so wird der größere Zusammenhang sichtbar: "Wenn die Selbstbestimmung die Quelle aller gesellschaftlichen Eigentätigkeit ist, ohne die es nicht zu bewussten gemeinsamen Aktivitäten verschiedener Individuen kommen kann, ist die Mitbestimmung die spezifische Bedingung einer jeden politischen Organisation. Erst durch sie kommt es zu dem auf den wechselseitigen Verbindlichkeiten beruhenden gesellschaftlichen Zusammenhang, der wiederum nur durch Mitbestimmung zu erhalten und zu entfalten ist. Aus der von der Selbstbestimmung her gedachten Mitbestimmung erwächst und besteht die Politik. Um den Begriff von der betrieblichen Mitwirkung in Wirtschaftsunternehmen abzugrenzen, spreche ich statt von Mitbestimmung von Partizipation. Der Ausdruck hat den Vorteil, dass er stets das Ganze (totum) ins Bewusstsein rückt, an dem der Teil (pars) seinen sowohl aktiven als auch passiven Anteil nimmt." (Gerhardt 2013, S. 24f) Der Anspruch und die Erwartung, dass in unserer Gesellschaft Partizipation weit verbreitet sein sollte, ist gut begründet und weitgehend akzeptiert, aber die Umsetzung in der Wirklichkeit lässt vielfach zu wünschen übrig. Im Bereich der Schule und der außerschulischen Jugendbildung ist bekannt, dass es um die Partizipation von Jugendlichen an vielen Stellen nicht gut bestellt ist. Bevor auf Fördermöglichkeiten eingegangen wird, soll exemplarisch untersucht werden, wie es mit der Partizipation aussieht und wo es Probleme gibt. 2. Beteiligung von Jugendlichen in der Schule Beteiligung der Schülerinnen und Schüler wird in dieser kurzen Analyse bewusst weit definiert. Die Mitwirkung bezieht sich folglich nicht nur auf unterrichtliche Entscheidungen, sondern umfasst auch die innere Anteilnahme der Lernenden am Unterrichtsgeschehen, die verbale und nicht verbale Kommunikation, körperliche Aktivitäten, kurz- und längerfristige Einflussnahme (z. B. alle Formen der Zustimmung bzw. Ablehnung) auf allen Ebenen. Aversion oder Sympathie gegenüber dem Lehrer oder der Lehrerin sind Formen der Beteiligung und Einflussnahme des Schülers bzw. der Schülerin, die mitentscheidend sind für die Gestaltung des Unterrichtsklimas. Eine Lehrperson, die von den Schülerinnen und Schülern abgelehnt wird, hat es schwer, guten Unterricht zu machen – sie kommt nicht an, daher sollte sie etwas tun, um die Beziehungsebene zu verbessern, bevor sie (weiterhin) seinen Stoff 'durchzieht' – nach dem Motto: "Ich mache meinen Unterricht und wenn ihr nicht mitmacht, ist das Euer Problem! Ich bekomme mein Geld auch so." Mit dieser weiten Definition wird deutlich, dass die Macht des einzelnen und aller Schülerinnen und Schüler einer Klasse beachtlich ist, ihre Möglichkeiten der Einflussnahme und somit an der Beteiligung am Unterrichtsgeschehen durchaus groß ist – auch wenn dem Lehrer oder der Lehrerin dies so nicht bewusst ist und er mit dieser Macht nicht klarkommt bzw. diese sogar als bedrohlich empfindet. Kluge Lehrerinnen und Lehrer beziehen die Lernenden daher konsequent in die Planung des Unterrichts ein, geben ihnen interessante Aufgaben und viel Entscheidungsspielraum, schaffen Transparenz in den Leistungserwartungen und in der Leistungsbeurteilung, berücksichtigen Kritik und Aussagen zur (Un-)Zufriedenheit, sehen sich partiell als Anwalt der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Schule und Schulverwaltung – nicht nur im Bereich der Schülervertretung (SV) und den formalisierten Mitbestimmungsstrukturen. (© Juergen Jotzo / pixelio.de) Soweit es der zeitliche und thematische Spielraum zulässt, versuchen diese klugen Lehrerinnen und Lehrer, das Partizipationspotential der Schülerinnen und Schüler nicht nur innerhalb des Unterrichts und der Schule zu fördern und zu fordern, sondern auch auf den Grenzbereich zwischen Schule und außerschulischer Lebenswelt der Jugendlichen auszudehnen: Schule kann so ergänzend zu den offiziellen Unterrichtsthemen auch immer wieder Probleme und Missstände aus der Lebenswelt der Lernenden aufgreifen und zum Gegenstand des Unterrichtsgeschehens machen. Das Erlebnis einer demokratischen Schulkultur – so die empirische Untersuchung von Martina Dietrich – wirkt sich positiv auf das Niveau der demokratischen Handlungskompetenz von Schülerinnen und Schülern aus, wobei sich geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich Politikbezug, sozialen Einstellungen und politischem Engagement feststellen lassen: "Während Jungen bei der Auseinandersetzung mit Politik über ein höheres Kompetenzniveau als Mädchen verfügen (z. B. mehr Bereitschaft zur politischen Diskussion zeigen, W.S.) sind Mädchen sowohl bei den Einstellungen als auch beim Engagement überlegen. Mädchen nähern sich dem Gegenstand durch die Auseinandersetzung mit ihrem unmittelbaren Nahfeld, sie sind eher bereit, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen und sich aktiv zu engagieren; dagegen sehen sie der bewussten Auseinandersetzung mit dem politischen Feld – beispielsweise in Form der medialen Informationssuche oder der Bereitschaft zu politischen Diskussionen – distanzierter gegenüber als Jungen, die sich hier kompetenter zeigen." (Dietrich 2008, S. 291f) Schülerbeteiligung in der Primarstufe: Es ist immer wieder eine Freude zu sehen, wie im Kindergarten und in der Grundschule die spontane Beteiligungsbereitschaft der Kinder noch ungebrochen ist. Für die Erzieher/-innen und Lehrer/-innen ist es nicht schwer, die Kinder für Themen zu begeistern und zum Mitmachen zu bewegen. Lebendige und spontane Aktionen und Interaktion unter den Kindern und zwischen Kindern und Pädagogen bzw. Pädagoginnen ist hier der Regelfall. Gemeinsames Singen (und Tanzen) stärkt die Freude am Spielen und den Zusammenhalt in der Gruppe. Es ist "Kraftfutter fürs Gehirn und Balsam für die Seele." (Hüther 2013) Schülerbeteiligung in der Sekundarstufe I: Diese spontane Beteiligungsbereitschaft in der Grundschule erlahmt bei vielen Jugendlichen sichtlich in der Sekundarstufe I. Die Lehrpersonen müssen in der Regel viel Geschick aufbringen, um durch persönliche Ansprache oder durch geschickte Themen- und Methodenwahl die Kinder für ihren Unterricht zu begeistern. Mitmachen wird unter Jugendlichen eher als punktuelles Ereignis erlebt (u. a. weil Nichts-Tun noch langweiliger ist). Zudem ist es unter Schülerinnen und Schülern bisweilen sogar als Strebertum verpönt. Diese Entwicklung verwundert daher schon und wirft die Frage auf, wie aus der erfrischenden Beteiligungskultur der Primarstufe eine nicht zu übersehende gelangweilte Verweigerungskultur in der Mittelstufe entstehen kann. Denn erstaunlicherweise bleibt in anderen Bereichen wie Sport, Mode und Musik die Begeisterungsfähigkeit und Beteiligungsbereitschaft der Jugendlichen durchaus weiter bestehen, man halte sich nur die unterschiedlichen Fan-Kulturen und die verausgabten Mittel in diesen Bereichen vor Augen. In anderen öffentlichen Einrichtungen wie Kirchen, Gewerkschaften, politischen Parteien, Vereinen und Kultur ist das Partizipationsinteresse der Jugendlichen wenig ausgeprägt, wie in der jugendpolitischen Diskussion und in wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder anhand von Umfragen (weitgehend Durchschnittswerten) bedauernd festgestellt wird. So diagnostiziert die 16. Shell Jugendstudie ein eher distanziertes Verhältnis der Jugend zur Politik, was in ihrem unterdurchschnittlichen politischen Interesse zum Ausdruck kommt: "Bezogen auf das Jahr 2010 bezeichnen sich 40% der Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren als politisch interessiert." (S. 130) Auch das Beteiligungspotential im Bereich 'Aktiv sein für andere im Alltag' wird recht nüchtern eingeschätzt: "Zusammengenommen geben 39% der Jugendlichen an, in mindestens einem der von uns abgefragten Bereiche 'oft' aktiv zu sein" (S. 152), wobei der Einsatz für die Interessen von Jugendlichen (38%) und der Einsatz für hilfebedürftige Menschen (37%) Spitzenwerte einnehmen. Aber von großer spontaner Beteiligungsbereitschaft ist in diesen Zahlen nicht viel zu erkennen. Die These, dass bei Jugendlichen ein unausgeschöpftes Beteiligungspotential vorhanden sein könnte, wird durch einen Befund der Studie "Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland", die die Bertelsmann Stiftung veröffentlicht hat, untermauert: Die Jugendpartizipationsstudie weist nach, "dass 78 Prozent der Jugendlichen bereit wären, sich stärker zu engagieren, wenn die Angebote attraktiver wären". (S. 12) Betont wird in diesem Zusammenhang auch, dass nicht eine quantitative Ausweitung des Angebots, sondern eine Verbesserung in qualitativer Hinsicht erstrebenswert sei. "Partizipation kann jungen Menschen Räume eröffnen, in denen sie sich als wertgeschätzte Mitgestalter der Gesellschaft erfahren." (S. 12) Fragt man danach, welche Faktoren die Beteiligungsbereitschaft von Jugendlichen beeinflusst, so werden fünf Punkte genannt (S. 15): die Intensität der Beteiligungserfahrungen in der Schule das Zutrauen für ein Mittun qualifiziert zu sein die hinreichende Information über bestehende Angebote eine mögliche Mitgliedschaft in einem Verein die Zufriedenheit mit bisherigen Beteiligungsprozessen Betrachtet man den Unterrichtsalltag vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Interaktionsbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, so wird man trotz vielfältiger Veränderungen des Unterrichtsklimas auch heute noch die Diagnose aus den 70er Jahren bestätigt sehen und eine "institutionelle Dominanz des Lehrers" (vgl. Heinze 1976, S. 34ff) feststellen können. Manche meinen sogar, durch deutliches "Lob der Disziplin" die Autorität des Lehrers, der Lehrerin festigen zu müssen. Viele Pädagogen und Pädagoginnen lassen sich in ihrer Berufs- und Rollenauffassung demgegenüber von der folgenden Erkenntnis leiten: Eine qualifizierte Beteiligung von Lernenden am Unterrichtsgeschehen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass Lernprozesse gelingen und dass der Unterricht erfolgreich sowie sinnvoll ist. Jeder weiß, dass eine gute Schülerbeteiligung, die sich dadurch auszeichnet, dass alle Schülerinnen und Schüler sich mehr oder weniger aktiv in das Unterrichtsgeschehen einbringen (können) und die Lernprozesse wechselseitig mittragen, eine der wichtigsten Gelingensbedingungen für guten Unterricht ist. So weisen die zehn Merkmale guten Unterrichts (nach Meyer 2004) direkt oder indirekt darauf hin, durch welche didaktischen und methodischen Entscheidungen eine qualifizierte Beteiligung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht gefördert werden kann. Guter Unterricht ist heute ohne Schülerbeteiligung nicht denkbar. Zu einseitig wäre es allerdings, die Frage, wie und in welchem Ausmaß diese Beteiligung gelingt, nur vom pädagogischen Geschick und der praktischen Unterrichtserfahrung der Lehrperson abhängig zu machen. Der Spielraum, den das Schulsystem dem oder der Lehrenden lässt und der für Schülerinnen und Schüler attraktiv ist, erweist sich angesichts von verdichteten Lehrplänen, Umstellung von G9 auf G8, Einführung von Bildungsstandards und Zentralabitur sehr gering. Die Durchrationalisierung der schulischen Bildung, die Überbetonung der utilitaristischen volkswirtschaftlichen Verwertung und die unkritische Übernahme der Sprache der Wirtschaftsmanager wird in der Lehrerbildung daher zu Recht sehr kritisch gesehen (vgl. Hillesheim/Weber 2010). (© Martin Schemm / pixelio.de) Beteiligung und Mitmachen im schulischen Bereich hängen in hohem Maße davon ab, wie die Interaktion zwischen den Jugendlichen als Subjekten und dem jeweiligen System (Schule, Verein, Organisation, Kirche, Partei u. a.) gelingt. Im Anschluss an diese Eingangsüberlegungen lassen sich daher folgende Thesen formulieren: Je mehr es dem jeweiligen System gelingt, die Bedingungen (nach Zeit, Inhalt/Thema, Form, Methode, Ergebnis, Standards) zu definieren, unter denen die Jugendlichen sich beteiligen dürfen, umso schwerer fällt es Jugendlichen, sich dort einzubringen und an den Aktivitäten teilzunehmen. Der Spielraum, der neuen jugendlichen Akteuren (Subjekten) für Spontaneität, Einflussnahme, Kreativität, originäre Leistungen und Engagement in der Schule eingeräumt wird, ist systembedingt gering. Denn die Partizipationserwartungen des Systems sind weitgehend normiert (z. B. durch Mitgliedschaftsregeln) und standardisiert (z. B. durch Beteiligungsformen). Die älteren Akteure beherrschen diese Systemanforderungen deutlich besser und besetzen die vorhandenen entscheidenden Positionen, so dass für Jüngere im System kaum noch Platz ("Spielraum") vorhanden ist. Außerhalb der etablierten Systeme ist für Jugendliche der (vermutete) Selbstentfaltungsspielraum deutlich größer und die Chance für spontane Beteiligungen scheinen ihnen dort eher gegeben zu sein. Hier wird bewusst von Schule als sozialem System gesprochen, da so eine generellere Sichtweise zum Partizipationsproblem zum Tragen kommt und die Übertragbarkeit von Lösungsansätzen vom System Schule in andere soziale Systeme z.B. der außerschulischen Jugendarbeit und der Politik leichter möglich wird. Ein soziales System ist das, was Menschen für ein soziales System halten, um ihre Kommunikationsbeziehungen untereinander zu stabilisieren (z. B. durch Kommunikation über Kommunikation), indem sie Ziele/Aufgaben definieren, Mitgliedschaftsbedingungen und Rollen formulieren sowie Regeln für die Organisation der Kommunikation aufstellen (wer wem was zu sagen hat). Dieser einfache Systembegriff mit den drei Funktionsmerkmalen reicht aus, um sich die besonderen Systemeigenschaften von Schule, Jugendgruppe und politischer Partei und die Partizipationschancen deutlich zu machen. 3. Partizipation von Jugendlichen fördern: Auf die Perspektive kommt es an Politische Beteiligung im weiten Sinne liegt vor, wenn Jugendliche ihre Aufmerksamkeit sozialen oder politischen Ereignissen/Fragen/Problemen zuwenden, sich dazu informieren, Stellung beziehen (auch wenn ihr Urteil noch unsicher ist), andere in ihre Überlegungen mit einbeziehen, gemeinsam Einfluss nehmen wollen und nach geeigneten Aktivitäten suchen. Ein Merkmal beispielsweise, seine Aufmerksamkeit einem politischen Ereignis (z. B. Wahl des US-Präsidenten, Bundestagswahl 2013) zuzuwenden, reicht schon aus, um von politischer Beteiligung sprechen zu können. Es können, müssen aber nicht alle hier genannten sechs Merkmale gleichzeitig vorliegen. Politische Beteiligung kann daher eine einfache, aber auch ein komplexe Handlung sein, die sich zudem über einen gewissen Zeitraum verändert und weiterentwickelt. Für Jugendliche und Erwachsene gilt: Von einem oberflächlichen Interesse an dem Auftritt eines Wahlkämpfers kann ich mich durchaus zu einem aktiven Wahlkampfmanager entwickeln – aber dies dürfte eher eine seltene Ausnahme sein (vgl. Stauss 2013). Partizipation vom System her gedacht Konzeptionell sind bisherige Versuche, die Beteiligung der Jugendlichen am politischen Geschehen zu erhöhen, sehr stark von einer Systemperspektive geprägt, d. h. Jugendvertreter wollen den Jugendlichen zeigen, wo die Machtzentren in unserer Gesellschaft sind (Parlament, Regierung, Verwaltung, Öffentlichkeit) und wie sie vorhandene Mittel nutzen können, um ihre Sichtweise der Dinge vorzustellen und auf politische Entwicklungen Einfluss zu gewinnen. Auf dieses Lösungsmuster wird man fixiert, wenn man die Systemperspektive einnimmt. Wie die Pharmaindustrie als Pressuregroup tätig ist und ihre Interessen durchsetzt, so sollen auch Jugendliche ihre Interessen organisieren und in die Politik einbringen. Jugendliche werden dann weitgehend als Mitspieler im Kampf um die Ressourcen begriffen, deren Aufgabe darin besteht, sich gut zu organisieren ("vernetzen"), um so Einfluss auf die Politik zu gewinnen. (© Eventpress Hermann) Schon diese Parallelisierung zeigt, wie aussichtslos dieses Unterfangen letztlich für die Jugend in der Rolle als einer von vielen Lobbygruppen ist. Denn "die Jugend" gibt es nicht und sie stellt keine geschlossene (finanzkräftige) (Interessen-)Gruppe dar, die ihre Ziele eindeutig formulieren und gut vertreten kann. Selbst die organisierte Jugend ist in viele Landesverbände und Vereine aufgeteilt. Zum anderen verfolgen Jugendliche eine Fülle heterogener, sich widersprechender Interessen. Sie besitzen daher kaum ein Verweigerungs- oder Interventionspotential (wie dies z. B. bei Lobbygruppen aber auch Gewerkschaften noch gegeben ist). Auch der Rat, über die Parteien Einfluss auf die Politik zu gewinnen, ist ein mühseliger Weg (auch "Ochsentour" genannt), demotivierend ebenso wie der "Marsch durch die Institutionen". Mit Verweis auf diese Möglichkeiten ist in der Regel bei Jugendlichen kein politisches Engagement zu fördern oder das verdeckte Beteiligungspotential zu wecken, diese Partizipationswege stellen eher lobenswerte Ausnahme dar. Vor diesem Hintergrund kann man Verständnis dafür gewinnen, dass (nach Selbstauskunft) nur 40% der Jugendlichen politisches Interesse signalisieren (vgl. Shell Jugendstudie). Man muss sich geradezu wundern, dass die Proportionen nicht noch ungünstiger ausfallen. Denn die politischen Aktionsfelder sind in allen Bereichen von Profis besetzt, die ihre Interessen vertreten, dies sicher gut können und sich nun nicht von "jungen Springern" verdrängen lassen wollen. Auf der Bühne der politischen Institutionen scheint einfach wenig Platz zu sein für Neulinge und jugendliche Politikakteure. Den Wahlakt trotz alledem als Großtat eines Volkssouveräns einzuschätzen, bedarf schon eines abgeklärten Verhältnisses zur Politik. Wer nach Möglichkeiten sucht, das Partizipationspotential der Jugendlichen zu entdecken, zu wecken und zu fördern, sollte daher einen Perspektivenwechsel vornehmen und vom System- zum Subjektstandpunkt übergehen. Partizipation vom Jugendlichen her gedacht Der alternative Versuch, das politische Beteiligungspotential bei den Jugendlichen zu entdecken und zu fördern, geht daher konsequent davon aus, den Jugendlichen als handelndes Subjekt zu denken und ihn ernst zu nehmen. Die etablierte Politik (das politische System) wird dabei nicht vernachlässigt, aber es steht nicht am Anfang und ist auch nicht das Ziel der Überlegungen, sie ist Rahmenbedingung, an der sich Jugendliche orientieren sollten. Als Pädagogen und Pädagoginnen fragen wir zunächst bewusst danach: Was sind die Interessen der Jugendlichen, die wir unterrichten? Was sind die Themen, Sorgen, Fragen und Nöte, mit denen sie sich beschäftigen und die sie behandelt wissen möchten? Schon bei einer Klassengröße von 24 Jugendlichen ist dieses schwer zu eruieren und zu definieren. Kein Lehrer, keine Lehrerin käme auf die Idee, entsprechend den empirischen Jugendstudien 10 Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse als politisch interessiert und 14 als politisch nicht interessiert einzustufen. Hier zeigt sich, wie grobkörnig diese Klassifikation ist. Jeder bzw. jede einzelne Jugendliche hat seine individuellen Wünsche, Probleme und Ideen. Ganz abgesehen davon, dass "persönliche" Fragen angesichts des zu bewältigenden Stoffes kaum Platz im Unterricht und der Schule haben, und wenn doch, dann werden sie häufig als Aufhänger benutzt, um dann den eigentlich wichtigen und vom Lehrplan verlangten Stoff durchzunehmen. Hier zeigt sich, wie schwierig es für Lehrende ist, die Orientierung an den Interessen der Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen und sie bei der Planung des Unterrichts zu berücksichtigen. Denn was sind die Interessen der Lernenden? Wer definiert sie? Die Schülerinnen und Schüler selber sind sich uneins. Wichtig ist für sie heute dies, morgen das. Was sind subjektive und objektive Schülerinteressen? Diese Unklarheit, Variabilität und Beeinflussbarkeit Interessen von Kindern und Jugendlichen ist ein ideales Betätigungsfeld für die Werbung. In einem umfangreichen Dossier "Die verführten Kinder" weist DIE ZEIT (Nr. 20 vom 08.05.2013, S. 15-17) auf diesen Punkt kritisch hin: "Mit perfiden Methoden verwandeln Werbung und Konzerne unsere Kinder in Konsumenten. Je schwächer die Eltern, desto größer der Erfolg. [...] Ein Zehnjähriger kennt heute 300 bis 400 Marken. Die Werbung durchdringt den Alltag der Kinder. Selbst in vermeintlich geschützten Räumen wie Schulen und Sportvereinen breitet sie sich aus. Die wohl aggressivste Form des Marketings betreibt die Lebensmittelindustrie. Sie wirbt für ungesunde Produkte, weil die besonders hohe Profite versprechen." (ZEIT, S. 15) Wenn es für die Lehrperson schon schwierig ist, gemeinsame Interessen von Jugendlichen zu identifizieren, um sie z. B. bei der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen, wie viel schwieriger ist es dann, auf dieser unklaren Basis auch nur ansatzweise Partizipationsprojekte zu planen, gemeinsame Aktivitäten oder Aktionen aufzubauen und umzusetzen, wie z. B. Briefe schreiben, in der Verwaltung anrufen, Eingaben vorbereiten, Politiker in Schulen einladen etc. Auch wenn die Orientierung an den Interessen der Schülerinnen und Schüler in einer durch Werbung stark beeinflussten Gesellschaft ein schwieriges Unterfangen zu sein scheint, halten wir an der Idee fest, Jugendliche darin unterstützen zu können, ihre eigenen Interessen artikulieren und ihre Sichtweise der Dinge in die Politik einbringen zu können. Lehrende und Lernende müssen dieses Problem "Was sind Schülerinteressen?" exemplarisch zum Thema machen, indem z. B. einleitend auf Kinderrechte eingegangen wird, genügend Zeit für die Erörterung dieser Frage an einem konkreten Fall reserviert wird, Methoden der Artikulation und Präsentation von spontanen Interessensaussagen (s. GrafStat-Befragung) systematisch eingesetzt werden und die Arbeit an diesem Problem im Verlaufe des Unterrichts immer wieder aufgegriffen wird. Die zu erwartende Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Ansichten und Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen macht das didaktische Gestaltungsproblem sichtbar, das im Unterricht produktiv genutzt werden sollte. Selbst- und Mitbestimmung, darauf wies schon V. Gerhardt hin, hängen eng zusammen. Nur wie kann dieser abstrakte Gedanke für die Schule und die Jugendarbeit fruchtbar gemacht werden? Wir müssen dazu in einem ersten Schritt gleichsam kontrafaktisch daran festhalten, dass es so etwas wie ein gemeinsames Interesse der Jugendlichen gibt – trotz aller partikulären Unterschiede und momentanen Meinungsverschiedenheiten. Der Gemeinsinn steht nicht am Anfang des Prozesses, sondern ergibt sich erst im Laufe des gemeinsamen Arbeitens an dem Problem. Schülerinnen und Schüler sind in der Schule in ähnlicher Weise von Lehrermangel, schlechten Räumen, Stoffhuberei, Leistungsdruck und unsicheren Berufsaussichten betroffen – nur sie wissen es nicht so deutlich und tun sich schwer, ihre Sichtweise der Dinge zu artikulieren. Sie haben auch noch nicht die Erfahrung gemacht, dass Solidarität untereinander ein hohes Gut für die Gemeinschaft und für die Politik ist, das man pflegen und hegen muss. Dem Lehrer und der Lehrerin sollte es ein Anliegen sein, die Lernenden zu ermutigen und zu befähigen, ihre Interessen zu artikulieren und genügend Zeit für diesen Klärungsprozess einzuräumen. Eine Gruppe von 24 Schülerinnen und Schülern muss erst noch lernen, jeweils ihre Sichtweise zu artikulieren, die Ansicht eines jeden anderen wahrzunehmen und anschließend schrittweise zu gemeinsamen Positionen zu gelangen. Die Kultivierung des Gemeinsinns im Unterricht durch faire Verfahren der Urteilsbildung sollte daher einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Denn Jugendliche fühlen sich bislang eher als individuelle Konsumenten angesprochen, die ihren Nutzen optimieren (sollen). So werden sie in der Konsumwelt angehalten, ihre (Konsum-)Freiheit auszukosten, was nicht nur teuer ist, sondern sicher in hohem Maße Spaß macht. Die Orientierung am Gemeinsinn, das Erarbeiten des gemeinsamen Interesses wird vielfach vernachlässigt. Sie steht daher bewusst im Zentrum der Unterrichtsreihe, um die Subjektperspektive für die Jugendelichen stark zu machen. Denn Mitbestimmungsfähigkeit setzt Selbstbestimmung voraus. Jedem sollte bewusst werden, dass Urteilsbildung und Entscheidungsfähigkeit dazu nötig sind und im Unterricht erlernt werden können. Die zu beachtenden Regeln und die nötigen Fähigkeiten der Urteilsbildung werden im sozialen Prozess des Unterrichts selbst vermittelt (vgl. Sander/Igelbrink 2010). Nicht die Lehrperson bestimmt dabei die Lösungen, sondern sie ergeben sich aus dem strukturierten Prozess der Urteilsbildung im Unterricht. In den Begründungen der Urteile wird deutlich, dass die Einheit durchaus in der Vielfalt der Urteile zum Ausdruck kommt. So kann es gelingen, a) die Relevanz des Themas, an dem man arbeiten will, (mit Ranglisten) zu bestimmen, b) Arbeitsschritte und Regeln zu entwickeln, die bei der Urteilsbildung zu beachten sind, c) Lösungsideen (mit Alternativen) zu erörtern und Vorschläge zu machen und d) öffentlich in der Schule wie auch außerhalb der Schule politisch wirksam zu werden. Diese Arbeit am Gemeinsinn steht nicht im Gegensatz zu den subjektiven Interessen der Jugendlichen, sie knüpft vielmehr an deren Freiheitsperspektiven an und erweitert sie zu dem, was auch von Jugendlichen vertreten wird: Sie haben auch heute noch vielfach Ideale, für die sie sich einsetzen wollen, für die sie bereit sind zu kämpfen, denn jenseits des Konsums gibt es durchaus Bereiche, in denen es sich lohnt, sich für andere zu engagieren. 4. Maßnahmen zur Stärkung der Beteiligung von Jugendlichen Wenn Sie als Lehrer oder Lehrerin Ihre Klasse betrachten und sagen sollen, wer von Ihren Schülerinnen und Schülern zu sozialem Engagement oder zu politischer Partizipation bereit ist, würden Sie wahrscheinlich sagen: Grundsätzlich alle, in bestimmten Zusammenhängen jeder auf seine Weise. Zumindest würden Sie niemanden ausschließen, sich für andere Menschen oder für eine lohnende Sache einzusetzen. Sie haben in Erinnerung: Auch und gerade weniger leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zeigen sich auf Klassenfahrten oder in Unterrichtsprojekten als äußerst hilfsbereit und engagiert. Viele Schülerinnen und Schüler brauchen zwar eine persönliche Ansprache (Anschub, Starthilfe, Gruppenerlebnis etc.), doch dann sind sie mit dabei. In der Gruppe geht in einem bestimmten Alter sowieso vieles leichter. Vielfach kommt es auch auf eine gute Stimmung, auf den Klassengeist an, den Sie als Lehrer oder Lehrerin durch entsprechende Rahmenbedingungen unterstützen können. Manche Schülerinnen und Schüler blühen in diesen offenen Unterrichtssituationen richtig auf und sind in ihrem Engagement nicht wiederzuerkennen. Diese Ihre grundsätzlich optimistische Einschätzung der Situation (Partizipationsbereitschaft in Ihrer Klasse) gerät in eine Belastungsprobe, wenn Sie Ergebnisse (z. B. Mittelwerte) der empirischen Jugendforschung hinzuziehen. Aber Sie halten weiterhin an Ihrer positiven Einschätzung fest und suchen diesen pädagogischen Optimismus in der Praxis umzusetzen. Wer als Lehrperson die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler stärken will, ist diesen einleitenden Thesen zufolge gut beraten, in ihrer Trinkwasser - ein kostbares Gut (© UNICEF) Überlegungen die Perspektive der handelnden Schüler-Subjekte konsequent einzunehmen. Um das zu signalisieren, kann sie folgende zwei Wege beschreiten: Sie greift die UN-Kinderrechtskonvention auf und stärkt durch Bezugnahme auf diese sprachlich gut formulierten Vorstellungen einer idealen Welt das Bewusstsein der Kinder und Jugendlichen, von diesen ihren Rechten Gebrauch zu machen, was für diese sicher spannend ist, da viele meinen, erst mit dem Wahlrecht begännen ihre (politische) Mitsprache- und Mitwirkungsmöglichkeiten. Der Interner Link: Baustein 2 enthält die dafür benötigten Arbeitsmaterialien. Mit diesem Zugang konkretisiert und stärkt man das normative Leitbild von Jugendpartizipation, für das zu engagieren sich auch im konkreten Fall lohnen dürfte. (© berwis / pixelio.de) Die andere Variante des schülergerechten Zugangs besteht darin, bezogen auf den konkreten Partizipationsfall zunächst die aktuellen Einsichten, Ansichten, Interessen und Lösungsvorstellungen der Lerngruppe zu erfragen, evtl. mit denen der Jahrgansstufe oder denen einer anderen relevanten Gruppe zu vergleichen. Dazu kann die Befragungssoftware GrafStat und der im Interner Link: Baustein 1 angebotene Fragebogen eingesetzt werden. Die Eruierung der Interessen und Erwartungen in der Klasse sollten zu Beginn der Unterrichtsreihe daher exemplarisch zum Thema gemacht werden, da so von Beginn an deutlich wird, dass und wie die Interessen der Jugendlichen ernst genommen und im Laufe der Unterrichtsreihe berücksichtigt werden. Dieser Ansatz der Orientierung an den Interessen der Jugendlichen ist geeignet, auch auf andere Bereiche der Beteiligung in der Schule, im Verein oder in der lokalen Politik übertragen zu werden. Beide Varianten sollten sinnvollerweise aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. So wird auch für die Lerngruppe deutlich, dass es im konkreten Partizipationsbeispiel (Interner Link: Baustein 4) – wie fast immer bei politischen Konflikten - eine mehr oder weniger große Diskrepanz zwischen den individuellen Interessen der Jugendlichen und den normativen Vorstellungen einer gerechten Welt geben kann und dass dies ein spannender und geeigneter Ausgangspunkt für eigenes Urteilen und Handeln ist. Bezug auf die Kinderrechtskonvention der UN Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes wurde im Jahr 1989 verabschiedet. "Die Konvention ist die aktuellste und wichtigste Grundlage der internationalen Kinderpolitik. Auch wenn natürlich die Kinder der ‚3. Welt‘ sich mit anderen Problemen herumschlagen müssen als die Kinder bei uns – die Konvention ist eine für alle geltende, völkerrechtlich verbindliche Grundlage. Es ist daher sehr sinnvoll, sie zu kennen, speziell, wenn man die Rechte der Kinder öffentlich diskutieren will." (Fesenfeld 2001, S. 18) Erstmals wird hier für Minderjährige eine eigenständige Rechtsposition anerkannt: Sie sind nicht mehr nur Objekt von Fürsorge und Schutz, sondern "sie sind von Beginn an Subjekte, die mit ihren eigenen Bedürfnissen ernst genommen werden müssen" (ebd. S. 19). Im Deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KHJG) wird in der Fassung des Jahres 1991 dieser Gedanke umgesetzt und nicht nur Schutz und Fürsorge, sondern aktive Förderung der Entwicklung von Jugendlichen als Ziel angegeben. Die Notwendigkeit der Jugendbeteiligung Alle Jugendverbände und Parteien in Deutschland betonen die Notwendigkeit der Jugendbeteiligung. Die Partizipation von Jugendlichen ist für den Erhalt, das Funktionieren und der Innovationsfähigkeit des demokratischen Gemeinwesens unverzichtbar. Umgekehrt sind die Jugendlichen, wenn sie sich gedeihlich entwickeln sollen, auf Gestaltungsspielräume, soziale Anerkennung und Chancen der Einflussnahme angewiesen. Eine Übersicht der Stellungnahmen des Deutschen Bundesjungenkuratoriums und der politischen Parteien findet sich auf der Seite der Externer Link: Allianz für Jugend. Es ist wichtig, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, dass die UN-Kinderrechtskonvention die Wahrung elementarer Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zum Ziel hat, was wiederum mit der Option auf Mitbestimmung verbunden ist. Den Jugendlichen sollten die Rechte von Kindern und Jugendlichen und hier insbesondere das Privileg, die eigene Meinung kund tun und sich für seine eigenen Interessen einbringen zu können, nahe gebracht werden, damit sie ihre Rechte kennen und von ihren Möglichkeiten Gebrauch machen. Innerhalb der Kinderrechte (z. B. das Recht auf Gleichheit, auf Überleben und Entwicklung des Kindes, auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause, auf gewaltfreie Erziehung, Schutz im Krieg und auf der Flucht, auf Gesundheit und den Schutz vor Suchtstoffen, auf angemessene Lebensbedingungen, auf Bildung, auf Freizeit, Spiel und Erholung etc.) spielt das Recht sich mitzuteilen und gehört zu werden im Hinblick auf Partizipation eine besondere Rolle. Kinder haben das Recht, sich zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie dürfen sagen, was sie denken, und man soll ihre Ansichten bei Entscheidungen berücksichtigen (Artikel 12 und 13). Konkrete Regelungen für die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen in der Politik vor Ort finden sich in den Gemeindeordnungen für das jeweilige Bundesland, darüber hinaus gibt es öffentliche Ansprechpartner und Einrichtungen in Deutschland für Kinder und Jugendliche. (Vgl. die Hinweise in Interner Link: Baustein 2.) Wenn ein Partizipationsprojekt aus dem unmittelbaren Bereich der Schule geplant ist, empfiehlt es sich bei der Konkretisierung der Kinderrechte in exemplarischer Weise auch auf rechtliche Bestimmungen einzugehen, die die Mitspracherechte der Jugendlichen, ihre schulischen Rechte und Pflichten darlegen, wobei anhand von überschaubaren kleineren Fällen u. a. auch auf Schulschwierigkeiten und Ärger mit dem Lehrer oder der Lehrerin und anderen Schülerinnen und Schülern eingegangen werden kann, um die Rechtsposition der Kinder deutlich zu machen. Was tun bei schlechten Noten und Sitzenbleiben? Was tun, wenn dich der Lehrer bzw. die Lehrerin ungerecht behandelt? Wann verstößt eine Lehrkraft gegen Grundrechte eines Schülers bzw. einer Schülerin? Ärger mit Mitschülerinnen oder Mitschülern – was können wir tun? Gute Hilfestellungen hierzu bietet der Jugendrechtsberater von Sigrun von Hasseln (2003). Ermittlung der Schülerinteressen und Vorstellungen Bei der Planung von Klassenfahrten ist es üblich, Ziele zu sammeln, Alternativen zu suchen, zu bewerten und insgesamt ein faires Verfahren des Aushandelns unterschiedlicher Ziele und Aspekte zu beachten. Auch bei der Wahl des Partizipationsthemas sollte in ähnlicher Weise verfahren werden, indem danach gefragt wird: Zu welchem Thema/Zweck wollen wir dieses Partizipationsvorhaben starten, wie, wann, wo, und mit wem? Alle Schülerinnen und Schüler der Klasse/des Kurses sollten gefragt sein und sich an der Themenfindung aktiv beteiligen. Schon hier fängt die Beteiligung für alle an. Das Vorhaben sollte von Anfang an nicht nur eine Angelegenheit von Meinungsführern, Klassensprecher oder Experten sein. Gerade um der Beteiligung aller willen ist es besonders wichtig, ein geordnetes und übersichtliches Verfahren der Interessenerkundung gemeinsam zu entwickeln und zu praktizieren. Mit GrafStat steht eine leicht zu benutzende Software zur Verfügung, um auch unter einer größeren Gruppe von Schülerinnen und Schülern (z. B. Jahrgangsstufe, Schule) die Interessen der Jugendlichen zu dem in die nähere Wahl gezogenen Partizipationsthema zu eruieren, Rangfolgen ausfindig zu machen und die Befragungsergebnisse übersichtlich zu präsentieren. Gerade die öffentliche Präsentation und Diskussion der Alternativen ist ein wichtiger Vorgang, um die Meinungsbildung durch einen strukturieren Urteilsbildungsprozess qualifiziert voranzubringen und die Beteiligung zugleich auf eine breite Basis zu stellen. Selbst- und Mitbestimmung ergänzen sich so. Der hier zu tätigende Aufwand lohnt sich, denn diese Arbeit von Lehrenden und Lernenden an der und für die Gemeinschaft stellt eine wichtige Investition in den sensus communis dar und macht am konkreten Beispiel deutlich, wie die Gemeinschaftsbildung in der Schule in der Schule gefördert werden kann. Generelles Ziel eines solchen Beteiligungsprojektes ist es, die Schülerinnen und Schüler als Partizipationssubjekte zu stärken und das System Schule für die Beteiligung der Jugendlichen zu öffnen. Die Jugendlichen können so am Beispiel Schule Erfahrungen sammeln, wie Selbst- und Mitbestimmung funktionieren können, wo Probleme auftauchen, wie sie (solidarisch) bearbeitet und wie die Erfolge/Ergebnisse auf andere Bereiche und Systeme übertragen werden können. Die Verbindung zwischen schulischer und außerschulischer Jugendarbeit wird so im Projekt vorbereitet. So kann auch das Anliegen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit aufgegriffen und unterstützt werden, die die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in drei Aufgabenbereiche ausweitet: - "die Förderung der Partizipation innerhalb der Einrichtung, die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen bei der Einmischung in die eigene Lebenswelt und die aktive (Mit-)Gestaltung der kommunalen Partizipation" (Zinser 2005, S. 158). Verwendete Literatur: Albert, Mathias, Hurrelmann, Klaus u.a.: 16. Shell Jugendstudie: Jugend 2010. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2011 Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren Hamburg, Hoffmann und Campe: Hamburg 2007 Berger Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1969 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland. Entwicklungsstand und Handlungsansätze. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2007 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik (09.11.2012): Externer Link: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Kinder-und-Jugend/eigenstaendige-jugendpolitik.html (05.04.2013) Calmbach, Marc/Thomas, Peter Martin/Borchard, Inga/Flaig, Bodo: Wie ticken Jugendliche? 2012 - Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland (SINUS-Jugendstudie U18). Düsseldorf: Verlag Haus Altenberg 2011 Diedrich, Martina: Demokratische Schulkultur. Messung und Effekte. Münster: Waxmann Verlag 2008 Fatke, Reinhard: Kinder- und Jugendpartizipation im wissenschaftlichen Diskurs. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland. Entwicklungsstand und Handlungsansätze. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2007, S. 19-38 Fesenfeld, Bergit: Kinderrechte sind (k)ein Thema! Praxishandbuch für die Öffentlichkeitsarbeit. Münster: Votum Verlag 2001 Foray, Philippe: Gemeinsame Bildung und Gemeinsinn. In: Benner, Dietrich (Hrsg.): Bildungsstandards, Paderborn: Schöningh-Verlag 2007, S. 221-230 Gerhardt, Volker: Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: Beck 2013 Hasseln, Sigrun von: Jugendrechtsberater. Baden-Baden 2003 (Lizensausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 413) Heinze, Thomas: Unterricht als soziale Situation. Zur Interaktion von Schülern und Lehrern. München: Juventa Verlag 1976 Hillesheim, Karl-Friedrich/Weber, Bernd (Hrsg.): Perspektiven der Lehrerbildung. Zum Auftrag der Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung, Münster/Berlin: LIT-Verlag 2010 Hüther, Gerald: Singen ist „Kraftfutter“ für Kindergehirne. Die Bedeutung des Singens für die Hirnentwicklung. Homepage von Gerald Hüther: Externer Link: http://www.gerald-huether.de/populaer/veroeffentlichungen-von-gerald-huether/texte/singen-gerald-huether/index.php (05.04.2013) Oser, Fritz /Biedermann, Horst (Hrsg.): Jugend ohne Politik. Ergebnisse der IEA-Studie zu politischem Wissen, Demokratieverständnis und gesellschaftlichem Engagement von Jugendlichen in der Schweiz im Vergleich mit 27 anderen Ländern. Rüegger Verlag: Zürich und Chur 2003 Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht. Berlin: Cornelsen 2004 Sander, Wolfgang/Igelbrink, Christian: Selbstbestimmt urteilen lernen. Münster: LIT-Verlag 2010 Stauss, Frank: Höllenritt Wahlkampf. Ein Insiderbericht, München: dtv 2013 Steinert, Heinz (Hrsg.): Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1972 ZEIT: "Die verführten Kinder", Nr. 20 vom 08.05.2013 S. 15-17 Zentrum Eigenständige Jugendpolitik: Externe Beiträge. Stellungnahmen und Positionen zu einer Eigenständigen Jugendpolitik, auf den Seiten der „Allianz für Jugend": Externer Link: http://www.allianz-fuer-jugend.de/Eigenstaendige-Jugendpolitik/Externe-Beitraege/465/ (05.04.2013) (© S. Hofschlaeger / pixelio.de; www.pixelo.de) (© Juergen Jotzo / pixelio.de) (© Martin Schemm / pixelio.de) (© Eventpress Hermann) Trinkwasser - ein kostbares Gut (© UNICEF) (© berwis / pixelio.de)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-02-15T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/155200/sachanalyse/
Generelles Ziel dieses Beteiligungsprojektes ist es, die Schülerinnen und Schüler als Akteure zu stärken und das System Schule für die Beteiligung der Jugendlichen zu öffnen. Die Jugendlichen können so am Beispiel Schule Erfahrungen sammeln, wie Selb
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Weg zur Demokratie in den neunziger Jahren | Afrika | bpb.de
Anfang der neunziger Jahre vollzog sich schlagartig eine demokratische Wende in vielen afrikanischen Staaten - ausgelöst durch die Unabhängigkeit Namibias. Wo liegen die Ursachen des Wandels, das Versagen der Diktaturen, aber auch die Rückschläge? Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 264) - Weg zur Demokratie in den neunziger Jahren Einleitung Bis Ende der achtziger Jahre war die im vergangenen Jahrhundert geprägte Bezeichnung Afrikas als dunkler Kontinent in einer Hinsicht zweifellos gerechtfertigt: Die dort herrschenden autoritären politischen Systeme hatten sich wie ein Schatten über die Länder der Region gelegt. Afrika südlich der Sahara befand sich im festen Griff der Diktatoren. Menschenrechte bedeuteten wenig, Rechtssicherheit war kaum vorhanden. Putsche waren an der Tagesordnung. Politische Macht diente überwiegend der Selbstbereicherung der Machthaber und der sie umgebenden Cliquen. Ein kleiner Teil des derart angesammelten Vermögens sickerte zu jenen Volksgruppen und Regionen durch, die die ethnische und regionale Basis der jeweiligen Machtkoalition bildeten. Unter den 48 Staaten südlich der Sahara konnten 1988 nur die nach Bevölkerungszahl winzigen Länder Botswana und Mauritius, mit sehr viel gutem Willen auch noch Senegal und Simbabwe als Demokratien bezeichnet werden. Südafrika verfügte zwar über demokratische Institutionen, die aber nur für die Minderheit der weißen Bevölkerung Gültigkeit hatten. Demokratische Wende Dieses düstere Bild sollte sich Anfang der neunziger Jahre schlagartig erhellen. Mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 und den dort durchgeführten demokratischen Wahlen wurde der Startschuß für einen schnell um sich greifenden Demokratisierungsprozeß gegeben. Signalcharakter hatten die Ablösungen der autoritären Systeme in Benin im Jahr 1990 und in Sambia im darauffolgenden Jahr. In Benin erfolgte die Systemänderung über eine Nationalkonferenz, die sich nach historischem französischem Vorbild aus Vertretern aller großen gesellschaftlichen und politischen Gruppen des Landes zusammensetzte. Sie war von einem autoritär regierenden Präsidenten eingesetzt worden, um der demokratischen Reformbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Strategie mißlang. Die Nationalkonferenz erreichte zuerst eine Verfassungsänderung und dann demokratische Wahlen, die zur Abwahl des Präsidenten führten. Benins Weg zur Demokratie setzte Zeichen für die anderen Länder. In einer Reihe von ebenfalls frankophonen Staaten fanden Nationalkonferenzen statt, fast alle führten Anfang der neunziger Jahre Wahlen durch. Die meisten anglophonen Länder Afrikas folgten dem Beispiel Sambias. Dort verweigerte der autoritär regierende Präsident zwar eine Nationalkonferenz, ermöglichte zumindest aber Wahlen, die auch in seinem Falle zur Abwahl führten. Erst die neuen Machthaber leiteten dann eine Verfassungsreform ein. Insgesamt fanden im Zeitraum von 1990 bis 1997 mehr als 40 Wahlen statt. Sie hatte es zwar in Afrika südlich der Sahara schon vor 1990 gegeben. Bei ihnen standen in der Regel aber nur ein Präsidentschaftskandidat ohne Konkurrent und die Parlamentskandidaten der Einheitspartei zur Wahl. Bei den Wahlen seit 1990 handelte es sich fast ausnahmslos um Mehrparteienwahlen. Ursachen des Wandels Worin liegen nun die Gründe für diesen Wandel, dessen Geschwindigkeit und Umfang wohl die meisten politischen Beobachter innerhalb und außerhalb Afrikas überrascht hat? Bei der Beantwortung dieser Frage lassen sich externe und interne Faktoren unterscheiden. Der wichtigste externe Faktor ist das Ende des Ost-West-Konflikts, der sich in zweierlei Hinsicht auf Afrika südlich der Sahara auswirkte. Zum einen darf der Demonstrationseffekt nicht unterschätzt werden, den der Sturz der Diktatoren in Osteuropa auf Afrika ausübte. Die Oppositionellen Afrikas stellten unter diesem Eindruck die Frage, warum in ihren Ländern nicht gelingen sollte, was in osteuropäischen Staaten, deren Diktaturen ja weitaus machtvoller und repressiver waren als die afrikanischen, möglich gewesen war. Verstärkend kam hinzu, daß nicht wenige der afrikanischen Diktatoren mit ihren osteuropäischen Kollegen eng verbündet waren. Da sie sich und ihr System häufig als sozialistisch definierten, war ihnen mit der Bankrotterklärung des real existierenden Sozialismus in Osteuropa gleichsam auch die ideologische Basis ihres Machtsystems abhanden gekommen. Viel wichtiger waren jedoch die Auswirkungen, die das Ende des Ost-West-Konflikts auf das internationale Machtgefüge hatte. Westliche Industrieländer und Ostblock hatten aus der Logik der Konkurrenz der beiden Lager die ihnen jeweils nahestehenden Diktatoren in Afrika rückhaltlos unterstützt. Die Loyalität eines afrikanischen Machthabers gegenüber einem der beiden Blöcke war für die Erteilung von Entwicklungs- und Militärhilfe wichtiger als die Menschenrechtsbilanz und demokratische Legitimität seines Regimes. Der Zusammenbruch des Ostblocks führte zum fast völligen Rückzug der Sowjetunion und ihrer Verbündeten aus Afrika südlich der Sahara. Die westlichen Industrieländer nützten ihre Vormachtstellung nun, um Diktatoren ihre Unterstützung aufzukündigen und Demokratie, Schutz der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns – so die offiziellen Kriterien des deutschen Entwicklungshilfeministeriums – einzufordern. Dieser Sinneswandel wurde unterstützt durch eine grundsätzliche Neuorientierung in der internationalen Entwicklungspolitik. Galt für Jahrzehnte der starke, autoritäre Staat als der einzig geeignete Agent, um rasche nachholende Entwicklung zu gewährleisten, so entdeckte man Mitte der achtziger Jahre, daß wirtschaftliche und soziale Entwicklung ohne ein Minimum an politischen Freiräumen für die Bevölkerung und deren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen nicht möglich sei. Versagen der Diktaturen Diese reformfördernden externen Faktoren trafen auf eine Reihe interner Faktoren, die die Ablösung autoritärer Systeme begünstigten. Da war als der wichtigste das Versagen afrikanischer Diktaturen bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder. Korruption, Mißwirtschaft, teure Prestigeprojekte, verfehlte Entwicklungsstrategien und die Strangulierung der Privatwirtschaft durch staatliche Regulierung machten Fortschritte in der Entwicklung nahezu unmöglich. Zwischen 1980 und Anfang der neunziger Jahre sank das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Afrika südlich der Sahara um durchschnittlich 1,5Prozent. Der gleichzeitige Erfolg der südostasiatischen Tigerstaaten entzog der Argumentation afrikanischer Führer, an dieser Negativentwicklung seien allein die Ausbeutung durch die Industrieländer und negative weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen schuld, die Grundlage. Das Scheitern überzogener Entwicklungspläne führte zu umfassender staatlicher Verschuldung, die wiederum fast alle afrikanischen Staaten zwang, die Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Anspruch zu nehmen. Deren wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramme hatten wiederum eine Reihe sozialer Härten zur Folge: Einsparungen im öffentlichen Dienst, Arbeitsplatzverluste in bisher geschützten Industriesektoren, Reduzierung staatlicher Leistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Streichung von Nahrungsmittelsubventionen. Am härtesten waren von dieser Entwicklung die städtischen Mittelschichten betroffen. Sie waren zwar in der Regel klein, politisch aber relativ einflußreich. Sie waren auch die Hauptnutznießerinnen staatlicher Industrialisierungs- und Alphabetisierungsanstrengungen gewesen. Letztere trugen dazu bei, daß sie relativ gut über die politischen Vorgänge in ihrem Land und außerhalb informiert waren. Formiert wurde ihr Protest durch eine kleine Gruppe von Intellektuellen – meist Studierende, Lehrkräfte, Universitätsdozenten, Rechtsanwälte, Geistliche –, die unter der staatlichen Repression am stärksten gelitten hatten und die nun ihre Chance zu grundlegenden politischen Veränderungen sahen. Unterstützt wurden sie durch die gewaltbereiten städtischen Unterschichten. Ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben durch den Umzug in die Stadt hatten sich nicht realisiert. Sie hatten wenig zu verlieren und waren zum offenen, wenn nötig auch gewaltsamen Protest entschlossen. QuellentextDemokratie – Traditionen und Realisierungschancen Vielfach wird – ohne näheren Nachweis – behauptet, Demokratie habe in Afrika keine Tradition. Unbestritten ist, daß es dort keine demokratisch verfaßten Staaten in unserem Sinne gab, zumal sich der Zusammenhalt der Gesellschaften weitgehend nicht auf normierte Staatsformen stützte. Andererseits gab es Formen demokratischer Partizipation in den vorherrschenden Sozialstrukturen. Afrikanische Politiker beklagen, daß ihnen vom Westen die Begrifflichkeiten vorgegeben werden, was unter Demokratie zu verstehen sei. Dabei geht es nicht um das Anzweifeln allgemein gültiger Grundsätze, sondern um deren Ausprägung in konkreten gewachsenen Formen. Westliche Termini sehen teilweise zu eng oder träfen den Sachverhalt nicht voll. Auch frage sich, ob die Länder des Nordens an ihre eigenen Traditionen so strenge Maßstäbe anlegten wie bei anderen. Afrikanischen Wissenschaftlern sind staatstheoretische Ansätze von Plato bis Rawls durchaus geläufig. Unsere Lehrbücher sind dagegen mangels geeigneter Quellen unvollständig, wenn es um frühe Ausformungen von Staatlichkeit in Ländern auf der Südhalbkugel geht. Demokratische Grundregeln des Zusammenlebens nach traditionellem Verständnis sind gemeinsames Kulturgut in Schwarzafrika. Sie werden z.B. in der Sprache der südafrikanischen Zulu Ubuntu (menschliches Miteinander) genannt. [...] Ubuntu wird als eine Lebensphilosophie beschrieben, die in ihrer grundlegenden Bedeutung die Wertschätzung der Person, Menschlichkeit, menschliches Miteinander und Moralität in der Gesellschaft reflektiert; eine Metapher, die Solidarität in der Gruppe und den fundamentalen Glauben daran beschreibt, daß der Mensch nur zum Menschen wird durch die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Mit anderen Worten, die Existenz des Individuums und sein Wohlergehen hängen von dem der Gruppe ab. [...] Ubuntu enthält Grundsätze in horizontaler Richtung (z.B. Miteinander in der Familie, mit Nachbarn) sowie im vertikalen Sinne (Miteinander von Regierenden und Regierten). Zu diesen Grundsätzen zählen etwa festgelegte Formen der Meinungsbildung bei Entscheidungsprozessen der Herrscher oder der traditionellen Chiefs. Wurden die Regeln der Meinungsbilder verletzt, war die Entscheidung nicht legitimiert. Es war also keineswegs so, daß afrikanisches Denken herkömmlicherweise nur auf eine Monopolisierung von Macht abzielte und abweichende Meinungen nicht zuließ. Im Gegenteil: die sprichwörtlichen Beratungen unter dem Baum sollten gerade Akzeptanz und Integration von Andersdenkenden garantieren, und nicht, worin die Gefahr westlicher Mehrheitsdemokraten liegen kann („Mehrheit ist Mehrheit“), Minderheiten frustrieren. [...] Die traditionelle Gemeinschaft konnte nach den Regeln des Ubuntu „mit den Füßen“ über ihren Chief abstimmen und ihn sogar abwählen. Dagegen werden heute übliche Methoden der Regierenden, ihre Herrschaft mit Waffengewalt abzusichern, als westliches Denken bezeichnet. Diese traditionellen Denkansätze sind sicher eine vertiefte Betrachtung wert. Wir sollten also – bei aller Vorsicht gegenüber möglicher modischer Verklärung der Vergangenheit – in unserer Wertung hinsichtlich der Demokratiefähigkeit anderer zumindest etwas vorsichtiger und differenzierter sein. Mißtrauen ist ferner geboten bei dem nicht endenden Nachdenken darüber, ob die Forderung nach demokratischer Entwicklung in afrikanischen Staaten nicht „verfrüht“ komme. Gewiß mag mancher trefflich darüber streiten, ob die Fülle infrastruktureller Probleme und Unzulänglichkeiten in den meisten Staaten nicht erst einmal durch eine „weiche Diktatur“ vorsortiert werden sollte, bevor an eine breitere Partizipation politisch Andersdenkender oder der breiten Bevölkerung an Entscheidungsprozessen zu denken sei. Diese Denkweise ist gefährlich; sie stellt nicht nur in Frage, ob die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten ein aufschiebbares Luxusgut sei (wohlgemerkt: für andere), sondern verkennt auch, daß die politische Gesamtsituation und die Zukunftsprognosen in zahlreichen der betroffenen Länder nicht auf das (Fehl-)Verhalten der dortigen Führung oder der herrschenden Einheitspartei reduziert werden können. In derartigen Ländern ist oft eine ganze Generation gut ausgebildeter Nachwuchspolitiker – oft noch im Verborgenen – auf dem Sprung, die Verhältnisse zu ändern, woran sie nur durch existentielle Repressalien wie den Verlust des Arbeitsplatzes oder gar Inhaftierung gehindert wird. [...] In zahlreichen afrikanischen Staaten, die Anfang der sechziger Jahre zur Unabhängigkeit gelangten und in denen man sich zunächst um eine gewisse wirtschaftliche Konsolidierung kümmern wollte, bevor eine demokratische Öffnung versprochen wurde, sind bis heute weder wirtschaftlicher Aufschwung noch eine spürbare demokratische Partizipation erkennbar. [...] Dies schließt nicht aus, daß man solchen Staaten hinreichend Zeit gibt, ihren Weg zu finden. Die Frage, ob man es „sich leisten“ kann, Menschen in Afrika jetzt schon mehr Demokratie zuzugestehen, hat Präsident Mandela [...] 1998 [...] eindeutig dahingehend beantwortet, daß Demokratie und Good Governance unerläßliche Voraussetzungen sind, um in Afrika Frieden, politische Stabilität, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand einzuführen. [...] In afrikanischen Ländern leben oft 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten, die Politik spielt sich in der fernen Hauptstadt ab. Aber auch dort sind selbst Menschen aus der Mittelschicht infolge der infrastrukturellen Probleme weithin damit befaßt, die täglichen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. [...] Anreize, sich trotz allem mit politischen Zielen zu beschäftigen, sind kaum vorhanden. Nicht allein, daß man in den Schulen kaum an Geschichte, Gesellschaftskunde oder gar politische Bildung herangeführt wird. Politische Parteien bestehen, soweit nicht als staatliche Einheitspartei, oft nur aus einer Handvoll von Führern, die ihre Streitigkeiten miteinander und mit anderen Persönlichkeiten austragen. Institutionen der sogenannten Zivilgesellschaft sind recht schwer organisiert und damit ineffektiv bei der Einforderung gesellschaftspolitischer Verbesserungen. [...] Das, was Männer wie Thabo Mbeki als „afrikanische Wiedergeburt“ oder Yoveri Kaguta Museveni als „afrikanisches Erwachen“ bezeichnen, wird aus vielfältigen Quellen gespeist: Da sind zum einen die Visionen einer neuen Politikergeneration, die den auf antikoloniale Ziele beschränkten Kampf und die durch den Kalten Krieg begünstigten Fehlentwicklungen wie Korruptheit und Diktatur nun durch neue Identitäten ersetzen will. Da ist das wachsende Bewußtsein, daß im Interesse der Zukunftsfähigkeit des Landes nicht notwendigerweise alle Werte und Traditionen über Bord geworfen werden müssen; und da ist ferner der Wunsch nach politischer Unabhängigkeit vom Westen und von internationalen Finanzquellen, die man gegenüber manchen afrikanischen Staaten für streng, anderenorts dagegen für doppelbödig und blind hält. Und da ist schließlich die Besinnung auf eine stärkere Nutzung eigener Ressourcen, um nur einige Gründe zu nennen. [...] Die meisten Länder in der Region sind heutzutage Mehrparteiensysteme. In ihren Verfassungen und von ihren Prinzipien her akzeptieren sie Pluralismus der Meinungen, Partizipation der Bürger, insbesondere durch Wahlen, die Kultur des Dialogs, Good Governance, transparency und Rechenschaftspflicht sowie Überwindung tribalistischen Denkens. [...] Es gilt, konstruktive Auswege zu suchen, möglichen Fehlentwicklungen durch wirksame und effektive politische Kontrolle zu begegnen. Sie kann letztlich nur in den betreffenden Ländern selbst erfolgen, durch die Stärkung neuer Eliten in Entscheidungsfunktionen vor allem der Regierung, des Parlaments, der Justiz und der Ordnungsbehörden, der sogenannten Zivilgesellschaft, der politischen Parteien und der Presse. Besondere Schlüsselgruppen für gesellschaftliche Verantwortung sind Jugendliche und Frauen. Michael Schlicht, „Afrikas Gesellschaften auf dem Weg ins 21. Jahrhundert“, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), KAS/Auslandsinformationen Heft 9/1998, S. 64 ff. Rückschläge Anfang der neunziger Jahre schien es, als ob kaum eine afrikanische Diktatur in der Lage wäre, sich dieser Woge aus internem Protest und externem Druck entgegenzustellen. Euphorisch wurde vom Anbruch eines neuen demokratischen Zeitalters für Afrika gesprochen. Ende der neunziger Jahre hat diese Euphorie allerdings Realismus, zum Teil sogar schon Frustration Platz gemacht. Zwar haben seither zahlreiche formal demokratische Wahlen stattgefunden. Ein hoher Prozentsatz dieser Wahlen gilt jedoch als gefälscht oder zumindest als in ihrem demokratischen Charakter ernsthaft beeinträchtigt. Nur wenige haben zu Machtwechseln geführt. Und nur wenige der neuen Machthaber haben die Erwartungen im Hinblick auf wirtschaftliche und politische Reformen sowie auf Eindämmung der Korruption und Erhöhung der Effektivität staatlichen Handelns auch nur annähernd erfüllt. Für diese Rückschläge ist ein Bündel von Faktoren verantwortlich. Teilweise haben erfahrene autoritäre Machthaber nach einer kurzen Schockphase erkannt, wie sich interner und externer Druck erfolgreich kanalisieren und zum Teil manipulieren läßt. Beispiele hierfür sind Kenia, die Elfenbeinküste, das ehemalige Zaire und Togo. Andere, wie die Machthaber von Nigeria, entschlossen sich zum Widerstand gegenüber dem innenpolitischen Protest. Aufgrund ihrer Öleinnahmen sowie des gut ausgerüsteten und im inneren Konflikt erprobten Militärs hatten sie auch die Mittel dazu. Weiterhin stellte sich bei einer Reihe ehemaliger Oppositioneller, die im Zuge der Demokratisierung an die Macht gekommen waren, bald darauf heraus, daß ihr Reformeifer nicht auf demokratische Gesinnung, sondern allein auf den Willen zum Machtwechsel zurückzuführen war. War dieser bewerkstelligt, trat an die Stelle des Reformwillens der Drang zur Selbstbereicherung. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Sambia. Die Oppositionellen, denen in ihren Ländern der Sprung zur Macht nicht gelungen war, wurden im Widerstand gegen die Regierung zermürbt und wandten mehr und mehr Zeit für inneroppositionelle Auseinandersetzungen auf. Neben diesen politischen Faktoren gibt es einen zentralen strukturellen Faktor, der weitere demokratische Fortschritte be- oder gar verhindert. Auch die neuen demokratischen Regierungen waren gezwungen, wirtschaftliche Reformen gemäß den Vorgaben von IWF und Weltbank durchzuführen. Während die sozialen Kosten solcher Anpassungsprogramme vor allem kurzfristig auftreten, realisieren sich etwaige wirtschaftliche Erfolge dagegen nur langfristig. Die sozialen Kosten sind vor allem von der städtischen Mittel- und Unterschicht zu tragen, da besonders sie den politischen Wandel unterstützen. Unter dem Eindruck, daß schneller wirtschaftlicher Erfolg auch unter der neuen Regierung ausbleibt, entziehen sie ihr jedoch meist die Unterstützung. Jene, die am ehesten von der Wirtschaftsreform profitieren, die ländliche bäuerliche Bevölkerung, sind in der Regel politisch kaum mobilisiert und können somit den Verlust an Unterstützung kaum ausgleichen. Die demokratisch gewählten Machthaber reagieren darauf mit dem Aussetzen oder sogar mit der Zurücknahme politischer Reformen. Diese innenpolitischen Entwicklungen werden durch das tendenziell nachlassende Engagement der westlichen Industrieländer für weltweite Demokratisierung verstärkt. Verantwortlich ist hierfür vor allem die Erkenntnis, daß politischer Wandel kurzfristig gleichbedeutend ist mit politischer Instabilität. Unter dem Eindruck des Völkermords in Ruanda sowie der Bürgerkriege in Somalia, Liberia, Sierra Leone und dem ehemaligen Zaire hat politische Stabilität erneut einen hohen Stellenwert bekommen. Ausblick Trotz der Ernüchterung der vergangenen fünf Jahre wäre es verfehlt, den Glauben an eine demokratische Zukunft in Afrika südlich der Sahara zu verlieren. Auch in Lateinamerika war die Demokratisierung ein langwieriger, von zahlreichen Rückschlägen geprägter, letztendlich aber erfolgreicher Prozeß. In einer Reihe von Ländern könnte eine Stabilisierung der Demokratie gelingen. Südafrika, Malawi, Mali und Benin sind hierfür Beispiele. Eine weitere Gruppe von Ländern hat gute Chancen, mittelfristig und trotz einiger Rückschläge demokratische Strukturen zu festigen. Uganda, Ghana und Tansania, aber auch Kenia, Simbabwe und Elfenbeinküste könnten hierzu zählen. Wenn auch diese Länder noch zahlreiche demokratische Defizite aufweisen, besteht in ihnen jedoch ein höheres Maß an Freiheit und Menschenrechtsschutz als in den siebziger und achtziger Jahren. Für eine letzte Gruppe von Staaten, allen voran Somalia und das ehemalige Zaire scheint eine funktionierende Demokratie noch in weiter Ferne zu liegen. Mit konsequentem äußeren Druck und mit langem Atem der Opposition liegen allerdings erste Schritte hierzu nicht außerhalb des Möglichen. Wie schnell und überraschend solche erfolgen können, bewies einmal mehr die Entwicklung in Nigeria, wo nach dem plötzlichen Tod des Diktators dessen Nachfolger den Übergang zu einer Mehrparteiendemokratie in wenigen Monaten bewerkstelligte. Vielfach wird – ohne näheren Nachweis – behauptet, Demokratie habe in Afrika keine Tradition. Unbestritten ist, daß es dort keine demokratisch verfaßten Staaten in unserem Sinne gab, zumal sich der Zusammenhalt der Gesellschaften weitgehend nicht auf normierte Staatsformen stützte. Andererseits gab es Formen demokratischer Partizipation in den vorherrschenden Sozialstrukturen. Afrikanische Politiker beklagen, daß ihnen vom Westen die Begrifflichkeiten vorgegeben werden, was unter Demokratie zu verstehen sei. Dabei geht es nicht um das Anzweifeln allgemein gültiger Grundsätze, sondern um deren Ausprägung in konkreten gewachsenen Formen. Westliche Termini sehen teilweise zu eng oder träfen den Sachverhalt nicht voll. Auch frage sich, ob die Länder des Nordens an ihre eigenen Traditionen so strenge Maßstäbe anlegten wie bei anderen. Afrikanischen Wissenschaftlern sind staatstheoretische Ansätze von Plato bis Rawls durchaus geläufig. Unsere Lehrbücher sind dagegen mangels geeigneter Quellen unvollständig, wenn es um frühe Ausformungen von Staatlichkeit in Ländern auf der Südhalbkugel geht. Demokratische Grundregeln des Zusammenlebens nach traditionellem Verständnis sind gemeinsames Kulturgut in Schwarzafrika. Sie werden z.B. in der Sprache der südafrikanischen Zulu Ubuntu (menschliches Miteinander) genannt. [...] Ubuntu wird als eine Lebensphilosophie beschrieben, die in ihrer grundlegenden Bedeutung die Wertschätzung der Person, Menschlichkeit, menschliches Miteinander und Moralität in der Gesellschaft reflektiert; eine Metapher, die Solidarität in der Gruppe und den fundamentalen Glauben daran beschreibt, daß der Mensch nur zum Menschen wird durch die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Mit anderen Worten, die Existenz des Individuums und sein Wohlergehen hängen von dem der Gruppe ab. [...] Ubuntu enthält Grundsätze in horizontaler Richtung (z.B. Miteinander in der Familie, mit Nachbarn) sowie im vertikalen Sinne (Miteinander von Regierenden und Regierten). Zu diesen Grundsätzen zählen etwa festgelegte Formen der Meinungsbildung bei Entscheidungsprozessen der Herrscher oder der traditionellen Chiefs. Wurden die Regeln der Meinungsbilder verletzt, war die Entscheidung nicht legitimiert. Es war also keineswegs so, daß afrikanisches Denken herkömmlicherweise nur auf eine Monopolisierung von Macht abzielte und abweichende Meinungen nicht zuließ. Im Gegenteil: die sprichwörtlichen Beratungen unter dem Baum sollten gerade Akzeptanz und Integration von Andersdenkenden garantieren, und nicht, worin die Gefahr westlicher Mehrheitsdemokraten liegen kann („Mehrheit ist Mehrheit“), Minderheiten frustrieren. [...] Die traditionelle Gemeinschaft konnte nach den Regeln des Ubuntu „mit den Füßen“ über ihren Chief abstimmen und ihn sogar abwählen. Dagegen werden heute übliche Methoden der Regierenden, ihre Herrschaft mit Waffengewalt abzusichern, als westliches Denken bezeichnet. Diese traditionellen Denkansätze sind sicher eine vertiefte Betrachtung wert. Wir sollten also – bei aller Vorsicht gegenüber möglicher modischer Verklärung der Vergangenheit – in unserer Wertung hinsichtlich der Demokratiefähigkeit anderer zumindest etwas vorsichtiger und differenzierter sein. Mißtrauen ist ferner geboten bei dem nicht endenden Nachdenken darüber, ob die Forderung nach demokratischer Entwicklung in afrikanischen Staaten nicht „verfrüht“ komme. Gewiß mag mancher trefflich darüber streiten, ob die Fülle infrastruktureller Probleme und Unzulänglichkeiten in den meisten Staaten nicht erst einmal durch eine „weiche Diktatur“ vorsortiert werden sollte, bevor an eine breitere Partizipation politisch Andersdenkender oder der breiten Bevölkerung an Entscheidungsprozessen zu denken sei. Diese Denkweise ist gefährlich; sie stellt nicht nur in Frage, ob die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten ein aufschiebbares Luxusgut sei (wohlgemerkt: für andere), sondern verkennt auch, daß die politische Gesamtsituation und die Zukunftsprognosen in zahlreichen der betroffenen Länder nicht auf das (Fehl-)Verhalten der dortigen Führung oder der herrschenden Einheitspartei reduziert werden können. In derartigen Ländern ist oft eine ganze Generation gut ausgebildeter Nachwuchspolitiker – oft noch im Verborgenen – auf dem Sprung, die Verhältnisse zu ändern, woran sie nur durch existentielle Repressalien wie den Verlust des Arbeitsplatzes oder gar Inhaftierung gehindert wird. [...] In zahlreichen afrikanischen Staaten, die Anfang der sechziger Jahre zur Unabhängigkeit gelangten und in denen man sich zunächst um eine gewisse wirtschaftliche Konsolidierung kümmern wollte, bevor eine demokratische Öffnung versprochen wurde, sind bis heute weder wirtschaftlicher Aufschwung noch eine spürbare demokratische Partizipation erkennbar. [...] Dies schließt nicht aus, daß man solchen Staaten hinreichend Zeit gibt, ihren Weg zu finden. Die Frage, ob man es „sich leisten“ kann, Menschen in Afrika jetzt schon mehr Demokratie zuzugestehen, hat Präsident Mandela [...] 1998 [...] eindeutig dahingehend beantwortet, daß Demokratie und Good Governance unerläßliche Voraussetzungen sind, um in Afrika Frieden, politische Stabilität, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand einzuführen. [...] In afrikanischen Ländern leben oft 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gebieten, die Politik spielt sich in der fernen Hauptstadt ab. Aber auch dort sind selbst Menschen aus der Mittelschicht infolge der infrastrukturellen Probleme weithin damit befaßt, die täglichen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. [...] Anreize, sich trotz allem mit politischen Zielen zu beschäftigen, sind kaum vorhanden. Nicht allein, daß man in den Schulen kaum an Geschichte, Gesellschaftskunde oder gar politische Bildung herangeführt wird. Politische Parteien bestehen, soweit nicht als staatliche Einheitspartei, oft nur aus einer Handvoll von Führern, die ihre Streitigkeiten miteinander und mit anderen Persönlichkeiten austragen. Institutionen der sogenannten Zivilgesellschaft sind recht schwer organisiert und damit ineffektiv bei der Einforderung gesellschaftspolitischer Verbesserungen. [...] Das, was Männer wie Thabo Mbeki als „afrikanische Wiedergeburt“ oder Yoveri Kaguta Museveni als „afrikanisches Erwachen“ bezeichnen, wird aus vielfältigen Quellen gespeist: Da sind zum einen die Visionen einer neuen Politikergeneration, die den auf antikoloniale Ziele beschränkten Kampf und die durch den Kalten Krieg begünstigten Fehlentwicklungen wie Korruptheit und Diktatur nun durch neue Identitäten ersetzen will. Da ist das wachsende Bewußtsein, daß im Interesse der Zukunftsfähigkeit des Landes nicht notwendigerweise alle Werte und Traditionen über Bord geworfen werden müssen; und da ist ferner der Wunsch nach politischer Unabhängigkeit vom Westen und von internationalen Finanzquellen, die man gegenüber manchen afrikanischen Staaten für streng, anderenorts dagegen für doppelbödig und blind hält. Und da ist schließlich die Besinnung auf eine stärkere Nutzung eigener Ressourcen, um nur einige Gründe zu nennen. [...] Die meisten Länder in der Region sind heutzutage Mehrparteiensysteme. In ihren Verfassungen und von ihren Prinzipien her akzeptieren sie Pluralismus der Meinungen, Partizipation der Bürger, insbesondere durch Wahlen, die Kultur des Dialogs, Good Governance, transparency und Rechenschaftspflicht sowie Überwindung tribalistischen Denkens. [...] Es gilt, konstruktive Auswege zu suchen, möglichen Fehlentwicklungen durch wirksame und effektive politische Kontrolle zu begegnen. Sie kann letztlich nur in den betreffenden Ländern selbst erfolgen, durch die Stärkung neuer Eliten in Entscheidungsfunktionen vor allem der Regierung, des Parlaments, der Justiz und der Ordnungsbehörden, der sogenannten Zivilgesellschaft, der politischen Parteien und der Presse. Besondere Schlüsselgruppen für gesellschaftliche Verantwortung sind Jugendliche und Frauen. Michael Schlicht, „Afrikas Gesellschaften auf dem Weg ins 21. Jahrhundert“, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), KAS/Auslandsinformationen Heft 9/1998, S. 64 ff.
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Stefan Mair
2021-06-23T00:00:00
2012-01-25T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/afrika/dossier-afrika/58956/weg-zur-demokratie-in-den-neunziger-jahren/
Anfang der neunziger Jahre vollzog sich schlagartig eine demokratische Wende in vielen afrikanischen Staaten - ausgelöst durch die Unabhängigkeit Namibias. Wo liegen die Ursachen des Wandels, das Versagen der Diktaturen, aber auch die Rückschläge?
[ "Afrika", "Unabhängigkeit", "Demokratie", "autoritär", "Putsch", "Macht", "Botswana", "Mauritius", "Senegal", "Südafrika", "Simbabwe" ]
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Analyse: Reform des ukrainischen Strommarktes | Ukraine-Analysen | bpb.de
Die Reform des Strommarktes der Ukraine besteht aus zwei Teilen: (a) Einführung eines Marktmodells basierend auf Angebot und Nachfrage ohne staatliche Einmischung, und (b) Schaffung einer finanziell und politisch unabhängigen Regulierungsbehörde. Der zweite Teil der Reform ist fast abgeschlossen, da das entsprechende Gesetzt bereits am 26. November 2016 in Kraft getreten ist. Der ebenfalls notwendige Gesetzentwurf "Über den Strommarkt" befindet sich im Entscheidungsprozess. Bis zur Einführung des neuen Strommarktmodells dürfte es noch eine Übergangsphase von etwa zwei bis drei Jahren geben, in der viele vorbereitende und organisatorische Maßnahmen und Umsetzungsvorschriften erforderlich sind. Einleitung Die noch aus der Zeit der Sowjetunion stammenden Kraftwerkskapazitäten der Ukraine reichen für die Stromversorgung sowohl der Bevölkerung als auch der Industrie. Es gibt jedoch ein Regulierungsproblem zwischen Stromproduzenten und Endverbrauchern. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist es der Regierung nicht gelungen, die Beziehungen zwischen den Marktteilnehmern auszugleichen: bezogen auf die Lieferung vom Stromerzeuger zum Endverbraucher und den umgekehrten Geldfluss vom Endverbraucher zum Stromerzeuger. Von Stromerzeugern und Netzwerkbetreibern wird ihr Geschäftsumfeld als zufriedenstellend eingeschätzt, da ihnen durch ein vollständiges Monopol und zu 70 % regulierte Tarife ein Mindestgewinn garantiert wird, da sie im Falle eines Zahlungsausfalls durch Steuerzahler oder zahlungskräftige Endverbraucher quersubventioniert werden. Doch aus der Perspektive der Endverbraucher ist die Situation problematisch, da sie keine Möglichkeit haben den Stromanbieter zu wechseln und gezwungen sind, die Dienstleistungen der regionalen Monopolisten trotz schlechter Qualität und Manipulationen zu nutzen. Die Situation der Steuerzahler ist auch nicht besser, weil auf ihre Kosten die Stromproduzenten und die Stromlieferanten subventioniert werden. Das alte Modell des Strommarktes Das alte und derzeit noch geltende Modell eines einheitlich organisierten Stromgroßhandelsmarktes wurde in der Ukraine 1996 nach dem Vorbild des Strompools (so genannter "single buyer") in England und Wales eingeführt. Mit der Entwicklung marktwirtschaftlicher Modelle auf Grundlage des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Stromproduzenten und Stromanbietern wurde in dieser Zeit gerade erst begonnen. Das Strompool-Modell war damals nicht kontrovers und brachte positive Ergebnisse. So konnte ein System des An- und Verkaufs von Strom als Ware geschaffen werden, das Tauschgeschäfte und Schuldscheine durch direkte Geldzahlungen ersetzte. Schnell wurden aber auch die Nachteile dieses Modells offensichtlich. Zentral waren dabei Preisverzerrungen durch das Fehlen von Wettbewerb. Stromproduzenten und regionale Netzbetreiber (Oblenergos) hatten so keinen Anreiz für Modernisierungsinvestitionen zur Einsparung von Kosten und zur Verbesserung der Energieeffizienz. So wurden auch die niedrigen Preise für private Haushalte durch höhere Preise für die Industrie kompensiert und nicht durch Maßnahmen zur Kostensenkung. Der Anteil der unabhängigen Anbieter am Strommarkt ist weiterhin niedrig und liegt derzeit bei ca. 10 %. Diese Situation führt nicht nur zu einer schlechten Qualität der Dienstleistungen auf dem Strommarkt, sondern auch zu einer Verschlechterung der Infrastruktur, was besonders beunruhigend ist. So endet bald die Lebensdauer vieler Wärme- und Atomkraftwerke und nach Einschätzungen von Experten müssen 70 % der Stromleitungen erneuert werden, was erhebliche Modernisierungsinvestitionen verlangt, um Energiesicherheit nachhaltig zu gewährleisten. Bereits insgesamt 20 Jahre haben die ukrainischen Regierungen ihre Reformpläne für den Strommarkt und auch den Erdgasmarkt nicht umgesetzt. So erfolgte kein Übergang von geregelten Preisen zu Marktpreisen, kein Wettbewerb, kein diskriminierungsfreier Zugang zu den Leitungsnetzen usw. Erst der Abschluss des Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union gab den Startschuss für reale Schritte zur Reform der Energiemärkte. Das aktuelle Reformpaket Die Reform des Strommarktes ist eine der wichtigsten Verpflichtungen der Ukraine im Rahmen des Assoziierungsabkommens und des Vertrages zur Gründung der Energiegemeinschaft. Ein zentrales Ziel ist die Schaffung von Wettbewerb durch Liberalisierung in Übereinstimmung mit dem dritten Energiepaket der EU. Mit technischer und finanzieller Hilfe sowie Druck von EU, europäischer Energiegemeinschaft und IWF sowie aktiver Befürwortung durch die ukrainische Zivilgesellschaft wurde mit der Reform des Strommarktes begonnen. Entsprechend der von der Ukraine eingegangenen Verpflichtungen sind die zentralen Reformschritte: Trennung von Produktion, Übertragungsnetzen und Verteilernetzen sowie Schaffung unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber (TSO) und Verteilernetzbetreiber (DSO);Übergang von Preisregulierung zu wettbewerbsbasierter Bildung von Marktpreisen;Gewährleistung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde. Die Regulierungsbehörde Die Wirksamkeit der Reformen auf dem Strommarkt hängt direkt von der Umsetzung des am 26. November 2016 in Kraft getretenen Gesetzes ab, das die finanzielle und politische Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde für die Energiewirtschaft garantieren soll. Die Regulierungsbehörde trägt den Namen Nationale Kommission für die staatliche Regulierung im Bereich der Energie- und Kommunalwirtschaft (ukrainische Abkürzung: NKREKP). Nach der alten Regelung unterstand die Regulierungsbehörde dem Präsidenten der Ukraine und war dem Parlament rechenschaftspflichtig. Das neue Gesetz sieht vor, dass die Mitglieder der Regulierungsbehörde in offenem Wettbewerb von einer Kommission ausgewählt werden, von deren fünf Mitgliedern zwei vom Präsidenten, zwei vom Parlament und eins von der Regierung bestimmt werden. Die Arbeit der Regulierungsbehörde wird aus einem Sonderfond finanziert, der sich aus Beiträgen der Marktteilnehmer speist, für die die Regulierungsbehörde zuständig ist. Die wichtigsten Funktionen der Regulierungsbehörde sind: Schaffung der Voraussetzungen für die Gründung und Entwicklung der Energiemärkte;Umsetzung der Preispolitik im Bereich der Energiewirtschaft;Schutz der Verbraucherrechte im Bereich der Energiewirtschaft;Internationale Integration der ukrainischen Energiemärkte;Förderung von Investitionen und Wettbewerb im Bereich der Energiewirtschaft. Reformgesetz für den Strommarkt Die stellvertretende Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Fragen der Energiewirtschaft, Olga Belkowa, erklärte treffend, dass "die Verabschiedung des neuen Gesetzes über den Strommarkt ein wichtiger Schritt in Richtung der Reformierung des Energiesektors der Ukraine in Übereinstimmung mit den besten europäischen Standards ist und eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Gewinnung seriöser Investoren darstellt". Der Entwurf des Gesetzes "Über den Strommarkt", der auf der Grundlage der EU-Richtlinie 2009/72/EG entwickelt wurde, befindet sich bereits seit einem halben Jahr im Parlament, ohne dass die Fertigstellung einer endgültigen Fassung absehbar ist. Am 22. September 2016 verabschiedete das Parlament einen Entwurf des neuen Gesetzes in erster Lesung und überwies ihn an den zuständigen Ausschuss zur Überarbeitung. Offensichtlich ist die langwierige Überarbeitung des Gesetzentwurfs eine Reaktion auf die Erfahrung mit den Fehlern im Gesetz von 2013 "Über die Grundsätze des Funktionierens des Strommarktes", das vor allem die Standards des zweiten Energiepakets der EU übernahm, aber nie vollständig umgesetzt wurde. Zurzeit funktioniert der Strommarkt deshalb noch nach dem alten Modell des "Strompools", bei dem es nur zwei Märkte gibt: Groß- und Einzelhandel. Im Großhandel besitzt das staatliche Unternehmen Energorynok ein Monopol auf den Verkauf des gesamten von ukrainischen Kraftwerken produzierten Stroms. Der Einzelhandel wird von regionalen Monopolen der Oblenergos dominiert, die von einigen einflussreichen Oligarchen-Gruppen kontrolliert werden. Die neue Strommarktstruktur soll sich von der alten radikal unterscheiden. Es sollen fünf neue Märkte geschaffen werden: Der Markt für bilaterale Verträgen ist für langfristig garantierte Stromabnahme zum Beispiel durch die Industrie gedacht.Der "ein Tag im Voraus"-Markt und der 24-Stunden Markt haben die Aufgabe, das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu unterschiedlichen Tageszeiten zu gewährleisten. Dies ist wichtig, da sich Strom als Ware nicht in großen Mengen speichern lässt. Während einige Kraftwerke ohne Unterbrechung arbeiten müssen und deshalb immer gleichviel Strom produzieren, können andere Kraftwerke kurzfristig hoch- oder heruntergefahren werden. Der "ein Tag im Voraus"-Markt und der 24-Stunden Markt sollen kurzfristige Vorhersagen der Nachfrage erlauben, damit die entsprechenden Kraftwerke nicht zu viel oder zu wenig Strom produzieren.Der Ausgleichsstrommarkt dient der Umsetzung der finanziellen Verantwortung der Marktteilnehmer bei Abweichungen von vereinbarten Produktionsmengen. Im Falle von Stromüberproduktion oder Stromdefiziten wird hier über Zukäufe oder Verkäufe ein Ausgleich geschaffen. Dieser Markt ist auch für das Gleichgewicht der Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen wie Sonnen- oder Windenergie zuständig, da es hier aufgrund der Abhängigkeit der Stromproduktion von den Wetterbedingungen sehr schwierig ist, genaue Voraussagen zum Umfang der Stromerzeugung zu treffen.Auf dem Dienstleistungsmarkt wird "Ukrenergo" als Betreiber des Übertragungsnetzes Dienstleistungen zur Instandhaltung des Stromnetzes kaufen, die von Firmen angeboten werden, die von der Regulierungsbehörde eine entsprechende Lizenz erhalten haben. Auf diese Weise soll die Instandhaltung und Modernisierung des Leitungsnetzes gewährleistet werden. Zusätzlich ist im Gesetzentwurf zur Strommarktreform ein Stromanbieter der "letzten Rettung" vorgesehen, der verpflichtet ist, bei Lieferausfällen einzuspringen, etwa wenn der ursprüngliche Stromanbieter in Konkurs gegangen ist, seine Lizenz verloren hat, technische Probleme hat oder aufgrund anderer Ursachen seiner Lieferverpflichtung nicht nachkommen kann. Dieser Notfall-Stromanbieter wird von der Regulierungsbehörde bestimmt. Preisreform Das neue Regulierungsmodell für den Betrieb der Verteilernetze wird ebenfalls vorbereitet. Die neue Regulierung soll es den Oblenergos als Betreibern der regionalen Verteilernetze erlauben, die Kostenstruktur zu optimieren und finanzielle Ressourcen für die Erneuerung der Netze zu erhalten. Die Einführung der neuen Tarife für die Oblenergos, die bereits zum Jahresanfang 2016 erfolgen sollte, wird aber ständig verschoben. Als neuer Termin wurde jetzt Januar 2017 genannt. Ursache für die Verzögerung ist aus Sicht von Experten die fehlende Einigung darüber, wie schnell die alte Infrastruktur erneuert werden kann. Eine schnelle Erneuerung verlangt höhere Abschreibungssätze und führt damit zu starken Preissteigerungen für alle Stromverbraucher, was sowohl die Regulierungsbehörde als auch die Regierung vermeiden wollen. Dabei ist zu beachten, dass die Regulierungsbehörde aufgrund der Vereinbarung mit dem IWF bereits eine schrittweise Anpassung der Strompreise für private Haushalte an die Tarife für die Industrie vornimmt. Seit 2015 gibt es für Haushalte alle sechs Monate eine Preiserhöhung um 25 %. Dieser Prozess sollte im April 2017 abgeschlossen sein. Zeitplan Der aktuelle Gesetzentwurf sieht vor, die Monopolbetreiber des Großmarktes (Energorynko) und des Übertragungsnetzes (Ukrenergo) innerhalb von etwa sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes zu reformieren. Anschließend folgen die organisatorische Trennung von Produktion und Vertrieb auf der regionalen Ebene der Oblenergos sowie die Lizenzvergabe an Stromanbieter nach neuen Kriterien und die Auswahl des Notfall-Stromanbieters. Danach werden neue Lizenzen für den Betrieb des Übertragungs- und Verteilernetzes vergeben. Zusätzlich muss ein neues elektronisches Kontrollsystem für die Leitungsnetze eingeführt werden und das Übertragungssystem getestet werden. Im Anschluss an die vorbereitenden organisatorischen Maßnahmen wird eine Regierungsverordnung "Über die Einführung des neuen Strommarktmodells" erlassen. Der gesamte Reformprozess wird so nach der Verabschiedung des grundlegenden Reformgesetzes, welche immer noch aussteht, mindestens zwei Jahre benötigen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der erforderlichen Umsetzungsbestimmungen bereits begonnen wurde, noch bevor das Gesetz tatsächlich verabschiedet wurde. Die Regulierungsbehörde wird im Rahmen eines Twinning-Projektes von der slowakischen Regulierungsbehörde RONI unterstützt. Die Expertengruppe, die offiziell im Januar 2016 ihre Arbeit aufgenommen hat, legt großen Wert auf die Koordination ihrer Tätigkeit mit der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER), dem Sekretariat der Energiegemeinschaft und weiteren interessierten Parteien in der Ukraine. Ausblick Die veraltete Infrastruktur und die für Verbraucher nicht zufriedenstellende Preisstruktur haben den Reformdruck auf das alte Regulierungsmodell des ukrainischen Strommarktes stark erhöht. Dementsprechend wird jetzt ein neues Strommarktmodell eingeführt, das auf die Bildung von Marktpreisen setzt. Dazu werden die alten Monopolmärkte aufgelöst und die Marktstruktur wird gemäß dem dritten EU-Energiepaket gestaltet. Der entsprechende Gesetzentwurf wird derzeit im zuständigen Parlamentsausschuss für die zweite Lesung vorbereitet. Wenn das Gesetz in dritter Lesung abschließend verabschiedet worden ist und vom Präsidenten unterschrieben wurde, müssen eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen zur Umsetzung folgen. Gleichzeitig müssen die organisatorischen Voraussetzungen für die Trennung von Produktion und Leitungsnetz, für die Lizenzvergabe und Zertifizierung, technische Kontrollmechanismen usw. geschaffen werden. Insgesamt wird diese Übergangsphase mindestens zwei Jahre dauern. Die Reform des Strommarktes beinhaltet aber nicht nur die Einführung des Marktmodels. Zentral ist, dass die Einhaltung der Regeln durch alle Marktteilnehmer effektiv überwacht wird, um echten Wettbewerb zu garantieren. Diesem Zweck soll das Gesetz "Über die Nationale Kommission zur staatlichen Regulierung im Bereich der Energie- und Kommunaldienstleistungen" dienen. Die wichtigste Aufgabe dieses Dokumentes ist es, die Regulierungsbehörde vor jeglicher politischer und finanzieller Einflussnahme zu schützen. Bei richtiger Umsetzung wird die Regulierungsbehörde ihre Aufgaben zur Regulierung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Unternehmen auf dem neuen Strommarkt effektiv erfüllen können. Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines Lesetipps Energy Reforms: Externer Link: September 2016 reviewExterner Link: October 2016 review
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-12-19T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/239233/analyse-reform-des-ukrainischen-strommarktes/
Die Reform des ukrainischen Energiemarktes soll zum einen durch die Einführung eines neuen Marktmodells, zum anderen durch eine Regulierungsbehörde forciert werden. Diese entscheidenden Schritte werden im vorliegenden Artikel detaillierter betrachtet
[ "Ukraine-Analyse" ]
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Editorial | Jazz | bpb.de
Wie jeder Musikstil transportiert auch der Jazz über seinen musikalischen Gehalt hinaus Normen und Werte und damit Identität und Zugehörigkeit. Wie kaum eine andere populäre Musik(-kultur) kann er jedoch auf eine über einhundertjährige Kontinuität zurückblicken. In seiner Entstehung und Weiterentwicklung, seiner musikalischen Praxis und Rezeption ist er dabei eng in die US-amerikanische Kultur- und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts eingebunden, insbesondere in afroamerikanische Emanzipationsdiskurse, die bis in die Gegenwart reichen. In Deutschland zeigte sich bereits in den 1920er Jahren eine Begeisterung für den damals immer beliebter werdenden Jazz. Bemerkenswert ist, wie mit der Musik im Auf und Ab der unterschiedlichen politischen Systeme umgegangen wurde: Galt der Jazz im Nationalsozialismus als "zersetzendes Element", wurde er unter amerikanischer Besatzung zum Freiheitssymbol für die Überwindung der Diktatur. Während er sich in der Bundesrepublik immer mehr von seinen amerikanischen Vorbildern löste, formierte sich auch in der DDR eine einzigartige (Free-)Jazz-Szene. Sind Jazzpraxis und -rezeption unter diesen historischen Gesichtspunkten also primär als politisch, ja rebellisch aufzufassen? Das ginge vielleicht zu weit, handelt es sich beim Jazz doch in erster Linie um Kunst. Gleichwohl gibt es politische Auseinandersetzungen im und um den Jazz, die über den Ursprung der Musik hinausgehen: etwa hinsichtlich der Rolle von Frauen im Jazz, der Zukunft der Szene oder der öffentlichen Anerkennung für eine Kunst, die häufig im Schatten der klassischen Musik steht. In all diesen Debatten ist Offenheit gefragt, der Mut für Neues und eine freie Auseinandersetzung mit Ideen – gewissermaßen Kernkompetenzen im Jazz.
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Jacob Hirsch
2023-01-27T00:00:00
2023-01-25T00:00:00
2023-01-27T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/jazz-2023/517651/editorial/
Über Jazz zu sprechen, heißt über Kunst zu sprechen. Gleichwohl gibt es politische Auseinandersetzungen im und um den Jazz, die über dessen musikalischen Ursprung hinausgehen.
[ "Musik", "Kunst", "Identität", "Rassismus", "Freiheit" ]
29,732
Mitten in Berlin: Wie man Hakenkreuze kreativ entschärfen kann | Rechtsextremismus | bpb.de
Interner Link: zur Bildergalerie Zivilcourage gegen Rechstextremismus? Das fängt mit vielen kleinen Schritten an: Einschreiten, wenn Kinder sich mit "Du Opfer" oder "Du Jude" anpöbeln, nicht mitlachen, wenn der Nachbar rassistische Sprüche klopft und keineswegs hinnehmen, wenn Neonazis ihre Reviere mit Ausländer-raus-Parolen oder verbotenen NS-Symbolen markieren. Mal ist dies ein Dummerjungenstreich, mal eine bewusste Mutprobe und gezielte Provokation: Hakenkreuze und SS-Runen werden immer häufiger in den Stadtraum geschmiert, sogar dort, wo man sie kaum erwartet. So entdeckten die Teilnehmer eines Jugendmedien-Workshops der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin auf einem Spielplatz jede Menge Hakenkreuze in unterschiedlichsten Handschriften und zum Teil schon ziemlich alt. Das bestätigten auch Eltern dort spielender Kinder. Gärtner machen den 'Zille-Spielplatz' mitten in einem gutbürgerlichen Viertel der Hauptstadt zwar wöchentlich sauber. Nur offensichtlich nicht von solchem Müll. Doch bevor Sie selbst aktiv werden, melden Sie solche Straftaten bitte der Polizei! Interner Link: zur Bildergalerie
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Holger Kulick
2021-06-23T00:00:00
2011-11-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/41566/mitten-in-berlin-wie-man-hakenkreuze-kreativ-entschaerfen-kann/
Zivilcourage gegen Rechstextremismus? Das fängt mit vielen kleinen Schritten an. Holger Kulick zeigt ein Beispiel aus Berlin. Ein Spielplatz war voller Hakenkreuze...
[ "Rechtsextremismus", "Hakenkreuz", "Initiative", "Zivilcourage" ]
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Neue Formen des globalen Regierens | Regieren jenseits des Nationalstaates | bpb.de
Von der UNO über die G 20 nach Davos Multilateralismus: repräsentativ, aber auch effektiv? Die Vereinten Nationen (UN) weisen eine nahezu universale Mitgliedschaft und Zuständigkeit auf. Ihr Zweck ist es, Lösungen für Probleme zu finden, die internationale oder gar globale Auswirkungen haben. Theoretisch sind die UN der wichtigste Global Governance-Akteur. Praktisch war und ist die Weltorganisation aber nicht so ausgestattet, dass sie Regeln auf globaler Ebene verbindlich setzen und wirksam umsetzen könnte. Die UN sind auf die Kooperation ihrer souveränen Mitgliedstaaten angewiesen. Stimmen diese UN-Regelungen nicht zu oder setzen sie nicht um, hat die Weltorganisation kaum Möglichkeiten, effektiv zu Global Governance beizutragen. QuellentextEbola: mangelnder politischer Wille und schlechte Ausstattung – Hindernisse für die WHO Mit bereits mehr als 4000 Todesfällen, einer unbekannten Dunkelziffer und einer nahezu ungehinderten Weiterverbreitung in Westafrika übertrifft die derzeitige Ebola-Epidemie alle bisherigen Ausbrüche des seit 1976 bekannten Virus [Stand 22. Oktober 2014]. Das Center for Disease Control (CDC) in Atlanta schätzt, dass bis kommenden Januar [2015] im "optimistischen" Fall 11.000 bis 27.000, schlimmstenfalls gar 537.000 bis 1,7 Millionen Menschen dem Virus zum Opfer fallen werden. Die zahlreichen "Sekundärtoten", die aufgrund der zusammenbrechenden Gesundheitssysteme an Krankheiten wie Malaria oder Durchfallinfektionen sterben, sind dabei noch nicht mitgezählt. Diese Prognosen lassen keinen Zweifel: Ebola ist eine Katastrophe, die sich immer weiter zuspitzt. Die Epidemie hat das gesamte Gesundheitssystem in den betroffenen Ländern aus den Angeln gehoben. Meist mangelt es schon an Handschuhen und Schutzkleidung, selbst sauberes Wasser ist knapp. In den Städten herrschen Angst und Chaos, an vielen Orten kommt die Wirtschaft weitgehend zum Erliegen. Trotz dieser alarmierenden Zustände finden Rufe nach mehr medizinischer, humanitärer und ja, auch militärischer Unterstützung noch immer kaum Gehör. Dass die Weltgemeinschaft bei der Ebola-Krise versagt hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Zentrum der Kritik stehen die zögerliche Reaktion der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das schleppende Anlaufen der internationalen Hilfe. Während die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen schon im Frühjahr warnte, die Seuche sei außer Kontrolle, rief die WHO erst Anfang August den internationalen Gesundheitsnotstand aus – zu spät, um die Ausbreitung des Virus noch unter Kontrolle zu bringen. […] Diese verspätete Reaktion unterscheidet sich deutlich von dem Umgang der WHO mit anderen Gesundheitsrisiken in der jüngeren Vergangenheit – beispielsweise der Schweinegrippe 2009 oder der neuerlichen Verbreitung von Kinderlähmung. Für das entschiedene Handeln beim Auftreten der Schweinegrippe war das Krisenwarnsystem der WHO verantwortlich, das seit den 1990er Jahren stark ausgebaut wurde. Mit Hilfe neuer Kommunikationstechnologien entstand ein globales Reaktionsnetzwerk, das auch bei der raschen Eindämmung der Lungenkrankheit SARS im Jahr 2003 zum Einsatz kam. Dank einer groß angelegten Revision der Internationalen Gesundheitsvorschrift (IGV) im Jahr 2005 ist die WHO heute befugt, eigenmächtig den internationalen Gesundheitsnotstand zu erklären. Dass dennoch das Ausmaß der Ebola-Epidemie erst viel zu spät erkannt und ernstgenommen wurde, hängt sowohl mit fehlender Expertise als auch mit einschneidenden Sparmaßnahmen in den letzten Jahren zusammen: Während das "Flaggschiffprogramm" der WHO – der Kampf gegen die Kinderlähmung – mit ausreichenden Geldmitteln ausgestattet ist, wurden insbesondere die Mittel der WHO-Notfallabteilung drastisch gekürzt. Seit 2009 verlor die Organisation rund ein Drittel ihrer Krisenfachleute – darunter auch Ebola-Experten, die das Ausmaß des jetzigen Ausbruchs möglicherweise früher hätten absehen können. Hinzu kommt, dass neben den Personalkürzungen auch die flexibleren Fonds für Notfälle um die Hälfte gekürzt wurden. Man setzte auf die Erfahrung aus vergangenen Krisen, dass Notfallgelder im akuten Bedrohungsfall kurzfristig eingeworben werden könnten. Dies aber kostet – wie sich jetzt zeigt – wertvolle Zeit: Für die Armutskrankheit Ebola sind neue Zuwendungen erst geflossen, als die Ausbreitung der Epidemie bereits in vollem Gange war. Das gesamte Jahresbudget der WHO liegt derzeit bei rund zwei Milliarden US-Dollar und ist damit etwa gleich hoch wie das der Charité in Berlin oder der New Yorker Feuerwehr. Die WHO-Leitung kann obendrein gerade einmal über ein Viertel des Gesamthaushaltes relativ frei verfügen – nämlich über den Anteil der regulären staatlichen Abgaben, der seit den 80er Jahren allerdings kontinuierlich gesunken ist. Der überwiegende Teil des Haushalts stammt aus freiwilligen Beiträgen, die häufig kurzfristig vergeben werden und mit eng definierten Verwendungszwecken – beispielsweise für den Einsatz in Impfkampagnen im Programm gegen Kinderlähmung – versehen sind. Das erschwert die Arbeit der WHO zusätzlich: Vergleicht man deren Tätigkeit mit der der Bundesregierung, müssten die Kabinettsmitglieder nach Verabschiedung eines Regierungshaushalts zunächst Fundraising betreiben, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen könnten. Oder, um einen triftigen Vergleich des amerikanischen Politikprofessors Daniel Drezners aufzugreifen: Die WHO arbeitet wie eine öffentliche Universität mit schlechter Grundfinanzierung und hoher Drittmittelabhängigkeit. Auf dieser Geschäftsgrundlage eine gefährliche Seuche einzudämmen, erscheint fast unmöglich. […] Tine Hanrieder, "Ebola: Das Scheitern der Weltgemeinschaft", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2014; Externer Link: http://www.blaetter.de Zwar haben alle Staaten ungeachtet ihrer Größe, Einwohnerzahl oder ihres ökonomischen Gewichts in den UN den gleichen Status. Auch die innere Verfassung der Staaten spielt keine Rolle, sodass Diktaturen ebenso wie Demokratien das gleiche Stimmrecht in der UN-Generalversammlung haben. Während die Staaten also formal gleichgestellt sind, unterscheiden sie sich aber tatsächlich ganz erheblich voneinander: Industriestaaten haben oft andere Interessen als Entwicklungsländer, Diktaturen andere als Demokratien. Die aus solchen Unterschieden herrührenden Interessendifferenzen werden durch Wertunterschiede, etwa zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen, noch verstärkt. Da aufgrund der formalen Gleichheit jeder Staat Regelungen blockieren kann, die seinen Interessen zuwiderlaufen, ist oft nur eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner möglich. Derartige Regelungen sind meist jedoch nicht problemangemessen. Am deutlichsten wurde dies während des Ost-West-Konflikts, als beide Lager die UN mehr als Bühne zur Darstellung von gegensätzlichen Positionen und weniger als Institution zur gemeinsamen Problemlösung nutzten. Nach dessen Ende bestand die Hoffnung, dass effektives globales Regieren möglich würde. Die UN veranstalteten in rascher Folge Weltkonferenzen, bei denen drängende globale Herausforderungen verhandelt wurden. Dabei ging es unter anderem um Umwelt und Entwicklung (Rio 1992), Menschenrechte (Wien 1993), Migration und Bevölkerungswachstum (Kairo 1994), soziale Ungleichheit (Kopenhagen 1995) sowie Gleichberechtigung (Beijing 1995). Allerdings zeigte sich rasch, dass die Erwartungen an die Lösung globaler Probleme durch die UN unerfüllt bleiben würden. Zum einen waren sich Industriestaaten und Entwicklungsländer uneinig über angemessene allgemein verbindliche Regeln, beispielsweise zur Eindämmung des Klimawandels oder bei vielen Menschenrechts- und Wirtschaftsfragen. Zum anderen wurden die verabschiedeten Aktionsprogramme kaum wirksam umgesetzt. Die anhaltende Schwäche der UN hatte zwei Konsequenzen: Es stieg der Problemdruck, denn der Regelungsbedarf für Herausforderungen wie den Klimawandel oder ungleiche Lebensbedingungen nahm bei steigender Verflechtung kontinuierlich zu; und die offenkundigen Regelungsdefizite führten dazu, dass Akteure außerhalb des UN-Systems die Initiative ergriffen, sich Globalisierungsproblemen anzunehmen. Mitglieder der G20 (© picture alliance / dpa-infografik, Globus 21 858; Quellen: G 20, Germany’s Federal Statistic Office, 2013 data) "Club-Governance" durch mächtige Staaten Staatenclubs wie die G 20 (Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer) streben an, neue Regeln für ausgewählte Politikfelder zu setzen, in denen sie Regulierungsdefizite ausmachen. Zu den wichtigsten Clubs auf globaler Ebene gehören neben der G 20 die G 7/8, aber auch lockerere Gruppierungen wie die BRICS (= Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Im Unterschied zu den UN, die prinzipiell allen Staaten offen stehen, oder zu Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union oder der Organisation Amerikanischer Staaten, die ihre Mitglieder nach geografischen Kriterien bestimmen, entscheiden Clubs selbst über ihre Mitgliedschaft. Clubs regieren nicht im formellen Sinne durch den Erlass von Gesetzen oder gesetzesähnlichen Regelungen. Sie ermöglichen es ihren Mitgliedern, ihre Interessen und Präferenzen zu sondieren und aufeinander abzustimmen. Das zeigt sich bei den meist jährlichen Gipfeltreffen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs, die einen direkten Austausch im kleinen Rahmen ermöglichen. Im Vorfeld der Gipfel bereiten Arbeitsgruppen die zu behandelnden Themen wie auch mögliche Maßnahmen vor. Sie bestehen aus Fachleuten, die sowohl aus den Ministerialverwaltungen der Mitgliedstaaten als auch aus fachlich einschlägigen (internationalen) Organisationen oder Interessengruppen kommen. Clubs setzen also auf eine Form zwischenstaatlicher Global Governance, die auf Abstimmung und Koordination mächtiger Staaten basiert. Bei der Umsetzung der Gipfelbeschlüsse arbeiten sie dann eng mit den zuständigen internationalen Organisationen zusammen. Dieses Regieren kann nur effektiv sein, wenn sich die mächtigen Staaten über die Probleme und die notwendigen Maßnahmen einig sind. QuellentextClub-Governance Die 1976 entstandene G 7 besteht aus den damals größten demokratischen Industriestaaten (USA, Kanada, Japan, Deutschland, Großbritannien, Italien, Frankreich). Zunächst zur informellen Abstimmung der Wirtschafts- und Währungspolitik gedacht, umfasst ihre Agenda inzwischen eine Vielzahl von Themen mit globaler Relevanz. 1998 stieß Russland dazu und begründete die G 8. Im Frühjahr 2014 wurde Russland aufgrund der Ukraine-Krise und der Annektierung der Krim faktisch ausgeschlossen. Deutschland richtet den G-7-Gipfel 2015 aus. Die G 20 umfasst neben den G-7/8-Staaten wichtige nichtwestliche Ökonomien wie Brasilien, China und Indien sowie die EU. Ursprünglich zur besseren Koordinierung der globalisierten Wirtschafts- und Finanzpolitik gegründet, bearbeitet sie heute auch umwelt-, entwicklungs- und gesundheitspolitische Themen. Sie hat seit 2008 durch die globale Schuldenkrise an Bedeutung gewonnen. Mit den Business 20, Labour 20 und Think Tank 20 haben sich inzwischen parallele Foren formiert, die Wirtschafts- und Arbeitnehmerinteressen sowie die Wissenschaft repräsentieren. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sind die Mitglieder der BRICS, des wichtigsten Schwellenländer-Clubs, der seit 2010 ein Gegengewicht zu den etablierten Industriestaaten bildet. Ziel der BRICS ist unter anderem ein ihrem ökonomischem Gewicht entsprechender Einfluss bei Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Sie verstehen sich als Repräsentanten der Entwicklungsländer und haben 2014 eine eigene Entwicklungsbank gegründet. Elitennetzwerke und informelle Machtmechanismen Elitennetzwerke, bei denen Individuen Staaten, Unternehmen, Medien, Verbände oder Nichtregierungsorganisationen repräsentieren, sind noch informellere Formen von Global Governance. Bei ihren Treffen, wie etwa dem jährlich in Davos stattfindenden World Economic Forum (WEF), werden Konsens und Dissens über das ausgelotet, was im globalen Geschehen wichtig oder weniger wichtig ist und entsprechend mehr oder weniger politischer Aufmerksamkeit bedarf. So werden Themen auf die Agenda gesetzt und können politische oder ökonomische Präferenzen und Interessen informell und diskret abgestimmt werden. Auch die circa 2500 Teilnehmenden in Davos repräsentieren durchaus unterschiedliche Interessen und Werte. Ein Konsens über das, was wichtig ist, kann nicht vorausgesetzt werden, sondern wird in Diskussionen herausgearbeitet und zu Narrativen, also sinnstiftenden Darstellungen komplexer Sachverhalte, verdichtet. Daraus folgen nicht zwingend politische Regeln oder Maßnahmen. Narrative bilden jedoch eine wichtige Grundlage für wirksames politisches Handeln, dessen Effektivität auf einem geteilten Verständnis über Ausgangssituation, Handlungsziele und notwendige Maßnahmen basiert. So wurden manche Globalisierungsthemen, die auf informellen Foren diskutiert wurden, etwa im Bereich der globalen Entwicklungs- und Gesundheitspolitik, später durch die internationale Politik aufgegriffen – und private Akteure dabei auch verstärkt eingebunden. Freiwillige Vorreiter-Initiativen NGOs, transnationale Netzwerke oder öffentlich-private Partnerschaften können als Vorreiter freiwillig Regeln setzen oder globale Politikziele lokal umsetzen helfen. Derartige Initiativen sind sehr vielfältig im Hinblick auf ihre Ziele, Gestalt und Herangehensweise – und auch hinsichtlich ihres mehr oder weniger erfolgreichen Beitrags zur Gestaltung der Globalisierung. Bekannt sind die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher NGOs, wie etwa im Umweltbereich von Greenpeace oder im Menschenrechtsbereich von Amnesty International. Sie drängen nicht nur darauf, dass Staaten und Unternehmen existierendes nationales oder internationales Recht ernst nehmen, sondern sie setzen sich auch für Standards ein, die im Sinne der von ihnen vertretenen Normen des Umwelt- oder des Menschenrechtsschutzes darüber hinausgehen. Einige Initiativen haben sich darauf spezialisiert, freiwillige Standards und Verhaltenskodizes zu erarbeiten und deren weltweite Anerkennung und Umsetzung zu fördern. Gütesiegel oder Label sollen beispielsweise typische Probleme globalisierter Handelsketten lösen helfen, indem ausgewählte Welthandelsprodukte als nachhaltig produziert und gehandelt ausgezeichnet werden. Ein Beispiel ist fair gehandelter Kaffee, hier verspricht das "Fairtrade-Siegel" des Anfang der 1990er-Jahre gegründeten deutschen Vereins "TransFair" und später des internationalen Dachverbandes "Fairtrade International" verlässliche Handelsbeziehungen und Mindestpreise für die Bauern. In Ergänzung dazu hat die "4C-Initiative" für den Kaffee-Massenmarkt den "Common Code for the Coffee Community" erarbeitet. Der 4C vergibt kein Gütesiegel, sondern hat unter Mitarbeit von Kaffeeproduzenten, Vertretern aus Kaffeehandel und -industrie sowie Organisationen der Zivilgesellschaft einen Basisstandard zu Arbeitsbedingungen und Umweltschutzmaßnahmen definiert, den alle Produzenten jenseits gesetzlicher Vorgaben freiwillig einhalten sollen. QuellentextFairtrade-Siegel: ein Anfang, aber noch keine global gerechte Handelspolitik […] Das Geschäft mit fair gehandelten Produkten ist längst ein gigantischer Markt. Mit Waren, die das Fairtrade-Siegel tragen, erzielte der Handel 2013 weltweit einen Umsatz von rund 5,5 Milliarden Euro – laut Fairtrade International ein Plus von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. […] […] Hinter den Fairtrade-Standards steht ein umfassendes Konzept von gerechteren Handelsbeziehungen. Zu den Bedingungen zählen der direkte Deal mit Produzentengruppen ohne Zwischenhändler, der Ausschluss von Kinderarbeit, Mindestlöhne und Gesundheitsvorsorge, aber auch Umweltstandards wie sparsamer Umgang mit Ressourcen und ein reduzierter Einsatz von Chemikalien. Kernelement aber ist eine garantierte Mindestsumme, die für Bananen, Kaffee oder Kakao auch gezahlt wird, wenn der Weltmarktpreis tiefer liegt. Dazu kommt eine Fairtrade-Prämie für soziale oder Infrastruktur-Projekte. Und gegebenenfalls gibt es noch eine Bio-Prämie obendrauf. Zudem finanzieren die Händler den Bauern, mit denen sie eine langfristige Lieferbeziehung eingehen, die Ernte vor. So weit so gut. Aber welche Wirkung hat fairer Handel? […] Es ist wie so oft: Verteidiger und Kritiker von Fairtrade argumentieren jeweils mit Studien. Erst im August [2014] erregte eine Untersuchung der School of Oriental and African Studies der University of London großes Aufsehen. Fairtrade sei "kein effektiver Mechanismus, um das Leben der ärmsten Landbevölkerung und der angestellten Arbeiter zu verbessern", fasst Studienautor Christopher Cramer die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. So seien die Löhne der Fairtrade-Farmer keinesfalls höher als die ihrer konventionell wirtschaftenden Kollegen. Das Gegenteil belegte Ende 2012 eine Sektor- und Kontinent- übergreifende Untersuchung des Centrums für Evaluation der Universität Saarbrücken. Ihr Fazit: Fairtrade-zertifizierte Kleinbauern verfügen über leicht höhere und vor allem stabilere Einkommen, ihre Produktivität ist höher, sie können mehr sparen und nehmen häufiger an Weiterbildungsprogrammen teil. Dennoch weisen sowohl Transfair Deutschland als auch die Gepa [Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt – Anm. d. Red.] allzu hohe Erwartungen zurück. Es könne nicht gelingen, mit einem Siegel mal eben schnell die Welt zu retten und alle Ungerechtigkeiten zu beseitigen. "Das war auch nie unser Anspruch", sagt Gepa-Geschäftsführer Robin Roth. "Wir wollen zeigen, dass man erfolgreich fair handeln kann und den Kunden die Möglichkeit bieten, sich für entsprechende Produkte zu entscheiden." Doch genügt es, Bananen oder Schokoriegel zu kaufen, die das Fairtrade- oder Gepa-Siegel tragen? […] Konkret gesagt: Mit der Entscheidung für ein Fairtrade-Produkt können Verbraucher zwar im Idealfall Gutes bewirken, sich aber nicht von einer weitergehenden Verantwortung freikaufen. Die bestünde darin, sich auch politisch für eine gerechtere Welthandels- und Wirtschaftspolitik einzusetzen. Dazu gehörte dann vor allem auch, von Unternehmen außerhalb des Fairtrade-Systems Rechenschaft über die Beachtung von Menschenrechten in globalen Zulieferketten zu verlangen. Und darauf hinzuarbeiten, dass Firmen für die Verletzung von fundamentalen Rechten zur Verantwortung gezogen werden können. Tobias Schwab, "Fair bedeutet noch lange nicht gerecht", in: Frankfurter Rundschau vom 29./30. November 2014 Die zehn Prinzipien des Global Compact (© www.globalcompact.de/publikationen/die-zehn -prinzipien-des-global-compact) Ähnlich bauen die Selbstverpflichtungsinitiativen der Industrie- und Branchenverbände auf die unternehmerische Verantwortung (Corporate Responsibility) ihrer Mitglieder. Ein Beispiel ist das "Responsible Care"-Programm der chemischen Industrieverbände, das unabhängig von gesetzlichen Vorschriften auf die freiwillige Umsetzung von weitergehenden Maßnahmen in den Bereichen Umwelt- und Gesundheitsschutz, Arbeits- und Produktsicherheit zielt. Auch der 1999 vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan initiierte UN Global Compact fordert multinationale Unternehmen auf, sich zu einem Katalog von Prinzipien in den Bereichen Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung zu bekennen, diese zu unterstützen und innerhalb ihres Einflussbereichs in die Praxis umzusetzen. Dabei versteht sich der Global Compact als Lernplattform, über die sich Unternehmen in Form von Fortschrittsberichten gegenseitig über Erfolge und Probleme bei der Umsetzung der Prinzipien in ihrem Geschäftsbereich informieren und darüber auch Orientierung für andere freiwillige Vorreiter bei der Umsetzung von gemeinwohlorientierten Regeln für eine globalisierte Wirtschaft bieten. Oft füllen freiwillige "weiche" Standards Lücken im "harten" internationalen Recht. Da die UN-Mitgliedstaaten es beispielsweise nicht vermocht hatten, bei der ersten Rio-Konferenz zu nachhaltiger Entwicklung 1992 ein internationales Regime zum Schutz der Wälder zu etablieren, schuf der Forest Stewardship Council (FSC) kurz danach einen Standard und ein System zur freiwilligen Zertifizierung nachhaltiger Forstwirtschaft. Mit dem FSC-Siegel wurden weltweit seither mehr als 180 Millionen Hektar Waldgebiete in 81 Ländern ausgezeichnet. Dies zeigt, dass sich Initiativen nicht nur für die freiwillige Setzung von Regeln, sondern auch für deren freiwillige Anwendung engagieren. Ein Weg dahin ist die Zertifizierung. Einige Initiativen arbeiten mit einer eigenen Zertifizierungsgesellschaft, wie etwa Fairtrade International mit einem weltweit einheitlichen Kontrollsystem. Teilweise nutzen Initiativen aber auch Verfahren und Zertifizierungsagenturen, die in der Wirtschaft im Umfeld der Arbeit der Internationalen Organisation für Normung (ISO) bereits etabliert sind. Übereinstimmend mit deren Arbeitsweise versucht etwa die NGO Social Accountability International (SAI) mit dem Standard SA8000 Arbeitsbedingungen weltweit zu verbessern, indem die Normen der geltenden Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der UN-Konvention für Kinderrechte konkretisiert und operationalisiert werden. So formuliert der SA8000-Standard klare Mindestanforderungen an Sozial- und Arbeitsstandards. Multinationale Unternehmen können sich dann freiwillig entlang des SA8000-Standards von etablierten Wirtschaftskontrolleuren wie etwa dem TÜV zertifizieren lassen. Schließlich organisieren und finanzieren öffentlich-private-Partnerschaften (PPPs) mittlerweile in erheblichem Ausmaß die lokale Umsetzung globaler Politikziele. Im Gesundheitsbereich finanziert die GAVI Alliance (vormals Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung) weltweit Impfprogramme oder der Global Fund die Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria. Neben staatlichen Gebern beteiligen sich an diesen Fonds auch private Geldgeber, so etwa die Bill & Melinda Gates-Stiftung als weltweit größte Privatstiftung. Beantragen können die Gelder sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure und Initiativen. Ihre Projekte müssen sie dann nach den Vorgaben der Geldgeber umsetzen – dergestalt erlangen solche informellen Projektregeln weitreichende Autorität. QuellentextPrivate Stifter: willkommene Verstärkung, aber kein Ersatz für politisches Handeln […] [D]ie Bill & Melinda Gates Foundation aus Seattle […] gilt […] als größte private Stiftung der Welt. Mit rund 41 Milliarden Dollar entspricht ihr Kapital fast der jährlichen Wirtschaftsleistung von Ghana. Rund 3,6 Milliarden Dollar hat die Stiftung allein im vergangenen Jahr ausgeschüttet, unter anderem um Krankheiten wie Malaria und Aids zu bekämpfen. Doch diese Großzügigkeit hat einen Nachteil: […] Öffentlich kaum bekannt ist […], dass rund 80 Prozent des Budgets der WHO auf freiwillige Zahlungen und Spenden zurückgehen. Diese Mittel sind zweckgebunden, sie dürfen also nur entsprechend den Vorgaben der jeweiligen Geber eingesetzt werden. […] Die Gates-Stiftung lässt der WHO inzwischen mehr Geld zukommen als die gesamten Vereinigten Staaten. Im vergangenen Geschäftsjahr waren es allein 300 Millionen Dollar. […] Der Aufstieg von Großspendern wie dem Ehepaar Gates hat vor allem damit zu tun, dass die 194 Mitgliedsstaaten der WHO seit den neunziger Jahren ihre Beiträge für das allgemeine Budget der Organisation stetig zurückgefahren haben. Besonders deutlich wurde das zuletzt beim Etat für Notfälle wie der aktuellen Ebola-Epidemie. Er wurde in kurzer Zeit mehr als halbiert: von 469 Millionen Dollar im Geschäftsjahr 2012/2013 auf 228 Millionen Dollar für das Jahr 2014/2015. […] Gates’ Initiativen sollen unter anderem weltweit Polio ausrotten sowie HIV, Tuberkulose und Malaria bekämpfen. Für […] Kritiker steht fest: Diese moderne Form der Wohltätigkeit hat die internationale öffentliche Gesundheitspolitik in eine Ansammlung unkoordinierter Einzelprojekte verwandelt, die sich den Wünschen der Geldgeber unterordnen muss. Eine Sprecherin der Stiftung weist diesen Vorwurf allerdings zurück: "Wir stellen mit drei Milliarden jährlich nur einen geringen Anteil der weltweiten Ausgaben für Entwicklung und Gesundheit in Höhe von 140 Milliarden Dollar dar und konzentrieren deshalb unsere Ressourcen auf Aufgabengebiete, wo wir glauben, die größtmögliche Wirkung erzielen zu können." […] Gates […] zählt zu den Pionieren des "Philanthrocapitalism", einer Art Wohltätigkeitskapitalismus, der nach unternehmerischen Grundsätzen funktioniert. Seine Programme und Projekte haben genaue Zielvorgaben, sie müssen einer Kosten-Nutzen-Analyse standhalten und vor allem messbare Resultate vorweisen. Der Gewinn wird nicht in Dollar gerechnet, sondern in der Zahl verhinderter Todesfälle oder der Ausrottung von Krankheiten. […] Impfungen passen perfekt in dieses Konzept. Und auch Organisationen wie Gavi, die von der Gates-Stiftung gefördert werden. Gavi wurde 2000 als Global Alliance for Vaccines and Immunization gegründet, unter anderem fördert sie Impfkampagnen gegen Kinderlähmung. Seit ihrer Gründung habe Gavi geholfen, 440 Millionen Kinder zu impfen, heißt es auf der Webseite der Organisation. Gesundheitsexperten loben die Initiative, weil sie die Kindersterblichkeit gesenkt habe. Doch es gibt auch Kritik. So macht sich Gavi für eine Impfung mit Pentavalent stark. Der Impfstoff soll Kleinkinder zugleich vor Diphterie, Tetanus, Keuchhusten sowie vor Hepatitis B und Hib schützen – einem Bakterium, das Meningitis und Lungenentzündung auslöst. Doch die Impfung ist umstritten: Nach einer Reihe von Todesfällen setzten Sri Lanka, Bhutan und Vietnam die Gabe von Pentavalent zunächst aus, nahmen sie nach Beratungen mit der WHO (die Pentavalent empfiehlt) jedoch wieder auf. […] Andere Kritiker verweisen auf potenzielle Interessenskonflikte bei Gavi. Im Verwaltungsrat sitzen nicht nur Regierungsvertreter verschiedener Länder, sondern auch ein Entsandter der Gates-Stiftung, eine Hedgefonds-Managerin, jemand von der Investmentbank Goldman Sachs sowie ein Partner des Consulting-Konzerns BDO, zu dessen Kunden auch Pharmakonzerne gehören. Auch die Rolle von Adar Poonawalla in dem Gremium ist umstritten. Er ist Spross eines indischen Milliardärsclans, zu dessen Imperium das Serum Institute gehört, einer der führenden Impfstoffhersteller und Anbieter von Pentavalent. Ebenfalls im Verwaltungsrat sitzt Olivier Charmeil, Chef von Sanofi Pasteur, der Impfsparte von Sanofi. Dem Pharmakonzern gehört unter anderem der indische Hersteller Shanta Biotechnics, zu dessen wichtigsten Produkten ebenfalls Pentavalent zählt. Auf das Thema angesprochen, erklärt Gavi, Verwaltungsratsmitglieder würden potenzielle Interessenskonflikte jährlich offenlegen und sich bei möglichen Interessenskonflikten aus sämtlichen Beratungen und Entscheidungen zurückziehen. […] Für Gates und seine Stiftung dürfte die Nähe zur Industrie nicht anrüchig, sondern eher erstrebenswert sein. […] Bei Gavi sind Unternehmen bewusst Partner, wie aus der eigenen Webseite hervorgeht. Dort ist von gebündelten Kräften die Rede, die "von der wissenschaftlichen Expertise der WHO, dem Beschaffungssystem von Unicef über das finanzielle Know-how der Weltbank bis hin zur Marktkenntnis der Impfindustrie" reichten. Die Sprecherin der Gates-Stiftung erklärt, durch die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft sei es gelungen, den Preis für viele Medikamente zu senken, die für Menschen in ärmeren Ländern zu teuer gewesen seien. Bei HIV-Medikamenten habe man eine Reduktion um 99 Prozent erreicht. Gates-Gegner weisen darauf hin, dass das Stiftungsvermögen zum Teil in Aktien von Unternehmen steckt, die wiederum von Projekten der Stiftung profitieren. So besaß die Stiftung zeitweise Aktien der Pharmakonzerne Merck und Eli Lilly, wie aus Dokumenten der Börsenaufsicht SEC hervorgeht. Über ihre Beteiligung an Berkshire Hathaway hält sie weiterhin indirekt Anteile an Sanofi. Der Stiftung zufolge sei das Anlagevermögen von den Kernzielen jedoch strikt getrennt. Die Vermögensverwaltung sei auf die Maximierung des Spendenkapitals ausgerichtet. […] Auch wenn es im Einzelfall gut und ehrenwert sei, was Einzelpersonen oder Unternehmen mit ihrem Geld tun: "Es gibt keine öffentliche Debatte über die Vergabe dieser Mittel", sagt Jeremy Youde, Dozent an der University Minnesota Duluth. Und das bleibt das Problem des Wohltätigkeitskapitalismus: Er legt Entscheidungen über das Wohl und Wehe der Menschheit in die Hände einiger weniger Geldgeber mit individuellen Vorstellungen. Die Bill & Melinda Gates-Stiftung schuldet niemandem Rechenschaft. Heike Buchter, "Bill Gates: Der Weltgesundheitsapostel", in: DIE ZEIT Nr. 44 vom 23. Oktober 2014, Mitarbeit: Jan Roß Bilanz der neuen Governanceformen Wie sind diese neuen Formen von Global Governance zu bewerten, wenn man Kriterien anlegt wie Wirksamkeit einerseits und Transparenz, Inklusivität und Verantwortlichkeit andererseits? Neue Governance-Formen gelten als schneller erreichbar und flexibler gestaltbar – und daher auch als wirksamer. Tatsächlich sind sie aber nur begrenzt effektiv. Clubs mangelt es an repräsentativer Legitimität, die durch das Versprechen auf größere Effektivität aufgewogen werden soll. Tatsächlich erwiesen sich die G 20 im Verlauf der Schuldenkrise ab 2008 zunächst als handlungsfähig. So konnten sie sich schnell darauf einigen, die Regeln für die Eigenkapitalbildung von Banken zu verschärfen, um Pleiten künftig unwahrscheinlicher werden zu lassen. Mit nachlassendem Problemdruck traten die Interessenunterschiede zwischen den Clubmitgliedern jedoch wieder in den Vordergrund, zum Beispiel zwischen exportstarken Ländern wie Deutschland und China und importorientierten Staaten wie den USA und Frankreich. Gemeinsame Lösungen werden dadurch schwerer. Transnationale Elitennetzwerke vertreten zwar viele, aber längst nicht alle Interessen und Werte auf globaler Ebene. Schon aufgrund der Zusammensetzung der Teilnehmenden ist Davos weit davon entfernt, ein Ort demokratischer Konsensbildung zu sein. Obgleich dort längst nicht mehr nur über Wirtschaftsfragen diskutiert wird, sind ökonomische Interessen durch die überdurchschnittliche Teilnahme von Wirtschaftsakteuren deutlich überrepräsentiert. Diese nutzen Davos, um politische Entscheidungsträger zu beeinflussen, was Akteuren aus der Zivilgesellschaft nicht möglich ist. Da die von Elitennetzwerken ausgeübte Governance nochmals weicher oder informeller ist als die der Staatenclubs, ist sie auch nochmals schwerer demokratisch zu kontrollieren. Die Erfolge der freiwilligen Vorreiterinitiativen fallen unterschiedlich aus. Ein Großteil startet mit guten Absichten, scheitert jedoch an Interessenkonflikten oder Problemen der Umsetzung. Andere Initiativen sind durchaus erfolgreich, oft bleibt jedoch ihre Reichweite und Durchschlagskraft begrenzt. Nur selten etwa erreichen zertifizierte Produkte bislang den Massenmarkt. Auch das Ausmaß an Inklusivität ist höchst unterschiedlich. Vor allem bei der Formulierung freiwilliger Standards gibt es Bemühungen, alle betroffenen Interessen einzubinden. So sind beispielsweise beim FSC sowohl Wirtschafts- und Umweltschutzinteressen als auch Gewerkschaften und indigene Völker in drei Kammern vertreten; einem Beschluss muss jede Kammer zustimmen. Auf diesem Wege soll dem im Konsens verabschiedeten Standard eine hohe Legitimität verschafft werden, um so die Chancen auf eine spätere freiwillige Regeleinhaltung zu erhöhen. Oft werden jedoch kleinere Unternehmen und lokale Produzenten nicht in die Entwicklung der Standards eingebunden. Grundsätzlich bringt eine Zertifizierung einen Gewinn an Transparenz über die Liefer- und Wertschöpfungsketten in globalisierten Produktionsprozessen mit sich. Gleichzeitig wird den neuen Formen von Governance insgesamt vorgeworfen, zu Fragmentierung und Intransparenz beizutragen. Von einigen werden sie als "Feigenblatt" und Alibiaktivitäten kritisiert, da sie die systemimmanenten Probleme der Globalisierung, der gewinnorientierten kapitalistischen Produktionsbedingungen und der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen nicht grundlegend zu ändern vermögen. Rechenschaftspflichtig sind die Clubs, Netzwerke und freiwilligen Initiativen meistens nur ihren eigenen Mitgliedern. Eine begleitende externe Überprüfung (Monitoring), deren Ergebnisse öffentlich gemacht werden, ist eher selten, obwohl die Forschung eine unabhängige systematische Erfolgskontrolle für entscheidend hält. Die UN wollen zukünftig die bei ihnen registrierten freiwilligen Initiativen und Partnerschaften dazu einladen, sich an einem Überprüfungsverfahren zu beteiligen und mindestens alle zwei Jahre über Ihre Aktivitäten Bericht zu erstatten. Diese Art des Zusammenspiels alter und neuer Formen in einem Gesamtarrangement von Global Governance wird zukünftig an Bedeutung gewinnen. Komplexe Herausforderungen in einer globalisierten Welt benötigen angemessene Lösungen, die daher unter Umständen ebenfalls komplex ausfallen müssen. Die UN bieten sich hier an, nicht nur ihre Autorität und Legitimität einzubringen, sondern auch eine koordinierende Rolle zu übernehmen und gezielt die Zusammenarbeit mit neuen Akteuren und den von ihnen erarbeiteten neuen Formen von Governance zu gestalten. Allerdings sind die UN aktuell dafür weder gut aufgestellt, noch haben sie die volle Unterstützung aller Mitgliedstaaten für den Ausbau derartiger Kompetenzen. Gerade weil die Bilanz der neuen Governance-Formen bislang eher gemischt ist, ist eine solche Einbettung jedoch unerlässlich, wenn Global Governance insgesamt effektiver und legitimer werden soll. Mit bereits mehr als 4000 Todesfällen, einer unbekannten Dunkelziffer und einer nahezu ungehinderten Weiterverbreitung in Westafrika übertrifft die derzeitige Ebola-Epidemie alle bisherigen Ausbrüche des seit 1976 bekannten Virus [Stand 22. Oktober 2014]. Das Center for Disease Control (CDC) in Atlanta schätzt, dass bis kommenden Januar [2015] im "optimistischen" Fall 11.000 bis 27.000, schlimmstenfalls gar 537.000 bis 1,7 Millionen Menschen dem Virus zum Opfer fallen werden. Die zahlreichen "Sekundärtoten", die aufgrund der zusammenbrechenden Gesundheitssysteme an Krankheiten wie Malaria oder Durchfallinfektionen sterben, sind dabei noch nicht mitgezählt. Diese Prognosen lassen keinen Zweifel: Ebola ist eine Katastrophe, die sich immer weiter zuspitzt. Die Epidemie hat das gesamte Gesundheitssystem in den betroffenen Ländern aus den Angeln gehoben. Meist mangelt es schon an Handschuhen und Schutzkleidung, selbst sauberes Wasser ist knapp. In den Städten herrschen Angst und Chaos, an vielen Orten kommt die Wirtschaft weitgehend zum Erliegen. Trotz dieser alarmierenden Zustände finden Rufe nach mehr medizinischer, humanitärer und ja, auch militärischer Unterstützung noch immer kaum Gehör. Dass die Weltgemeinschaft bei der Ebola-Krise versagt hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Zentrum der Kritik stehen die zögerliche Reaktion der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das schleppende Anlaufen der internationalen Hilfe. Während die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen schon im Frühjahr warnte, die Seuche sei außer Kontrolle, rief die WHO erst Anfang August den internationalen Gesundheitsnotstand aus – zu spät, um die Ausbreitung des Virus noch unter Kontrolle zu bringen. […] Diese verspätete Reaktion unterscheidet sich deutlich von dem Umgang der WHO mit anderen Gesundheitsrisiken in der jüngeren Vergangenheit – beispielsweise der Schweinegrippe 2009 oder der neuerlichen Verbreitung von Kinderlähmung. Für das entschiedene Handeln beim Auftreten der Schweinegrippe war das Krisenwarnsystem der WHO verantwortlich, das seit den 1990er Jahren stark ausgebaut wurde. Mit Hilfe neuer Kommunikationstechnologien entstand ein globales Reaktionsnetzwerk, das auch bei der raschen Eindämmung der Lungenkrankheit SARS im Jahr 2003 zum Einsatz kam. Dank einer groß angelegten Revision der Internationalen Gesundheitsvorschrift (IGV) im Jahr 2005 ist die WHO heute befugt, eigenmächtig den internationalen Gesundheitsnotstand zu erklären. Dass dennoch das Ausmaß der Ebola-Epidemie erst viel zu spät erkannt und ernstgenommen wurde, hängt sowohl mit fehlender Expertise als auch mit einschneidenden Sparmaßnahmen in den letzten Jahren zusammen: Während das "Flaggschiffprogramm" der WHO – der Kampf gegen die Kinderlähmung – mit ausreichenden Geldmitteln ausgestattet ist, wurden insbesondere die Mittel der WHO-Notfallabteilung drastisch gekürzt. Seit 2009 verlor die Organisation rund ein Drittel ihrer Krisenfachleute – darunter auch Ebola-Experten, die das Ausmaß des jetzigen Ausbruchs möglicherweise früher hätten absehen können. Hinzu kommt, dass neben den Personalkürzungen auch die flexibleren Fonds für Notfälle um die Hälfte gekürzt wurden. Man setzte auf die Erfahrung aus vergangenen Krisen, dass Notfallgelder im akuten Bedrohungsfall kurzfristig eingeworben werden könnten. Dies aber kostet – wie sich jetzt zeigt – wertvolle Zeit: Für die Armutskrankheit Ebola sind neue Zuwendungen erst geflossen, als die Ausbreitung der Epidemie bereits in vollem Gange war. Das gesamte Jahresbudget der WHO liegt derzeit bei rund zwei Milliarden US-Dollar und ist damit etwa gleich hoch wie das der Charité in Berlin oder der New Yorker Feuerwehr. Die WHO-Leitung kann obendrein gerade einmal über ein Viertel des Gesamthaushaltes relativ frei verfügen – nämlich über den Anteil der regulären staatlichen Abgaben, der seit den 80er Jahren allerdings kontinuierlich gesunken ist. Der überwiegende Teil des Haushalts stammt aus freiwilligen Beiträgen, die häufig kurzfristig vergeben werden und mit eng definierten Verwendungszwecken – beispielsweise für den Einsatz in Impfkampagnen im Programm gegen Kinderlähmung – versehen sind. Das erschwert die Arbeit der WHO zusätzlich: Vergleicht man deren Tätigkeit mit der der Bundesregierung, müssten die Kabinettsmitglieder nach Verabschiedung eines Regierungshaushalts zunächst Fundraising betreiben, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen könnten. Oder, um einen triftigen Vergleich des amerikanischen Politikprofessors Daniel Drezners aufzugreifen: Die WHO arbeitet wie eine öffentliche Universität mit schlechter Grundfinanzierung und hoher Drittmittelabhängigkeit. Auf dieser Geschäftsgrundlage eine gefährliche Seuche einzudämmen, erscheint fast unmöglich. […] Tine Hanrieder, "Ebola: Das Scheitern der Weltgemeinschaft", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2014; Externer Link: http://www.blaetter.de Mitglieder der G20 (© picture alliance / dpa-infografik, Globus 21 858; Quellen: G 20, Germany’s Federal Statistic Office, 2013 data) Die 1976 entstandene G 7 besteht aus den damals größten demokratischen Industriestaaten (USA, Kanada, Japan, Deutschland, Großbritannien, Italien, Frankreich). Zunächst zur informellen Abstimmung der Wirtschafts- und Währungspolitik gedacht, umfasst ihre Agenda inzwischen eine Vielzahl von Themen mit globaler Relevanz. 1998 stieß Russland dazu und begründete die G 8. Im Frühjahr 2014 wurde Russland aufgrund der Ukraine-Krise und der Annektierung der Krim faktisch ausgeschlossen. Deutschland richtet den G-7-Gipfel 2015 aus. Die G 20 umfasst neben den G-7/8-Staaten wichtige nichtwestliche Ökonomien wie Brasilien, China und Indien sowie die EU. Ursprünglich zur besseren Koordinierung der globalisierten Wirtschafts- und Finanzpolitik gegründet, bearbeitet sie heute auch umwelt-, entwicklungs- und gesundheitspolitische Themen. Sie hat seit 2008 durch die globale Schuldenkrise an Bedeutung gewonnen. Mit den Business 20, Labour 20 und Think Tank 20 haben sich inzwischen parallele Foren formiert, die Wirtschafts- und Arbeitnehmerinteressen sowie die Wissenschaft repräsentieren. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sind die Mitglieder der BRICS, des wichtigsten Schwellenländer-Clubs, der seit 2010 ein Gegengewicht zu den etablierten Industriestaaten bildet. Ziel der BRICS ist unter anderem ein ihrem ökonomischem Gewicht entsprechender Einfluss bei Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Sie verstehen sich als Repräsentanten der Entwicklungsländer und haben 2014 eine eigene Entwicklungsbank gegründet. […] Das Geschäft mit fair gehandelten Produkten ist längst ein gigantischer Markt. Mit Waren, die das Fairtrade-Siegel tragen, erzielte der Handel 2013 weltweit einen Umsatz von rund 5,5 Milliarden Euro – laut Fairtrade International ein Plus von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. […] […] Hinter den Fairtrade-Standards steht ein umfassendes Konzept von gerechteren Handelsbeziehungen. Zu den Bedingungen zählen der direkte Deal mit Produzentengruppen ohne Zwischenhändler, der Ausschluss von Kinderarbeit, Mindestlöhne und Gesundheitsvorsorge, aber auch Umweltstandards wie sparsamer Umgang mit Ressourcen und ein reduzierter Einsatz von Chemikalien. Kernelement aber ist eine garantierte Mindestsumme, die für Bananen, Kaffee oder Kakao auch gezahlt wird, wenn der Weltmarktpreis tiefer liegt. Dazu kommt eine Fairtrade-Prämie für soziale oder Infrastruktur-Projekte. Und gegebenenfalls gibt es noch eine Bio-Prämie obendrauf. Zudem finanzieren die Händler den Bauern, mit denen sie eine langfristige Lieferbeziehung eingehen, die Ernte vor. So weit so gut. Aber welche Wirkung hat fairer Handel? […] Es ist wie so oft: Verteidiger und Kritiker von Fairtrade argumentieren jeweils mit Studien. Erst im August [2014] erregte eine Untersuchung der School of Oriental and African Studies der University of London großes Aufsehen. Fairtrade sei "kein effektiver Mechanismus, um das Leben der ärmsten Landbevölkerung und der angestellten Arbeiter zu verbessern", fasst Studienautor Christopher Cramer die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. So seien die Löhne der Fairtrade-Farmer keinesfalls höher als die ihrer konventionell wirtschaftenden Kollegen. Das Gegenteil belegte Ende 2012 eine Sektor- und Kontinent- übergreifende Untersuchung des Centrums für Evaluation der Universität Saarbrücken. Ihr Fazit: Fairtrade-zertifizierte Kleinbauern verfügen über leicht höhere und vor allem stabilere Einkommen, ihre Produktivität ist höher, sie können mehr sparen und nehmen häufiger an Weiterbildungsprogrammen teil. Dennoch weisen sowohl Transfair Deutschland als auch die Gepa [Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt – Anm. d. Red.] allzu hohe Erwartungen zurück. Es könne nicht gelingen, mit einem Siegel mal eben schnell die Welt zu retten und alle Ungerechtigkeiten zu beseitigen. "Das war auch nie unser Anspruch", sagt Gepa-Geschäftsführer Robin Roth. "Wir wollen zeigen, dass man erfolgreich fair handeln kann und den Kunden die Möglichkeit bieten, sich für entsprechende Produkte zu entscheiden." Doch genügt es, Bananen oder Schokoriegel zu kaufen, die das Fairtrade- oder Gepa-Siegel tragen? […] Konkret gesagt: Mit der Entscheidung für ein Fairtrade-Produkt können Verbraucher zwar im Idealfall Gutes bewirken, sich aber nicht von einer weitergehenden Verantwortung freikaufen. Die bestünde darin, sich auch politisch für eine gerechtere Welthandels- und Wirtschaftspolitik einzusetzen. Dazu gehörte dann vor allem auch, von Unternehmen außerhalb des Fairtrade-Systems Rechenschaft über die Beachtung von Menschenrechten in globalen Zulieferketten zu verlangen. Und darauf hinzuarbeiten, dass Firmen für die Verletzung von fundamentalen Rechten zur Verantwortung gezogen werden können. Tobias Schwab, "Fair bedeutet noch lange nicht gerecht", in: Frankfurter Rundschau vom 29./30. November 2014 Die zehn Prinzipien des Global Compact (© www.globalcompact.de/publikationen/die-zehn -prinzipien-des-global-compact) […] [D]ie Bill & Melinda Gates Foundation aus Seattle […] gilt […] als größte private Stiftung der Welt. Mit rund 41 Milliarden Dollar entspricht ihr Kapital fast der jährlichen Wirtschaftsleistung von Ghana. Rund 3,6 Milliarden Dollar hat die Stiftung allein im vergangenen Jahr ausgeschüttet, unter anderem um Krankheiten wie Malaria und Aids zu bekämpfen. Doch diese Großzügigkeit hat einen Nachteil: […] Öffentlich kaum bekannt ist […], dass rund 80 Prozent des Budgets der WHO auf freiwillige Zahlungen und Spenden zurückgehen. Diese Mittel sind zweckgebunden, sie dürfen also nur entsprechend den Vorgaben der jeweiligen Geber eingesetzt werden. […] Die Gates-Stiftung lässt der WHO inzwischen mehr Geld zukommen als die gesamten Vereinigten Staaten. Im vergangenen Geschäftsjahr waren es allein 300 Millionen Dollar. […] Der Aufstieg von Großspendern wie dem Ehepaar Gates hat vor allem damit zu tun, dass die 194 Mitgliedsstaaten der WHO seit den neunziger Jahren ihre Beiträge für das allgemeine Budget der Organisation stetig zurückgefahren haben. Besonders deutlich wurde das zuletzt beim Etat für Notfälle wie der aktuellen Ebola-Epidemie. Er wurde in kurzer Zeit mehr als halbiert: von 469 Millionen Dollar im Geschäftsjahr 2012/2013 auf 228 Millionen Dollar für das Jahr 2014/2015. […] Gates’ Initiativen sollen unter anderem weltweit Polio ausrotten sowie HIV, Tuberkulose und Malaria bekämpfen. Für […] Kritiker steht fest: Diese moderne Form der Wohltätigkeit hat die internationale öffentliche Gesundheitspolitik in eine Ansammlung unkoordinierter Einzelprojekte verwandelt, die sich den Wünschen der Geldgeber unterordnen muss. Eine Sprecherin der Stiftung weist diesen Vorwurf allerdings zurück: "Wir stellen mit drei Milliarden jährlich nur einen geringen Anteil der weltweiten Ausgaben für Entwicklung und Gesundheit in Höhe von 140 Milliarden Dollar dar und konzentrieren deshalb unsere Ressourcen auf Aufgabengebiete, wo wir glauben, die größtmögliche Wirkung erzielen zu können." […] Gates […] zählt zu den Pionieren des "Philanthrocapitalism", einer Art Wohltätigkeitskapitalismus, der nach unternehmerischen Grundsätzen funktioniert. Seine Programme und Projekte haben genaue Zielvorgaben, sie müssen einer Kosten-Nutzen-Analyse standhalten und vor allem messbare Resultate vorweisen. Der Gewinn wird nicht in Dollar gerechnet, sondern in der Zahl verhinderter Todesfälle oder der Ausrottung von Krankheiten. […] Impfungen passen perfekt in dieses Konzept. Und auch Organisationen wie Gavi, die von der Gates-Stiftung gefördert werden. Gavi wurde 2000 als Global Alliance for Vaccines and Immunization gegründet, unter anderem fördert sie Impfkampagnen gegen Kinderlähmung. Seit ihrer Gründung habe Gavi geholfen, 440 Millionen Kinder zu impfen, heißt es auf der Webseite der Organisation. Gesundheitsexperten loben die Initiative, weil sie die Kindersterblichkeit gesenkt habe. Doch es gibt auch Kritik. So macht sich Gavi für eine Impfung mit Pentavalent stark. Der Impfstoff soll Kleinkinder zugleich vor Diphterie, Tetanus, Keuchhusten sowie vor Hepatitis B und Hib schützen – einem Bakterium, das Meningitis und Lungenentzündung auslöst. Doch die Impfung ist umstritten: Nach einer Reihe von Todesfällen setzten Sri Lanka, Bhutan und Vietnam die Gabe von Pentavalent zunächst aus, nahmen sie nach Beratungen mit der WHO (die Pentavalent empfiehlt) jedoch wieder auf. […] Andere Kritiker verweisen auf potenzielle Interessenskonflikte bei Gavi. Im Verwaltungsrat sitzen nicht nur Regierungsvertreter verschiedener Länder, sondern auch ein Entsandter der Gates-Stiftung, eine Hedgefonds-Managerin, jemand von der Investmentbank Goldman Sachs sowie ein Partner des Consulting-Konzerns BDO, zu dessen Kunden auch Pharmakonzerne gehören. Auch die Rolle von Adar Poonawalla in dem Gremium ist umstritten. Er ist Spross eines indischen Milliardärsclans, zu dessen Imperium das Serum Institute gehört, einer der führenden Impfstoffhersteller und Anbieter von Pentavalent. Ebenfalls im Verwaltungsrat sitzt Olivier Charmeil, Chef von Sanofi Pasteur, der Impfsparte von Sanofi. Dem Pharmakonzern gehört unter anderem der indische Hersteller Shanta Biotechnics, zu dessen wichtigsten Produkten ebenfalls Pentavalent zählt. Auf das Thema angesprochen, erklärt Gavi, Verwaltungsratsmitglieder würden potenzielle Interessenskonflikte jährlich offenlegen und sich bei möglichen Interessenskonflikten aus sämtlichen Beratungen und Entscheidungen zurückziehen. […] Für Gates und seine Stiftung dürfte die Nähe zur Industrie nicht anrüchig, sondern eher erstrebenswert sein. […] Bei Gavi sind Unternehmen bewusst Partner, wie aus der eigenen Webseite hervorgeht. Dort ist von gebündelten Kräften die Rede, die "von der wissenschaftlichen Expertise der WHO, dem Beschaffungssystem von Unicef über das finanzielle Know-how der Weltbank bis hin zur Marktkenntnis der Impfindustrie" reichten. Die Sprecherin der Gates-Stiftung erklärt, durch die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft sei es gelungen, den Preis für viele Medikamente zu senken, die für Menschen in ärmeren Ländern zu teuer gewesen seien. Bei HIV-Medikamenten habe man eine Reduktion um 99 Prozent erreicht. Gates-Gegner weisen darauf hin, dass das Stiftungsvermögen zum Teil in Aktien von Unternehmen steckt, die wiederum von Projekten der Stiftung profitieren. So besaß die Stiftung zeitweise Aktien der Pharmakonzerne Merck und Eli Lilly, wie aus Dokumenten der Börsenaufsicht SEC hervorgeht. Über ihre Beteiligung an Berkshire Hathaway hält sie weiterhin indirekt Anteile an Sanofi. Der Stiftung zufolge sei das Anlagevermögen von den Kernzielen jedoch strikt getrennt. Die Vermögensverwaltung sei auf die Maximierung des Spendenkapitals ausgerichtet. […] Auch wenn es im Einzelfall gut und ehrenwert sei, was Einzelpersonen oder Unternehmen mit ihrem Geld tun: "Es gibt keine öffentliche Debatte über die Vergabe dieser Mittel", sagt Jeremy Youde, Dozent an der University Minnesota Duluth. Und das bleibt das Problem des Wohltätigkeitskapitalismus: Er legt Entscheidungen über das Wohl und Wehe der Menschheit in die Hände einiger weniger Geldgeber mit individuellen Vorstellungen. Die Bill & Melinda Gates-Stiftung schuldet niemandem Rechenschaft. Heike Buchter, "Bill Gates: Der Weltgesundheitsapostel", in: DIE ZEIT Nr. 44 vom 23. Oktober 2014, Mitarbeit: Jan Roß
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-07T00:00:00
2015-04-15T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/regieren-jenseits-des-nationalstaates-325/204674/neue-formen-des-globalen-regierens/
Aufgrund von Globalisierungsprozessen wird Global Governance erheblich komplexer. Wo das traditionelle Instrumentarium (zwischen-)staatlicher Steuerung fehlt oder nicht greift, tauchen weichere, informellere Formen des Regierens auf. Gesellschaftlich
[ "globales Regieren", "Globalisierung", "Global Governance", "Multilateralismus", "WHO", "Club-Governance" ]
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Cemil | AV-Medienkatalog | bpb.de
Regie: Jo Schäfer Buch: Interfilmteam Berlin Produktion: Jo Schäfer, Berlin 1986 Format: 90 Min. - VHS-Video - farbig Stichworte: Ausländer - Familie - Jugend - Minderheiten - Soziales Verhalten FSK: 12 Jahre Kategorie: Spielfilm Inhalt: "Fetzige Diskomusik und Tanz à la FAME" sind der beliebteste Zeitvertreib von Cemil und seiner Clique, zu der auch seine Schwester Hülya gehört. Ein Parkplatz und der tragbare Recorder genügen ihnen schon, eine Tanzsession zu improvisieren. Die beiden, modisch und cool, sind in Berlin aufgewachsen, Türken der sogenannten zweiten Generation, berlinern, was das Zeug hält, und fühlen sich hier heimischer als in der Türkei, die sie nur von wenigen Urlaubsreisen kennen. Wie ein Schlag trifft es Cemil, als ihm seine Eltern mitteilen, daß sie für immer in die Türkei zurückkehren wollen. Auch Hülya ist nicht sonderlich begeistert, "so 'ne Show abziehen wie hier" kann sie dort nicht. Aber es ist nicht allein das völlig andere Leben, das Cemil in der Türkei erwartet, das seinen Widerstand wachruft; er hat sich nämlich gerade in seine deutsche Mitschülerin Nina verliebt. Doch die Entscheidung der Eltern steht unwiderruflich fest. Er muß mit. Auf dem Flughafen, schon eingecheckt, türmt Cemil, in der Hoffnung, von Nina d Freunden unterstützt zu werden. Der Druck der Illegalität setzt der Hilfsbereitschaft Grenzen, und als dann auch noch Ninas Liebe abkühlt, verzweifelt Cemil völlig. Es bleibt ihm nur eine Möglichkeit...
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-10-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146382/cemil/
"Fetzige Diskomusik und Tanz à la FAME" sind der beliebteste Zeitvertreib von Cemil und seiner Clique, zu der auch seine Schwester Hülya gehört. Wie ein Schlag trifft es Cemil, als ihm seine Eltern mitteilen, daß sie für immer in die Türkei zurückkeh
[ "Ausländer", "Familie", "Jugend", "Minderheiten", "Soziales Verhalten" ]
29,735
Positionen einer europäischen Erinnerungspolitik | Deutschland Archiv | bpb.de
Sammelrezension zu: Hans-Henning Hahn, Robert Traba (Hg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Paderborn u.a.: Schöningh 2012, 490 S., € 58,–, ISBN: 9783506776418. Anna Zofia Musioł: Erinnern und Vergessen. Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten, Wiesbaden: VS 2012, 311 S., € 39,95, ISBN: 97833531183312. Stefan Troebst, Johanna Wolf (Hg.): Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa (Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität; 2), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 272 S., € 20,–, ISBN: 9753865835482. Gerhard Besier, Katarzyna Stokłosa (Hg.): Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas. Auf der Suche nach historisch-politischen Identitäten (Mittel- und Osteuropastudien; 9), Berlin: LIT 2012, 185 S., € 19,90, ISBN: 9783643102300. Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – Geteiltes Gedächtnis, Göttingen: Wallstein 2011, 247 S., € 16,90, ISBN: 9783835309555. Deutsch-polnische Erinnerungsorte Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte (© Schöningh, Paderborn) Der dritte Band der deutsch-polnischen Gemeinschaftsproduktion zur Bewertung von Erinnerungsorten hinterlässt bereits beim ersten Blick auf die aufgelisteten Topoi, die in den ersten drei Bänden behandelt sind, einen nachhaltigen Eindruck. In den ersten beiden Bänden (die erst im Laufe des Jahres 2012 erscheinen werden) sind es markante historische Persönlichkeiten und Ereignisse, topografische Begriffe wie auch kulturelle Phänomene, ideologische und politische Begriffe aus der deutschen und polnischen Geschichte; im dritten, hier vorliegenden Band, setzen sich die Verfasser mit parallelen, erst auf den zweiten Blick vergleichbaren Ereignissen, realen Persönlichkeiten, imaginierten und sogar mythischen Figuren, historischen Entwicklungen und kulturellen Phänomen auseinander. Ein lobenswertes Unternehmen, denn wer könnte zum Beispiel, um das erste topografische Feld aufzugreifen, irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen den Begriffen "Altes Reich" und "Rzeczpospolita" entdecken? Wer vermutet irgendwelche Zusammenhänge zwischen "Targowica" und "Dolchstoß"? Und wer etwa lüftet die gemeinsamen Geheimnisse zwischen "KKK" und "Mutter Polin"? Oder: wer kennt sich in der deutschen und polnischen Fußballgeschichte nach 1945 aus, in der spektakuläre Länderspiele stattfanden? In ihrer Einleitung verweisen die Herausgeber, die Osteuropahistoriker Hans-Henning Hahn (Oldenburg) und Robert Traba (Warschau), auf die methodischen und historischen Grundlagen für ihr ambitiöses Unternehmen, indem sie ebenso an Pierre Noras "Lieux de mémoire" als auch an Maurice Halbwachs' Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis erinnern. Die sich nach 1945 herausbildende Erinnerungskultur sei ein "System des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppierung". Ein solches Gedächtnis sei ein Artefakt, das Erinnerungsorte als realhistorische wie auch als imaginierte historische Phänomene in vergleichbarer Hinsicht zu Gegenständen einer historiografischen und kulturgeschichtlichen Analyse mache. Umgesetzt wird das 2006 aus der Taufe gehobene Projekt von zwei Instituten: dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaft und dem Institut für Geschichte (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). In methodischer Hinsicht beruft es sich auf die Abhandlungen von Klaus Zernack zur ostmitteleuropäischen Beziehungsgeschichte (vgl. seine Monografie "Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte"). Auf der Grundlage dieser transnationalen Analyse entstand auch das Konzept derjenigen deutsch-polnischen Erinnerungsorte, die bislang noch nicht in das systematisch-vergleichende Visier der (Kultur-)Historiker fielen. Die insgesamt 22 Beiträge, von jeweils einem bzw. zwei Autoren verfasst, sind nach einem Prinzip mit da und dort abweichenden Varianten aufgebaut. Einer einführenden Beschreibung der zu vergleichenden Topoi, die getrennt oder auch mit vergleichenden Aspekten abläuft, folgt eine ausführliche Darstellung der beiden Gegenstände und der damit verbundenen Begründung für die engen realen oder auch imaginierten Verbindungslinien zwischen ihnen. Besonders überzeugend ist die Darlegung auf den ersten Vergleichsfeldern, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (vom Mittelalter bis 1806) und der polnisch-litauischen Rzeczpospolita (zwischen 1500 und 1795); Kresy und Deutschem Osten, der spannende Vergleich der Entstehung und Herausbildung der polnischen Grenzgebiete, der Kresy von Lettland bis zur Ukraine, und dem imaginierten Begriff "Deutscher Osten" unter dem Stichwort "Vom Glauben an die historische Mission". Ebenso hervorzuheben ist der Beitrag zu den beiden Begriffen "Targowica" und "Dolchstoß". Verrat, Illoyalität und Schuldzuweisung, je nach politischer Relevanz, sind auch in der deutschen und polnischen Geschichte stetige Wirkkräfte gewesen. Doch die vergleichende Betrachtung und die Analyse von zeitlich stark verschobenen Ereignissen und imaginierten Phänomen erweist sich umso schwieriger, als Akteure aus unterschiedlichen Völkern in der Entscheidungsfindung bei der Schuldzuweisung angesichts nationaler Katastrophen sich ähnlicher Argumentationsmuster bedienen. Der eine Topos, die Konföderation von Targowica, ein Abkommen eines Teils der polnischen Magnaten mit der Zarin Katharina II., am 27. April 1792, in St. Petersburg unterzeichnet, entwickelte sich in seiner historischen Ausdeutung zu einem Inbegriff des Verrats an der polnischen Nation und beförderte den Prozess der Aufteilung Polens. Der andere Topos rankte sich um die Dolchstoßlegende, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von der deutschen nationalistischen Rechten gegen die sozialdemokratischen "Verräter" mit Philipp Scheidemann an der Spitze inszeniert wurde. Doch mehr als 200 bzw. fast 100 Jahre danach würde, so Peter Oliver Loew, die negative Bedeutung des "Verrats" allmählich seine Wirkung verlieren und seine nationalen Bezugsrahmen verlassen. Ebenso spannend ist der Vergleich der Wirkungsgeschichte großer nationaler Idole, die in der Kulturgeschichte ihrer jeweiligen Länder eine mehr oder weniger uneingeschränkte Anerkennung finden. Sind sie, wie sie Heinrich Olschowsky in seiner Betrachtung der Wirkungsgeschichte Johann Wolfgang von Goethes und Adam Mickiewicz' bezeichnet, "poetische Gesetzgeber des kulturellen Kanons"? (217) Olschowskys mit vielen eindrucksvollen Beispielen belegte Rezeptionsgeschichte weist die wesentlich unterschiedliche anerkennende Resonanz der Dichter in ihren jeweiligen nationalen Kulturen nach. Erst die Epochenwende von 1989/90 habe auch in Polen das messianisch überhöhte Bild des Nationaldichters Mickiewicz mit anderen Akzenten versehen, ein Wandel, der im Hinblick auf die Goethe-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland mit der Klassiker-Demontage bereits in den 1970er-Jahren einsetzte und nach dem Ende des kulturpolitisch funktionalisierten Goethe-Kults in der DDR nunmehr eine institutionell abgesicherte Figur des kollektiven Gedächtnisses geworden sei. Der mit einer stattlichen Liste von vergleichenden Erinnerungsorten aufwartende Band beschäftigt sich u.a. mit den beiden so unterschiedlichen Nationalhymnen, analysiert die Paulskirchenverfassung von 1848 und die polnische Verfassung 1791, seziert die Strukturen der Überwachungsbehörden Stasi und Ubecja (Amt für Öffentliche Sicherheit), dekonstruiert die deutschen und polnischen Fussballmythen und begibt sich sogar in die "Niederungen" der motorisierten Sehnsucht, in denen der Polski Fiat 126p mit dem Trabant verglichen wird. Die damit geleisteten Erinnerungsdiskurse sind historisch fundiert, komparativ "abgefedert", enthalten wertende Resümees und zahlreiche Literaturverweise. Ein Fundament legendes Werk, das mit den noch 2012 folgenden Bänden I und II die gegenwärtig noch sehr lückenhafte deutsch-polnische Erinnerungslandschaft verdichten wird. Erinnern und Vergessen Anna Zofia Musioł, Erinnern und Vergessen (© VS, Wiesbaden) Die im Rahmen eines DFG-Projekts entstandene Forschungsarbeit Anna Zofia Musiołs untersucht den Wandel der Erinnerungskulturen in Deutschland und Polen mit dem Ziel, die sich abzeichnenden Veränderungen in beiden Ländern (Wiedervereinigung Deutschlands und Demokratisierung der polnischen Gesellschaft) am Beispiel von zwei Aufsehen erregenden Debatten, der Walser-Bubis-Debatte 1998 und der Debatte um Jedwabne 2000, in einem diskursanalytischen Verfahren darzustellen. Ihre Auslöser waren zum einen die Festrede von Martin Walser aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, zum anderen die Buchpublikation des polnisch-amerikanischen Historikers Jan Tomasz Gross "Nachbarn" (2000), der Geschichte der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne im Sommer 1941. An beiden Diskursen lasse sich, so die Verfasserin, "die Dynamik in der öffentlichen kollektiven Erinnerung deutlich ablesen." (15). Die in der Einleitung vorgenommene methodische Hinführung zum Untersuchungsverfahren (empirischer und theoretischer Zugang wie auch Präzisierung des Erinnerungsbegriffs), die Erläuterung der Diskursanalyse sowie des Modus Operandi, einschließlich der Operationalisierungsaspekte der Vergleichsanalyse führen in den Vergleich deutscher und polnischer Erinnerungskulturen ein. Der umfangreiche Hauptteil setzt sich in transparenten Zwischenstufen mit den diskursanalytischen Verfahren zur Deutung der beiden Debatten auseinander. Dabei entwickelt Musioł im Hinblick auf ihre beiden zu untersuchenden Debatten differenzierte Deutungsmuster unter Berücksichtigung der spezifischen, in den beiden Ländern abgelaufenen Erinnerungsprozesse. Ihre fein abgestuften, methodisch adäquaten Verfahren führen bereits in den Zwischenbefunden zu Ergebnissen, deren transparente Erläuterung allerdings aufgrund der intensiv gepflegten soziologischen Fachsprache sich als schwierig erweist. Es handelt sich hierbei um ein Repertoire von "Attributierungsprozessen" (Schuld, Scham, Schande im Walser-Bubis-Streit; Kollektivschuld als Stammesverantwortung wie auch Fremd- und Eigenscham im Falle der Jedwabne-Debatte), das im Rahmen dieser überblickartigen Besprechung nicht im Detail kommentiert und bewertet werden kann. Das Resümee der Forschungsergebnisse, die aufgeteilt sind in a) Untersuchung der Grundtendenzen und Vergleichsaspekte der Debatten, b) akteurbezogene Parallelen der Debatten, c) kontextbezogene Unterschiede in der deutschen und polnischen Erinnerungslandschaft und d) prognostische Aspekte im Hinblick auf die Re-Definitition des geschichtlichen Prozesses in beiden Ländern, enthält hinsichtlich zu erwartender Veränderungen beim Umgang mit Erinnerung bei unseren östlichen Nachbarn eine wesentliche Aussage: "Aufgrund der politischen Wende von 1989 kommt es zu einem Paradigmenwechsel der Machtverhältnisse, was sich im Bereich der Erinnerung in dem Wandel der Erinnerungskonjunktur (…) widerspiegelt. Im Rahmen der Demokratisierungsprozesse des gesellschaftlichen Lebens erfolgt im Erinnerungsbereich eine enorme Mobilisierung von Emanzipationsprozessen, die Legitimierung und Aufwertung ihres eigenen Vergangenheitsbildes anstreben." (285) Was bezogen auf die polnische Erinnerungskultur sich nunmehr in einem offenen Diskurs über den bis 1989 unterdrückten und verdrängten Antisemitismus artikuliere und in dem Abschied vom nationalen Opfer- und Märtyrer-Mythos münde, das führe in der deutschen Debatte zwischen dem provozierenden Schriftsteller Martin Walser und dem empörten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Ignatz Bubis zu einer Normalisierung, die an das affirmative Selbstbild der Deutschen gekoppelt sei. Und dieses Selbstbild, so der Politologe Hajo Funke, stärke die Bedeutung der Walser-Bubis-Debatte umso mehr, als die ihr eigene Kontroverse der "gesellschaftliche(n) Relevanz für die Selbstdefinition der Deutschen und der Berliner Republik" (285) zugeschrieben werde. Wie komplex auch solche Ergebnisse ausformuliert werden, es bleibt die optimistische Prognose, wonach laut Aleida Assmann im Rahmen des Modells der gesamteuropäischen Normen- und Wertegesellschaft sich die Idee einer gemeinsamen Erinnerung durchsetzen werde. Die deutsche und auch – mit einer gewissen Verzögerung – die polnische Erinnerungsgemeinschaft sind auf dem besten Weg dorthin. Erinnern an den Zweiten Weltkrieg Stefan Troebst/Johanna Wolf (Hg.), Erinnern an den Zweiten Weltkrieg (© Leipziger Universitätsverlag) Die mit unterschiedlichen Textarten ausgestattete Publikation Stefan Troebsts und Johanna Wolfs entstand auf der Grundlage einer Konferenz, die im Europa-Saal des Auswärtigen Amtes und im Deutschen Historischen Museum in Berlin im Juli 2010 mit Teilnehmern aus zahlreichen osteuropäischen Ländern stattfand. Historischer Bezugspunkt war der 70. Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts vom 23. August 1939 wie auch die Zeugnisse der Annäherungen zwischen Deutschland und seinen osteuropäischen Nachbarn nach 1989. Sie bildeten, wie Stefan Troebst (Leipzig) in seiner Grußbotschaft betonte, die grundlegenden Anliegen einer Konferenz, deren Teilnehmer sich mit dem Thema "Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa" in mehrfacher Hinsicht beschäftigten: Referate, Diskussionen und Besichtigungen von Gedächtnisstätten in Berlin verdichteten sich auf diese Weise zu einem Konferenz übergreifenden Diskurs. Zum Auftakt setzten sich Historiker aus polnischer, russischer und deutscher Perspektive mit dem Stellenwert des historischen Gedächtnisses in ihren Ländern auseinander, wobei Matthias Weber (Oldenburg) erfreulicherweise die geteilte Erinnerung in Europa in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte. In der zweiten Runde, in der die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust aus deutscher Sicht betrachtet wurde, nahmen zwei Politikwissenschaftler Erfolge und Mängel der deutschen Bewältigungstherapie unter die Lupe. Helmut König (Aachen) verwies auf Kontroversen in der Erinnerungskultur und in der Zeitgeschichtsforschung, wobei er seinen Kollegen bescheinigte, dass sie in den letzten 20 Jahren sich eher mit der Klärung von Sachverhalten als mit der Deutung tragfähiger Narrative beschäftigt hätten. Am Beispiel der langwierigen Diskussion um die Gestaltung des Holocaust-Denkmals konnte Erik Meyer (Gießen) mit seinem Blick auf die Wandlungen in der deutschen Erinnerungspolitik nach 1989 eine Antwort darauf geben, indem er auf die dringend notwendige vergleichende Forschung auf diesem Gebiet aufmerksam machte. Umso aufschlussreicher waren die kontroversen Einschätzungen des historischen Gedächtnisses in Russland unter der Maßgabe einer nüchternen Bewertung der historischen Wahrheit. Die junge Historikerin Julija Z. Kantor (St. Petersburg) wand sich argumentativ gegen die Glorifizierung der Rolle Stalins im "Großen Vaterländischen Krieg" und gegen die weiterhin vorherrschende Siegesmetaphorik im Dienste der "gelenkten Demokratie". Konstantin Provalov hingegen, Historiker und Diplomat der Putin-Regierung, befürwortete Russlands "konsequent abgestimmte Maßnahmen zur Bewahrung des historischen Gedächtnisses" (105) mit Hinweisen auf zahlreiche Konferenzen, die dem Sieg über den deutschen Faschismus gewidmet waren. Dass solche "von oben" vorgenommenen Einschätzungen zur Stärkung der Rolle des kollektiven Gedächtnisses in den vergangenen zwanzig Jahren kurioserweise etwas mit dem wenig veränderten kollektiven Bewusstsein der russischen Bürgerinnen und Bürger zu tun haben, verdeutlichte der Soziologe Boris V. Dubin (Moskau). Er bestätigte, dass "drei Viertel der Bürger Russlands … der These zustimmen, dass der Sieg [über Hitlerdeutschland] das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts sei." (116) Das damit verbundene Bild von der Befreiung Europas vom Faschismus sei ein "Aspekt des eigenen Triumphes und der Erlöserrolle Russlands – des sowjetischen und … auch des postsowjetischen." (116). Ebenso spannend sind die Bewertungen des Zweiten Weltkriegs in der Geschichtspolitik Polens wie auch die Musealisierung dieser Katastrophe nach 1989 aus der Sicht der polnischen Historiker Włodzimierz Borodziej und Piotr M. Majewski. Der eine konzentrierte sich auf die Analyse der wissenschaftlichen Aufarbeitung durch das Institut des Nationalen Gedenkens im Zeitraum 1939 bis 1989, die Exil-Forschung am Beispiel von Jan Tomasz Gross (vgl. dessen Essays "Nachbarn" und "Furcht" über den polnischen Antisemitismus), wie auch die politische nationale Identitätsfindung durch die Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit); der andere gab einen Überblick von der Herausbildung der martyrologischen Museen in der Volksrepublik Polen bis zur Entstehung der ersten narrativen Museen nach 1989. Der zweite Typus mit der Darstellung konkurrierender narrativer Geschichtsbilder soll, wie Pawel Machcewicz erläuterte, mit dem Bau des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig eine Erfahrung des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht der West- und Osteuropäer umsetzen. Wie wichtig die Durchsetzung eines solchen Paradigmenwechsels in der europäischen Erinnerungskultur ist, verdeutlichte sowohl die abschließende Podiumsdiskussion als auch der Beitrag von Andrij Portnov (Kiev), der den Versuch unternahm, einen Vergleich zwischen den kaum entwickelnden Erinnerungskulturen in Belarus, Moldova und der Ukraine anzustellen. Beide Darstellungsformen, der lebhafte Diskurs über konkurrierende Geschichtsbilder wie auch die bislang bescheidene Bilanz der didaktischen Umsetzung von Erinnerungskultur vor allem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion erweisen sich als ergiebige Ergebnisse einer Konferenz, deren Teilnehmer nicht nur kognitive Einsichten erhielten, sondern auch visuell verdichtete Zeugnisse auf ihren Exkursionen durch die Berliner Mahnmal- und Museumslandschaft kennen lernten. Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas Gerhard Besier/Katarzyna Stokłosa (Hg.), Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas (© LIT, Berlin) Wenn Herausgeber – wie hier Gerhard Besier und Katarzyna Stokłosa – bereits in der Einführung die wesentlichen Thesen der einzelnen Beiträge, wie in dieser vergleichend angelegten Publikation zu europäischen Geschichtsbildern und der Suche nach nationalen und transnationalen Identitäten, eingehend vorstellen, dann erleichtert diese Vorgehensweise zweifellos auch die vergleichende Bewertung des Rezensenten. Oft verschwinden aber aufgrund solcher nebeneinander aufgereihten Zusammenfassungen wesentliche perspektivische Einstellungen aus dem Blickwinkel desjenigen, der sich einen Überblick über europäische Geschichtspolitik nach 1989 verschaffen will. Im Falle des vorliegenden Sammelbandes erweist sich ein solches Vorgehen aufgrund der unterschiedlichen Verfahrensweisen als notwendig. Er enthält drei Analysen zur Geschichtspolitik im Zarenreich und in der Sowjetunion (Lars Karl), alternative Erinnerungen im Übergang von der sowjetischen zur post-sowjetischen Periode (Olga Novikova) und zur inoffiziellen Geschichtsschreibung (Elena V. Müller), eine Studie zur Geschichtspolitik in Polen (Katarzyna Stokłosa), Gerhard Besiers vergleichende Auseinandersetzung mit den polnisch-deutschen Beziehungen aus europäischer Sicht, eine interethnische Studie zur Karpatho-Ukraine (Paul Robert Magocsi), einen Beitrag zu Rumäniens nicht vollzogenem Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit (Cristina Petrescu/Dragoş Petrescu) sowie eine Kontrast-Studie zur Funktion des Baskenlands in der spanischen Politik vom 19. bis zum 20. Jahrhundert (Fernando Molina). Die vergleichende Beschäftigung mit den imperialen Visionen im Zarenreich und in der Sowjetunion gehört, wie Lars Karl auch in seinem ausgiebigen Anmerkungsapparat nachweist, vor allem in der nordamerikanischen Russland-Forschung zu den beliebtesten Themen. Im Fokus seiner Untersuchung stehen "Heldendichter", die in der russischen und in einzelnen nationalen Kulturen des imperialen Reiches so lange umfunktioniert wurden, bis sie zu Sinnbildern staatlicher, symbolisch aufgeblasener Inszenierungen wurden. Das spannendste Ergebnis in Novikovas Studie ist die Instrumentalisierung der Stalin-Verbrechen durch die neue politische Elite unter Vladimir Putin, indem die traumatische Vergangenheit durch eine moralische Haltung aufgehoben werde, die in eine nationale Versöhnungsorgie münden soll. Gegen diese von oben angeordnete Narrative kann sich, wie Elena Müller in ihrer Studie zeigt, inoffizielle Geschichtsschreibung nur marginal durchsetzen, ohne sich im Massenbewusstsein diskursiv festsetzen zu können. Zu nennen ist auch, ohne die anderen, nicht weniger substantiellen Beiträge in den Hintergrund zu stellen, der umfangreiche, mit vielen Quellennachweisen versehene Beitrag von Petrescu/Petrescu über den intensiven repressiven Charakter des Ceauşescu-Regimes, der nach 1990 eine "Amnestie unmöglich und die Amnesie nicht erwünscht machte" (155). Freiheit, ach Freiheit … Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.), Freiheit, ach Freiheit … (© Wallstein, Göttingen) Es ist ein lobenswertes Vorhaben, zwei Mitteleuropäer, die aus Budapest stammende, jetzt in Berlin lebende Leiterin des Dialog-Kultur-Europa e. V., Zsuzsa Breier, und den Schweizer Professor und Schriftsteller Adolf Muschg mit der Herausgabe einer Anthologie zu betrauen, in der die leidvolle Erfahrung mit der jüngsten Geschichte Europas von 37 Schriftstellern, Politikern, Historikern, Journalisten und Bürgerrechtlern aus 17 Ländern aufgearbeitet wird. Grundlage der vorliegenden Publikation bilden die Vorträge der Verfasser, die sie zwischen 2008 und 2010 unter der Leitidee "Geeintes Europa – geteiltes Gedächtnis" in Berlin im Rahmen der Dialog-Gesellschaft gehalten haben. Ausgangsfragen wie: Was haben wir Europäer aus unserer Geschichte gelernt? Wie gehen wir mit unseren Tätern, Opfern und Helden um? Was trennt und was verbindet uns bei der Aufarbeitung unserer jüngsten Vergangenheit? (Breier), und die Inkongruenzen der Erfahrungen im Umgang mit Geschichte (Muschg) stellen die Leitlinien in den Beiträgen dar. Bildimpulse für diese diskursive Auseinandersetzung liefern drei Abbildungen auf dem Buchumschlag, die auf Schlüsselereignisse der europäischen Geschichte verweisen: die Französische Revolution, der Ungarische Aufstand von 1956 und die Errichtung der Mauer 1961. Sie dienen auch als Leitbilder für die thematische Gliederung der Anthologie: Doppelerfahrung Europa; Gräber und Gespenster; Erinnern, Umdichten, Vergessen; "Die Spuren der Geschichte lesen"; "Verzögerte Aufarbeitung"; "Europa atmet wieder mit zwei Lungen". Von welchen Überlegungen lassen sich die Autoren leiten? Joachim Gauck spricht von den konkreten Erfahrungen mit dem diktatorischen Regime der DDR und den Schwierigkeiten mit der Akzeptanz von begangenen Fehlern. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel fordert, ausgehend von der Asymmetrie der Wahrnehmung (von) und des Interesses an den staatssozialistischen Ländern jenseits der Elbe bis 1989 eine Ausweitung des geschichtlichen Horizonts beim Umgang mit der Vergangenheit. Der ungarische Historiker Krisztián Ungváry setzt sich mit der Funktionalisierung von Erinnerungskulturen in Ungarn nach 1989 auseinander, indem er auf die rechtsradikal orientierte Politik der Fidesz-Regierung aufmerksam macht, die dem Holocaust-Gedenktag nur unter der Bedingung zugestimmt habe, "dass auch ein Tag der Opfer des Kommunismus in die Liturgie der staatlichen Erinnerungskultur aufgenommen wird." (43) Damit würden Terrorregime gegeneinander ausgespielt und Menschenrechte teilbar gemacht. Über Gräber hinweg, im Kampf mit den Gespenstern aus der kommunistischen Vergangenheit, reden Repräsentanten aus fünf zentral- und osteuropäischen Republiken, deren unterschiedliche Freiheits- und Angstvisionen sich in konkurrierenden Erzählungen und oft auch atomisierten Geschichten niederschlagen (Joachim Scholtyseck). Besonders beunruhigend klingt in diesem Bereich die Stimme des ukrainischen Schriftstellers Jurij Andruchowytsch. Sie beschwört Europa, es möge doch seine Türen – nach den enttäuschenden Ergebnissen der Orangenen Revolution 2004 – zur Ukraine (wieder) öffnen. Während die rumänische Forscherin Germina Nagat voller Stolz über die Öffnung des Archivs der Securitate berichtet, in dem seit 2006 die Opfer des Ceauşescu-Regimes Einsicht nehmen können. Besonders schwerwiegend ist die kollektive Erinnerung der baltischen Völker an ihre von zwei Terrorregimen zwischen 1940 und 1989 besetzten Länder. Der estnische Historiker und Politiker Mart Laar betont im Hinblick auf die verheerenden Verluste der estnischen Bevölkerung nach 1945 und die Auswirkungen der imperialen Sowjetpolitik die besondere Bedeutung der Europäischen Union für die Überwindung der wirtschaftlichen und soziokulturellen Krise seines Landes. Der litauische Philosophie-Professor und Publizist Virgis Valentinavičius appelliert an die Opferverbände seines Landes, sich die Auswirkungen des Nazi-Terrors gegen die jüdische Minderheit und der Liquidation von zehntausenden Zivilisten durch die sowjetische Gewaltherrschaft in den 40er-Jahren in das Gedächtnis zurückzurufen. Ein Prozess, der umso dringlicher sei, als in Litauen eine kollektive Amnesie im Hinblick auf die jüngste Geschichte vorherrsche, ähnlich wie in Russland, in dem, wie die amerikanische Historikerin Anne Appelbaum, Verfasserin einer GULAG-Geschichte, weiterhin eine positive kollektive Erinnerung an den Gewaltherrscher Stalin bewahrt werde. Wie aber soll Gedächtnisarbeit funktionieren, wenn ihr kollektiver Gegenstand, wie der renommierte polnische Publizist Władysław Bartoszewski betont, sich wie ein "rücksichtsloser Autofahrer" benimmt, der wesentliche Ereignisse aus seiner Vergangenheit eliminiert. Umso wichtiger sei die Herausbildung eines "gewissen europäischen Bewusstseins", um die Fähigkeit zu entwickeln, "mit den Augen des Anderen zu sehen." (121) Allerdings überwiegen die Zweifel an deren Umsetzung, wie andere Referenten bestätigen: Adolf Muschg ("Der Verstand der Europäer steht still"); Andreas Wirsching (es gelte zuerst die Ungleichzeitigkeit der europäischen Erinnerung aufzuarbeiten); Stéphane Courtois, Herausgeber des "Schwarzbuch des Kommunismus", bezieht sich auf ein dreigeteiltes Europa (West-, Ostmitteleuropa und die Sowjetunion mit ihren kolonialisierten Völkern), das seine schwer belastete Vergangenheit aufarbeiten muss, und Horst Möller, deutscher Historiker, verweist auf die Gefahren einer antidemokratischen Entwicklung im "neuen" Europa. Und was wird passieren, wenn "Europa wieder mit zwei Lungen atmet?" Sind Politiker – wider die historische Erfahrung – "unverbesserliche Optimisten"? Wolfgang Schäuble setzt auf die Durchsetzungskraft der Demokratie in Europa, die allerdings "Führung" brauche; Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen in Berlin, vertraut auf die positive Energie der Solidargemeinschaft nach 1989; und sein Außenminister Radosław Sikorski beschwört die Verantwortung für Europa, in dem gemeinsame Geschichtsbücher die Fehler vergangener Jahrzehnte korrigieren. Der thematisch und metaphorisch angeordnete Sammelband bildet ein aufschlussreiches Spektrum von Positionen zu einer europäischen Erinnerungspolitik aus ost- und südosteuropäischer wie auch westeuropäischer Perspektive, in der das bis 1989 geteilte Gedächtnis seit mehr als 20 Jahren eine Reihe wesentlicher Impulse in Richtung einer gemeinsamen Aufarbeitung von Geschichte in Europa erhalten hat. Ob damit seine kollektiven Erinnerungsneuronen aktiviert werden, bleibt – wie immer – abzuwarten. Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte (© Schöningh, Paderborn) Anna Zofia Musioł, Erinnern und Vergessen (© VS, Wiesbaden) Stefan Troebst/Johanna Wolf (Hg.), Erinnern an den Zweiten Weltkrieg (© Leipziger Universitätsverlag) Gerhard Besier/Katarzyna Stokłosa (Hg.), Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas (© LIT, Berlin) Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.), Freiheit, ach Freiheit … (© Wallstein, Göttingen) Vgl. den Tagungsbericht von Wolfram von Scheliha, Drei Nationen auf der Couch, in: DA 43 (2010) 5, S. 912–915.
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Wolfgang Schlott
2015-05-07T00:00:00
2012-04-24T00:00:00
2015-05-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/132984/positionen-einer-europaeischen-erinnerungspolitik/
Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen, Flucht und Vertreibung, die Sowjetisierung Ostmittel- und Osteuropas, wirken im Gedächtnis der europäischen Völker und Nationen nach und beeinflussen die Suche nach der politisch-historischen Identität insbesond
[ "Erinnerungspolitik", "Nachkriegsgeschichte", "Erinnerungskultur", "Geschichtspolitik", "Mitteleuropa", "Osteuropa", "Ostmitteleuropa", "Südosteuropa", "Baltikum", "Europa", "Hitler-Stalin-Pakt", "Deutschland", "Polen", "Sowjetunion", "GUS", "Ukraine", "Russland", "Rumänien", "Estland", "Litauen", "Jedwabne", "St. Petersburg" ]
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Mit dem Bus in die DDR | Deutschland Archiv | bpb.de
Am Abend des 9. Novembers 1989 gegen 18 Uhr verkündet das Politbüromitglied der Sozialistischen Einheitspartei (SED) Günter Schabowski den Beschluss des Zentralkomitees der SED, dass Privatreisen nach Westberlin und in den Westen ab sofort ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen erlaubt sind: "Die Genehmigungen dafür werden den DDR-Bürgern kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen können über die Grenzübergangstellen der BRD und DDR erfolgen". An wann ist das gültig wird er gefragt. Die Antwort macht Geschichte: "Äh... unverzüglich." Sein Irrtum verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Menschenmassen strömen in Ostberlin in Richtung Brandenburger Tor und der Grenzübergänge. Sie hoffen auf die Öffnung der Mauer. Doch die Grenzposten dürfen nur auf Befehl handeln und halten die Tore noch weiterhin verschlossen, bis sich schließlich die Menschen in großen Massen drängen. Nach und nach geben die Grenzsoldaten ihre Posten auf und öffnen die Tore. Das ist ein großer Schritt auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung, denn mit dem Mauerfall wird das Ende der DDR unwiderruflich eingeleitet. Die Mauer stand jahrelang als Symbol für die deutsche Teilung und des Kalten Krieges und hat das Leben der DDR-Bürger deutlich erschwert. Vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 teilte die Berliner Mauer Deutschland und die Stadt Berlin in zwei Hälften. Fast drei Jahrzehnte lang hat die riesige Sperranlage eine Flucht in den Westen gnadenlos verhindert. Die Mauer hat insgesamt 28 Jahre und 88 Tage Ost- und Westberlin voneinander getrennt. Ein solches Leben, das durch die Teilung und die Mauer gekennzeichnet war, ist für die meisten Menschen in der heutigen Zeit unvorstellbar. Die Bewohner dort wurden dauerhaft von dem SED-Regime überwacht. Ihre eigene Freiheit ist ihnen gestohlen worden. Dadurch, dass regelmäßige Treffen nicht zulässig waren, wurden viele DDR-Bürger lange Zeit von ihren Freunden und Verwandten im Westen getrennt. Das Leben in der DDR war geprägt von Einschränkungen und Überwachung durch das Ministerium für Interner Link: Staatssicherheit. Wir sind heute so an Demokratie und Freiheit gewöhnt, dass es uns schwerfällt, uns solch ein Leben vorzustellen. Heutzutage ist es für uns nur noch möglich durch Filme, Dokumentationen oder Erzählungen die Umstände eines Lebens in der DDR zu erfahren. Unser Lehrer als Zeitzeuge Herr Heß, ein Lehrer unserer Schule, hat die DDR noch zu Zeiten der Mauer selbst erlebt und kann uns heute darüber berichten. Herr Heß hat jahrelang die Berlin-Fahrten an unserer Schule für die Oberstufe organisiert. Die Schüler hatten so die Möglichkeit, sich mit den Folgen des Mauerbaus und der Teilung Deutschlands auseinanderzusetzen. In einem Gespräch mit der PEER, unser Schüler*innenzeitung, erzählt Herr Heß von den Erlebnissen, die sich ihm selbst und den Schülern durch die Fahrt eröffnet haben. Insgesamt waren es meist circa 60 Teilnehmer. Durchgeführt wurde die Reise mit einem Bus. Es war notwendig, die Fahrt schon zuvor genauestens zu organisieren, um möglichen Schwierigkeiten und Konfrontationen mit den Grenzwächtern bestmöglich aus dem Wege zu gehen. Aufgrund dessen, dass die Schüler zunächst einmal nach Westberlin reisten und auch dort übernachtet haben, waren für die Einreise keine speziellen Papiere notwendig. Ein gültiges Visum musste auch nur für eine Einreise in die DDR selbst beantragt werden, wenn man dort seine Verwandten besuchen wollte. Für die Reise der Schüler nach Westberlin genügte also ein gültiger Reisepass. Dennoch galt es, bestimmte Sicherheitsmaßnahmen schon während der Fahrt einzuhalten, da selbst die Autobahnen, die sogenannten Transitwege, überwacht wurden. Die Autobahn durfte man beispielsweise nur an genau vorher benannten Ausfahrten verlassen. Es war nämlich möglich, dass unmittelbar hinter den Ausfahren Kontrollpunkte waren, an denen die Autos und Personen kontrolliert und durchsucht wurden. In manchen Fällen wurde sogar die Weiterreise ver¬boten. Ebenso durfte man als Westdeutscher nur an bestimmten Raststätten halten, um eine Pause einlegen zu können. Diese sollten am besten auch schon vor der Fahrt mit in die Route eingeplant werden. Schon während der Fahrt auf der Autobahn hatte man das Gefühl von ständiger Überwachung und Kontrolle. Während der Durchreise nach Berlin sind sie auch durch den Grenzort Rudolphstein gefahren. Rudolphstein lag an der innerdeutschen Grenze und war gleichzeitig der Grenzübergang an der A9. Dort wurden alle Passanten, die weiter in die DDR reisen wollten, von den Grenzwärtern kontrolliert. Teilweise wurden sogar die Autos der Passanten auseinandergebaut. Glücklicherweise war dies bei der Schulgruppe nicht der Fall und sie konnten ohne große Schwierigkeiten weiterreisen. Allerdings sollten es die Schüler*innen vermeiden, westliche Druckerzeugnisse, wie den Stern, mit sich zu führen. Dies hätte nämlich den Anschein erwecken können, sich gegen das Regime der DDR zu stellen oder die Ostdeutschen negativ beeinflussen zu wollen. Als die Schülergruppe schließlich in Berlin an dem Grenzübergang „Dreilinden“ an der Mauer angekommen war, wurden sie nochmals kontrolliert, um in Westberlin einzureisen. Die Reisepässe konnten erneut überprüft werden und die Dauer des Aufenthalts musste angegeben werden. Dort an der Mauer war bereits der bedrohliche Geist zu spüren. Überall an der Mauer waren Schießanlagen zu sehen, die Wächter waren kühl, arrogant und vor allem „preußisch“. Die Mauer auf der Seite der DDR war kalt, trist und grau, denn sie war Eigentum der DDR, an welches die Menschen nicht herantreten durften. Es bestand immer die Gefahr, bei nur einer falschen Bewegung oder Äußerung abgeführt oder sogar erschossen zu werden. Die Menschen mussten sich unterordnen und ihre Freiheit als Individuum an eine staatliche Macht abgeben. Der Eindruck von Herrn Heß: „Die DDR war nicht bunt, die Häuser waren trist, es gab kaum Werbung auf den Straßen und die Menschen selbst erschienen bisweilen grau. Es war wenig Lebensfreude im öffentlichen Raum spürbar, die Menschen hatten sich dem Regime unterzuordnen.“ Die "Insellage" Westberlins Es entstand in Westberlin das Gefühl einer „Insellage“, denn es gab keinen Weg nach draußen, die Menschen waren eingesperrt. Die Schüler*innen hatten das Gefühl einer „Irrsinns-Situation“, denn es erschien alles so unrealistisch und abstrakt. Dieses Gefühl begleitete sie während des gesamten Aufenthaltes in Berlin. Die Schulklassen haben auch an einem Tag gemeinsam mit ihren Lehrern oder Lehrerinnen Ostberlin besichtigt. Dort trat das Gefühl von Überwachung und Hoffnungslosigkeit noch deutlicher hervor. Beim Übertritt nach Ostberlin musste ein Zwangsumtausch von Westmark in Ostmark erfolgen. Das ganze Geld musste von den westdeutschen Besuchern und Besucherinnen aufgebraucht werden. Doch in Ost-Berlin gab es sehr wenig zu kaufen, was einen Deutschlehrer interessierte: „Die meisten guten Produkte, wie Bücher von Goethe, waren bereits ausverkauft.“ Es gab fast keine Möglichkeiten das Geld vollständig auszugeben, weshalb man es teilweise an Kinder verschenkte. Das Gefühl der ständigen Überwachung war in Ost-Berlin überdeutlich zu spüren, weil überall Männer in grauen Anzügen zu sehen waren, die unauffällig-auffällig um die Besucher und Besucherinnen streiften. Auch in Restaurants saßen die Männer an verschiedenen Tischen und sind den Gesprächen der Menschen gefolgt. Das war insbesondere für die Schüler und Schülerinnen sehr erschreckend und eine völlig neue Situation. Sie haben sich unter Druck gesetzt gefühlt, keinen Unfug zu treiben oder sich falsch zu verhalten. Bei der Rückfahrt flossen am Kontrollpunkt „Tränenpalast“ (so nannte ihn der Volksmund) buchstäblich die Tränen beim Abschied von den Freunden und Verwandten. Das war sehr beeindruckend für die Schulklassen aus dem Westen, denn auch hier erfolgten sehr strenge Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen. Alles in allem waren Angst, Misstrauen und Zurückhaltung hautnah zu spüren. Auch die Ausreise aus der DDR stellte wiederum Gefahren für die Menschen dar. Es herrschten Misstrauen, Ängste, Brutalität und Gewalt. Die Grenzwächter wollten sicher gehen, dass keine Güter oder sogar Menschen in die BRD geschmuggelt wurden. Man durfte als Bürger kein falsches Wort gegenüber den Wächtern sagen. Der Bürger beziehungsweise die Bürgerin hat sich als Individuum verabschiedet und sich der Macht des Staats unterworfen. Dennoch war die Fahrt für Herrn Heß und seine Schüler immer wieder „eine irre Erfahrung in einer irren Situation“, wie Heß betont. Die Fahrten ermöglichten es, Einblicke in die Welt der DDR hinter der Mauer zu bekommen und vor allem die uneingeschränkte Macht eines Staates begreifen zu können. Zitierweise: Laura Lößlein, "Mit dem Bus in die DDR", in: Deutschland Archiv, 1.10.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/341183. Ihr Beitrag ist der Schülerzeitung "PEERplus" des Egbert-Gymnasiums in Münsterschwarzach entnommen. Weitere Schülerzeitungstexte folgen unter Interner Link: diesem Link.
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Laura Lößlein
2022-02-14T00:00:00
2021-10-01T00:00:00
2022-02-14T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/341183/mit-dem-bus-in-die-ddr/
Welche Sichtweise gewannen Schulklassen während der Zeit der deutschen Teilung, wenn sie Westberlin besuchten und dabei auch einen Tagesausflug nach Ostberlin unternahmen? Ein Geschichtslehrer erinnert sich an "legendäre Klassenfahrten".
[ "Schülerzeitung", "DDR", "Klassenfahrt", "Mauerfall", "Berlin" ]
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Impressum | Glocal Islamism 2019 | bpb.de
Produktverantwortliche: Lobna Jamal, Bundeszentrale für politische Bildung, Fachbereich "Extremismus" Koordinierung der Dokumentation: Sarah Lang, Bundeszentrale für politische Bildung, Fachbereich "Extremismus" Videodokumentation: Musebox Videoproduktion & Rami Hamze Interviews: Elif Şenel & Viola Röser Kontakt Bundeszentrale für politische Bildung Frau Hanne Wurzel Leiterin Fachbereich "Extremismus" Adenauerallee 86 53113 Bonn
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-11-27T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/islamismus/glocal-islamism/301105/impressum/
[ "glocal islamism", "Credits", "Impressum" ]
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Lokalmedien gesucht beim WIR IST PLURAL-Preis | Presse | bpb.de
Lokalmedien aufgepasst: „Wie engagiert Ihr Euch für die demokratischen Werte des Grundgesetzes?“ Unter dieser Leitfrage vergibt die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb mit dem Bundesverfassungsgericht als Partner anlässlich des 70. Geburtstags des „Hüters der Grundrechte“ den WIR IST PLURAL | Preis zur Stärkung der Demokratie. Die 15 originellsten Projekte werden mit bis zu 5.000 Euro und einem umfassenden Gewinn-Paket für mehr öffentliche Sichtbarkeit der Aktionen prämiert. In der Sonderkategorie Lokalmedien werden herausragende Beiträge von Reportagen, Blogs bis hin zu Podcasts gesucht. Nach den Anschlägen in Hanau und Halle zeigt auch die Corona-Pandemie, dass die Werte der Demokratie immer wieder gegen Verschwörungstheorien und antidemokratische Angriffe vertreten werden müssen. Dafür braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die für ihre Grundrechte – wie Menschenwürde, Diskriminierungsschutz und Meinungsfreiheit – einsteht. Kreative, originelle und spannende Projekte und Lokalmedien-Beiträge, die unsere Grundrechte verteidigen und mit Herzblut und Leidenschaft vorangetrieben werden, haben die Chance mit dem WIR IST PLURAL-Preis 2021 ausgezeichnet zu werden. Mit der Sonderkategorie Lokalmedien möchte die bpb deren Arbeit als wichtiger Partner der Bürger in den Regionen vor Ort auszeichnen. Durch ihre besondere Nähe zur Bevölkerung und den regionalen Eigenarten genießen sie besonderes Vertrauen und vermitteln ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und nehmen eine wichtige Rolle in unserer Demokratie ein. In der Jury mit dabei sind u.a. die Unternehmerin Louisa Dellert, der Autor Jürgen Wiebicke („10 Regel für Demokratie-Retter“), die Lokaljournalistin Grit Baldauf von der Freien Presse Mittelsachsen und der Kabarettist Dave Davis („Ruhig, Brauner! - Demokratie ist nichts für Lappen“). Einreichungen sind bis zum 20. Juni 2021 online möglich unter Externer Link: www.wiristplural.de . Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Pressemitteilungen der bpb abonnieren/abbestellen: Interner Link: www.bpb.de/presseverteiler
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-21T00:00:00
2021-06-08T00:00:00
2021-12-21T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/334490/lokalmedien-gesucht-beim-wir-ist-plural-preis/
Bis zu 5.000 Euro gewinnen für herausragende Medien-Beiträge // Bundeszentrale für politische Bildung vergibt Preis für Projekte zur Stärkung der Demokratie // Jetzt noch bewerben bis zum 20. Juni 2021 auf www.wiristplural.de
[ "Preis", "Lokalmedien", "WIR IST PLURAL" ]
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Porträt: Oskar Negt | Politische Bildung | bpb.de
Oskar Negt (Hydro / Wikimedia Commons ) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Oskar Negt, geboren 1933 im ostpreußischen Kapkeim in einer kleinbäuerlichen Familie, gilt als einer der bedeutenden Soziologen in der Bundesrepublik nach 1968. In Frankfurt am Main studierte er bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Soziologie und Philosophie. Von 1962 bis 1970 war er Assistent von Jürgen Habermas an den Universitäten in Heidelberg und Frankfurt am Main, von 1970 bis 2002 lehrte er Soziologie in der Universität Hannover. Gastprofessuren hatte er in Bern, Wien sowie in Milwaukee und Madison (USA). Negt gilt als einer der profiliertesten Vertreter der Kritischen Theorie. Neben seiner herausragenden Bedeutung als Soziologe und Sozialphilosoph und seinen mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit wahrgenommenen tagespolitischen Stellungnahmen ist Negt einer der profiliertesten politischen Erwachsenenbildner der Bundesrepublik. "Ganz explizit" verstehe er sich als politischer Bildner, so Negt, denn: "Ich glaube, dass Bildung unter unseren Verhältnissen deshalb eine existenzielle Notwendigkeit hat, weil Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss" (Negt 2004, S. 197). Sein politisch-bildnerischer Ausgangspunkt war die Arbeiterbildung, der er sich in Theorie und Praxis zuwandte. Hier löste er in den 1960er Jahren eine gewerkschaftsinterne und dann weiter reichende Debatte aus, indem er das von Martin Wagenschein entwickelte methodisch-didaktische Prinzip des exemplarischen Lernens auf die politische Bildung übertrug. Er sah darin "eine alternative Konzeption zu den bisherigen Formen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" (Negt 1975, S. 29). Diese war bis dahin vor allem auf Schulungen beschränkt. Negts neuer Ansatz hingegen war es, "von Einzelerscheinungen ausgehend gesellschaftliche Prozesse und Strukturen [zu] erklären" (ebd. S. 125). Daran hat er auch Jahrzehnte später noch festgehalten: "Nur exemplarische Lösungen des Zusammenhangproblems sind heute noch möglich" (Negt 2010, S. 216; siehe auch S. 31). Von nachhaltiger Wirkung ist auch seine "gesellschaftliche Umdeutung von Kompetenz und Schlüsselqualifikation" (ebd. S. 221). Damit hat er eine emanzipatorische Alternative zum funktionalistischen Gebrauch dieser in der bildungspolitischen Diskussion zentral gewordenen Begriffe gefunden. Auch hierbei geht es ihm um die "Stiftung von Zusammenhang" (ebd. S. 222), sie sei das "oberste Lernziel" (ebd. S. 207). Sechs Kompetenzen können "auf dem Wege exemplarischen Lernens erworben werden": Identitätskompetenz, technologische Kompetenz, Gerechtigkeitskompetenz, ökologische Kompetenz, ökonomische Kompetenz und historische Kompetenz (ebd. S. 223 – 232). Politisch und auch politisch-bildnerisch fordert Negt "eine konsequente Demokratisierung aller Lebensbereiche" (ebd. S. 514). Denn: "Nur als Lebensform hat Demokratie eine Zukunftschance" (ebd. S. 515). Daraus folgt ein kritischer Ansatz: "Politische Bildung kann nicht gelingen, wenn die Systemfrage ausgeklammert bleibt", die Frage muss nach den "bestimmenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse[n]" gestellt werden (ebd. S. 24). Voraussetzungen sind für ihn die "Urteilskraft" und der "öffentliche Gebrauch der Vernunft" (ebd. S. 379ff). Negt verknüpft aktuelle politische Analysen und Einlassungen stets mit politischer Bildung: Angesichts von Krisen, populistischen und Demokratie gefährdenden Entwicklungen stellt er fest: "Im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es. [...] Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen, aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung" (Spiegel-Gespräch 2010). Der Text wurde übernommen aus dem Band: Wolfgang Sander / Peter Steinbach, Politische Bildung in Deutschland. Profile, Personen, Institutionen, Bonn 2014. Erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1449. Oskar Negt (Hydro / Wikimedia Commons ) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Quellen / Literatur Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung, 5. Aufl. d. überarb. Neuausgabe, Frankfurt/M.-Köln 1975. Oskar Negt, "Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen", in: Klaus-Peter Hufer/ Kerstin Pohl/ Imke Scheurich (Hrsg.), Positionen der politischen Bildung 2. Ein Interviewbuch zur außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts. 2004, S. 196-213. Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010. Oskar Negt, Gesellschaftsentwurf Europa, Göttingen 2010 und 2012. Spiegel-Gespräch mit Oskar Negt: "In dieser Gesellschaft brodelt es", in: Der Spiegel (2010) 32, S. 98-101, abrufbar unter: Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/a-710880.html. Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung, 5. Aufl. d. überarb. Neuausgabe, Frankfurt/M.-Köln 1975. Oskar Negt, "Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen", in: Klaus-Peter Hufer/ Kerstin Pohl/ Imke Scheurich (Hrsg.), Positionen der politischen Bildung 2. Ein Interviewbuch zur außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts. 2004, S. 196-213. Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010. Oskar Negt, Gesellschaftsentwurf Europa, Göttingen 2010 und 2012. Spiegel-Gespräch mit Oskar Negt: "In dieser Gesellschaft brodelt es", in: Der Spiegel (2010) 32, S. 98-101, abrufbar unter: Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/a-710880.html.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-13T00:00:00
2014-10-28T00:00:00
2022-01-13T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/politische-bildung/193944/portraet-oskar-negt/
Oskar Negt (geb. 1933) gilt als einer der einflussreichsten Soziologen in der Bundesrepublik und ist zugleich einer der profiliertesten politischen Erwachsenenbildner. Sein Ausgangspunkt war in den 1960ern die Arbeiterbildung, für die er das Prinzip
[ "Oskar Negt", "politische Bildung", "Soziologie", "Erwachsenenbildung", "Arbeiterbildung" ]
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Chronik: 11. – 25. Oktober 2020 | Ukraine-Analysen | bpb.de
12.10.2020 Laut dem Staatlichen Statistikamt ist die Verbraucherinflation im September leicht auf 2,3 Prozent zurückgegangen, nachdem sie im August 2,5 Prozent betragen hatte. Im vergangenen Jahr lag die Inflation bei 4,1 Prozent, der niedrigsten Rate seit sechs Jahren. 12.10.2020 In einem Interview der Sendung BBC HARDtalk teilt Präsident Wolodymyr Selenskyj mit, dass er nicht an der Macht bleiben wolle, sollte es ihm nicht gelingen, den Krieg im Donbas zu beenden: "Ich habe gleich gesagt, dass ich nicht an Umfragen oder der Macht hänge. Wenn ich den Krieg nicht beenden kann, sollte jemand anderes kommen, der in der Lage ist, diese tragische Geschichte zwischen unseren Ländern zu beenden", so Selenskyj. 13.10.2020 In Odessa eröffnen Präsident Wolodymyr Selenskyj und sein polnischer Amtskollege Andrzej Duda das ukrainisch-polnische Wirtschaftsforum. Laut Duda investieren rund 1.200 polnische Unternehmen in der Ukraine; der bilaterale Handel lag zuletzt bei 7,5 Milliarden Euro pro Jahr. Auf dem Wirtschaftsforum wurde unter anderem die Idee eines polnisch-ukrainischen Transportkorridors vorgestellt, der vom polnischen Danzig an der Ostsee bis zum ukrainischen Odessa am Schwarzen Meer verlaufen soll und es ermöglichen würde, Waren statt wie bisher in ca. 18 Tagen auf dem Seeweg in 18 Stunden auf dem Landweg zu transportieren. 13.10.2020 Premierminister Denys Schmyhal gibt bekannt, dass die Regierung den Betroffenen der Brände in der Luhansker Oblast 185 Mio. Hrywnja (ca. 5,5 Mio. Euro) zur Verfügung stellen werde. Die Feuer hatten elf Menschenleben gekostet, hunderte Gebäude und rund 20 Hektar Land zerstört. 13.10.2020 Präsident Wolodymyr Selenskyj wirbt in einer Ansprache für die Teilnahme an den Kommunalwahlen am 25. Oktober und kündigt an, dass es zusätzlich zur Stimmabgabe eine Wählerbefragung mit fünf Fragen geben werde, "die so bisher nicht gestellt wurden", und die in den nächsten Tagen vorgestellt werden sollen. 14.10.2020 Die erste Frage, die der Bevölkerung bei den Kommunalwahlen am 25. Oktober gestellt werden soll, wird per Videobotschaft von Präsident Wolodymyr Selenskyj verkündet und lautet: "Sollte es für Korruption in besonders großem Umfang lebenslange Strafen geben?" 15.10.2020 Präsident Wolodymyr Selenskyj reist für drei Tage in die Türkei, wo unter anderem ein Freihandelsabkommen und Rüstungsgeschäfte auf der Agenda stehen. 15.10.2020 Die weiteren Fragen, die der Bevölkerung bei den Kommunalwahlen gestellt werden sollen, werden vom Büro des Präsidenten bekanntgegeben und lauten: "Unterstützen Sie die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone im Donbas?"; "Unterstützen sie die Verkleinerung des Parlaments auf 300 Abgeordnete?"; "Unterstützen Sie die Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke, um die Leiden von Schwerkranken zu lindern?"; "Unterstützen Sie das Recht der Ukraine, die im Budapester Memorandum definierten Sicherheitsgarantien zu nutzen, um ihre staatliche Souveränität und territoriale Integrität wiederherzustellen?" 15.10.2020 Per Dekret überträgt Präsident Wolodymyr Selenskyj mehr als 2 Mio. Hektar Land aus dem Staatsbesitz in die Obhut der Kommunen. Das entspricht ca. sechs Prozent der 33 Mio. Hektar landwirtschaftlicher Fläche in der Ukraine. Das Dekret tritt einen Tag nach den Kommunalwahlen am 26. Oktober 2020 in Kraft. 16.10.2020 Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Wolodymyr Selenskyj vereinbaren bei einem Treffen in Istanbul die bilateralen Beziehungen im Bereich der Sicherheitspolitik zu stärken und verkünden ein neues regelmäßiges Gesprächsformat, bei dem sich einmal jährlich die Außen- und Verteidigungsminister treffen sollen. Auch garantiert die Türkei die ukrainischen Bestrebungen zur Re-Integration der Krim zu unterstützen. 17.10.2020 Der stellvertretende Premierminister Oleksij Resnikow erklärt, dass die Ukraine bis zum 10. November zwei neue Übergänge an der Kontaktlinie – in Solote und Schtschastja in der Region Luhansk – eröffnen werde. 19.10.2020 Einer neuen repräsentativen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie zufolge finden 69,5 Prozent der Befragten, dass sich die Ukraine in die falsche Richtung entwickele, während 21 Prozent meinen, die Ukraine entwickele sich in die richtige Richtung. Als die drei größten Probleme des Landes werden der Krieg im Donbas (63 Prozent der Befragten) genannt, die Korruption (53 Prozent) und Arbeitslosigkeit (43 Prozent). 20.10.2020 Präsident Wolodymyr Selenskyj hält im Parlament die jährliche Rede des Präsidenten ab und thematisiert vor allem die Herausforderung durch die Coronakrise, die Lage der Wirtschaft und den Krieg im Donbas. 20.10.2020 Die Generalstaatsanwaltschaft teilt mit, dass gegen den ehemaligen Leiter der staatlichen Steuerbehörde, Serhij Werlanow, ein Strafverfahren wegen Macht- und Amtsmissbrauchs eröffnet wurde. Werlanow wurde im April 2020 entlassen. Werlanow bestreitet die Vorwürfe als "haltlos" und sieht das Verfahren, wie einige politische Beobachter auch, als politisch motiviert. 20.10.2020 Generalleutnant Serhij Najew teilt mit, dass 35.000 Hektar Land im Donbas von Minen geräumt und dabei 450.000 Minen und Sprengkörper beseitigt wurden. Der Donbas zählt seit Beginn der militärischen Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten "Separatisten" weltweit zu einer der am stärksten verminten Regionen der Welt. 21.10.2020 120 Abgeordnete der Fraktion der Regierungspartei "Diener des Volkes" reisen in die Frontgebiete der Regionen Donezk und Luhansk, um vor Ort politische Unterstützung für den Vorschlag von Präsident Selenskyj zur Errichtung einer Sonderwirtschaftszone im ukrainisch kontrollierten Donbas zu gewinnen. Zuvor erklärte Selenskyj auf einer Rede im Parlament: "Wir brauchen eine Strategie zur wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen Donezk und Luhansk, mit Steuer- und Zollerleichterungen, Absicherung der Risiken für Investoren, und Schiedsverfahren nach internationalen Standards." 21.10.2020 Laut Angaben des ukrainischen Militärs sollen Kämpfer der pro-russischen "Volksrepubliken" in den letzten 24 Stunden fünf Mal das Waffenstillstandsabkommen gebrochen haben; einmal habe die ukrainische Armee das Feuer erwidert. Seit dem 27. Juli gilt ein neues Waffenstillstandsabkommen, das zu einer deutlichen Reduzierung der Gefechte und der Zahl der Opfer geführt hat. 24.10.2020 Laut Medienberichten aus Donezk ist Alexej Markow, Kommandant des berüchtigten Bataillons "Prisrak" (Geist) verstorben. Der russische Staatsbürger war 2014 aus Moskau in den Donbas gekommen und hatte seither auf Seiten der pro-russischen Rebellen gekämpft. 24.10.2020 Die Kirche von Zypern erkennt als vierte autokephale orthodoxe Kirche die Autokephalie der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche an. Zuvor hatten bereits das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat von Alexandria und die Kirche von Griechenland die Autokephalie anerkannt. 25.10.2020 In der Ukraine finden, bis auf die besetzten Gebiete im Donbas, die Kommunalwahlen statt. Die Endergebnisse sollen laut der Zentralen Wahlkommission in 3–5 Tagen bekanntgegeben werden. Die Wahlbeteiligung liegt mit 36,88 Prozent rund 10 Prozent unter der Beteiligung der letzten Wahl 2015, als knapp mehr als 46 Prozent der Wähler ihre Stimme abgegeben haben. Neben dem Coronavirus gilt die Verunsicherung über das neue Wahlsystem mit offenen Listen als eine der Ursachen für die niedrige Wahlbeteiligung. Was die Ergebnisse anbelangt, zeichnet sich eine deutliche Niederlage für die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj ab, dessen Kandidaten laut den Exit Polls in keiner der zehn größten Städte des Landes gewinnen konnten. In Kyjiw, Odessa, Charkiw, Dnipro, Lwiw, Mykolajiw, Tscherkassy, Winnyzja, Kriwij Rih und Mariupol gewannen stattdessen die Amtsinhaber; in vielen Fällen jedoch mit weniger als 50 Prozent der Stimmen, weshalb es am 15. November vielfach in einer zweiten Runde zur Stichwahl kommt. Ukrainische und internationale Wahlbeobachter bezeichnen die Wahlen insgesamt als frei und fair, registrierten vereinzelt jedoch auch Verfahrensverstöße, Vorwürfe des Stimmenkaufs und des Missbrauchs administrativer Ressourcen. 25.10.2020 Bei der von Präsident Wolodymyr Selenskyj kurzfristig anberaumten Wählerbefragung stimmten laut der Soziologischen Rating-Gruppe 95 Prozent für die Verkleinerung des Parlaments auf 300 Abgeordnete, 81 Prozent für lebenslange Haftstrafen für Korruption in großem Umfang, 70 Prozent für die Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke und nur 45 Prozent für ein Sonderwirtschaftszone im Donbas. Kritiker werfen der rechtlich nicht bindenden Befragung eine schlechte bis chaotische Organisation vor und sprechen ihr die Repräsentativität ab. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Dr. Eduard Klein. Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2020-11-04T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/318269/chronik-11-25-oktober-2020/
Die Ereignisse vom 11. bis zum 25. Oktober 2020 in der Chronik.
[ "Chronik", "Ukraine", "Ukraine-Analyse", "Ukraine" ]
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Welchen Preis hat Privatsphäre? | Datenschutz | bpb.de
Unternehmen können heutzutage große Mengen persönlicher Daten ihrer Kunden verarbeiten. Diese Datenmengen ermöglichen es, den einzelnen Kunden besser zu verstehen und sein Verhalten zu prognostizieren. Beispiele hierfür finden sich in der Finanzbranche, der Telekommunikation oder bei Internet Service Providern. Die Kunden wissen allerdings oftmals nicht, was mit ihren Daten geschieht, denn sie lesen das Kleingedruckte in den Geschäftsverträgen oder den Allgemeinen Geschäftsbedienungen nicht. Stattdessen geben sie oftmals bereitwillig eine Vielfalt persönlicher Daten an, um in den Genuss scheinbar kostenloser Dienste wie Suchmaschinen, sozialer Netze oder Apps zu gelangen. Umsonst ist aber so gut wie nichts in der Privatwirtschaft. Deshalb befasst sich in der Wirtschaftswissenschaft bereits ein Forschungszweig mit der Ökonomie der Privatsphäre. Eine der Hauptfragen ist, ob Privatsphäre einen Preis hat und wenn ja, welchen. Die hinlängliche Annahme, dass Menschen heute ihre Privatsphäre nichts mehr wert ist, ist allerdings falsch. Persönliche Information: Das eigentümlich Gut Zu welchem Preis tauschen Sie tagtäglich Ihre persönlichen Daten? Diese Frage können die meisten nicht beantworten, obwohl ihre Datenprofile heute gehandelt werden wie Autos oder Waschmaschinen. Aber der Datenhandel unterliegt nicht nur grundsätzlich anderen gesetzlichen Bestimmungen (nämlich dem Externer Link: Bundesdatenschutzgesetz), bei persönlichen Daten handelt es sich auch um ein sehr eigentümliches Wirtschaftsgut. Datenprofile sind nicht gleichzusetzen mit Autos oder Waschmaschinen. Persönliche Profile bestehen aus Informationen wie Name, Geschlecht, Geburtsdatum und Adresse, sowie Transaktionsdaten (zum Beispiel Kontobewegungen bei Banken oder Kommunikations- und Bewegungsprofilen bei Telekom-Unternehmen). Drei Eigenschaften unterscheiden sie von herkömmlichen Gütern: Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschließbarkeit im Konsum sowie Externalitäten. Wenn eine Person beispielsweise Informationen hat, kann sie diese an eine andere Person weitergeben, ohne dass diese einen verminderten Informationsgehalt erhält (die sogenannte Nicht-Rivalität im Konsum). Im Gegensatz dazu kann jemand, der ein Brot gegessen hat, dieses nicht an eine andere Person weitergeben: er hat es verbraucht (Rivalität im Konsum). Es ist zudem schwer, andere vom Gebrauch von Informationen auszuschließen. Die tagtäglichen Nachrichten zu Hackerangriffen oder Unternehmensskandalen zeigen dies. So sammelte Google 2011 in Deutschland neben StreetView-Bildern auch WLAN-Daten. Apple benutzte eine Standardort-Protokollierung auf dem iPhone, die sich nicht abschalten ließ. Persönliche Daten müssen durch Verschlüsselung oder anderweitig abgesichert werden, damit ein anderer ihrer nicht habhaft wird. Digitale Daten lassen sich außerdem theoretisch unendlich oft kopieren, es besteht keine natürliche Knappheit. Letzteres ist auch der Grund, warum sich persönliche Daten nie zu einer "neuen Währung" entwickeln werden, denn sie sind nicht knapp. Wenn es keine natürliche Knappheit gibt, wird die Preissetzung für solch ein Gut schwierig. Und schließlich bestehen sogenannte Externalitäten. Dabei handelt es sich um Auswirkungen für die keine Ausgleichzahlungen zwischen Marktparteien fließen. Gibt beispielsweise jemand seinen Namen, sein Geburtsdatum und seine Adresse an, kann aus diesen Daten üblicherweise auch Nationalität und potentielles Durchschnittseinkommen abgelesen werden. Gleichzeitig können diese Daten für viele verschiedene Zwecke benutzt werden: zur personalisierter Preissetzung ebenso wie zu politischen Überwachung durch einen Geheimdienst. Dies ist ein Risiko, das viele Verbraucher, aber auch Firmen, nicht in ihre Entscheidungen einbeziehen, wobei der NSA-Skandal hier den ein oder anderen vielleicht mehr sensibilisiert hat. Diese Eigenschaften und die vielen Gelegenheiten, bei denen Verbraucher ihre Daten angeben, machen das Gut "Datenprofil" zu einem besonders attraktiven Forschungsgegenstand. Persönliche Daten geben die Identität preis und rufen beim Betroffenen interessante psychologische Effekte hervor. Identifikation wirkt sich also stark auf das ökonomische Handeln von Personen aus: sie handeln anders, wenn sie wissen, dass sie sicher identifiziert wurden. Der Identifikationseffekt wird in der Zukunft in der Wirtschaftswissenschaft immer wichtiger werden, schlicht weil Unternehmen immer mehr Daten über Personen sammeln und auswerten. Menschen tauschen ihre Daten: Konditionen oft unbekannt Zu welchen Konditionen man seine Daten tauscht, ist dem Einzelnen oft unbekannt. Es interessiert sie oder ihn vielleicht auch nicht. Wer nicht weiß, was mit seinen Daten gemacht wird, findet es vielleicht gut, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen. Viele Kaufentscheidungen sind bereits kompliziert genug. Das Hauptinteresse liegt schließlich auf dem Produkt, welches man erwerben möchte. Es gibt sehr unterschiedliche Transaktionen, die auch in der Forschung voneinander getrennt werden müssen: Informationstransaktion ohne Fokus auf Informationstausch: Tagtäglich suchen Millionen von Internet-Nutzern über Google und andere Suchmaschinen Begriffe, die sie interessieren. Sie tauschen ihre IP-Nummer und andere Daten (bspw. Namen, wenn man sich selbst googelt) gegen die Nutzung der Suchmaschine. Es wandern also Informationen hin und her. Was Google mit diesen Daten macht, bleibt dem Nutzer oft verschlossen, weil er das Datenschutz-Versprechen des Unternehmens nicht liest. Und selbst wenn er es lesen würde, blieben viele Fragen offen und schließlich verändert Google von Zeit zu Zeit diese Bedingungen. Informationstransaktion mit Fokus auf Informationstausch: Wenn ein Umfrage-Unternehmen anruft, geben manche Menschen bereitwillig Auskunft. Hier liegt das Hauptaugenmerk auf der Umfrage. Zwar wird in dieser meist Anonymität zugesichert, da das Unternehmen die Zielperson aber angerufen hat, ist diese grundsätzlich identifizierbar. In dieser Situation ist der Auskunft gebenden Person sehr klar, welche persönlichen Auskünfte sie gegeben hat. Es wandern nur Informationen an das Umfrageunternehmen, es werden keine Produkte verkauft. Kombinierte Transaktion ohne Fokus auf Informationstausch: Menschen, die im Internet bei Händlern wie Amazon, Otto oder Zalando bestellen, interessieren sich meistens nur für die Ware, die sie kaufen wollen. Für sie spielt keine Rolle, was sie direkt oder indirekt mit ihrer Suche preisgeben. Auch welches Profil entsteht, wenn sie über viele Jahre beim selben Händler kaufen, bleibt für sie im Dunkeln, da sie die Daten nie als vollständiges kompiliertes Profil sehen. Kombinierte Transaktion mit Fokus auf Informationstausch: Menschen, die versuchen, bei einer Bank einen Kredit aufzunehmen, müssen meistens eine Bankabfrage bei der Kreditauskunftei Schufa (oder anderen Auskunfteien) erlauben. Diese Erlaubnis, eine Ausnahme aus dem Bankengeheimnis, muss als Klausel unterschrieben werden. Dies ruft vielen Betroffenen den Datenaustausch ins Bewusstsein. Die Beispiele zeigen, dass das Hauptaugenmerk einer Person oft nicht auf den Daten liegt, die preisgegeben werden. So können kaum gute Konditionen für den Datentausch ausgehandelt werden. Und selbst wenn, was wäre ein angemessener Preis für das eigene Datenprofil? Hier muss die Forschung Mechanismen für Verbraucher entwickeln, die angemessene Preise und Konditionen für ihre Datenprofile zu finden und zu setzen. Ökonomische Experimente können dabei helfen. Identifizierung und ökonomisches Verhalten im Experiment In den vergangenen Jahrzehnten führt man in der Wirtschaftswissenschaft zunehmend Experimente mit realen Personen im Labor oder Feld durch. Diese Vorgehensweise erlaubt besser fundierte Aussagen über Verhaltensweisen, die oft stark von theoretischen Modellen abweichen. Den Teilnehmern an einem Experiment, den sogenannten Probanden, wird am Computer eine Entscheidungssituation vorgesetzt. Sie agieren und erhalten je nach Entscheidung reale Auszahlungen. Danach kann auf Basis der Labor-Daten untersucht werden, wie sich Probanden entschieden haben. Dies erlaubt Kausalitätsrückschlüsse, z.B. ob die Identifizierung der Person eine Auswirkung auf ihr ökonomisches Verhalten hatte. Ein Beispiel für solche Entscheidungssituationen ist das Diktatorspiel. Bei diesem Spiel handelt es sich um eine Entscheidungssituation, bei welcher ein Proband (der Diktator) einen Geldbetrag bekommt, den er mit einer anderen (anonymen oder identifizierten) Person teilen kann. Diese Person muss den zugeteilten Geldbetrag akzeptieren. Beide bekommen dann die realen Auszahlungen. Durch Identifizierung (d.h. bloßes Anschauen oder Angabe von Namen und weiteren persönlichen Informationen) erhöht sich der Anteil, welcher der Diktator dem anderen überlässt, verglichen mit der Situation unter totaler Anonymität. Je mehr die andere Person von sich preisgibt, desto stärker wird der Effekt. Dies ist insofern überraschend, als dass der Diktator der anderen Person keinen höheren Betrag zuteilen müsste, denn er bleibt anonym und hat keine Konsequenzen zu fürchten. Es reicht im Übrigen auch schon ein Paar Augen auf dem Computerbildschirm zu platzieren da sich Probanden dann beobachtet fühlen. In Öffentliche-Güter-Spielen wiederum verändert sich der Beitrag, den identifizierte Personen leisten. Bei diesen Spielen können Probanden darüber entscheiden, welchen Beitrag sie in einen Topf bezahlen, der dann am Ende des Experiments vervielfacht zu gleichen Teilen allen ausgeschüttet wird. Spieler, die keinen Beitrag geleistet haben, erhalten also auch einen Anteil. Wird die Anonymität aufgehoben, dann ruft dies sozialeres Verhalten hervor, die Beiträge in den Topf erhöhen sich und gleichen sich mehr an. Das Verhalten der Probanden wird konformer. Diese Experimente sind die Ausgangsbasis für die neuere Forschung zu Privatsphäre. So stimmt es hinlänglich nicht, dass Menschen ihre Privatsphäre nichts wert ist. In einer Serie von fünf Experimenten zusammen mit Koautoren, ließ sich feststellen, dass es immer einen signifikanten Anteil von Personen gibt, die einen Aufpreis zahlen, um Daten nicht preisgeben zu müssen. Für verifizierbare negative Informationen über eine Person, verlangt diese einen höheren Preis. In diesen Experimenten ist der Preissetzungs-Mechanismus sehr unterschiedlich: entweder bekamen die Probanden für ihre Daten einen Preisnachlass, den sie akzeptierten oder nicht (ein sogenanntes Take-it-or-leave-it-offer), oder sie mussten selbst einen Preis für den Verkauf ihres Datenprofils wählen (umgekehrte Zweitpreis-Auktion). Wichtig ist, dass in diesen Experimenten die Teilnehmer nicht lügen konnten oder ihre Daten anders darstellen konnten, da ihre Daten überprüft wurden. Dies unterscheidet sich insbesondere von freiwilligen Angaben im Internet (z.B. bei FaceBook). Die Experimente sagen deshalb auch nichts über Lügen, Flunkern oder positive Selbstdarstellung im Internet aus. Zusammengenommen lassen sich verschiedene Dinge aus den ökonomischen Experimenten lernen: Erstens, die Identifizierung von Probanden hat eine große Auswirkung auf ihr ökonomisches Verhalten. Zweitens, Identifikation erhöht Konformität im Verhalten, induziert aber auch sozialeres Verhalten (es wird mehr gespendet). Und drittens, für negative Informationen, verbunden mit dem realen Namen einer Person, verlangt diese im Schnitt einen höheren Preis. Privatsphäre ist also Personen etwas wert, selbst wenn es sich nur um ökonomische Experimente im Labor handelt. Dies lässt sich sogar unter Bedingungen feststellen, bei denen Teilnehmern klar ist, dass sie an einem Experiment teilnehmen. Der exakte Preis jedoch hängt vom Kontext der Datenpreisgabe ab, dem Inhalt der persönlichen Informationen und dem Vertrauen der preisgebenden Person in den Transaktionspartner. Und schließlich haben Möglichkeiten des Lügens, der Verstellung und des Pseudonymisierens einen großen Einfluss auf Preisgabe und Preissetzung. Sind letztere gegeben, findet man häufig das Resultat, dass Menschen ihre Privatsphäre scheinbar nichts wert ist. Wettbewerb und Privatsphäre: Erosion oder immer bessere Produkte? Verbraucherverhalten und die Suche nach dem richtigen Preis für das eigene Datenprofil ist das eine. Preissetzung auf Seiten der Unternehmen das andere. Hier geht es um die Frage, wie das zunehmend präzisere Wissen über Kunden und Kundenverhalten den Wettbewerb zwischen Unternehmen verändert. Kundendaten erlauben Profilbildung und/oder Verhaltensprognosen und bilden damit die Grundlage von Produktpersonalisierung und Preisdiskriminierung. Produktpersonalisierung erlaubt einen immer genaueren Zuschnitt des Produktes (oder der Dienstleistung) auf den Verbraucher. Grundlage hierzu sind persönliche Daten. Wenn bspw. ein Zeitungsleser online fast ausschließlich Politik- und Wirtschaftsnachrichten liest, wird man ihm wohl kaum erfolgreich Klatschpresse anbieten. Je besser eine Firma die Bedürfnisse des Kunden kennt und befriedigen kann, desto besser kann sie ihn gegen Konkurrenz verteidigen. Personalisierung verändert die Preissetzung der Unternehmen. So können sie zum Beispiel für Kunden, deren Wechselkosten durch Personalisierung steigen, höhere Preise setzen, ohne diese an die Konkurrenz zu verlieren. Der Kunde gibt also mit seinen Daten einen Teil seiner Entscheidungssouveränität in der Zukunft ab. Dies ist eine Tatsache, der sich die meisten nicht bewusst sind. Damit ein Wettbewerber ein vergleichbares Produkt anbieten kann, braucht die Daten des Kunden. Dies weiß jeder, der schon einmal zu einer Suchmaschine wechseln wollte, die nicht wie Google die Suche personalisiert. Preisdiskriminierung bedeutet, dass für Kunden, die unterschiedliche Finanzkraft und Präferenzen haben, unterschiedliche Preise gesetzt werden können. In der Vergangenheit haben Unternehmen größtenteils nur Gruppen unterschieden (d.h. diskriminiert). So hat ein US-Reiseunternehmen zugegeben, dass es Nutzern von Apple-Computern teurere Hotelzimmer anbietet. Heutzutage lernt aber ein Unternehmen jeden einzelnen Kunden besser kennen. Daher kann es im Extremfall nicht nur personalisierte Produkte anbieten sondern auch personalisierte Preise setzen. In der Theorie ist letzteres wiederum gut für Kunden: denn nun ‚kämpfen’ die Unternehmen intensiv um jeden einzelnen. Derzeit lassen sich aus der ökonomischen Theorie zu dem Thema leider keine allgemeinen Regeln ableiten, was die Konsumentenwohlfahrt angeht. Dies hängt stark von den einzelnen Annahmen in den Modellen ab. Fazit Auch wenn sich derzeit kein exakter Preis der Privatsphäre bestimmen lässt, zeigen Experimente, dass es immer einen Teil von Personen gibt, die einen Preisnachlass für ihre Daten nicht akzeptieren oder einen höheren Preis wollen. Dies klärt aber nicht die grundsätzliche Frage, ob persönliche Information tatsächlich so etwas wie ein Wirtschaftsgut sein kann und wenn ja, wem die Daten dann gehören. Dies ist nicht nur eine philosophische Frage über Identitätsbestimmung und Entscheidungsfreiheit, sondern auch eine juristische Frage, die große Bedeutung für unsere digitale Zukunft hat. Google-Datenschutz Versprechen: Externer Link: google.de/intl/de/policies/?fg=1 Siehe auch Externer Link: diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.84196.de/08-22-1.pdf Hoffman et al. 1994, 1996; Bohnet and Frey (1997,1999); Charness and Gneezy (2008); Jenni and Loewenstein (1997) Haley and Fessler (2005) List et al. 2004; Levitt and List 2007. Feri, Giannetti and Jentzsch (2012); Jentzsch, Harasser and Preibusch (2011) und Jentzsch and Preibusch (2014) und Jentzsch (2014). Es gehört zu den Regeln, dass Probanden die Forschungsfrage des Experiments nicht kennen. Sie kennen aber den Ablauf des Experimentes und wissen genau, wie sie ihre Auszahlungen maximieren könnten. Externer Link: spiegel.de/wirtschaft/service/datenauswertung-bei-orbitz-apple-user-zahlen-mehr-fuer-hotelzimmer-a-840938.html
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Nicola Jentzsch
2022-01-17T00:00:00
2014-11-04T00:00:00
2022-01-17T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/daten/datenschutz/194386/welchen-preis-hat-privatsphaere/
Datenprofile werden heute gehandelt wie Autos oder Waschmaschinen. Dabei können die meisten Menschen nicht sagen, zu welchem Preis sie ihre Daten hergeben würden. Manche interessiert Datenschutz vielleicht gar nicht, andere entscheiden sich von Fall
[ "Datenschutz", "Privatsphäre" ]
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Migrationspolitik – April 2019 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Rund 50 Prozent der Erstasylantragsteller minderjährig Im Zeitraum Januar bis März 2019 waren Externer Link: nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 47,3 Prozent aller Personen, die in Deutschland erstmals einen Antrag auf Asyl stellten, minderjährig. Insgesamt nahm das BAMF in den ersten drei Monaten des Jahres 39.948 Erstanträge und 6.529 Folgeanträge auf Asyl entgegen. Die Interner Link: Gesamtzahl der Asylanträge belief sich damit auf 46.477, was einen leichten Rückgang um 0,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeutet. Zwischen Januar und März 2019 traf das BAMF 59.233 Entscheidungen über Asylanträge. Die Gesamtschutzquote lag bei 37,9 Prozent. Im Durchschnitt mussten Asylbewerber sechs Monate auf die Entscheidung über ihren Antrag warten. Ende März waren beim BAMF 53.224 Asylverfahren anhängig. Hinzu kamen 223.798 Verfahren, in denen die Behörde prüft, ob ein erteilter Schutzstatus widerrufen werden muss, etwa weil durch die Beilegung eines Konflikts im Herkunftsland der Schutzgrund entfallen ist. Im Zeitraum Januar bis März 2019 traf das BAMF 22.754 Entscheidungen in Widerrufsprüfverfahren. In 21.997 Fällen wurde der Schutzstatus nicht widerrufen. Im März registrierte das BAMF 12.762 Asylanträge, davon 10.965 Erst- und 1.797 Folgeanträge. Die meisten Erstanträge auf Asyl wurden von syrischen (2.742), nigerianischen (1.777) und irakischen (907) Staatsangehörigen gestellt. Das BAMF traf im März insgesamt 19.587 Entscheidungen in Interner Link: Asylverfahren. Die Gesamtschutzquote lag bei 40,3 Prozent und damit etwas höher als im Schnitt der ersten drei Monate des Jahres. Im März richtete Deutschland 4.166 Übernahmeersuchen an andere Unterzeichnerstaaten des Dublin-Abkommens. In 2.661 Fällen wurden dem Übernahmeersuch stattgegeben. Tatsächlich erfolgten 644 Interner Link: Überstellungen. Regierung beschließt schärfere Abschieberegeln Die Bundesregierung hat den Externer Link: Entwurf für ein Gesetz beschlossen, dass Interner Link: Abschiebungen von ausreisepflichtigen Asylbewerbern beschleunigen soll. Ausreisepflichtige Personen können so leichter in Abschiebehaft genommen werden und in regulären Haftanstalten untergebracht werden, allerdings räumlich getrennt von Strafgefangenen. Zudem führt das "Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" einen neuen Duldungsstatus für Personen ein, die über ihre Identität täuschen und damit ihre Abschiebung verhindern. Geflüchtete, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Schutzstatus erhalten haben, sollen in Deutschland keine Sozialleistungen mehr erhalten. Mitarbeiter von Behörden, die ausreisepflichtige Personen über eine Abschiebung informieren und dabei beispielsweise den Zeitpunkt der Abschiebung preisgeben, machen sich dem Gesetzentwurf zufolge strafbar. Externer Link: Ende 2018 hielten sich in Deutschland 235.957 ausreisepflichtige Personen auf, 180.124 davon mit Interner Link: Duldung. Somit waren insgesamt 55.833 ausländische Staatsangehörige unmittelbar ausreisepflichtig. Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes Das Asylbewerberleistungsgesetz soll reformiert werden. Auf einen Externer Link: entsprechenden Gesetzentwurf hat sich die Bundesregierung im April geeinigt. Er sieht eine leichte Anpassung der Leistungssätze für Asylbewerber vor. 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle Menschen in Deutschland gilt. Damit müssen sich die Leistungen für Asylbewerber an den Leistungen der Sozialhilfe (SGB XII) orientieren. Der neue Gesetzesentwurf sieht niedrigere Geldleistungssätze vor. Die Kürzung gilt nicht für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren. Das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales wies daraufhin, dass dies kompensiert werde, da der Bedarf für Strom und Wohnungsinstandsetzung zukünftig als Sachleistung verbucht werde. Somit würden die Leistungen für Asylbewerber "materiell voll erbracht werden". Zudem soll das Gesetz die sogenannte "Förderlücke" schließen: Bislang müssen Asylbewerber und Interner Link: Geduldete, die eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren anstelle von Sozialhilfe eine Ausbildungsförderung (BAföG oder Berufsausbildungsbeihilfe) beantragen, die allerdings vielen Geflüchteten gar nicht offen steht. Damit sind die Betroffenen schlechter gestellt als Geflüchtete, die keiner Tätigkeit nachgehen, was zu Ausbildungs- und Studienabbrüchen beiträgt. Diese Schieflage will das Gesetz beheben. Zudem ermöglicht es Asylbewerbern, die sich z.B. in Interner Link: Vereinen ehrenamtlich engagieren und dafür eine Ehrenamtspauschale erhalten, davon monatlich 200 Euro zu behalten, ohne dass ihnen dafür Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gekürzt werden. Gesetzentwurf zur Förderung der Beschäftigung von Ausländern Die Beschäftigung von in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen soll besser gefördert werden. Dazu hat die Bundesregierung im April den Externer Link: Entwurf für ein Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz beschlossen. Dieser sieht u.a. vor, dass auch solche Asylbewerber Zugang zu Sprachkursen erhalten, bei denen noch nicht klar ist, ob sie in Deutschland bleiben können. Bislang war dies nur für Asylbewerber "mit guter Bleibeperspektive" möglich. Zudem soll der Zugang zur Förderung von Berufsausbildungsvorbereitung und Berufsausbildung zukünftig weitgehend vom Aufenthaltsstatus entkoppelt werden, sodass deutlich mehr ausländische Staatsangehörige davon profitieren können. Einschränkungen bestehen weiterhin für Asylbewerber aus Interner Link: sicheren Herkunftsstaaten, für die grundsätzlich ein Beschäftigungsverbot gilt. Stellt die Bundesagentur für Arbeit fest, dass die Teilnahme an einem Interner Link: Integrationskurs für die dauerhafte berufliche Eingliederung eines ausländischen Staatsangehörigen notwendig ist, kann zukünftig während eines Integrationskurses oder berufsbezogenen Sprachkurses Arbeitslosengeld gezahlt werden. Dies war bislang nicht möglich. Rund zehn Prozent der Straftaten 2018 von Zuwanderern verübt An 9,7 Prozent der 2018 aufgeklärten Straftaten in Deutschland war mindestens ein tatverdächtiger Zuwanderer beteiligt. Das zeigt das aktuelle "Externer Link: Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" des Bundeskriminalamts. Demnach wurden im Jahr 2018 im Bereich der Allgemeinkriminalität (ohne ausländerrechtliche Verstöße) 3.045.321 aufgeklärte Straftaten verübt, darunter 296.226 Taten, die von mindestens einem tatverdächtigen Zuwanderer begangen wurden. Zu den Straftaten im Bereich der Allgemeinkriminalität ermittelte die Polizei 1.931.079 Tatverdächtige, darunter 165.769 Zuwanderer. Der Anteil tatverdächtiger Zuwanderer an allen Tatverdächtigen lag bei 8,6 Prozent. 86 Prozent der tatverdächtigen Zuwanderer waren männlich, 65 Prozent jünger als 30 Jahre. Jeder dritte tatverdächtige Zuwanderer war an mehreren Straftaten beteiligt. Der Anteil tatverdächtiger Zuwanderer an allen Tatverdächtigen schwankt je nach Deliktbereich. So betrug er im Bereich der "Straftaten gegen das Leben" (u.a. Mord, Totschlag) 14 Prozent, im Bereich der "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" (u.a. Vergewaltigung, sexueller Missbrauch) 12 Prozent, in den Bereichen "Diebstahl" (u.a. Ladendiebstahl, Einbruch) sowie "Vermögens- und Fälschungsdelikte" (u.a. "Schwarzfahren", Urkundenfälschung) jeweils 11 Prozent und im Bereich "Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit" (u.a. Körperverletzung) 10 Prozent. 2018 registrierte die Polizei 1.025.241 Opfer von Straftaten, darunter 47.042 Asylbewerber/Flüchtlinge. Damit zählten 4,6 Prozent aller registrierten Opfer von Straftaten zu dieser Personengruppe. Die meisten davon wurden Opfer von Körperverletzungsdelikten (81 Prozent). Anders als bei Tatverdächtigen, die nur einmal erfasst werden, auch wenn sie mehrere Straftaten begangen haben, werden Personen, die Opfer mehrerer Straftaten werden, in der Statistik auch mehrfach gezählt. Insgesamt erfasste die Polizei 101.956 Opfer von Straftaten, an denen mindestens ein tatverdächtiger Zuwanderer beteiligt war, darunter 46.336 deutsche Staatsangehörige. Das ist ein Anstieg um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr (2017: 39.069). Der Anteil der Deutschen an allen Opfern von Straftaten, die durch tatverdächtige Zuwanderer verübt wurden, lag 2018 bei 45 Prozent. 29 Prozent der Opfer von Straftaten mit mindestens einem tatverdächtigen Zuwanderer waren Asylbewerber/Flüchtlinge. 8.455 Asylbewerber/Flüchtlinge wurden 2018 Opfer einer Straftat, die durch einen deutschen Tatverdächtigen begangen wurde – ein Anstieg um 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (2017: 6.832). Erstmals erfasst das Lagebild die Kategorie Zuwanderer im Bereich der Organisierten Kriminalität. 2018 gab es in diesem Bereich 535 Ermittlungsverfahren, darunter 88, in denen Zuwanderer als Tatverdächtige ermittelt wurden (16 Prozent aller Fälle). Insgesamt wurden im Bereich der Organisierten Kriminalität 6.483 Tatverdächtige registriert, 468 davon (7,2 Prozent) waren Zuwanderer. Grundlage für das Lagebild ist die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS), in die ausschließlich von der Polizei aufgeklärte, versuchte und vollendete Straftaten einfließen. Das Lagebild spricht von "Tatverdächtigen", da die von der Polizei ermittelten Verursacher einer Straftat zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Statistik noch nicht rechtskräftig verurteilt worden sind. Aufgrund von Straftaten mit langer Ermittlungsdauer handelt es sich bei etwa 25 Prozent der im Lagebild 2018 erfassten Straftaten um Delikte, die bereits 2017 oder früher verübt wurden. Unter Zuwanderer versteht das Lagebild analog zur PKS Personen, die mit dem Aufenthaltsstatus "Asylbewerber, Schutzberechtigter und Asylberechtigter, Kontingentflüchtling, Duldung und unerlaubter Aufenthalt" registriert wurden. Afghanische Community in Deutschland wächst Die Zahl afghanischer Staatsangehöriger im Bundesgebiet ist seit 2011 deutlich gewachsen. Das geht aus der Externer Link: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD hervor. Ende 2011 waren demnach 56.563 Personen mit afghanischer Staatsangehörigkeit im Ausländerzentralregister registriert. Am 31. Dezember 2018 waren es 257.111. Von diesen verfügten 15.637 Personen über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. 133.752 afghanische Staatsangehörige hatten nur ein befristetes Aufenthaltsrecht. 107.722 lebten mit prekärem Aufenthaltsstatus in Deutschland, z.B. mit einer Interner Link: Duldung oder irregulär. Seit 2001 wurden 1.003 Personen Interner Link: nach Afghanistan abgeschoben. Zwischen Mitte Dezember 2016 und Mitte März 2019 hat es 22 Sammelabschiebeflüge gegeben, mit denen insgesamt 533 Personen nach Afghanistan zurückgeführt wurden. Dabei waren insgesamt 1.470 Begleitbeamte der Bundespolizei im Einsatz. Die Kosten allein für die Bereitstellung der Flugzeuge zur Durchführung der 22 Sammelabschiebeflüge beliefen sich auf insgesamt rund 5,2 Millionen Euro. Sie wurden durch die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) getragen. Im Rahmen des Bund-Länder-Programms REAG/GARP zur Interner Link: freiwilligen Rückkehr reisten aus Deutschland seit 2014 nach vorläufigen Angaben 5.246 Personen nach Interner Link: Afghanistan aus. Für die Reise- und Betreuungskosten sowie Hilfen zur Wiedereingliederung in Afghanistan wurden dafür rund 6,2 Millionen Euro aufgewendet. Etwa 3,1 Millionen Euro davon trug der Bund.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-05-14T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/291128/migrationspolitik-april-2019/
Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa.
[ "Flucht und Asyl", "Migrationspolitik", "Monatsbericht Migrationspolitik" ]
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Zahlen zur islamistischen Szene in Deutschland | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Im Jahr 2022 umfasste die islamistische Szene in Deutschland laut Verfassungsschutzbericht 27.480 Personen. Im Vorjahr waren es noch 28.290 Personen. Das entspricht einem Rückgang des Personenpotenzials von 2,9 Prozent. Salafistische Bestrebungen weisen hier nach wie vor das größte Personenpotential auf. Weitere zahlenmäßig große Organisationen sind laut Verfassungsschutzbericht die „Millî Görüş“-Bewegung, die „Muslimbruderschaft“ sowie die „Hizb ut-Tahrir“ (Bundesministerium des Innern und für Heimat 2023). Salafistische Szene Die salafistische Szene ist die islamistische Strömung, die in den vergangenen Jahren am schnellsten gewachsen ist. Von schätzungsweise 3.800 Personen im Jahr 2011 ist sie auf 12.150 Personen im Jahr 2020 gewachsen. Die Zahlen sollten jedoch mit Vorsicht betrachtet werden. Fachleute weisen darauf hin, dass anfänglich veröffentlichten Zahlen womöglich deutlich zu niedrig angesetzt waren, weil den Behörden damals keine ausreichenden Informationen über die salafistische Szene vorlagen. In den letzten Jahren gab es einen leichten Rückgang. Im Jahr 2022 bestand die salafistische Szene laut Verfassungsschutzbericht aus 11.000 Personen (Bundesministerium des Innern und für Heimat 2023). Weitere islamistische Gruppierungen In Deutschland sind – neben der salafistischen Szene – einige weitere islamistische Gruppierungen aktiv. Im Jahr 2022 waren die drei folgenden Gruppierungen zahlenmäßig am größten: Die Millî Görüş-Bewegung und die ihr zugeordnete Vereinigungen kommen nach Angaben des Verfassungsschutzes auf rund 10.000 Personen. Der Muslimbruderschaft (MB)/Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) werden 1.450 Personen zugerechnet und der Hizb ut-Tahrir (HuT) 750 Personen. Die Mitgliederzahlen von HuT sind in den vergangenen Jahren leicht gestiegen (Bundesministerium des Innern und für Heimat 2023). Islamistische Gefährder Im Februar 2023 gab es 505 sogenannte Gefährder im „Phänomenbereich Politisch motivierte Kriminalität (PMK) – Islamistischer Terrorismus“, teilte das Bundeskriminalamt (BKA) dem Mediendienst Integration mit (Mediendienst Integration 2023). Diese Angaben beziehen sich auf das gesamte islamistische Spektrum. Als Gefährder werden Personen eingestuft, bei denen die Sicherheitsbehörden annehmen, dass sie politische Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnten. 92 der Gefährder befanden sich im Februar 2023 in Haft und 123 als Gefährder eingestufte Personen wurden mit Haftbefehl gesucht, halten sich aber laut BKA nicht in Deutschland auf (Mediendienst Integration 2023). Ausreisen in den sogenannten „Islamischen Staat“ Der Verfassungsschutz hat Erkenntnisse zu mehr als 1.150 Szeneangehörigen, die seit 2011 Richtung Syrien und Irak gereist sind, um dort den sogenannten „Islamischen Staat“ oder andere terroristische Gruppierungen zu unterstützen. Etwa 40 Prozent der Ausgereisten befindet sich mittlerweile wieder in Deutschland. Zu etwa einem Viertel der ausgereisten Personen liegen Hinweise vor, dass diese in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen sind (Bundesministerium des Innern und für Heimat 2023). Websites mit aktuellen Zahlen Bundesministerium des Innern und für Heimat: Externer Link: Islamismus und Salafismus Bundesamt für Verfassungsschutz: Externer Link: Islamismus und islamistischer Terrorismus Bundesamt für Verfassungsschutz: Externer Link: Islamismus und islamistischer Terrorismus: Zahlen und Fakten Mediendienst Integration: Externer Link: Islamistischer Extremismus und Terror Auch die Landesämter für Verfassungsschutz aller Bundesländer veröffentlichen Informationen über Islamismus sowie Berichte und Lageanalysen auf ihren Websites. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Quellen / Literatur Bundesministerium des Innern und für Heimat (2023): Externer Link: Verfassungsschutzbericht 2022. Auf: bmi.bund.de, Abruf am 17.7.2023. Mediendienst Integration (2023): Externer Link: Islamistischer Extremismus und Terror. Auf: mediendienst-integration.de, Abruf am 20.7. 2023. Bundesministerium des Innern und für Heimat (2023): Externer Link: Verfassungsschutzbericht 2022. Auf: bmi.bund.de, Abruf am 17.7.2023. Mediendienst Integration (2023): Externer Link: Islamistischer Extremismus und Terror. Auf: mediendienst-integration.de, Abruf am 20.7. 2023.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-07-24T00:00:00
2021-08-04T00:00:00
2023-07-24T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/infodienst/337749/zahlen-zur-islamistischen-szene-in-deutschland/
Szeneangehörige, Gefährder, Rückkehrer aus Syrien und Irak: Die Sicherheitsbehörden veröffentlichen regelmäßig Zahlen zur islamistischen Szene. Ein Überblick.
[ "Islamismus", "islamistische Gruppierungen", "Salafismus", "Millî Görüş-Bewegung", "Muslimbruderschaft", "Hizb ut-Tahrir", "islamistischer Terrorismus", "Verfassungsschutz", "Sicherheitsbehörden", "islamistische Szene", "salafistische Szene" ]
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I. Die Grundrechte | Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland | bpb.de
Artikel 1[Menschenwürde – Menschenrechte – Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte] (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Artikel 2[Persönliche Freiheitsrechte] (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Artikel 3[Gleichheit vor dem Gesetz] (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Artikel 4[Glaubens- und Gewissensfreiheit] (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Artikel 5[Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft] (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Artikel 6[Ehe – Familie – Kinder] (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Artikel 7[Schulwesen] (1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. (4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. (5) Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht. (6) Vorschulen bleiben aufgehoben. Artikel 8[Versammlungsfreiheit] (1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Artikel 9[Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit] (1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden. Artikel 10[Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis] (1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt. Artikel 11[Freizügigkeit] (1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. (2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist. Artikel 12[Berufsfreiheit] (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig. Artikel 12a[Militärische und zivile Dienstpflichten] (1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. (2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht. (3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen. (4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden. (5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung. (6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend. Artikel 13[Unverletzlichkeit der Wohnung] (1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. (3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden. (4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. (5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. (6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle. (7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden. Fußnote Art. 13 Abs. 3: Eingef. durch Art. 1 Nr. 1 G v. 26.3.1998 I 610 mWv 1.4.1998; mit GG Art. 79 Abs. 3 vereinbar gem. BVerfGE v. 3.3.2004 (1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99) Artikel 14[Eigentum – Erbrecht – Enteignung] (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. Artikel 15[Vergesellschaftung] Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend. Artikel 16[Staatsangehörigkeit – Auslieferung] (1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Artikel 16a[Asylrecht] (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen. (5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen. Fußnote Art. 16a: Eingef. durch Art. 1 Nr. 2 G v. 28.6.1993 I 1002 mWv 30.6.1993; mit Art. 79 Abs. 3 GG (100-1) vereinbar gem. BVerfGE v. 14.5.1996 I 952 (2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93) Artikel 17[Petitionsrecht] Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Artikel 17a[Einschränkung der Grundrechte in besonderen Fällen] (1) Gesetze über Wehrdienst und Ersatzdienst können bestimmen, daß für die Angehörigen der Streitkräfte und des Ersatzdienstes während der Zeit des Wehr- oder Ersatzdienstes das Grundrecht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz), das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8) und das Petitionsrecht (Artikel 17), soweit es das Recht gewährt, Bitten oder Beschwerden in Gemeinschaft mit anderen vorzubringen, eingeschränkt werden. (2) Gesetze, die der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung dienen, können bestimmen, daß die Grundrechte der Freizügigkeit (Artikel 11) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13) eingeschränkt werden. Artikel 18[Grundrechtsverwirkung] Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Artikel 19[Einschränkung von Grundrechten – Rechtsweg] (1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. (2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. (3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt. Quelle: Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz, juris GmbH, www.gesetze-im-internet.de, 2020.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-02-04T00:00:00
2011-11-30T00:00:00
2022-02-04T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/menschenrechte/grundgesetz/44187/i-die-grundrechte/
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinscha
[ "Gesetz", "Grundgesetz", "Bundesrepublik", "Verfassung", "Deutschland" ]
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Praxistest: Wahlen für Einsteiger | bpb.de
Das Jahr 2021 wird in vielen Zeitungen als "Superwahljahr 2021" tituliert– aufgrund der unterschiedlichen Wahlen in Kommunen und Ländern und nicht zuletzt wegen der Bundestagswahl im September. Dieser kommt in den Medien eine besondere Bedeutung zu, dass – egal wie die Wahl ausgeht – ein neuer Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin die Politik bestimmen wird. Der Medien-Alltag wird immer mehr durch den Wahlkampf bestimmt. Jugendliche erhalten auch Informationen über unterschiedliche Wahlsysteme, ihre Vor- und Nachteile und Diskussionen über das Wahlalter. Auch im Alltagsleben ist immer wieder davon die Rede, die Wahl zu haben – manchmal auch die "Qual der Wahl": als Verbraucher, als Konsument, als Mitglied der Gesellschaft und dann auch als "wahlberechtigte Person". Schülerinnen und Schüler wählen in der Schule, indem sie sich für bestimmte Fächer entscheiden (Kurswahlen) oder Klassensprecher wählen. Nicht zuletzt erleben sie die Diskussion über die Senkung des Wahlalters, Je nach Geburtsjahr könne sie auch schon bei bestimmten Wahlen wahlberechtigt sein. Deshalb ist es für Bildung, Schule und Unterricht wichtig und notwendig, sich mit dem Thema "Wahlen" zu befassen. Dabei hilft "Interner Link: Thema im Unterricht / ExtraWahlen für Einsteiger". In 24 Arbeitsblättern werden Grundlagen und Diskussionsüberlegungen dargeboten und vorgestellt: Zu dem Material gehören Arbeitsheft und Handreichung: Arbeitsheft Interner Link: Arbeitsheft (ausfüllbare PDF, barrierefrei) Interner Link: Arbeitsheft (PDF, nicht barrierefrei) "Die ausfüllbare PDF-Datei enthält digitale Eingabefelder. So können die Lernenden die Aufgaben mit PDF-fähigen Endgeräten bearbeiten und die Ergebnisse digital einreichen. Die Datei ist vollständig barrierefrei nach DIN ISO 14289-1." Dazu gehört eine insgesamt 10 Seiten umfassende Handreichung: Interner Link: Handreichung (PDF, nicht barrierefrei) Sie ist in zwei Teile gegliedert: Teil I: Lösungen und Unterrichtsanregungen Teil II: Anlagen: Vorlagen für Beamer/Projektor (Arbeitsblätter 18, 20, 23, 24). Die Arbeitshilfe ist in der 5. Auflage im März 2020 erschienen und umfasst insgesamt 24 Arbeitsblätter bzw. 28 Seiten (einschließlich Umschlag): Autor ist Bruno Zandella, er leitete mehrere Jahre das Fachreferat "Deutschland und Europa" bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und ist tätig an einem Gymnasium mit den Fächern Gemeinschaftskunde, Wirtschaft, Ethik und Deutsch. Kernstück der Arbeitshilfe sind die 24 Arbeitsblätter (in Klammern die jeweilige Anzahl zu einem Thema). "Wahlen für Einsteiger" bietet allgemeine Grundlagen vor dem Hintergrund von Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland und allgemeiner Art: Folgende Themen werden behandelt (in Klammern die Anzahl der jeweiligen AB zu einem Thema) 01: Wählen. Ich bin so frei. Nachdenken über die Wahlfreiheit (1) 02/03: Wahl müde oder wahlbegeistert? (2) 04: Wozu wählen? Grundfunktionen demokratischer Wahlen (1) 05: Wann ist eine Wahl demokratisch? (1) 06/07: Wahl(un)recht in der deutschen Geschichte (2) 08/09/10: Wahlsysteme im Vergleich (3) 11/12/13: Die Bundestagswahl – Wie aus Wählerstimmen Sitze werden (3) 14: Einfacher, effektiver und gerechter? Vorschläge zur Reform des Wahlrechts (1) 15: Wahlrecht auch für Kinder und Jugendliche? (1) 16: Wählen und Abstimmen – Ein Kreuzchen, zwei Bedeutungen (1) 17: Mehr direkte Demokratie wagen? (1) 18: Mit-, ein-, aufmischen – Wie können wir politisch Einfluss nehmen? (1) 19: Wer wählt welche Partei? (1) 20: Was beeinflusst die Wahlentscheidung? (1) 21: Wahlkampf zwischen Bürgerdialog und Marketing (1) 22/23: Roboter als Wahlkämpfer#? (2) 24: Wahlkreuzworträtsel (1) Die Arbeitsblätter sind so aufgebaut, dass die Bearbeitung eines jeden einzeln möglich ist. Zu dem Arbeitsblatt gehören ein hoher Anteil an Informationstexten, Grafiken, Tabellen, Schaubilder, Fragen, Fragebögen und Arbeitsaufgaben vereinzelt auch Tipps und Quellenhinweise. Vorlagen für Lösungsvorschläge sind in der Handreichung abgedruckt, ebenso Vorlagen für Beamer und Projektor. Der Herausgeber schlägt vor, das Unterrichtsmaterial ab Klasse 8 zu nutzen. Das gilt zwar nicht für alle Arbeitsblätter; sinnvoll für Jüngere sind sie dann, wenn es um Einführungen und erste Positionen geht. Unterrichtsfächer, in denen das Material eingesetzt werden kann, sind Politik, Geschichte, Ethik/Religion, Erdkunde und auch Deutsch (viele der angeschnittenen Probleme in den Arbeitsblättern tauchen als Aufsatzthemen immer wieder bei Pro- und Kontra-Diskussionen auf). Gut geeignet sind einzelne Blätter auch für Vertretungsstunden: hier muss man nur aufpassen, dass Doppelungen vermieden werden. Ein großer Teil der Arbeitsblätter ist sehr textlastig. Der Einsatz der Arbeitsblätter empfiehlt sich vor allem für Schülerinnen und Schüler ab Klasse 10 und im Sek-II-Bereich. Nicht zuletzt können sich die Lehrkräfte, die im Bereich Politik nicht so fit sind, mit Hilfe der Arbeitshilfe gut informieren. Gut einsetzbar sind sie auch in den Home-Office-Phasen der Coronazeit. Grob kann man die Arbeitsblätter in mehrere Gruppen unterteilen Überschneidungen gibt es natürlich): Finden eines eigenen Standpunktes (1, 2, 3) Geschichtliche Aspekte (6,7,) Grundinformationen zum Thema Wahlen (4, 5, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 16, 19)) Blick in die Zukunft/mögliche Entwicklungen (14, 15, 17, 18, 20, 21, 22, 23, ) Wissensüberprüfung (24) Ein Unterricht, der direkt nach den Sommerferien beginnt und als Inhalt die Bundestagswahlen hat sollte sich mit den Arbeitsblättern 11, 12, 13 und 16 befassen. (in manchen Bundesländern dauern die Ferien bis Anfang September, sodass einfach nicht viel Zeit bleibt. Arbeitsblätter wie 14, 15, 17 und danach befassen sich mehr mit Zukunftsperspektiven. Das Wahlkreuzworträtsel kann als Zusammenfassung dienen; es wird von Jugendlichen als "nicht ganz einfach" empfunden. Schüler und Schülerinnen sind ansonsten von dem Heft ganz angetan. Sie blättern gern darin bzw. schauen sich die Seiten an und bearbeiten sie teilweise auch freiwillig. Oder sie nutzen die Online-Fassung (und auch die Handreichung…) Es sei davor gewarnt, das Heft als Ganzes "durchzunehmen" – Ermüdungserscheinungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler sind unvermeidbar. Bemängelt wird von einigen die teilweise kleine, schwer leserliche Schrift – vor allem bei den Karikaturen. Schülerinnen und Schüler, die konzentriertes Lesen nicht gewohnt sind, kritisieren den hohen Textanteil - auf einigen Blättern sind fast nur Texte vorhanden. Füllen sie die Arbeitsblätter per Hand aus, kommen sie nicht immer mit der Zeilengröße zurecht. Fazit: Insgesamt liegt hier eine für Schule und Unterricht gut geeignete Arbeitshilfe vor, die den Anspruch des Titels "Wahlen für Einsteiger" erfüllt. Einsetzbar ist sie Teilen ab Klasse 8, vor allem in den Jahrgängen 10 und darüber kann sie mit großem Gewinn genutzt werden. Zugriff Interner Link: Thema im Unterricht / Extra: Wahlen für Einsteiger
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-30T00:00:00
2021-09-07T00:00:00
2021-09-30T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/rezensionen/339868/praxistest-wahlen-fuer-einsteiger/
Das Jahr 2021 wird in vielen Zeitungen als "Superwahljahr 2021" tituliert– aufgrund der unterschiedlichen Wahlen in Kommunen und Ländern und nicht zuletzt wegen der Bundestagswahl im September. Dieser kommt in den Medien eine besondere Bedeutung zu.
[ "Rezension", "Unterrichtsmaterial", "Lernen", "Wahlen" ]
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AG Medienkompetenz in der Jugend | Medienpädagogik | bpb.de
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe finden Sie Interner Link: hier. Zum Beispiel wird für diese Altersgruppe verstärkt Medienkompetenz als Selbstschutz und teils sogar als Alternative zum regulativen Jugendschutz gefordert. Da die Medienseite nur mehr schwer zu regulieren ist, sollen die Jugendlichen selbst die Verantwortung übernehmen und keine Angebote nutzen, die ihre Entwicklung beeinträchtigen könnten. Zweifelsohne stellt dies nicht nur Herausforderungen an die Jugendlichen, sondern auch an die Medienkompetenzförderung bei dieser Zielgruppe. Dabei ist nicht nur zu reflektieren, welche Ansätze sich hierfür in der Praxis als geeignet erweisen. Vielmehr geht es auch um die eigene Verantwortung von Medienpädagogik in dem so gedachten System des Jugendmedienschutzes. Die Themenschwerpunkte werden in der AG von den Teilnehmenden und dem Moderationsteam bestimmt. Neben dem Verhältnis von Selbstschutz und regulativem Jugendmedienschutz sind zum Beispiel auch Fragen möglich wie: Welche Rolle kommt der sozialraumorientierten Jugendarbeit in Jugendhäusern oder Medienzentren zu, wenn über das Smartphone digital und online Räume zur Vernetzung und medialen Artikulation verfügbar sind? Rechtfertigt die Phase der Berufsorientierung eine stärkere Orientierung auf berufsrelevante Qualifikationen im Medienbereich oder wird damit Medienkompetenz verkürzt? Bzw. begründet diese Phase nicht gerade die Notwendigkeit zur Betonung der reflexiv-kritischen Dimension von Medienkompetenz in Verbindung mit politischer Bildung? Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen, wenn Daten der Mediennutzung zur umfassenden Profilbildung seitens der Anbieter oder potenziell auch staatlicher Kontrolle genutzt werden können? Ist dann tatsächlich 'Ausschalten/Wegwerfen', wie kürzlich von Externer Link: H.-M. Enzensberger gefordert, die einzige Option? Und welche Ansätze gibt es hier für die Arbeit mit benachteiligten Zielgruppen? Es gibt reichlich Diskussionsstoff für die AG. Interner Link: zur Programmübersicht
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-03-18T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/medienpaedagogik/medienkompetenz-2014/180846/ag-medienkompetenz-in-der-jugend/
In der AG werden Herausforderungen, erfolgreiche Konzepte und Leerstellen der Medienkompetenzförderung im Jugendalter diskutiert.
[ "Medienkompetenz", "Jugendliche", "Selbstschutz", "jugendmedienschutz", "Medienarbeit", "Jugendarbeit" ]
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Altbekannte Muster und viele neue Formen | Fachtagung "Politische Gewalt – Phänomene und Prävention" | bpb.de
Prof. Dr. Uwe Backes eröffnete den Doppelvortrag mit einem Überblick über die verschiedenen Formen politischer Gewalt, der damit verbundenen Kriminalität sowie entsprechenden Hintergründen. Zunächst stellte er seine Definition politisch motivierter Gewalt vor: Damit sei die Anwendung physischen Zwangs zu verschiedenen Zielen gemeint. Die Polizei fasse dies statistisch unter "politisch motivierter Kriminalität" (PMK) zusammen, ebenfalls erhebe der Verfassungsschutz diese Straftaten. Backes wies auf den hohen Anteil von Körperverletzungen bei politisch motivierter Gewalt hin, und zwar "im gesamten Spektrum". In den letzten Jahren sei vor allem bemerkenswert, dass die Anzahl salafistischer Gewalttaten angestiegen sei. Diese seien aber bisher kaum als politisch motivierte Gewalt erfasst worden, da sie polizeilich vor allem unter der veralteten Kategorie der "Ausländerkriminalität" registriert worden seien. Als "Konfrontationsgewalt" bezeichnete Backes den Löwenanteil politischer Gewalt, also Gewalt gegen den politischen Gegner aufgrund seines wahrgenommenen individuellen Verhaltens. Hier seien vor allem Rechts-Links-Konfrontationen bedeutsam. Die Täter ließen sich oft schwer zuordnen, da sich gewaltaffine Akteursgruppen personell oft rasch veränderten. Gewaltausbrüche konzentrierten sich oft um bedeutende Peter Imbusch während des ersten Konferenztages. (© bpb/Nils Pajenkamp) Ereignisse wie zum Beispiel Wahlen. Auseinandersetzungen zwischen Muslimfeinden und Salafisten seien im Übrigen quantitativ unbedeutend, fügte Backes hinzu. Abschließend zeichnete er die Gefahr eines muslimfeindlichen Rechtsterrorismus nach Vorbild des norwegischen Attentäters Anders Breivik. Backes beschrieb hier ein "muslimfeindliches Ideologiesyndrom", das sich durch eine prozionistische wie pauschalisierende Kritik am Islam sowie eine frauenfeindliche, homophobe und totalitäre Tendenz auszeichne. Diese Einstellungsmuster würden in Zukunft an Bedeutung gewinnen und herkömmliche Rechts-Links-Schemata überlagern. Politische Gewalt als begriffliches Politikum Prof. Dr. Peter Imbusch konzentrierte sich in seinem Vortrag auf Hintergründe und Erklärungsmuster. Der situative Kontext allein reiche nicht aus, um Gewalt zu erklären. Imbusch verwies zunächst auf die seiner Ansicht nach uneinheitliche Begriffsdefintion: politische Gewalt als Begriff sei an sich bereits ein Politikum, es gelte Art, Umfang und Ziele der Gewalt differenziert zu betrachten. Zur Definition griff Imbusch auf eine Definition von Birgit Enzmann aus dem Jahr 2013 zurück: Politische Gewalt sei die "direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen, die zu politischen Zwecken im öffentlichen Raum stattfindet". Hier grenzte Imbusch gesellschaftliche Gewalt von staatlicher Gewalt ab und griff so seinen eigenen Vorschlag auf, eine Differenzierung politischer Gewalt vorzunehmen. "75 Prozent der politisch motivierten Kriminalität hat einen rechtsextremen, weniger als 25 Prozent einen linksextremen Hintergrund." Zu gesellschaftlicher Gewalt zählte Imbusch zunächst den Rechtsextremismus. Dieser habe ein geschlossenes Weltbild, sei rassistisch, ungleichheitlich, antidemokratisch, menschenverachtend und zeichne sich durch eine hohe generelle Gewaltbereitschaft gegen Menschen aus. Linksextremismus hingegen habe ein heterogenes Weltbild, sei internationalistisch, gleichheitlich, radikaldemokratisch und menschenfreundlich. Die Gewaltbereitschaft sei hier eher akzidentell und präferiere Gewalt gegen Sachen, nicht gegen Menschen. 75 Prozent der politisch motivierten Kriminalität habe einen rechtsextremen, nur weniger als 25 Prozent einen linksextremen Hintergrund. Zur Erklärung des Rechtsextremismus benannte Imbusch das sogenannte "Desintegrationstheorem". Persönliche Ohnmachtserfahrungen mündeten in Gewaltbereitschaft, die durch Versprechen von Stabilität und Ordnung durch die rechtsextreme Ideologie abgefedert werde. Zur Erklärung des Linksextremismus sei gegenwärtig keine Theorie bekannt, so Imbusch. Er sei geprägt von Gerechtigkeitsvorstellungen, Gleichheitsidealen und der Suche nach einem besseren Leben. Dahinter stehe die Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft ohne Repression. Terrorismus hingegen sei intentional, zielorientiert, rational. Er speise sich aus dem Fehlen von demokratischen Strukturen. Abschließend beschrieb Imbusch noch Formen staatlicher Gewalt als Ausdruck eines grundlegenden Defizits von Demokratie. Das Misstrauen des Staates gegen bestimmte Gruppen sei hier ebenso benennbar wie die generelle Überhöhung von Staatlichkeit und "Law and Order-Denken". Auch die Überreaktion bei Gefahrenabwehr, institutionellen Rassismus und die Bekämpfung von Terrorismus zählte Imbusch zu Erscheinungsformen staatlicher Gewalt. Erscheinungsformen werden aufgeweicht Dr. Behnam Said vom Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg während der, an die Vorträge anschließenden, Diskussion im Plenum der Tagung. (© bpb/Nils Pajenkamp) In der anschließenden Diskussion wurde die Frage gestellt, warum in den Statistiken von Backes Vortrag nur Verfassungsschutzdaten auftauchten. Backes entgegnete, dass ihm keine statistische Alternative bekannt sei. Es gebe in Deutschland keine NGO oder wissenschaftliche Einrichtungen, die in diesem Themenfeld tätig seien. Daraufhin meldete sich ein Mitarbeiter des Hamburger Verfassungsschutzes aus dem Plenum zu Wort. Er gab zu Bedenken, dass Wissenschaftlichkeit auch nicht der Anspruch des Verfassungsschutzes sei. Auch nannte er weitere, neue Formen der Auseinandersetzung, etwa zwischen Salafisten, kurdischen Nationalisten und Jesiden. Hier würden die bekannten Unterscheidungen und Erscheinungsformen zunehmend aufgeweicht. Weiterhin wurde erörtert, anhand welcher Kriterien man neuartigen, sich politisch korrekt gebenden Rechtsextremismus von klassisch völkischem Rechtsextremismus unterscheiden könne. Backes verwies darauf, dass der Antisemitismus inzwischen kein zentraler Bezugspunkt mehr sei und sich daher eine neue Akzeptanz rechter Ideologie in der Öffentlichkeit etablieren konnte. Auch das Christentum gewinne an Bedeutung. Das sei für den klassischen Rechtsextremismus à la NPD noch undenkbar gewesen. Aktuell sei eine Vermischung verschiedener Muster zu beobachten, welche die klassischen Unterscheidungen zunehmend fragwürdig erscheinen lasse. Referenten: Prof. Dr. Peter Imbusch, Bergische Universität Wuppertal Prof. Dr. Uwe Backes, Technische Universität Dresden Peter Imbusch während des ersten Konferenztages. (© bpb/Nils Pajenkamp) Dr. Behnam Said vom Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg während der, an die Vorträge anschließenden, Diskussion im Plenum der Tagung. (© bpb/Nils Pajenkamp)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-13T00:00:00
2016-08-08T00:00:00
2021-12-13T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/politische-gewalt-2016/232367/altbekannte-muster-und-viele-neue-formen/
Welche Erscheinungsformen politischer Gewalt gibt es? Und wie können sie erklärt werden? Diesen grundlegenden Fragen widmete sich der Doppelvortrag von Uwe Backes und Peter Imbusch.
[ "politische Gewalt" ]
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Was macht das besondere Profil und die Identität einer Ganztagsschule aus? | Bildung | bpb.de
Was sind die Hauptargumente für die Ganztagsschule? Der Umstand, dass heutzutage alle Bundesländer Ganztagsschulen auf ihre Fahnen geschrieben haben und den Ausbau vorantreiben, hat vor allem mit zwei Punkten zu tun. Die eine Seite der Medaille ist, das darf man nicht unterschätzen, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Müttern, die Kinder im Schulalter haben, wird dadurch in vielen Fällen überhaupt erst eine Erwerbstätigkeit ermöglicht. Das ist ein Motiv, das zwar keinen unmittelbaren Bildungshintergrund hat, es prägt aber wesentlich die Lebenslage von Familien mit Kindern und Jugendlichen. Ein hoher Ministerialbeamter in einem süddeutschen Ministerium sagte mir einmal, mit Blick auf die berufstätigen Mütter in den Handwerksbetrieben sei die Lage dort bisweilen so prekär, dass man sich ideologische Debatten zum Thema Ganztag einfach nicht mehr leisten könne. Besonders im mittelständischen Bereich und bei den kleinen Familienbetrieben auf dem Land fehlt den Unternehmen am Nachmittag das weibliche Personal, da die Mütter dann nach Hause müssen, um ihre Kinder zu versorgen. Das ist ein wirtschaftlicher Aspekt. Was spricht aus pädagogischer Sicht für den Ganztag? Das ist die andere Seite der Medaille. Zunächst einmal kann durch den Ganztag der Unterricht anders rhythmisiert werden. Wir müssen nicht mehr am 45-Minuten-Takt festhalten, können wichtige Entspannungsphasen so integrieren, dass die Schüler konzentriert arbeiten und die schulischen Anforderungen sich besser auf den gesamten Tag verteilen. Das ist die Grundlage, auf der dann auch individuelle Förderung besser gelingt. Außerdem ermöglicht erst der auf den ganzen Tag verteilte Unterricht, dass andere, nicht-unterrichtliche Angebote sehr viel gezielter in die Schule eingebunden werden können. Beide Motive zusammen haben dazu geführt, dass die Länder relativ einhellig auf den Kurs des Bundes eingeschwenkt sind und gesagt haben: Okay, dann beteiligen wir uns auch an diesem Ausbauprojekt. In dieser Phase hat die Ganztagsschule in Deutschland immer mehr Befürworter gefunden, die davon überzeugt waren, dass diese der Weg in die bildungspolitische Zukunft ist. So einhellig der grundsätzliche Kurs scheint, der Ausbau von Ganztag sowie die Qualität der Einzelangebote ist für die Schüler im Ergebnis aber eher ein Lotteriespiel – abhängig von Bundesland, Wohnort und Schule. Von Chancengleichheit keine Spur, oder? Ich würde das, etwas modifiziert, sogar noch anders zuspitzen. Deutschland hat sich zwar – mehr oder minder beiläufig – auf den Weg gemacht, den Ganztag zu einem flächendeckenden Regelangebot auszubauen. Das ist aber geschehen, ohne überhaupt eine konzeptionelle Debatte darüber zu führen; ohne eine Leitidee damit zu verbinden, was wir mit der Ganztagsschule eigentlich wollen. Also: Ganztagsschule war die Antwort. Was aber war die Frage? Im Grunde genommen wurde diese Frage unbeantwortet nach unten durchgereicht. Einerseits durfte der Bund sich inhaltlich nicht einmischen, also keine konzeptionellen Vorgaben machen. Andererseits waren die Länder auf dieses Projekt nicht vorbereitet, mussten jedoch relativ schnell handeln. So wurde die Frage der Gestaltung des Ganztags letztlich an die einzelnen Schulen weitergereicht. Also war bzw. ist letztendlich die einzelne Schule in der Pflicht, den Ganztag zu gestalten? Ja. Wie der Ganztag an einer bestimmten Schule aussieht, ist in die Verantwortung von Schulleitung und Kollegium gestellt worden. Darin begründet sich die breite Vielfalt von Ganztagsschulen, wie wir sie heute vorfinden. Deshalb gibt es bis heute auch keine allgemeingültige Antwort darauf, was das besondere Profil und die Identität einer Ganztagsschule ausmacht, etwa im Unterschied zur halbtägigen Unterrichtsschule. Das ist der Hintergrund, vor dem wir uns als Deutsches Jugendinstitut eine Auswahl von 225 Schulen aus der StEG-Studie einmal genauer angeschaut haben. Wir wollten wissen, welche typisierbaren Muster des Ganztagsbetriebs sich bei diesen Schulen, ohne einheitliche Vorgabe, faktisch herausgebildet haben. Die Kernfrage lautete also, ob sich in der Vielfalt und Heterogenität nicht doch bestimmte Gemeinsamkeiten abzeichnen. Im Ergebnis konnten wir anhand dieser ganztägigen Schulen vier "Cluster" identifizieren: die eher herkömmliche Schule, die kooperative Schule, die Angebotsschule und die rhythmisierte Schule. Hätte man zuvor mehr entwickeln, erproben und überprüfen müssen? Von heute aus betrachtet hat es vielleicht nicht nur Nachteile, so offen begonnen zu haben. Ansonsten hätte Deutschland vor lauter ideologischen Grundsatzdebatten vermutlich nie mit dem Ausbau angefangen. Vor zehn Jahren wusste schließlich – jenseits von Hoffnungen und Wünschen – noch keiner so genau, wohin sich das Ausbauprojekt entwickeln sollte. Dafür stehen wir jetzt umso mehr vor der bildungspolitischen Notwendigkeit, diese ausgefallene Grundsatzdebatte zum Ganztag nachzuholen. Mittlerweile können Länder auf mehrjährige Erfahrungen mit der Ganztagsschule zurückblicken. Nun müssen wir uns hinsetzen und uns bildungspolitisch darüber verständigen, wie eine einigermaßen vernünftige Rahmung des Ganztagsbetriebs aussehen könnte, was wir damit erreichen wollen und wohin die Reise geht. Wie sähe der Ganztag aus, den Sie gestalten dürften? Welche Form hätte er? Zunächst mal muss ich betonen, dass die vier von uns identifizierten Ganztagsschulformate keine normativen Konzepte sind. Sie sind Resultat empirischer Ergebnisse. Das heißt: Sie können eine inhaltliche Debatte nicht ersetzen. Wir müssen uns also weiterhin den Kopf zerbrechen. Meine Idee vom Ganztag grenzt sich in erster Linie gegen zwei suboptimale Formen ab. Die erste, wenig überzeugende Variante sähe so aus: vormittags Unterricht – also der Ernst des Lebens – und nachmittags Freizeit und Erholung – also Sport, Spiel und Spannung. Ein in dieser Hinsicht zweigeteilter Tag zwischen Ernst und Spaß, zwischen kognitiver Bildung und "Wellness-light" für Kinder wäre kein gelungenes Muster für den Ganztag. Ein zweites Muster von Ganztag wäre für mich ebenfalls keine wünschenswerte Entwicklung. Dieses lautet: Die Ganztagsschule ist im Kern nur für die Bildungsschwächeren da. Wenn man aus der Perspektive betroffener Jugendlicher sieht, so besteht die Gefahr, dass sie den Ganztag wie eine Strafe für das eigene "Schulversagen" empfinden – als Nachsitzen, als eine Art Übergang "vom Halbtags- zum Ganztagsschulknast". Daher wäre es eine fatale Botschaft, wenn vor allem Haupt- und Sonderschulen zu Ganztagsschulen werden, damit die Jugendlichen dieser Schulen von der Straße sind, nicht auf dumme Gedanken kommen und zugleich zu mehr Nachhilfe verdonnert werden können. Das wäre in der Tat keine sonderlich attraktive Vision einer zukünftigen Ganztagsschule. Und was ist für Sie beim Ganztag das zentrale Element? Meine favorisierte Form von Ganztagsschule unterscheidet deutlich zwischen einem unterrichtsbezogenen und einem nicht-unterrichtsbezogenen Teil. Das berührt konkret drei verschiedene Aspekte. Erstens: Nicht alles, was man Kindern an Gutem angedeihen lassen will, muss in Form von Unterricht gemacht werden. Wir haben uns viel zu sehr auf den Unterricht als einzige zielführende schulische Vermittlungsform versteift. Zweitens: Das Bildungskonzept des Ganztags wird gezielt auf den gesamten Tag ausgeweitet, also vom Grundsatz her von der Frage des Unterrichts entkoppelt. Drittens: Bildung wird hierbei sehr viel breiter gedacht als im herkömmlichen Format des Fachunterrichts und seiner kognitiven Ausrichtung auf Wissensvermittlung. Die Konsequenz dieses Dreischritts liegt darin, dass das gesamte Angebot für den Ganztag unter Bildungsgesichtspunkten zu betrachten ist. In der Konsequenz entscheidet sich die Frage, ob etwas nun Bildung ist oder nicht, nicht mehr daran, ob es in eine Unterrichtsform gezwängt und zum Schluss durch Noten zertifiziert werden kann, sondern ob es die Handlungsfähigkeit der Kinder stärkt und verbessert. Wir müssen also unsere Bemühungen darauf ausrichten, welche Kompetenzen und welches Rüstzeug Kinder zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem Weg zum Erwachsenwerden benötigen – wozu sie konkret befähigt werden müssen. Und das ist weit mehr als fachgebundene, kognitive Wissensaneignung. Das ist ein Gesamtpaket aus kultureller, praktischer, sozialer und personaler Bildung. Wie sähe das praktisch aus? Ein solches Bildungskonzept kann – neben dem Unterricht – völlig unterschiedliche Themen, Module und Gelegenheiten enthalten: Computer- und Internetkurse, Kochkurse, handwerkliche Projekte, soziale Projekte, Konflikttrainings, entwicklungspolitische oder stadtteilbezogene Hilfsprojekte, Service Learning, gemeinsam organisierte Musik-, Tanz- oder kulturelle Projekte, Sportprogramme – und das alles jenseits der Zwänge von Notengebung und Unterricht. Dabei sollten diese Angebote auf jeden Fall so organisiert werden, dass es den Kindern auch Spaß macht, sie aber gleichzeitig etwas lernen und sich vor allem selbst einbringen können, also nicht nur Konsumierende sind. Es sollten Themen vorkommen, die gemeinhin kein Gegenstand im Unterricht, aber dennoch "lebenswichtig" sind. Es sollten Methoden und Formen der Beteiligung zum Tragen kommen, die nicht unbedingt mit herkömmlicher Schule in Verbindung gebracht werden. Und es sollte unbedingt auch Orte und Freiräume für Peer-Learning geben, also für Lerngelegenheiten, in denen die Jugendlichen untereinander die Welt gemeinsam auf eigene Faust entdecken können. Die Wahl der konkreten Ganztags-Angebote und Kooperationen liegt dann in der Verantwortung der Schulen? Ja. Spätestens bei der konkreten Ausgestaltung sind die Schulen auf kommunaler Ebene gefordert; was Anregungen und Impulse von außen ja nicht ausschließt. Die Schulen vor Ort wissen am besten, wie es in ihrem Stadtteil, in ihrem direkten sozialräumlichen Umfeld aussieht. Dafür muss sich Schule in den lokalen Sozialraum öffnen, muss sie sich selbst als Teil einer regionalen Bildungslandschaft verstehen, bei der ihre Partner Musikschulen, Jugendkunstschulen, die Kinder- und Jugendarbeit, der Sportverein, die Kirche, die Schreinerei um die Ecke oder das ortsansässige Software- Unternehmen gleichermaßen sein können. In einem attraktiven, nicht-unterrichtlichen Bildungspaket ist Bewegung und Sport genauso enthalten wie musisch-kreative Elemente, sind handwerkliche oder technische Tätigkeiten ebenso im Angebot wie spielerische oder erlebnispädagogische Elemente. Der Gedanke an Notengebung sollte dabei weit weg sein. Was dafür aber im Vordergrund stehen sollte, das sind das Interesse und der Spaß an der Sache. Sollten alle Schulen zum Ganztag wechseln? Das ist eine legitime Frage zum falschen Zeitpunkt. Ich halte es vor Ende des Jahrzehnts für wenig zielführend, eine Ganztagsschulpflicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Diese wird zwar immer wieder gefordert, wäre aber personell, finanziell und rechtlich nicht einfach aus dem Stand zu machen. Gleichwohl könnte es ein Weg in diese Richtung sein, wenn sich die Politik verpflichtet, den Kindern und Eltern – wie schon im Kita-Bereich – einen Ganztagsplatz zu garantieren. Diese Verpflichtung könnte zum Beispiel zu einem Zeitpunkt in fünf Jahren wirksam werden. Der dann bestehende Rechtsanspruch könnte für die Entwicklung des Ganztags eine entscheidende Weichenstellung sein. Allerdings sollte die Schulpflicht bis auf Weiteres nicht auf den Ganztag ausgeweitet werden. Nur für die, die den Ganztag wollen, sollten entsprechende Angebote zur Verfügung stehen. Diese behutsame Vorgehensweise löst schon von ganz allein eine Dynamik aus, die in kurzer Zeit zu einer etablierten Ganztags-Schullandschaft führen wird – dann aber eben auf freiwilliger Basis. Wenn es denn zuvor politisch gewollt ist … Klar, zunächst muss die Politik diese Selbstverpflichtung eingehen. Sie muss an den Punkt kommen, dass sie erkennt: "Irgendjemand in dieser Gesellschaft verlässt sich auf das, was wir hier tun. Deswegen muss es unser gemeinsames Ziel werden, und deshalb beschließen wir es auch politisch". Zuerst erschienen in der Zeitschrift "PodiumSchule" 1.12, S. 4-5. (Externer Link: http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/podium-schule-112/)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-04T00:00:00
2015-05-07T00:00:00
2022-01-04T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/206232/was-macht-das-besondere-profil-und-die-identitaet-einer-ganztagsschule-aus/
Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts, nennt die Hauptargumente für die Ganztagsschule und beschreibt, wie diese gestaltet werden sollte. Er spricht zudem über den Mangel an einer konzeptionellen Debatte in Hinsicht auf die Ganz
[ "Bildung", "Zukunft Bildung", "Dossier Bildung", "Schule", "Erziehung", "Universität", "Studium", "Ausbildung", "Bildungspolitik", "Ganztagsschulen", "Deutschland" ]
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Im Wahllokal mit dem Uploadfilter abrechnen | euro|topics-Wahlmonitor | bpb.de
Interner Link: You can read the article in the English version here. Der Proteststurm kam prompt: Kurz nachdem die Eilmeldung zur Verabschiedung der Interner Link: Urheberrechtsreform durch das Europarlament auf den Smartphones aufpoppte, legten sich die Nutzer in den sozialen Netzwerken ins Zeug. Trauer über den Verlust von Internetfreiheit, Wut über die unterstellte Ignoranz der EU-Abgeordneten und Aufrufe zu weiterem Widerstand gegen Artikel 13 überboten sich Tweet um Tweet. Das Nischenthema Urheberrechtsreform bekam plötzlich ein riesiges Mobilisierungspotential. Zumindest in Deutschland brachte es am Wochenende vor der Abstimmung Zehntausende auf die Straße – und schon Wochen vorher hatten immer wieder Internetaktivisten dagegen demonstriert. Das Portal Externer Link: tagesschau.de kommentierte dies so: "Kurz vor der Europawahl vergrault die Mehrheit des Europäischen Parlaments eine überwiegend junge pro-europäische Wählergruppe." Für die Parteien der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD könnte die Zustimmung zur Urheberrechtsreform am Wahltag eine Rolle spielen. Auf Twitter breiteten sich Boykottaufrufe wie ein Lauffeuer aus, gespickt mit mit Hashtags wie #niewiedercdu oder #niemehrspd. Die deutsche Regierung hatte im Europäischen Rat ihre Zustimmung zu der Reform gegeben, obwohl sie sich im Koalitionsvertrag ursprünglich gegen Upload-Filter ausgesprochen hatte. Jungwähler abgeschreckt "Für viele Menschen, die jung sind oder zumindest erst jüngst politisiert, ist der Protest gegen diese Reform der erste Berührungspunkt mit Europapolitik. Und das kurz vor einer Wahl, die viele als wegweisend empfinden", Externer Link: schimpft Zeit Online und wirft den Politikern Arroganz und Ignoranz gegenüber dieser Wählergruppe vor. Nicht, dass sie deren Willen nicht umgesetzt hätten, sei problematisch, sondern dass sie sich mit den Argumenten der Protestierenden überhaupt nicht ernsthaft auseinandergesetzt hätten, so Zeit Online weiter. Das Portal Externer Link: Business Insider erwartet deshalb, dass gerade Jungwähler den großen Parteien am Wahltag einen Denkzettel verpassen: "Bei der Europawahl 2014 war die Wahlbeteiligung bei den 21- bis 24-Jährigen im Generationenvergleich am niedrigsten: Gerade einmal 35,3 Prozent gaben ihre Stimme ab. Bei der Wahl am 26. Mai könnte sich das ändern - aufgrund der Mobilisierung aus dem Netz." Auch in Polen regt sich Widerstand – aber anders In der Mehrheit der anderen EU-Länder löste die Entscheidung aus Straßburg weniger Wellen aus als in Deutschland. Am 23. März, dem Höhepunkt der Proteste, demonstrierten zwar europaweit Menschen für die Internetfreiheit und gegen Artikel 13. Doch erreichte die öffentliche Debatte in kaum einem anderen Land eine ähnliche Intensität. Ausnahmen sind Polen und Tschechien. In Polen wurde die Urheberrechtsreform zum Antiregierung-Thema – allerdings genau auf umgekehrte Weise wie in Deutschland. Am Tag vor der Abstimmung im Europaparlament erschienen rund 30 polnische Zeitungen mit weißer Titelseite und dem Aufruf an die Parlamentarier, der Reform zuzustimmen. Denn Polen war eines der Länder, das sich im Ministerrat gegen das neue Urheberrecht ausgesprochen hatte, gemeinsam mit Italien, Finnland, Luxemburg und den Niederlanden. Der Aufruf der Zeitungen war somit auch ein Protest gegen die Regierung. "Ein einfacher und nahezu freier Zugang zu Kulturgütern im Internet würde uns, ihre Schöpfer, dazu verurteilen, unsere Redaktionen zu schließen und den Beruf an den Nagel zu hängen", Externer Link: erklärt die Zeitung Rzeczpospolita ihre Zustimmung zur Reform. Neben Deutschland und Polen war die Debatte vor allem in Tschechien prominent. Die Piratenpartei, die seit 2017 im tschechischen Parlament vertreten ist, rief in einem Dutzend tschechischer Städte zu Demonstrationen am 23. März auf. In Tschechien, wie auch in Deutschland, der Slowakei und Dänemark, wurde Wikipedia aus Protest gegen Artikel 13 am 21. März für 24 Stunden abgeschaltet. Tschechische Piratenpartei an zweiter Stelle in Umfragen Tschechische Zeitungen sprachen sich in ihren Kommentaren allerdings mehrheitlich für die Reform aus. So versucht etwa die Tageszeitung Hospodářské noviny nach der Abstimmung im EU-Parlament, die Gemüter zu beruhigen: "Niemand wird das Internet ausknipsen oder zensieren. Es wird weiter funktionieren. Was jetzt legal ist, wird legal bleiben. Und für normale Nutzer wird sich nichts ändern." Ob die Tschechen sich damit zufriedengeben oder ob auch sie die Europawahl am 24. und 25. Mai als Termin für die Abrechnung nutzen, bleibt abzuwarten. In den aktuellen Umfragen liegt die Piratenpartei in Tschechien an zweiter Stelle, hinter der Regierungspartei ANO von Premier Andrej Babiš.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-04-11T00:00:00
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https://www.bpb.de/themen/europawahlen/et-wahlmonitor-2019/289295/im-wahllokal-mit-dem-uploadfilter-abrechnen/
Der Streit um die EU-Urheberrechtsreform hat in Deutschland eine Protestwelle in Gang gesetzt. Vor allem junge Internetnutzer wollen bei der Europawahl abrechnen und rufen zum Boykott von CDU/CSU und SPD auf. Auch in Tschechien treibt das Thema viele
[ "euro|topics", "Europawahl 2019", "Wahlkampf", "EU", "EU-Urheberrechtsreform" ]
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Editorial | Parlamentarismus | bpb.de
Was ist zu tun, damit sich Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen und Interessen in den Parlamenten besser vertreten fühlen? Im aktuellen öffentlichen Diskurs wird diese Grundfrage der demokratischen Repräsentation meist auf die derzeitige Konstellation im Deutschen Bundestag bezogen: Angesichts der numerisch übermächtigen Großen Koalition hat das Parlament bereits einige Änderungen der Geschäftsordnung zur Stärkung der Rechte und Handlungsoptionen der Opposition beschlossen. Doch genügt das? Es lohnt sich, die Instrumente der parlamentarischen "Minderheitsmacht" sowohl in nationaler als auch in internationaler Perspektive zu erörtern. Bereits die Große Koalition der 1960er Jahre hatte erwogen, solche ungleichen Kräfteverhältnisse mit einer Änderung des Wahlrechts in Richtung relativer Mehrheitswahl auszuhebeln. Wie wäre überdies dem grundsätzlichen Missstand der mittlerweile unübersehbaren Repräsentationslücke in Parlamenten zu begegnen? Hat die Idee eines Losverfahrens zur Bestimmung eines Teils der Abgeordneten eine Zukunft? Lässt sich das Dilemma der "Gegenwartspräferenz" mittels einer neuen Definition des Demos unter Einbeziehung zukünftiger Generationen und der Überwindung des klassischen Modells der Gewaltenteilung aufheben? Auf Ebene des Europäischen Parlaments stellt sich die Frage der Repräsentation noch dringlicher. Gemessen an der Beteiligung an den Wahlen im Mai 2014 scheinen sich die europäischen Wahlberechtigten mit ihren Anliegen und Interessen in Straßburg und Brüssel nicht besonders gut aufgehoben zu fühlen. Und dies, obwohl das Parlament kontinuierlichen Machtzuwachs erfahren hat und nunmehr faktisch und erstmals den Kommissionspräsidenten wählen durfte. Insofern ist Reformvorschlägen, die die Demokratisierung des Entscheidungssystems der Europäischen Union voran bringen, breite Resonanz zu wünschen.
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Barbara Kamutzki
2021-12-07T00:00:00
2014-09-09T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/191186/editorial/
[ "Parlamentarismus", "demokratische Repräsentation", "Bundestag", "Deutschland" ]
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Politik-Lernen mit digitalen Spielen | Medienkompetenz | bpb.de
Planspiele, Kartenspiele, Brettspiele – spielerische Lernformen gehören längst zum didaktischen Instrumentarium von Lehrkräften in der politischen Bildung (Scholz 2003). Insofern wundert es nicht, dass in jüngster Zeit auch nach dem Lernpotenzial digitaler Spiele gefragt wird, die zum einen bei Kindern und Jugendlichen hoch im Kurs stehen (MPFS 2016) und zum anderen didaktisch nutzbare Eigenschaften aufweisen (Breuer 2010). Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem Einsatz digitaler Spiele als Lernmedium in der politischen Bildung. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, welche Chancen das Lernen mit digitalen Spielen für den Erwerb von Politikkompetenz nach Detjen u. a. (2012) bietet. Darüber hinaus werden Grenzen und Herausforderungen des Ansatzes beleuchtet. Interner Link: PDF zum Download Das Computerspiel als Lernmedium Die Verwendung digitaler Spiele in Bildungskontexten bezeichnet Prensky (2007) als digitales, spielbasiertes Lernen. Der Leitgedanke des Konzeptes ist die Vermischung von Spiel- und Lerninhalten. Eine solche Vermischung liegt vor, wenn ein Erfolg im Spiel mit einem Lernerfolg gleichgesetzt werden kann. Wie er zeigt (ebd.: 156), lassen sich Lerninhalte in bekannte Spielmuster einbetten, sodass Lernaktivitäten im spielerischen Kontext ausgeführt werden können (z. B. Memorisierung im Quiz-Spiel, komplexes Denken im Simulationsspiel, räumliches Denken im Puzzle-Spiel etc.). Dass digitale Spiele grundsätzlich wirkungsvolle Lernumgebungen konstituieren können, ist eine recht verbreitete Auffassung: Breuer sieht etwa "Vorteile digitaler Spiele für Lernszenarien unterschiedlichster Art" (Breuer 2010: 16), Michael und Chen loben, dass digitale Spiele ein "flexibles, nicht-lineares und schülerzentriertes Lernen ermöglichen" (Michael/Chen 2006: 142; Übersetzung des Autors) und Charsky (2010) weist auf die Potenziale digitaler Spiele für die Gestaltung konstruktivistischer Lernarrangements hin. Es gibt jedoch auch kritische Stimmen, die sich z. B. gegen eine Verzweckung des Spieles wenden (Spies 1976), die Vereinbarkeit von Spielen und Lernen bezweifeln (Ohler/Nieding 2000) oder die spielbasierte Aufbereitung ernsthafter Themen kritisieren (Bender 2012: 9 ff.). Nichtsdestotrotz können digitale Lernspiele den nachhaltigen Erwerb von Wissen ermöglichen, wie unter anderem die Meta-Analyse von Wouters u. a. (2013) zeigt. Die Förderung von Politikkompetenz mittels digitaler Lernspiele Zu Themen des Politikunterrichts liegen zahlreiche Computerspiele vor. So können Lernende in DerKanzlersimulator eine Legislaturperiode als Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler nachspielen oder in Democracy 3 Lösungsansätze für komplexe politische Probleme erarbeiten. Gleichwohl besteht ein Mangel an Publikationen, die sich der Frage widmen, inwiefern derartige Computerspiele zur Förderung von Politikkompetenz nach Detjen u. a. (2012) beitragen könnten. Eine detaillierte Analyse einzelner Computerspiele ist in diesem Beitrag nicht möglich, es können jedoch die grundsätzlichen Potenziale digitaler Spiele für die Förderung von Politikkompetenz aufgezeigt werden: Fachwissen: Manzel (2008: 53) plädiert dafür, kontextgebundene Lernumgebungen, die eine aktive Auseinandersetzung mit authentischen Problemen ermöglichen, in der politischen Bildung zu realisieren, um den Erwerb zusammenhanglosen Wissens zu vermeiden (situierte Kognition, ebd.: 26 ff.). Computerspiele könnten derartige Bestrebungen unterstützen (Charsky 2010), denn sie versetzen die Spielenden z. B. oftmals in einflussreiche, realweltlich inspirierte Rollen, in denen eine Problemlage zu bewältigen ist (z. B. in Energetika 2010 zur Energiepolitik). Die Entwicklung von Problemlösestrategien während des Spielprozesses kann zu einer intensiven Auseinandersetzung mit politischen Abläufen und Zusammenhängen führen und dürfte grundsätzlich den Erwerb deklarativ-konzeptuellen Wissens begünstigen (Motyka/Lipowsky 2016). Durch den geschickten Einsatz von Interaktivität und Multimedialität können digitale Spiele den Wissenserwerb zusätzlich fördern. So besteht die Möglichkeit, visuelle und auditive Informationen gleichzeitig darzubieten. Nach der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens nach Mayer (2005) kann dies unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Entlastung des Arbeitsgedächtnisses führen. Allerdings lassen sich die Inhalte der meisten derzeit verfügbaren Computerspiele für das Fach Politik nicht unmittelbar auf das Kompetenzmodell Fachwissen von Weißeno u. a. (2010) beziehen.Politische Urteilsfähigkeit: Digitale Spiele wie Democracy 3 oder Genius – Im Zentrum der Macht konfrontieren die Lernenden mit der Komplexität politischer Sachlagen. Unterschiedliche Perspektiven, Interessen und Zusammenhänge müssen bei der Planung von Spielzügen berücksichtigt werden. Dieser Umstand kann prinzipiell zur Förderung der politischen Urteilsfähigkeit genutzt werden. Im Spielverlauf von Democracy 3 fällen die Spielenden immer wieder Urteile unterschiedlicher Art (z. B. Feststellungsurteile: "41 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben für meine Partei gestimmt."). Die Auswirkungen von Entscheidungen, die auf der Grundlage solcher Urteile getroffen werden, können Lernende in der virtuellen Spielwelt direkt beobachten (Boeser u. a. 2012: 15), was Reflexionsprozesse anstoßen dürfte. Insgesamt erscheint daher die Erwartung angemessen, die Urteilsfähigkeit mithilfe geeigneter Computerspiele fördern zu können. Abb. 1: Ausschnitt des Spielbildschirmes "Koalitionsdebatte" im digitalen Lernspiel Der Kanzlersimulator Politische Handlungsfähigkeit. Zur politischen Handlungsfähigkeit gehören die Teilfähigkeiten Artikulieren, Argumentieren, Entscheiden und Verhandeln (Detjen u. a. 2012: 81). Prinzipiell ist eine Förderung dieser Facetten im Rahmen digitaler, spielbasierter Lernumgebungen denkbar, denn in einigen virtuellen Spielwelten können Lernende simulativ an demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen teilnehmen. Ein Beispiel hierfür ist das Online-Planspiel EU-Asylpolitik, in dem die Spielenden in der Rolle von EU-Politikerinnen und -Politikern den Text für eine EU-Verordnung erarbeiten und ihre Ideen im Rahmen einer Chat-Funktion diskutieren. Im digitalen Lernspiel DerKanzlersimulator müssen die Spielenden oftmals Kompromisse eingehen, um Mehrheiten für politische Entscheidungen zu erlangen, was im Sinne der politischen Handlungsfähigkeit wünschenswert erscheint (vgl. Abb. 1).Politische Einstellung und Motivation: Wie Rigby und Ryan (2011) darlegen, können digitale Spiele prinzipiell die psychologischen Grundbedürfnisse von Menschen (das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit) befriedigen und damit zu einer Förderung der intrinsischen Motivation beitragen. So sorgen viele digitale Spiele für ein Kompetenzerleben, indem sie die Spielschwierigkeit dynamisch an die Fähigkeit der Spielenden anpassen, Punkte für erfolgreiche Spielleistungen verteilen oder Feedback geben (ebd.). Eine hohe intrinsische Motivation kann nicht nur die Lernleistung von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen (Deci/Ryan 1993), sondern dürfte grundsätzlich auch das Interesse an Politik oder dem Politikunterricht bestärken. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass digitale Spiele auch Einstellungen beeinflussen können (Bogost 2007), die Befundlage hierzu ist allerdings dünn (Motyka 2012). Möglicherweise ist es aber beispielsweise möglich, das interne politische Effektivitätsgefühl mit Hilfe von Computerlernspielen wie Der Kanzlersimulator oder Genius – Im Zentrum der Macht zu erhöhen, da die Lernenden dort politische Abläufe und Zusammenhänge kennenlernen und eventuell in der Überzeugung bestärkt werden, ihre eigenen Interessen wirksam in die Politik der realen Welt einbringen zu können. Vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen ist davon auszugehen, dass digitale Lernspiele unter bestimmten Voraussetzungen zum Aufbau von Politikkompetenz nach Detjen u. a. (2012) beitragen können. Selbstverständlich dürfte eine Kompetenzförderung auch mit nichtdigitalen Spielformen gelingen (Oberle/Leunig 2017), die spezifischen Eigenschaften des Mediums Computerspiel eröffnen aber besondere Instruktionspotenziale, da die elektronische Spielleitung jederzeit individuelle Erklärungen, Visualisierungen oder Rückmeldungen anbieten und äußerst komplexe Spielwelten mit zahlreichen Variablen steuern kann. Es erscheint erstrebenswert, die entsprechenden Annahmen im Rahmen experimenteller Studien zu überprüfen. Empirische Befunde Empirische Forschungsarbeiten zum digitalen, spielbasierten Lernen, welche explizit die genannten Kompetenzfacetten untersuchen, liegen nach dem Kenntnisstand des Autors nicht vor, sodass Lehrkräfte den Einsatz digitaler Spiele im Fach Politik derzeit empirisch nicht hinreichend begründen können. Immerhin existieren zwei Arbeiten, die kognitive und affektiv-motivationale Zielvariablen beim digitalen, spielbasierten Lernen zu Themen des Politikunterrichts in den Blick nehmen. Eine experimentelle Studie von Motyka (in Vorbereitung) mit N = 179 Probanden zeigt, dass Neuntklässler nach der Verwendung des Computerspiels Food Force einen vergleichbaren Wissenszuwachs zur Nahrungsmittelhilfe des Welternährungsprogramms aufweisen wie Lernende, die mit einem traditionellen Papiertext gelernt hatten. In einer Follow-Up-Messung nach zehn Wochen erweist sich das Wissen der Computerspieler als stabiler. Die PC-Spiel-Gruppe profitiert überdies von einer höheren Motivation, die bereits vor Beginn der Spielphase festgestellt werden kann (ebd.). Yang (2012) ließ N = 44 taiwanesische Neuntklässler im Fach Civics and Society über 23 Wochen hinweg entweder in einer Computerspiel-Klasse oder einer traditionell unterrichtete Klasse zu Themen wie Städtebau und Umweltschutz arbeiten. In einem Test zur Problemlösefähigkeit schnitt die PC-Spiel-Gruppe zwar besser ab als die traditionell unterrichtete Gruppe, hinsichtlich des Faktenwissens konnten jedoch keine signifikanten Gruppenunterschiede gefunden werden. Das Lernen mit Computerspielen motivierte die Probanden auch in dieser Studie stärker (ebd.). Herausforderungen für die Praxis Trotz aller Potenziale ist das Politik-Lernen mit PC-Spielen derzeit ein Kraftakt für Lehrkräfte. Erste Schwierigkeiten zeigen sich bei der Spielauswahl, denn das derzeitige Angebot an digitalen Spielen mit politischen Inhalten umfasst zahlreiche Computerspiele, die eher im Bereich der Lebenshilfe oder des sozialen Lernens anzusiedeln sind. Eine fachdidaktische Herausforderung besteht also in der Suche nach Computerspielen, die eine Beschäftigung mit Politik im engeren Sinne (Sutor 1992) ermöglichen. Nach Garris u. a. (2002) sollten Lernende im digitalen, spielbasierten Lernen außerdem instruktionale Unterstützung erhalten. Lehrkräften kommt also auch die Aufgabe zu, eine angemessene didaktische Rahmung des Spielerlebnisses zu konzipieren. Eine zentrale Maßnahme ist hierbei die Durchführung einer Debriefing-Phase. Das Debriefing dient dazu, die Spielerfahrung systematisch zu reflektieren und die gewonnenen Erkenntnisse auf das behandelte Unterrichtsthema zu beziehen. Während des Debriefings können die Lernenden Spielstrategien miteinander vergleichen, Unterschiede zwischen der virtuellen und der realen Welt herausarbeiten oder eine kritische Betrachtung des verwendeten Computerspiels vornehmen (ebd., Motyka/Lipowsky 2016). Da Computerspiele die reale Welt vereinfacht darstellen, aufgrund dieser Vereinfachungen ideologisch geprägt sind und die Funktionsweise der virtuellen Spielwelt nicht direkt einsehbar ist (Peitz 2000: 148 ff.), erscheint die Planung einer Debriefing-Phase insbesondere vor dem Hintergrund des Kontroversitätsgebotes und des Überwältigungsverbotes (Wehling 2004) als notwendig. Lehrpersonen können hierfür allerdings meist nicht auf Informationsmaterialien und Unterrichtsvorschläge zurückgreifen, was zu einem enormen Vorbereitungsaufwand führen kann. Zu überlegen ist auch, wie man mit Lernenden ohne Spielerfahrung umgeht und welche alternativen Lernwege für Lernende in Frage kommen, die nicht spielen möchten. Zu weiteren Herausforderungen zählen eine hohe Skepsis seitens der Lehrkräfte, fehlende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, mangelhafte Computeranlagen in den Schulen und ein defizitäres Angebot an hochwertigen Computerlernspielen (Kröger/Breuer 2011: 129). Die Beschäftigung mit dem digitalen, spielbasierten Lernen im Politikunterricht erscheint trotz allem lohnenswert, denn der Einsatz digitaler Spiele kann vermutlich nicht nur zum Politik-Lernen beitragen, sondern auch Lerngelegenheiten im Bereich der Medienkompetenz-Förderung mit sich bringen. Derartige Unterrichtsszenarien bereiten Lernende auf das Leben in einer Gesellschaft vor, in der digitale Spiele mit politischen Inhalten längst zu Ausbildungs-, Unterhaltungs- und Werbezwecken genutzt werden (Michael/Chen 2006). Literatur Bender, Steffen (2012): Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld. Boeser, Christian/Kharboutli, Fares/Wenzel, Florian (2012): Politik lernen mit Videospielen. Praxis-Handreichung zur "Genius"-Spielenacht, Externer Link: http://www.politische-bildung-bayern.net/images/Dokumente/Handreichung_Genius_spielenacht.pdf (Stand: 10.01.2017). Bogost, Ian (2007): Persuasive games. The expressive power of videogames, Cambridge, MA. Breuer, Johannes (2010): Spielend lernen? Eine Bestandsaufnahme zum (Digital) Game-Based Learning, Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), Externer Link: http://www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Publikationen-Download/Doku41-Spielend-Lernen.pdf (Stand: 10.01.2017). 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Article
Marc Motyka
2022-03-29T00:00:00
2017-10-09T00:00:00
2022-03-29T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/medienkompetenz-schriftenreihe/257622/politik-lernen-mit-digitalen-spielen/
Zahlreiche Computerspiele lassen sich auf die Themen des Politikunterrichts beziehen oder behandeln diese unmittelbar. Diese Materialvielfalt wirft die Frage auf, inwiefern digitale Spiele das Politik-Lernen nachhaltig unterstützen können. Anhand von
[ "Poltikunterricht", "Computerspiele", "Digitale Spiele", "Medienkompetenz" ]
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Es müsste zwischen Politik und politischer Bildung mal wieder richtig krachen... | Presse | bpb.de
Länge: Herr Krüger, nach der Bundestagswahl 2002 war in der Presse mehrfach zu lesen, Sie seien der neue Favorit für das Amt des Bundeskulturministers. Hätte Sie diese Aufgabe gereizt? Krüger: Na ja, wenn es eine neue Aufgabe gibt, muss man immer sehr genau abwägen, aber die Frage hat sich konkret gar nicht gestellt. Und außerdem bin ich mit meiner Tätigkeit hier in der Bundeszentrale für politische Bildung sehr zufrieden, weil es sich im Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten um eine ausgesprochen vielseitige und spannende Aufgabe handelt. Länge: Die Frage hat natürlich einen Hintergrund: Das Thema Kultur liegt Ihnen ja. Sie haben sich in der politischen Bildung von Anfang an dafür eingesetzt, dass die Verbindung von Kultur und Politik in den Vordergrund gerückt wird. Krüger: Ja, ich habe seit vielen Jahren die Bereiche Kultur- und Medienpolitik mitgestaltet. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass es bei den Pressemeldungen nicht einfach um eine Seifenblase, sondern bis in die Zielgerade hinein um eine ernsthafte Option ging. Na ja, es muss ja nicht schlecht sein, wenn man einmal unter Kompetenzgesichtspunkten gesagt bekommt, bei welchen Aufgaben die eigene Person zählt. Es war auch sicherlich für die bpb nicht schlecht, denn es signalisierte, dass der Umstrukturierungs-Prozess der letzten zwei Jahre erfolgreich war und als solches auch wahrgenommen worden ist. Das Thema Kultur und politische Bildung ist von mir mit der Gründung einer Projektgruppe in Angriff genommen worden, die wir dann zu einem eigenen Fachbereich Kulturelle Medien weiter entwickelt haben. Diese Arbeit ist wichtig, weil sie uns neue Zielgruppen erschließt. Für die Gewinnung neuer Zielgruppen braucht man Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, und kulturell interessierte Menschen sind meist Multiplikatoren in Sachen Demokratie. Politische Bildung, die neben Informationsweitergabe auch Aktivierungsmodul sein will und auf Empowerment-Strategien zielt, hat hier, wie unsere Erfahrungen zeigen, gute Anknüpfungsmöglichkeiten - übrigens nicht nur bei jungen Leuten! Die aktuelle politische Agenda Länge: Nun stehen ja einige Herausforderungen auf der Tagesordnung der deutschen Politik. Oft wird ein Reformstau beschworen, der jetzt - endlich - aufzulösen sei. Natürlich gibt es einiges zu tun, so hat der Umbau des Sozialstaats besondere Priorität. Wird da politische Bildung mitgedacht und einbezogen, wenn etwa die Hartz-Kommission in ihrem Modul Nr. 13 die große Koalition der gesellschaftlichen Multiplikatoren fordert, um die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen? Krüger: Wenn es um den gesellschaftlichen Konsens geht, kann und wird politische Bildung nicht abseits stehen. Sie muss aber genau so deutlich betonen, dass sie kein Administrationsorgan einer Exekutive oder Legislative ist. Politische Bildungsarbeit ist überparteilich und staatsfern konzipiert. Politische Lernprozesse, die wir anstoßen, dürfen sich zu keiner Zeit dem Verdacht aussetzen, dass sie sich einem bestimmten politischen Projekt widmen. Es ist wichtig, dass man die gesamte Palette der Positionen berücksichtigt. Denn nur so bekommt politische Bildung gesellschaftliche Legitimation - eine Legitimation, die eben rasch verspielt werden kann. Deshalb bin ich skeptisch, wenn es um Kommissionen geht wie oben angesprochen. Dies bedeutet natürlich keine Distanz zu den inhaltlichen Herausforderungen: Umbau der Sozialversicherungssysteme, Zukunft der Arbeit, Zukunft der Wirtschaft - das sind Themen, mit denen wir uns in der bpb intensiv und konsequent befassen, ob das jetzt unsere Bücher und Zeitschriften, unsere Online- und Interaktions-Module oder unsere kulturellen Medien betrifft. Länge: Eine besondere Aufgabe, die die Weiterbildung allgemein und damit auch die politische Bildung betrifft, stellt sich bei der Zuwanderung. Hier gibt es wichtigen Regelungsbedarf, und die Entwicklung ist noch offen. Krüger: Wir haben in der bpb schon früh eine Projektgruppe Migration ins Leben gerufen, die zu dem Thema arbeitet. Dies hat einen institutionellen Hintergrund. Die Bundeszentrale für politische Bildung war traditioneller Weise, nämlich von ihrem Erlass her, in ihrer Arbeit auf "das deutsche Volk" orientiert. Und dies wurde im Jahr 2001 geändert. Jetzt sind wir für die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ohne Einschränkung zuständig. Die Änderung des Erlasses gilt es, mit Leben zu erfüllen. Das heißt, dass wir Migranten und Migrantinnen nicht nur als Zielgruppe der politischen Bildung, sondern auch als Träger von Bildungsarbeit in den Blick nehmen. Diejenigen, die dort aktiv sind, sollen auch die Chance erhalten, als anerkannte Träger der politischen Bildung tätig zu werden. Genau so wichtig ist es, dass die Mehrheitsgesellschaft mit dieser Thematik befasst wird, weil Migration einiges an Konfliktpotential mit sich bringt. Sich in dieser Frage auf demokratische Grundwerte zu verständigen und den aktuellen Handlungsbedarf aufzugreifen, das bedarf einer Unterstützung. Wir haben zum Beispiel von der bpb-Projektgruppe Migration aus Nachdruck auf ein wichtiges Thema gelegt, nämlich das der interkulturellen Öffnung von Verwaltung. Verwaltungen kannten ja lange Zeit auch nur eine Zielgruppe: das deutsche Volk. Hier kann und muss die politische Bildung eine Menge tun. Wir haben dazu Materialien und Vorschläge erarbeitet. Wir machen zum Beispiel zielgruppenrelevante Qualifizierungen im Blick auf das Thema Islam. Da gibt es einen großen Bedarf, denn es ist ein Thema, das zu kurz gekommen ist und bei dem wir jetzt nachlegen müs-sen. Es ist ein Skandal, dass der Islam in den schulischen Curricula ein Schattendasein führt, obwohl wir seit Jahren wissen, dass in großem Umfang Zuwanderung aus der islamischen Welt stattfindet. Aber die Arbeitshilfen für Lehrer und Lehrerinnen fehlten bisher. Länge: Mit der Änderung des Erlasses ist auch die notwendige Änderung des nationalstaatlichen Blickwinkels angesprochen, wenn wir etwa an die Stichworte Europäisierung und Globalisierung denken. Jutta Limbach schreibt in der neuen Beilage zum Parlament, "Aus Politik und Zeitgeschichte" (B 45/2002), die sich mit den Aufgaben der politischen Bildung befasst, die Bürger und Bürgerinnen in Europa würden noch zu sehr in nationalen Kategorien denken. Hier sei eine grundsätzliche Umorientierung nötig. Gilt dieser Nachholbedarf auch für die politische Bildung? Krüger: Wir haben uns um diese Umorientierung in den letzten zwei Jahren ganz deutlich bemüht, und nach meinem Eindruck ist auch in der Bevölkerung spürbar, dass bei einzelnen Gruppen einiges in Gang gekommen ist - zum Beispiel bei der jungen Generation, die das Internet nutzt, auf Mobilität setzt und für Globalisierung aufgeschlossen ist. Hier hat sich viel geändert, im jugendkulturellen Bereich wird länderübergreifend gedacht. Je stärker man jedoch in gefestigte institutionelle Strukturen hineinschaut, desto eher würde ich Jutta Limbachs These zustimmen. Dieser Befund trifft wohl noch die Normalsituation. Die Trends in der Jugendkultur sind ermutigend, und darauf muss man in der politischen Bildung setzen. Wir haben unser Programm - sowohl was die Bücher und Zeitschriften als auch die Veranstaltungen und unsere Online-Angebote betrifft - dementsprechend umgestellt. Neben Europa und der damit verbundenen Institutionenkunde sind es vor allem die Themen Globalisierung und der Islam, die zur Zeit stark nachgefragt werden. Wir haben gerade eine Bestsellerliste unserer Publikationen erstellt, mit dem Ergebnis, dass weit vorne Bücher zum Themenfeld Islam rangieren, danach folgt die Erweiterung der Europäischen Union, fremde Kulturen und Afrika. Das Afrika-Lexikon zum Beispiel, das wir gemeinsam mit einem Verlag produziert haben, war innerhalb kurzer Zeit vergriffen. Politische Bildung muss im Blick auf die europäische Debatte einerseits zeigen, was sie leisten kann. Die Vertiefung, die Erweiterung der Union, der Konvent - das sind genuine Bildungsthemen. Andererseits muss noch einiges dafür getan werden, dass politische Bildung auf europäischer Ebene, in den ent-sprechenden Beschlüssen und Resolutionen, mitgedacht und einbezogen wird. Hier führte der Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip bisher zu einiger Zurückhaltung, was auch mit den heterogenen Bildungsstrukturen und Traditionen in Europa zusammenhängt. An einigen Stellen hat sich etwas getan, das natürlich noch ausgebaut werden muss. Ist politische Bildung noch gefragt? Länge: Der Zuspruch, den Bildung heute erfährt, richtet sich besonders auf die ökonomische Verwertbarkeit. Qualifizierung steht im Vordergrund. Von diesem Gesamttrend aus gesehen gerät politische Bildungsarbeit leicht ins Abseits. So beobachten wir, dass sich in diesem Sinne der Zuschnitt der für politische Bildung zuständigen Ministerien ändert - Beispiele sind etwa Nordrhein-Westfalen oder Mecklenburg-Vorpommern. Krüger: Dieser Trend dürfte seinen Grund im Paradigma der Wissensgesellschaft haben. Wenn Wissen selbst zur Produktivkraft wird, greift eine neue Bewertung der Prozesse zur Aneignung von Bildung und Wissen. Allerdings wäre es fatal, wenn jetzt eine Verengung auf berufliche Bildung, auf unmittelbar verwertbare Qualifikation stattfände. Gerade die sogenannten weichen Bereiche der kulturellen, der ökologischen oder eben der politischen Bildung sind mit in den Blick zu nehmen. Die Gefahr einer reinen Ökonomisierung, die solche Fragen ausschließt, besteht meines Erachtens derzeit nicht. Doch müssen wir uns auch in Zukunft für ein breites Bildungsverständnis stark machen, sonst können wir unserem Auftrag nicht gerecht werden. Länge: Wenn man in diesem Sinne Lobbyarbeit für die politische Bildung zu machen versucht, hat man immer wieder den Eindruck, dass dem nicht viel Erfolg beschieden ist. Der Trend ‘Raus aus der politischen Bildung´ scheint seit Jahren dominant zu sein. Krüger: Diesen Trend muss man leider konstatieren - schon seit 10 bis 15 Jahren. Ich mache allerdings die Erfahrung, dass der Trend umkehrbar ist. Mit der wachsenden Wahrnehmung politischer Bildung als Erfolgsgeschichte tut sich hier einiges. Es ist eine Frage der medialen Aufstellung. Uns geht es darum, Formen der medialen Präsentation zu finden, die Interesse wecken, die deutlich machen, dass es sich lohnt, in politische Bildung zu investieren und dass es sich dabei um eine Investition in die eigene Zukunft eines jeden Menschen handelt. Als Bundesinstitution hat die bpb hier eine besondere Verantwortung für die gesamte Landschaft der politischen Bildung und auch ganz andere Möglichkeiten als ein kleiner Bildungsträger. Jeder muss jedoch seinen Beitrag zur Neupositionierung der politischen Bildung leisten. Länge: Das ist ja aufgefallen, dass nach der Struktur- und Organisationsreform der Bundeszentrale für politische Bildung neue Signale ausgesandt wurden - in Richtung Politik und in Richtung Bevölkerung. Gut, dass Sie auch den Beitrag der Träger erwähnen. Wir wollen hier gerne mittun, ein verbessertes Image deutlich werden zu lassen. Kommt dieses Image denn in der Politik an? Bewirkt es dort etwas? Krüger: Ich glaube schon. Bei den Bundestagsabgeordneten, die im Kuratorium der bpb vertreten sind, war und ist ein entsprechendes Engagement spürbar. Der Auftrag zum Evaluationsprozess der bpb hat auch das Interesse an einer Modernisierung dokumentiert. Meine Erfahrung in den letzten beiden Jahren ist, dass mit jedem Modernisierungsschritt - sei es die Erschließung neuer Zielgruppen, sei es die Etablierung neuer Themen oder aktueller Bezüge - die Politik diesen Prozess unterstützt und dankbar aufgreift. Und wir kommen auch wieder in Debatten des Deutschen Bundestages vor. Gewiss, es gibt auch gegenüber der politischen Bildungsarbeit Vorurteile. Dann heißt es etwa, dass ein Seminarbetrieb seit Jahren schematisch ablaufen würde etc. Dagegen muss man etwas setzen, und das kann man in der heutigen Mediengesellschaft, indem man stärker mit den Massenmedien kooperiert. Dadurch lassen sich auch die Zugangsschwellen senken. Bisher haben wir es in der politischen Bildung mit einer bildungsbereiten und -gewohnten Gruppe zu tun, die einer großen bildungsfernen Bevölkerungsgruppe gegenübersteht. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Es gibt Angebote, mit denen man auch bildungsferne Menschen erreichen kann. Da kommen die Massenmedien, speziell das Fernsehen, ins Spiel. Wir haben zum Beispiel Kooperationen, gerade auch mit privaten Fernsehsendern, an den Start gebracht, denn es existiert durchaus eine Interesse, eine solche Zusammenarbeit zu nutzen. Dabei geht es nicht um die Fördergelder, die vergleichsweise bescheiden sind. Nein, die Verantwortlichen in den Massenmedien merken, dass wir uns auf dem Weg in die Wissensgesellschaft befinden und dass in Zukunft andere Formate gefragt sind. Die Sender bemerken, dass selbst die Inhalte, die in Unterhaltungsformaten geboten werden, eine Nachfrage nach ergänzenden Informationen auslösen können, worauf dann verstärkt mit begleitenden Materialien oder Internet-Angeboten reagiert wird. Die Sender werden damit so etwas wie Veranstaltungsagenturen. Umgekehrt könnte ich mir vorstellen, dass wir in Zukunft mit einer Art "bpb-TV" oder "Politische Bildung TV" antworten, was heute noch wie eine Vision klingen mag... Medien, Wahlen und Wahlkampf Länge: Im Wahlkampf 2002 hat das ja anscheinend schon funktioniert. Der Wahl-o-mat der bpb im Internet hat Zuspruch gefunden, auch die anderen Aktionen im Rahmen von die WAHL GANG sind auf Resonanz gestoßen... Zudem ist mit der Aktion bpb: tour 2002 zum 50. Jubiläum der Bundeszentrale für politische Bildung einiges in Bewegung gekommen. Krüger: Gerade die letztgenannte Aktion, vor Ort Gesicht zu zeigen, war für uns eine Herausforderung, denn wir sind als Institution auf Bundesebene angesiedelt und haben keine Verankerung in den Regionen, wo die Landeszentralen für politische Bildung agieren. Der Entscheidung lag eine klare strategische Überlegung zu Grunde: Man kann nicht bundesweite Angebote konzipieren und generieren, ohne zu wissen, wie sie lokal rezipiert werden. Man muss sich auch vor Ort der Diskussion stellen und ansprechbar sein. Politische Bildung muss so etwas kommunikativ umsetzen, um zukunftsfähig zu sein. Länge: Vielleicht wäre das besser gelungen, wenn man die Träger früher und stärker einbezogen hätte. Krüger: Leider hatten wir vergleichsweise wenig Vorbereitungszeit für das Vorhaben. Aber wir haben viele Erfahrungen gesammelt, wie wir es in Zukunft noch besser machen können. Wichtig ist uns, dass unsere Kooperationspartner vor Ort mit einbezogen werden und Synergien wirken können. Wie sich das dann im Einzelnen gestaltet, hängt von den örtlichen Bedingungen ab. Mal ist es ein Träger der politischen Bildung, mal ein Lehrer oder eine Lehrerin als Stammkunden der politischen Bildung, die die Angebote der bpb konsequent nutzen, mal ist es eine Landeszentrale für politische Bildung. Solche Akteure auf der lokalen Ebene müssen eingebunden werden. Hier liegt die Zukunft des Moduls bpb: tour 2002: Man muss in strategischen Allianzen vor Ort agieren. Die Aktion Wahl-o-mat kam durch die Kooperation mit einem niederländischen Institut zustande. Das niederländische Modell haben wir dann weiterentwickelt und an das hiesige System angepasst. Der Clou daran ist, dass man auf spielerische Weise etwas organisiert, was Menschen zu einem politischen Thema führt. Das ist politische Bildung par excellence: etwas zu erfinden, zu konstruieren, das Menschen in Teilhabeprozesse verstrickt. Gerade bei jungen Erwachsenen hat das Angebot wie ein Lauffeuer gewirkt. Wir hatten, alles in allem, auf der Website der bpb und den angeschlossenen Seiten 3,1 Millionen Zugriffe zu verzeichnen, und zwar in der Form, dass der Wahl-o-mat konsequent durchgespielt wurde. Die bloßen Zugriffe lagen bei fast 20 Millionen. In der Auswertung, die von FORSA gemacht wurde, hat sich bestätigt, dass dies ein sensationelles Modul im Kontext des Projekts die WAHL GANG war. Dies gilt besonders für die Zielgruppe der Erstwählerinnen und Erstwähler, die schwer zu erreichen ist. Etwa 20 Prozent aus dieser Zielgruppe scheinen nach der Auswertung erreicht worden zu sein. Es gab zwar keine Steigerung der Wahlbeteiligung im Wahlkreis 084 (Friedrichshain-Kreuzberg), aber es gab im Unterschied zum allgemeinen Trend einen weit geringeren Rückgang der Wahlbeteiligung. Die Beteiligung der Erstwähler und Erstwählerinnen konnte weitgehend stabil gehalten werden. Das ist im Hinblick auf die allgemeine Situation bei der Bundestagswahl 2002 und auf die besondere Berlin-Problematik schon bemerkenswert. Politik und politische Bildung Länge: Jetzt sind natürlich viele, die gewählt haben, enttäuscht durch das, was sie erleben - und das lässt die Bildungsszene nicht unberührt. Es gibt ja eine Korrespondenz zwischen Politik und politischer Bildung. Wenn die Politik ein schlechtes Image hat, trifft das auch die Bildungsarbeit. Vielleicht kann man von kommunizierenden Röhren sprechen. Die Erwartungen an die politische Bildung sind oft dann besonders groß, wenn das Image der Politik am schlechtesten ist. Auch die Kommunikation zwischen Politik und politischer Bildung lässt ja stark zu wünschen übrig. Was ist da zu tun? Krüger: Politische Bildung muss sich von der Politik emanzipieren. Das ist die einzige Chance, um nicht bei jeder Konjunkturschwäche der Politik selbst mit haftbar gemacht zu werden. Länge: Aber beide sind doch nun einmal auf dasselbe politische Feld verwiesen. Krüger: Gegebenheiten festlegen lassen. Sie muss darüber hinaus gehen und sich daran orientieren, was in der Zivilgesellschaft, bei NGOs, bei Initiativen und Netzwerken geschieht. Politische Bildung ist eben kein Legitimationsorgan für den stattfindenden Politikbetrieb. Positiv gesagt: Es geht darum, Demokratie und Teilhabe zu stärken - nicht gegen Parteien und Institutionen, sondern über sie hinaus. Wer heute politische Mitwirkung fördern will, kann doch wahrlich nicht damit anfangen, Jugendliche oder Erwachsene zum Parteieintritt aufzufordern. Es geht vielmehr darum, über politisch relevante Themen Interesse herzustellen oder anzuknüpfen an bereits artikulierten Interessen mit spezifischen Angeboten. Politische Bildung ist Partner für die Allianzen, die sich neben dem Politikbetrieb ergeben. Für die Zukunft der politischen Bildung ist es essentiell, eine solche Abkoppelung vorzunehmen. Länge: Hält das die Politik aus? Krüger: Ich stelle mir vor, dass es einmal wieder richtig krachen müsste zwischen der politischen Bildung und dem Politikbetrieb - nicht in dem Sinne, dass der politischen Bildung Parteinahme für die eine oder andere Richtung vorgeworfen wird, sondern dass an die wunden Punkte der Verfasstheit des Politikbetriebs gerührt, neues Terrain thematisiert und erschlossen wird. Das stellt die Politik auf der einen Seite in Frage, auf der anderen Seite ist es die Vitaminspritze, die der Betrieb braucht, um zukunftsfähig zu bleiben. Wir brauchen mehr Teilhabe und mehr Legitimität des Politischen. Und die Legitimität erhält man nicht, wenn man die Leute nur an die Wahlurne treten lässt. Länge: Was vermag aber die Politik derzeit? Wir müssen ja heute konstatieren, dass sich viele Fragen der politischen Steuerung entzogen haben, dass Entscheidungsprozesse - Beispiel Hartz-Kommission - ausgelagert werden. Kann da ein konfrontativer Kurs der politischen Bildung weiterhelfen? Kommen wir so aus dem Konkurrenzverhältnis heraus? Krüger: Aber gerade die erwähnten Kommissionen, die medial inszeniert werden, lösen ja in der Bevölkerung Diskussionen und - vielleicht nicht mehrheitlich, aber in relevantem Umfang - Teilhabebedürfnisse aus. Das ist ja gerade eine produktive Form, solche Teilhabebedürfnisse zu organisieren, ihnen ein Forum anzubieten. Politische Bildung muss sich als ein solches Forum verstehen, und die mediale Inszenierung kann hier hilfreich sein. Wir haben dazu die Internet-Plattform www.wahlthemen.de gemacht, um Debatten aufzugreifen und tiefer gehende Informationen bereitzustellen, eben das zu leisten, was Zeitungen oder Fernsehen nicht leisten können. Wir haben das mit Kooperationspartnern wie der Tagesschau gemacht, die ganz andere Zugriffspotenziale bieten kann. Ein anderes Beispiel: Historische Dokumente zum 17. Juni 1953 oder zum Mauerbau sind in deutschen Archiven in Hülle und Fülle vorhanden. Die Aufgabe der politischen Bildung ist es, die Informationen aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. Hier kann sie ihre praktische Relevanz unter Beweis stellen. Politische Bildung kann beim Thema Zeitgeschichte eine Vorreiter-Rolle spielen. Sie kann zeitgeschichtliche Themen so konfigurieren, dass sie einen Gebrauchswert bekommen - bei politisch Interessierten im weitesten Sinne, aber natürlich auch im Blick auf bestimmte Interessenlagen und Adressaten. Die zielgruppenspezifische Aufbereitung von Wissen ist heute sehr wichtig. Potenziale und Ressourcen Länge: Das betrifft aber vorwiegend diejenigen, die in der einen oder anderen Form politisch interessiert sind. Nur existiert heute das Problem, dass wir immer mehr Personen als bildungsfern einstufen müssen. Anders gesagt: Der Weg zur politischen Bildung ist heute viel länger geworden. Krüger: Dazu ein Hinweis. Karsten Rudolf hat in seinem "Bericht Politische Bildung 2002" aufgezeigt, dass das Potenzial außerschulischer politischer Bildung größer ist, als gemeinhin angenommen und durch die bisherige statistische Erfassung nahegelegt wird. Über die 9,8 Prozent hinaus, die bisher die Angebote kennen und/oder nutzen, könnten demnach weitere 38,5 Prozent für Maßnahmen der politische Bildung gewonnen werden. Diese Überlegung ist - ich lasse jetzt einmal alle sonstigen Anfragen an die Erhebung bei Seite - für sich genommen richtig, aber nicht ausreichend. Man muss vielmehr in Maßnahmen investieren, um an die fernstehenden, zunächst noch desinteressierten Gruppen heranzukommen. Man darf sich nicht daran gewöhnen, dass es eine Stammklientel der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung gibt. Man muss vielmehr für jede Klientel, die man erreichen will, das richtige Format wählen. Für die circa 48 Prozent, die man erreichen kann, muss ein anderes Format gewählt werden, als für die 52 Prozent, die bildungsfern sind. Eine junge Auszubildende etwa, die froh ist, dass sie die Schule hinter sich und mit Politik nichts am Hut hat, kann ich nicht mit den üblichen Methoden erreichen. Didaktisch gesprochen sind hier Handlungsorientierung, das Aufgreifen von situativen Aspekten oder Lebensweltbezügen wichtig. Das ist das Prinzip, das konkret umgesetzt werden muss. Dazu gehören viele weitere Methoden, die ausprobiert werden müssen. Zum Beispiel sind die Wissensmengen entschieden zu reduzieren, niedrigschwellige Angebote zu unterbreiten. Wenn der oder die Betreffende ins Kino geht, muss man versuchen, die Unterhaltungsformate in das pädagogische Arrangement zu integrieren. Wenn der- oder diejenige gerne Musikvideos sieht, dann kann man das einbeziehen. Die bpb hat zum Beispiel mit Viva zusammen Wahlspots entwickelt, die im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 auf dem Musiksender ausgestrahlt wurden. Dabei werden natürlich Häppchen verabreicht, die Sache soll Appetit machen. Ein politisches Thema XY wird platziert und man verweist zum Beispiel auf www.fluter.de, wo man dann mehr erfahren kann. Und fluter ist dann auch nur eine weitere Stufe, über die man zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung gelangen kann. Es geht hier um Unterhaltungsangebote (Film, Musik), aber auch um persönlich (Beispiel: Sucht) oder politisch (Beispiele: Länderberichte, Terrorismus) relevante Fragen. So findet eine Heranführung an politische Bildung statt. Ich bin keineswegs ein Idealist, der meint, dass wir die 52 Prozent mit Informations- und Bildungsangeboten ohne Weiteres erreichen können. Aber wenn wir in der beschriebenen Weise etwas in Bewegung setzen, wenn wir entsprechende Formate entwickeln, wenn wir deutlich machen, dass diese Gruppe nicht abgeschrieben ist, dann überschreiten wir eine Grenze. Die Politik wird es nicht groß kümmern, wenn wir bei unserer Stammkundschaft im engeren oder weiteren Sinne landen. Aber wenn wir darüber hinausgehen, ist das ein Fortschritt und heißt dann im Klartext: Wir haben Anspruch auf einen größeren Etat. Länge: Es gibt heute ja einige Träger, die sich darauf konzentrieren Bildungsbenachteiligte zu erreichen. Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung sagen, dass dies eine Heidenarbeit ist. Sie kostet Zeit und Geld. Wenn das ausgebaut werden soll, braucht man natürlich ganz andere Ressourcen, denn das geht nicht im Rahmen kurzzeitpädagogischer Maßnahmen. Da müssen dann schon Projekte her. Aber noch einmal zum Bericht von Karsten Rudolf. Es wird dort so getan, als gäbe es nur einen kleinen Bereich von 1 bis 5 Prozent, die tatsächlich erreicht werden, und daneben ein weites Feld, das brachliegt. Man könnte jetzt einiges zum Politik- und Bildungsbegriff des Berichts sagen. Ich will aber nur darauf aufmerksam machen, dass hier die Unterstellung mitschwingt, politische Bildung würde darauf verzichten, dieses Reservoir auszuschöpfen. Dabei handelt es sich ja darum, dass die Ressourcenlage momentan nicht mehr hergibt. Ich weiß es von einigen Trägern definitiv, dass sie viel mehr im Osten machen könnten, mindestens das Doppelte an Veranstaltungen. Dafür müssten dann aber die Ressourcen verbessert werden. Krüger: Bei dem Verteilungskampf um Ressourcen wird heute sicherlich nicht nach Qualitätskriterien entschieden. Es wird politisch danach entschieden, was Erfolg verspricht. Deshalb halte ich es für eine Schlüsselfrage, dass das Image der Profession Politische Bildung verändert wird. Es müssen Erwartungshorizonte entstehen, so dass eine Mehrheit im Parlament sich bereit findet, etwas Neues zu versuchen. Darauf muss man hinarbeiten. Kritiker mögen sagen, das sei die Boulevardisierung der politischen Bildung. Wenn es aber dazu führt, dass man Ressourcen erschließt - so what? Länge: Das Image der politischen Bildung, das muss man ergänzen, ist ja nicht nur defizitär. Immer wenn es gesellschaftliche Auffälligkeiten gibt - ob nun Rechtsradikalismus oder andere Fragen -, gibt das der politischen Bildung Auftrieb. Dann soll sie schnelle Eingreiftruppe sein, um missliebige Entwicklungen zu kanalisieren. Krüger: Das ist ein bekanntes Dilemma, das uns zum Beispiel auch in der Jugendhilfe begegnet. Die Feuerwehrfunktion wird in den Vordergrund gerückt. Die neueren Debatten zum Rechtsextremismus seit Sommer 2000 etwa haben im Blick auf die politische Bildung die Notwendigkeit betont, auf die aktuellen Entwicklungen zu reagieren. Es ist zwar richtig, dass man nicht Feuerwehr spielen kann, man muss sich aber den aktuellen Fragen stellen. Hier sehe ich einen gewissen Nachholbedarf. Länge: Ja, hier sollte die Profession sich einmal selbstkritisch befragen. Man muss das, was als Aufgabe, Anfrage oder Zumutung auf einen zukommt, positiv wenden. Ich würde es nie bei der Auskunft an die Politik bewenden lassen: Das machen wir ja alles schon. Nein, man sollte die neuen Akzente und Gesichtspunkte auf-greifen und im Sinne der eigenen Professionalität weiterentwickeln. Wenn das geschieht, muss man natürlich auch seitens der fördernden Stellen in Kauf nehmen, dass sich an aktuellen Streitfragen Meinungsbildungsprozesse entwickeln, so dass in einem Kurs auch einmal Position bezogen, zum Beispiel eine Resolution verabschiedet wird. In der Vergangenheit hat es da schon Schwierigkeiten gegeben, weil die Richtlinien der bpb so etwas angeblich verbieten. Krüger: Wir haben inzwischen eine Änderung der Richtlinien vorgenommen, was aber nur der Anfang eines Prozesses sein kann. Wenn wir die besprochenen Innovationen wollen, dann brauchen die Partner der bpb mehr Spielraum. Da muss noch einiges getan werden. Länge: Könnten hier nicht Rahmenvereinbarungen und Leistungsverträge ein Vorbild für eine angemessene Förderung der politischen Bildung sein? Ich denke in diesem Zusammenhang an entsprechende Absprachen, die es zwischen den großen Trägern der politischen Bildung und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes (KJP) gibt. Solche Modelle könnten sowohl den Bildungsträgern als auch den fördernden Stellen eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung bringen. Ich bin sehr der Meinung, dass diejenigen, die politisch entscheiden und Anforderungen stellen, sich mit diesen alltäglichen Verwaltungsfragen befassen und Verbesserungen anstoßen. Krüger: Man sollte einmal abwarten, wie sich die Dinge im Rahmen des KJP entwickeln. Ich finde die Diskussion, die hierzu am Runden Tisch in Gang gekommen ist, sehr hilfreich. Länge: Vielleicht müsste am Runden Tisch die inhaltliche Diskussion noch vertieft werden. Aber dass das Gremium auf den Weg gebracht wurde, ist auf jeden Fall ein Plus. In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein anderes Thema ansprechen, das ebenfalls am Runden Tisch verhandelt wurde: die Situation in den neuen Bundesländern. Es wurde dort über die Notwendigkeit von Umverteilungsmaßnahmen gesprochen, aber mit dem Mitteltransfer ist es ja nicht getan. Krüger: Nein, gewiss nicht. Wir brauchen hier mehr, wir brauchen einen Paradigmenwechsel, so wie ihn Hans-J. Misselwitz letzt angedeutet hat (Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/2002). Um die Legitimität der politischen Bildung in den neuen Bundesländern zu verankern, müssen wir die Entgrenzung der Disziplin vorantreiben. Interdisziplinarität wird im Osten sicherlich eine größere Rolle spielen. Wir müssen andere Partner finden, wir müssen Überraschungen schaffen, die die "reservierte Distanz", von der Misselwitz spricht, ein Stück weit überwinden. Dazu sind andere Orte und Personen hinzuzuziehen, die so etwas ermöglichen. Und wir müssen bisherige Ansätze überprüfen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Totalitarismustheorie, die Anfang der 90er Jahre wieder auflebte, die Menschen von politischer Bildung eher entfernt als angezogen hat. Die Ostdeutschen bekamen gewissermaßen gesagt, dass sie nicht nur in einer Diktatur gelebt hätten, sondern selbst (mentale) Teile der totalitären Herrschaft seien. Das ist nicht besonders aufbauend und motivierend. Wir haben in der bpb jetzt ein Buch produziert, das im Osten zum Geheimtipp avanciert ist. Es heißt "Rock in der DDR" und macht eine Szene zugänglich, die nicht unbedingt dem offiziellen DDR-Bild entsprach. An solchen alltagskulturellen Dingen anzusetzen, das ist meines Erachtens viel produktiver. Länge: Das gilt aber nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen. Wir diskutieren das ja unter dem Stichwort Entgrenzung der politischen Bildung. Ich bin der Meinung, dass wir, wenn die Eigenständigkeit der politischen Bildung gesichert ist, über einen professionellen Hintergrund verfügen, der eine solche Entgrenzung erlaubt. Krüger: Dem stimme ich zu, im Osten hätte man das Dialektik genannt. Ich möchte es so formulieren: Politische Bildung braucht ein Gesicht, sie braucht ein Profil, aber sie muss in der Praxis die Grenzen der Disziplin überschreiten, um wirksam zu werden. Thomas Krüger ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Theo W. Länge ist Bundesgeschäftsführer von Arbeit und Leben und Vorsitzender des Bundesausschusses Politische Bildung (BAP). Aufgezeichnet wurde das Gespräch von Johannes Schillo, Redaktion Praxis Politische Bildung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-12-23T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51226/es-muesste-zwischen-politik-und-politischer-bildung-mal-wieder-richtig-krachen/
Der bpb-Präsident Thomas Krüger im Gespräch mit Theo W. Länge, Vorsitzender des Bundesausschusses Politische Bildung (BAP). Sie sprachen über aktuelle und zukünftige Aufgaben der bpb, über das Zusammenspiel von Medien, Wahlen und Wahlkampf und über P
[ "Unbekannt (5273)" ]
29,753
Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 | Der Aufstand des 17. Juni 1953 | bpb.de
Über viele Jahrzehnte waren viele Todesopfer des Volksaufstandes namenlos. Ihre Lebensgeschichten blieben der Öffentlichkeit ebenso verborgen wie die Umstände, unter denen sie ums Leben kamen. Selbst zuverlässige Angaben über die Anzahl der Todesopfer fehlten. Den Rechercheergebnissen einer Forschergruppe unter Leitung von Edda Ahrberg, Hans-Hermann Hertle und Tobias Hollitzer aus dem Jahr 2004 zufolge sind 55 Todesopfer durch Quellen belegt, unter ihnen vier Frauen: 34 Demonstranten, Passanten und Zuschauer wurden am 17. Juni und den Tagen danach (bis zum 23. Juni) von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen bzw. starben an den Folgen der ihnen zugefügten Schussverletzungen fünf Männer wurden von Instanzen der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland zum Tode verurteilt und hingerichtet zwei Todesurteile wurden von DDR-Gerichten verhängt und vollstreckt vier Personen starben in Folge menschenunwürdiger Haftbedingungen vier in Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand Festgenommene begingen in der (Untersuchungs-)Haft Selbstmord, wobei zumindest in zwei Fällen Fremdeinwirkung nicht auszuschließen ist ein Demonstrant verstarb beim Sturm auf ein Volkspolizei-Revier an Herzversagen fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane wurden getötet: zwei Volkspolizisten und ein MfS-Mitarbeiter bei der Verteidigung eines Gefängnisses von Unbekannten erschossen, ein Mitarbeiter des Betriebsschutzes von einer wütenden Menge erschlagen und ein weiterer Volkspolizist versehentlich von sowjetischen Soldaten erschossen Von 25 weiteren, vermeintlichen und ungeklärten Todesfällen ist bei sieben Personen belegt, dass sie nicht im Zusammenhang mit dem Volksaufstand ums Leben kamen. Wegen angeblicher Befehlsverweigerung sollen in Berlin und Biederitz bei Magdeburg angeblich 41 sowjetische Soldaten erschossen worden sein. Dazu konnten bisher keine gesicherten Hinweise gefunden werden. Dem aktuellen Forschungsstand zufolge handelt es sich um eine Legende des Kalten Krieges. Berlin Horst Bernhagen - 21 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Edgar Krawetzke - 20 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Rudi Schwander - 14 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Werner Sendsitzky - 16 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Gerhard Schulze - 41 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Gerhard Santura - 19 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Oskar Pohl - 25 Jahre (© Zentrum für Zeithistorische Forschungen e.V.) Erich Nast - 40 Jahre (© Polizeihistorische Sammlung/Der Polizeipräsident in Berlin) Rudolf Berger - 40 Jahre (© Privatarchiv Berger) Hans Rudeck - 52 Jahre (© Polizeihistorische Sammlung/Der Polizeipräsident in Berlin) Richard Kugler - 25 Jahre (© Berliner Morgenpost, 26.6.1953) Kurt Heinrich - 44 Jahre (© Der Kurier, 26.6.1953) Wolfgang Röhling - 15 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Willi Göttling - 35 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Bezirk Dresden Alfred Wagenknecht - 43 Jahre (© Privatarchiv Helga Urban) Oskar Jurke - 57 Jahre (© Privatarchiv Steffen Giersch) Bezirk Gera Alfred Diener - 26 Jahre (© Geschichtswerkstatt Jena) Alfred Walter - 33 Jahre (© Privatarchiv Magdalena König) Horst Walde - 27 Jahre (© Privatarchiv Helga Urban) Bezirk Potsdam Wilhelm Hagedorn - 58 Jahre (© BStU) Bezirk Halle Kurt Crato - 42 Jahre (© Privatarchiv Norbert Crato) Gerhard Schmidt - 26 Jahre (© Verein Zeit-Geschichte(n) Halle) Manfred Stoye - 21 Jahre (© Verein Zeit-Geschichte(n) Halle) Rudolf Krause - 23 Jahre (© Privatarchiv Ronald Wieden) Edmund Ewald - 25 Jahre (© Privatarchiv Michaela Trauer) Horst Keil - 18 Jahre (© Privatarchiv Klaus Enke) Karl Ruhnke - 61 Jahre (© Privatarchiv Joachim Paetzold) Margot Hirsch - 19 Jahre (© Privatarchiv Irma Hirsch) "Erna Dorn" (© BStU) Hermann Stieler - 33 Jahre (© Stadt Bitterfeld/Standesamt) Paul Othma - 63 Jahre (© Privatarchiv Hedwig Othma) Kurt Arndt - 38 Jahre (© Privatarchiv Christel Gleichmann) Wilhelm Ertmer - 52 Jahre (© Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Merseburg) Adolf Grattenauer - 52 Jahre (© Privatarchiv Claudia Othilie) Erich Langlitz - 51 Jahre (© Standesamt Zörbig) August Hanke - 52 Jahre (© Privatarchiv Wilfried Kunert) Bezirk Leipzig Dieter Teich - 19 Jahre (© Privatarchiv Siegfried Teich) Elisabeth Bröcker - 64 Jahre (© SächsStAL) Paul Ochsenbauer - 15 Jahre (© Privatarchiv Brigitte Dienst) Johannes Köhler - 44 Jahre (© Privatarchiv Gisela Fuchs) Eberhard von Cancrin - 42 Jahre (© Privatarchiv Ruth von Cancrin) Erich Kunze - 28 Jahre (© Privatarchiv Johanna Kunze) Herbert Kaiser - 40 Jahre (© Privatarchiv Familie Kaiser) Gerhard Dubielzig - 19 Jahre (© Privatarchiv Karl Heinz Loeser) Joachim Bauer - 20 Jahre (© Privatarchiv Karl Heinz Loeser) Bezirk Magdeburg Johann Waldbach - 33 Jahre (© BStU) Gerhard Händler - 24 Jahre (© Privatarchiv Hauswitzer/Hintze) Georg Gaidzik - 32 Jahre (© Stadtarchiv Magdeburg, Volksstimme, 29.6.1953) Dora Borchmann - 16 Jahre (© Privatarchiv Hans-Jürgen Borchmann) Kurt Fritsch - 47 Jahre (© Privatarchiv Hans-Jürgen Träbert) Horst Pritz - 17 Jahre (© Privatarchiv Erika Hoffmann) Herbert Stauch - 35 Jahre (© Privatarchiv Else Jahn) Alfred Dartsch - 42 Jahre (© BStU) Ernst Grobe - 49 Jahre (© Privatarchiv Wilhelm Grobe) Ernst Jennrich - 42 Jahre (© Privatarchiv Ernst Jennrich Junior) Horst Bernhagen - 21 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Edgar Krawetzke - 20 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Rudi Schwander - 14 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Werner Sendsitzky - 16 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Gerhard Schulze - 41 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Gerhard Santura - 19 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Oskar Pohl - 25 Jahre (© Zentrum für Zeithistorische Forschungen e.V.) Erich Nast - 40 Jahre (© Polizeihistorische Sammlung/Der Polizeipräsident in Berlin) Rudolf Berger - 40 Jahre (© Privatarchiv Berger) Hans Rudeck - 52 Jahre (© Polizeihistorische Sammlung/Der Polizeipräsident in Berlin) Richard Kugler - 25 Jahre (© Berliner Morgenpost, 26.6.1953) Kurt Heinrich - 44 Jahre (© Der Kurier, 26.6.1953) Wolfgang Röhling - 15 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Willi Göttling - 35 Jahre (© Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.) Alfred Wagenknecht - 43 Jahre (© Privatarchiv Helga Urban) Oskar Jurke - 57 Jahre (© Privatarchiv Steffen Giersch) Alfred Diener - 26 Jahre (© Geschichtswerkstatt Jena) Alfred Walter - 33 Jahre (© Privatarchiv Magdalena König) Horst Walde - 27 Jahre (© Privatarchiv Helga Urban) Wilhelm Hagedorn - 58 Jahre (© BStU) Kurt Crato - 42 Jahre (© Privatarchiv Norbert Crato) Gerhard Schmidt - 26 Jahre (© Verein Zeit-Geschichte(n) Halle) Manfred Stoye - 21 Jahre (© Verein Zeit-Geschichte(n) Halle) Rudolf Krause - 23 Jahre (© Privatarchiv Ronald Wieden) Edmund Ewald - 25 Jahre (© Privatarchiv Michaela Trauer) Horst Keil - 18 Jahre (© Privatarchiv Klaus Enke) Karl Ruhnke - 61 Jahre (© Privatarchiv Joachim Paetzold) Margot Hirsch - 19 Jahre (© Privatarchiv Irma Hirsch) "Erna Dorn" (© BStU) Hermann Stieler - 33 Jahre (© Stadt Bitterfeld/Standesamt) Paul Othma - 63 Jahre (© Privatarchiv Hedwig Othma) Kurt Arndt - 38 Jahre (© Privatarchiv Christel Gleichmann) Wilhelm Ertmer - 52 Jahre (© Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Merseburg) Adolf Grattenauer - 52 Jahre (© Privatarchiv Claudia Othilie) Erich Langlitz - 51 Jahre (© Standesamt Zörbig) August Hanke - 52 Jahre (© Privatarchiv Wilfried Kunert) Dieter Teich - 19 Jahre (© Privatarchiv Siegfried Teich) Elisabeth Bröcker - 64 Jahre (© SächsStAL) Paul Ochsenbauer - 15 Jahre (© Privatarchiv Brigitte Dienst) Johannes Köhler - 44 Jahre (© Privatarchiv Gisela Fuchs) Eberhard von Cancrin - 42 Jahre (© Privatarchiv Ruth von Cancrin) Erich Kunze - 28 Jahre (© Privatarchiv Johanna Kunze) Herbert Kaiser - 40 Jahre (© Privatarchiv Familie Kaiser) Gerhard Dubielzig - 19 Jahre (© Privatarchiv Karl Heinz Loeser) Joachim Bauer - 20 Jahre (© Privatarchiv Karl Heinz Loeser) Johann Waldbach - 33 Jahre (© BStU) Gerhard Händler - 24 Jahre (© Privatarchiv Hauswitzer/Hintze) Georg Gaidzik - 32 Jahre (© Stadtarchiv Magdeburg, Volksstimme, 29.6.1953) Dora Borchmann - 16 Jahre (© Privatarchiv Hans-Jürgen Borchmann) Kurt Fritsch - 47 Jahre (© Privatarchiv Hans-Jürgen Träbert) Horst Pritz - 17 Jahre (© Privatarchiv Erika Hoffmann) Herbert Stauch - 35 Jahre (© Privatarchiv Else Jahn) Alfred Dartsch - 42 Jahre (© BStU) Ernst Grobe - 49 Jahre (© Privatarchiv Wilhelm Grobe) Ernst Jennrich - 42 Jahre (© Privatarchiv Ernst Jennrich Junior)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-05-26T00:00:00
2013-01-07T00:00:00
2023-05-26T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/der-aufstand-des-17-juni-1953/152604/die-toten-des-volksaufstandes-vom-17-juni-1953/
Mehr als fünf Jahrzehnte blieben die Toten des Volksaufstandes weitgehend unbekannt. Erst seit 2004 sind ihre Biografien und die Umstände, unter denen sie ums Leben kamen, dokumentiert. Eine Dokumentation.
[ "DDR Geschichte 17. Juni 1953", "Todesopfer Aufstand 17. Juni 1953", "Volksaufstand", "Deutschland" ]
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Erfahrungsbericht: Fördermittelgeber | Fördermittel und Fundraising für die politische Bildung | bpb.de
"Wir lassen keinen hängen." Die Amadeu Antonio Stiftung unterstützt Projekte und Initiativen, die sich für eine demokratische Zivilgesellschaft engagieren, sich für Minderheitenschutz und Menschenrechte und aktiv gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzen. 2019 hat die Stiftung 201 Projekte mit insgesamt rund 370.000 Euro gefördert. Wir sprachen mit Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Stiftung und zuständig für die Projektförderung, über die Corona-Krise aus Sicht eines Geldgebers. Mehr unter: Externer Link: www.amadeu-antonio-stiftung.de Akquisos: Herr Reinfrank, wie wirkt sich die Krise auf Ihre Stiftung, speziell den Bereich der Projektförderung aus? T. Reinfrank: Das hat sich ganz erheblich auf uns ausgewirkt. Ein Großteil der geförderten Projekte funktionieren nicht mehr. Das waren fast alles Offline-Formate. Ich würde sagen, ein Drittel der Projekte fällt ersatzlos aus, ein Drittel wurde verschoben, ein Drittel abgeändert. Das ist der derzeitige Stand. Im Herbst wird es einen Overkill an Veranstaltungen geben. Da müssen wir sehen, ob das alles so funktionieren wird. Wie stimmen Sie sich dazu mit den Initiatorinnen und Initiatoren der Projekte ab? Seit Beginn der Krise gibt es natürlich viele Unsicherheiten. Wir sind da von Anfang an in einen sehr starken Beratungsprozess gegangen. Wir sind ohnehin sehr eng an unseren Partnerinnen und Partnern dran, machen eine ausführliche Antragsberatung. Es ist jetzt ganz wichtig zu schauen, was geht und was nicht und was überhaupt sinnvoll ist. Was ist mit bereits ausgezahlten Fördergeldern bei Projekten, die nicht wie geplant umgesetzt werden können: Fordern Sie die zurück? Nein, das machen wir nicht. Wir haben die Selbstverpflichtung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen unterzeichnet. Darin erklären wir uns solidarisch mit den Projektpartnerinnen und -partnern. Wir ermutigen sie, Alternativen zu finden – gerne auch gemeinsam mit uns – und zeigen uns flexibel diese zu fördern. Uns geht es dabei auch um grundsätzliche Strukturen, die erhalten werden sollen. Wir wollen nicht, dass die Leute negative Erfahrungen mit bürgerschaftlichem Engagement machen und dadurch zukünftig die Lust verlieren. Was müssen Sie als Fördermittelgeber nun organisieren, um so flexibel zu reagieren? Zugesagte Fördermittel sind natürlich an bestimmte Richtlinien gebunden. Wir müssen unseren Satzungszweck im Auge behalten, unser Haushaltsbudget und auch steuerrechtliche Vorgaben. Normalerweise können wir Projekte nicht einfach ins nächste Jahr schieben, denn wir müssen Mittel zeitnah verwenden. Wir sind dazu aber schon mit den Finanzämtern in Gespräch. Die Signale sind positiv, ich bin optimistisch, dass wir das hinbekommen. Auch unser Vorstand wird geänderten Haushaltsplänen zustimmen. Letztlich haben alle das Ziel, die Krise nicht noch zu verschlimmern. Wie erleben Sie die Projektlandschaft derzeit? Auf der einen Seite wird viel ausprobiert, da ist viel Innovationsfreude. Es gibt viele Vorteile der digitalen Formate und die Situation hat im Projektumfeld zu einer Beschleunigung geführt. Gleichzeitig gibt es Frustrationen vorwiegend bei älteren Engagierten oder nicht so digital affinen Zielgruppen. Die sind vielfach ausgeschlossen und fühlen sich nicht mitgenommen. Im Moment sind alle Prognosen nur ein Blick in die Glaskugel. Aber dennoch: Was denken Sie, wie es weitergeht? Aktuell gibt es einen starken Rückhalt für gesellschaftliches Engagement. Das sehen wir auch an unseren Spendeneinahmen. Die Menschen zeigen sich solidarisch, auch bei Themen abseits von Corona. Ob das so bleibt, hängt davon ab, ob und wie stark der wirtschaftliche Einbruch und eine damit einhergehende Arbeitslosigkeit kommt. Das kann keiner voraussagen. Bei den Geldgebern wird es meines Erachtens eine Verschiebung zu Gunsten staatlicher Fördermittelgeber geben. Die öffentliche Hand ist zwar ebenfalls von der wirtschaftlichen Lage abhängig, aber unterm Strich krisenfester. Bei den Stiftungen wird es einen Schrumpfungsprozess geben. Die niedrigen Zinsen machen uns zu schaffen. Es ist schwer, Rücklagen für solche Zeiten zu bilden. Was raten Sie Akteuren der politischen Bildung: Sollten Sie jetzt neue Projekte entwickeln oder lieber abwarten? Im ersten Schritt sollten alle mit ihren Fördermittelgebern in Kontakt treten. Alle wissen, dass jetzt eine schwierige Zeit ist und sind entsprechend bemüht. Wer sich engagieren will, soll es jetzt machen. Die meisten Geldgeber haben kurz- und mittelfristig noch Rücklagen. Aber ob es auch langfristig noch geht, wissen wir es erst in 1-2 Jahren. Die Projekte sollten den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Uns erreichten tatsächlich Projektanträge für Präsenzveranstaltungen mitten im "Lockdown". Da wundern wir uns schon. Wichtig ist, neue Formate zu entwickeln und damit auch neue Zielgruppen zu erreichen. Die Leute steigen momentan voll auf Neues ein. Das ist ein echter Vorteil. Lieber Herr Reinfrank, vielen Dank für das Gespräch! Stiftungsengagement im Zeichen der Corona-Krise. Ein Aufruf vom Arbeitskreis Förderstiftungen mit allen Stiftungen, die bisher unterzeichnet haben: Externer Link: www.stiftungen.org/news/stiftungsengagement-im-zeichen-der-corona-krise-ein-aufruf-vom-arbeitskreis-foerderstiftungen.html
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-05-08T00:00:00
2020-06-04T00:00:00
2023-05-08T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/akquisos/311036/erfahrungsbericht-foerdermittelgeber/
Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, die Projekte fördert, die sich für eine demokratische Zivilgesellschaft einsetzen, spricht über die Corona-Krise aus Sicht eines Geldgebers
[ "Akquisos Newsletter" ]
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Jüdisches Leben in der DDR | Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | bpb.de
Die DDR versteht sich als antifaschistischer Staat: Alfred Neumann, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, hält am 8. September 1974 eine Rede auf einer Großkundgebung zum Gedenken an die Opfer des Faschismus auf dem Bebelplatz in Ost-Berlin. (© picture-alliance/akg) Spätestens seit Ende der 1990er-Jahre erschienen eine beachtliche Zahl historischer Arbeiten über die DDR und mit ihr auch Forschungen über die Geschichte der Jüdinnen und Juden im Osten Deutschlands. Erst von diesem Zeitpunkt war der Zugriff auf Archive und Dokumente möglich, die zuvor unter Verschluss gehalten worden waren. So ließ sich Einsicht in die Vorgänge selbst, aber auch in die Motive der damaligen Akteurinnen und Akteure gewinnen. Seit jenen Tagen sind die Grundlinien der wissenschaftlichen Darstellungen fixiert und in groben Zügen allgemein bekannt. Trotzdem ist zu beachten, dass die Auskünfte darüber, wie es der jüdischen Minderheit in der DDR (und in Westdeutschland) erging, oft in bereits vorgezeichnete Erzählungen eingepasst wurden, denen es letztlich vor allem darum ging, das eigene politische System zu legitimieren. Das Staatsverständnis der SED und das Judentum in der DDR Alexander Muschik charakterisiert in seinem Artikel "Die SED und die Juden 1985–1990" im Deutschland Archiv von 2012 die Bestrebungen der DDR-Staatsführung wie folgt: "Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober desselben Jahres führte zu einer Konkurrenzsituation, die die Außenbeziehungen der beiden deutschen Staaten bis zum Ende des Kalten Krieges maßgeblich bestimmen sollte. […] Da die Nichtanerkennungspolitik des Westens die Stabilisierung der DDR dauerhaft gefährdete, suchte die SED die Gründung des zweiten deutschen Staates anderweitig zu legitimieren. Aus diesem Grund stilisierte die SED den Antifaschismus zum Gründungsmythos der DDR, der den ostdeutschen Staat zum moralisch überlegenen und darum rechtmäßigen Deutschland erklärte. […] Diese Geschichtsinterpretation sollte zudem die DDR-Bevölkerung von einer (Mit-)Schuld an den Naziverbrechen freisprechen und sie auf diese Weise an den ‚Arbeiter-und-Bauern-Staat‘ binden. Gleichzeitig aber verhinderte dieser Ansatz eine tiefgreifende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Ostdeutschland, da der SED zufolge das Problem des Nationalsozialismus allein die westdeutsche Gesellschaft betraf." In beiden deutschen Staaten war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beinahe von Anfang an durch den Kalten Krieg geprägt. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ; ab Oktober 1949: DDR) begründeten die Verantwortlichen die gravierenden Eingriffe in das jüdische Leben mit dem Bestreben, sich als "erster sozialistischer Staat auf deutschem Boden" gegenüber dem mächtigeren westlichen Zwilling moralisch zu legitimieren. Das Verhältnis der DDR, des "Arbeiter- und-Bauern-Staates", zu seinen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern stand – weit mehr als das kirchliche Leben der christlichen Minderheit – gleichzeitig im Schatten und im Scheinwerferlicht größerer politischer Prozesse. Das frühe Ende der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur, die Propagandakampagnen gegen die Beteiligung hochrangiger Akteure des NS-Regimes in den Regierungen Konrad Adenauers während der 1950er- und 1960er-Jahre, die aggressive Propaganda gegen Israel von 1956 bis 1989 bis hin zum spät einsetzenden Interesse an jüdischer Geschichte: Stets fungierte die Beziehung der DDR zu ihrer jüdischen Minderheit als eine Art Bühnenbild gänzlich anderer Interessen und fand kaum Beachtung um ihrer selbst willen. Der Schriftsteller und Chronist Günter de Bruyn fasste die Ambivalenz jenes Verhältnisses in seinem Roman "Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht" von 2011 folgendermaßen zusammen: "Die antifaschistische Staatspropaganda verurteilte zwar die Judenverfolgung, gedachte aber nur jener Opfer der Hitlerjahre, die auf kommunistischer Seite gestanden hatten; denn es ging nicht um Trauer und Schuldbewußtsein, sondern um gegenwärtige Politik. Das jüdische Eigentum, das die Nationalsozialisten verstaatlicht hatten, wurde ohne Skrupel als zum sozialistischen Staat gehörend betrachtet und an Wiedergutmachung nicht gedacht. Da die Schuldigen an der Judenverfolgung nach offizieller Lesart alle im Westen saßen, war im neuen Deutschland, wo Optimismus und Zukunftsglaube gefordert wurden, nicht Erinnerungs-, sondern Verdrängungsleistung gefragt." Zur Erklärung für das Unvermögen der politisch Verantwortlichen in der DDR, eine tragfähige Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen zuwege zu bringen oder auch nur zuzulassen, diente häufig die "Dimitroffsche Definition" des Faschismus. Der bulgarische Funktionär Georgi Dimitroff (1882–1949), damals Generalsekretär der Kommunistischen Internationale (Komintern), hatte auf dem VII. Weltkongress seiner Organisation 1935 den Faschismus als "offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" bezeichnet. Diese Deutung dominierte die theoretische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Schule und Universität der DDR. Die "Dimitroffsche Definition" ermöglichte es ihr, sich als naturgegeben antifaschistisch zu verstehen: Da in der ehemalig sowjetisch besetzten Zone der Sozialismus aufgebaut würde, hätten "die am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" dort keine Möglichkeit, ihr unheilvolles Wirken zu entfalten. Die DDR war nach Auffassung der SED der moralisch überlegene Gegenentwurf zur Bundesrepublik und hatte es demzufolge nicht nötig, sich mit Fragen von deutscher Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen. Die Interpretation des deutschen Nationalsozialismus als der aggressivsten Form des Kapitalismus verkürzte die Analyse vor allem um die rassistisch und antisemitisch motivierten Verbrechen jener Jahre. Das in der Öffentlichkeit des vereinigten Deutschlands dominierende Narrativ behauptet demzufolge, im Unterschied zur Bundesrepublik habe es in der DDR keine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit der Shoah gegeben. Einblicke in die offiziellen Verlautbarungen der DDR zu Massenmord und Vertreibung der Jüdinnen und Juden Europas in der NS-Zeit und zum modernen Staat Israel scheinen diesen düsteren Eindruck zu bestätigen. Mit der staatlich verordneten Perspektive ist das Gesamtbild jedoch nicht hinreichend erfasst. Neben der "offiziellen Lesart", wie sie in Medien und Lehrplänen vorgetragen wurde, sollte auch die andere Perspektive Berücksichtigung finden, die sich in Büchern, Filmen, Veranstaltungen und kirchlichen Aktivitäten um Kenntnisse über jüdische Geschichte und Kultur bemühte und eine Auseinandersetzung mit der Shoah zum Ziel hatte. Von den Anfängen bis zum Beinahe-Abbruch jüdischen Lebens (1945-1953) Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entschieden sich viele kommunistisch oder sozialdemokratisch sozialisierte Emigrantinnen und Emigranten bewusst für die SBZ/DDR als ihre Wahlheimat. Sie wollten am Aufbau eines besseren, eines antifaschistischen Deutschlands mitwirken. Diese Hoffnung spiegelt sich auch in den Autobiografien vieler jüdischer Überlebender, die in der DDR ein neues Zuhause fanden – wie zum Beispiel bei Helmut Eschwege (1913–1992). Er war einer der wenigen DDR-Autoren, denen es (wenn auch unter großen Mühen) gelang, Sachbücher zu jüdischen Themen und zur Shoah zu veröffentlichen. In seinen 1991 erschienenen Erinnerungen bemerkt er zu seinen Motiven, sich nach 1945 in der SBZ/DDR anzusiedeln: "Auf den Gedanken, in die damalige sowjetisch besetzte Zone Deutschlands einzuwandern, kam ich, als die linken Pressorgane über die unterschiedlichen Verhältnisse in den besetzten Zonen berichteten. Ich las vom Willen der Arbeiterparteien in der damaligen Ostzone, das Potsdamer Abkommen über die Entnazifizierung und Bekämpfung der Rassenhetze in die Tat umzusetzen. Hinzu kam – und vielleicht war das auch der wesentliche Grund –, daß mehrere Freunde in Israel bereits beschlossen hatten, in die Ostzone zurückzukehren. […] Heute überlegend, ob ich 1946 den richtigen Weg gewählt habe, möchte ich sagen, daß ich die Jahre seither mit allen Tiefen und Höhen nicht missen möchte." Maxim Leo (geb. 1970), der Autor einer "ostdeutschen Familiengeschichte", kann als repräsentativer Vertreter der dritten Generation einer in die SBZ/DDR migrierten deutsch-jüdischen Familie gelten. Über die Hoffnungen seines kommunistisch geprägten Großvaters Gerhard Leo (1923–2009) mutmaßt er: "Eines […] blieb an ihm kleben: dieses Gefühl, eigentlich nirgendwo zu Hause zu sein. Ich glaube, dieses Gefühl hat Gerhard noch lange mit sich herumgetragen. Es war vielleicht sogar der wichtigste Grund für ihn, später in die DDR zu gehen. In dieses Land, in dem so viele Heimatlose nach einem neuen Anfang suchten." Zwar stiegen tatsächlich auch jüdische Funktionäre in die Führungsetagen der Staats- und Parteiführung auf, doch die Erwartungen der meisten Rückkehrenden erfüllten sich nicht. Sie konnten nicht ahnen, dass die Entwicklung der Sowjetischen Besatzungszone längst im Sinne eines stalinistischen Staatssozialismus vorherbestimmt war. Zudem gerieten die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus wie auch der Wiederaufbau des geteilten Landes in den Sog des Kalten Krieges. Es etablierte sich eine Art Wettbewerb der Systeme darum, wer mit welcher Legitimität den glaubwürdigeren Bruch mit Shoah, Krieg und Völkermord vollzogen habe. Der Konsens der Siegermächte, durch Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Demokratisierung und Entflechtung der Konzerne eine neue Ära in den besetzten Territorien einzuläuten, zerbrach allzu bald. In der Folge wurden die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens von der Sowjetunion auf der einen und den westlichen Alliierten auf der anderen Seite unterschiedlich interpretiert. Auf der Strecke blieb dabei die Frage nach konkreter Schuld und Verantwortung für die Verbrechen der NS-Diktatur. Im Jahre 1949 erklärte man die "Etappe der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" (und mit ihr die systematische Entnazifizierung) in der DDR kurzerhand für beendet und ging unmittelbar zum "Aufbau des Sozialismus" über. Die herrschende SED wurde – nach sowjetischem Vorbild – endgültig in eine stalinistisch geprägte "Partei neuen Typs" umgeformt. Der Einfluss Stalins setzte auch in der Frage von Entschädigungen und Rückgabe die entscheidenden Akzente: Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) zeigte sich nicht an einer Restitution der von den Nationalsozialisten enteigneten Unternehmen interessiert, schon um eigene Reparationsansprüche zu realisieren (Befehl Nr. 64 der SMAD vom 17.4.1948). Zusätzlich bemühte man den "Aufbau des Sozialismus" als Argument gegen eine Rückübertragung zum Beispiel jüdischen Eigentums: Bereits im Jahre 1948 wurde die "Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse" im Sinne des Sozialismus festgeschrieben. Im Zuge dessen legte der Gesetzentwurf "Über die Betreuung der Verfolgten des Naziregimes und die Vorbereitung für Wiedergutmachung" vom 26. Januar 1948 die Umwandlung "kapitalistisch" geführter Betriebe und Einrichtungen in Volkseigentum als unumkehrbar fest. Die im selben Jahr (1948) erschienene Broschüre Siegbert Kahns (1909–1976) "Antisemitismus und Rassenhetze" setzte hingegen völlig andere Akzente. Der Autor, ein KPD-Funktionär, marxistischer Ökonom und Direktor des Deutschen Wirtschaftsinstituts in der DDR, resümierte seine Abhandlung über die Jahrhunderte währende Verfolgung von Jüdinnen und Juden folgendermaßen: "Die Ausrottung des Antisemitismus und jeder Form des Rassenhasses aus dem Denken und Handeln des deutschen Volkes ist eine unerläßliche Voraussetzung seiner demokratischen Wiedergeburt. […] Neben der Bestrafung und Enteignung der Kriegsverbrecher und Kriegsinteressenten, die in allen Teilen Deutschlands durchgeführt werden muß, ist auch die Bestrafung aller jener Verbrechen gegen die Menschlichkeit notwendig, die in Deutschland bereits vor Ausbruch des Krieges begangen worden sind und für die der Nürnberger Kriegsgerichtshof sich als unzuständig erklärt hat. Jeder Deutsche, der jüdisches oder anderes fremdes Eigentum angetastet oder im Verlauf der ‚Arisierung‘ erschlichen hat, jeder, der sich an Unschuldigen vergangen, der jüdische oder ausländische Zwangsarbeiter mißhandelt oder ausgebeutet hat, sie alle müssen der strafenden Gerechtigkeit ausgeliefert werden. Wenn erst der letzte Deutsche begriffen hat, daß es keine ‚Herrenrasse‘ und keine ‚Rechte der Herrenmenschen‘ gibt, sondern daß jedes Vergehen gegen die elementarsten Gesetze auch seine Strafe findet, dann ist der wichtigste Schritt zur völligen moralischen Genesung des deutschen Volkes, zur Wiederherstellung seiner Ehre und zu seiner Anerkennung als gleichberechtigte zivilisierte Nation zurückgelegt." Damit war ein Maßstab formuliert, an dem letztlich beide deutsche Staaten scheitern sollten. Als die bundesdeutsche Regierung 1952 das Luxemburger Abkommen mit Israel unterzeichnete, geriet auch die DDR unter Zugzwang, Entschädigungsleistungen an Israel zu vereinbaren. Die SED-Führung zog sich jedoch darauf zurück, dass sie die im Potsdamer Abkommen für sie festgelegten Reparationsleistungen an die Sowjetunion und die sozialistischen Länder sowie die "Ausrottung des Faschismus mit Stumpf und Stiel" bereits hinlänglich erfüllt habe und daher zu keinerlei weiteren Entschädigungen hergenommen werden dürfe. Diese Position wurde im Grunde bis zum Ende des ostdeutschen Staates aufrechterhalten. Mit dem Ende der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" erstarrte die Selbstdefinition der DDR als antifaschistisches Deutschland gänzlich zu einer Legitimierungsstrategie: Der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus und das Bündnis mit der Sowjetunion wurden zum Markenkern des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden erklärt. Letztlich wurde mittels dieser ideologischen Konstruktion die gesamte DDR-Bevölkerung pauschal von der Nachfrage nach einer Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen entlastet. Von spätstalinistischer Verfolgung und den Anfängen antizionistischer Propaganda Die letzten Jahre der Herrschaft Stalins waren durch eine weitere Verfolgungswelle geprägt, die im Vorgehen gegen die sogenannte Ärzteverschwörung 1952–1953 gipfelte. Letzteres richtete sich vor allem gegen jüdische Mediziner, die angeblich geplant hatten, hohe Partei- und Militärfunktionäre der Sowjetunion zu vergiften. Die antisemitische Paranoia Stalins zeitigte allerdings schon deutlich früher verheerende Auswirkungen – insbesondere auf das jüdische Kulturleben. Als Initialereignis gilt der Tod des sowjetischen Regisseurs Solomon Michoels (1890–1948). Der Vorsitzende des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) kam in Minsk unter ungeklärten Umständen ums Leben. Zeitgleich wurden wichtige jüdische Institutionen geschlossen. Begleitet von zahlreichen Festnahmen, entfaltete die sowjetische Presse eine Kampagne gegen die als "wurzellose Kosmopoliten" gebrandmarkten Jüdinnen und Juden, die auch von anderen Ländern des Ostblocks aufgegriffen wurde. Im November 1949 wurde das JAK aufgelöst und seine Mitglieder wurden verhaftet. "Kosmopolitismus" und die "imperialistische Verschwörung" etablierten sich seither als Standardvorwürfe gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger innerhalb des sozialistischen Lagers. Seinen Tiefpunkt erreichten die antisemitischen Verfolgungen außerhalb der Sowjetunion mit dem berühmten Prager Slánský-Prozess vom 20.–27. November 1952. Von den vierzehn Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, die einer "trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung" angeklagt und für schuldig befunden wurden, waren elf Juden. Nur drei der Verurteilten überlebten das Verfahren. Die "Entlarvung" zionistischer Verschwörer wurde auch in der DDR eifrig betrieben. Hier traf es vor allem die sogenannten Westemigrantinnen und -emigranten – darunter etliche Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit nicht in der Sowjetunion Zuflucht suchen konnten oder wollten. Ihnen wurde pauschal unterstellt, "imperialistischen Kreisen" Einfluss auf den ersten sozialistischen Staat verschaffen zu wollen. Als das perfideste und zugleich einflussreichste Dokument jener antisemitischen Verfolgungswelle in der DDR erwiesen sich die "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský", ein Beschluss des Zentralkomitees der SED vom 20. Dezember 1952. Darin heißt es: "Der Prozeßverlauf in Prag und die Aussagen einiger der angeklagten Verbrecher beweisen, daß es eine Methode dieser Verbrecher war, wachsame, fortschrittliche Genossen durch die Bezichtigung des Antisemitismus zu diskreditieren. [...] Die zionistische Bewegung hat nichts gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit. Sie wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom USA Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten." Nur wenige Jahre nach dem Ende der Shoah verbreitete eine Partei, die sich kurz zuvor noch einer "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" gerühmt hatte, antisemitische Vorurteile wie die Verschwörung zur Vergiftung oder die enge Verbindung zwischen Judentum und Finanzkapital. Die einzigen Zugeständnisse an die besondere Situation der deutschen Kommunisten könnten darin bestanden haben, dass es in der DDR zu keinem regelrechten Schauprozess (mehr) kam und dass der als Galionsfigur auserkorene Hauptangeklagte, der Gewerkschafter und Kommunist Paul Merker (1894–1969), kein Jude war. Die klar antisemitisch untersetzten Vorwürfe in den "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský" richteten sich gegen einen Menschen, dessen einzige "Schuld" darin bestand, sich bereits während seines Exils in Mexiko für eine Restituierung jüdischen Eigentums und die Gründung eines jüdischen Staates in Israel eingesetzt zu haben. Neben Paul Merker wurden zahlreiche weitere (auch jüdische) Westemigrantinnen und -emigranten als wahlweise "zionistische" oder amerikanische Agenten bespitzelt, "entlarvt", verhört und verhaftet. Alfred Kantorowicz (1899–1979), ein jüdischer Publizist und Literaturwissenschaftler, kam 1957 seiner Verhaftung durch Flucht in die Bundesrepublik zuvor, wo er zwar frei publizieren durfte, aber als ehemaliges SED-Mitglied Benachteiligungen erdulden musste. In seinem "Deutschen Tagebuch" kommentierte er die Begleitumstände der Slánský-Prozesse: "Das ist die Sprache Streichers, die Gesinnung Himmlers, die Atmosphäre der Gestapoverhöre und der Volksgerichtshofverhandlungen unter Freislers Vorsitz, die ,Moral‘ der Menschenschlächter von Dachau und Buchenwald, der Vergaser von Auschwitz und Majdanek. Es ist unmenschlich. Hitler, du hast Schule gemacht – nicht nur im Westen ..., sondern auch im Osten." Jüdische Gemeinden in der DDR Sinkende Mitgliederzahlen Im Zuge der antisemitischen Verfolgungen jener Jahre sahen sich die jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands wachsenden Repressionen ausgesetzt und wurden systematisch vom Ministerium für Staatssicherheit überwacht. Jüdische Mitglieder der SED zogen sich bereits 1951 aus den Gemeinden zurück. Angesichts der akut bedrohlichen Situation entschieden sich am 13./14. Januar 1953 fünf der acht Vorsitzenden jüdischer Gemeinden in der DDR zur Flucht in den Westen. Mit ihnen verließen etwa 400 bis 500 Jüdinnen und Juden, insgesamt circa 20 Prozent der Gemeindemitglieder, den "sozialistischen" deutschen Staat. Nach der Shoah war es eigentlich für die meisten kaum vorstellbar gewesen, in Deutschland je wieder jüdisches Leben zu etablieren. Dennoch hatten sich in den Nachkriegsjahren die eigentlich nur als Durchgangsstation zu einer Emigration gedachten Gemeinden zu dauerhaften Einrichtungen verfestigt. Die zahlenmäßig größte unter ihnen war die (noch nicht in Ost und West geteilte) Berliner jüdische Gemeinde, die Anfang 1946 noch 7070 Mitglieder zählte. Daneben gründeten sich etliche weitere Gemeinden, unter denen die Leipziger innerhalb der SBZ/DDR die größte war (1946: 300 Mitglieder). Kleinere Gründungen mit weniger als 20 Mitgliedern wie Plauen, Jena, Gera oder Eisenach stellten Ende der 1940er-/Anfang der 1950er-Jahre ihre Tätigkeit wieder ein. Neben Leipzig und Berlin-Ost überdauerten auf dem Gebiet der DDR die Gemeinden in Dresden, Erfurt, Halle/Saale, Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Schwerin. Nach den Repressionen der frühen 1950er-Jahre sanken die Mitgliederzahlen beträchtlich – in Leipzig beispielsweise von 317 (1950) auf 173 im Sommer 1953. Für das Jahr 1955 wies die Statistik nur noch 1715 Mitglieder für alle jüdischen Gemeinden der DDR aus. Dies zeigt einen deutlichen Verlust an, wenn auch nicht der gesamte Rückgang auf das Konto der antisemitischen Verfolgungen gegangen sein mag. QuellentextDie SED und ihr Verhältnis zu jüdischen Gemeinden Juri Rosov [der Mitte der 90er-Jahre aus der Ukraine kam und heute Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Rostock ist] ist stolz auf seine große jüdische Gemeinde in Rostock. Auszüge aus einer Radioreportage über ihn, seine Gemeinde und das Judentum in der DDR 2015 [...] Zu DDR-Zeiten arrangierten sich die ostdeutschen Juden mit dem real existierenden Sozialismus. Der Beginn der jüdischen Gemeinden nach 1945 deutete schon an, dass die Koexistenz von Judentum und Sozialismus nicht immer einfach sein würde. […] Der damalige mecklenburgische Minister für Volksbildung und Kultur, Gottfried Grünberg, hielt der jüdischen Gemeinde vor, dass sie Hilfspakete aus den USA erhielt […]. Und in der Tat sorgten die sogenannten Joint-Pakete für Begehrlichkeiten. Joint – das war eine amerikanische Hilfsorganisation zur Unterstützung bedürftiger Juden. Die begehrten Pakete mit Büchsenmilch und Butter, Käse und Kaffee, Zigaretten und Zahnpasta hatten zur Folge, dass die jüdischen Gemeinden Anträge auf Neuaufnahmen kritisch durchleuchten mussten, um nicht Trittbrettfahrer, die keine Juden waren, aufzunehmen. […] Nach dem Krieg gab es in Mecklenburg und Vorpommern rund 150 Jüdinnen und Juden. Die meisten von ihnen hatten die KZs überlebt, einige führten sogenannte Mischehen, andere kamen aus dem Exil zurück. […] Die meisten, die aus dem Exil kamen, wollten sich oft auch nicht öffentlich zum Judentum bekennen. Ein Grund, warum sich gerade kommunistische Juden immer mehr von den Gemeinden entfernten, war wohl der Druck der SED. […]. Der Potsdamer Historiker Mario Keßler erläutert: "Es ist richtig, dass ein im starken Maße von der Sowjetunion initiierter Antisemitismus dazu führte, dass im Winter 1952/53 die jüdischen Gemeinden pauschal als potenzielle Agentenzentren westlicher Geheimdienste galten. Es gab Verhaftungen, es gab Fluchtbewegungen in den Westen." Betroffen von Verfolgungen waren auch jüdische Spitzenfunktionäre wie Julius Meyer, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR. Er wurde tagelang verhört und sollte eine Erklärung unterschreiben, dass es in der DDR keinen Antisemitismus gebe und die DDR ein antifaschistischer Staat sei. Meyer, seit 1930 in der KPD und Auschwitz-Überlebender, floh daraufhin im Januar 1953 in den Westen. […] Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck der SED auf jüdische Bürger nach. SED-Parteigenossen durften auch wieder Mitglied der jüdischen Gemeinden werden. Doch der Aderlass war unübersehbar. Aus dem gesamten Norden der DDR kamen Juden nun nach Schwerin, um den Minjan zu erfüllen: Das heißt, die Vorschrift, dass mindestens zehn religionsmündige Männer anwesend sein müssen, um einen Gottesdienst zu feiern. Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde die jüdische Gemeinschaft erst wieder 1967 – beim Sechstagekrieg zwischen Israel und den drei arabischen Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien. Der DDR-Verband der jüdischen Gemeinden hatte beschlossen, keine antizionistischen Erklärungen abzugeben, obwohl die SED Druck ausübte, dass die jüdischen Gemeinden sich gegen Israel positionieren sollten. […] Es unterschrieben aber nur acht mehr oder wenige prominente jüdische DDR-Bürger diese Erklärung. […] Auch in den 70er-Jahren stand die Israel-Politik der SED zwischen den jüdischen Gemeinden und der Staatsführung der DDR. Irene Runge, die seit den 60er-Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde im Osten Berlins war, erzählt von der Empörung in den Gemeinden, als damals eine Karikatur in einem SED-Parteiblatt eine jüdische Menora als Flammenwerfer gegen unschuldige Palästinenser darstellte. "Ich erinnere mich noch, dass wir gemeinsam einen Brief verfassten an das ZK und dagegen protestierten. Ab Mitte der 70er-Jahre gab es da einen klaren Widerspruch seitens der Gemeinden." […]. In der Öffentlichkeit tauchten jüdische Gemeinden fast nicht auf. Viele Juden waren seit den 70er-Jahren vor allem auf der Suche nach einer Identität, sagt die Soziologin Irene Runge […]. So ging sie regelmäßig in das einzige Geschäft der DDR, in dem man koscher einkaufen konnte: "Ich habe da Fleisch gekauft, weil es damals schwierig war, gutes Rindfleisch in der DDR zu kriegen. Und dieses Gefühl, dazu zu gehören, war ja immer wichtig. Wenn man so in einer Schlange steht, dann wird man sich ja auch vertrauter. Dann haben sie Matze verkauft und koscheren Wein. Nicht, dass man wusste, wozu das nötig ist. Ich glaube, wir haben alle angefangen einen Davidstern um den Hals zu tragen, was ja völlig Quatsch war. Man sucht ja etwas, womit man sich nach außen hin auch definiert. Und dann will man sich eigentlich abgrenzen, aber eigentlich will man natürlich immer noch dazugehören." In den 80er-Jahren entspannte sich das Verhältnis der SED zum Judentum. "Die DDR ging allgemein in den 80er-Jahren viel unbefangener mit dem jüdischen Erbe deutscher Geschichte um. Es gab zwei Tabus: Das eine war die Kampagne der Jahre 52/53, darüber wurde geschwiegen. Das andere Tabu war die Rolle dissidenter jüdischer Marxisten in der Arbeiterbewegung, wie zum Beispiel Paul Levy, wie Arthur Rosenberg oder wie August Thalheimer. Und fast bis zuletzt war natürlich der Name des größten kommunistischen Dissidenten, der zugleich Jude war, nämlich Leo Trotzki, ein Tabuthema." Die neue Ausrichtung der SED war auch in Schwerin zu spüren. […] Mitte der 80er-Jahre wird so aus dem jüdischen Gemeindehaus am Schweriner Schlachtermarkt ein kleines Museum. "Es war das erste Museum in der DDR, das sich mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt hat." […] Noch heute finden sich rund 50 jüdische Friedhöfe in Mecklenburg-Vorpommern; 20 wurden zu DDR-Zeiten zweckentfremdet, meist ohne Protest des Landesverbandes. "[…] Die haben gesagt: Wir brauchen Geld, wir brauchen das Gelände nicht mehr, verkaufen wir. Wäre heute undenkbar, aber zu DDR-Zeiten wurde das öfter gemacht hier oben." Am Ende der DDR gab es in den Nordbezirken keine zehn jüdischen Gemeindemitglieder mehr. Doch nach der friedlichen Revolution kamen Anfang der 90er-Jahre Zigtausende jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland – auch nach Mecklenburg-Vorpommern. Heute leben dort in den jüdischen Gemeinden mehr als doppelt so viele Menschen wie vor dem Holocaust. Michael Hollenbach, "Vom Überleben einer Minderheit", in: Deutschlandfunk vom 17. Oktober 2015 Die verlorene jüdische Identität? Das spirituelle Leben in den jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands litt jedoch nicht nur unter dem dramatischen Rückgang an Mitgliedern, sondern auch unter dem Mangel an elementarer Infrastruktur, an fehlenden Bildungsmöglichkeiten und rabbinischer Begleitung. Nach der weitgehenden Zerstörung der jüdischen Einrichtungen während der NS-Zeit war es äußerst schwierig, Tora-Rollen oder Gebetbücher, Literatur über jüdische Festtage oder koschere Lebensmittel zu beschaffen. Zudem war die weit überwiegende Mehrzahl der in der DDR verbliebenen Jüdinnen und Juden areligiös sozialisiert, hatte also längst jede Bindung an die Tradition ihrer Vorfahren aufgegeben. Nach dem Ende der DDR verstärkte sich in der Generation der Kinder und Enkel der Wunsch, die verloren gegebene jüdische Identität zurückzugewinnen, was in einer größeren Anzahl von biografischen und literarischen Recherchen zu beobachten ist. Durch Stalins Tod am 5. März 1953 und die nachfolgende Kurskorrektur der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) flaute die unmittelbare Repression gegen die Jüdinnen und Juden innerhalb und außerhalb der Gemeinden ab. Die meisten Verfolgten wurden aus der Haft entlassen; manch einer an Körper und Seele gebrochen. Andere – wie der einstige Chefredakteur des SED-Parteizeitung "Neues Deutschland", Lex Ende (1899–1951) – überlebten den Parteiausschluss und die "Bewährung in der Produktion" nicht. Erst im Jahre 1989 wurde er "rehabilitiert". QuellentextEine kleine, eingeschworene Gemeinschaft Alle jüdischen Familien hatten Tote zu beklagen, die meisten Synagogen waren in der Pogromnacht verbrannt. Und trotzdem entschieden sich einige, ins Land der Täter zurückzukehren oder zu bleiben. Manche setzten große Hoffnungen in die DDR, die sich als antifaschistischer Staat definierte. Doch wie lebten Juden in dem atheistischen Land? […] Renate Aris überlebte den Holocaust versteckt in Dresden, ihr Vater war dort nach dem Krieg 30 Jahre lang Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Seit den 1960er-Jahren lebt sie in Chemnitz. Nach dem Krieg begann für die Familie ein neues Leben in Deutschland. Ein Neuanfang im Land der Täter? Diese Frage stellte sich so nicht, wie sich Renate Aris erinnert. Nach Jahren der Angst, endlich ein normales Leben führen, in die Schule gehen zu können – das allein zählte für das junge Mädchen. […] In Dresden, wo die Familie […] Aris lebte […], gab es nach 1945 keine Synagoge mehr – sie war in der Pogromnacht und den Tagen danach zerstört worden. So erlebte Renate Aris 1948 ihre Bat Mizwa in dem Gemeindehaus in Dresden-Neustadt, als erste nach dem Krieg: "Als ich die zehn Gebote auf Hebräisch vortrug, war plötzlich ein ganz lautes Schluchzen zu hören. Normalerweise ist eine Bat Mizwa Anlass zur Freude für die Familie und die Gemeinde. Man wird in die Erwachsenengemeinschaft aufgenommen. Ich fragte eine alte Dame, die lange im KZ war, warum? ‚Ja, sagte sie: Wir haben jahrelang täglich dem Tod ins Auge geschaut. Dass wir noch einmal so ein wichtiges Fest erleben, hätten wir uns nicht träumen lassen.‘" (Renate Aris) […] Die DDR verurteilte Antisemitismus und finanzierte in Erfurt und Dresden Anfang der 1950er-Jahre den Bau oder Umbau der Synagogen – als "Akt der Wiedergutmachung". Aber einfach war es damals nicht für die Juden im Osten. 1952 und 1953 wurden unter Stalin jüdische Intellektuelle verfolgt – das verbreitete auch in der DDR Schrecken in den jüdischen Gemeinden. Religiös gebunden zu sein, galt als Relikt aus vor-sozialistischen Zeiten. Den neu gegründeten Staat Israel hatte Stalin als imperialistischen Feind definiert. Jüdischen Gemeinden standen so in Verdacht, potenzielle Agentenzentren für den Westen zu sein. Gerade aktive jüdische Gemeindemitglieder verließen den vermeintlich "besseren Teil Deutschlands" wieder gen Westen. "Der Dresdner Vorstand ist geschlossen weggegangen. Die Menschen hatten einfach Angst, dass diese politische Situation, wie sie sich in der Stalin-Ära in dieser Zeit war, überschwappt." (Renate Aris) Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck nach. Die Familie […] Aris […] [blieb] im Land und zeigte […] sich auch in Folge weitestgehend staatstreu. Der DDR waren die Juden insofern wichtig, als sie ein Beleg für gelebten Antifaschismus sein sollten. Entschädigt, wie in der BRD, wurden die Juden nicht. Denn die DDR sah sich eben wegen ihrer Antifaschismus-Doktrin nicht als Rechtsnachfolger des NS-Regimes. Aber es gab Vergünstigungen; eine etwas höhere Rente, die Erlaubnis, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zu nutzen. […] Renate Aris lobt die ausgezeichnete ärztliche Betreuung durch die sogenannten VdN-Ärzte (VdN – Verfolgte des Nazi-Regimes): "Man ging dann zu diesen Ärzten. Wir konnten auch jederzeit, wenn der Arzt das für nötig hielt, eine Kur antreten. Das war hervorragend." Bis 1961 hatten "alle acht jüdischen Gemeinden in der DDR wieder ihr eigenes Heim", wie die DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" zur Einweihung des Karl-Marx-Städter Gemeindehauses am 23. Oktober 1961 berichtete. Aber die Gemeinden waren klein und überaltert. Das erlebte auch Renate Aris, als sie nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, zog, um am Theater als Kostümbildnerin zu arbeiten. "Es war eine eingeschworene Gemeinschaft in der DDR, die Gemeinden wurden immer kleiner, es kam ja niemand hinzu. Ein Gottesdienst beispielsweise kann nur stattfinden, wenn zehn Männer da sind, die eine Bar Mitzwa hatten. So viele gab es hier gar nicht mehr." (Renate Aris) […] Ende 1980er-Jahren lebten etwa 400 Jüdinnen und Juden in der DDR. Auf die Frage, ob sie sich als Minderheit gefühlt oder Antisemitismus erfahren habe, antwortet Renate Aris: "Ich habe persönlich keine Erfahrungen damit machen müssen. Aber das will nichts besagen. Wir haben gelebt, wie jeder DDR-Bürger auch." Nach der Wende hat sie die neuen Gemeindemitglieder willkommen geheißen. Heute hat sie etwa 500 Mitglieder. […] Zeitzeugen berichten "Ich war ein DDR-Bürger und auch jüdisch", MDR vom 9. Oktober 2020; Externer Link: www.mdr.de/religion/juedisches-leben/juden-in-der-ddr-renate-aris-herbert-lappe100.html Sozialistische Staatsbürger jüdischen Glaubens? Die 1960er- und 1970er-Jahre Insbesondere der Antisemitismus der späten Stalin-Ära sowie die Hinwendung des Ostblocks zu den arabischen Ländern in den frühen 1960er-Jahren verhinderten eine kontinuierliche Entwicklung der jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands. Diese führten in der Regel ein Nischen- und Schattendasein abseits öffentlichen Interesses. Manchmal allerdings wurden die "Vertreter jüdischen Lebens", wie es in den Zeitungen der SED oder der mit ihr verbündeten Blockparteien zumeist hieß, unfreiwillig ans Licht gezerrt – wenn es nämlich darum ging, die vermeintlichen Untaten des Staates Israel in Resolutionen oder Leserbriefen anzuprangern. Die Hallstein-Doktrin/Beziehungen zu Israel Die ohnehin antizionistische Ausrichtung der DDR wurde durch den Anspruch der Bundesrepublik Deutschland verschärft, die einzig legitime Vertreterin des deutschen Volkes zu sein. Jener "Alleinvertretungsanspruch" fand seinen Ausdruck in der (zu Unrecht) nach Staatssekretär Walter Hallstein benannten Grundlinie, der Hallstein-Doktrin (1955–1969). Sie besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen eines Staates mit der DDR als "unfreundlicher Akt" gegenüber der BRD angesehen und auf den mit nicht näher bezeichneten Gegenmaßnahmen reagiert werden würde. Die Hallstein-Doktrin führte zu einer Art Wettbewerb der beiden Staaten um die exklusive Gunst anderer Länder und zu einer spiegelbildlichen An- und Aberkennung diplomatischer Beziehungen. Als der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser (1918–1970) im Januar 1965 das Staatsoberhaupt der DDR, Walter Ulbricht, zu dessen erstem und einzigem Staatsbesuch außerhalb der Staaten des Warschauer Vertrages einlud, kam dies einem schweren Affront gegen die Bundesrepublik gleich. Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel im Mai desselben Jahres waren die Fronten gewissermaßen geklärt. Nun brachen neun arabische Staaten die Beziehungen zum westdeutschen Teilstaat ab – erkannten die DDR aber erst 1969 diplomatisch an. Zu dieser Zeit hatte die DDR im Nahostkonflikt bereits deutlich und scharf Stellung zugunsten der arabischen Länder bezogen. Die Kritik am jüdischen Staat, die mit den Jahren und den wiederholten Kriegen zwischen Israel und den palästinensischen Akteuren bzw. ihren arabischen Verbündeten immer massiver und unsensibler vorgetragen wurde, belastete die jüdischen Gemeinden schwer. Die Angriffe auf den jüdischen Staat gipfelten darin, dass DDR-Medien das Vorgehen Israels im Jom-Kippur-Krieg 1973 oder im Libanonkrieg 1982 mit NS-Methoden gleichsetzten. Die nur noch aus wenigen hundert Mitgliedern bestehenden jüdischen Gemeinden – 1971 waren es noch 1110 Mitglieder, zwei Jahre später nur noch 710 – ließen sich größtenteils nicht zu Propagandazwecken instrumentalisieren. Trotz wiederholter Aufforderung zu öffentlicher Stellungnahme lehnten die meisten Jüdinnen und Juden die Haltung der Partei- und Staatsführung zum Staat Israel ab. Dies galt insbesondere für die von der DDR unterstützte Gleichsetzung des Zionismus mit Rassismus, wie sie in der UNO-Resolution 3379 vom 10. November 1975 zum Ausdruck kam. Zweckgebundene Kursänderung: die 1980er-Jahre Als die DDR in den 1980er-Jahren in große ökonomische Schwierigkeiten geriet, schien sich das Blatt für die zahlenmäßig kaum noch messbare jüdische Gemeinschaft zu wenden. Die Staatsführung der DDR hoffte, durch eine Einladung zu einem offiziellen Staatsbesuch Erich Honeckers in die USA ihre internationale Reputation aufzuwerten. In diesem Zusammenhang strebte die Regierung der DDR danach, sich mit den wichtigsten jüdischen Organisationen und deren Repräsentanten gut zu stellen, ohne in der Frage der Entschädigung jüdischer Opfer größere Zugeständnisse machen zu müssen. Eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Aktivitäten wurde initiiert oder seitens der SED mit Wohlwollen oder direkter Unterstützung begleitet: Angehörige der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Jugendorganisation der SED, entkrauteten den jüdischen Friedhof in Weißensee, die "Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum" wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Synagoge in der Oranienburger Straße wiederaufzubauen. Sogar der amerikanische Rabbiner Isaac Neumann durfte von Herbst 1987 bis zum Mai 1988 in der DDR amtieren – ein Experiment, welches allerdings schnell an den kaum miteinander zu harmonisierenden Erwartungen von Gemeinde und Rabbiner sowie erheblichen Mentalitätsunterschieden scheiterte. Zum 50. Jahrestag der Pogromnacht im November 1988 organisierten das Ministerium für Kultur und der Staatssekretär für Kirchenfragen in Zusammenarbeit mit dem Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR im Berliner Ephraim-Palais eine große Ausstellung zur jüdischen Geschichte mit dem Titel "… und lehrt sie: Gedächtnis!" Schulklassen und Arbeitskollektive fanden sich (nicht immer freiwillig) zur Besichtigung ein. Das Schicksal der DDR war indessen längst besiegelt. Mit dem dramatischen ökonomischen Niedergang und der friedlichen Revolution von 1989 endete auch für die Jüdinnen und Juden im Osten Deutschlands das Leben in einem Staat, der sich selbst als antifaschistisch und sozialistisch deklarierte und seinen Bürgerinnen und Bürgern eine individuelle Stellungnahme dazu konsequent verwehrt hatte. Eine Geschichte, die noch zu erzählen ist: jüdischer Alltag in der DDR Bereits in den 1980er-Jahren begannen sich einzelne Jüdinnen und Juden der zweiten und dritten Generation nach der Shoah für die Traditionen ihrer Familien zu interessieren. Einer von ihnen, Jochana’an Trilse-Finkelstein, erklärt dazu: "Sicherlich hat es mit der Gesamtsituation zu DDR-Zeiten zu tun, als das Jüdische nun nicht gerade unterdrückt wurde, aber im allgemeinen Antifaschismusbegriff unterging, und wenn Jüdisches vorkam, dann war es religiös. Wo blieb also der nichtreligiöse Jude?" Innerhalb der binären Vorstellungswelt der Parteifunktionäre konnte es so etwas wie säkulares Judentum nicht geben: Kommunistinnen und Kommunisten waren selbstverständlich säkular, dann aber nicht wirklich jüdisch – oder sie waren jüdisch, dann aber religiös und also nicht kommunistisch. Für die Nachfahren derjenigen Jüdinnen und Juden, die bewusst in den Osten Deutschlands eingewandert waren, stellte sich die Situation jedoch anders dar. Sie hinterfragten die Ideale ihrer Eltern und Großeltern, die mit der Wirklichkeit im Sozialismus der DDR oft heftig kollidierten. Sie suchten nach ihrem Ort in der Gesellschaft, hatten es aber aufgrund der Andersartigkeit ihrer Familien – die sie zwar empfanden, aber nicht verstanden – schwerer, sich zu orientieren. Erst nach dem Ende der SED-Diktatur schufen sich die Kinder und Enkel der einstigen Migranten ein eigenes Forum: den Jüdischen Kulturverein Berlin, der aus einer informellen Gruppe mit dem bezeichnenden Namen "Wir für uns – Juden für Juden" hervorgegangen war. Christlich-jüdische Beziehungen in der DDR Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bearbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, insbesondere des Genozids an den europäischen Jüdinnen und Juden, ebenso wie die Restitution jüdischen Lebens in der DDR eine Geschichte des Scheiterns war. Diese Analyse sollte jedoch um die Erkenntnis ergänzt werden, dass die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen auch im Westen Deutschlands zunächst wesentlich von einem individuellen bürgerschaftlichen Einsatz getragen war, der sich häufig massiven Widerständen gegenübersah. Ein solches zivilgesellschaftliches Engagement konnte unter den Bedingungen der Diktatur im Osten Deutschlands nicht in vergleichbarem Umfang gedeihen. Es gab jedoch zu jeder Zeit Menschen, denen es um eine gründliche und ernsthafte Bearbeitung der deutschen Schuld und um eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit der Shoah ging. Sie mussten sich allerdings – anders als in der Bundesrepublik – in der Regel unter dem Dach der evangelischen Gemeinden zusammenfinden, um ihren Aktivitäten nachzugehen oder Recherchen zu unternehmen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Arbeitskreise und Initiativen, wie die Aktion Sühnezeichen in der DDR oder die Arbeitsgemeinschaft Judentum und Christentum des Berliner Pfarrers Johannes Hildebrandt. Auch die feindselige Haltung des SED-Regimes gegenüber dem modernen Staat Israel traf innerhalb der Evangelischen Kirche der DDR auf Widerstand. So distanzierten sich deren Bischöfe in einer Erklärung der Konferenz der Kirchenleitungen am 10. Januar 1976 von der UNO-Erklärung zum Zionismus vom 10. November 1975. Die zivilgesellschaftlichen Nischen unter kirchlichem Dach boten auch den wenigen jüdischen Aktivisten ein Forum, das sie anderenorts vermissten. Hier konnten sie ihre Themen einem Publikum vorstellen und diskutieren. Der Dresdener Jude Helmut Eschwege schildert in seinen Erinnerungen verschiedene Episoden seiner Vortragstätigkeit in Kirchgemeinden und Pfarrkonventen sowie Tagungen der evangelischen Akademien – beginnend etwa im Jahre 1954: "Der Anstoß zur Unterstützung und zur Zusammenarbeit mit der ‚Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit‘ ergab sich aus meiner Enttäuschung darüber, daß nach dem Slánský-Prozeß die regierende sozialistische Partei unter der Devise ‚Kampf dem Kosmopolitismus‘ den Antisemitismus propagierte. Vor allem deshalb suchte ich mir einen neuen Wirkungskreis, den ich in meiner Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur und in den Bewegungen ‚Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum‘ fand, deren Verhalten zum Judentum sich grundlegend geändert hatte. Diese christlichen Kreise waren auf wenige Theologen und Gemeindemitglieder und vor allem auf die Jugendbewegung ‚Aktion Sühnezeichen‘ beschränkt. […] Ab 1979 beteiligte ich mich regelmäßig an den Jahrestagungen der Leipziger Arbeitsgemeinschaft ‚Kirche und Judentum‘, die zum Teil auch in Dresden stattfanden. Meist waren etwa 50 Personen anwesend, ein Kreis, der die gehaltenen Referate auch weitertragen konnte, so zum Beispiel Pfarrer, Katecheten, Vikare, Theologiestudenten und andere. Die Referate behandelten vorwiegend jüdische Themen, und oft hatte ich eines übernommen." Aufarbeitung durch die Kultur Außerhalb kirchlicher Kreise gab es für die Bevölkerung der DDR immerhin vielfältige Möglichkeiten, sich über die Shoah zu informieren. Zwar wurde in den offiziellen Verlautbarungen, in Schule und Universität, Betrieben und Parteiveranstaltungen, in Zeitungen und Jugendzeitschriften eine aggressive Propaganda gegen den modernen Staat Israel vorgetragen, die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus fanden jedoch selten explizit Erwähnung. Zur gleichen Zeit aber erzählte die Kinder- und Jugendliteratur der DDR von jüdischen Opfern der Shoah, zeigten landesweit laufende Kino- und Fernsehfilme zahlreiche Facetten der antisemitischen Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur auf. Schriftsteller und Dichter der DDR beschrieben differenziert die Ereignisse jener Jahre sowie den Umgang mit Tätern und (jüdischen) Opfern nach 1945. Es scheint, als hätte die DDR-Kulturpolitik das Verdikt ihrer Außen- und Bildungspolitik relativieren wollen. Auch wenn die Haltung der SED-Führung zu Israel und zur Shoah durch nichts zu rechtfertigen ist; auch wenn die verhinderte Bearbeitung der individuellen und kollektiven Verantwortung im Osten Deutschlands als eine schwere Hypothek jener Zeit gelten muss: Die Positionen einer diktatorischen Führungsschicht waren und sind nicht zwingend identisch mit den Haltungen und Einsichten aller von ihnen beherrschten Menschen. Was die DDR-Bürgerinnen und Bürger über die Shoah wussten oder wissen konnten; ob sie sich von den zahlreichen künstlerischen Beiträgen zur jüdischen Geschichte Deutschlands mehr beeindrucken ließen als von der staatlich verordneten Ideologie sind Fragen, die noch ihrer Beantwortung harren. QuellentextWar die DDR ein antisemitischer Staat? Die reale Staatspolitik, ja von Anetta Kahane Neulich hat mir ein DDR-Offizieller erzählt, dass es Juden, die in den Westen zurückkehrten, passieren konnte, dass ihr Restitutionsantrag von dem gleichen Beamten bearbeitet wurde, der schon ihre Enteignung abwickelt hatte; so etwas hätte in der DDR nicht passieren können, sagte der Mann. Ja, habe ich geantwortet, das konnte in der DDR nicht passieren, weil dort ein Jude keinen Rückgabeantrag stellen konnte. Antisemitismus war zwar nicht Bestandteil der Staatsräson, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der DDR antisemitische Politik betrieben wurde. Man kann schon in den frühen 50er-Jahren ein systematisches Misstrauen des Staates sowohl gegenüber religiösen wie kommunistischen Juden nachweisen; es gab eine komplette "Judenliste" in der SED. […] Der systematische Antisemitismus in der DDR drückte sich zum Beispiel in unterschiedlichen Rentenhöhen für jüdische und kommunistische Opfer des Nationalsozialismus aus. Den Juden wurde indirekt eine Mitschuld an ihrem Leid gegeben: Sie hätten ja nicht, wie die Kommunisten, gegen den Faschismus gekämpft, sondern sich ihrem Schicksal ergeben. Bei all dem wähnte sich die SED auf der marxistisch sicheren Seite: Der Faschismus galt in der Definition von Georgi Dimitroff, Generalsekretär der Komintern, als "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals". […] Zwar außerhalb der Definition, aber doch leicht erkennbar, ist diese Behauptung antisemitisch konnotiert: Man denkt an den "reichen Juden", den "jüdischen Banker". […] [Die DDR argumentierte], dass die Juden ja keine Nation oder Volk seien, sondern bloß eine Religion bildeten. Dieser Blick auf Juden hatte Auswirkungen auf die Ehrung der Opfer des Holocaust: Die Juden wurden unter den Gruppen der Ermordeten einfach nicht aufgelistet. Die seien ja Staatsbürger mit einer bestimmten Religion, hieß es. Aber jüdische Holländer wurden ja nicht ermordet, weil sie Holländer waren! Dass es die Juden waren, die ganz gezielt zu Opfern der Nazis wurden, verschwieg man systematisch. Ihr Andenken wurde gelöscht und abgelöst durch eine instrumentalisierte Geschichtsbetrachtung, die der Rechtfertigung der DDR als antifaschistischem Staat diente. Diese ideologisierte Erinnerung wurde benutzt, um im Kalten Krieg die Rolle des moralisch Überlegenen gegenüber dem von Nazipräsenz durchzogenen westdeutschen Staat zu spielen. […] Die ideologische Basis der DDR, ihre deutsche Geschichte und ihre Bevölkerung, die nach dem Ende des Krieges keinesfalls von einem anderen Stern, sondern aus dem gleichen Deutschland der Täter und Mitläufer kam, waren so etwas wie das Betriebssystem, auf dem Antisemitismus fortgeschrieben, betrieben und ignoriert wurde. […] War die DDR also ein antisemitischer Staat? Ja und nein. Nein, weil der Antisemitismus nicht zur Staatsräson gehörte. Ja, weil die reale Staatspolitik immer von Antisemitismus durchsetzt war. Nicht pauschal, nein von Nora Goldenbogen Ich denke in dieser Pauschalität kann man das nicht sagen. Erstens ist das eine Frage der verschiedenen historischen Phasen des Staates DDR, die man detailliert betrachten muss. Zweitens war der Antisemitismus in der DDR keine Staatsdoktrin. Deswegen bin ich vorsichtig, wenn es heißt, die DDR sei ein antisemitischer Staat gewesen. Außerdem besteht die Gefahr, damit die auf Antisemitismus beruhenden Menschheitsverbrechen der Nazis zu nivellieren. Es gab Phasen in der DDR-Geschichte, in denen Antisemitismus in der politischen Ausrichtung eine Rolle gespielt hat. Vor allem zwischen 1949 und 1953, während der spätstalinistischen "Säuberungen" in der SED und im Staatsapparat. […] In dieser Phase kann man durchaus von judenfeindlichen Zügen in der Politik sprechen. […] Die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 beurteile ich allerdings anders. Die Anfänge sahen Antifaschismus als Grundkonsens vor. Die Auseinandersetzung, warum der Antisemitismus zu den Grundlagen der NS-Ideologie gehörte, warum antisemitische Klischees so tief im Denken vieler Menschen verwurzelt waren, wurde allerdings auch damals schon viel zu selten geführt. […] Was die Situation der jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands betrifft, so sollte man auch hier historisch korrekt bleiben. Kurz nach 1945, als sich die ersten Gemeinden wieder gegründet hatten, gab es ein sehr enges Miteinander mit den jeweiligen Landesverwaltungen. Es gab Unterstützung und Akzeptanz. Viele Funktionäre der jüdischen Gemeinden waren davon überzeugt, dass es notwendig war, einen gemeinsamen Neuanfang zu wagen. […] [Es] gab bis zum Ende der DDR eine ausreichende finanzielle Unterstützung für die jüdischen Gemeinden. Die Ausübung der Religion war gewährleistet, auch wenn sie nicht besonders gefördert wurde. Spätestens seit Ende der 60er-Jahre wurden die Gemeinden auch gesellschaftlich wieder stärker wahrgenommen. Probleme traten dann auf, wenn aus den Gemeinden und ihren Vorständen kritische Äußerungen zur Politik der DDR oder zur Haltung des Staates gegenüber Israel kamen. Aber ich weiß nicht, ob diese Konflikte unter dem Begriff Antisemitismus zu subsumieren sind, oder ob sie nicht eher etwas damit zu tun haben, dass gesellschaftliche Kritik und unterschiedliche Meinungen zu politischen Fragen von vielen Verantwortungsträgern in der DDR nicht zugelassen wurden. […] Unbedingt sollte aber noch ein generelles Defizit erwähnt werden, das die Geschichte der DDR durchzieht: die unzureichende Beschäftigung mit dem Judentum, sowohl im Schulunterricht als auch an den Universitäten. Das ist bis heute zu spüren. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen des Antisemitismus, seinen Wurzeln und Erscheinungsformen. Hier haben wir immer noch großen Nachholbedarf. "War die DDR ein antisemitischer Staat", in: Jüdische Allgemeine vom 13. November 2008 Die DDR versteht sich als antifaschistischer Staat: Alfred Neumann, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, hält am 8. September 1974 eine Rede auf einer Großkundgebung zum Gedenken an die Opfer des Faschismus auf dem Bebelplatz in Ost-Berlin. (© picture-alliance/akg) Juri Rosov [der Mitte der 90er-Jahre aus der Ukraine kam und heute Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Rostock ist] ist stolz auf seine große jüdische Gemeinde in Rostock. Auszüge aus einer Radioreportage über ihn, seine Gemeinde und das Judentum in der DDR 2015 [...] Zu DDR-Zeiten arrangierten sich die ostdeutschen Juden mit dem real existierenden Sozialismus. Der Beginn der jüdischen Gemeinden nach 1945 deutete schon an, dass die Koexistenz von Judentum und Sozialismus nicht immer einfach sein würde. […] Der damalige mecklenburgische Minister für Volksbildung und Kultur, Gottfried Grünberg, hielt der jüdischen Gemeinde vor, dass sie Hilfspakete aus den USA erhielt […]. Und in der Tat sorgten die sogenannten Joint-Pakete für Begehrlichkeiten. Joint – das war eine amerikanische Hilfsorganisation zur Unterstützung bedürftiger Juden. Die begehrten Pakete mit Büchsenmilch und Butter, Käse und Kaffee, Zigaretten und Zahnpasta hatten zur Folge, dass die jüdischen Gemeinden Anträge auf Neuaufnahmen kritisch durchleuchten mussten, um nicht Trittbrettfahrer, die keine Juden waren, aufzunehmen. […] Nach dem Krieg gab es in Mecklenburg und Vorpommern rund 150 Jüdinnen und Juden. Die meisten von ihnen hatten die KZs überlebt, einige führten sogenannte Mischehen, andere kamen aus dem Exil zurück. […] Die meisten, die aus dem Exil kamen, wollten sich oft auch nicht öffentlich zum Judentum bekennen. Ein Grund, warum sich gerade kommunistische Juden immer mehr von den Gemeinden entfernten, war wohl der Druck der SED. […]. Der Potsdamer Historiker Mario Keßler erläutert: "Es ist richtig, dass ein im starken Maße von der Sowjetunion initiierter Antisemitismus dazu führte, dass im Winter 1952/53 die jüdischen Gemeinden pauschal als potenzielle Agentenzentren westlicher Geheimdienste galten. Es gab Verhaftungen, es gab Fluchtbewegungen in den Westen." Betroffen von Verfolgungen waren auch jüdische Spitzenfunktionäre wie Julius Meyer, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR. Er wurde tagelang verhört und sollte eine Erklärung unterschreiben, dass es in der DDR keinen Antisemitismus gebe und die DDR ein antifaschistischer Staat sei. Meyer, seit 1930 in der KPD und Auschwitz-Überlebender, floh daraufhin im Januar 1953 in den Westen. […] Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck der SED auf jüdische Bürger nach. SED-Parteigenossen durften auch wieder Mitglied der jüdischen Gemeinden werden. Doch der Aderlass war unübersehbar. Aus dem gesamten Norden der DDR kamen Juden nun nach Schwerin, um den Minjan zu erfüllen: Das heißt, die Vorschrift, dass mindestens zehn religionsmündige Männer anwesend sein müssen, um einen Gottesdienst zu feiern. Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde die jüdische Gemeinschaft erst wieder 1967 – beim Sechstagekrieg zwischen Israel und den drei arabischen Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien. Der DDR-Verband der jüdischen Gemeinden hatte beschlossen, keine antizionistischen Erklärungen abzugeben, obwohl die SED Druck ausübte, dass die jüdischen Gemeinden sich gegen Israel positionieren sollten. […] Es unterschrieben aber nur acht mehr oder wenige prominente jüdische DDR-Bürger diese Erklärung. […] Auch in den 70er-Jahren stand die Israel-Politik der SED zwischen den jüdischen Gemeinden und der Staatsführung der DDR. Irene Runge, die seit den 60er-Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde im Osten Berlins war, erzählt von der Empörung in den Gemeinden, als damals eine Karikatur in einem SED-Parteiblatt eine jüdische Menora als Flammenwerfer gegen unschuldige Palästinenser darstellte. "Ich erinnere mich noch, dass wir gemeinsam einen Brief verfassten an das ZK und dagegen protestierten. Ab Mitte der 70er-Jahre gab es da einen klaren Widerspruch seitens der Gemeinden." […]. In der Öffentlichkeit tauchten jüdische Gemeinden fast nicht auf. Viele Juden waren seit den 70er-Jahren vor allem auf der Suche nach einer Identität, sagt die Soziologin Irene Runge […]. So ging sie regelmäßig in das einzige Geschäft der DDR, in dem man koscher einkaufen konnte: "Ich habe da Fleisch gekauft, weil es damals schwierig war, gutes Rindfleisch in der DDR zu kriegen. Und dieses Gefühl, dazu zu gehören, war ja immer wichtig. Wenn man so in einer Schlange steht, dann wird man sich ja auch vertrauter. Dann haben sie Matze verkauft und koscheren Wein. Nicht, dass man wusste, wozu das nötig ist. Ich glaube, wir haben alle angefangen einen Davidstern um den Hals zu tragen, was ja völlig Quatsch war. Man sucht ja etwas, womit man sich nach außen hin auch definiert. Und dann will man sich eigentlich abgrenzen, aber eigentlich will man natürlich immer noch dazugehören." In den 80er-Jahren entspannte sich das Verhältnis der SED zum Judentum. "Die DDR ging allgemein in den 80er-Jahren viel unbefangener mit dem jüdischen Erbe deutscher Geschichte um. Es gab zwei Tabus: Das eine war die Kampagne der Jahre 52/53, darüber wurde geschwiegen. Das andere Tabu war die Rolle dissidenter jüdischer Marxisten in der Arbeiterbewegung, wie zum Beispiel Paul Levy, wie Arthur Rosenberg oder wie August Thalheimer. Und fast bis zuletzt war natürlich der Name des größten kommunistischen Dissidenten, der zugleich Jude war, nämlich Leo Trotzki, ein Tabuthema." Die neue Ausrichtung der SED war auch in Schwerin zu spüren. […] Mitte der 80er-Jahre wird so aus dem jüdischen Gemeindehaus am Schweriner Schlachtermarkt ein kleines Museum. "Es war das erste Museum in der DDR, das sich mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt hat." […] Noch heute finden sich rund 50 jüdische Friedhöfe in Mecklenburg-Vorpommern; 20 wurden zu DDR-Zeiten zweckentfremdet, meist ohne Protest des Landesverbandes. "[…] Die haben gesagt: Wir brauchen Geld, wir brauchen das Gelände nicht mehr, verkaufen wir. Wäre heute undenkbar, aber zu DDR-Zeiten wurde das öfter gemacht hier oben." Am Ende der DDR gab es in den Nordbezirken keine zehn jüdischen Gemeindemitglieder mehr. Doch nach der friedlichen Revolution kamen Anfang der 90er-Jahre Zigtausende jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland – auch nach Mecklenburg-Vorpommern. Heute leben dort in den jüdischen Gemeinden mehr als doppelt so viele Menschen wie vor dem Holocaust. Michael Hollenbach, "Vom Überleben einer Minderheit", in: Deutschlandfunk vom 17. Oktober 2015 Alle jüdischen Familien hatten Tote zu beklagen, die meisten Synagogen waren in der Pogromnacht verbrannt. Und trotzdem entschieden sich einige, ins Land der Täter zurückzukehren oder zu bleiben. Manche setzten große Hoffnungen in die DDR, die sich als antifaschistischer Staat definierte. Doch wie lebten Juden in dem atheistischen Land? […] Renate Aris überlebte den Holocaust versteckt in Dresden, ihr Vater war dort nach dem Krieg 30 Jahre lang Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Seit den 1960er-Jahren lebt sie in Chemnitz. Nach dem Krieg begann für die Familie ein neues Leben in Deutschland. Ein Neuanfang im Land der Täter? Diese Frage stellte sich so nicht, wie sich Renate Aris erinnert. Nach Jahren der Angst, endlich ein normales Leben führen, in die Schule gehen zu können – das allein zählte für das junge Mädchen. […] In Dresden, wo die Familie […] Aris lebte […], gab es nach 1945 keine Synagoge mehr – sie war in der Pogromnacht und den Tagen danach zerstört worden. So erlebte Renate Aris 1948 ihre Bat Mizwa in dem Gemeindehaus in Dresden-Neustadt, als erste nach dem Krieg: "Als ich die zehn Gebote auf Hebräisch vortrug, war plötzlich ein ganz lautes Schluchzen zu hören. Normalerweise ist eine Bat Mizwa Anlass zur Freude für die Familie und die Gemeinde. Man wird in die Erwachsenengemeinschaft aufgenommen. Ich fragte eine alte Dame, die lange im KZ war, warum? ‚Ja, sagte sie: Wir haben jahrelang täglich dem Tod ins Auge geschaut. Dass wir noch einmal so ein wichtiges Fest erleben, hätten wir uns nicht träumen lassen.‘" (Renate Aris) […] Die DDR verurteilte Antisemitismus und finanzierte in Erfurt und Dresden Anfang der 1950er-Jahre den Bau oder Umbau der Synagogen – als "Akt der Wiedergutmachung". Aber einfach war es damals nicht für die Juden im Osten. 1952 und 1953 wurden unter Stalin jüdische Intellektuelle verfolgt – das verbreitete auch in der DDR Schrecken in den jüdischen Gemeinden. Religiös gebunden zu sein, galt als Relikt aus vor-sozialistischen Zeiten. Den neu gegründeten Staat Israel hatte Stalin als imperialistischen Feind definiert. Jüdischen Gemeinden standen so in Verdacht, potenzielle Agentenzentren für den Westen zu sein. Gerade aktive jüdische Gemeindemitglieder verließen den vermeintlich "besseren Teil Deutschlands" wieder gen Westen. "Der Dresdner Vorstand ist geschlossen weggegangen. Die Menschen hatten einfach Angst, dass diese politische Situation, wie sie sich in der Stalin-Ära in dieser Zeit war, überschwappt." (Renate Aris) Nach Stalins Tod 1953 ließ der Druck nach. Die Familie […] Aris […] [blieb] im Land und zeigte […] sich auch in Folge weitestgehend staatstreu. Der DDR waren die Juden insofern wichtig, als sie ein Beleg für gelebten Antifaschismus sein sollten. Entschädigt, wie in der BRD, wurden die Juden nicht. Denn die DDR sah sich eben wegen ihrer Antifaschismus-Doktrin nicht als Rechtsnachfolger des NS-Regimes. Aber es gab Vergünstigungen; eine etwas höhere Rente, die Erlaubnis, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zu nutzen. […] Renate Aris lobt die ausgezeichnete ärztliche Betreuung durch die sogenannten VdN-Ärzte (VdN – Verfolgte des Nazi-Regimes): "Man ging dann zu diesen Ärzten. Wir konnten auch jederzeit, wenn der Arzt das für nötig hielt, eine Kur antreten. Das war hervorragend." Bis 1961 hatten "alle acht jüdischen Gemeinden in der DDR wieder ihr eigenes Heim", wie die DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" zur Einweihung des Karl-Marx-Städter Gemeindehauses am 23. Oktober 1961 berichtete. Aber die Gemeinden waren klein und überaltert. Das erlebte auch Renate Aris, als sie nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, zog, um am Theater als Kostümbildnerin zu arbeiten. "Es war eine eingeschworene Gemeinschaft in der DDR, die Gemeinden wurden immer kleiner, es kam ja niemand hinzu. Ein Gottesdienst beispielsweise kann nur stattfinden, wenn zehn Männer da sind, die eine Bar Mitzwa hatten. So viele gab es hier gar nicht mehr." (Renate Aris) […] Ende 1980er-Jahren lebten etwa 400 Jüdinnen und Juden in der DDR. Auf die Frage, ob sie sich als Minderheit gefühlt oder Antisemitismus erfahren habe, antwortet Renate Aris: "Ich habe persönlich keine Erfahrungen damit machen müssen. Aber das will nichts besagen. Wir haben gelebt, wie jeder DDR-Bürger auch." Nach der Wende hat sie die neuen Gemeindemitglieder willkommen geheißen. Heute hat sie etwa 500 Mitglieder. […] Zeitzeugen berichten "Ich war ein DDR-Bürger und auch jüdisch", MDR vom 9. Oktober 2020; Externer Link: www.mdr.de/religion/juedisches-leben/juden-in-der-ddr-renate-aris-herbert-lappe100.html Die reale Staatspolitik, ja von Anetta Kahane Neulich hat mir ein DDR-Offizieller erzählt, dass es Juden, die in den Westen zurückkehrten, passieren konnte, dass ihr Restitutionsantrag von dem gleichen Beamten bearbeitet wurde, der schon ihre Enteignung abwickelt hatte; so etwas hätte in der DDR nicht passieren können, sagte der Mann. Ja, habe ich geantwortet, das konnte in der DDR nicht passieren, weil dort ein Jude keinen Rückgabeantrag stellen konnte. Antisemitismus war zwar nicht Bestandteil der Staatsräson, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der DDR antisemitische Politik betrieben wurde. Man kann schon in den frühen 50er-Jahren ein systematisches Misstrauen des Staates sowohl gegenüber religiösen wie kommunistischen Juden nachweisen; es gab eine komplette "Judenliste" in der SED. […] Der systematische Antisemitismus in der DDR drückte sich zum Beispiel in unterschiedlichen Rentenhöhen für jüdische und kommunistische Opfer des Nationalsozialismus aus. Den Juden wurde indirekt eine Mitschuld an ihrem Leid gegeben: Sie hätten ja nicht, wie die Kommunisten, gegen den Faschismus gekämpft, sondern sich ihrem Schicksal ergeben. Bei all dem wähnte sich die SED auf der marxistisch sicheren Seite: Der Faschismus galt in der Definition von Georgi Dimitroff, Generalsekretär der Komintern, als "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals". […] Zwar außerhalb der Definition, aber doch leicht erkennbar, ist diese Behauptung antisemitisch konnotiert: Man denkt an den "reichen Juden", den "jüdischen Banker". […] [Die DDR argumentierte], dass die Juden ja keine Nation oder Volk seien, sondern bloß eine Religion bildeten. Dieser Blick auf Juden hatte Auswirkungen auf die Ehrung der Opfer des Holocaust: Die Juden wurden unter den Gruppen der Ermordeten einfach nicht aufgelistet. Die seien ja Staatsbürger mit einer bestimmten Religion, hieß es. Aber jüdische Holländer wurden ja nicht ermordet, weil sie Holländer waren! Dass es die Juden waren, die ganz gezielt zu Opfern der Nazis wurden, verschwieg man systematisch. Ihr Andenken wurde gelöscht und abgelöst durch eine instrumentalisierte Geschichtsbetrachtung, die der Rechtfertigung der DDR als antifaschistischem Staat diente. Diese ideologisierte Erinnerung wurde benutzt, um im Kalten Krieg die Rolle des moralisch Überlegenen gegenüber dem von Nazipräsenz durchzogenen westdeutschen Staat zu spielen. […] Die ideologische Basis der DDR, ihre deutsche Geschichte und ihre Bevölkerung, die nach dem Ende des Krieges keinesfalls von einem anderen Stern, sondern aus dem gleichen Deutschland der Täter und Mitläufer kam, waren so etwas wie das Betriebssystem, auf dem Antisemitismus fortgeschrieben, betrieben und ignoriert wurde. […] War die DDR also ein antisemitischer Staat? Ja und nein. Nein, weil der Antisemitismus nicht zur Staatsräson gehörte. Ja, weil die reale Staatspolitik immer von Antisemitismus durchsetzt war. Nicht pauschal, nein von Nora Goldenbogen Ich denke in dieser Pauschalität kann man das nicht sagen. Erstens ist das eine Frage der verschiedenen historischen Phasen des Staates DDR, die man detailliert betrachten muss. Zweitens war der Antisemitismus in der DDR keine Staatsdoktrin. Deswegen bin ich vorsichtig, wenn es heißt, die DDR sei ein antisemitischer Staat gewesen. Außerdem besteht die Gefahr, damit die auf Antisemitismus beruhenden Menschheitsverbrechen der Nazis zu nivellieren. Es gab Phasen in der DDR-Geschichte, in denen Antisemitismus in der politischen Ausrichtung eine Rolle gespielt hat. Vor allem zwischen 1949 und 1953, während der spätstalinistischen "Säuberungen" in der SED und im Staatsapparat. […] In dieser Phase kann man durchaus von judenfeindlichen Zügen in der Politik sprechen. […] Die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 beurteile ich allerdings anders. Die Anfänge sahen Antifaschismus als Grundkonsens vor. Die Auseinandersetzung, warum der Antisemitismus zu den Grundlagen der NS-Ideologie gehörte, warum antisemitische Klischees so tief im Denken vieler Menschen verwurzelt waren, wurde allerdings auch damals schon viel zu selten geführt. […] Was die Situation der jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands betrifft, so sollte man auch hier historisch korrekt bleiben. Kurz nach 1945, als sich die ersten Gemeinden wieder gegründet hatten, gab es ein sehr enges Miteinander mit den jeweiligen Landesverwaltungen. Es gab Unterstützung und Akzeptanz. Viele Funktionäre der jüdischen Gemeinden waren davon überzeugt, dass es notwendig war, einen gemeinsamen Neuanfang zu wagen. […] [Es] gab bis zum Ende der DDR eine ausreichende finanzielle Unterstützung für die jüdischen Gemeinden. Die Ausübung der Religion war gewährleistet, auch wenn sie nicht besonders gefördert wurde. Spätestens seit Ende der 60er-Jahre wurden die Gemeinden auch gesellschaftlich wieder stärker wahrgenommen. Probleme traten dann auf, wenn aus den Gemeinden und ihren Vorständen kritische Äußerungen zur Politik der DDR oder zur Haltung des Staates gegenüber Israel kamen. Aber ich weiß nicht, ob diese Konflikte unter dem Begriff Antisemitismus zu subsumieren sind, oder ob sie nicht eher etwas damit zu tun haben, dass gesellschaftliche Kritik und unterschiedliche Meinungen zu politischen Fragen von vielen Verantwortungsträgern in der DDR nicht zugelassen wurden. […] Unbedingt sollte aber noch ein generelles Defizit erwähnt werden, das die Geschichte der DDR durchzieht: die unzureichende Beschäftigung mit dem Judentum, sowohl im Schulunterricht als auch an den Universitäten. Das ist bis heute zu spüren. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen des Antisemitismus, seinen Wurzeln und Erscheinungsformen. Hier haben wir immer noch großen Nachholbedarf. "War die DDR ein antisemitischer Staat", in: Jüdische Allgemeine vom 13. November 2008
Article
Susanne Talabardon
2022-02-07T00:00:00
2021-10-08T00:00:00
2022-02-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben-348/juedisches-leben-348/341615/juedisches-leben-in-der-ddr/
Die DDR definierte sich als antifaschistischer Staat und moralisch überlegener Gegenentwurf zum westdeutschen Nachbarn. Nach dem Vorbild der Sowjetunion prägten allerdings staatliche Repressionen sowie antizionistische und antiisraelische Propaganda
[ "DDR", "Sowjetunion", "jüdisch", "Judentum", "Religion", "Antizionismus", "Repression", "Antifaschismus", "DDR", "Israel", "Sowjetunion" ]
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Die USA, Israel und der Nahost-Konflikt | Außenpolitik der USA | bpb.de
Einleitung Dass den USA eine besondere Bedeutung für die Gestaltung des Nahost-Konflikts zukommt, ist unstrittig. Die Grundlage dafür bieten ihr Supermachtstatus und die "special relationship" zwischen den Vereinigten Staaten und Israel. Die USA sind zur Schutzmacht des israelischen Staates geworden, demsie trotz der eklatanten Unterschiede inden Machtpotenzialen viele Freiheiten lassen. Bei der Wirtschafts- und Militärhilfe liegt Israel seit den siebziger Jahren an der Spitze der amerikanischen Aufwendungen. In kritischen Situationen waren amerikanische Waffenlieferungen zentral für die Selbstbehauptung Israels; die USA tolerieren sogar dessen inoffiziellen Nuklearstatus. Die engen Beziehungen lassen sich nicht nur mit dem sicherheitspolitischen Nutzen für beide Seiten erklären. Mindestens genauso wichtig sind emotionale Bindungen und politisch-kulturelle Affinitäten. Israel kann durchgehend mit großer Unterstützung in den USA rechnen, und zwar nicht nur, weil es eine Demokratie ist, sondern auch wegen des Holocaust. Unabhängig davon spiegeln sich in der israelischen Vorgeschichte und in der zionistischen Programmatik einige zentrale Aspekte des amerikanischen Selbstverständnisses wider. Beide Gesellschaften sind vordergründig säkular, aber in beiden spielt die Religion eine zentrale Rolle. Der Bezug zum "Heiligen Land" ist nicht nur für viele Israelis, sondern auch für viele US-Amerikaner von hoher symbolischer Bedeutung. Beide Länder sind aus zunächst durchaus prekären Pioniergesellschaften hervorgegangen, die sich in schwierigen Unabhängigkeitskriegen als Staaten etabliert haben. Beide Gesellschaften sind hochgradig, wenn auch hierarchisiert multikulturell: Prinzipiell kann jeder Mann oder jede Frau Amerikaner(in), jeder Jude und jede Jüdin Israeli(n) werden. Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus gibt es sehr unterschiedliche Deutungen des Verhältnisses zwischen den USA und Israel. Der Blick auf die Geschichte ihrer Beziehungen stellt gängige politische Ansichten in Frage; er dokumentiert zugleich zentrale Widersprüche in der Außenpolitik der USA gegenüber dem Nahost-Konflikt. Der vorliegende Beitrag ist eine komprimierte und aktualisierte Fassung einer Studie, die als HSFK-Report 14/2004 (Frankfurt/M. 2004) erschienen ist. Die Vorgeschichte Zwei gegensätzliche Tendenzen prägten das Verhältnis zwischen den USA und dem Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Zionismus im und nach dem Ersten Weltkrieg. Die eine, insbesondere von US-Diplomaten und Experten im State Department vertreten, stand dem zionistischen Programm der Besiedlung Palästinas skeptisch bis kritisch gegenüber. Sie schätzte das Konfliktpotenzial als sehr hoch ein, befürchtete eine Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der ortsansässigen arabischen Mehrheit und damit auch einen Glaubwürdigkeitsverlust für die amerikanische Außenpolitik. Charakteristisch für diese Position ist etwa der Bericht der von Präsident Wilson selbst eingesetzten King/Crane Kommission vom August 1919. Dort heißt es, die neun Zehntel der nicht-jüdischen Einwohner in Palästina mit einer unbegrenzten jüdischen Einwanderung zu konfrontieren, komme einer massiven Verletzung ihrer Rechte gleich und damit auch der Prinzipien, die der amerikanische Präsident selbst verkündet hatte. Die Kommission empfahl schließlich: "The project for making Palestine distinctly a Jewish commonwealth should be given up." Noch gegenüber dem Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 formulierten Mitarbeiter des State Department grundsätzliche Bedenken, weil er ohne die Zustimmung der arabischen Bevölkerungsmehrheit zustande gekommen war. Die andere Tendenz, die von den Präsidenten Wilson und Truman, vom Kongress und von der Öffentlichkeit vertreten wurde, stand der Gründung eines jüdischen " Commonwealth" bzw. Staates deutlich positiver gegenüber. Sicher spielten dabei auch Rücksichten auf jüdische Wählerstimmen und der Lobbyismus der Zionist Organization of America eine Rolle, von größerer Bedeutung war freilich der inszenierte Gegensatz zwischen der christlich-jüdischen Kultur auf der einen und der islamischen auf der anderen Seite in der Kontinuität der Kreuzzüge, wobei unterschlagen wurde, dass diese Kreuzzüge ja auch mit massiven Verbrechen der Christen gegen Juden (Entrechtungen, Vertreibungen, Ermordungen) verbunden waren - von den Verbrechen gegen die Muslime ganz zu schweigen. In den großen Tageszeitungen und im Kongress wurden die jüdischen Siedler in Palästina wiederholt zum Vorposten der zivilisierten westlichen Welt erklärt, wurde General Allenby, der die britische Armee im Dezember 1917 in das damals zum osmanischen Reich gehörende Jerusalem geführt hatte, als Befreier des Heiligen Landes an die Seite von Richard Löwenherz und Gottfried von Bouillon gestellt. Die offizielle Politik löste den Widerspruch zwischen dem Prinzip der Selbstbestimmung, das Präsident Wilson selbst als Regulativ für die Nachkriegsordnung in die Debatte geworfen hatte, und den imperialistischen Interessen Großbritanniens und Frankreichs bzw. den zionistischen Plänen in der Nahost-Region über das Mandatssystem des Völkerbundes; die Balfour-Erklärung von 1917, die sich die Förderung einer "nationalen Heimstätte für das jüdische Volk" zum Ziel gesetzt und der Woodrow Wilson seine Zustimmung gegeben hatte, wurde 1922 in das britische Mandat für Palästina integriert. Die Herrschaft über die als rückständig angesehene Kultur, der der Westen das Selbstbestimmungsrecht verweigerte, wurde als altruistischer Akt legitimiert. Letztlich ging es darum, das "Heilige Land" aus dieser "Rückständigkeit" zu befreien; davon würden alle profitieren, auch die Araber. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieser Kontext überlagert vom Erschrecken über die Verfolgung und Ermordung von Millionen europäischer Juden durch die Nationalsozialisten. Angesichts dieses Völkermords war die Etablierung des "Jewish Commonwealth" in Palästina, das in den dreißiger Jahren vermehrt zum Zufluchtsort jüdischer Emigranten und Flüchtlinge geworden war, jetzt nicht nur Konsens unter den amerikanischen Zionisten, sondern auch breite Mehrheitsmeinung unter den amerikanischen Juden insgesamt, die weitgehende Unterstützung von der nicht-jüdischen Bevölkerung der USA und vom Kongress erhielten. Freilich war diese Unterstützung nicht ganz frei von Eigennutz. Die Einwanderungsgesetzgebung in den USA blieb äußerst restriktiv, daran hatten schon Appelle anlässlich der Pogrome in Deutschland im November 1938 nichts geändert. Von der Staatsgründung bis zur "strategic relationship" Schon unter Präsident Truman mit den Kontroversen über den Teilungsplan der Vereinten Nationen, der Anerkennung Israels sowie Fragen der Grenzziehung und der palästinensischen Flüchtlinge entfaltete sich eine vertraut werdende Konstellation: Ambivalenzen auf der amerikanischen Seite wegen der Balance zwischen Israel und den arabischen Ländern, eine in der Tendenz eher pro-israelische Vermittlung zwischen den Konfliktparteien und zugleich Enttäuschung über mangelnde Flexibilität des jüdischen Staates, schließlich eine Mischung aus strategischen Überlegungen in der Administration (eher vom State Department vertreten) und Rücksichten auf pro-israelische Präferenzen in der amerikanischen Gesellschaft (eher auf Seiten des Präsidenten, allemal im Kongress). Die Gründung Israels als ein Komplott der USA zu deuten, wäre gleichwohl ein grobes Missverständnis. Zwar hatte sich Truman im Gegensatz zu seinem Vorgänger - Roosevelt hatte den Arabern noch zugesichert, dass über Palästina keine Entscheidungen ohne ihre Zustimmung getroffen würden - einseitig für die Teilung und damit einen israelischen Staat ausgesprochen, aber dabei spielten neben innenpolitischen Motiven eher außenpolitische Gründe eine Rolle: die Sorge über das Konfliktpotenzial in einer Region, über die der Ost-West-Konflikt zwischen den USA und der UdSSR seine Schatten zu legen drohte, und über die Lage der "Displaced Persons" in den amerikanischen Lagern in Deutschland, in erster Linie Holocaust-Überlebende und andere Juden, die vor neuem Antisemitismus und vor den neuen Diktaturen in Osteuropa geflohen waren. Viele dieser "Displaced Persons" wollten nach Palästina. Israel verdankt seine Entstehung außenpolitisch nicht nur der amerikanischen Fürsprache, sondern auch dem sowjetischen Votum für die Teilung, mithin einem eher zufälligen, vorübergehenden Zusammenspiel zwischen den beiden neuen Supermächten, jedenfalls nicht mehr ihrer antifaschistischen Allianz. Entscheidende Waffenhilfe im ersten israelisch-arabischen Krieg und damit für den Unabhängigkeitskampf der Israelis kam nicht von den USA - die hatten ein Embargo verhängt -, sondern aus der Tschechoslowakei und wurde von der Sowjetunion zumindest toleriert. Es ist heute kaum noch vorstellbar, wie gespannt die Beziehungen der Regierung Eisenhower zu Israel zeitweise waren, insbesondere wegen des Suez-Krieges 1956 zwischen Frankreich, Großbritannien und Israel auf der einen und Ägypten auf der anderen Seite. Kein amerikanischer Präsident hat je wieder so massiven Druck auf Israel ausgeübt, es musste die "Kriegsbeute" ohne Gegenleistungen herausgeben. Zwar verbesserten sich die Beziehungen wieder, aber das Waffenembargo blieb. Der entscheidende militärische Partner Israels war in dieser Zeit Frankreich, das ein Gegengewicht gegen die ägyptische Unterstützung der algerischen Befreiungsfront suchte. Noch den Sechs-Tage-Krieg 1967 gewann Israel überwiegend mit französischen Waffen, auch die Entwicklung einer eigenen Nuklearkapazität profitierte von der französischen Kooperation. Die zunächst nur vermutete Entwicklung israelischer Nuklearwaffen war dann auch der größte Konflikt zwischen der Kennedy-Regierung und Israel, ein Konflikt, den Kennedys Nachfolger mit einem für die Nichtweiterverbreitung problematischen Kompromiss beendeten: Die USA tolerieren das israelische Nuklearpotenzial, solange Israel sich nicht offen dazu bekennt (no denial, no confirmation) und sich bereit erklärt, nicht als erstes Land Atomwaffen in den Nahen Osten "einzuführen". Ansonsten tat die US-Regierung unter Kennedy insofern einen wichtigen Schritt für die Intensivierung der amerikanisch-israelischen Beziehungen, als zum ersten Mal ein US-Präsident die Sicherheit Israels zu einem unmittelbaren Anliegen der USA erklärte und von einer "special relationship" ähnlich der Beziehungen zu Großbritannien sprach. Vorausgegangen waren intensive, wenn auch erfolglose Bemühungen Kennedys, die Beziehungen zu Ägypten unter Präsident Nasser zu verbessern. Entscheidend für die Gesamtanalyse ist, dass sich die Beziehungen zwischen den USA und Israel erst allmählich intensivierten. Die ersten Lieferungen von amerikanischen Offensivwaffen - Flugabwehrraketen hatte schon Kennedy zugesagt (die erste Batterie wurde ironischerweise 1965 bei der Nuklearanlage Dimona stationiert) - gab es nach dem Sechs-Tage-Krieg, mit dem sich Frankreich aus der Position des Waffenlieferanten zurückzog. Erst unter Präsident Nixon und Sicherheitsberater Henry Kissinger mit der neuen Mächtekonstellation nach dem Yom Kippur-Krieg 1973, die schließlich zur politischen Neuorientierung Ägyptens und damit auch zum Friedensvertrag zwischen Äygpten und Israel führen sollte, wurde Israel zum bevorzugten Partner amerikanischer Waffen- und Wirtschaftshilfe. In den achtziger Jahren entwickelte sich das Verhältnis von der "special" zur "strategic relationship" weiter. Parallel dazu rückten Bemühungen der USA um eine weitere Regelung des Konflikts, einschließlich der Palästinenserfrage, in den Kernbereich amerikanischer Nahost-Politik, und zwar auch hier auf der Grundlage des Prinzips "Land gegen Frieden", das durch die Eroberungen im Sechs-Tage-Krieg jetzt auch für Israel eine vertretbare Option zu werden schien. Der Friedensprozess unter Clinton und Bush jun. Die größten Wechselbäder zwischen Erfolg und Niederlage erlebte die amerikanische Politik im Nahost-Konflikt in den neunziger Jahren unter Präsident Clinton. Sie kam einer umfassenden Verständigung in allen substanziellen Fragen zwischen Israel und den Palästinensern am nächsten und scheiterte doch wieder in sehr charakteristischer Weise. Die Clinton-Administration ging von der Grundannahme aus, je sicherer sich Israel fühle, desto eher werde es Zugeständnisse im Friedensprozess machen. Israel sollte auf keinen Fall wieder öffentlich unter Druck gesetzt werden, so wie das Clintons Vorgänger, George H. W. Bush, und sein Außenminister James Baker noch getan hatten. (Am 22. Mai 1989 sagte Baker ausgerechnet vor AIPAC, der bedeutendsten pro-israelischen Lobby in den USA: "Für Israel ist es nun an der Zeit, ein für alle Mal die unrealistische Vision eines Groß-Israel zu begraben. [...] Stellen Sie die Annexion ein, beenden Sie die Siedlungsaktivitäten [...] Und reichen Sie den Palästinensern als Nachbarn die Hand, die politische Rechte verdienen.") Die besetzten wurden jetzt nicht mehr als besetzte, sondern als umstrittene Gebiete bezeichnet, Ostjerusalem nicht mehr als Teil der besetzten Gebiete genannt, und es erfolgte keine ausdrückliche Verurteilung des Siedlungsbaus mehr. Außerdem wurde die militärische Zusammenarbeit weiter verstärkt bis knapp unterhalb eines förmlichen Militärpakts. Die Strategie der positiven Anreize geriet jedoch in Schwierigkeiten, als der Friedensprozess wieder durch terroristische Anschläge, durch die Ermordung Rabins und durch den erneuten Wechsel zu einer vom Likud geführten Regierung gefährdet wurde. Premierminister Netanjahu kündigte schon bei Amtsantritt an, er werde eher die Beziehungen zu den USA belasten, als Konzessionen an die arabischen Staaten zu machen. Um dem Druck von Seiten der Regierung Clinton auszuweichen, wandte er sich wiederholt an den Kongress, der ihn gegen Pressionen in Schutz nahm. Newt Gingrich, der Fraktionsvorsitzende der Republikaner im Repräsentantenhaus, betrieb seine eigene Nebenaußenpolitik zugunsten des Likud und war sich nicht zu schade, Außenministerin Madeleine Albright als "Agentin Arafats" zu bezeichnen. Mit der Wahl von Ehud Barak kam wieder Bewegung in den Friedensprozess, aber am Ende lief dem amerikanischen Präsidenten die Zeit davon. Mit großem persönlichem Einsatz versuchte Clinton bei der Annäherung in den Endstatusfragen behilflich zu sein. Obwohl sich beide Seiten unter seiner Vermittlung nach dem Scheitern von Camp David im Juli 2000 dann im Januar 2001 in Taba in allen Streitpunkten näher kamen als je zuvor, fiel der Friedensprozess erneut einer Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse und einer weiteren Gewalteskalation zum Opfer. Clinton gab, wie auch Barak, wiederholt Arafat die Schuld für das Scheitern von Camp David, obwohl er dem palästinensischen Präsidenten und PLO-Chef die Zusicherung gemacht hatte, keine solchen Schuldzuweisungen vorzunehmen. Aber der amerikanische Präsident, der Barak damit innenpolitisch stützen wollte, erreichte nur das Gegenteil: Barak war nicht mehr zu helfen, und die Palästinenser waren einmal mehr erzürnt über die als einseitig wahrgenommene Haltung der Vereinigten Staaten. Das Problem der Endstatus-Verhandlungen unter Clinton war, dass Baraks Rückhalt in Israel seit längerem mit jeder Konzession weiter erodierte - er hatte am Ende keine Mehrheit mehr in der Knesseth - und parallel dazu auf palästinensischer Seite das Vertrauen in eine Verhandlungslösung und eine Verbesserung der dramatischen wirtschaftlichen und politischen Lage auf einen neuen Tiefpunkt zugesteuert war. Ami Ayalon, Chef des israelischen Geheimdienstes Shin Bet unter Barak, hatte seinen Premier gewarnt, das ungehinderte Anwachsen der Siedlungen auch unter seiner Regierung und vor allem die Not und die Demütigungen, unter denen die Palästinenser in den besetzten Gebieten zu leiden hatten, hätten zu einer explosiven Situation geführt, die nur noch eines zündenden Funkens bedurfte. Diesen Funken lieferten Scharons Besuch des Tempelbergs am 28. September 2000 und die harsche Reaktion Israels auf die palästinensischen Demonstrationen. Die arabische Welt setzte, den Wahlsieg Scharons im Blick, Hoffnungen auf die Präsidentschaft von George W. Bush, weil sie ihn mit der Politik seines Vaters und den amerikanischen Ölinteressen identifizierte. Sie übersah dabei, dass Bush jr. neben der Öl-Lobby und den Reichen und Superreichen eine weitere Klientel der republikanischen Partei bedient: die Christliche Rechte, die aus religiösen Gründen eine radikal pro-israelische Position verfolgt. Konträr zu den genannten Erwartungen kam es diesmal zu einem hohen Maß an Übereinstimmung zwischen einer republikanischen US-Administration und einer vom Likud dominierten israelischen Regierung. Das hatte auch damit zu tun, dass einige Berater des Präsidenten die Radikalkritik der israelischen Nationalisten am Friedensprozess teilten, die palästinensische Seite für dessen Scheitern verantwortlich machten und teilweise offen annexionistische Positionen vertraten. Der 11. September 2001 verstärkte diese Identifikation. Ähnlich wie 1967 wurden Amerikaner und Israelis wieder als Brüder im Kampf interpretiert, diesmal nicht gegen die Sowjetunion bzw. deren Verbündete in der Region, sondern gegen den internationalen Terrorismus. Während das State Department noch davon ausging, dass der Terrorismus der Palästinenser und der Al Quaida verschiedene Wurzeln haben, verschmolzen sie in den Augen der Neokonservativen zu einer einheitlichen Bedrohung. Im Friedensprozess hielt sich die neue amerikanische Regierung zunächst bewusst zurück, sie erklärte, sie sei "ready to assist, not insist". Das hatte einmal damit zu tun, dass sie sich deutlich von ihrer demokratischen Vorgänger-Regierung und deren Scheitern beim Mikromanagement des Friedensprozesses absetzen wollte, es lag aber auch daran, dass führende Regierungsexperten den Konflikt im aktuellen Stadium nicht für lösbar hielten. Die zunehmende Eskalation der Gewalt brachte die Regierung Bush dazu, ihre Zurückhaltung zu überdenken, zumal es nach dem 11. September 2001 auch darum ging, eine weltweite Koalition gegen das Taliban-Regime in Afghanistan zu schmieden. Am 2. Oktober erklärte Bush seine Unterstützung für einen palästinensischen Staat, betonte aber ebenso unmissverständlich, dass die Palestinian Authority vor einer Wiederaufnahme von Verhandlungen wirksame Maßnahmen gegen die terroristischen Aktivitäten zu ergreifen habe. Die Appelle der USA an beide Seiten blieben fruchtlos; im Frühjahr 2002 eskalierte die Gewalt bis zur Wiederbesetzung eines großen Teils der West Bank durch die israelische Armee. Präsident Bushs Friedensplan vom 24. Juni 2002 wiederholte die Forderung an Israel, die Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebieten zu beenden, und stellte den Palästinensern einen eigenen Staat in Aussicht, machte die amerikanische Unterstützung aber nicht nur von einer Abkehr vom Terrorismus abhängig, sondern auch von demokratischen Reformen und einem Ende der Korruption. Damit zeichnete sich die Überlagerung der amerikanischen Politik im israelisch-palästinensischen Konflikt durch das neue "Grand Design" für die ganze Region ab, mit dem sich die Neokonservativen hatten durchsetzen können. Es ging jetzt darum, Saddam Hussein zu entmachten und den Nahen Osten mit einer Doppelbotschaft von Abschreckung und Reformen zu konfrontieren. Scharon sollte gestützt und die Palästinenser nur dann belohnt werden, wenn sie vom Terrorismus Abstand nahmen. Die Förderung von Freiheit und Demokratie in der ganzen Region würde schließlich die arabische Seite friedensfähig machen und damit auch Israel zu den für eine Friedensregelung erforderlichen Konzessionen ermutigen. Zwar setzte auch die so genannte Road Map, zum ersten Mal Ende April 2003 veröffentlicht, mit ihrem Drei-Stufen-Plan, auf den sich das Nahost-Quartett von USA, EU, Russland und den Vereinten Nationen verständigte, auf Reformen bei der palästinensischen Seite; aber Mahmud Abbas (Abu Mazen), der erste palästinensische Premierminister, scheiterte an der Gewaltbereitschaft der terroristischen Gruppen, an der mangelnden Unterstützung Arafats, an der erneuten Eskalation durch Israel und daran, dass er zu sehr mit der Politik der amerikanischen Regierung identifiziert wurde. Präsident Bush entfernte sich seinerseits von der Programmatik der Road Map. So bezeichnete er mit Blick auf seine Wiederwahl (zur neuen Strategie der Republikaner gehört es, das "Jewish vote" in den USA, das traditionell eher zur demokratischen Partei tendiert, für eine langfristige republikanische Mehrheit zu gewinnen) Scharon gegenüber die großen Siedlungsblöcke in der West Bank als "new realities on the ground". Er erklärte, eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge nach Israel komme nicht mehr in Frage. Die USA gingen zunehmend auf Distanz zu Präsident Arafat, der allzu offenkundig den bewaffneten Kampf tolerierte, wenn nicht sogar unterstützte, und setzten auf Scharons Unilateralismus, insbesondere den Rückzug aus Gaza, den sie schließlich durch Intervention von Außenministerin Condoleezza Rice zu einem einvernehmlichen Abschluss brachten. Die palästinensischen Parlamentswahlen vom Januar 2006 haben Grundannahmen der Nahostpolitik von George W. Bush in Frage gestellt. Der US-Präsident machte jedoch zunächst "gute Miene zum bösen Spiel". Er nannte den Wahlsieg der Hamas "einen Triumph der Demokratie" und eine Abfuhr für die alte Garde. Gleichzeitig lud er die Hamas zur Mäßigung ein und forderte sie auf, dem Terrorismus abzusagen und das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Unter erschwerten Bedingungen gilt es also jetzt, erneut den großen historischen Kompromiss um "Land und Frieden" von vorne auszuhandeln. Zwar hat sich "der vernünftige Teil der israelischen Rechten" (Joschka Fischer) endlich von Groß-Israel verabschiedet; er scheint im Prinzip zu einem weiträumigen Rückzug aus der West Bank bereit, will aber die großen Siedlungsblöcke um Ariel und um Jerusalem behalten. Ob das gegenüber der "alten Garde" der Palästinenser für einen gemeinsam ausgehandelten Endstatus ausgereicht hätte, mag man angesichts der bisherigen Erfahrungen bezweifeln. Mit der neuen politischen Mehrheit in den palästinensischen Gebieten wird es auch jenseits der aktuellen Aufgeregtheiten noch schwieriger, nicht zuletzt wegen der zusätzlichen Komplikationen in der Region durch die gegenwärtige rabiat antiisraelische und antisemitische Führung in Teheran mit ihren nuklearen Ambitionen. Bilanz Die amerikanische Nahostpolitik hat aus übergeordneten Interessen Israel nicht nur in kritischen Phasen politisch und militärisch beigestanden, sie war auch bereit, Israel zu zügeln, wenn es sich anschickte, die Gegenseite zu sehr zu dominieren oder gar auszuschalten. Das gilt im Suez- und im Yom Kippur-Krieg gegenüber Ägypten und im Libanon-Krieg gegenüber der PLO. Die USA haben sich in einem langwierigen Prozess von nahezu hundert Jahren, an dessen Beginn Rücksichten auf die imperialistischen Interessen der europäischen Verbündeten und der eigene kulturimperialistische Diskurs die propagierten demokratischen Werte überlagerten, zunehmend auch der Anliegen der Palästinenser angenommen und sie partiell politisch mitvertreten. Sie haben schließlich Beziehungen zur PLO aufgenommen und die Palestinian Authority auch finanziell unterstützt, wenn auch in bescheidenem Maße; eine Unterstützung, die mit dem Wahlsieg von Hamas in Frage steht. Gleichwohl lässt sich nicht übersehen, dass sich die Lage der Palästinenser im Laufe des Friedensprozesses nur unwesentlich verbessert, ja in mancher Hinsicht sogar erheblich verschlechtert hat, und zwar nicht nur wirtschaftlich. Israel hat kontinuierlich und mehr oder weniger gezielt das Grundprinzip "Land gegen Frieden", auf das die USA seit den siebziger Jahren ihre Politik im Friedensprozess bauen, unterlaufen. Seit Jahrzehnten fordern die USA von ihrem wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten: "the settlements must stop"; aber der Siedlungsprozess stoppt nicht, er geht immer weiter, auch nach dem Rückzug aus dem Gaza-Streifen. Parallel zum Friedensprozess hat sich in den neunziger Jahren die Zahl der israelischen Siedler in der West Bank verdoppelt. Speziell in und um Jerusalem, dem Zentrum auch der palästinensischen Ökonomie und Kultur, hat Israel seine Position kontinuierlich ausgeweitet und damit möglicherweise den Frieden buchstäblich "verbaut". Hier und in der Frage der fast totalen Abhängigkeit der palästinensischen Ökonomie von Israel nicht mehr Einfluss oder sogar den falschen Einfluss (der Siedlungsbau profitiert direkt und indirekt von offiziellen und privaten Geldern aus den USA) genommen zu haben, liegt - jenseits der Schwierigkeiten des Konflikts, die auch eine wohlwollende Großmacht immer wieder überfordern können - das größte Versäumnis der amerikanischen Außenpolitik im Nahost-Konflikt. David Schoenbaum, The United States and the State of Israel, New York/Oxford 1993, S. 10. Schoenbaum nennt die Beziehungen einen umgekehrten Melier-Dialog: "The weak do what they have the power to do and the strong accept what they have to accept." Vgl. den Auszug aus dem Report bei Walter Laqueur/Barry Rubin (Hrsg.), The Israel-Arab Reader. A Documentary History of the Middle East Conflict, New York-London-Victoria 20016, S. 23 - 25, hier S. 25. Vgl. dazu Lawrence Davidson, America's Palestine. Popular and Official Perceptions from Balfour to Israeli Statehood, Gainesville-Tallahassee-Tampa 2001, S. 21-34, S.110 u. 113 f. Vgl. D. Schoenbaum (Anm. 1), S. 33. Schoenbaum schreibt zur Delegation des jüdischen Flüchtlingsproblems an Palästina: "Americans seemed to be searching for some solution to the refugee crisis that would not call on them to make any significant sacrifice." Vgl. die Übersichtsdarstellungen von D. Schoenbaum (Anm. 1) und Donald Neff, Fallen Pillars. U.S. Policy towards Palestine and Israel since 1945, Washington D.C. 1995. Zur wahrlich abenteuerlichen Suez-Politik Großbritanniens, Frankreichs und Israels vgl. Avi Shlaim, The Iron Wall. Israel and the Arab World, New York-London 2000, S. 143 - 185. Zur Kennedy-Zeit vgl. Warren Bass, Support Any Friend. Kennedy's Middle East and the Making of the U.S.-Israeli Alliance, Oxford-New York 2003. Vgl. William B. Quandt, Peace Process. American Diplomacy and the Arab-Israeli Conflict since 1967, Washington-Berkeley 20053, Kap.11 und 12. Hier zitiert nach Markus Kaim, Zwischen globaler Hegemonie und regionaler Begrenzung. Die amerikanische Politik im arabisch-israelischen Konflikt 1991 - 1996, Baden-Baden 1998, S. 73. Clinton hatte durchgängig mehr Rücksicht auf die politischen Probleme Baraks als die Arafats genommen. Zum Scheitern der Verhandlungen vgl. IISS (Hrsg.), Strategic Survey 2000 - 2001, Oxford 2001, S. 137 - 153, hier S. 142 - 150. Für Kontroversen und ausgewogene Bilanzen vgl. Jörn Böhme (Hrsg.), Friedenschancen nach Camp David. Legenden - Realität - Zukunftsperspektiven für Israel und Palästina, Schwalbach 2005. Vgl. dazu Henry Siegman, Sharon and the Future of Palestine, in: The New York Review of Books vom 2.12. 2004, S. 7 - 14. Vgl. dazu Markus Kaim, "Ready to Assist, Not Insist". Die Nahostpolitik der Bush-Administration, in: Werner Kremp/Jürgen Wilzewski (Hrsg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-Außenpolitik nach dem Angriff auf Amerika, Trier 2003, S. 326 - 354. The White House, President Bush Calls for New Palestinian Leadership, Office of the Press Secretary, 24. Juni 2002, in: www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06 (14.10. 2004). Vgl. dazu auch Philip H. Gordon, Bush's Middle East Vision, in: Survival, 45 (2003) 1, S. 155 - 165. IISS (Hrsg.), Strategic Survey 2003/04, Oxford 2004, S. 175 - 177. Statement by the President, 14.4. 2004, und Letter from President Bush to Prime Minister Sharon, www.whitehouse.gov/news/releases/2004/04 (14.9. 2004). Gegenüber Präsident Abbas, Arafats Nachfolger, betonte Bush ein Jahr später, es werde keine Grenzveränderungen ohne Zustimmung der Palästinenser geben. Vgl. International Herald Tribune (IHT) vom 21.6. 2005 (Henry Siegman, Is Bush Getting Serious about the Peace Process?). Vgl. IHT vom 16.11. 2005, S. 1 und S. 4. Vgl. IHT vom 27.1. 2006, S. 1 und S. 4.
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Krell, Gert
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29821/die-usa-israel-und-der-nahost-konflikt/
Der Blick auf die Geschichte und Entwicklung der Beziehungen zwischen den USA und Israel stellt gängige politische Ansichten verschiedener Richtungen in Frage. Er dokumentiert zugleich Widersprüche in der Außenpolitik der amerikanischen Demokratie ge
[ "Nahost-Konflikt", "USA", "Israel" ]
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Vor fünf Jahren: Islamistischer Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt | Hintergrund aktuell | bpb.de
Am 19. Dezember 2016 fuhr der islamistische Attentäter Anis Amri mit einem LKW in den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Er tötete 12 Menschen, fast 170 wurden verletzt, teils schwer. Ein weiteres Opfer starb im Oktober 2021 an den Langzeitfolgen seiner Verletzungen. Zuvor hatte Amri in Berlin einen polnischen Lastwagenfahrer erschossen. Mit dessen LKW fuhr er gegen 20 Uhr in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Der Sattelschlepper erfasste zahlreiche Menschen, bis das Fahrzeug nach 60-80 Metern zum Stehen kam. Der Attentäter flüchtete vom Tatort und schließlich ins Ausland. Am 23. Dezember wurde Amri bei einer Polizeikontrolle in Norditalien erschossen. Bereits am Folgetag des Anschlags reklamierte die Terrormiliz Interner Link: "Islamischer Staat" (IS) diesen für sich. Europa wurde vermehrt Ziel islamistischer Anschläge Auch andere europäische Staaten waren in den Vorjahren zum Ziel islamistischer Terroranschläge geworden. In Frankreich begann mit dem Attentat auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015 eine Reihe von Terroranschlägen. Am 13. November desselben Jahres töteten islamistische Attentäter in mehreren Attentaten über 130 Menschen in Paris und dem Vorort Saint Denis. Es war der bis dahin Interner Link: schwerste Terroranschlag des Landes. Am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, wurde in Nizza ein islamistischer Anschlag mit einem Lastwagen verübt. Der Attentäter steuerte den LKW an der Strandpromenade von Nizza ungebremst in eine Menschenmenge, die ein Feuerwerk beobachten wollte. 86 Menschen starben, mehr als 200 wurden zum Teil schwer verletzt. In der belgischen Hauptstadt Brüssel wurden bei einer Anschlagsserie am 22. März 2016 mindestens 34 Menschen getötet und 340 verletzt. Zu den Attentaten im Flughafen und an einer Metrostation bekannte sich der IS. Auch in Deutschland ereigneten sich 2016 bereits vor dem Breitscheidplatz-Anschlag mutmaßlich islamistisch motivierte Terrorakte – so etwa in Hannover, Würzburg und Ansbach. Attentäter war als Gefährder eingestuft In den Wochen nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt wurde massive Kritik an den Sicherheitsbehörden laut, da der Tunesier Amri bereits monatelang von deutschen Sicherheitsbehörden überwacht worden war und abgeschoben werden sollte. Anis Amri gelangte im Frühjahr 2011 über Lampedusa nach Italien. Unter anderem aufgrund von Körperverletzung und Sachbeschädigung wurde Amri im Herbst 2011 zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach der Haftentlassung im Mai 2015 sollte er nach Tunesien abgeschoben werden, das Verfahren wurde aber nicht eingeleitet, da Amri keine Ausweispapiere hatte. Im Juli 2015 reiste er nach Deutschland und beantragte Asyl unter dem Namen „Anis Amir“. Auch die deutschen Behörden lehnten seinen Asylantrag 2016 ab. Im Februar und März 2016 stuften das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen und das LKA Berlin Amri wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat als „Gefährder“ ein. Damit einher gingen Observationen am Aufenthaltsort Berlin. Im September 2016 wurde die Überwachung jedoch eingestellt. Fehlende Abstimmung der Sicherheitsbehörden Ein im März 2018 eingesetzter Interner Link: Untersuchungsausschuss des Bundestags wertete über mehr als drei Jahre hinweg Akten der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden des Bundes sowie der Länder aus und befragte rund 180 Sachverständige und Zeugen. Die Abgeordneten wollten die Umstände aufklären, die dazu führten, dass der Attentäter nicht aufgehalten werden konnte. Der Ausschuss kam nach eigenen Angaben zu der Überzeugung, "dass sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden verantwortlich waren". In seinem im Juni veröffentlichten Externer Link: Bericht kritisiert das Gremium fehlende Ressourcen in den für islamistische Gefährder zuständigen Einheiten der Sicherheitsbehörden. Auch seien die Ausländer- und Asylbehörden im Sommer und Herbst 2015 völlig überlastet gewesen. Der Ausschuss spricht von "Mängel[n] beim Informationsaustausch und der Koordination des Vorgehens zwischen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder" sowie einer „Zersplitterung staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeit en“. Zwar habe keine der individuellen Fehleinschätzungen und Versäumnisse "für sich genommen besonders schwer gewogen", sie hätten dennoch im Zusammenwirken dazu geführt, dass der Anschlag nicht verhindert wurde. Auch das Berliner Abgeordnetenhaus setzte einen Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag am Breitscheidplatz ein, der in seinem im August 2021 vorgestellten Externer Link: Abschlussbericht die Ermittlungsbehörden ebenfalls scharf kritisierte. Unter anderem sei der Informationsaustausch zwischen Sicherheits- und Justizbehörden im Fall Amri unzureichend gewesen. Zudem sei das Landeskriminalamt nicht ausreichend mit Personal ausgestattet gewesen und der spätere Attentäter nicht angemessen observiert worden, während der Verfassungsschutz zu passiv gehandelt habe. Aus Sicht der Abgeordneten hätte das Interner Link: Bundeskriminalamt (BKA) den Fall Amri übernehmen müssen. Mehr Personal für Sicherheitsbehörden In den vergangenen Jahren haben die Ermittlungsbehörden ihr Personal aufgestockt. Auch investierten Bund und Länder mehr Geld in die IT und Sicherheitstechnik. Der Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Anschlag konstatierte im Juni 2021, es habe "in allen Bereichen inzwischen erhebliche Verbesserungen gegeben, um die strukturellen Probleme zu beheben". In Berlin schuf das Landeskriminalamt fast 600 neue Stellen und richtete eine Abteilung für „Islamistischen Extremismus und Terrorismus“ ein, die zukünftig mit weiteren Einheiten der Berliner Polizei in einem neuen Anti-Terrorzentrum arbeiten sollen. Auf Bundesebene führte das Bundeskriminalamt RADAR-iTE als neues Instrument zur Risikobewertung ein, um das Gefährdungspotenzial von „polizeilich bekannten militanten Salafisten“ bundesweit einheitlich zu bewerten. Durch eine Änderung des BKA-Gesetzes kann sogenannten Gefährdern zudem das Tragen einer Fußfessel angeordnet werden. Die damaligen Oppositionsparteien FDP, LINKE und Bündnis 90/Die Grünen bewerteten die sicherheitspolitischen Maßnahmen hingegen als nicht ausreichend, etwa hinsichtlich des Informationsaustausches und der föderalen Struktur der Sicherheitsbehörden. Sie und die AfD kritisierten zudem Behinderungen der Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss. Verschärfte Regelungen für Ausreisepflichtige Als Reaktion auf den Anschlag verschärfte die Bundesregierung zudem asylrechtliche Regelungen. Durch das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ aus dem Juli 2017 können die Länder unter anderem Asylsuchende ohne Bleibeperspektive verpflichten, bis zum Ende ihres Asylverfahrens in Erstaufnahmeeinrichtungen zu leben. Auch können seither ausreisepflichtige Asyl- und Schutzsuchende leichter in Abschiebehaft genommen werden, wenn von ihnen nach Einschätzung der Behörden eine Gefahr für die innere Sicherheit ausgeht. In der Folge der Terrorakte von 2016 verschärften die Verantwortlichen vielerorts zudem die Sicherheitsmaßnahmen bei Großveranstaltungen wie Weihnachtsmärkten oder Volksfesten, zum Beispiel durch große Betonpoller, die Anschläge mit Lastkraftwagen verhindern sollen. Gedenken mit 13 Glockenschlägen In Berlin wird jährlich am 19. Dezember der Opfer des Terroranschlags am Breitscheidplatz gedacht. An der Gedächtniskirche wurde ein Mahnmal errichtet: Auf der Vorderseite der Treppenstufen wurden die Namen der Todesopfer und ein goldener Riss im Boden eingelassen. Bei der Gedenkveranstaltung in diesem Jahr wird unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprechen. Um 20:02 Uhr sollen die Glocken 13 Mal schlagen, um an jedes der Opfer zu erinnern. Mehr zum Thema: Interner Link: Dossier: Islamismus Interner Link: Dossier: Innere Sicherheit – Extremismus und Sicherheitsbehörden Interner Link: Islamistische Terroranschläge in Frankreich
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-08-10T00:00:00
2021-12-14T00:00:00
2022-08-10T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/344771/vor-fuenf-jahren-islamistischer-anschlag-auf-berliner-weihnachtsmarkt/
Am 19. Dezember 2016 tötete ein islamistischer Attentäter zwölf Menschen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Der Attentäter war den Behörden bekannt.
[ "Attentat", "Anschlag", "Berlin", "Costa-ENEL-Urteil", "IS", "Islamischer Staat (IS)" ]
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Der Offene Kanal - Bürger machen Fernsehen | AV-Medienkatalog | bpb.de
Regie u. Buch: Brigitte Sontheimer Produktion: Uwe Kremp, Bundesrepublik Deutschland 1988 Format: 44 Min. - VHS-Video - farbig Stichworte: Neue Medien - Medienkunde FSK: ohne Altersbeschränkung Kategorie: Dokumentarfilm Inhalt: Der genannte Filmbeitrag beschreibt die Situation der Offenen Kanäle in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Raum Ludwigshafen, und bringt mit einer breiten Palette an Inhaltsbeispielen die Funktion und die Aufgaben des Offenen Kanals anschaulich ins Bewußtsein des Betrachters. Der Film ist damit auch für politische Bildungsarbeit in diesem Sektor, für die Darstellung und Diskussion des allgemeinen Problems der Bürger-Partizipation geeignet.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-10-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146465/der-offene-kanal-buerger-machen-fernsehen/
Der genannte Filmbeitrag beschreibt die Situation der Offenen Kanäle in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Raum Ludwigshafen, und bringt mit einer breiten Palette an Inhaltsbeispielen die Funktion und die Aufgaben des Offenen Kanals ansc
[ "Medienkunde" ]
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"BrainFed" mit Grimme-Online-Award ausgezeichnet | Presse | bpb.de
Das YouTube-Format „BrainFed“ des YouTubers DarkViktory ist mit dem Publikumspreis des Grimme-Online-Award in der Kategorie Wissen und Bildung ausgezeichnet worden. Der Preis wurde am Freitag, 24. Juni 2016 in Köln verliehen. Mit dem Grimme Online Award werden seit dem Jahr 2001 qualitativ hochwertige Online-Angebote ausgezeichnet. Der YouTuber darkviktory (Marik Roeder) veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und MESH Collective (UFA LAB) seit 2014 auf seinem YouTube-Kanal das Newsformat “BrainFed”. Er unterhält und informiert seine über 600.000 Abonnenten alle 14 Tage mit aktuellen Themen. In Ihrer Laudatio hob Fernsehmoderatorin Jeannine Michaelsen besonders hervor, dass „BrainFed“ eine Sendung sei, „die klug informiert ohne irgendjemanden auszugrenzen, die Tempo hat, aber nicht überrennt. Das ist, eine Sendung, die den richtigen Ton trifft, die Haltung hat, ohne einseitig zu sein oder eine Meinung vorzugeben“. Das Format ist ganz im Stil von darkviktory gehalten, da die Videos vom YouTuber selbst gezeichnet und animiert werden. In Verbindung mit den durch MESH Collective sorgfältig recherchierten und vorbereiten Nachrichten entsteht so ein Newsformat, das politische Informationen eingängig und auf die Zielgruppe zugeschnitten vermittelt. Die bpb unterstützt neben darkviktory auch den YouTuber Tense, der auf dem YouTube-Kanal TenseMakesSense zusammen mit MESH Collective das Newsformat „TenseInforms“ veröffentlicht. Gemeinsam haben beide Formate bereits über 5,3 Millionen User erreicht. Weitere Informationen und der Link zur BrainFed-Playlist: Externer Link: bitly.com/BrainFedNews Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-06-28T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/230213/brainfed-mit-grimme-online-award-ausgezeichnet/
Das YouTube-Format "BrainFed" des YouTubers DarkViktory ist mit dem Publikumspreis des Grimme-Online-Award in der Kategorie Wissen und Bildung ausgezeichnet worden. Der Preis wurde am Freitag, 24. Juni 2016 in Köln verliehen.
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Ursachen und Folgen des Klimawandels | Klima | bpb.de
Im ehemaligen Kohlekraftwerk Drax im englischen Nord-Yorkshire wird seit 2021 ausschließlich Biomasse verbrannt. Nach Angaben des Unternehmens wurde im Rahmen eines Pilotprojekts 2019 ein BECCS-Verfahren erprobt, um die anfallenden Kohlendioxidemissionen einzufangen. (© picture alliance / empics | Anna Gowthorpe) Beobachtete Klimaänderungen Der Begriff Klima beschreibt den mittleren Zustand der Atmosphäre an einem Ort oder in einem Gebiet über einen hinreichend langen Zeitraum. Dieser sollte laut der Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organization, WMO) mindestens 30 Jahre betragen, aber auch wesentlich längere Zeiträume sind gebräuchlich. Das Klima wird von allen Teilsystemen des Erdsystems und deren Wechselbeziehungen beeinflusst. Neben der Atmosphäre sind diese Teilsysteme im Wesentlichen die Ozeane, das Meereis und das Landeis (Eisschilde und Gletscher), die Lebensräume im Ozean und an Land, das Wasser der Landflächen wie zum Beispiel Seen, Flüsse und Grundwasser, die Böden sowie der Mensch. Beobachtungen des Klimasystems beruhen auf direkten Messungen, die global seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt werden. In jüngerer Zeit kommen auch Satelliten und andere Fernerkundungsmethoden zum Einsatz. Gemessen werden unter anderem Luftdruck, Temperatur, Niederschlag, Bewölkung, Strahlung und Windgeschwindigkeit. Aus den langjährigen Beobachtungen ergibt sich zum einen, dass das Klima natürlichen zeitlichen Schwankungen unterliegt. Diese entstehen zum Beispiel beim Austausch von Wärme zwischen Atmosphäre und Ozean und können sich durch langsame und zeitlich unterschiedliche Wärmetransporte in den Meeren auch über mehrere Jahrzehnte bemerkbar machen. Faktoren außerhalb des Klimasystems wie unterschiedliche Sonneneinstrahlung, vulkanische Aktivität oder auf ganz langen Zeitskalen Veränderungen der Erdbahn und die Bewegung der Kontinente (Kontinentaldrift) tragen ebenfalls zu natürlichen Klimaschwankungen bei. Die langjährigen Beobachtungsreihen für das vergangene Jahrhundert bis heute zeigen zum anderen aber auch Klimaänderungen, die nur zu einem sehr geringen Anteil mit natürlichen Klimaschwankungen zu erklären sind. Die Erdoberfläche hat sich im Durchschnitt der vergangenen hundert Jahre um mehr als 1°C erwärmt. Der "Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen" (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) belegt mit dem in seinen Sachstandsberichten (Assessment Reports, AR) erarbeiteten Wissen, dass für diese globale Erwärmung in erster Linie der Einfluss des Menschen verantwortlich ist. Das Klima und der Mensch (© Esther Gonstalla, Das Klimabuch, oekom verlag München 2019, S. 8/9; Quellen: DWD (2018), IPCC (2014), Rahmstorf (2013), Riedel & Janiak (2015)) Der anthropogene Treibhauseffekt Eine maßgebliche Rolle spielen dabei vom Menschen verursachte Emissionen von Treibhausgasen in die Atmosphäre (anthropogener Treibhauseffekt); sie entstehen beispielsweise durch die Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas sowie durch die Abholzung von Wäldern. Dadurch ist in den vergangenen Jahrzehnten die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre kontinuierlich angestiegen und nur mit diesem Anstieg lässt sich Ausmaß und Geschwindigkeit der globalen Erwärmung erklären. Denn in Klimasimulationen, die versuchsweise ohne den Anstieg der Treibhausgaskonzentrationen gemacht wurden, fand keine Erwärmung der Erdoberfläche statt. Anteil der Treibhausgase an der Erwärmung (© Eigene Darstellung auf Basis von Karl-Martin Henschel/Steffen Kenzer, Handbuch Klimaschutz, oekom verlag München 2020, S. 2; www.oekom.de/buch/handbuch-klimaschutz-9783962382377) Treibhausgase sind Spurengase in der Atmosphäre, die einen Teil der Wärmestrahlung der Erdoberfläche aufnehmen, sich erwärmen und entsprechend ihrer Temperatur wiederum Wärmestrahlung abgeben. Der zur Erdoberfläche gerichtete Anteil dieser Wärmestrahlung erwärmt als "atmosphärische Gegenstrahlung" die Erdoberfläche, was zu einem Treibhauseffekt führt. Wäre die Erde ein Planet ohne Atmosphäre, hätte ihre Erdoberfläche eine lebensfeindliche Temperatur von durchschnittlich -18°C. Erst die Atmosphäre schafft durch ihren natürlichen Treibhauseffekt lebensfreundliche Bedingungen: Während sie für die kurzwellige Sonneneinstrahlung weitgehend durchlässig ist, nimmt die Atmosphäre die von der Erdoberfläche abgestrahlte langwellige Strahlung (Wärmestrahlung) von Gasen wie Wasserdampf, Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Lachgas (N2O) und Ozon (O3) in sich auf. Diese Gase strahlen ihrerseits im langwelligen Spektralbereich zurück in Richtung Erdoberfläche und erhöhen dort die Energiezufuhr. Dieser natürliche Treibhauseffekt führt zu einer mittleren Erdoberflächentemperatur von +15°C. Menschengemachte Treibhausgase (© David Nelles / Christian Serrer "Kleine Gase – Große Wirkung", KlimaWandel GbR, Friedrichshafen 2019, S. 36) Seit Beginn der Industrialisierung nimmt die Konzentration langlebiger Treibhausgase in der Atmosphäre durch menschliche Einflüsse beständig zu. Zu diesen wachsenden Konzentrationen von Kohlendioxid, Methan, Lachgas und Ozon in der Atmosphäre kommen noch hoch klimawirksame Treibhausgase wie Halogenkohlenwasserstoffe und andere chlor- und bromhaltige Substanzen hinzu, die ausschließlich vom Menschen produziert werden. Durch die zunehmende Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre erhöht sich die Energiezufuhr an der Erdoberfläche. Die zusätzliche Energie erwärmt die Erdoberfläche, die Ozeane und die bodennahe Atmosphäre. Die Rolle des Kohlendioxids Die verschiedenen Gase verbleiben unterschiedlich lang in der Atmosphäre, und sie verfügen über unterschiedliche Potenziale für den Treibhauseffekt. Von herausragender Bedeutung ist das Kohlendioxid (CO2), da es den größten Anteil der durch den Menschen verursachten Emissionen ausmacht, besonders lange in der Atmosphäre verbleibt und insgesamt die stärkste Wirkung auf das Klima ausübt. Deshalb wird Kohlendioxid bei Klimauntersuchungen oft als Bezugsgröße gewählt. Um die Klimawirkung der einzelnen Gase zu verdeutlichen, werden die verschiedenen Treibhausgase in sogenannte Kohlendioxid-Äquivalente umgerechnet. Diese geben an, welcher Menge Kohlendioxid die Klimawirkung der jeweiligen Gasmenge entspricht. Verlauf der monatlichen Mittelwerte des Kohlendioxids, gemessen vom Mauna Loa Observatorium, Hawaii (© Externer Link: www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends/data.html) Die längsten Aufzeichnungen direkter Messungen von Kohlendioxid in der Atmosphäre sind die Datenreihen des Mauna Loa Observatoriums auf Hawaii, begonnen durch den US-amerikanischen Klimaforscher C. David Keeling im März 1958. Die als "Keeling-Kurve" bekannt gewordene Datenreihe veranschaulicht neben den natürlichen Schwankungen im Jahresverlauf den kontinuierlichen Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Diese Konzentrationen werden in "ppm – parts per million", also Anzahl Teilchen pro Millionen Teilchen, gemessen. Im Jahr 1958 lag die CO2-Konzentration im Mai bei einem Monatsmittelwert von 317,5 ppm. Am 13. Mai 2013 wurde erstmals die Tageskonzentration von 400 ppm überschritten, im Mai 2021 betrug der Monatsmittelwert schon 418 ppm. Dass der mittlere CO2-Gehalt der Atmosphäre weiter ansteigt, selbst wenn die Emissionen zeitweise einmal sinken (wie zum Beispiel während des weltweiten Lockdowns 2020/2021 in vielen Nationen aufgrund der Coronavirus-Pandemie), liegt an der langen Verweildauer des Kohlendioxids in der Atmosphäre. Auch wenn die Ozeane und die Vegetation laut Global Carbon Project (GCP) derzeit mehr als die Hälfte der CO2-Emissionen aufnehmen, bleibt der Rest für etwa ein Jahrhundert in der Atmosphäre. Nur wenn die Emissionen dauerhaft auf null gingen, würde sich der atmosphärische CO2-Gehalt stabilisieren und dann langfristig verringern. Im globalen Durchschnitt werden pro Kopf und Jahr etwa 4,8 Tonnen CO2 ausgestoßen. In Deutschland liegt der CO2-Ausstoß laut GCP und Umweltbundesamt bei mehr als 9 Tonnen pro Kopf und Jahr und damit deutlich über dem weltweiten Durchschnitt. Aerosole Neben Treibhausgasen verändern auch Aerosole den Strahlungshaushalt der Atmosphäre. Als Aerosol bezeichnet man ein Gemisch aus festen oder flüssigen Schwebeteilchen und Gas. Die Schwebeteilchen heißen Aerosolpartikel und haben eine typische Größe zwischen 0,01 und 10 μm (Mikrometer = 1 tausendstel Millimeter/1 millionstel Meter). Aerosole entstehen zum einen durch natürliche Vorgänge wie beispielsweise Vulkanausbrüche oder Wüstenstürme, zum anderen infolge menschlicher Aktivitäten wie zum Beispiel Ruß und Schwefeldioxid aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe oder Mineralstaub durch Winderosion landwirtschaftlich genutzter Flächen. Im Gegensatz zu den Treibhausgasen haben Aerosole so gut wie keinen Einfluss auf die langwellige Wärmestrahlung. Aerosolpartikel streuen oder absorbieren die kurzwellige Sonneneinstrahlung und verändern dadurch die Strahlungs- und Energiebilanz an der Erdoberfläche: Die Streuung sehr kleiner Aerosolpartikel bewirkt eine Abkühlung, die Aufnahme (Absorption) größerer Aerosolpartikel eine Erwärmung. Aerosole wirken sich zudem indirekt auf das Klima aus, indem sie die Wolkenbildung und den Niederschlag beeinflussen. Der indirekte Effekt kann je nach Zustand der Atmosphäre und Eigenschaften der Aerosole zu einer Abkühlung oder Erwärmung der oberflächennahen Luftschicht führen. In der Summe lässt sich davon ausgehen, dass Aerosole eine deutlich abkühlende Wirkung besitzen, welche den globalen Temperaturanstieg der letzten Jahrzehnte um wenige Zehntel Grad geringer ausfallen ließen. Landnutzung Temperaturanomalie – gemittelt über Deutschland (© www.dwd.de/DE/leistungen/zeitreihen/zeitreihen.html?nn=480164 (Zugriff am 17. Juni 2021)) Eine weitere Ursache von Klimaänderungen sind Einwirkungen des Menschen auf die Landoberfläche. Maßnahmen wie Entwaldung, Bodenversiegelung oder Bewässerung verändern die Reflexion von Sonnenstrahlung an der Erdoberfläche. Damit einhergehend verändern sich die Vegetationsdichte, die Rauhigkeit der Erdoberfläche oder das Wasserspeichervermögen der Böden, was zu Rückwirkungen auf den Austausch von Stoffen, Impuls und Energie führt. Die Strahlungs- und Energiebilanz, die Verdunstung von Wasser, der Transport von Energie und die Wolkenbildung werden beeinflusst. Dadurch kann es zur Abkühlung oder Erwärmung der bodennahen Luftschichten kommen, was die treibhausgasbedingte globale Erwärmung regional und lokal abschwächen oder verstärken kann. Seit Beginn der Frühindustrialisierung um 1750 ist die weltweite bodennahe Lufttemperatur im Mittel um etwa 1°C gestiegen und liegt gemittelt über alle Landflächen bei etwa 1,5°C. Weltweit gesehen lagen die 20 wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nach Angaben der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde der USA (NOAA, 2020) bis auf eine Ausnahme (1998) alle im 21. Jahrhundert. In Deutschland ist die jährliche bodennahe Lufttemperatur seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881 nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes (DWD) bereits um 1,6°C im Mittel angestiegen. QuellentextWetter ist nicht gleich Klima […] Der Begriff Klima beschreibt die "Gesamtheit der Wettererscheinungen an irgendeinem Ort der Erde während einer festgelegten Zeitspanne". […] Die World Meteorological Organization (WMO) hat dabei festgelegt, dass der Mittelungszeitraum mindestens 30 Jahre umfasst […]. […] Das Wort [Klima] selbst stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet in etwa "Neigung". Gemeint ist damit, ob die Sonne in steilem oder flachem Winkel auf die Erdoberfläche trifft und diese entsprechend mehr oder weniger stark erwärmt. Denn bei einem flacheren Winkel verteilt sich die gleiche Energiemenge über eine größere Fläche. Hieraus ergeben sich übrigens auch unmittelbar die verschiedenen Klimazonen der Erde. Weil die Erdachse geneigt ist – derzeit um 23,5 Grad – ändern sich diese Auftreffwinkel zudem im Verlauf eines Jahres. So entstehen die Jahreszeiten und eine scheinbare Bahn der Sonne zwischen dem nördlichen (23,5 Grad nördlicher Breite) und dem südlichen (23,5 Grad südlicher Breite) Wendekreis. Dadurch steht die Sonne bei uns im Winter 47 Grad (2 mal 23,5 Grad) tiefer als im Sommer: Wir bekommen viel weniger Sonnenenergie pro Fläche ab – es wird kälter. […] [Es] kommt aber in Erweiterung des ursprünglichen Klimabegriffs auch noch die räumliche Dimension hinzu. Wenn man Wettererscheinungen über größere Naturräume mittelt, spricht man vom Regional- oder Mesoklima, bei Kontinenten oder gar dem ganzen Globus vom Makro- oder Erdklima beziehungsweise vom globalen Klima. […] Klima ist schlicht die Statistik des Wetters. Dennoch werden die Begriffe in der öffentlichen Debatte gerne durcheinandergebracht. Der Stolperstein ist wohl folgender: Wetter können wir mit unseren Sinnesorganen fühlen und es zu erleben löst unmittelbar Empfindungen in uns aus. Wetter ist uns emotional also sehr nah. Klima – die Statistik – können wir hingegen nicht fühlen. Deshalb ist uns das Klima emotional fern. […] Wetter ist definiert als der "aktuelle Zustand der Atmosphäre an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt". Damit spüren wir einen Vorgang, der in höchstem Maße variabel ist, denn genau das zeichnet unser Wetter aus. Mal ist es heiß, mal kalt, mal fällt Regen, mal schneit es, mal herrscht ruhiges Hochdruckwetter mit Sonnenschein, dann kommt es wieder zu Gewittern oder Stürmen. […] Sven Plöger, Zieht euch warm an, es wird heiß!, Westend Verlag GmbH Frankfurt/M. 2020, S. 78 ff. Zukünftige Klimaänderungen Eine wesentliche Rolle bei der Erforschung des Klimawandels und insbesondere der menschlichen Einflüsse auf das Klima spielen physikalisch-mathematische Klimamodelle. Dies sind dreidimensionale Zirkulationsmodelle der Atmosphäre, meist gekoppelt mit dreidimensionalen Zirkulationsmodellen des Ozeans. Klimamodelle wurden über viele Jahrzehnte entwickelt. Sie beinhalten heutzutage neben Modellen der Landoberflächen mit Böden, terrestrischer Hydrosphäre (das den Landflächen zugeordnete Wasser) und Vegetation auch Modelle der marinen Biosphäre sowie des Meereises und terrestrischer Eisschilde, zudem bilden sie Aerosole und chemische Prozesse in der Atmosphäre ab. Darüber hinaus werden auch biogeochemische Kreisläufe wie der Kohlenstoff-, der Stickstoff- und der Schwefelkreislauf abgebildet und mit physikalischen Prozessen im Klimasystem interaktiv gekoppelt. Diese komplexen Modelle werden oft auch als "Erdsystemmodelle" bezeichnet. In diesen komplexen Modellen werden die anthropogenen Treibhausgasemissionen direkt vorgegeben und deren Auswirkungen auf das Klima berechnet. Die Verteilung des zusätzlichen Kohlendioxids in Atmosphäre, Ozean und Biosphäre kann damit simuliert und Rückkopplungsprozesse im Klimasystem können erfasst werden. Klimamodelle werden weltweit an vielen Forschungszentren erstellt und im internationalen Austausch stetig weiterentwickelt. Die Modelle werden dahingehend analysiert, wie gut sie das historische Klima (dessen Verlauf durch Beobachtungen belegt ist) und beobachtete Vorgänge im Klimasystem wiedergeben. Klimaprojektionen Mit Klimamodellen lassen sich auf Basis von Annahmen über die Entwicklung zukünftiger Treibhausgasemissionen deren Auswirkungen auf das Klima abbilden. Auf diese Weise ist die Klimawissenschaft in der Lage, quantitative Aussagen über die potenziell zukünftigen Änderungen des Klimas zu machen. Diese werden in der Fachsprache "Klimaprojektionen" genannt und beantworten Fragen wie: Was wäre, wenn …? Wie entwickelt sich das Klima unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise wenn durch menschliche Aktivitäten auch weiterhin große Mengen zusätzlicher Treibhausgase in die Atmosphäre emittiert werden oder wenn stattdessen deutliche Anstrengungen zum Klimaschutz unternommen werden? Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Emissionsszenarien für das 21. Jahrhundert entwickelt, die auf verschiedenen Annahmen beruhen. In die Berechnung einbezogen werden dabei unter anderem die Bevölkerungsentwicklung sowie Entwicklungen auf den Gebieten der Energienutzung, der Technologie oder der Wirtschaft. Die Klimaprojektionen des 5. Sachstandsberichts des IPCC (AR5) von 2013/14 basieren auf den sogenannten Repräsentativen Konzentrationspfaden (Representative Concentration Pathways, RCPs). Diese beschreiben bestimmte Entwicklungspfade atmosphärischer Treibhausgaskonzentrationen und zugehöriger Emissionen. Eine charakteristische Kennzahl für die RCPs ist der Strahlungsantrieb, ein Maß für die Änderung der Energiebilanz der Erde innerhalb eines Zeitraums vom vorindustriellen Niveau um 1750 bis zum Ende des 21. Jahrhunderts. Gemessen wird der Strahlungsantrieb in Watt pro Quadratmeter (W/m2), wonach die Entwicklungspfade auch bezeichnet werden: RCP8.5 steht für einen Strahlungsantrieb von 8.5 W/m2 und beschreibt einen kontinuierlichen Konzentrationsanstieg mit sehr hohen Treibhausgasemissionen. RCP6.0 und RCP4.5 sind zwei Stabilisierungsszenarien und RCP2.6 ist ein Minderungsszenario. Letzteres beinhaltet ehrgeizige Maßnahmen, die nicht nur die Treibhausgasemissionen reduzieren, sondern zum Ende des 21. Jahrhunderts in "negative Emissionen" übergehen, das heißt Kohlendioxid aus der Atmosphäre entziehen. Mit RCP2.6 soll der Strahlungsantrieb um 2040 etwa 3 W/m2 betragen und dann zum Ende des 21. Jahrhunderts auf einen Wert von 2.6 W/m2 zurückgehen. Die unterschiedlichen Werte des Strahlungsantriebs spiegeln klimapolitische Maßnahmen wider. Minderungsziele In den letzten Jahren hat ein internationales Team von Fachleuten aus den Bereichen Klimawissenschaft, Ökonomie und Energie eine Reihe von Shared Socioeconomic Pathways (SSPs) entwickelt, die in verschiedenen Entwicklungspfaden mögliche zukünftige Veränderungen der globalen Gesellschaft beschreiben. In Kombination mit verschiedenen Emissionsminderungszielen bilden sie ab, wie sich gesellschaftliche Entscheidungen auf die Treibhausgasemissionen auswirken und wie die Klimaziele des Pariser Abkommens erreicht werden können. Die untersuchten Minderungsziele werden mittels RCPs durch den Strahlungsantrieb für das Jahr 2100 definiert. RCP1.9 nimmt dabei eine besondere Rolle ein, denn es beschreibt einen modellierten Pfad zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau, dem Ziel des Pariser Klimaabkommens. Hierbei nehmen die anthropogenen CO2-Emissionen bis 2030 um etwa 45 Prozent gegenüber dem Niveau von 2010 ab und erreichen einen Netto-Null-Zustand um das Jahr 2050. Beschleunigte Maßnahmen zur Emissionsvermeidung erforderlich Zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C ist eine schnelle und weitreichende Vermeidung und Reduktion aller Treibhausgasemissionen, vor allem von Kohlendioxid, erforderlich. Darüberhinaus ist ein Ausgleich des nicht zu vermeidenden Treibhausgasausstoßes durch "negative Emissionen" notwendig. Der Atmosphäre muss also Kohlendioxid entzogen werden, beispielsweise durch das Anpflanzen von mehr Wäldern oder durch mehr Bindung von CO2 in Böden durch veränderte landwirtschaftliche Bearbeitungsmethoden. Für das RCP1.9 sind nach 2050 bis zum Ende des 21. Jahrhunderts negative Emissionen erforderlich. Da die Möglichkeiten zum Entzug von Kohlendioxid jedoch in ihrem Umfang begrenzt sind und großen Unsicherheiten unterliegen, sollten Emissionen so schnell wie möglich vermieden werden, um die Notwendigkeit für den nachträglichen Entzug soweit wie möglich zu minimieren. Die Treibhausgasemissionen entsprechend der SSPs und daraus folgende atmosphärische Konzentrationen werden der neuesten Generation von Klimamodellen vorgegeben, deren Simulationen die Grundlage für den sechsten Sachstandsbericht des IPCC bilden, der im Spätsommer 2021 veröffentlicht werden soll. Alle zukünftigen Entwicklungspfade, welche die globale Erwärmung ohne oder allenfalls mit geringer zeitweiser Überschreitung der politisch vereinbarten Temperaturziele (Overshoot) schließlich auf 1,5°C begrenzen, nehmen den Einsatz von Maßnahmen zur Kohlendioxidentnahme aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR) in einer Größenordnung zwischen 100 bis 1000 Gigatonnen CO2 im Verlauf des 21. Jahrhunderts an. Die Entnahme von mehreren hundert Gigatonnen CO2 unterliegt allerdings vielfältigen Einschränkungen in Hinblick auf Machbarkeit und Nachhaltigkeit. Deshalb sind beschleunigte Emissionsminderungen in der nahen Zukunft dringend erforderlich, wenn das Pariser Klimaabkommen erfüllt werden soll. CDR-Maßnahmen müssten genutzt werden, um die noch verbleibenden Emissionen auszugleichen, netto negative Emissionen zu erzielen und somit die globale Erwärmung nach einem zukünftig erreichten Höchststand wieder auf 1,5 °C zurück zu bringen. Dabei kommt vor allem die Abscheidung und Speicherung von CO2 bei der Verbrennung von Biomasse (Bioenergy with Carbon Capture and Storage, BECCS) infrage sowie die Aufforstung, Wiederbewaldung und teilweise vermehrte Speicherung von Kohlenstoff im Boden durch geeignetes Landmanagement (Agriculture, Forestry and Other Land Use, AFOLU). Vereinzelt könnte auch die Methode Direct Air Carbon Capture and Storage (DACCS) zum Einsatz kommen, also der direkte Entzug von CO2 aus der Atmosphäre und seine Abscheidung und Speicherung. Allerdings steht die Erforschung dieser Methoden bislang noch am Anfang und zudem ist noch unklar, wie und wo CO2 dauerhaft gespeichert werden kann. Auch das Wissen über den Kohlenstoffkreislauf im Klimasystem insgesamt und über die Wirksamkeit der negativen Netto-Emissionen zur Senkung der Temperaturen ist noch sehr begrenzt. Werden bestimmte globale Erwärmungsraten überschritten, können irreversible Prozesse ausgelöst und nicht umkehrbare Änderungen im Klimasystem eintreten (Kipppunkte). Die derzeit von den Nationen festgelegten individuellen Beiträge zum Klimaschutz bis 2030 (National Determined Contributions, NDCs) werden jedoch die globale Erwärmung nicht auf 1,5°C begrenzen. Abhängig von Maßnahmen zur Vermeidung von Emissionen nach 2030 führen sie bis 2100 zu einer globalen Erwärmung von 3°– 4°C über vorindustriellem Niveau. Unsicherheiten und Methoden zu ihrer Begrenzung Die Abbildungen des zukünftigen Klimas unterliegen verschiedenen Unsicherheiten. Zum einen wissen wir nicht, welches der oben aufgeführten Emissionsszenarien eintreten wird. Deshalb werden Klimasimulationen basierend auf den verschiedenen möglichen Szenarien durchgeführt. Zum anderen bestehen Unsicherheiten in der Modellierung. Deshalb werden Projektionen für das zukünftige Klima mit verschiedenen Klimamodellen in sogenannten Multi-Modell-Ensembles erstellt. Dazu werden weltweit koordinierte Experimente in internationalen Modellvergleichsprojekten (Coupled Model Intercomparison Projects, CMIP) im Rahmen des Weltklimaforschungsprogramms (World Climate Research Program, WCRP) durchgeführt, um die Vergleichbarkeit und einen geeigneten Austausch von Daten zu gewährleisten. Die jeweils aktuellen CMIP-Ergebnisse bilden die Grundlage für die Sachstandsberichte des IPCC. Die neueste Generation koordinierter Experimente wird im Rahmen des CMIP6 durchgeführt und soll im 6. IPCC-Sachstandsbericht voraussichtlich im Spätsommer 2021 veröffentlicht werden. Die Ergebnisse der Ensemblesimulationen aus den CMIP-Experimenten werden als Bandbreiten angegeben, um die Unsicherheiten der Modellierung zu berücksichtigen. Basierend auf den Multi-Modell-Ensemblesimulationen des CMIP5 kommen alle RCPs zum Ergebnis, dass im Zeitraum 2081–2100 gegenüber dem Zeitabschnitt 1986–2005 ein mehr oder weniger starker Anstieg der mittleren globalen Erdoberflächentemperatur stattfinden wird: Für RCP2.6 mit sehr ambitionierten Klimaschutzmaßnahmen liegt die Bandbreite des Temperaturanstiegs bei 0.3–1.7°C, für die beiden Stabilisierungspfade erhöht sie sich auf 1.1–2.6°C (RCP4.5) bzw. 1.4–3.1°C (RCP6.0). Für RCP8.5 mit sehr hohen Treibhausgasemissionen ergibt sich eine Spanne von 2.6–4.8°C. Dabei erwärmt sich die Arktis jeweils wesentlich schneller als das globale Mittel, und die mittlere Erwärmung über Land ist deutlich größer als über dem Ozean. Um die regional unterschiedlichen Ausprägungen der Klimaänderungen untersuchen zu können, werden die globalen Simulationen mit deutlich höher auflösenden regionalen Klimamodellen räumlich verfeinert. Damit können beispielsweise extreme Niederschläge und räumlich detaillierte Temperaturkontraste abgebildet werden. Die so gewonnenen räumlich detaillierten Informationen zu möglichen Änderungen verschiedener Klimaparameter werden für die Forschung zu Klimafolgen, besonderen Gefährdungen (Vulnerabilität) und Anpassungsoptionen benötigt. Für Europa wurden und werden im Rahmen der EURO-CORDEX-Initiative Ensemble-Simulationen mit Kombinationen verschiedener globaler und regionaler Klimamodelle mit einer horizontalen Auflösung von etwa 12,5 Kilometern erstellt. Basierend auf dem neuesten Stand des EURO-CORDEX-Ensemble von 2020 wurden für Deutschland 85 regionale Klimamodellsimulationen für drei verschiedene RCPs ausgewertet. Daraus ergeben sich für das Gebietsmittel von Deutschland bis zum Ende des 21. Jahrhunderts im Vergleich zu 1971-2000 folgende Bandbreiten für den projizierten Anstieg der bodennahen Lufttemperatur: 0,4–1,8°C für RCP2.6, 1,3–3,1°C für RCP4.5 und 2,7–5,3°C für RCP8.5. Die projizierten Änderungen der jährlichen Niederschläge reichen von einer Abnahme von 9,9 Prozent bis zu einer Zunahme von 28,1 Prozent. Hier sind die projizierten Zunahmen jedoch nur für RCP8.5 robust. Robust bedeutet, dass mindestens zwei Drittel der Simulationen eine Zunahme und mindestens 50 Prozent der Simulationen gleichzeitig eine deutliche Zunahme zeigen. Globale Folgen des Klimawandels Die Erwärmung der Erdoberfläche und der Atmosphäre verändern die Druck- und Windsysteme und damit den Transport von Luftmassen und die Struktur der atmosphärischen Zirkulation. Zudem erhöht sich die Verdunstung von Wasser in die Atmosphäre. Die erwärmte Atmosphäre kann mehr Wasserdampf aufnehmen und transportieren, was regional zu Veränderungen der Niederschläge führt. So haben in den mittleren Breiten der Nordhemisphäre die Niederschläge gemittelt über den Landflächen in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen, in anderen Regionen jedoch abgenommen. Trockenheit und Wetterextreme Die zunehmende Verdunstung über Landflächen kann regional und jahreszeitlich zu Bodentrockenheit führen. Dauert die Trockenheit im Boden länger an, spricht man von einer "Bodenfeuchte-Dürre" oder auch landwirtschaftlichen Dürre, welche das Wachstum der Pflanzen und die landwirtschaftlichen Erträge beeinträchtigt. Die Klimaänderungen, einschließlich der Zunahme von Extremereignissen in Häufigkeit und Intensität, haben bereits jetzt negative Folgen für die Ernährungssicherheit und die terrestrischen Ökosysteme und tragen in vielen Regionen zu einer Verschlechterung der Bodeneigenschaften bis hin zur Wüstenbildung bei. So hat der Klimawandel die Erträge von Weizen und Mais in vielen Regionen und auch global betrachtet vermindert. In der Zusammenfassung des 5. IPCC-Sachstandsberichts für politische Entscheidungsträger werden weitere Beobachtungen beschrieben: Seit 1950 zeigen sich zahlreiche Veränderungen von Wetter- und Klimaextremen. So nahm die Anzahl kalter Tage und Nächte ab, die Anzahl warmer Tage und Nächte dagegen zu. Hitzewellen traten in weiten Teilen Europas, Asiens und Australiens häufiger auf. Starke Niederschläge nahmen in Europa und Nordamerika an Häufigkeit und Intensität zu. Die oberen Ozeanschichten (0–700 m) erwärmten sich, in den oberen 75 Metern von 1971–2010 im Mittel um 0,11°C pro Dekade. Erwärmung der Ozeane und Anstieg des Meeresspiegels Die Erwärmung des Ozeans macht mehr als 90 Prozent der zwischen 1971 und 2010 durch die anthropogene Erwärmung angehäuften Energie aus. Dabei hat sich die Ozeanerwärmung in den letzten Jahrzehnten beschleunigt. Häufigkeit und Intensität sogenannter mariner Hitzewellen sind deutlich gestiegen. Durch die vermehrte Aufnahme von Kohlendioxid verringert sich der ph-Wert des Meerwassers und der Säuregehalt der Ozeanoberfläche steigt an. Von der Oberfläche bis in 1000 Metern Tiefe ging der Sauerstoffgehalt zurück. Dadurch verschlechtern sich die Lebensbedingungen vieler Arten in den Meeren. Ganze Nahrungsketten sind betroffen und auch das Nahrungsangebot für den Menschen verringert sich. Während der letzten Jahrzehnte verloren die Eisschilde in Grönland und in der Antarktis an Masse, die Gletscher sind fast überall auf der Erde weiter abgeschmolzen, und die Schneebedeckung in der Nordhemisphäre hat im Frühjahr durchschnittlich weiter abgenommen. Im Zeitraum 1979–2012 hat sich die mittlere jährliche Ausdehnung des arktischen Meereises um 3,5–4,1 Prozent pro Dekade verringert. Auch die Dicke des Meereises hat abgenommen. Die Permafrost-Temperaturen sind in den meisten Regionen seit den frühen 1980er-Jahren deutlich angestiegen, es wurden vielerorts Rückgänge bei der Dicke und der flächenhaften Ausdehnung des Permafrostes festgestellt. Da Wasser sich bei Erwärmung ausdehnt und abschmelzendes Eis vom Festland dem Meer vermehrt Wasser zuführt, ist im Zeitraum von 1901–2010 der globale mittlere Meeresspiegel um etwa 19 Zentimeter angestiegen, wobei sich die Anstiegsrate in den vergangenen 20 Jahren auf etwa 3,2 Millimeter pro Jahr verdoppelt hat. Erhöhte Windgeschwindigkeiten und Niederschläge von tropischen Wirbelstürmen sowie die Zunahme von extremen Wellen verschärfen in Kombination mit dem relativen Meeresspiegelanstieg Extremwasserstände, und Gefahren an Küsten führen zu Überflutungen und Erosion von Landflächen. Zukunftsszenarien bei Erwärmung um 1,5°C Fortgesetzte Emissionen von Treibhausgasen werden eine weitere Erwärmung und Veränderungen in allen Komponenten des Klimasystems bewirken. Nach dem "IPCC-Sonderbericht über 1,5°C Globale Erwärmung" von 2018 erreicht die globale Erwärmung wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052 1,5°C. Wie sich die Erwärmung dann weiter fortsetzt und ob sie entsprechend dem Pariser Abkommen auf weniger als 2°C und besser auf 1,5°C begrenzt werden kann, hängt von den weiteren Anstrengungen zum Klimaschutz ab. Nach den Erkenntnissen des IPCC-Sonderberichtes zu Ozeanen werden sich der globale Massenverlust von Gletschern, das Tauen von Permafrost und der Rückgang der Schneebedeckung und des arktischen Meereises in der nahen Zukunft fortsetzen. Die grönländischen und antarktischen Eisschilde werden während des gesamten 21. Jahrhunderts und auch über dieses Jahrhundert hinaus mit zunehmender Geschwindigkeit an Masse verlieren. Die Geschwindigkeiten und Ausmaße dieser Veränderungen werden bei einem Pfad mit hohen Treibhausgasemissionen in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts weiter zunehmen. Gelingt es jedoch, in den kommenden Jahrzehnten die Treibhausgasemissionen stark zu verringern, so würden die Klimaänderungen nach 2050 weniger stark ausfallen. Die Auswirkungen einer globalen Erwärmung um 1,5°C auf die Natur und den Menschen werden höher sein, als sie es heute schon sind, aber deutlich geringer ausfallen als bei 2°C. Der "IPCC-Sonderbericht über 1,5°C Globale Erwärmung" sagt für die meisten bewohnten Regionen in Zukunft vermehrte Hitzeextreme voraus, in mehreren Regionen häufigere Starkniederschläge und in einigen Regionen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Niederschlagsdefiziten und Dürren. Verbunden damit sind Folgen für Biodiversität und Ökosysteme einschließlich des Verlusts und Aussterbens von Arten, die unter 1,5°C globaler Erwärmung lediglich etwas geringer ausfallen als beim Temperaturanstieg auf 2°C. Der Bericht legt dabei den Schwerpunkt auf Klimaschutzszenarien, die während des gesamten 21. Jahrhunderts die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzen oder lediglich einen leichten Overshoot von maximal 0,1°C zulassen. Ein starkes Überschreiten der 1,5-Grad-Erwärmung hingegen würde zu irreversiblen Schäden für Menschen und Ökosysteme führen, selbst wenn es gelingen sollte, die globale Erwärmung zum Ende des Jahrhunderts durch verstärkten Entzug von Kohlendioxid aus der Atmosphäre wieder auf 1,5 Grad zurückzuführen. QuellentextAuf töneren Füßen […] In Jakutien – offiziell Republik Sacha – ist es im Schnitt vier Grad wärmer als vor 50 Jahren. Dieser und letzter Sommer [2019/2020] waren besonders heiß, sogar in der jakutischen Arktis. 38 Grad, neuer Rekord, gemessen in Werchojansk. Dort wird es im Winter kälter als an jedem anderen bewohnten Ort der Erde. […]. Der Klimawandel verformt ganze Landstriche. […] Permafrost ist überall anders. In der Stadt Jakutsk ist er zum Beispiel recht trocken und somit relativ stabil. Gefährlicher ist das Wasser im Boden. In der gefrorenen Erde schlummern riesige Linsen und Zapfen aus Eis. Wenn sie schmelzen, lassen sie große Hohlräume zurück. Manchmal fallen hier sogar Kühe in Löcher hinein, ganze Dörfer rutschen weg, Schienen verbiegen sich, Mienen werden geflutet, Felder verderben. [Alexander] Fjodorow [Vizedirektor des Permafrost-Instituts in der jakutischen Hauptstadt] zeigt Fotos von Hängen, die aussehen wie zerflossene Schokolade. Wälder stürzen regelrecht in Abgründe. Im Norden ist ein riesiger Krater entstanden, einen Kilometer lang. [...] Etwa ein Viertel der jakutischen Permafrostfläche ist besonders stark mit Eis durchsetzt. […] Wenn es die Erwärmung nicht gäbe, sagt Fjodorow, wäre dieses Land "sehr stabil, sehr gut". […] Hinter Fjodorows Schreibtisch hängt eine bunte Landkarte: Jakutien, fast neunmal so groß wie Deutschland. Die verschiedenen Farben auf der Karte unterscheiden 75 Arten von Permafrost. Unten im Süden ist das Klima wärmer, dort ist der Boden nicht immer und überall gefroren. Weiter nördlich, in Zentraljakutien, liegt ständig, stabil Permafrost. Doch die Grenzen verschieben sich, das wärmere Wetter wandert immer weiter nach Norden. [...] "Wir geben uns Mühe, das nicht zu bemerken", sagt er. "Niemand will an einem schlechten Ort leben. Wir betrügen uns selbst." […] In Jakutsk ist der Permafrostboden heute ein halbes Grad wärmer als noch in den Neunzigerjahren, damals hatte er minus drei Grad. In der jakutischen Tundra waren es minus elf, jetzt minus acht, sagt Fjodorow. Dazu kommt, dass das Tauwetter immer tiefer in den Boden reicht. Je nach Landschaft sackt der Boden bis zu 18 Zentimeter im Jahr ab. Bis zu drei Meter in 20 Jahren, wenn es so weitergeht. Draußen ist es drückend heiß, gerade haben sie hier fast 30 Grad. Das kommt vor im Juli, aber im Winter gilt Jakutsk als kälteste Großstadt der Welt. Sonst ist vieles wie in jeder russischen Stadt: die Leninstatue im Zentrum, die fünfstöckigen Wohnblöcke. Aber hier steht fast alles auf Betonpfeilern, auch Hochhäuser mit 16 Etagen. Die höchsten überhaupt auf Permafrostboden. Sich den Frost bei 30 Grad vorzustellen, fällt schwer. Dabei hinterlässt er überall seine Spuren. Unter vielen Häuserkanten klemmen zusätzliche Stützen, wie unter kippelnden Möbeln. Die Platten der Plattenbauten driften auseinander, die Bürgersteige haben Löcher. Ältere Holzhäuser hängen in der Mitte durch wie Bananen. Etwa die Hälfte der Gebäude in der Stadt müsste renoviert werden, heißt es im Rathaus. "Havariezustand" nennt man hier die schlimmen Fälle, wie bei Schiffen in Seenot. Oft rutschen Stützpfeiler ab, weil der Boden nachgibt. Und Baufehler auf Permafrost rächen sich. […] Die russische Regierung will dem Klimawandel jetzt etwas entgegensetzen. Im Januar hat sie einen Plan veröffentlicht, eine Art To-do-Liste. Für jede Branche soll geprüft werden, wie sie sich auf den Klimawandel einstellen kann. Ob sie etwa Dämme bauen oder dürreresistente Samen einkaufen sollten. Aber auch das steht in dem Papier, dass das Tauwetter die Schifffahrt in der Arktis erleichtere, und dass die längeren Sommer der Landwirtschaft helfen. […] Der Klimawandel ist auch in Russland zum Thema geworden. Dabei glauben viele Russen weiter nicht, dass der Mensch Einfluss auf die Erwärmung hat. […] Wladimir Prokopiew kennt die Ursachen. Er sitzt für die Regierungspartei Einiges Russland im jakutischen Parlament […] und stellt klar: Der Permafrost taue wegen des Klimawandels, und verursacht habe den das Treibhausgas. Aber daran seien die großen Industriestaaten schuld. Ist Russland kein großer Industriestaat? "Nicht der größte", sagt er. Tatsächlich ist Russland der viertgrößte Emittent nach China, den USA und Indien. […] An der Leninstraße steht das Institut für "biologische Probleme der Permafrostzone". […] Wer hier nach dem Klimawandel fragt, hört apokalyptische Geschichten. Weil die Sommer trockener und länger werden, nehmen Waldbrände zu. […] [2019] brannte die größte Fläche seit Jahrzehnten, auch […] [2020] waren es schon mehr als eine Million Hektar allein in Jakutien. In diese Statistik sind viele Brände in abgelegeneren Gegenden noch gar nicht eingerechnet. Feuer kann dem Wald helfen, sich zu erholen. Aber der Wald schützt den Frostboden vor der Sonne. Verkohlte Flächen dagegen ziehen die Sonne an, dann weicht der Boden auf. Und wenn er dabei zu feucht wird, wachsen keine Bäume nach. Es ist ein Teufelskreis. Auch Überschwemmungen sind in Jakutien verheerender als anderswo. Über dem gefrorenen Boden taut nur eine dünne Schicht. Diese "aktive" Schicht trocknet bei Hitze besonders schnell aus. Und bei Regen nimmt sie nur wenig Wasser auf, das fließt stattdessen in Flüsse und Seen. So wechseln sich Dürre und Überflutung ab. Es sind die kleinen Völker, die am stärksten unter der Klimaveränderung leiden. Wenn das Eis auf den Seen und Flüssen nicht trägt, kann man ihre Dörfer nicht mehr erreichen und nichts dorthin liefern, weder Brennstoff noch Lebensmittel. Ohne festes Eis können die Jäger auf ihren Schneemobilen nicht nach Zobeln jagen und die Fischer zur Laichzeit nicht fischen. Fische schwimmen tiefer, Vögel ziehen nördlicher, das Wasser wird unreiner, der Wind stärker, das Wetter unvorhersehbarer. Und die Menschen werden arbeitslos. […] Silke Bigalke, "Bodenlos", in: Süddeutsche Zeitung vom 13. August 2020 Zukunftsszenarien bei Erwärmung um 4°C Der Domino-Effekt im Klimasystem (© picture-alliance / dpa-infografik / dpa-infografik; Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences) Würde die Menschheit einen Emissionspfad entsprechend dem RCP8.5 beschreiten, wäre eine globale Erwärmung hin zu einer 4°C wärmeren Welt die Folge, was die Auswirkungen des Klimawandels deutlich verstärken würde. In einigen Komponenten des Klimasystems werden sogenannte Kipppunkte, also kritische Schwellenwerte erreicht, deren Überschreiten unkontrollierbare und sich selbstverstärkende Prozesse auslöst, die zum Teil unaufhaltsam und unumkehrbar sind. So würde ein anhaltender Massenverlust von Eisschilden einen stärkeren Meeresspiegelanstieg verursachen, und ein Teil dieses Massenverlustes könnte unumkehrbar sein. Eine anhaltende Erwärmung, die höher ist als ein bestimmter Schwellenwert, würde zu einem nahezu vollständigen Verlust des Grönländischen Eisschildes über ein Jahrtausend oder mehr führen und damit einen mittleren globalen Meeresspiegelanstieg von bis zu 7 Meter bewirken. Schätzungen basierend auf dem 5. Sachstandsbericht des IPCC zeigen, dass dieser Schwellenwert größer als ca. 1°C globale Erwärmung ist, aber kleiner als 4°C. Eine mögliche Folge des Klimawandels ist auch ein abrupter und unumkehrbarer Eisverlust durch eine potenzielle Instabilität von auf dem Meeresgrund aufliegenden Teilen des Antarktischen Eisschildes. Die fortschreitende Erwärmung der Permafrostregionen führt zum Auftauen des Permafrosts und setzt die mikrobielle Zersetzung des darin gespeicherten Bodenkohlenstoffs in Gang. Hierbei kann eine unkontrollierbare Quelle von Treibhausgasemissionen geschaffen werden, die möglicherweise ihrerseits die Erderwärmung verstärkt, auch nachdem die anthropogenen Treibhausgasemissionen auf null reduziert worden sind. Einflüsse durch gesellschaftliche Entwicklungen Die mit dem Klimawandel verbunden Risiken für die Natur und den Menschen hängen vom Ausmaß und der Geschwindigkeit der Erwärmung ab und wie diese sich regional und lokal ausprägt. Zum anderen spielt auch eine Rolle, wie sich die Bevölkerung, der Konsum, die Produktion-, die Technologie und das Landmanagement entwickeln. Entwicklungspfade mit höherem Bedarf an Nahrung, Futtermitteln und Wasser, mit ressourcenintensiverem Konsum und ressourcenintensiverer Produktion sowie mit geringeren technologischen Verbesserungen der landwirtschaftlichen Erträge führen zu höheren Risiken durch Wasserknappheit in Trockengebieten, Landdegradierung und Ernährungsunsicherheit. Werden hingegen die Treibhausgasemissionen reduziert und Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel durchgeführt, können auch Desertifikation und Landdegradierung bekämpft und die Ernährungssicherheit verbessert werden. Viele Maßnahmen zur Bekämpfung von Desertifikation können die Anpassung an den Klimawandel unterstützen und sein weiteres Fortschreiten hemmen. Außerdem können sie den Verlust an biologischer Vielfalt eindämmen und nachhaltige Entwicklung fördern. Nachhaltiges Landmanagement kann Landdegradierung verhindern oder verringern, die Produktivität von Landsystemen aufrechterhalten und so die negativen Folgen des Klimawandels für die Landsysteme auffangen, vermeiden oder sogar umkehren. Handlungsmöglichkeiten im gesamten Ernährungssystem, von der Produktion bis zum Verbrauch, einschließlich der Vermeidung von Nahrungsmittelverlusten und -verschwendung, können eingesetzt und ausgebaut werden, um eine Anpassung an bzw. Vermeidung von Klimawandel voranzubringen. Folgen für Europa und Deutschland In Europa kommt es mit fortschreitendem Klimawandel immer häufiger zu Hitzewellen, Waldbränden und Dürren. Seit 2003 hat Europa mehrere extreme Hitzewellen erlebt (2003, 2006, 2007, 2010, 2014, 2015, 2018, 2019). Sie werden unter dem Emissionsszenario RCP8.5 in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts voraussichtlich alle zwei Jahre auftreten und sich besonders stark in Südeuropa ausprägen. In Nordeuropa wird das Klima im Durchschnitt deutlich feuchter und es kommt häufiger zu Überschwemmungen. Alpine, skandinavische und isländische Gletscher ziehen sich zurück, in den Alpen nehmen Felsstürze zu. In den Flüssen treten zeitweise besonders niedrige und phasenweise besonders hohe Abflussmengen auf. QuellentextGletscherschwund in den Alpen […] Fünf Gletscher gibt es heute in Deutschland. Im Gebiet rund um die Zugspitze den Südlichen Schneeferner, den Nördlichen Schneeferner und den Höllentalferner, in den Berchtesgadener Alpen den Watzmanngletscher und das Blaueis. Zusammengenommen bedecken sie gerade noch eine Fläche, so groß wie die Münchner Theresienwiese, auf der das Oktoberfest stattfindet. […] Welcher verschwindet zuerst? Der Mann, der die bayerischen Gletscher so gründlich erforscht hat wie niemand sonst, heißt Wilfried Hagg. Sein Büro ist ein kleines Kabuff in der Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Hagg, 48, ist Professor an der Fakultät für Geoinformation, Studiengang "Kartographie und Geomedientechnik". […] Er untersucht den Blaueisgletscher wie ein Arzt seinen Patienten. Zuerst sammelte er alte Messdaten, vereinheitlichte und verglich sie. Dann begann er, selbst den Felsenkessel hinaufzusteigen. Alle paar Jahre stellt er nun sein Laser-Vermessungsgerät auf. Die Ergebnisse komplettieren die historische Zahlenreihe. 1889: 16,4 Hektar. 1949: 15,2. 1970: 12,6. 1989: 12,3. 2009: 4,7. 2018: 3,5. […] Am besten vergleiche man einen Gletscher mit einem Girokonto, sagt Wilfried Hagg. Der Schnee, der im Winter falle und liegen bleibe, sei die Einzahlung. Das Eis, das im Sommer schmelze, die Abbuchung. Wenn sich beides die Waage halte oder die Einnahmen die Ausgaben gar überstiegen, sei die Haushaltsführung gesund. In den Alpen sei das seit Langem eine Utopie. Besonders am Blaueisgletscher. […] Kann man ihn überhaupt noch so nennen – Gletscher? Definitionsgemäß muss eine Eisfläche, egal wie groß, sich unter ihrem eigenen Druck bewegen, um als Gletscher zu gelten, erklärt Hagg. "Eine unbewegte Eisfläche gilt als Toteis." […] Wäre der Gletscher tatsächlich ein Patient, er würde wohl regungslos auf der Intensivstation liegen. Er würde nahezu keine äußeren Lebenszeichen mehr zeigen. Aber die Ärzte könnten noch Hirnströme messen. "Nirgends steht, um wie viele Zentimeter im Jahr das Eis sich noch bewegen muss", sagt Hagg. "Wir haben uns daher entschieden, an unseren Gletschern festzuhalten, solange es irgendwie vertretbar ist." Wie lange wird es noch vertretbar sein? "Wir reden von wenigen Jahren." Genauer? "Die 2020er-Jahre wird das Blaueis nicht überleben." […] […] Will man jenseits der alten Bilder und der Erzählungen eine Vorstellung davon bekommen, […] was da verschwunden ist in so kurzer Zeit, kann man Richtung Südwesten fahren, einmal quer durch die Alpen. […] [A]uf dem Jungfraujoch […], 3454 Meter über dem Meeresspiegel […]. […] Drei Gletscher vereinigen sich hier oben zu einem: dem Aletschgletscher, dem größten Eisstrom der Alpen. Der Aletsch ist über 22 Kilometer lang und bedeckt eine Fläche von mehr als 80 Quadratkilometern. An seiner massivsten Stelle ist er rund 900 Meter dick. Solche Dimensionen hatte das Blaueis nie. Deshalb lässt sich am Aletsch besonders eindrücklich – sozusagen in Vergrößerung – betrachten, was einen Gletscher ausmacht, der noch kein Intensivpatient ist. Der Aletsch schiebt sich mit einer Geschwindigkeit von bis zu 200 Metern im Jahr talwärts. Dabei platzt er an seiner Oberfläche auf, und es entsteht ein Labyrinth aus sich ständig wandelnden Spalten, bis zu 30 Meter tief. Anderswo auf dem Schneefeld haben sich sogenannte Séracs aufgeschichtet, bizarr geformte Eistürme, so hoch wie Mehrfamilienhäuser. Sie können jederzeit in sich zusammenstürzen. Aus den Spalten dringt Knacken und Bersten herauf. Die Geräusche sind Begleiter einer Gletscherwanderung – eine Erinnerung daran, dass das Eis nie zur Ruhe kommt. […] Gerade haben Forscher der ETH Zürich nachgewiesen, dass der Aletsch diesen Sommer innerhalb von drei Monaten bis zu acht Meter an Dicke verloren hat. Auch er ist gefährdet. Anders als beim Blaueis allerdings steht sein Schicksal noch nicht fest. Von den 5500 Alpengletschern haben nach Ansicht der Forscher einzig die zwei Dutzend größten, mit jeweils mehr als zehn Quadratkilometern Fläche, eine Chance. Gelingt es der Menschheit, die Erderwärmung unter Kontrolle zu bekommen, könnten sie wegen ihres dickeren Eispolsters das Gletschersterben überstehen. Schon heute erwärmt sich die Luft in den Alpen doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt, das hat mit dem sogenannten Albedo-Effekt zu tun. Weiße Flächen reflektieren mehr Sonnenlicht als dunkle. Verschwinden Eis und Schnee, lässt diese Wirkung nach: Die Alpen absorbieren mehr Wärme, wodurch wiederum Eis und Schnee in größeren Mengen verschwinden, und immer so weiter. Ein klassischer Rückkopplungseffekt. […] Das Zurückweichen großer Gletscher destabilisiert Berglandschaften, weil plötzlich der Druck auf die Oberflächen verloren geht. In der Schweiz krachten 2006 etwa zwei Millionen Kubikmeter Felsmasse von der Ostwand des Eigers herab, ausgelöst vom Rückzug des Unteren Grindelwaldgletschers. In Saas-Almagell, hundert Kilometer weiter südlich, evakuierten sie 2017 das ganze Dorf, weil Eismassen vom Gletscher abzubrechen und niederzuprasseln drohten. Nichts passierte. Der Gletscher wird nun überwacht. Und dann ist da noch die Gefahr durch Wassertaschen – auf Gletschern bilden sich Schmelzwasserseen, sickern ins Eis und formen dort Hohlräume, oft auch von Fachleuten unbemerkt. Nimmt der Druck in der Wassertasche zu, kann sie wie aus dem Nichts explodieren und das Tal unterhalb des Gletschers fluten. Im Jahr 1892 starben bei einer solchen Katastrophe in einem Kurort am Fuß des Montblanc 175 Menschen. Vor wenigen Wochen wurde am Montblanc wieder vorsichtshalber ein Dorf evakuiert. In Bayern wird so etwas nicht mehr geschehen, die fünf deutschen Gletscher sind längst zu klein, um noch eine Bedrohung zu sein. […] Marius Buhl, "Toteis", in: DIE ZEIT Nr. 43 vom 15. Oktober 2020 Die städtischen Gebiete sind besonderes verwundbar gegenüber Hitzewellen und Überschwemmungen. Der Klimawandel wirkt sich direkt auf die Gesundheit der Menschen aus. In manchen Regionen ist bereits ein Anstieg der hitzebedingten Todesfälle zu verzeichnen. Bestimmte wasserbasierte Krankheiten und Krankheitsüberträger verbreiten sich zunehmend. Von den Veränderungen stark betroffen sind Branchen wie Land- und Forstwirtschaft, Energie und Tourismus, für die bestimmte Temperatur- und Niederschlagsmengen wichtig sind. Der Klimawandel vollzieht sich so rasch, dass viele Pflanzen- und Tierarten sich kaum anpassen können und verstärkt vom Aussterben bedroht sind. Auch in Deutschland hat die Hitzebelastung deutlich zugenommen. Im Zeitraum 1951 bis 2019 ist die Anzahl der heißen Tage, an denen die Tageshöchsttemperatur 30°C überschreitet, im Mittel um etwa 8 Tage gestiegen, mit der höchsten Anzahl im Jahr 2018 mit mehr als 20 heißen Tagen. Die Sommer in den Jahren 2003, 2018 und 2019 waren die wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881. Weiterhin sind in Deutschland in vielen Regionen Veränderungen der Niederschlagsregime zu beobachten, mit Zunahmen der Niederschlagsmengen im Winter, die zudem seltener in Form von Schneefall herunterkommen. Starkniederschlagsereignisse haben zugenommen, die beispielsweise in 2016 und 2017 in vielen Regionen und Städten in Deutschland zu Überschwemmungen geführt haben. Auch in heißen und trockenen Jahren gibt es Starkregen, besonders viele traten im Dürrejahr 2018 auf, das zugleich durch lange Phasen mit sehr geringen Niederschlägen und durch hohe Verdunstungsraten aufgrund hoher Temperaturen geprägt war. Längere Phasen mit geringen Niederschlägen führen in Kombination mit höherer Verdunstung aufgrund ansteigender Temperaturen vermehrt zu Trockenheit im Boden und damit zu Bodenfeuchte-Dürren. Beobachtungen des Meeresspiegels verzeichnen einen Anstieg von etwa 10 bis 20 Zentimetern an Deutschlands Nord- und Ostseeküsten innerhalb der letzten 100 Jahre; dieser generelle Trend verbindet sich im selben Zeitraum mit einem Anstieg der Sturmflutwasserstände. QuellentextModell für extreme Wetterlagen […] In der Summe der vergangenen beiden Jahre [2018 und 2019] wurde an keiner anderen der rund 2000 Messstationen des Deutschen Wetterdienstes so wenig Niederschlag registriert wie in Artern [an der Unstrut in Thüringen]. Dazu war es mehr als zwei Grad wärmer als üblich. […] Ein Ort trocknet aus, mitten in Deutschland. 2018 fielen hier nur noch 273 Millimeter Niederschlag, kaum mehr als in der mongolischen Steppenstadt Ulan-Bator. […] Dabei ist in Artern womöglich die Zukunft zu besichtigen: Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Meteorologie und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung erwarten, dass sich die Niederschlagsmenge in Deutschland mit zunehmender Erderwärmung zwar vergrößern könnte – aber wenn, dann eher durch mehr Regen im Winter. In den Sommern hingegen, mitten in den Vegetationsphasen, werde sich der Hitze- und Dürre-Trend wahrscheinlich fortsetzen. Die Sommer von Artern dürften demnach Modell für extreme Wetterlagen in weiten Teilen Zentraleuropas sein. […] 1961 […] war die Arterner Senke zwischen den Gebirgen noch Überflutungsgebiet. Die sogenannten Riethflächen, im Mittelalter trockengelegte Flussauen, standen mindestens einmal im Jahr unter Wasser. […] Zu DDR-Zeiten wurde die Unstrut begradigt, was die Fließgeschwindigkeit erhöhte. Regen verschwand in Kanälen, statt zu versickern. Der Grundwasserspiegel sank. Blieben dann auch noch die Niederschläge aus, fiel schnell alles trocken. […] Manchmal lässt […] die Trockenheit sich auch aus Zahlen lesen. Von den 6000 im Baumkataster erfassten Bäumen der Stadt haben 40 Prozent "Trockenschäden". Um all die Pflanzen mit sogenannten Wassertaschen oder Wadenwickeln zu retten, wie reichere Städte in Westdeutschland das tun, fehlt dem Ort das Geld. Auf dem Friedhof mussten die Gärtner im […] Sommer [2019] jeden zehnten Baum fällen, schattige Gräber liegen plötzlich in der prallen Sonne. In Privatgärten verdorren ganze Thujahecken, Rentnerpaare sitzen wieder auf nackten Grundstücken, als seien sie eben erst eingezogen. […]. Der Kreisbrandinspektor meldet, seit 2017 habe sich die Zahl der Gras-, Heide-, Busch-, Acker- und Strohballenbrände im Landkreis verdreifacht. Heißgelaufene Mähdrescher fangen Feuer. Aus trockengefallenen Tümpeln lässt sich kein Löschwasser mehr pumpen, Arterns Stadtbrandmeister sagt, seine Leute müssten mittlerweile über Kilometer hinweg Schläuche aneinanderschrauben bis zur Unstrut. Die jüngste Generation seiner Feuerwehrmänner kenne nur Brände, Sandsäcke habe sie nie geschleppt. […] Wer bislang größter Verlierer ist, lässt sich schwer sagen. Womöglich ist es der Wald. Im nahen Kyffhäusergebirge sind fast alle Fichten eingegangen. Die Kiefern wurden von einem Pilz aus Südeuropa befallen, der auf die Eichen übersprang, als er mit den Kiefern durch war. Zweihundertjährige Buchen starben ausgedörrt innerhalb weniger Wochen. Überall kahle Kronen, knochenbleiches Totholz, leergestorbene Flächen. Zehn Kilometer südlich von Artern ist ein Mann anzutreffen, der den Wald nicht aufgeben will. Nico Frischbier, Wissenschaftler am Forstlichen Forschungs- und Kompetenzzentrum Gotha. […] Vor acht Jahren hat Frischbier im Windschatten der Gebirge um Artern einen Versuchswald aus Libanonzedern, Orientbuchen, Hemlocktannen, Silberlinden und Türkischen Tannen angelegt, allesamt Exoten. Die Wahl des Standorts war kein Zufall. Frischbier ist sich sicher: "Die Verhältnisse hier werden 2050 auf der Hälfte unserer Landesfläche herrschen." Die Veränderung des Klimas belastet die Wälder auch deshalb, weil bei zunehmender Erwärmung die Vegetationsphase immer länger dauert. Der Mai ist gekommen? Die Haseln blühten [..] [2020] im Januar, die Wälder ergrünten im April. Das mögliche Mehr an Niederschlag aus den Wintern ist schnell verbraucht, verdunstet, verweht. Und dann kommt nichts nach. Wenn Fichten, Eichen und Buchen sterben, ist das eine Katastrophe, die über kahle Mittelgebirge hinausreicht. Anders als der Laie glaubt, ist Deutschland arm an heimischen Baumarten. Weltweit sind rund 60.000 bekannt, in Deutschland bloß etwa 70. Während der Eiszeit starben die meisten Arten unter Gletschereis aus, nur wenige schafften es später über den Hochgebirgsriegel aus Pyrenäen, Alpen und Karpaten zurück. Jetzt bricht womöglich eine Heißzeit an. Was, wenn die verbliebenen Bäume nicht dazu passen? […] Nico Frischbier […] telefonierte mit türkischen Forstverwaltern, erkundigte sich über Wälder auf dem Balkan und in Georgien, schrieb sogar Mails nach China. Ein heikles Unterfangen. Es gilt, Artenschutzabkommen zu beachten, niemand will eine invasive Art einschleppen oder Waldspaziergänger mit Stechpalmen irritieren. […] So steht er nun in einem umzäunten Versuchswald, der nicht nur geografische Verhältnisse spiegelt, sondern auch geopolitische Realitäten. Auf Feldern von 34 mal 34 Metern jeweils 17 mal 17 Bäume. Ein Schachbrett aus verschiedenen Grüntönen, auf dem Frischbier eine Strategie für den Forst der Zukunft sucht. […] Der Kandidat Orientbuche gedeiht verlässlich, allerdings recht krüppelig. Von den Türkischen Tannen hat es nur ein Viertel durch die Jahre geschafft, von den Libanonzedern ein Drittel. Die Triebe der Silberlinden aus Bulgarien stürben im Sommer regelmäßig wieder ab, sagt Frischbier. Und über das Sorgenkind Hemlocktanne fällt der Furchenflügelige Fichtenborkenkäfer her – es sind ja keine Fichten mehr da. Im Wald der Zukunft werde es nicht mehr um Holzernte gehen, sagt Frischbier. "Nur darum, die Oberfläche bedeckt zu halten." Das Land nicht der Erosion preiszugeben. So, wie er dabei klingt, wäre das schon ein Grund, sich zu freuen. Und er hat ja recht: Alles, was in Artern funktioniert, könnte auf lange Sicht dem ganzen Land helfen [...]. Martin Machowecz / Henning Sußebach, "Die Wettervorhersage", in: DIE ZEIT Nr. 33 vom 6. August 2020 Die häufiger und intensiver auftretenden Hitzewellen belasten Menschen, Tiere und Pflanzen. Sie können vor allem bei älteren und kranken Menschen schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. "Aufgrund der alternden Bevölkerung, der Urbanisierung und der Häufigkeit von Diabetes, Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen ist die europäische Bevölkerung durch Hitze besonders gefährdet", stellt der Deutschland-Bericht fest, der erstmalig im Rahmen des "Lancet Countdown on Health and Climate Change" 2019 veröffentlicht wurde. Die Veränderungen der Temperaturen und Niederschläge im Jahresverlauf haben Einfluss auf die landwirtschaftliche Produktion; extreme Hitze und Trockenheit, aber auch Dauer- und Starkregen können vermehrt zu Ernteausfällen führen. Die Wälder sind ebenfalls zunehmend durch Hitze und Trockenheit gefährdet, was ihre Anfälligkeit gegenüber Schädlingsbefall und Stürmen erhöht. In Städten zeigt der Klimawandel besonders starke negative Effekte aufgrund der hohen Dichte an Bevölkerung und Infrastruktur. Neben einer besonders ausgeprägten Hitzebelastung führt der hohe Versiegelungsgrad in Städten bei Starkniederschlägen häufiger zu Überschwemmungen und dadurch zu Beeinträchtigungen in der Wasserversorgung und -entsorgung, in der Energieversorgung und im Verkehr, was durch die enge Verzahnung der Infrastrukturen wechselseitig verstärkt werden kann. Anpassung an den Klimawandel Der Klimawandel bringt, wie oben dargelegt, weitreichende negative Folgen in allen Regionen der Erde mit sich, bedroht das Leben vieler Arten und hat Einfluss auf das Leben und die Gesundheit der Menschen. Nur durch sofortige und stark beschleunigte Maßnahmen zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen kann die globale Erwärmung auf weniger als 2°C beschränkt werden, wie es als Ziel im Pariser Abkommen von 2015 formuliert ist. Die Vermeidung von Emissionen erfordert eine Anpassung der Lebensweise des Menschen und eine Transformation aller gesellschaftlichen Bereiche. Darüber hi naus sind effektive Maßnahmen zur Förderung der Senken von Treibhausgasen notwendig. Beispiele für solche Senken, also Systeme, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen, sind Aufforstung oder Landmanagement zur vermehrten Kohlenstoffspeicherung im Boden. Doch selbst wenn es gelingt, die globale Erwärmung auf unter 2°C zu beschränken, werden Folgen des Klimawandels nicht mehr zu umgehen sein, an die sich die Menschheit anpassen muss. Deshalb sind sowohl Strategien zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen als auch Strategien zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels notwendig, um die Ziele der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung zu erreichen. Anpassung ist – nach Definition des IPCC – der Prozess der Ausrichtung auf das tatsächliche oder erwartete Klima und dessen Auswirkungen. Es gilt Risiken zu senken, Schäden zu vermindern oder zu vermeiden, wie zum Beispiel durch den Umbau von Wäldern hin zu klimabeständigeren Mischwäldern, oder vorteilhafte Möglichkeiten zu nutzen, wie zum Beispiel durch den Anbau neuer landwirtschaftlicher Kulturen. Risikobewusstsein und Resilienz Zur vorbeugenden Anpassung müssen wir die mit dem Klimawandel verbunden Risiken verstehen. Sie hängen zum einen von Ausmaß und Geschwindigkeit der Erwärmung ab und davon, wie sich die Klimaänderungen regional und lokal ausprägen. Zum anderen wird der Risikograd davon bestimmt, wie stark ein System Klimaänderungen ausgesetzt ist (Exposition), wie empfindlich es darauf reagiert (Sensitivität) und wie verwundbar es dadurch ist (Vulnerabilität). Beim Grad der Verwundbarkeit spielt die Anpassungskapazität eine wesentliche Rolle, also die Fähigkeit, potenziellen Schäden vorzubeugen oder mit entsprechenden Auswirkungen umzugehen. Resilienz ist die Fähigkeit von natürlichen und menschlichen Systemen, Klimaänderungen und extreme Ereignisse zu bewältigen und dabei derart zu reagieren beziehungsweise sich zu reorganisieren, dass die systemische Grundfunktion, Identität und Struktur erhalten bleiben und die Systeme sich gleichzeitig die Fähigkeit zur Anpassung, zum Lernen und zur Transformation bewahren können. Die Betroffenheit durch den Klimawandel und die Fähigkeit zur Anpassung von menschlichen Systemen werden auch durch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren beeinflusst. Dabei spielen zum Beispiel die Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft, Beschäftigungsstrukturen, Reichtum und dessen Verteilung eine Rolle, aber auch demografische Faktoren, Strukturen für politische Steuerung und gesellschaftliche Werte. Auch internationale Beziehungen und Handel sind von Bedeutung. Anpassungsstrategien und Verantwortlichkeiten Wirksame Strategien zur Minderung von Klimarisiken berücksichtigen diese Faktoren, haben die zeitlichen Veränderungen von Exposition und Verwundbarkeit sowie deren Verknüpfung mit sozialen und wirtschaftlichen Prozessen im Blick und verfolgen das Prinzip nachhaltiger Entwicklung. Mit entsprechenden Maßnahmen können sie so die Resilienz unter vielen möglichen zukünftigen klimatischen Bedingungen stärken und gleichzeitig dazu beitragen, Gesundheit, Existenzgrundlagen, das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen sowie die Umweltqualität zu verbessern. Anpassungsplanung und -umsetzung können durch Politik, Verwaltung, Wirtschaftsunternehmen, aber auch durch Einzelpersonen gefördert werden. Nationale Regierungen können politische und gesetzliche Rahmenbedingungen für Anpassung schaffen und finanzielle Unterstützung leisten, regionale Unterschiede ausgleichen, wirtschaftliche Vielfalt unterstützen, verwundbare Gruppen schützen sowie Informationen zur Verfügung stellen. Lokale Verwaltungen und der Privatsektor werden zunehmend als entscheidend für den Fortschritt von Anpassung erkannt, weil sie diese in Unternehmen, Gemeinden, Haushalten und der Zivilgesellschaft ausweiten, für Information sorgen und zur Finanzierung beitragen. Bei schneller fortschreitendem Klimawandel kommt die Anpassung allerdings zunehmend an ihre Grenzen. Unter Umständen sind keine Anpassungsmaßnahmen mehr möglich oder zum benötigten Zeitpunkt nicht verfügbar Die Grenzen der Anpassung entstehen aus der Wechselwirkung zwischen Klimawandel und biophysikalischen und bzw. oder sozioökonomischen Einschränkungen. Beispiele für Anpassungsstrategien und -maßnahmen Bislang werden häufig technische Anpassungsmaßnahmen umgesetzt. Hierzu gehören beispielsweise Maßnahmen zum Hochwasserschutz durch Deichbau oder die Bewässerung in der Landwirtschaft bei Trockenheit. Zunehmend werden auch naturbasierte Maßnahmen erprobt und angewendet, wie die Renaturierung von Flussauen zur Vorbeugung von Hochwasser. Weitere Beispiele sind die standortgerechte Entwicklung von Mischwäldern zur Verringerung der Anfälligkeit gegenüber Klimaänderungen oder die Entsiegelung und Begrünung von Städten zur Reduktion der Hitzebelastung. Zum Umgang mit zunehmend extremen Wetterbedingungen werden Beobachtungs- und Frühwarnsysteme eingesetzt und Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen verbessert. QuellentextBegrünung der Wüste […] "Mit genug Bäumen retten wir das Klima auf der Welt", sagt [Sakina] Mati [52, Bäuerin in Niger] […]. Baumaktivistin könnte man sie nennen. […] Wenn sie auf Konferenzen in der Elfenbeinküste spricht, wenn sie in Algerien und Burkina Faso vom Wunder in der Sahelzone erzählt, wird manchmal ein Beamer eingeschaltet, der Satellitenaufnahmen an die Wände der Kongresssäle wirft, damit die Leute nicht denken, sie hätten etwas falsch verstanden. Zuerst kommt dann immer eine Aufnahme aus den Siebzigerjahren, auf der man nicht viel sieht außer Steppe und Einöde. Dann kommt eine neuere Aufnahme, die zeigt, wie aus dem Nichts ein großes, grünes Band wurde. Auf etwa sechs Millionen Hektar wachsen plötzlich wieder Bäume in der Wüste von Niger: Gao, Wüstendattel, Nam, Schirmakazie und der Baobab, der Affenbrotbaum [...].[...] "Es ist […] ganz einfach", sagt Sakina Mati. Man steigt mit ihr ins Auto und fährt einige Kilometer zu ihrer Farm, so nennt sie die wenigen Hektar, die sie bewirtschaftet, wie viele Hektar genau es sind, kann sie nicht sagen. Wenn man das Dorf verlässt, öffnet sich eine Weite, es ist eine Landschaft mit sandigem Boden und großen, dicken Bäumen. "Das ist mein Feld", steht auf einem kleinen Schild, das Mati in den Boden gerammt hat, ein paar Meter daneben kauert eine Art Vogelscheuche, ein Stock, behängt mit ein paar Kleiderfetzen, damit die Vögel nicht kommen. Es sieht nicht wirklich nach einem Wunder aus. Sakina Mati zeigt auf ein paar grüne Zweige, die aus dem Sand nach oben wachsen. "Man muss sie gut beschützen." Vor den Kühen, die hier manchmal grasen, und den Menschen, die hier manchmal nach Brennholz suchen. Sie baut den kleinen Sprösslingen ein Nest aus Zweigen, das sie schützen soll. Wenn die Bäumchen wachsen und gedeihen, kommt Sakina Mati mit einem kleinen Messer oder einer Schere und schneidet die Triebe ab, sodass alle Kraft aus der Wurzel in den Stamm fließt, dass also kein Busch daraus wird, sondern ein Baum. 150 Bäume stehen auf ihrem Feld. "So einfach ist das", sagt Sakina Mati. Die Methode, die Mati und Tausende andere Bauern in Niger seit Jahren erfolgreich praktizieren, wurde schon als kopernikanische Wende beschrieben. Sakina Mati hat 150 Bäume großgezogen, aber noch nie einen Setzling gepflanzt. Sie hat sich einfach nur um die Triebe gekümmert, die aus einem verborgenen unterirdischen Netzwerk von Wurzeln durch die Erde kamen. Es ist eine revolutionär einfache Methode. Aber eine, die keine werbewirksamen Bilder von Setzaktionen produziert. Genau das ist das Problem: Sie berührt nicht, zumindest nicht unmittelbar. […] Tony Rinaudo, ein Australier, [kam] als junger Kerl nach Niger, ganz in die Nähe des Dorfes von Sakina Mati, mit dem Auftrag, die Leute zum christlichen Glauben zu missionieren und daneben auch noch ein paar Bäume zu pflanzen. Er grub die Setzlinge viele Jahre lang in den Wüstensand, wo sich schnell ihre Spur verlor. Eines Tages, so hat es Rinaudo einmal erzählt, er wollte eigentlich aufgeben, hatte sich schon auf die Kapitulation vorbereitet, als er eine Reifenpanne hatte, mitten in der Wüste. Da sah er plötzlich lauter grüne Sprossen aus dem Boden kommen. Das war der Anfang. Und das ist schon die ganze Geschichte: Setzlinge beschützen und beschneiden. Erst waren die Menschen skeptisch in Niger, weil da schon wieder ein Weißer kam und ihnen erzählte, was sie mit den Bäumen machen sollten und was nicht. Die Älteren erinnerten sich noch an die französischen Kolonialherren, die das Land in Departements einteilten, eine Route Nationale in die Provinz stanzten und den Bauern sagten, sie müssten ihre Bäume fällen, damit sie Landwirtschaft betreiben könnten, mit Traktoren und allem Drum und Dran. Also wurden die Bäume gefällt – und der Sand der Sahara hatte freie Bahn. Die Bäume, die noch standen, gingen in den Besitz des Staates über, waren also nicht mehr Eigentum der Bauern, was letztlich dazu führte, dass sich keiner mehr um sie kümmerte. Keiner protestierte, als sie gefällt und als Brennholz verkauft wurden. Die Bevölkerung in Niger wächst bis heute so schnell wie sonst fast nirgends auf der Welt. Die Ressourcen reichten kaum noch für alle. Das Land wurde kahl. Was blieb, war ein riesiges unterirdisches Wurzelwerk, das weiterlebte und begann, seine Triebe nach oben zu schicken. Und dann kam Rinaudo mit seinem missionarischen Eifer. Die Bäume wuchsen und veränderten das Klima, an manchen Orten war es mehr als 50 Grad heiß gewesen ohne sie, mit den Bäumen fiel die Temperatur auf etwa die Hälfte. Die Stämme brachen die Sandstürme, und die Wurzeln hoben den Grundwasserspiegel an, lieferten Nitrate, die dem Getreide beim Wachsen halfen. Bekamen die Bauern früher aus einem Hektar gerade mal 150 Kilogramm Hirse, waren es unter Bäumen nun plötzlich 500 Kilogramm. Erst begrünte Rinaudo Niger, dann auch die Nachbarländer, mittlerweile hat er seine Methode in 28 Länder exportiert, die er Farmer Managed Natural Regeneration (FMNR) nennt. Die Begrünung mit der FMNR-Methode kostet etwa 40 Dollar pro Hektar. Manche schätzen, dass die konventionelle Aufforstung mit Setzlingen etwa 8000 Dollar pro Hektar kostet und dass in manchen Regionen bis zu 95 Prozent der Setzlinge eingehen. "Man sieht die kleinen Bäume drei Mal: in der Baumschule, eingepflanzt und dann verdorrt." […] In Niger hat das Baumwunder sehr viele Hauptdarsteller, es funktioniert nur, weil in vielen Dörfern ganz viele Menschen an die Methode glauben – und an die Bäume. Es sind übrigens Menschen, die schon daran geglaubt haben, bevor Rinaudo kam. "Ich habe bereits 1983 angefangen, mich mit Bäumen zu beschäftigen", sagt Sakina Mati. Damals seien die Männer zum Arbeiten in die Nachbarländer gezogen. Im Dorf blieben die Frauen, denen der Saharawind um die Ohren blies. Sie haben sich um die wenigen Bäume und Triebe gekümmert, die es gab. […] Bernd Dörries, "Die Baumschule", in: Süddeutsche Zeitung vom 29. September 2020 QuellentextLandwirtschaft der Zukunft […] Die Durchschnittstemperatur ist in Deutschland seit 1881 um 1,5 Grad Celsius gestiegen. Das klingt wenig, aber bedeutet viel. Die Niederschlagsmuster verändern sich, manchmal gibt es mehr Regen, vor allem häufiger Starkregen, gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit für längere Hitzewellen und Dürren. Viele Pflanzen beginnen aufgrund der Wärme früher im Jahr zu keimen. Kommt dann ein Spätfrost im April: Pech für den Bauern. […] Im östlichen Brandenburg liegt Müncheberg und mitten im Ort das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF). Die Winter sind dort kälter, Niederschlag ist seltener. Die Böden sind sandig und humusarm. Vor über 90 Jahren gründete Erwin Baur hier das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung, um Nutzpflanzen zu züchten, die auch solch ungünstige Bedingungen überstehen. Damals ahnte man noch nicht, dass der Mensch einmal die Atmosphäre so weit aufheizen würde, dass er damit das gesamte Klimasystem ins Wanken bringt. Die Mitarbeiter des Leibniz-Zentrums bewirtschaften eine Reihe von Versuchsfeldern, teils zu Fuß von den Büros zu erreichen. Auf einigen Parzellen wachsen Sojabohnen, einmal bewässert, einmal unbewässert. Und natürlich der in Brandenburg allgegenwärtige Mais. Einmal in 20 Jahre andauernder Folge, einmal im Fruchtwechsel mit Getreide. Das Leibniz-Zentrum erforscht die Grundlagen einer Landwirtschaft, die dem Klimawandel widersteht, die gleichzeitig ökologisch und ökonomisch nachhaltig ist, die Ernährung und die biologische Vielfalt sicherstellt. Die Forscherinnen und Forscher arbeiten auch mit Landwirten zusammen, die auf ihren Höfen experimentieren. Frank Ewert ist Wissenschaftlicher Direktor des ZALF. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit Feldversuchen und Modellen, die Klimaänderung und Pflanzenwachstum verbinden. "Wir haben Experimente gemacht, um Hitzestress und Dürrestress besser zu verstehen, und dies dann berücksichtigt, wenn es um die Anbauplanung geht." Für die Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel gebe es aber nicht die eine Lösung. Es gibt eine Reihe von Strategien, mit denen sich Landwirte auf den Klimawandel vorbereiten können. Sie können auf Technologie und Arbeitskraft bei der Bewässerung setzen […]. Sie können das Risiko streuen, indem sie neue Einnahmequellen erschließen. Sie können Arten verstärkt nutzen, die an die Hitze angepasst sind, wie Mais und Hirse, aber auch auf Trockenresistenz gezüchtete Sorten. Sie können ihre Anbautechnik anpassen, um die Wasserhaltefähigkeit der Böden zu erhöhen, und mit einer stark erweiterten Fruchtfolge experimentieren, wie es Johann Gerdes in Brandenburg macht. Sein Beerfelder Hof liegt in sachtwelliger Landschaft. Der Boden ist sandig. Während der Kollektivierung wurden hier Hecken, Gräben und Baumreihen entfernt. Im Sommer weht der heiße Wind ungebremst durch die Landschaft. Gerdes telefoniert regelmäßig mit einem Mitarbeiter des nahen ZALF, um seine Erfahrungen gegen Expertisen zu tauschen. Wann lohnt es sich, eine Hecke zu pflanzen? Sollte er seine Kartoffeln künstlich bewässern, weil die Ernte nun zum zweiten Mal so mickrig ausfiel? Welche Pflanzen und Anbauweisen könnten auf seinen Standorten funktionieren? Gerdes versteht sich nicht nur als Landwirt, auch als Manager. Mit seinem Ansprechpartner beim Leibniz-Zentrum, Moritz Reckling, ist er inzwischen befreundet. Reckling ist dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er betreut Gruppen von Landwirten, die sich auch untereinander beraten sollen. Sie berichten ihm am Ende des Jahres, was auf dem Feld funktioniert hat und was nicht. Aus solchen Berichten, zusammen mit vorgegebenen Versuchen auf Farmen in ganz Europa und aus Feldexperimenten am ZALF, füttert Reckling Computermodelle. In diesen Modellen wachsen Agrarpflanzen virtuell. Basierend auf Daten aus realen Einzelexperimenten. "Es ist ja noch unklar, an was wir uns anpassen müssen." Im Computer spielen sie verschiedene Szenarien durch. Die Modelle arbeiten mit Tageswerten etwa von Niederschlag und Temperatur und berechnen das Wachstum der Pflanzen innerhalb eines Jahres – wann die Blätter sich bilden, wann sie blühen und Früchte bilden. "Wir können simulieren, wie sie in Jahren mit ganz unterschiedlichem Wetter wachsen würden", sagt Reckling. Momentan interessiert er sich sehr für Soja. Die Bohne, die ursprünglich aus Ostasien stammt, ist einerseits in der Lage, Stickstoff aus der Luft im Boden zu binden, andererseits ist sie gut an Hitze gewöhnt. Reckling hat sie in Experimenten künstlich bewässert. "Damit konnten wir die Erträge vervierfachen" erzählt er. […] Nicht nur der Anbau, auch das Pflügen verändert sich gerade. Neu ist das Strip-Till-Verfahren. Hierbei werden nur die später besäten Streifen des Feldes mit einem Grubber aufgerissen und nur dort Gülle oder Biogas-Substrat in den Boden gegeben. Auf Maisfeldern bleibt so ein gut 50 Zentimeter breiter Streifen des Bodens fast unberührt, samt Humus, Bodenleben und Resten der Vorfrucht. Ertragskarten verzeichnen, wo in den vergangenen Jahren Mais schlechter wuchs. Dort, wo der Boden schlechter Wasser speichert und weniger Nährstoff enthält, wird mehr Gülle und weniger Saatgut ausgegeben. […] Für Frank Ewert, den wissenschaftlichen Leiter des Zentrums für Agrarlandforschung, sind die individuellen Anpassungsstrategien der Landwirte an den Klimawandel nur die Hälfte der Geschichte. Es müsse darüber hinaus eine Agrarpolitik betrieben werden, die kleine Höfe und die regionale Verarbeitung der Produkte unterstützt, auch deren Vertrieb. Was in Deutschland fehlt, sagt Ewert, "ist eine Vision, wie die Landwirtschaft in der Zukunft aussehen soll und wie wir dahin kommen." Andreas Bäumer, "Neulandwirtschaft", in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 2. November 2019 QuellentextKlimaschutz in Heidelberg Heidelberg gilt als Vorzeigestadt beim Klimaschutz. […] Vor ein paar Monaten […] wollte [Lena Grazé] herausfinden, wie ihr ökologischer Fußabdruck aussieht. Gar nicht schlecht, stellte sich heraus, verglichen mit anderen im Land sogar ziemlich gut. Zu diesem beruhigenden Ergebnis hat Lena Grazé selbst nicht nennenswert beigetragen. Ihre Klimabilanz verdankt sie der Wohnung […]. Das Gebäude, in dem die Familie wohnt, ist ein Passivhaus. Es ist so gebaut, dass Menschen selbst bei Minusgraden im Winter in den Räumen nicht frieren. Eine Anlage filtert die Luft, sodass sie immer frisch ist und die Fenster nur selten geöffnet werden. Auf diese Weise sparen Grazés Energie – so wie auch alle anderen Bewohner in der Bahnstadt, einem Neubauviertel in Heidelberg. Es ist die größte Passivhaussiedlung der Welt, Stadtplaner kennen sie als Beispiel für gelungenen Klimaschutz. Auf Orte wie das Zuhause der Grazés kommt es an. Denn wie Häuser saniert oder gebaut werden, auf welche Weise Bürger ihre Wohnungen heizen – auch davon hängt ab, ob die Klimaziele erreicht werden. Mehr als 60 Prozent des Kohlendioxids werden weltweit in Städten ausgestoßen. […] An vielen Orten basteln Beamte an Ideen, das CO2 zu reduzieren. Städte wie Köln riefen den Klimanotstand aus. In Heidelberg kann man über solche Maßnahmen nur lächeln. Die Stadt hat sich schon vor Jahren verpflichtet, bis 2050 die COc-Emissionen um 95 Prozent zu reduzieren, den Energiebedarf will sie um die Hälfte senken. Manchen geht auch das noch nicht weit genug. Doch in Heidelberg ist schon auf der Straße zu erkennen, was in anderen Orten höchstens in guten Vorsätzen zu lesen ist: Einige Hundert Meter hinter Lena Grazés Wohnhaus verläuft ein neuer Radschnellweg. Er gehört zum städtischen Verkehrskonzept, mit Elektrobussen, Fahrradbrücken, erweiterten Bahnstrecken. Ein paar Kilometer weiter werkeln Bauarbeiter an einem riesigen Wärmespeicher. Er soll das Wasser warm halten, um Energie zu sparen, wenn Grazé und ihre Nachbarn gleichzeitig duschen wollen. Auch außerhalb der Bahnstadt, an der Universität, in Betrieben und in der Verwaltung wurde dafür gesorgt, dass Mitarbeiter weniger COc verbrauchen. Allein bei den städtischen Gebäuden konnte der Energieverbrauch um die Hälfte gesenkt werden. Warum aber klappt, was so viele fordern, ausgerechnet in Heidelberg schon jetzt so gut? Egal wen man fragt – den Bauleiter des Energiespeichers, den Planer der Bahnstadt, die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung –, sie alle erzählen von Eckart Würzner. Der ist hier Oberbürgermeister. Er war es, der die Pläne zur Bahnstadt umsetzte, die vor seinem Amtsantritt seit Jahren unangetastet in der Schublade schlummerten. Er sorgte dafür, dass die Stadt jene Unternehmen fördert, die das Klima schonen. Und er war es, der Heidelberg zusammen mit 19 anderen Kommunen vor sieben Jahren zur Modellstadt machte, beim "Masterplan 100 Prozent Klimaschutz" des Umweltministeriums. […] Wie kommt es, dass […] er die Klimapolitik vorantreibt? Eckart Würzner erzählt, er habe sich schon in seinem Geografie- und Jura-Studium für die Umwelt interessiert. Damals war das Waldsterben ein großes Thema, und er schrieb seine Doktorarbeit über die Auswirkungen von Umweltgiften. Im Rathaus übernahm er Jahre später den Posten des Umweltfachberaters. Als er schließlich ins Büro des Bürgermeisters umzog, war klar, dass die Natur auch in diesem Job sein Thema bleiben wird. Nach beinahe drei Amtsperioden hat das Folgen. […] Zum Beispiel im Jahre 2006, als das Projekt "Passivhaussiedlung in der Bahnstadt" zu scheitern drohte. Damals fehlten Investoren. Also gründete der Bürgermeister mit der Heidelberger Sparkasse, einer Städtischen Wohnungsbaugesellschaft und der Landesbank Baden-Württemberg eine kommunale Entwicklungsgesellschaft, und man kaufte die vorgesehene Fläche selbst. Die Stadt investierte 300 Millionen Euro. In nicht einmal zehn Jahren wurden hier Wohnungen für bislang 4319 Menschen gebaut und Büros für knapp 3000 Arbeitsplätze. […] Wie vielen ihrer Nachbarn war auch [Lena Grazé] der ökologische Fußabdruck ziemlich egal, als sie vor fünf Jahren den Mietvertrag unterschrieb: "Neubau, Erstbezug, das war für uns entscheidend." Und doch stellte die Familie ihren Lebensstil nach und nach um. Die meisten Wege geht Grazé heute zu Fuß. Die Kita ihrer Tochter liegt nur wenige Minuten entfernt. Um die Ecke gibt es Ärzte, Bäcker, Spielplätze. Neuerdings auch ein Passivhaus-Kino und eine ökumenische Kirchengemeinde. "Außer zur Arbeit brauche ich das Viertel kaum noch zu verlassen", sagt Grazé. Fährt sie doch einmal zum Shoppen in die Innenstadt, lässt sie den Golf inzwischen daheim. "Hier gibt es eine neue Haltestelle." Die Bahn ist komfortabler. […] Laura Cwiertnia, "Sie machen den Anfang", in: DIE ZEIT Nr. 38 vom 12. September 2019 In Europa wurden auf allen Regierungsebenen Anpassungsmaßnahmen entwickelt, die teilweise in das Küstenmanagement und die Wasserwirtschaft, in Umweltschutz und Raumplanung sowie in das Katastrophenrisikomanagement eingebunden wurden. In Deutschland hat das Bundeskabinett am 17. Dezember 2008 die Deutsche Anpassungsstrategie (DAS) an den Klimawandel beschlossen. Diese schafft einen Rahmen, der eine sektorenübergreifende Vorgehensweise des Bundes gegen die Folgen des Klimawandels in Deutschland ermöglichen soll. Darin werden für 15 Handlungsfelder und ausgewählte Regionen mögliche Klimafolgen und Handlungsoptionen skizziert. Die DAS wurde 2015 und 2020 im Rahmen von Fortschrittsberichten fortgeschrieben und die damit zusammenhängenden Aktionspläne werden alle vier Jahre aktualisiert. Ein besonderes Augenmerk liegt zum Beispiel auf dem Handlungsfeld Menschliche Gesundheit, das unter anderem durch die Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen besonders betroffen ist. Maßnahmen umfassen hier beispielsweise Hitzeaktionspläne, staatliche Regeln zum Arbeitsschutz wie die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge sowie Informationen für die Bevölkerung und die Gesundheitsberufe. Zudem sollen Informations- und Frühwarnsysteme angepasst und ausgeweitet werden. Städte sind durch die hohe Dichte der Bevölkerung und Infrastrukturen sowie die hohe Konzentration wirtschaftlicher Wertschöpfung besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen, und es bestehen vielfältige Notwendigkeiten zur Anpassung. Versiegelung, dichte Bebauung und zusätzliche Wärmeemissionen führen zu Hitzeinsel-Effekten, die sich unter fortschreitendem Klimawandel verstärkt ausprägen. Unter den Stichworten "grüne, blaue, weiße Städte" können unter anderem helle Oberflächen und Gebäudefarben, blaue und grüne Infrastrukturen wie Seen und offene Wasserelemente sowie Baumpflanzungen, Parks und Gründächer zu Verdunstungskühlung und Beschattung beitragen. Damit wird die Hitzebelastung verringert und zugleich werden dadurch Luftqualität und Lebensqualität verbessert. Zum nachhaltigen Umgang mit Niederschlagswasser und zur Vorbeugung von Überschwemmungen wird vermehrt das Prinzip "Schwammstadt" in Betracht gezogen. Es soll die Speicherung von Wasser in Phasen mit hohen Niederschlagsmengen ermöglichen und dieses in Phasen mit geringen Niederschlägen nutzbar machen, zum Beispiel zur Grünflächenbewirtschaftung. QuellentextKlimaanpassung in Offenbach […] Extremwetterereignisse insgesamt nehmen deutlich zu, davon sind Klimatologen überzeugt. Holger Robrecht berät Städte, wie sie "klimaresilient" werden können. "Klimawandel ist keine Sache, auf die man sich einmal einstellt", sagt Robrecht. "Die Stadt der Zukunft muss sich ständig an den Klimawandel anpassen." In Robrechts Verband LCLEI mit Sitz in Freiburg sind 1500 Städte, Kommunen und Regionalverbände weltweit organisiert, die nachhaltig sein und sich auf den Klimawandel einstellen wollen. […]. Es geht darum, dass sich das Denken der Stadtverwaltungen verändert, sagt Robrecht. […] Der Starkregen 2016 führte in Offenbach dazu, dass innerhalb kurzer Zeit ein Klimaanpassungskonzept erstellt wurde. Einerseits geht es um Risikobewertung, andererseits Maßnahmen zum Schutz. Die Stelle einer Klimaanpassungsmanagerin wurde 2017 geschaffen. […] Wenn jemand etwa beim Thema Hitzeschutz wissen will, wo der richtige Ansprechpartner in den Behörden sitzt, vermittelt sie den Kontakt. Das Klimaanpassungskonzept soll in der Stadt bekanntgemacht werden. Auch die Rolle des Umweltamtes hat sich verändert. "Heute beraten wir viel mehr präventiv. Wir klären auf, wir planen mit den Ingenieurbüros, um Regenwasser mehr zu nutzen, wir sind aber inzwischen auch an der Gefahrenabwehr stärker beteiligt", sagt Umweltamtsleiterin Heike Hollerbach. "Seit 2017 ist die Voraussetzung für einen Neubau bei großen Bauvorhaben und Bauleitplanung, dass er einem hundertjährigen Niederschlagsereignis standhält." Die meisten Projekte, die Hollerbach und ihre Kollegen angehen, greifen in den Planungsprozess ein. Mit großer Zufriedenheit verweist man auf die 40.000 Quadratmeter große Fläche des Goethequartiers, das derzeit im Stadtzentrum gebaut wird. Weil das Gelände vorher brach lag, konnte die Fläche viel Wasser aufnehmen. Das sollte nun auch der Neubausiedlung gelingen: Die Dächer sollen bewachsen sein. Durch die Pflanzen kann das Wasser verdunsten, gleichzeitig können Wasserspeicher mit integrierten Kapilarsäulen das Wasser auch aufnehmen. Entscheidend ist die Verdunstungsquote in der Jahresbilanz. Sie liegt im neuen Wohnviertel bei 78 Prozent. Laut der städtischen Planer erreichen solche Werte sonst nur unbebaute Grundstücke. Schwieriger wird es, wenn es um die bereits bestehenden Gebäude geht. In Offenbach hat man sich aus finanziellen Gründen gegen zusätzliches Dämmen entschieden. Im Fall von Schulen wird die Hitze immer mehr zum Problem. "In den Klassenräumen gibt es keine Klimaanlagen", sagt Düpre. Zu teuer und letztlich für das Klima kontraproduktiv. "Wir müssen also mit dem Stadtschulamt nach Lösungen suchen." Die Spielräume sind begrenzt. Entweder werden Jalousien angebracht oder Bäume gepflanzt. Sie spenden nicht nur Schatten, sondern senken die Temperatur. Bäume nehmen in den Städten eine wichtige Rolle ein. In Offenbach sind in den vergangenen Jahren 500 der 22.000 Bäume im Stadtgebiet abgestorben. Sie sind schlicht verdurstet, der Boden war bis tief unten ausgetrocknet. Weil sie umstürzen könnten, stellten sie ein Sicherheitsrisiko dar und wurden gefällt. Seit Anfang des Jahres werden neue Bäume gepflanzt, 200 Stück insgesamt. 100.000 Euro hat die Stadt dafür zurückgestellt. […] Statt Fichten, die in der Hitze schon vertrocknet sind, werden Sorten wie der Zürgelbaum oder die Blumenesche, der Amberbaum, die Ungarische Eiche oder die Silberlinde gepflanzt. Einerseits müssen sie die Hitze des Sommers aushalten, andererseits die Kälte und den hohen Niederschlag des Winters. In Städten ist häufig auch der Untergrund ein Problem: Wenn Tiefgaragen oder S-Bahntunnel im Boden sind, dürfen Bäume nicht zu tief wurzeln […]. Viel Geld der Stadt fließt inzwischen auch in die Bewässerung. Mit Hilfe neuer Fahrzeuge müssen die alten und neuen Bäume bewässert werden. Im Umweltamt muss man sich am Stadtrand auch mit Fragen der Waldbrandgefahr auseinandersetzen. Eine Analyse des Deutschen Wetterdienstes, die 2014 für Offenbach erstellt wurde, zeigt, wie stark sich das Klima in der Stadt von jenem auf dem Land unterscheidet. Im Schnitt war es laut Wetterdienst ein bis zwei Grad wärmer als im Umland, teilweise mit weiteren Ausschlägen an heißen Tagen. Vor allem aber kühlte es in der Stadt viel weniger ab als im Umland. Die sogenannten Wärmeinseln, die sich in der Offenbacher Innenstadt bildeten, waren zum Teil sechs Grad heißer als etwa im Mainvorland, einer ländlichen Vergleichsgröße. Die Tropennächte, bei denen die Temperatur nicht unter 20 Grad sinkt, sind besonders für ältere und kranke Menschen sowie Kleinkinder belastend. An jeder Ecke gibt es bei dem Thema Zielkonflikte der Stadtplanung. Einerseits müssen Städte aufgrund des erhöhten Zuzugs verdichtet werden, aufgrund geringerer Anfahrtswege könnte das Leben in der Stadt auf den ersten Blick auch klimafreundlicher sein. Andererseits braucht es mehr Platz in der Stadt für Kaltluftschneisen und Parks. Es braucht auch weniger versiegelte Flächen – die haben den Nachteil, dass sie die Erhitzung unterstützen und keinen Niederschlag aufnehmen. Perspektivisch gibt es laut einer Modellrechnung, die das Land Hessen erstellen ließ, bald auch in Offenbach weit mehr heiße Tage. Und damit auch tropische Nächte. Viele Städte haben im Sommer längst Hitzeberatungen eingeführt, mancherorts Hitze-Hotlines geschaffen. […] Wie sehr sich das Bewusstsein in den Städten bereits verändert hat, zeigen die Zahlen des Bundesumweltministeriums. Im Jahr 2015 bewarben sich 30 Kommunen um eine Förderung für Klima-Anpassung, die Zahl stieg 2018 auf 85 und schnellte [...] [2019] auf 154 hoch. […] Städte engagierten sich schon seit langem intensiv für wirksamen Klimaschutz. [Helmut] Dedy [Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags] nennt rund 16.650 Projekte in 3650 Kommunen, die von 2008 bis Ende 2019 im Rahmen der Kommunalrichtlinie der Nationalen Klimaanpassungsstrategie des Bundes gefördert worden sind […]. Timo Steppat, "Jedes Jahr eine Jahrhundertflut", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 2020 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv Kommunen besitzen aufgrund der zentralen Aufgaben der Daseinsvorsorge eine Schlüsselstellung bei der Anpassung kritischer Infrastrukturen. Hierzu zählen die öffentliche Trinkwasserversorgung, die Abwasserentsorgung, präventiver Hochwasserschutz, die Energieversorgung sowie die Bereitstellung kommunaler Verkehrsinfrastruktur. Eine wichtige Rolle für die kommunale Anpassung an den Klimawandel nehmen die kommunalen Spitzenverbände ein. So veröffentlichte im März 2019 der Deutsche Städtetag ein Positionspapier zur Klimaanpassung, in dem zentrale Forderungen, Hinweise und Anregungen formuliert werden. Die Autorin dankt ihrer Kollegin beim GERICS, Dr. Irene Fischer-Bruns, für die sprachliche Überarbeitung des Textes. Im ehemaligen Kohlekraftwerk Drax im englischen Nord-Yorkshire wird seit 2021 ausschließlich Biomasse verbrannt. Nach Angaben des Unternehmens wurde im Rahmen eines Pilotprojekts 2019 ein BECCS-Verfahren erprobt, um die anfallenden Kohlendioxidemissionen einzufangen. (© picture alliance / empics | Anna Gowthorpe) Das Klima und der Mensch (© Esther Gonstalla, Das Klimabuch, oekom verlag München 2019, S. 8/9; Quellen: DWD (2018), IPCC (2014), Rahmstorf (2013), Riedel & Janiak (2015)) Anteil der Treibhausgase an der Erwärmung (© Eigene Darstellung auf Basis von Karl-Martin Henschel/Steffen Kenzer, Handbuch Klimaschutz, oekom verlag München 2020, S. 2; www.oekom.de/buch/handbuch-klimaschutz-9783962382377) Menschengemachte Treibhausgase (© David Nelles / Christian Serrer "Kleine Gase – Große Wirkung", KlimaWandel GbR, Friedrichshafen 2019, S. 36) Verlauf der monatlichen Mittelwerte des Kohlendioxids, gemessen vom Mauna Loa Observatorium, Hawaii (© Externer Link: www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends/data.html) Temperaturanomalie – gemittelt über Deutschland (© www.dwd.de/DE/leistungen/zeitreihen/zeitreihen.html?nn=480164 (Zugriff am 17. Juni 2021)) […] Der Begriff Klima beschreibt die "Gesamtheit der Wettererscheinungen an irgendeinem Ort der Erde während einer festgelegten Zeitspanne". […] Die World Meteorological Organization (WMO) hat dabei festgelegt, dass der Mittelungszeitraum mindestens 30 Jahre umfasst […]. […] Das Wort [Klima] selbst stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet in etwa "Neigung". Gemeint ist damit, ob die Sonne in steilem oder flachem Winkel auf die Erdoberfläche trifft und diese entsprechend mehr oder weniger stark erwärmt. Denn bei einem flacheren Winkel verteilt sich die gleiche Energiemenge über eine größere Fläche. Hieraus ergeben sich übrigens auch unmittelbar die verschiedenen Klimazonen der Erde. Weil die Erdachse geneigt ist – derzeit um 23,5 Grad – ändern sich diese Auftreffwinkel zudem im Verlauf eines Jahres. So entstehen die Jahreszeiten und eine scheinbare Bahn der Sonne zwischen dem nördlichen (23,5 Grad nördlicher Breite) und dem südlichen (23,5 Grad südlicher Breite) Wendekreis. Dadurch steht die Sonne bei uns im Winter 47 Grad (2 mal 23,5 Grad) tiefer als im Sommer: Wir bekommen viel weniger Sonnenenergie pro Fläche ab – es wird kälter. […] [Es] kommt aber in Erweiterung des ursprünglichen Klimabegriffs auch noch die räumliche Dimension hinzu. Wenn man Wettererscheinungen über größere Naturräume mittelt, spricht man vom Regional- oder Mesoklima, bei Kontinenten oder gar dem ganzen Globus vom Makro- oder Erdklima beziehungsweise vom globalen Klima. […] Klima ist schlicht die Statistik des Wetters. Dennoch werden die Begriffe in der öffentlichen Debatte gerne durcheinandergebracht. Der Stolperstein ist wohl folgender: Wetter können wir mit unseren Sinnesorganen fühlen und es zu erleben löst unmittelbar Empfindungen in uns aus. Wetter ist uns emotional also sehr nah. Klima – die Statistik – können wir hingegen nicht fühlen. Deshalb ist uns das Klima emotional fern. […] Wetter ist definiert als der "aktuelle Zustand der Atmosphäre an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt". Damit spüren wir einen Vorgang, der in höchstem Maße variabel ist, denn genau das zeichnet unser Wetter aus. Mal ist es heiß, mal kalt, mal fällt Regen, mal schneit es, mal herrscht ruhiges Hochdruckwetter mit Sonnenschein, dann kommt es wieder zu Gewittern oder Stürmen. […] Sven Plöger, Zieht euch warm an, es wird heiß!, Westend Verlag GmbH Frankfurt/M. 2020, S. 78 ff. […] In Jakutien – offiziell Republik Sacha – ist es im Schnitt vier Grad wärmer als vor 50 Jahren. Dieser und letzter Sommer [2019/2020] waren besonders heiß, sogar in der jakutischen Arktis. 38 Grad, neuer Rekord, gemessen in Werchojansk. Dort wird es im Winter kälter als an jedem anderen bewohnten Ort der Erde. […]. Der Klimawandel verformt ganze Landstriche. […] Permafrost ist überall anders. In der Stadt Jakutsk ist er zum Beispiel recht trocken und somit relativ stabil. Gefährlicher ist das Wasser im Boden. In der gefrorenen Erde schlummern riesige Linsen und Zapfen aus Eis. Wenn sie schmelzen, lassen sie große Hohlräume zurück. Manchmal fallen hier sogar Kühe in Löcher hinein, ganze Dörfer rutschen weg, Schienen verbiegen sich, Mienen werden geflutet, Felder verderben. [Alexander] Fjodorow [Vizedirektor des Permafrost-Instituts in der jakutischen Hauptstadt] zeigt Fotos von Hängen, die aussehen wie zerflossene Schokolade. Wälder stürzen regelrecht in Abgründe. Im Norden ist ein riesiger Krater entstanden, einen Kilometer lang. [...] Etwa ein Viertel der jakutischen Permafrostfläche ist besonders stark mit Eis durchsetzt. […] Wenn es die Erwärmung nicht gäbe, sagt Fjodorow, wäre dieses Land "sehr stabil, sehr gut". […] Hinter Fjodorows Schreibtisch hängt eine bunte Landkarte: Jakutien, fast neunmal so groß wie Deutschland. Die verschiedenen Farben auf der Karte unterscheiden 75 Arten von Permafrost. Unten im Süden ist das Klima wärmer, dort ist der Boden nicht immer und überall gefroren. Weiter nördlich, in Zentraljakutien, liegt ständig, stabil Permafrost. Doch die Grenzen verschieben sich, das wärmere Wetter wandert immer weiter nach Norden. [...] "Wir geben uns Mühe, das nicht zu bemerken", sagt er. "Niemand will an einem schlechten Ort leben. Wir betrügen uns selbst." […] In Jakutsk ist der Permafrostboden heute ein halbes Grad wärmer als noch in den Neunzigerjahren, damals hatte er minus drei Grad. In der jakutischen Tundra waren es minus elf, jetzt minus acht, sagt Fjodorow. Dazu kommt, dass das Tauwetter immer tiefer in den Boden reicht. Je nach Landschaft sackt der Boden bis zu 18 Zentimeter im Jahr ab. Bis zu drei Meter in 20 Jahren, wenn es so weitergeht. Draußen ist es drückend heiß, gerade haben sie hier fast 30 Grad. Das kommt vor im Juli, aber im Winter gilt Jakutsk als kälteste Großstadt der Welt. Sonst ist vieles wie in jeder russischen Stadt: die Leninstatue im Zentrum, die fünfstöckigen Wohnblöcke. Aber hier steht fast alles auf Betonpfeilern, auch Hochhäuser mit 16 Etagen. Die höchsten überhaupt auf Permafrostboden. Sich den Frost bei 30 Grad vorzustellen, fällt schwer. Dabei hinterlässt er überall seine Spuren. Unter vielen Häuserkanten klemmen zusätzliche Stützen, wie unter kippelnden Möbeln. Die Platten der Plattenbauten driften auseinander, die Bürgersteige haben Löcher. Ältere Holzhäuser hängen in der Mitte durch wie Bananen. Etwa die Hälfte der Gebäude in der Stadt müsste renoviert werden, heißt es im Rathaus. "Havariezustand" nennt man hier die schlimmen Fälle, wie bei Schiffen in Seenot. Oft rutschen Stützpfeiler ab, weil der Boden nachgibt. Und Baufehler auf Permafrost rächen sich. […] Die russische Regierung will dem Klimawandel jetzt etwas entgegensetzen. Im Januar hat sie einen Plan veröffentlicht, eine Art To-do-Liste. Für jede Branche soll geprüft werden, wie sie sich auf den Klimawandel einstellen kann. Ob sie etwa Dämme bauen oder dürreresistente Samen einkaufen sollten. Aber auch das steht in dem Papier, dass das Tauwetter die Schifffahrt in der Arktis erleichtere, und dass die längeren Sommer der Landwirtschaft helfen. […] Der Klimawandel ist auch in Russland zum Thema geworden. Dabei glauben viele Russen weiter nicht, dass der Mensch Einfluss auf die Erwärmung hat. […] Wladimir Prokopiew kennt die Ursachen. Er sitzt für die Regierungspartei Einiges Russland im jakutischen Parlament […] und stellt klar: Der Permafrost taue wegen des Klimawandels, und verursacht habe den das Treibhausgas. Aber daran seien die großen Industriestaaten schuld. Ist Russland kein großer Industriestaat? "Nicht der größte", sagt er. Tatsächlich ist Russland der viertgrößte Emittent nach China, den USA und Indien. […] An der Leninstraße steht das Institut für "biologische Probleme der Permafrostzone". […] Wer hier nach dem Klimawandel fragt, hört apokalyptische Geschichten. Weil die Sommer trockener und länger werden, nehmen Waldbrände zu. […] [2019] brannte die größte Fläche seit Jahrzehnten, auch […] [2020] waren es schon mehr als eine Million Hektar allein in Jakutien. In diese Statistik sind viele Brände in abgelegeneren Gegenden noch gar nicht eingerechnet. Feuer kann dem Wald helfen, sich zu erholen. Aber der Wald schützt den Frostboden vor der Sonne. Verkohlte Flächen dagegen ziehen die Sonne an, dann weicht der Boden auf. Und wenn er dabei zu feucht wird, wachsen keine Bäume nach. Es ist ein Teufelskreis. Auch Überschwemmungen sind in Jakutien verheerender als anderswo. Über dem gefrorenen Boden taut nur eine dünne Schicht. Diese "aktive" Schicht trocknet bei Hitze besonders schnell aus. Und bei Regen nimmt sie nur wenig Wasser auf, das fließt stattdessen in Flüsse und Seen. So wechseln sich Dürre und Überflutung ab. Es sind die kleinen Völker, die am stärksten unter der Klimaveränderung leiden. Wenn das Eis auf den Seen und Flüssen nicht trägt, kann man ihre Dörfer nicht mehr erreichen und nichts dorthin liefern, weder Brennstoff noch Lebensmittel. Ohne festes Eis können die Jäger auf ihren Schneemobilen nicht nach Zobeln jagen und die Fischer zur Laichzeit nicht fischen. Fische schwimmen tiefer, Vögel ziehen nördlicher, das Wasser wird unreiner, der Wind stärker, das Wetter unvorhersehbarer. Und die Menschen werden arbeitslos. […] Silke Bigalke, "Bodenlos", in: Süddeutsche Zeitung vom 13. August 2020 Der Domino-Effekt im Klimasystem (© picture-alliance / dpa-infografik / dpa-infografik; Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences) […] Fünf Gletscher gibt es heute in Deutschland. Im Gebiet rund um die Zugspitze den Südlichen Schneeferner, den Nördlichen Schneeferner und den Höllentalferner, in den Berchtesgadener Alpen den Watzmanngletscher und das Blaueis. Zusammengenommen bedecken sie gerade noch eine Fläche, so groß wie die Münchner Theresienwiese, auf der das Oktoberfest stattfindet. […] Welcher verschwindet zuerst? Der Mann, der die bayerischen Gletscher so gründlich erforscht hat wie niemand sonst, heißt Wilfried Hagg. Sein Büro ist ein kleines Kabuff in der Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Hagg, 48, ist Professor an der Fakultät für Geoinformation, Studiengang "Kartographie und Geomedientechnik". […] Er untersucht den Blaueisgletscher wie ein Arzt seinen Patienten. Zuerst sammelte er alte Messdaten, vereinheitlichte und verglich sie. Dann begann er, selbst den Felsenkessel hinaufzusteigen. Alle paar Jahre stellt er nun sein Laser-Vermessungsgerät auf. Die Ergebnisse komplettieren die historische Zahlenreihe. 1889: 16,4 Hektar. 1949: 15,2. 1970: 12,6. 1989: 12,3. 2009: 4,7. 2018: 3,5. […] Am besten vergleiche man einen Gletscher mit einem Girokonto, sagt Wilfried Hagg. Der Schnee, der im Winter falle und liegen bleibe, sei die Einzahlung. Das Eis, das im Sommer schmelze, die Abbuchung. Wenn sich beides die Waage halte oder die Einnahmen die Ausgaben gar überstiegen, sei die Haushaltsführung gesund. In den Alpen sei das seit Langem eine Utopie. Besonders am Blaueisgletscher. […] Kann man ihn überhaupt noch so nennen – Gletscher? Definitionsgemäß muss eine Eisfläche, egal wie groß, sich unter ihrem eigenen Druck bewegen, um als Gletscher zu gelten, erklärt Hagg. "Eine unbewegte Eisfläche gilt als Toteis." […] Wäre der Gletscher tatsächlich ein Patient, er würde wohl regungslos auf der Intensivstation liegen. Er würde nahezu keine äußeren Lebenszeichen mehr zeigen. Aber die Ärzte könnten noch Hirnströme messen. "Nirgends steht, um wie viele Zentimeter im Jahr das Eis sich noch bewegen muss", sagt Hagg. "Wir haben uns daher entschieden, an unseren Gletschern festzuhalten, solange es irgendwie vertretbar ist." Wie lange wird es noch vertretbar sein? "Wir reden von wenigen Jahren." Genauer? "Die 2020er-Jahre wird das Blaueis nicht überleben." […] […] Will man jenseits der alten Bilder und der Erzählungen eine Vorstellung davon bekommen, […] was da verschwunden ist in so kurzer Zeit, kann man Richtung Südwesten fahren, einmal quer durch die Alpen. […] [A]uf dem Jungfraujoch […], 3454 Meter über dem Meeresspiegel […]. […] Drei Gletscher vereinigen sich hier oben zu einem: dem Aletschgletscher, dem größten Eisstrom der Alpen. Der Aletsch ist über 22 Kilometer lang und bedeckt eine Fläche von mehr als 80 Quadratkilometern. An seiner massivsten Stelle ist er rund 900 Meter dick. Solche Dimensionen hatte das Blaueis nie. Deshalb lässt sich am Aletsch besonders eindrücklich – sozusagen in Vergrößerung – betrachten, was einen Gletscher ausmacht, der noch kein Intensivpatient ist. Der Aletsch schiebt sich mit einer Geschwindigkeit von bis zu 200 Metern im Jahr talwärts. Dabei platzt er an seiner Oberfläche auf, und es entsteht ein Labyrinth aus sich ständig wandelnden Spalten, bis zu 30 Meter tief. Anderswo auf dem Schneefeld haben sich sogenannte Séracs aufgeschichtet, bizarr geformte Eistürme, so hoch wie Mehrfamilienhäuser. Sie können jederzeit in sich zusammenstürzen. Aus den Spalten dringt Knacken und Bersten herauf. Die Geräusche sind Begleiter einer Gletscherwanderung – eine Erinnerung daran, dass das Eis nie zur Ruhe kommt. […] Gerade haben Forscher der ETH Zürich nachgewiesen, dass der Aletsch diesen Sommer innerhalb von drei Monaten bis zu acht Meter an Dicke verloren hat. Auch er ist gefährdet. Anders als beim Blaueis allerdings steht sein Schicksal noch nicht fest. Von den 5500 Alpengletschern haben nach Ansicht der Forscher einzig die zwei Dutzend größten, mit jeweils mehr als zehn Quadratkilometern Fläche, eine Chance. Gelingt es der Menschheit, die Erderwärmung unter Kontrolle zu bekommen, könnten sie wegen ihres dickeren Eispolsters das Gletschersterben überstehen. Schon heute erwärmt sich die Luft in den Alpen doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt, das hat mit dem sogenannten Albedo-Effekt zu tun. Weiße Flächen reflektieren mehr Sonnenlicht als dunkle. Verschwinden Eis und Schnee, lässt diese Wirkung nach: Die Alpen absorbieren mehr Wärme, wodurch wiederum Eis und Schnee in größeren Mengen verschwinden, und immer so weiter. Ein klassischer Rückkopplungseffekt. […] Das Zurückweichen großer Gletscher destabilisiert Berglandschaften, weil plötzlich der Druck auf die Oberflächen verloren geht. In der Schweiz krachten 2006 etwa zwei Millionen Kubikmeter Felsmasse von der Ostwand des Eigers herab, ausgelöst vom Rückzug des Unteren Grindelwaldgletschers. In Saas-Almagell, hundert Kilometer weiter südlich, evakuierten sie 2017 das ganze Dorf, weil Eismassen vom Gletscher abzubrechen und niederzuprasseln drohten. Nichts passierte. Der Gletscher wird nun überwacht. Und dann ist da noch die Gefahr durch Wassertaschen – auf Gletschern bilden sich Schmelzwasserseen, sickern ins Eis und formen dort Hohlräume, oft auch von Fachleuten unbemerkt. Nimmt der Druck in der Wassertasche zu, kann sie wie aus dem Nichts explodieren und das Tal unterhalb des Gletschers fluten. Im Jahr 1892 starben bei einer solchen Katastrophe in einem Kurort am Fuß des Montblanc 175 Menschen. Vor wenigen Wochen wurde am Montblanc wieder vorsichtshalber ein Dorf evakuiert. In Bayern wird so etwas nicht mehr geschehen, die fünf deutschen Gletscher sind längst zu klein, um noch eine Bedrohung zu sein. […] Marius Buhl, "Toteis", in: DIE ZEIT Nr. 43 vom 15. Oktober 2020 […] In der Summe der vergangenen beiden Jahre [2018 und 2019] wurde an keiner anderen der rund 2000 Messstationen des Deutschen Wetterdienstes so wenig Niederschlag registriert wie in Artern [an der Unstrut in Thüringen]. Dazu war es mehr als zwei Grad wärmer als üblich. […] Ein Ort trocknet aus, mitten in Deutschland. 2018 fielen hier nur noch 273 Millimeter Niederschlag, kaum mehr als in der mongolischen Steppenstadt Ulan-Bator. […] Dabei ist in Artern womöglich die Zukunft zu besichtigen: Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Meteorologie und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung erwarten, dass sich die Niederschlagsmenge in Deutschland mit zunehmender Erderwärmung zwar vergrößern könnte – aber wenn, dann eher durch mehr Regen im Winter. In den Sommern hingegen, mitten in den Vegetationsphasen, werde sich der Hitze- und Dürre-Trend wahrscheinlich fortsetzen. Die Sommer von Artern dürften demnach Modell für extreme Wetterlagen in weiten Teilen Zentraleuropas sein. […] 1961 […] war die Arterner Senke zwischen den Gebirgen noch Überflutungsgebiet. Die sogenannten Riethflächen, im Mittelalter trockengelegte Flussauen, standen mindestens einmal im Jahr unter Wasser. […] Zu DDR-Zeiten wurde die Unstrut begradigt, was die Fließgeschwindigkeit erhöhte. Regen verschwand in Kanälen, statt zu versickern. Der Grundwasserspiegel sank. Blieben dann auch noch die Niederschläge aus, fiel schnell alles trocken. […] Manchmal lässt […] die Trockenheit sich auch aus Zahlen lesen. Von den 6000 im Baumkataster erfassten Bäumen der Stadt haben 40 Prozent "Trockenschäden". Um all die Pflanzen mit sogenannten Wassertaschen oder Wadenwickeln zu retten, wie reichere Städte in Westdeutschland das tun, fehlt dem Ort das Geld. Auf dem Friedhof mussten die Gärtner im […] Sommer [2019] jeden zehnten Baum fällen, schattige Gräber liegen plötzlich in der prallen Sonne. In Privatgärten verdorren ganze Thujahecken, Rentnerpaare sitzen wieder auf nackten Grundstücken, als seien sie eben erst eingezogen. […]. Der Kreisbrandinspektor meldet, seit 2017 habe sich die Zahl der Gras-, Heide-, Busch-, Acker- und Strohballenbrände im Landkreis verdreifacht. Heißgelaufene Mähdrescher fangen Feuer. Aus trockengefallenen Tümpeln lässt sich kein Löschwasser mehr pumpen, Arterns Stadtbrandmeister sagt, seine Leute müssten mittlerweile über Kilometer hinweg Schläuche aneinanderschrauben bis zur Unstrut. Die jüngste Generation seiner Feuerwehrmänner kenne nur Brände, Sandsäcke habe sie nie geschleppt. […] Wer bislang größter Verlierer ist, lässt sich schwer sagen. Womöglich ist es der Wald. Im nahen Kyffhäusergebirge sind fast alle Fichten eingegangen. Die Kiefern wurden von einem Pilz aus Südeuropa befallen, der auf die Eichen übersprang, als er mit den Kiefern durch war. Zweihundertjährige Buchen starben ausgedörrt innerhalb weniger Wochen. Überall kahle Kronen, knochenbleiches Totholz, leergestorbene Flächen. Zehn Kilometer südlich von Artern ist ein Mann anzutreffen, der den Wald nicht aufgeben will. Nico Frischbier, Wissenschaftler am Forstlichen Forschungs- und Kompetenzzentrum Gotha. […] Vor acht Jahren hat Frischbier im Windschatten der Gebirge um Artern einen Versuchswald aus Libanonzedern, Orientbuchen, Hemlocktannen, Silberlinden und Türkischen Tannen angelegt, allesamt Exoten. Die Wahl des Standorts war kein Zufall. Frischbier ist sich sicher: "Die Verhältnisse hier werden 2050 auf der Hälfte unserer Landesfläche herrschen." Die Veränderung des Klimas belastet die Wälder auch deshalb, weil bei zunehmender Erwärmung die Vegetationsphase immer länger dauert. Der Mai ist gekommen? Die Haseln blühten [..] [2020] im Januar, die Wälder ergrünten im April. Das mögliche Mehr an Niederschlag aus den Wintern ist schnell verbraucht, verdunstet, verweht. Und dann kommt nichts nach. Wenn Fichten, Eichen und Buchen sterben, ist das eine Katastrophe, die über kahle Mittelgebirge hinausreicht. Anders als der Laie glaubt, ist Deutschland arm an heimischen Baumarten. Weltweit sind rund 60.000 bekannt, in Deutschland bloß etwa 70. Während der Eiszeit starben die meisten Arten unter Gletschereis aus, nur wenige schafften es später über den Hochgebirgsriegel aus Pyrenäen, Alpen und Karpaten zurück. Jetzt bricht womöglich eine Heißzeit an. Was, wenn die verbliebenen Bäume nicht dazu passen? […] Nico Frischbier […] telefonierte mit türkischen Forstverwaltern, erkundigte sich über Wälder auf dem Balkan und in Georgien, schrieb sogar Mails nach China. Ein heikles Unterfangen. Es gilt, Artenschutzabkommen zu beachten, niemand will eine invasive Art einschleppen oder Waldspaziergänger mit Stechpalmen irritieren. […] So steht er nun in einem umzäunten Versuchswald, der nicht nur geografische Verhältnisse spiegelt, sondern auch geopolitische Realitäten. Auf Feldern von 34 mal 34 Metern jeweils 17 mal 17 Bäume. Ein Schachbrett aus verschiedenen Grüntönen, auf dem Frischbier eine Strategie für den Forst der Zukunft sucht. […] Der Kandidat Orientbuche gedeiht verlässlich, allerdings recht krüppelig. Von den Türkischen Tannen hat es nur ein Viertel durch die Jahre geschafft, von den Libanonzedern ein Drittel. Die Triebe der Silberlinden aus Bulgarien stürben im Sommer regelmäßig wieder ab, sagt Frischbier. Und über das Sorgenkind Hemlocktanne fällt der Furchenflügelige Fichtenborkenkäfer her – es sind ja keine Fichten mehr da. Im Wald der Zukunft werde es nicht mehr um Holzernte gehen, sagt Frischbier. "Nur darum, die Oberfläche bedeckt zu halten." Das Land nicht der Erosion preiszugeben. So, wie er dabei klingt, wäre das schon ein Grund, sich zu freuen. Und er hat ja recht: Alles, was in Artern funktioniert, könnte auf lange Sicht dem ganzen Land helfen [...]. Martin Machowecz / Henning Sußebach, "Die Wettervorhersage", in: DIE ZEIT Nr. 33 vom 6. August 2020 […] "Mit genug Bäumen retten wir das Klima auf der Welt", sagt [Sakina] Mati [52, Bäuerin in Niger] […]. Baumaktivistin könnte man sie nennen. […] Wenn sie auf Konferenzen in der Elfenbeinküste spricht, wenn sie in Algerien und Burkina Faso vom Wunder in der Sahelzone erzählt, wird manchmal ein Beamer eingeschaltet, der Satellitenaufnahmen an die Wände der Kongresssäle wirft, damit die Leute nicht denken, sie hätten etwas falsch verstanden. Zuerst kommt dann immer eine Aufnahme aus den Siebzigerjahren, auf der man nicht viel sieht außer Steppe und Einöde. Dann kommt eine neuere Aufnahme, die zeigt, wie aus dem Nichts ein großes, grünes Band wurde. Auf etwa sechs Millionen Hektar wachsen plötzlich wieder Bäume in der Wüste von Niger: Gao, Wüstendattel, Nam, Schirmakazie und der Baobab, der Affenbrotbaum [...].[...] "Es ist […] ganz einfach", sagt Sakina Mati. Man steigt mit ihr ins Auto und fährt einige Kilometer zu ihrer Farm, so nennt sie die wenigen Hektar, die sie bewirtschaftet, wie viele Hektar genau es sind, kann sie nicht sagen. Wenn man das Dorf verlässt, öffnet sich eine Weite, es ist eine Landschaft mit sandigem Boden und großen, dicken Bäumen. "Das ist mein Feld", steht auf einem kleinen Schild, das Mati in den Boden gerammt hat, ein paar Meter daneben kauert eine Art Vogelscheuche, ein Stock, behängt mit ein paar Kleiderfetzen, damit die Vögel nicht kommen. Es sieht nicht wirklich nach einem Wunder aus. Sakina Mati zeigt auf ein paar grüne Zweige, die aus dem Sand nach oben wachsen. "Man muss sie gut beschützen." Vor den Kühen, die hier manchmal grasen, und den Menschen, die hier manchmal nach Brennholz suchen. Sie baut den kleinen Sprösslingen ein Nest aus Zweigen, das sie schützen soll. Wenn die Bäumchen wachsen und gedeihen, kommt Sakina Mati mit einem kleinen Messer oder einer Schere und schneidet die Triebe ab, sodass alle Kraft aus der Wurzel in den Stamm fließt, dass also kein Busch daraus wird, sondern ein Baum. 150 Bäume stehen auf ihrem Feld. "So einfach ist das", sagt Sakina Mati. Die Methode, die Mati und Tausende andere Bauern in Niger seit Jahren erfolgreich praktizieren, wurde schon als kopernikanische Wende beschrieben. Sakina Mati hat 150 Bäume großgezogen, aber noch nie einen Setzling gepflanzt. Sie hat sich einfach nur um die Triebe gekümmert, die aus einem verborgenen unterirdischen Netzwerk von Wurzeln durch die Erde kamen. Es ist eine revolutionär einfache Methode. Aber eine, die keine werbewirksamen Bilder von Setzaktionen produziert. Genau das ist das Problem: Sie berührt nicht, zumindest nicht unmittelbar. […] Tony Rinaudo, ein Australier, [kam] als junger Kerl nach Niger, ganz in die Nähe des Dorfes von Sakina Mati, mit dem Auftrag, die Leute zum christlichen Glauben zu missionieren und daneben auch noch ein paar Bäume zu pflanzen. Er grub die Setzlinge viele Jahre lang in den Wüstensand, wo sich schnell ihre Spur verlor. Eines Tages, so hat es Rinaudo einmal erzählt, er wollte eigentlich aufgeben, hatte sich schon auf die Kapitulation vorbereitet, als er eine Reifenpanne hatte, mitten in der Wüste. Da sah er plötzlich lauter grüne Sprossen aus dem Boden kommen. Das war der Anfang. Und das ist schon die ganze Geschichte: Setzlinge beschützen und beschneiden. Erst waren die Menschen skeptisch in Niger, weil da schon wieder ein Weißer kam und ihnen erzählte, was sie mit den Bäumen machen sollten und was nicht. Die Älteren erinnerten sich noch an die französischen Kolonialherren, die das Land in Departements einteilten, eine Route Nationale in die Provinz stanzten und den Bauern sagten, sie müssten ihre Bäume fällen, damit sie Landwirtschaft betreiben könnten, mit Traktoren und allem Drum und Dran. Also wurden die Bäume gefällt – und der Sand der Sahara hatte freie Bahn. Die Bäume, die noch standen, gingen in den Besitz des Staates über, waren also nicht mehr Eigentum der Bauern, was letztlich dazu führte, dass sich keiner mehr um sie kümmerte. Keiner protestierte, als sie gefällt und als Brennholz verkauft wurden. Die Bevölkerung in Niger wächst bis heute so schnell wie sonst fast nirgends auf der Welt. Die Ressourcen reichten kaum noch für alle. Das Land wurde kahl. Was blieb, war ein riesiges unterirdisches Wurzelwerk, das weiterlebte und begann, seine Triebe nach oben zu schicken. Und dann kam Rinaudo mit seinem missionarischen Eifer. Die Bäume wuchsen und veränderten das Klima, an manchen Orten war es mehr als 50 Grad heiß gewesen ohne sie, mit den Bäumen fiel die Temperatur auf etwa die Hälfte. Die Stämme brachen die Sandstürme, und die Wurzeln hoben den Grundwasserspiegel an, lieferten Nitrate, die dem Getreide beim Wachsen halfen. Bekamen die Bauern früher aus einem Hektar gerade mal 150 Kilogramm Hirse, waren es unter Bäumen nun plötzlich 500 Kilogramm. Erst begrünte Rinaudo Niger, dann auch die Nachbarländer, mittlerweile hat er seine Methode in 28 Länder exportiert, die er Farmer Managed Natural Regeneration (FMNR) nennt. Die Begrünung mit der FMNR-Methode kostet etwa 40 Dollar pro Hektar. Manche schätzen, dass die konventionelle Aufforstung mit Setzlingen etwa 8000 Dollar pro Hektar kostet und dass in manchen Regionen bis zu 95 Prozent der Setzlinge eingehen. "Man sieht die kleinen Bäume drei Mal: in der Baumschule, eingepflanzt und dann verdorrt." […] In Niger hat das Baumwunder sehr viele Hauptdarsteller, es funktioniert nur, weil in vielen Dörfern ganz viele Menschen an die Methode glauben – und an die Bäume. Es sind übrigens Menschen, die schon daran geglaubt haben, bevor Rinaudo kam. "Ich habe bereits 1983 angefangen, mich mit Bäumen zu beschäftigen", sagt Sakina Mati. Damals seien die Männer zum Arbeiten in die Nachbarländer gezogen. Im Dorf blieben die Frauen, denen der Saharawind um die Ohren blies. Sie haben sich um die wenigen Bäume und Triebe gekümmert, die es gab. […] Bernd Dörries, "Die Baumschule", in: Süddeutsche Zeitung vom 29. September 2020 […] Die Durchschnittstemperatur ist in Deutschland seit 1881 um 1,5 Grad Celsius gestiegen. Das klingt wenig, aber bedeutet viel. Die Niederschlagsmuster verändern sich, manchmal gibt es mehr Regen, vor allem häufiger Starkregen, gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit für längere Hitzewellen und Dürren. Viele Pflanzen beginnen aufgrund der Wärme früher im Jahr zu keimen. Kommt dann ein Spätfrost im April: Pech für den Bauern. […] Im östlichen Brandenburg liegt Müncheberg und mitten im Ort das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF). Die Winter sind dort kälter, Niederschlag ist seltener. Die Böden sind sandig und humusarm. Vor über 90 Jahren gründete Erwin Baur hier das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung, um Nutzpflanzen zu züchten, die auch solch ungünstige Bedingungen überstehen. Damals ahnte man noch nicht, dass der Mensch einmal die Atmosphäre so weit aufheizen würde, dass er damit das gesamte Klimasystem ins Wanken bringt. Die Mitarbeiter des Leibniz-Zentrums bewirtschaften eine Reihe von Versuchsfeldern, teils zu Fuß von den Büros zu erreichen. Auf einigen Parzellen wachsen Sojabohnen, einmal bewässert, einmal unbewässert. Und natürlich der in Brandenburg allgegenwärtige Mais. Einmal in 20 Jahre andauernder Folge, einmal im Fruchtwechsel mit Getreide. Das Leibniz-Zentrum erforscht die Grundlagen einer Landwirtschaft, die dem Klimawandel widersteht, die gleichzeitig ökologisch und ökonomisch nachhaltig ist, die Ernährung und die biologische Vielfalt sicherstellt. Die Forscherinnen und Forscher arbeiten auch mit Landwirten zusammen, die auf ihren Höfen experimentieren. Frank Ewert ist Wissenschaftlicher Direktor des ZALF. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit Feldversuchen und Modellen, die Klimaänderung und Pflanzenwachstum verbinden. "Wir haben Experimente gemacht, um Hitzestress und Dürrestress besser zu verstehen, und dies dann berücksichtigt, wenn es um die Anbauplanung geht." Für die Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel gebe es aber nicht die eine Lösung. Es gibt eine Reihe von Strategien, mit denen sich Landwirte auf den Klimawandel vorbereiten können. Sie können auf Technologie und Arbeitskraft bei der Bewässerung setzen […]. Sie können das Risiko streuen, indem sie neue Einnahmequellen erschließen. Sie können Arten verstärkt nutzen, die an die Hitze angepasst sind, wie Mais und Hirse, aber auch auf Trockenresistenz gezüchtete Sorten. Sie können ihre Anbautechnik anpassen, um die Wasserhaltefähigkeit der Böden zu erhöhen, und mit einer stark erweiterten Fruchtfolge experimentieren, wie es Johann Gerdes in Brandenburg macht. Sein Beerfelder Hof liegt in sachtwelliger Landschaft. Der Boden ist sandig. Während der Kollektivierung wurden hier Hecken, Gräben und Baumreihen entfernt. Im Sommer weht der heiße Wind ungebremst durch die Landschaft. Gerdes telefoniert regelmäßig mit einem Mitarbeiter des nahen ZALF, um seine Erfahrungen gegen Expertisen zu tauschen. Wann lohnt es sich, eine Hecke zu pflanzen? Sollte er seine Kartoffeln künstlich bewässern, weil die Ernte nun zum zweiten Mal so mickrig ausfiel? Welche Pflanzen und Anbauweisen könnten auf seinen Standorten funktionieren? Gerdes versteht sich nicht nur als Landwirt, auch als Manager. Mit seinem Ansprechpartner beim Leibniz-Zentrum, Moritz Reckling, ist er inzwischen befreundet. Reckling ist dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er betreut Gruppen von Landwirten, die sich auch untereinander beraten sollen. Sie berichten ihm am Ende des Jahres, was auf dem Feld funktioniert hat und was nicht. Aus solchen Berichten, zusammen mit vorgegebenen Versuchen auf Farmen in ganz Europa und aus Feldexperimenten am ZALF, füttert Reckling Computermodelle. In diesen Modellen wachsen Agrarpflanzen virtuell. Basierend auf Daten aus realen Einzelexperimenten. "Es ist ja noch unklar, an was wir uns anpassen müssen." Im Computer spielen sie verschiedene Szenarien durch. Die Modelle arbeiten mit Tageswerten etwa von Niederschlag und Temperatur und berechnen das Wachstum der Pflanzen innerhalb eines Jahres – wann die Blätter sich bilden, wann sie blühen und Früchte bilden. "Wir können simulieren, wie sie in Jahren mit ganz unterschiedlichem Wetter wachsen würden", sagt Reckling. Momentan interessiert er sich sehr für Soja. Die Bohne, die ursprünglich aus Ostasien stammt, ist einerseits in der Lage, Stickstoff aus der Luft im Boden zu binden, andererseits ist sie gut an Hitze gewöhnt. Reckling hat sie in Experimenten künstlich bewässert. "Damit konnten wir die Erträge vervierfachen" erzählt er. […] Nicht nur der Anbau, auch das Pflügen verändert sich gerade. Neu ist das Strip-Till-Verfahren. Hierbei werden nur die später besäten Streifen des Feldes mit einem Grubber aufgerissen und nur dort Gülle oder Biogas-Substrat in den Boden gegeben. Auf Maisfeldern bleibt so ein gut 50 Zentimeter breiter Streifen des Bodens fast unberührt, samt Humus, Bodenleben und Resten der Vorfrucht. Ertragskarten verzeichnen, wo in den vergangenen Jahren Mais schlechter wuchs. Dort, wo der Boden schlechter Wasser speichert und weniger Nährstoff enthält, wird mehr Gülle und weniger Saatgut ausgegeben. […] Für Frank Ewert, den wissenschaftlichen Leiter des Zentrums für Agrarlandforschung, sind die individuellen Anpassungsstrategien der Landwirte an den Klimawandel nur die Hälfte der Geschichte. Es müsse darüber hinaus eine Agrarpolitik betrieben werden, die kleine Höfe und die regionale Verarbeitung der Produkte unterstützt, auch deren Vertrieb. Was in Deutschland fehlt, sagt Ewert, "ist eine Vision, wie die Landwirtschaft in der Zukunft aussehen soll und wie wir dahin kommen." Andreas Bäumer, "Neulandwirtschaft", in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 2. November 2019 Heidelberg gilt als Vorzeigestadt beim Klimaschutz. […] Vor ein paar Monaten […] wollte [Lena Grazé] herausfinden, wie ihr ökologischer Fußabdruck aussieht. Gar nicht schlecht, stellte sich heraus, verglichen mit anderen im Land sogar ziemlich gut. Zu diesem beruhigenden Ergebnis hat Lena Grazé selbst nicht nennenswert beigetragen. Ihre Klimabilanz verdankt sie der Wohnung […]. Das Gebäude, in dem die Familie wohnt, ist ein Passivhaus. Es ist so gebaut, dass Menschen selbst bei Minusgraden im Winter in den Räumen nicht frieren. Eine Anlage filtert die Luft, sodass sie immer frisch ist und die Fenster nur selten geöffnet werden. Auf diese Weise sparen Grazés Energie – so wie auch alle anderen Bewohner in der Bahnstadt, einem Neubauviertel in Heidelberg. Es ist die größte Passivhaussiedlung der Welt, Stadtplaner kennen sie als Beispiel für gelungenen Klimaschutz. Auf Orte wie das Zuhause der Grazés kommt es an. Denn wie Häuser saniert oder gebaut werden, auf welche Weise Bürger ihre Wohnungen heizen – auch davon hängt ab, ob die Klimaziele erreicht werden. Mehr als 60 Prozent des Kohlendioxids werden weltweit in Städten ausgestoßen. […] An vielen Orten basteln Beamte an Ideen, das CO2 zu reduzieren. Städte wie Köln riefen den Klimanotstand aus. In Heidelberg kann man über solche Maßnahmen nur lächeln. Die Stadt hat sich schon vor Jahren verpflichtet, bis 2050 die COc-Emissionen um 95 Prozent zu reduzieren, den Energiebedarf will sie um die Hälfte senken. Manchen geht auch das noch nicht weit genug. Doch in Heidelberg ist schon auf der Straße zu erkennen, was in anderen Orten höchstens in guten Vorsätzen zu lesen ist: Einige Hundert Meter hinter Lena Grazés Wohnhaus verläuft ein neuer Radschnellweg. Er gehört zum städtischen Verkehrskonzept, mit Elektrobussen, Fahrradbrücken, erweiterten Bahnstrecken. Ein paar Kilometer weiter werkeln Bauarbeiter an einem riesigen Wärmespeicher. Er soll das Wasser warm halten, um Energie zu sparen, wenn Grazé und ihre Nachbarn gleichzeitig duschen wollen. Auch außerhalb der Bahnstadt, an der Universität, in Betrieben und in der Verwaltung wurde dafür gesorgt, dass Mitarbeiter weniger COc verbrauchen. Allein bei den städtischen Gebäuden konnte der Energieverbrauch um die Hälfte gesenkt werden. Warum aber klappt, was so viele fordern, ausgerechnet in Heidelberg schon jetzt so gut? Egal wen man fragt – den Bauleiter des Energiespeichers, den Planer der Bahnstadt, die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung –, sie alle erzählen von Eckart Würzner. Der ist hier Oberbürgermeister. Er war es, der die Pläne zur Bahnstadt umsetzte, die vor seinem Amtsantritt seit Jahren unangetastet in der Schublade schlummerten. Er sorgte dafür, dass die Stadt jene Unternehmen fördert, die das Klima schonen. Und er war es, der Heidelberg zusammen mit 19 anderen Kommunen vor sieben Jahren zur Modellstadt machte, beim "Masterplan 100 Prozent Klimaschutz" des Umweltministeriums. […] Wie kommt es, dass […] er die Klimapolitik vorantreibt? Eckart Würzner erzählt, er habe sich schon in seinem Geografie- und Jura-Studium für die Umwelt interessiert. Damals war das Waldsterben ein großes Thema, und er schrieb seine Doktorarbeit über die Auswirkungen von Umweltgiften. Im Rathaus übernahm er Jahre später den Posten des Umweltfachberaters. Als er schließlich ins Büro des Bürgermeisters umzog, war klar, dass die Natur auch in diesem Job sein Thema bleiben wird. Nach beinahe drei Amtsperioden hat das Folgen. […] Zum Beispiel im Jahre 2006, als das Projekt "Passivhaussiedlung in der Bahnstadt" zu scheitern drohte. Damals fehlten Investoren. Also gründete der Bürgermeister mit der Heidelberger Sparkasse, einer Städtischen Wohnungsbaugesellschaft und der Landesbank Baden-Württemberg eine kommunale Entwicklungsgesellschaft, und man kaufte die vorgesehene Fläche selbst. Die Stadt investierte 300 Millionen Euro. In nicht einmal zehn Jahren wurden hier Wohnungen für bislang 4319 Menschen gebaut und Büros für knapp 3000 Arbeitsplätze. […] Wie vielen ihrer Nachbarn war auch [Lena Grazé] der ökologische Fußabdruck ziemlich egal, als sie vor fünf Jahren den Mietvertrag unterschrieb: "Neubau, Erstbezug, das war für uns entscheidend." Und doch stellte die Familie ihren Lebensstil nach und nach um. Die meisten Wege geht Grazé heute zu Fuß. Die Kita ihrer Tochter liegt nur wenige Minuten entfernt. Um die Ecke gibt es Ärzte, Bäcker, Spielplätze. Neuerdings auch ein Passivhaus-Kino und eine ökumenische Kirchengemeinde. "Außer zur Arbeit brauche ich das Viertel kaum noch zu verlassen", sagt Grazé. Fährt sie doch einmal zum Shoppen in die Innenstadt, lässt sie den Golf inzwischen daheim. "Hier gibt es eine neue Haltestelle." Die Bahn ist komfortabler. […] Laura Cwiertnia, "Sie machen den Anfang", in: DIE ZEIT Nr. 38 vom 12. September 2019 […] Extremwetterereignisse insgesamt nehmen deutlich zu, davon sind Klimatologen überzeugt. Holger Robrecht berät Städte, wie sie "klimaresilient" werden können. "Klimawandel ist keine Sache, auf die man sich einmal einstellt", sagt Robrecht. "Die Stadt der Zukunft muss sich ständig an den Klimawandel anpassen." In Robrechts Verband LCLEI mit Sitz in Freiburg sind 1500 Städte, Kommunen und Regionalverbände weltweit organisiert, die nachhaltig sein und sich auf den Klimawandel einstellen wollen. […]. Es geht darum, dass sich das Denken der Stadtverwaltungen verändert, sagt Robrecht. […] Der Starkregen 2016 führte in Offenbach dazu, dass innerhalb kurzer Zeit ein Klimaanpassungskonzept erstellt wurde. Einerseits geht es um Risikobewertung, andererseits Maßnahmen zum Schutz. Die Stelle einer Klimaanpassungsmanagerin wurde 2017 geschaffen. […] Wenn jemand etwa beim Thema Hitzeschutz wissen will, wo der richtige Ansprechpartner in den Behörden sitzt, vermittelt sie den Kontakt. Das Klimaanpassungskonzept soll in der Stadt bekanntgemacht werden. Auch die Rolle des Umweltamtes hat sich verändert. "Heute beraten wir viel mehr präventiv. Wir klären auf, wir planen mit den Ingenieurbüros, um Regenwasser mehr zu nutzen, wir sind aber inzwischen auch an der Gefahrenabwehr stärker beteiligt", sagt Umweltamtsleiterin Heike Hollerbach. "Seit 2017 ist die Voraussetzung für einen Neubau bei großen Bauvorhaben und Bauleitplanung, dass er einem hundertjährigen Niederschlagsereignis standhält." Die meisten Projekte, die Hollerbach und ihre Kollegen angehen, greifen in den Planungsprozess ein. Mit großer Zufriedenheit verweist man auf die 40.000 Quadratmeter große Fläche des Goethequartiers, das derzeit im Stadtzentrum gebaut wird. Weil das Gelände vorher brach lag, konnte die Fläche viel Wasser aufnehmen. Das sollte nun auch der Neubausiedlung gelingen: Die Dächer sollen bewachsen sein. Durch die Pflanzen kann das Wasser verdunsten, gleichzeitig können Wasserspeicher mit integrierten Kapilarsäulen das Wasser auch aufnehmen. Entscheidend ist die Verdunstungsquote in der Jahresbilanz. Sie liegt im neuen Wohnviertel bei 78 Prozent. Laut der städtischen Planer erreichen solche Werte sonst nur unbebaute Grundstücke. Schwieriger wird es, wenn es um die bereits bestehenden Gebäude geht. In Offenbach hat man sich aus finanziellen Gründen gegen zusätzliches Dämmen entschieden. Im Fall von Schulen wird die Hitze immer mehr zum Problem. "In den Klassenräumen gibt es keine Klimaanlagen", sagt Düpre. Zu teuer und letztlich für das Klima kontraproduktiv. "Wir müssen also mit dem Stadtschulamt nach Lösungen suchen." Die Spielräume sind begrenzt. Entweder werden Jalousien angebracht oder Bäume gepflanzt. Sie spenden nicht nur Schatten, sondern senken die Temperatur. Bäume nehmen in den Städten eine wichtige Rolle ein. In Offenbach sind in den vergangenen Jahren 500 der 22.000 Bäume im Stadtgebiet abgestorben. Sie sind schlicht verdurstet, der Boden war bis tief unten ausgetrocknet. Weil sie umstürzen könnten, stellten sie ein Sicherheitsrisiko dar und wurden gefällt. Seit Anfang des Jahres werden neue Bäume gepflanzt, 200 Stück insgesamt. 100.000 Euro hat die Stadt dafür zurückgestellt. […] Statt Fichten, die in der Hitze schon vertrocknet sind, werden Sorten wie der Zürgelbaum oder die Blumenesche, der Amberbaum, die Ungarische Eiche oder die Silberlinde gepflanzt. Einerseits müssen sie die Hitze des Sommers aushalten, andererseits die Kälte und den hohen Niederschlag des Winters. In Städten ist häufig auch der Untergrund ein Problem: Wenn Tiefgaragen oder S-Bahntunnel im Boden sind, dürfen Bäume nicht zu tief wurzeln […]. Viel Geld der Stadt fließt inzwischen auch in die Bewässerung. Mit Hilfe neuer Fahrzeuge müssen die alten und neuen Bäume bewässert werden. Im Umweltamt muss man sich am Stadtrand auch mit Fragen der Waldbrandgefahr auseinandersetzen. Eine Analyse des Deutschen Wetterdienstes, die 2014 für Offenbach erstellt wurde, zeigt, wie stark sich das Klima in der Stadt von jenem auf dem Land unterscheidet. Im Schnitt war es laut Wetterdienst ein bis zwei Grad wärmer als im Umland, teilweise mit weiteren Ausschlägen an heißen Tagen. Vor allem aber kühlte es in der Stadt viel weniger ab als im Umland. Die sogenannten Wärmeinseln, die sich in der Offenbacher Innenstadt bildeten, waren zum Teil sechs Grad heißer als etwa im Mainvorland, einer ländlichen Vergleichsgröße. Die Tropennächte, bei denen die Temperatur nicht unter 20 Grad sinkt, sind besonders für ältere und kranke Menschen sowie Kleinkinder belastend. An jeder Ecke gibt es bei dem Thema Zielkonflikte der Stadtplanung. Einerseits müssen Städte aufgrund des erhöhten Zuzugs verdichtet werden, aufgrund geringerer Anfahrtswege könnte das Leben in der Stadt auf den ersten Blick auch klimafreundlicher sein. Andererseits braucht es mehr Platz in der Stadt für Kaltluftschneisen und Parks. Es braucht auch weniger versiegelte Flächen – die haben den Nachteil, dass sie die Erhitzung unterstützen und keinen Niederschlag aufnehmen. Perspektivisch gibt es laut einer Modellrechnung, die das Land Hessen erstellen ließ, bald auch in Offenbach weit mehr heiße Tage. Und damit auch tropische Nächte. Viele Städte haben im Sommer längst Hitzeberatungen eingeführt, mancherorts Hitze-Hotlines geschaffen. […] Wie sehr sich das Bewusstsein in den Städten bereits verändert hat, zeigen die Zahlen des Bundesumweltministeriums. Im Jahr 2015 bewarben sich 30 Kommunen um eine Förderung für Klima-Anpassung, die Zahl stieg 2018 auf 85 und schnellte [...] [2019] auf 154 hoch. […] Städte engagierten sich schon seit langem intensiv für wirksamen Klimaschutz. [Helmut] Dedy [Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags] nennt rund 16.650 Projekte in 3650 Kommunen, die von 2008 bis Ende 2019 im Rahmen der Kommunalrichtlinie der Nationalen Klimaanpassungsstrategie des Bundes gefördert worden sind […]. Timo Steppat, "Jedes Jahr eine Jahrhundertflut", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 2020 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-05T00:00:00
2021-07-08T00:00:00
2022-01-05T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/klima-347/336195/ursachen-und-folgen-des-klimawandels/
Die verstärkte Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre verursacht eine zunehmende globale Erwärmung mit Folgen für das Leben auf der Erde. Die Wissenschaft erarbeitet Klimamodelle möglicher künftiger Entwicklungen und entwirft Strategien,
[ "Klima", "Klimawandel", "Wetter", "Erde" ]
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Im Praxistest: Filmkanon "Panzerkreuzer Potemkin" | bpb.de
"Der Geist des Aufruhrs schwebte über dem russischen Lande. Irgend ein gewaltiger und geheimnisvoller Prozess vollzog sich in zahllosen Herzen: Es lösten sich die Bande der Furcht, die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, ging in der Masse und die Masse in dem großen Elan auf." Leo Trotzki (1909) Panzerkreuzer Potemkin ist ein Film von Sergej Eisenstein, der kurz nach der Gründung der Sowjetunion als staatliches Auftragswerk entstand. Am Beispiel eines historischen Matrosenaufstandes gegen das russische Zarenreich in der Stadt Odessa im Jahr 1905 verdeutlicht der zwanzig Jahre später in Moskau uraufgeführte Stummfilm die aggressive Dynamik revolutionärer Bewegungen. Darüber hinaus ist er Meilenstein auf dem Gebiet der filmischen Montage mit einer Szene, die zu den wohl berühmtesten und meistzitierten Szenen des Kinos überhaupt zählt. Aufbau des Materials Das Material bietet neben Hintergrundinformationen für die Lehrkraft (die jedoch ebenfalls in Teilen für den Unterricht genutzt werden können), ebenfalls didaktisiertes Unterrichtsmaterial. Als Hintergrundinformationen werden die Filmgeschichte, der Inhalt, die Figuren, die angesprochenen Themen (beispielsweise das Russische Zarenreich, die Russische Revolution, Wahrheit und Fiktion, der Einzelne und das Kollektiv) die filmischen Mittel (Kamera und Choreografie, Licht, Montage, Musik und Symbole), eine exemplarische Sequenzanalyse und ein Sequenzprotokoll angeboten. Darüber hinaus gibt es Zusatzmaterial und Diskussionsfragen in jedem Kapitel, welche sich auch hervorragend im Unterricht verwenden lassen. Der Film ist ab 12 Jahre, aber wird für ab 14 Jahre empfohlen. Er eignet sich für den Einsatz ab Klasse 9 und ist dementsprechend sowohl in der Mittel-, als auch in der Oberstufe einsetzbar. Bezugsfächer sind neben Politik und Geschichte auch Deutsch und Musik. Die Anregungen für den Unterricht beziehen sich zum einen auf Anknüpfungspunkte für die Fächer mit entsprechenden Arbeits- und Sozialformen. Beispielsweise werden unter anderem für Musik die Themen Politische Lieder und Filmmusik, für Deutsch die Personencharakterisierung und das 5-Akt-Schema des klassischen Dramas und für Politik und Geschichte die Russische Revolution von 1905 und der Propagandafilm vorgeschlagen. Zum anderen werden zu verschiedenen Themen Arbeitsaufgaben vorgeschlagen, die sich direkt im Unterricht einsetzen lassen. Anregungen für den Unterricht Wie obig dargestellt, lässt sich der Film vielseitig in den verschiedenen Fächern einsetzen. Für Politik und Geschichte wird beispielsweise eine Gruppenarbeit zum Thema Macht und Interesse/Handlungsspielräume und Zwangslagen vorgeschlagen. Hier sollen extreme Unter- und Aufsichten als Mittel der Darstellung von Macht und Ohnmacht in "Panzerkreuzer Potemkin", aber auch anhand von Fotos aus der Tagespresse, untersucht werden. Es kann demnach eine sinnvolle Anknüpfung ans heute stattfinden. Dieser Aspekt lässt sich im Geschichtsunterricht allerdings auch in einen Längsschnitt einbauen, bei dem die Schülerinnen und Schüler, zum Beispiel arbeitsteilig in Gruppen, ein Storyboard mit unterschiedlichen Kameraperspektiven zu verschiedenen historischen Ereignissen zum Thema skizzieren können. So wird auch die oft gewünschte Produktorientierung gewährleistet, die jedoch Zeit in Anspruch nimmt. In Bezug auf das Thema Propaganda und Propagandafilm können nach dem Zusammentragen der Merkmale von Propagandafilmen und Propaganda und der Nachweisung im vorliegenden Film, Bezüge zu heute und der Frage nach der Rolle der Medien und insbesondere von sozialen Netzwerken bei politischen Bewegungen heute nachgegangen werden. Hier könnten die Schülerinnen und Schüler verschiedene Revolutionsbewegungen der jüngsten Geschichte untersuchen, beispielsweise ein Plakat oder einen Kurzvortrag vorbereiten, und sich gegenseitig präsentieren. Für den Deutschunterricht wird der Aspekt der Filmkritik vorgeschlagen, da "Panzerkreuzer Potemkin" mehrfach als "bester Film aller Zeiten" bezeichnet wurde. Dies können die Schülerinnen und Schüler mithilfe von Kriterien beurteilen und eine eigene Filmkritik formulieren oder den Film mit ihren eigenen Lieblingsfilmen vergleichen. Sie könnten auch eine Filmkritik für einen Film ihrer Wahl verfassen und diese können als Zeitung oder ähnliches gesammelt werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Filmklassiker oft vielfältig im Unterricht einsetzen lassen und diverse Anknüpfungspunkte zur heutigen Situation bieten können. Zugriff Interner Link: Filmkanon-Filmheft: Panzerkreuzer Potemkin
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2017-11-03T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/rezensionen/258929/im-praxistest-filmkanon-panzerkreuzer-potemkin/
Panzerkreuzer Potemkin ist ein Film von Sergej Eisenstein, der kurz nach der Gründung der Sowjetunion als staatliches Auftragswerk entstand. Am Beispiel eines historischen Matrosenaufstandes gegen das russische Zarenreich in der Stadt Odessa im Jahr
[ "Rezension" ]
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Literaturhinweise und Internetadressen | Geschichte der DDR | bpb.de
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(Hg.): Reihe "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ): 50 Jahre Mauerbau (Nr. 31-34/2011); DDR 1990 (Nr. 11/2010); 1989 (Nr. 21-22/2009); Leseland DDR (Nr. 11/2009); Gemeinsame Nachkriegsgeschichte (Nr. 03/2007); Bertolt Brecht (Nr. 23-24/2007) (Als PDF verfügbar unter www.bpb.de/apuz.de) Dies. (Hg.): Reihe "Themenblätter für den Unterricht": Herbst '89 in der DDR (Nr. 79); 17. Juni 1953 – Aufstand in der DDR (Nr. 80), Bonn 2009; Meilensteine der Deutschen Einheit (Nr. 83); Zusammengewachsen? (Nr. 85), Bonn 2010 bpb / Rundfunk Berlin-Brandenburg: Auf den Spuren einer Diktatur, DVD, Bonn 2005 Dalos, György: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa (bpb-Schriftenreihe Bd. 769), München 2009, 272 S. Der Fischer Weltalmanach, Chronik Deutschland 1949-2009 (bpb-Schriftenreihe Bd. 747), Frankfurt am Main 2009, 448 S. Dieckmann, Friedrich: Deutsche Daten oder der lange Weg zum Frieden (bpb-Schriftenreihe Bd. 1032), Göttingen 2009, 188 S. 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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-19T00:00:00
2011-12-21T00:00:00
2022-01-19T00:00:00
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Psychofolgen bis heute: "Zersetzungs"-Opfer der DDR-Geheimpolizei | Stasi | bpb.de
Mit dem Prozess der deutschen Wiedervereinigung wurden die Ausmaße politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR deutlich. Die Angaben über die Anzahl der Menschen, die zwischen 1945 und 1989 in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR seelischer und körperlicher Misshandlung in Zusammenhang mit politischer Verfolgung ausgesetzt waren, reichen von "170.000 bis 280.000 Menschen" (Pfüller et al., 2008) bis hin zu "über 300.000" (vgl. Frommer, 2002b; Freyberger et al., 2003). Es können vier verschiedene Verfolgungsphasen beschrieben werden: Die erste Phase erstreckte sich von 1945 bis 1949. Am Beginn der Verfolgung stehen die von der Sowjetunion betriebenen Speziallager und Gefängnisse der sowjetisch besetzten Zone von 1945 bis 1950 (vgl. z.B. Gneist & Heydemann, 2002). Von den ca. 127.000 Häftlingen starb etwa ein Drittel in Haft, mehr als 700 wurden hingerichtet (vgl. Müller, 1998). Die zweite Phase umfasste den Zeitraum von 1949 bis 1972. Gerade die Zeitspanne von 1949 bis 1953 war dabei durch Einschüchterung und Inhaftierung Andersdenkender, lange Haftstrafen und extreme Haftbedingungen gekennzeichnet: körperliche Übergriffe, tage- und nächtelange Verhöre, Isolationshaft, Steh- und Wasserkarzer sowie Mangel- bzw. Unterernährung. Nicht selten wurden in den Gefangenen Todesängste geweckt und mit Todesandrohung gearbeitet, um Geständnisse zu erpressen. Danach kam es durch die zunehmende Einbindung in internationale Abkommen zu einer schrittweisen Verbesserung. Nach dem Mauerbau galten als Verfolgungsgründe versuchte Republikflucht, angebliche Spionagetätigkeit, Herabwürdigung des Staates oder Aufbau und Unterstützung staatsfeindlicher Organisationen. In der dritten Phase von 1972 bis 1989 wurden körperliche Übergriffe seltener, es wurde die subtilere Methodik der psychologischen Folter eingesetzt, um ein Geständnis über staatsfeindliche Machenschaften zu erzwingen oder Informationen über andere Verdächtige zu gewinnen. Gewaltandrohung und physische Quälerei gingen zurück. Bemüht um internationales Ansehen und um den Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen auszuräumen, ging die DDR stattdessen immer mehr zu "unsichtbaren" Druckmitteln über. Dazu wurde mit dem Fach "Operativen Psychologie" (Behnke & Fuchs, 1995; Freyberger et al., 2003) an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam-Golm ein eigener Lehrstuhl gegründet. Hier wurden auch Doktorarbeiten verfasst, die sich mit Maßnahmen zur Zersetzung von Staatsfeinden beschäftigten. Als vierte Phase fasst Maercker (1995) die Zeit nach der Friedlichen Revolution von 1989 bis heute mit einer Überversorgung der Täter und einer Unterversorgung der Opfer. Zersetzung und politische Haft Die DDR war in einem so umfassenden Maße geheimpolizeilich überwacht, wie noch keine andere europäische Gesellschaft zuvor. Private und öffentliche Personen gleichermaßen waren inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie bespitzelten und wurden bespitzelt. Ein feines Netz aus Misstrauen, Kontrolle und Angst entstand. Spitzelaufträge, die in den Wahnsinn treiben konnten: MfS-Strategie aus dem Jahr 1976 für einen Ehemann, der seine Frau aushorchen sollte. Das Dokument wurde zerrissen in einem Papiersack mit zur Verbrennung vorgesehenen Stasiakten gefunden und in der Stasi-Unterlagen-Behörde rekonstruiert. (© DVD BStU-kompakt) Die Überwachung der Privatheit wurde nicht selten von Menschen durchgeführt, die Teil dieser Privatheit waren. "Zersetzung" bezeichnet eine Methode des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR zur Bekämpfung vermeintlicher und tatsächlicher Gegner vor, während, nach oder an Stelle einer Inhaftierung. Die Zersetzung war ein rein psychologisches Unterdrückungsinstrument, welches das Selbstwertgefühl des Menschen untergraben, Panik, Verwirrung und Angst erzeugen sollte. Zersetzung setzte die Allmacht des Staates über Gesellschaft und Individuum voraus. So waren auch alle Zweige des Staatsapparates prinzipiell zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet. Die Mitarbeiter der Stasi setzten zunächst im privaten Umfeld des vermeintlichen Staatsfeindes an. Die Zielperson sollte zunächst in ihrem persönlichen Erleben verunsichert werden. So brachen Stasileute mehrmals heimlich in die Privatwohnung ein, entfernten nach und nach Gegenstände oder stellten sie um – damit der Bewohner allmählich anfing, an seinem Verstand zu zweifeln. Telefone wurden abgehört, Wohnungen zu Abhörzwecken verwanzt. Gezieltes Eindringen in das persönliche Umfeld Auch das Eindringen in persönliche Beziehungen gehörte zum Repertoire der Stasi. Dabei ging es um und die Zerstörung der privaten und familiären Beziehungen. Durch gestreute Gerüchte, etwa über angebliche außereheliche Beziehungen, sollte Misstrauen geschürt werden. Darüber hinaus wurden durch Diffamierungen und Benachteiligungen berufliche Misserfolge organisiert. Bei feindlichen Gruppen zielte die Zersetzung auf Zersplitterung, Lähmung und Desorganisation, bei einzelnen Personen auf soziale Isolierung, psychologische Verunsicherung und öffentliche Rufschädigung. Die Zersetzungsmaßnahmen waren immer auf die besondere Persönlichkeitsstruktur der Zielperson ausgerichtet, fokussierten auf die jeweiligen Schwachpunkte der sogenannten "Feinde des Sozialismus". Nur wenige Tage nach Erteilung seines Spitzelauftrags als Ehemann, der seine eigene Frau aushorchen soll, berichtet der IM seinem Führungsoffizier, dass er die "gemütliche Atmosphäre" zuhause und die "freudige Stimmung" seiner Ehefrau effektiv zur Informationsgewinnung nutzen konnte. Für die Opfer eine schockierende Erfahrung: Die Loyalität gegenüber dem Führungsoffizier war größer, als zur eigenen Familie. (© DVD BStU-Kompakt) Ziel war es, den Betreffenden zur permanenten Beschäftigung mit sich selbst zu veranlassen, die Persönlichkeit Andersdenkender und der Gegner des Sozialismus durch die psychische Zersetzung grundlegend zu destabilisieren und feindliche Ideologien zu bekämpfen (Behnke & Fuchs, 1995). Dies wurde soweit betrieben, dass sich manche der Betroffenen das Leben nahmen. "Die Folgen dieser denunziatorischen Zerstörung von Vertrauen und Solidarität in Gruppen bzw. von Selbstvertrauen, beruflichen und gesellschaftlichen Entwicklungschancen waren für die Betroffenen mitunter katastrophal, gerade weil sie psychologisch ausgeklügelt, im geheimen Zusammenwirken des MfS mit ihren inoffiziellen Mitarbeitern sowie staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen umgesetzt wurden und teilweise noch bis heute nachwirken" (Süß, 1999, S. 684). Zersetzungsmaßnahmen außerhalb der Haftanstalten haben oftmals zu schweren psychischen Schädigungen geführt (vgl. Pingel-Schliemann, 2002). Auch wenn die Inhaftierung eine erschreckende Angelegenheit war, wusste der politisch Verfolgte nun zumindest, woran er war. Reine Zersetzungsopfer litten unter ständigen Verunsicherungen, Übergriffen und permanenter Ungewissheit. Stasi-Lehrthema "Operative Psychologie" Die staatlich geplante Zersetzung basierte auf Konzepten der "Operativen Psychologie". Dieser Begriff wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR geprägt. Im Januar 1976 erließ der Minister für Staatssicherheit eine Richtlinie (Nr.1/76) "zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge" (OV), sie definierte Zersetzungsmaßnahmen. Dabei griff der staatliche Sicherheitsapparat auf wissenschaftliche Methoden der Allgemeinen, Sozial- und Klinischen Psychologie und benachbarter Gebiete zurück, die gezielt zweckentfremdet wurden (Behnke & Trobisch, 1998). Am Lehrstuhl für operative Psychologie in Postdam-Golm lernten Führungsoffiziere psychologische Methoden der Geständnisgewinnung in U-Haft, Methoden der Bespitzelung im In- und Ausland und Strategien, IMs (inoffizielle oder informelle Mitarbeiter) zu gewinnen sowie auf Jugendliche einzugehen und deren Vertrauen zu erringen. Spitzelaufträge, die in den Wahnsinn treiben konnten: MfS-Strategie aus dem Jahr 1976 für einen Ehemann, der seine Frau aushorchen sollte. Das Dokument wurde zerrissen in einem Papiersack mit zur Verbrennung vorgesehenen Stasiakten gefunden und in der Stasi-Unterlagen-Behörde rekonstruiert. (© DVD BStU-kompakt) Nur wenige Tage nach Erteilung seines Spitzelauftrags als Ehemann, der seine eigene Frau aushorchen soll, berichtet der IM seinem Führungsoffizier, dass er die "gemütliche Atmosphäre" zuhause und die "freudige Stimmung" seiner Ehefrau effektiv zur Informationsgewinnung nutzen konnte. Für die Opfer eine schockierende Erfahrung: Die Loyalität gegenüber dem Führungsoffizier war größer, als zur eigenen Familie. (© DVD BStU-Kompakt) Perfektioniert, weil konzentriert, hat das MfS jedoch seine Zersetzungsmaßnahmen in den Untersuchungsgefängnissen eingesetzt. Vor der Inhaftierung war in der Regel eine gewisse Zuspitzung in den Repressionen zu beobachten. Die Verhaftung erfolgte überfallartig meist ohne Vorwarnung. "Eine nicht genau zu schätzende Anzahl von Inhaftierten wurde überraschend und plötzlich verhaftet, wobei hier immer wieder eine Tendenz zu besonders intensiv ausgeprägten psychischen Folgeerscheinungen berichtet wird" (Freyberger et al., 2003). Der Verhaftete wurde stundenlang in einer winzigen Zelle in einem dunklen Transporter umher gefahren, bis er die Orientierung verloren hatte. Dann folgte plötzlich blendende Helligkeit, vollständiges Ausziehen, peinlich genaue Kontrolle sämtlicher Körperöffnungen, der Verlust des Namens im Tausch gegen eine Nummer, Einsperren in eine karge Zelle. Innerhalb der berüchtigten Untersuchungshaftanstalten der Staatsicherheit stand dann die Isolationshaft mit bestimmten Verhörmethoden im Zentrum. In der Isolationshaft wurden Gefangene in eine kahle Zelle, 2 mal 3 Meter, schallisoliert und ohne Fenster gesperrt. Tag und Nacht brannte grelles Neonlicht. Außer einer Pritsche mit einer Wolldecke, und einem stinkenden Kübel gab es in der Zelle nichts, keinerlei Beschäftigungsmöglichkeit. Die Regeln waren: Absolute Kontaktsperre nach draußen, Liegen auf der Pritsche nur nachts, keine Selbstgespräche, keine sportliche Betätigung, maximal fünf Schritte Gehen in jede Richtung. Gezielt erzeugte Angstzustände und völlige Resignation Die Stasi verfügte auch über 17 eigene Untersuchungshaftanstalten. Inhaftierte wurden dort lange im Unklaren gelassen, welcher Vergehen man sie konkret anklagen wollte und wie hoch ihre Strafen sein würden. Ziel war, sie psychisch zu zermürben. (© BStU (MfS, ASt. Gera, Abt. XIV 34, Bild 12)) Durch einen "Spion" in der Tür konnten Wärter das Verhalten jederzeit kontrollieren. Die Gefangenen waren der völligen Reizdeprivation preisgegeben. Je nach persönlicher Labilität treten in solchen Fällen bereits nach 48 Stunden Isolation deutliche Symptome auf: Verlust des Raum- und Zeitgefühls, Unvermögen, logisch zusammenhängend zu denken, Apathie, Depression, plötzliche Panikattacken bis hin zu schweren Halluzinationen. Ohne Sinnesstimulation aus der Umwelt droht dem Individuum die Gefahr, dass die Grenzen des Ichs verschwimmen. Auf diese Erfahrung reagierten viele Gefangene mit Angstzuständen oder völliger Resignation (Trobisch-Lütge, 2004). Zusätzlich wurden medikamentöse Manipulationen in der Haft vorgenommen. Manchmal mussten Gefangene so wochenlang auf ihr Verhör warten. Der einzige menschliche Kontakt war eine starrende, bedrohlich wirkende, anonyme Pupille. Diese gezielte Isolation hatte System. Auch auf den Wegen zum Verhör wurde durch ein strenges Kontrollsystem darauf geachtet, dass Gefangene keinen anderen Inhaftierten zu Gesicht bekamen. Viele Gefangene berichteten, dass sie den quälenden Eindruck in sich verspürt hätten, sich nach Verhören zu sehnen. Es sei zu einer inneren Annäherung an die Peiniger gekommen. In der Stasi-Haft wurden bewusst Situationen der Ausweglosigkeit kreiert und das Gefühl extremer Hilflosigkeit erzeugt. Dieses Vorgehen wurde dann in den Vernehmungen der verfolgten Person mit staatsideologischen und pseudo-moralischen Abwertungen kombiniert. Damit sollten persönliche Beziehungsmuster dauerhaft verändert und der Glaube an die eigene Wahrnehmung gestört werden. Zudem sollte der Gefangene moralisch korrumpiert werden, indem er irgendwann zum Verrat von Informationen über andere Personen bereit war. Opfer von psychologischer Folter, wie sie regelhaft bei politisch Inhaftierten in der Ära Ulbricht und der Ära Honecker in der ehemaligen DDR zur Anwendung gekommen ist, waren also komplexen und aversiven Reizmustern ausgesetzt. Es kam zu Erniedrigungen, sowie zu traumatischen Bindungen an psychologisch gewiefte Vernehmer, die es verstanden, bei den Gefangenen Gefühle absoluter Ausweglosigkeit und Ohnmacht zu erzeugen. Verunsicherung in Hinblick auf das Wohl der eigenen Familie oder von politischen Freunden wurde bewusst herbeigeführt. Auch sexuelle Übergriffe auf politische Gefangene Nach dem so erfolgten Erzwingen von Geständnissen kam es zur Verurteilung und Einweisung in die berüchtigten Zuchthäuser der DDR. Dort kam es regelhaft zu gewaltsamen, auch sexuellen Übergriffen auf politische Gefangene. Diese wurden häufig mit Schwerstkriminellen zusammengelegt. Häufig waren die politisch Inhaftierten Übergriffen des brutalen Wachpersonals ausgeliefert, das auch Koalitionen mit kriminellen Mitgefangenen einging. So wurden auch bei erzwungener Gefängnisarbeit kriminelle Mitgefangene zur Beaufsichtigung der politischen Gefangenen abgestellt (vgl. Sachse, 2014). Bei politisch Verfolgten der SED-Diktatur können sich also folgende Belastungen addieren: Bespitzelung und Überwachung, Einbringen von Zersetzungsmaßnahmen mit dem Ziel der Verunsicherung und persönlichen Destabilisierung (Fuchs, 2009), Erzeugung tiefer Schamgefühle, Verhaftung und Isolationsfolter in der Untersuchungshaft der Staatssicherheit (Zahn, 2005), Trennung von Partner und Kindern, Sorge um das Wohl der eigenen Familie, Bedrohungsgefühle und Ängste um das eigene Leben und die eigene körperliche Unversehrtheit in Zusammenhang mit Angriffen auf die psychische und physische Gesundheit durch andere Häftlinge und/oder Gefängnispersonal bei nachfolgender Inhaftierung in einem Zuchthaus, Erzwingen von Gesundheit gefährdender Gefängnisarbeit, die von zivilen Arbeitern abgelehnt wurde; bei Nichtnormerfüllung weitere Bestrafung (Knorr, 2014) Retraumatisierungen durch Haftentlassung in die ehemalige DDR mit weiterer Überwachung Retraumatisierungen nach der Wiedervereinigung (z.B. Begegnungen mit ehemaligen Vernehmern), massives Unrechtsempfinden in Zusammenhang mit versorgungsrechtlichen Entscheidungen (Siegmund, 2002). Einige der erwähnten Belastungsfaktoren werden auch als Methoden psychischer Folter definiert (Gurris & Wenk-Ansohn, 2009). Heutzutage weiß man, dass diese erwiesenermaßen nicht weniger traumatisierend als physische Folter ist. Verlängertes Inhaftierungsgefühl Nach beendeter Inhaftierungszeit spielte eine zentrale Rolle, ob die Betroffenen in den Binnenraum der DDR entlassen wurden, oder direkt in die damalige Bundesrepublik Deutschland kamen. Von vielen Verfolgten ist von einem verlängerten Inhaftierungsgefühl nach Entlassung aus der Haft in die DDR berichtet worden (vgl. Behnke, Trobisch, 1998). Es wurde oft von weiteren Überwachungsmaßnahmen bzw. "erzieherischen Einflüssen« der Staatssicherheit berichtet. Nach der Haftentlassung war für eine Verfestigung der traumatischen Erfahrung entscheidend, ob es weitere familiäre Bindungen an die DDR gab, eventuell Angehörige zu leiden hatten. Besonders eklatante Beispiele sind die Zwangsunterbringungen der Kinder von inhaftierten oder ausgewiesenen Systemgegnern. Die Stasi verfügte auch über 17 eigene Untersuchungshaftanstalten. Inhaftierte wurden dort lange im Unklaren gelassen, welcher Vergehen man sie konkret anklagen wollte und wie hoch ihre Strafen sein würden. Ziel war, sie psychisch zu zermürben. (© BStU (MfS, ASt. Gera, Abt. XIV 34, Bild 12)) (Spät)folgen von Zersetzung und politischer Haft Häufig wird bei politisch Verfolgten der SED-Diktatur vor allem in versorgungsärztlichen Stellungnahmen der traumatisierende Einfluss von psychologischer Folter, Zersetzungsmaßnahmen der Stasi und extremen Erfahrungen in der politischen Haft unterschätzt und von der Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung" abgesehen. Mitunter werden Verarbeitungsbemühungen zum Beispiel im Zeitzeugenbereich – im Sinne eines nicht vorliegenden Vermeidungsverhaltens – fehlinterpretiert. Die zu beobachtenden Symptomkomplexe sind jedoch nicht immer der klassischen Formel der Posttraumatischen Belastungsstörung oder der Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zuzuordnen. Für Menschen, die über längere Zeit eine totalitäre Unterwerfung erlebt haben, wurde von Herman (1993) die Diagnose der Komplexen posttraumatischen Belastungsstörung vorgeschlagen. Diese wurde als schwere, anhaltende Traumatisierung in das neue wissenschaftliche Klassifiktionssystem "DSM-5" aufgenommen und soll 2017 auch Einzug in das neue Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) "ICD-11" finden (Maercker et al., 2013). Bei DDR-Verfolgten lassen sich häufiger kumulative Traumata (Khan, 1963) beobachten. Bei einer größeren Gruppe von Verfolgten zeigen sich regelrechte "Verfolgtenkarrieren". Diese begannen häufig mit der Nichtanpassung an die sozialistischen Kollektive. Darauf folgte die extreme Begrenzung des Aktivitätsraums (Vergabe eines nur für bestimmte Regionen gültigen Ausweises, den PM 12), auch Unterbringung in Kinderheimen und/oder Jugendwerkhöfen. Nicht selten folgten Fluchtversuche mit Hafteinweisung und häufiger weitere Stigmatisierung und Bestrafungen nach der Haftentlassung in die DDR. Nicht alle dieser Verfolgten zeigen allerdings das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung, Angst- oder Anpassungsstörung, wie sie das deutsche Diagnosekürzel F43 umfasst. "Komplexen Traumafolgestörungen" Eine überzeugende und auch für die Betroffenen politischer Verfolgung in der DDR passendere Beschreibung als bislang schlagen Sack und Kollegen (2013) mit den "komplexen Traumafolgestörungen" vor. Sie machen deutlich, dass Posttraumatische Belastungsstörungen mehr Verlaufsformen aufweisen können, als etwa die bisherige "Sk2"-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen aufführt. Eine Reihe empirischer Studien belegen die seelischen Folgeschäden bei politisch Verfolgten in der ehemaligen DDR. (Priebe u.a. 1996; Freyberger u.a. 2003). So zeigte ein Großteil der Erkrankten typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD). In ihrer Dresden-Studie beleuchten Maercker & Schützwohl (1997) die Symptomatik sowie die verursachenden und aufrechterhaltenden Faktoren bei 75 ehemaligen politisch Inhaftierten der DDR. Bei einer Ersterhebung im Jahr 1994 waren 146 ehemalige politisch Inhaftierte der DDR befragt und mit einer Kontrollgruppe verglichen worden. Alle StudienteilnehmerInnen berichteten von traumatischen Erlebnissen (Folter, Gewalt, Einzelhaft etc.). Die PTBS bildete mit 29,1 Prozent die häufigste Traumafolgestörung. In einer Folgestudie nach 15 Jahren (Maercker & Schützwohl, 2013) wurden 93 Personen der Ersterhebung erneut untersucht. Die PTBS-Prävalenzrate betrug 32,6 Prozent. Somit litt jeder dritte ehemalige politische Gefangene der DDR zum Befragungszeitpunkt nach wie vor unter den psychischen Folgen der Inhaftierung. Zusammenfassend kann danach gesagt werden, dass posttraumatische psychische Prozesse nicht allein von den verursachenden traumatischen Ereignissen (z.B. Unerwartetheit der Verhaftung, Inhaftierungsdauer, Anzahl erschwerender Haftbedingungen) allein beeinflusst werden. Als mögliche Risikofaktoren wurden relative Jugend zum Zeitpunkt der Traumatisierung, frühere psychische Belastungen oder Störungen und der Grad innerer Schutzfaktoren ermittelt. Als Schutzfaktoren wurden Kohärenzsinn und positive emotionale Unterstützung ermittelt. Beschrieben wurde zudem ein Zusammenhang zwischen der Tendenz zur Fremdbeschuldigung und einer vermehrten Angabe von PTSD-Symptomen. Personen mit vermehrter Selbstbeschuldigung zeigten nach diagnostischer Einschätzung mehr PTSD-Symptome. Ein Drittel der damals Inhaftierten bis heute depressiv Auch 26 Jahre nach der Wiedervereinigung leidet etwa ein Drittel der damals politisch Inhaftierten an einer PTBS. Darüber hinaus finden sich ein hoher Anteil depressiver Störungen und verschiedene Angsterkrankungen. Maercker und Kollegen (2013) stellen zudem fest, dass der Verlauf posttraumatischer Belastungsreaktionen sehr variabel ist. Häufiger verwiesen wird auch auf die über Inhaftierung hinausgehenden potenziell traumatisierenden Erlebnisse unter der totalitären Herrschaft der DDR, wie Zersetzungsmaßnahmen oder andere Formen politischer Repression (vgl. Pingel-Schliemann, 2002, Freyberger et. al. 2003, Trobisch-Lütge 2004). Besonders hingewiesen werden sollte darauf, dass den Betroffenen von DDR-Verfolgung zusätzlich eine hohe Anpassungsfähigkeit nach der Wiedervereinigung abverlangt wird. Bei den Opfern politischer Verfolgung in der DDR wird in verschiedenen Zusammenhängen eine erhebliche Selbstwertminderung beobachtet. Verbunden mit einem fast seismographischen Empfinden für Ungerechtigkeiten der Nachwendezeit neigen viele dieser Menschen zu massiver Unzufriedenheit und chronischer Verbitterung. Posttraumatische Verbitterungsstörung Persönliche Freiheit war in der DDR ein schwer erreichbares Ziel, außer in überschaubaren Nischen. Die laute Forderung nach Freiheit führte schnell zu Sanktionen. Wer sich nicht beugte, geriet leicht ins Visier der Staatssicherheit - für manch einen der Betroffenen mit Folgen bis heute. (© BStU) So bestimmen auch Enttäuschungen über die juristische und moralische Aufarbeitung von DDR-Unrecht die Stimmung bei den politisch Verfolgten, die sich als erneute Verlierer im Prozess der Wiedervereinigung sehen. Linden und Kollegen (2004) haben in den vergangenen Jahren mit der "posttraumatischen Verbitterungsstörung" (posttraumatic embitterment disorder, abgekürzt PTED) beschrieben. Eine PTED soll sich danach als Folge einer außergewöhnlichen, eigentlich jedoch lebensüblichen Belastung entwickeln. Als Beispiele werden Reaktionen auf einschneidende Veränderungen im beruflichen Bereich, zwischenmenschliche Konflikte wie Partnerschaftsprobleme oder Verlusterlebnisse benannt. Diese werden als ungerecht, kränkend oder herabwürdigend erlebt. Diese PTED ist durch Verbitterung, Entwicklung einer ausgeprägten psychischen Begleitsymptomatik, einem chronischen Krankheitsverlauf und erheblichen sozialmedizinische Negativfolgen charakterisiert. Auch bei politisch Verfolgten der SED-Diktatur ist häufiger ein stärkerer Verbitterungszustand mit Ungerechtigkeitsgefühlen zu beobachten. Mit der Reduzierung auf phänomenologische Aspekte – auf die auch vorhandenen Ungerechtigkeitsgefühle, die zudem eine reale gesellschaftliche Wurzel haben – würde man den politisch Verfolgten insofern Unrecht tun, als andere psychopathologische Phänomene wie das Wiedererleben von belastenden Erinnerungen (Intrusionen), Vermeidungsverhalten und angstbedingte Schlafstörungen (Hyperarousal) vernachlässigt würden und die auslösenden Bedingungen – massive Unrechtshandlungen in der DDR – in ihrer Auswirkung verharmlost würden. Verbitterung würde bei politisch Verfolgten implizieren, dass sie einen an sich möglichen Verarbeitungszustand nicht erreicht hätten und deshalb verbitterten. Somit handelt es sich für politisch Verfolgte um eine eher unpassende diagnostische Einordnung, da hier Beschreibungen gemacht werden, die als wertend verstanden werden können. Nach neuesten Forschungserkenntnissen der Psychotraumatologie ist es für politisch Verfolgte der ehemaligen DDR aus gesellschaftlichen und historischen Gründen heraus besonders schwer, die Folgen ihrer Traumatisierungen zu verarbeiten. Die Opfer politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR schätzen die ihnen entgegengebrachte gesellschaftliche Anerkennung im Vergleich zu anderen Opfergruppen als am niedrigsten ein. So hat ein großer Teil unserer Klientel noch heute Schwierigkeiten, die Folgen von Inhaftierung, Zersetzung und Unterdrückung zu verarbeiten und einen Platz im wiedervereinigten Deutschland zu finden. Auswirkungen politischer Verfolgung der SED-Diktatur auf die zweite Generation In ersten Ergebnissen einer noch nicht abgeschlossenen Untersuchung von Böhm (2012) wurden mit Hilfe von Fragebögen und biografisch-narrativen Interviews 64 Personen untersucht, deren Eltern aus politischen Gründen in der DDR inhaftiert waren. Untersucht wurden Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung nach der elterlichen Haft und Haltungen zur innerfamiliären Kommunikation. Demzufolge sind Prozesse des Zusammenrückens oder der Distanzierung zu beobachten. In einer empirischen Untersuchung von Klinitzke et al. (2012) wurden Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in Ostdeutschland auf Ängstlichkeit, Depressivität, Somatisierung und Posttraumatische Belastungssymptome untersucht. Danach gibt es Hinweise darauf, dass die Gruppe der Nachkommen politisch Inhaftierter in der SBZ und DDR im Durchschnitt in diesen psychischen Störungsbereichen signifikant stärker belastet ist als eine repräsentative alters-, geschlechts-, und bildungsparallelisierte Stichprobe der Allgemeinbevölkerung. Auf Grundlage einer qualitativen Untersuchung des Autors wurde deutlich (Trobisch-Lütge, 2015), dass die Nachkommen politisch Verfolgter der SED-Diktatur in vielfältiger Weise in das Verfolgungsgeschehen ihrer Eltern involviert sind. Sie sind Zeuge und mitunter Leidtragende der anhaltenden Verfolgungssymptomatik ihrer Eltern. Dies drückt sich im sozialem Rückzug, hohem Misstrauen sowie der Verbitterung ihrer Eltern aus. Daher sind viele Nachkommen in eine Auseinandersetzung bzw. zu einer Rekonstruktion der elterlichen Verfolgungsgeschichte gezwungen. Zunehmend beantragen daher auch Kinder die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Stasiakten ihrer Eltern, sei es mit elterlicher Vollmacht oder aus eigenem Antrieb, wenn die Eltern zwischenzeitlich verstorben sind. Über allem schwebt eine zusätzliche Verunsicherung. Eigenes Erleben der Nachkommen trifft auf nur bruchstückhafte, verunsichernde Erinnerungssegmente der Elterngeneration, die oft nur schwer zu vermittelnde Verfolgungspraktiken der Stasi erlitten hat. Das bewirkt, dass Zweifel am Gehalt der autobiographischen Erinnerungen entstehen. Familiäre Entscheidungs- und Verarbeitungsprozesse unter den Lebensbedingungen einer Diktatur, die auch den Umgang mit den eigenen Kindern betrafen, sowie Verfolgungserfahrungen der Elterngeneration, lassen sich aus Sicht der Nachkommen nur schwer voneinander unterscheiden. Zudem werden Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der eigenen Erinnerung durch geschichtliche Relativierungsversuche im öffentlichen Raum bezüglich des Unrechtscharakters der DDR angezweifelt. Kein leichtes, unbelastetes Auflärungsfeld für beide Generationen. Aus der Stasi-Richtlinie 1/76 über "Zersetzung" 2.6 Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung 2.6.1 Zielstellung und Anwendungsbereiche von Maßnahmen der Zersetzung Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden. In Abhängigkeit von der konkreten Lage unter feindlich-negativen Kräften ist auf die Einstellung bestimmter Personen, bei denen entsprechende Anknüpfungspunkte vorhanden sind, dahingehend einzuwirken, dass sie ihre feindlich-negativen Positionen aufgeben und eine weitere positive Beeinflussung möglich ist. Zersetzungsmaßnahmen können sich sowohl gegen Gruppen, Gruppierungen und Organisationen als auch gegen einzelne Personen richten und als relativ selbstständige Art des Abschlusses Operativer Vorgänge oder im Zusammenhang mit anderen Abschlussarten angewandt werden... 2.6.2 Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung Die Festlegung der durchzuführenden Zersetzungsmaßnahmen hat auf der Grundlage der exakten Einschätzung der erreichten Ergebnisse der Bearbeitung des jeweiligen Operativen Vorganges, insbesondere der erarbeiteten Ansatzpunkte sowie der Individualität der bearbeiteten Personen und in Abhängigkeit von der jeweils zu erreichenden Zielstellung zu erfolgen. Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen; Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder; Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit ihren internen Problemen mit dem Ziel der Einschränkung ihrer feindlich-negativen Handlungen; örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation auf der Grundlage geltender gesetzlicher Bestimmungen, z. B. durch Arbeitsplatzbindungen, Zuweisung örtlich entfernt liegender Arbeitsplätze usw. Bei der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen sind vorrangig zuverlässige, bewährte, für die Lösung dieser Aufgaben geeignete IM einzusetzen. Bewährte Mittel und Methoden der Zersetzung sind: das Heranführen bzw. der Einsatz von IM, legendiert als Kuriere der Zentrale, Vertrauenspersonen des Leiters der Gruppe, übergeordnete Personen, Beauftragte von zuständigen Stellen aus dem Operationsgebiet, andere Verbindungspersonen usw.; die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw., kompromittierender Fotos, z. B. von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen; die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation; gezielte Indiskretionen bzw. das Vortäuschen einer Dekonspiration von Abwehrmaßnahmen des MfS; die Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung. Diese Mittel und Methoden sind entsprechend den konkreten Bedingungen des jeweiligen Operativen Vorganges schöpferisch und differenziert anzuwenden, auszubauen und weiterzuentwickeln. 2.6.3 Das Vorgehen bei der Ausarbeitung und Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen Voraussetzung und Grundlage für die Ausarbeitung wirksamer Zersetzungsmaßnahmen ist die gründliche Analyse des Operativen Vorganges, insbesondere zur Herausarbeitung geeigneter Anknüpfungspunkte, wie vorhandener Widersprüche, Differenzen bzw. von kompromittierendem Material. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Analyse hat die exakte Festlegung der konkreten Zielstellung der Zersetzung zu erfolgen. Entsprechend der festgelegten Zielstellung hat die gründliche Vorbereitung und Planung der Zersetzungsmaßnahmen zu erfolgen. In die Vorbereitung sind – soweit notwendig – unter Wahrung der Konspiration die zur Bearbeitung des jeweiligen Operativen Vorganges eingesetzten bzw. einzusetzenden IM einzubeziehen. Die Pläne der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen bedürfen der Bestätigung durch den Leiter der jeweiligen Haupt-/selbstständigen Abteilung bzw. Bezirksverwaltung/Verwaltung. Pläne zur Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen gegen Organisationen, Gruppen, Gruppierungen oder einzelne Personen im Operationsgebiet, Personen in bedeutsamen zentralen gesellschaftlichen Positionen bzw. mit internationalem oder Masseneinfluss sowie in anderen politisch-operativ besonders bedeutsamen Fällen sind mir bzw. meinem jeweils zuständigen Stellvertreter zur Bestätigung vorzulegen. Die Durchführung der Zersetzungsmaßnahmen ist einheitlich und straff zu leiten. Dazu gehört die ständige inoffizielle Kontrolle ihrer Ergebnisse und Wirkung. Die Ergebnisse sind exakt zu dokumentieren. Entsprechend der politisch-operativen Notwendigkeit sind weitere politisch-operative Kontrollmaßnahmen festzulegen und durchzuführen.... Der komplette Wortlaut unter: Externer Link: http://www.demokratie-statt-diktatur.de/DSD/DE/Menschenwuerde/Dokumente/menschenwuerde_richtlinie-1-76/menschenwuerde_richtlinie-1-76_tabelle.html Mehr zum Thema: Interner Link: Stasi - was war das überhaupt? Literatur Behnke, K. & Fuchs J. (Hrsg.). (1995). Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt. Behnke, K. & Trobisch, S. (1998). Panik und Bestürzung auslösen. Die Praxis der »operativen Psychologie« des Staatssicherheitsdienstes und ihre traumatisierenden Folgen. In K.-D. Müller & A. Stephan (Hrsg.), Die Vergangenheit lässt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen (S. 173–195). Berlin: Berlin Verlag. Böhm, M. (2012). Was wird jetzt mit den Kindern? In M. Böick, A. Hertel & F. Kuschel (Hrsg.), Aus einen Land vor unserer Zeit. Berlin: Metropol. Freyberger, H. J., Frommer, J., Maercker, A. & Steil, R. (2003). Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR. Expertengutachten als Broschüre herausgegeben von der Konferenz der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Frommer, J. (2002). Trauma, Autoaggression und psychische Erkrankung. In: A. Stephan (Hrsg.), 1945 – 2000 Ansichten zur deutschen Geschichte. 10 Jahre Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg für die Opfer der politischen Herrschaft 1945-1989, (S. 119-130). Leverkusen: Leske und Budrich. Fuchs, J. (2009[1978]). Vernehmungsprotokolle. Berlin: Jaron. Gneist, G., Heydemann, G. (2002). "Allenfalls kommt man für ein halbes Jahr in ein Umschulungslager." Nachkriegsunrecht an Wittenberger Jugendlichen. Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950 e.V. in Zusammenarbeit mit dem Historischen Seminar der Universität Leipzig, Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte (überarbeitete und erweiterte Neuauflage des 1998 unter gleichem Titel von Rocco Räbiger herausgegebenen Bandes) Gurris, N. & Wenk-Ansohn, M. (2009). Folteropfer und Opfer politischer Gewalt. In A. Maercker (Hrsg.), Posttraumatische Belastungsstörungen (S. 477–499). Heidelberg: Springer. Herman, J.L. (1993). Sequelae of prolonged and repeatet trauma: Evidence for a complex posttraumatic syndrome (DESNOS). In: R.T. Davidson & E.B.Foa (Eds.), Posttraumatic stress disorder: DSM-IV and beyond (pp.213-228). Washington, DC: American Psychiatric Press. Khan, M. R. (1963): Das kumulative Trauma. In: M. R Khan: Selbsterfahrung in der Therapie. München: Kindler. Klinitzke, G., Böhm, M., Brähler, E. & Weißflog, G. (2012). Ängstlichkeit, Depressivität, Somatisierung und Posttraumatische Belastungssymptome bei den Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in Ostdeutschland (1945–1989). Psychother Psych Med, 62(1), 18–24. Knorr, S. (2014). Psychologische Aspekte der Zwangsarbeit. In C. Sachse. Das System der Zwangsarbeit in der SED-Diktatur. Die wirtschaftliche und politische Dimension (S. 477–482). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. Linden, M., Schippan, B., Baumann, K. & Spielberg, R. (2004). Die posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED). Abgrenzung einer spezifischen Form der Anpassungsstörungen. Der Nervenarzt, 75(1), 51–57. Maercker, A. (1995). Psychische Folgen politischer Inhaftierung in der DDR. Das Parlament. Aus Politik und Zeitgeschichte, B38/95, 30–38. Maercker, A. & Schützwohl, M. (1997). Long-term effects of political imprisonment. A group comparison study. Soc Psychiatry Epidemol, 32, 435–442. Maercker, A., Gäbler, I. & Schützwohl, M. (2013). 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(Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 8), Berlin: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. Priebe, S., Denis, D. & Bauer, M. (Hrsg.) (1996). Eingesperrt und nie mehr frei. Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR. Darmstadt: Steinkopff. Sachse, C. Das System der Zwangsarbeit in der SED-Diktatur. Die wirtschaftliche und politische Dimension. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. Sack, M., Sachsse, U. & Schellong, J. (2013). Komplexe Traumafolgestörungen. Stuttgart: Schattauer. Siegmund, J. (2002). Opfer ohne Lobby? Ziele, Strukturen und Arbeitsweise der Verbände der Opfer des DDR-Unrechts. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag. Süß, S. (1999). Politisch missbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Links, Berlin. Trobisch-Lütge, Stefan (2004). Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Trobisch-Lütge, Stefan (2010). »Ich bin ein Haftfolgeschaden«. Protrahierte Unbestimmbarkeit in der Rekonstruktion traumatischer Erfahrungen bei den Nachkommen politisch Verfolgter der SED-Diktatur. Zeitschrift für Psychotraumatologie Psychotherapiewissenschaft Psychologische Medizin, 8(1), 41–51. Trobisch-Lütge, St. (2015): Überwachte Vergangenheit: Auswirkungen politischer Verfolgung der SED-Diktatur auf die Zweite Generation. In: ders./Bomberg, K.-H. (Hg.): Verborgene Wunden: Spätfolgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre transgenerationale Weitergabe, Gießen: Psychosozial, S. 195–244. Zahn, H.-E. (2005). Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungs-Haftanstalten des MfS – Psychologische Aspekte und biographische Veranschaulichung. Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Band 5, (5.Auflage). Persönliche Freiheit war in der DDR ein schwer erreichbares Ziel, außer in überschaubaren Nischen. Die laute Forderung nach Freiheit führte schnell zu Sanktionen. Wer sich nicht beugte, geriet leicht ins Visier der Staatssicherheit - für manch einen der Betroffenen mit Folgen bis heute. (© BStU) 2.6 Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung 2.6.1 Zielstellung und Anwendungsbereiche von Maßnahmen der Zersetzung Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden. In Abhängigkeit von der konkreten Lage unter feindlich-negativen Kräften ist auf die Einstellung bestimmter Personen, bei denen entsprechende Anknüpfungspunkte vorhanden sind, dahingehend einzuwirken, dass sie ihre feindlich-negativen Positionen aufgeben und eine weitere positive Beeinflussung möglich ist. Zersetzungsmaßnahmen können sich sowohl gegen Gruppen, Gruppierungen und Organisationen als auch gegen einzelne Personen richten und als relativ selbstständige Art des Abschlusses Operativer Vorgänge oder im Zusammenhang mit anderen Abschlussarten angewandt werden... 2.6.2 Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung Die Festlegung der durchzuführenden Zersetzungsmaßnahmen hat auf der Grundlage der exakten Einschätzung der erreichten Ergebnisse der Bearbeitung des jeweiligen Operativen Vorganges, insbesondere der erarbeiteten Ansatzpunkte sowie der Individualität der bearbeiteten Personen und in Abhängigkeit von der jeweils zu erreichenden Zielstellung zu erfolgen. Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen; Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder; Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit ihren internen Problemen mit dem Ziel der Einschränkung ihrer feindlich-negativen Handlungen; örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation auf der Grundlage geltender gesetzlicher Bestimmungen, z. B. durch Arbeitsplatzbindungen, Zuweisung örtlich entfernt liegender Arbeitsplätze usw. Bei der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen sind vorrangig zuverlässige, bewährte, für die Lösung dieser Aufgaben geeignete IM einzusetzen. Bewährte Mittel und Methoden der Zersetzung sind: das Heranführen bzw. der Einsatz von IM, legendiert als Kuriere der Zentrale, Vertrauenspersonen des Leiters der Gruppe, übergeordnete Personen, Beauftragte von zuständigen Stellen aus dem Operationsgebiet, andere Verbindungspersonen usw.; die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw., kompromittierender Fotos, z. B. von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen; die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation; gezielte Indiskretionen bzw. das Vortäuschen einer Dekonspiration von Abwehrmaßnahmen des MfS; die Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung. Diese Mittel und Methoden sind entsprechend den konkreten Bedingungen des jeweiligen Operativen Vorganges schöpferisch und differenziert anzuwenden, auszubauen und weiterzuentwickeln. 2.6.3 Das Vorgehen bei der Ausarbeitung und Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen Voraussetzung und Grundlage für die Ausarbeitung wirksamer Zersetzungsmaßnahmen ist die gründliche Analyse des Operativen Vorganges, insbesondere zur Herausarbeitung geeigneter Anknüpfungspunkte, wie vorhandener Widersprüche, Differenzen bzw. von kompromittierendem Material. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Analyse hat die exakte Festlegung der konkreten Zielstellung der Zersetzung zu erfolgen. Entsprechend der festgelegten Zielstellung hat die gründliche Vorbereitung und Planung der Zersetzungsmaßnahmen zu erfolgen. In die Vorbereitung sind – soweit notwendig – unter Wahrung der Konspiration die zur Bearbeitung des jeweiligen Operativen Vorganges eingesetzten bzw. einzusetzenden IM einzubeziehen. Die Pläne der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen bedürfen der Bestätigung durch den Leiter der jeweiligen Haupt-/selbstständigen Abteilung bzw. Bezirksverwaltung/Verwaltung. Pläne zur Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen gegen Organisationen, Gruppen, Gruppierungen oder einzelne Personen im Operationsgebiet, Personen in bedeutsamen zentralen gesellschaftlichen Positionen bzw. mit internationalem oder Masseneinfluss sowie in anderen politisch-operativ besonders bedeutsamen Fällen sind mir bzw. meinem jeweils zuständigen Stellvertreter zur Bestätigung vorzulegen. Die Durchführung der Zersetzungsmaßnahmen ist einheitlich und straff zu leiten. Dazu gehört die ständige inoffizielle Kontrolle ihrer Ergebnisse und Wirkung. Die Ergebnisse sind exakt zu dokumentieren. Entsprechend der politisch-operativen Notwendigkeit sind weitere politisch-operative Kontrollmaßnahmen festzulegen und durchzuführen.... Der komplette Wortlaut unter: Externer Link: http://www.demokratie-statt-diktatur.de/DSD/DE/Menschenwuerde/Dokumente/menschenwuerde_richtlinie-1-76/menschenwuerde_richtlinie-1-76_tabelle.html
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-07T00:00:00
2016-01-11T00:00:00
2022-01-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/218417/psychofolgen-bis-heute-zersetzungs-opfer-der-ddr-geheimpolizei/
Einschüchterung von Andersdenkenden war ein zentrales Ziel der Stasi. Dies geschah z.B. durch Inhaftierung, oder subtile Methoden der "operativen Psychologie". Die Nachwirkungen bei den Opfern.
[ "Psychofolgen", "PTED", "PTSD", "SED", "DDR", "Stasi" ]
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Methoden | Forschen mit GrafStat | bpb.de
Die Attraktivität des Unterrichts im Fach Politik bzw. Sozialkunde kann in erheblichem Maße dadurch gesteigert werden, dass den Jugendlichen motivierende Aufgaben gestellt und Raum für Eigenaktivitäten geschaffen wird. Die vor allem am Beispiel der Unterrichtsreihe "Bundestagswahl im Unterricht – Wählerbefragung mit GrafStat" und der beiliegenden CD-ROM "Wahlanalyse und Wahlprognose 2005" erstellten 51 unterrichtsmethodischen Vorschläge haben das Ziel, die methodischen Handlungsmöglichkeiten der Lehrperson deutlich zu erhöhen. Ein weiterer Vorteil der methodischen Vielfalt: Die an einem Thema exemplarisch erlernten methodischen Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich auf andere Themen der politischen Bildung übertragen. Zudem bietet sozialwissenschaftlicher Unterricht die Chance, die empirisch-analytische Denkweise der naturwissenschaftlichen Fächer und die hermeneutische Zugangweise der Geisteswissenschaften miteinander zu verbinden und dadurch die Methodenkompetenz der Schülerinnen und Schüler insgesamt zu fördern. Jugendliche, die am konkreten Fall ihre methodischen Kompetenzen entwickelt haben, sind urteils- und handlungsfähige Subjekte, die sich in politischen Entscheidungsfällen verantwortungsvoll verhalten können. Die hier vorgestellten Unterrichtsmethoden umfassen Beispiele aus den Bereichen Informationsgewinnung und -verarbeitung, Recherche, Üben/Wiederholen und Argumentation. Als Makromethoden werden beispielsweise Interviews, Artikel für die Schüler- bzw. Lokalzeitung schreiben, Radiobeitrag produzieren oder auch Erkundung oder Expertenbefragung vorgestellt. Den Abschluss einer Projektreihe kann eine Qualitätskontrolle durch die Projektevaluation bilden. Zu den Methoden gibt es jeweils didaktische Hinweise für die Lehrpersonen und thematisch ausgerichtete Arbeitsblätter für die Schüler/Schülerinnen, die als PDF-Dateien zum Ausdruck zur Verfügung stehen. Obwohl die Unterrichtsmethoden hier konkret auf das Thema "Wahlanalyse und Wahlprognose 2005" bezogen werden, können aber auch beliebige Texte und Beispiele zu anderen Unterrichtsthemen ausgetauscht werden! Urteilsbildung Außerdem wird das schwierige Thema angegangen, wie Urteilsbildung in der politischen Bildung methodisiert werden kann. Gerade dieser Beitrag trägt zur Stärkung des handelnden Subjektes bei und festigt außerdem die Stellung des Faches im Curriculum der Schule. Hier wird erstmals der methodische Nachweis erbracht, wie Urteilsbildung im Unterricht didaktisiert werden kann. Gleichzeitig wird das Überwältigungsverbot der politischen Bildung und der Grundsatz beachtet: Was in der Gesellschaft kontrovers ist, muß auch im Politikunterricht als Kontroverse erkennbar sein. Umgekehrt werden Schüler in die Lage versetzt, politische Urteile von Lobbyisten auf ihre Einseitigkeit hin zu analysieren und auf der Basis von mehreren kontroversen Urteilen selber zu einer Einschätzung der Fakten und der Kriterien, die für ein verantwortungsvolles Urteil relevant sind, zu kommen. Die Qualität des Gesamturteils der Schülerinnen und Schüler kann auf diese Weise sichtbar gesteigert werden. Zudem gelingt es, der Lehrperson Wege aufzuzeigen, wie er/sie selber begründet einen Standpunkt (Urteil) vertreten kann (wenn es erforderlich ist), ohne dadurch die Schüler/innen in ihrer Urteilsbildung durch Parteilichkeit zu beeinflussen. Vielmehr kann bei gekonnter methodischer Anlage des Unterrichtes ein Wettbewerb der "Gerichtshöfe der Vernunft" beginnen, bei dem nicht die Position oder Person zählt, sondern die Tragfähigkeit der Argumente. Ein umfangreiches Angebot zum Komplex der Urteilsbildung findet sich unter dem Stichwort "Fairurteilen" im Angebot Externer Link: www.pbnetz.de.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-07-06T00:00:00
2011-12-06T00:00:00
2022-07-06T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/46804/methoden/
Die Attraktivität des Unterrichtsfaches Politik/Sozialkunde kann in erheblichem Maße dadurch gesteigert werden, dass den Jugendlichen motivierende Aufgaben gestellt und Raum für Eigenaktivitäten geschaffen wird. Die unterrichtsmethodischen Vors
[ "GrafStat" ]
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Monatsrückblick – August 2020 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Interner Link: Asylzahlen weiterhin deutlich unter Vorjahresniveau Interner Link: Streit um Landesprogramme zur humanitären Aufnahme von Geflüchteten Interner Link: Seenotrettung – auch im Ärmelkanal Interner Link: Mehr Geflüchtete in Privatwohnungen: Ergebnisse einer Studie des BAMF Interner Link: Was vom Monat übrig blieb… Asylzahlen weiterhin deutlich unter Vorjahresniveau Die Zahl der im ersten Halbjahr in Deutschland Externer Link: gestellten Asylanträge liegt deutlich unter den Vorjahren. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden im ersten Halbjahr 2020 (Januar bis Ende Juni) 54.798 Asylanträge verzeichnet, davon waren 47.309 Erstanträge und 7.489 Folgeanträge. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2019 waren insgesamt 165.938 Anträge gestellt worden, 2018 waren es 185.853. Im Juli 2020 stellten 7.588 Personen erstmals einen Antrag auf Asyl in Deutschland. Dies sind rund 38 Prozent weniger als im selben Monat im Vorjahr (Juli 2019: 12.298). Anträge wurden am häufigsten durch Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan gestellt. Auch die Anzahl der Folgeanträge lag mit 1.277 fast 30 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor (Juli 2019: 1.810). Streit um Landesprogramme zur humanitären Aufnahme von Geflüchteten Die Bundesländer Berlin und Thüringen erwägen eine gemeinsame Klage gegen den Bund, nachdem ihnen das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) Ende Juli das notwendige Einvernehmen für landeseigene Programme zur Aufnahme von Geflüchteten verweigert hatte. Die beiden durch rot-rot-grüne Koalitionen (SPD, Linke, Grüne) regierten Länder hatten eigene Programme zur humanitär begründeten Aufnahme von 500 Personen in Thüringen und 300 Personen in Berlin aus Interner Link: griechischen Flüchtlingslagern aufgelegt. Beide Länder hatten wiederholt ihre Aufnahmebereitschaft über die Zusagen des Bundes hinaus bekräftigt. Die Bundesregierung hatte entschieden, insgesamt 243 kranke Kinder und ihre Familien aus Griechenland zu übernehmen. Landeseigene Programme zur Aufnahme von Geflüchteten bedürfen Externer Link: nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 23) des "Einvernehmens" mit dem BMI. Dieses hat das Ministerium mit Hinweis auf die "Wahrung der Bundeseinheitlichkeit" bei der Aufnahme Geflüchteter abgelehnt. Während bei den Landesprogrammen aus humanitären Gründen direkt Aufenthaltstitel erteilt würden, durchlaufen Schutzsuchende bei Bundesprogrammen ein ergebnisoffenes Asylverfahren. Da die Dauer und Erfolgsaussichten einer gemeinsamen Klage unklar sind, streben einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen die Einrichtung einer Bund-Länder-Konferenz zu Regelung von Aufnahmeprogrammen an. Zudem wollen einige SPD-geführte Länder sowie die Regierung Nordrhein-Westfalens das direkte Gespräch mit Bundesinnenminister Horst-Seehofer (CDU) suchen. Dieser signalisierte Ende des Monats dafür seine Bereitschaft, betonte aber, dass die Entscheidung über die Aufnahme von Geflüchteten aus seiner Sicht eine Bundesangelegenheit sei. Zugleich wiederholte er seine Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik im Rahmen derer die Entscheidung über Asyl an die EU-Außengrenzen verlagert werden soll. Seenotrettung – auch im Ärmelkanal Immer mehr Migrantinnen und Migranten versuchen, über den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Seit Jahresbeginn sollen etwa 4.000 Menschen die Meerenge mit kleinen Booten überquert haben. Alleine im August hätten rund 1.500 Personen so die britische Küste erreicht, berichtet unter anderem die BBC. Die britische Regierung warf den französischen Behörden vor, die illegalen Überfahrten über den Ärmelkanal nicht entschieden genug zu bekämpfen. Die etwa 35 Kilometer lange Strecke gilt aufgrund ihres hohen Schiffahrtaufkommens als gefährliche Passage. Immer wieder rettet die französische Küstenwache Personen, die im Ärmelkanal in Not geraten. So wurden am 14. August 38 Menschen, unter ihnen insgesamt zehn Kinder aus Schlauchbooten gerettet, die nördlich der französischen Stadt Sangatte nahe Calais im Wasser trieben. Tags darauf wurden 31 Personen aus nicht seetauglichen Booten aufgenommen. Mitte des Monats verstärkte die britische Regierung die militärische Präsenz von Marine und Luftwaffe im Ärmelkanal. Bereits seit Herbst 2019 gibt es zudem ein Übereinkommen zwischen Frankreich und Großbritannien zur Sicherung der Grenzregion, in dessen Rahmen Großbritannien die französische Grenzschutzpolizei finanziell unterstützt. Der Grenzschutz im Ärmelkanal spielt auch für die zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU eine Rolle. Mit dem Ende einer Übergangsperiode nach dem Brexit verlässt das Land ab 2021 auch das Interner Link: Dublin-Abkommen, das Rückführungen innerhalb der EU regelt. Mehr Geflüchtete in Privatwohnungen: Ergebnisse einer Studie des BAMF Eine Studie des Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) hat die aktuelle Externer Link: Wohnsituation Geflüchteter in Deutschland untersucht. Auf Grundlage einer repräsentativen Befragung kommen die Autorinnen und Autoren zu dem Ergebnis, dass 2018 rund 75 Prozent der in Deutschland lebenden Geflüchteten in Privatwohnungen lebten – 21 Prozentpunkte mehr als noch 2016. Erklärt wird das unter anderem mit der Zahl der neu ankommenden (meist zunächst in Interner Link: Sammelunterkünften untergebrachten) Flüchtlingen, die 2018 deutlich geringer war. Die Studie legt auch offen, dass mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) nach eigenen Angaben bei der Wohnungssuche Hilfe erhielten. Bezüglich der Wohnlage zeigt sich, dass – ähnlich wie in den Vorjahren – rund 72 Prozent der Geflüchteten in Privatwohnungen 2018 in städtischen Regionen lebten. Die befragten Personen lebten in erster Linie in Mehrfamilienhäusern in Haushalten mit durchschnittlich 4,1 Personen und einer Wohnfläche von 28 m² pro Person. (Zum Vergleich: Laut Statistischem Bundesamt standen 2018 in privaten Haushalten in Deutschland im Durchschnitt rund 46 m² pro Person zur Verfügung.) Die durchschnittliche Miete wurde mit 682 Euro beziffert – etwa 13,5 Prozent mehr als drei Jahre zuvor. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Rund 38 Prozent der Befragten mussten bei der Wahl ihres Wohnsitzes Interner Link: behördliche Auflagen berücksichtigen (Residenzpflicht). Besonders hoch war dieser Anteil unter den Geduldteten, von denen nur drei Prozent ihren Wohnort frei wählen konnten. Dies hat Auswirkungen darauf, ob die Menschen in privaten Wohnungen oder Gemeinschaftsunterkünften leben: Nur 30 Prozent derjenigen, deren Wohnsitz Auflagen unterliegt, lebten 2018 in einer Privatwohnung. Was vom Monat übrig blieb… Mitte August ertranken 45 Personen vor der libyschen Küste. 37 weitere Personen konnten gerettet werden. Externer Link: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und die internationale Organisation für Migration (IOM) sprachen vom größten Schiffsunglück vor der libyschen Küste 2020 und kritisierten die rechtliche und logistische Einschränkung der Seenotrettung. Die Wiedereinführung der bayerischen Grenzpolizei im Frühjahr 2018 verstößt in Teilen gegen die Bayerische Landesverfassung. Das hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof Externer Link: Ende August entschieden. Die bayerische Grenzpolizei war durch Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) eingeführt worden und sollte vor allem Zuwanderung kontrollieren. Der Verfassungsgerichtshof dagegen argumentierte, Grenzschutz sei Aufgabe des Bundes, daher dürfe die bayerische Grenzpolizei nur im Rahmen der Amtshilfe für die eigentlich zuständige Bundespolizei agieren. 2019 wurden deutlich mehr Menschen aus Deutschland ausgewiesen als in den Vorjahren. Dies geht aus den Externer Link: Antworten der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage von Abgeordneten der LINKEN hervor. Wurden 2018 insgesamt 7.408 Personen ausgewiesen, waren es 2019 11.081 Ausweisungen. Bei einer Ausweisung wird einer Person ohne deutsche Staatsangehörigkeit der Aufenthaltstitel entzogen – z.B. dann, wenn angenommen wird, dass sie eine Straftat begangen hat. Alle Monatsrückblicke zur Migrationspoltitik finden Sie Interner Link: in unserer Übersicht.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2020-09-10T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/315236/monatsrueckblick-august-2020/
Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa.
[ "Flucht und Asyl", "Migration", "Flüchtlinge", "Asylzahlen", "Seenotrettung", "Großbritannien", "Wohnung", "Landesprogramme", "Landesaufnahmeprogramm", "Thüringen", "Berlin" ]
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bpb:game jam 2023 zum Thema Mobilität und Verkehrswende | Digitale Spiele und politische Bildung | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Interner Link: veranstaltete vom 07. bis 09. Juli 2023 den bpb:game jam. In Wiesbaden kamen etwa vierzig Interessierte zusammen, um gemeinsam Spiele zu entwickeln. Diesmal widmete sich der Game Jam dem Thema Mobilität und Verkehrswende. Die Moderation übernahm die Kultur- und Radio-Journalistin Lara Keilbart. Der bpb:game jam richtet sich im Unterschied zu den meisten anderen Game Jams nicht nur an (professionelle) Spiele-Entwickler/-innen. So waren auch Vertreter/-innen der Bereiche (politische) Bildung, Mobilitätsforschung, Design und Journalismus dabei. Auch hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und der Wohnorte war die Gruppe gut durchmischt. Der Gedanke hinter einem Game Jam ist, dass verschiedene Menschen – häufig aus der Gaming-Branche selbst – zusammenkommen und in einer relativ kurzen Zeit Spiele zu einem vorgegebenen Thema entwickeln. Für gewöhnlich sind Game Jams so aufgebaut, dass ihre Teilnehmenden nach einer kurzen Kennenlernphase direkt mit dem Programmieren, Komponieren, Designen, etc. beginnen können. Beim bpb:game jam sind zusätzlich ein Impulsvortrag und ein Barcamp vorangestellt. Der Mobilitätsforscher Daniel Krajzewicz vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt präsentierte zu Beginn gegenwärtige Debatten und (Zukunfts-)Perspektiven der Mobilitätsforschung. Diese Einblicke dienten als Inspirationen für mögliche Themenzugänge. In einem sogenannten Barcamp brainstormten die Teilnehmenden anschließend Themenschwerpunkte und erste Spielideen. Dadurch entstand ein lebhafter Austausch, aus dem viele Ansätze hervorgingen, die später ihren Weg in die entwickelten Spiele fanden. In einem Kurzvortrag führte bpb-Referent Matthias Engel zusätzlich in Grundsätze der politischen Bildung ein. Von Freitagabend bis Sonntagmorgen setzten die Gruppen eine große Bandbreite teils sehr unterschiedlicher Spieleideen in die Tat um. So war von Deckbuilder und Walking Simulator über Endlessrunner und Visual Novel bis hin zu einem analogen Brettspiel ein breites Spektrum an Genres vertreten. Auch wählten die Gruppen sehr verschiedene Themenschwerpunkte. Während sich einige Gruppen vor allem auf kommunale Verkehrspolitik fokussierten, befassten sich andere mit dem Spannungsfeld von CO2-Emissionen und Effizienz der verschiedenen Mobilitätsformen. Wieder anderen Gruppen ging es darum, die fortwährenden Probleme bei der Deutschen Bahn zu persiflieren oder die Stadt-Land-Diskrepanz in der Versorgung mit öffentlichem Nahverkehr zu thematisieren. Insgesamt wurden elf Spiele entwickelt, die am dritten Tag von den jeweiligen Gruppen präsentiert wurden. Nach einer Testphase, in der die Teilnehmenden die Spiele ausprobieren konnten, folgte eine Abstimmung über die Indie-Spiele-Plattform itch.io, in der ermittelt wurde, welches der entwickelten Spiele den Teilnehmenden am besten gefallen hat. Den ersten Platz des bpb:game jams 2023 belegte die Visual Novel „Emmas kleiner Lieferservice“. Herzlichen Glückwunsch! Alle Spiele finden Sie im Folgenden. Die Rechte an den Spielen liegen bei den Entwicklerinnen und Entwicklern. Spiele der bpb:games jam 2023
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-08-02T00:00:00
2023-07-28T00:00:00
2023-08-02T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/games/523676/bpb-game-jam-2023-zum-thema-mobilitaet-und-verkehrswende/
Vom 07.-09.07.2023 fand wieder der bpb:game jam statt. Knapp 40 begeisterte Menschen mit den verschiedensten Hintergründen versammelten sich in Wiesbaden, um Spiele zu den Themen Mobilität und Verkehrswende zu entwickeln. Die dabei entstandenen Ergeb
[ "Mobilität", "Verkehrswende", "Digitale Spiele", "Games", "games jam" ]
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Editorial | Ökologische Gerechtigkeit | bpb.de
In einem Bericht des Pentagons wird nicht der internationale Terrorismus als größte sicherheitspolitische Bedrohung genannt, sondern der globale Klimawandel. Auch der amerikanische Naturwissenschaftler Jared Diamond hat in seinem aufsehenerregenden Buch "Kollaps" nicht etwa Kriege, sondern den Klimawandel, Umweltschäden und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen für den Untergang ganzer Völker verantwortlich gemacht. Mit der Verschärfung der globalen Umweltkrisen stellt sich auch die Gerechtigkeitsfrage mit neuer Dringlichkeit. Wenn über Gerechtigkeit gesprochen wird, geschieht das meist im Zusammenhang mit Verteilungs- und Chancengerechtigkeit. Aber wer spricht über Gerechtigkeit mit Blick auf Umweltgifte, Abgasnormen für Autos oder Heizungstypen? Die Kritik an unserer ressourcenverschwendenden Lebensweise nimmt zu. Da die Ressourcen knapper werden, soll der Naturverbrauch mehr kosten. Wer viel verbraucht, soll auch mehr zahlen - das ist gerecht und eine sinnvolle Lenkungsmaßnahme. Erst der von Menschen verursachte Klimawandel hat Fragen der ökologischen Gerechtigkeit an die Spitze der politischen Agenda gesetzt. Denn vor allem die Staaten des Nordens verursachen die fortschreitende Umweltzerstörung - während die Staaten des Südens und alle späteren Generationen stärker unter den Folgen leiden. Wenn Ressourcen knapp werden, bekommen das die sozial Schwächsten zuerst zu spüren. Wie geht unsere Gesellschaft mit diesem Unrecht um, das sie verursacht - aber (noch) nicht verantwortet? Könnte ein Ausweg aus der Krise in der Transformation von Nachhaltigkeit in einklagbare Prinzipien ökologischer Gerechtigkeit liegen?
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Watzal, Ludwig
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30427/editorial/
Wenn über Gerechtigkeit gesprochen wird, geschieht das meist im Zusammenhang mit Verteilungs- und Chancengerechtigkeit. Erst der von Menschen verursachte Klimawandels hat Fragen der ökologischen Gerechtigkeit an die Spitze der politischen Agenda gese
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Folgerungen für die Politik: Frauen im rechtsextremen Spektrum | Rechtsextremismus | bpb.de
Rechte Zuhörerin bei einer NPD-Veranstaltung in Berlin 2006. (© H.Kulick) Rechtsextremismus wird meist mit gewalttätigen Männern in Verbindung gebracht. Doch die scheinbar männerdominierte Szene verfügt über einen nicht zu unterschätzenden, wachsenden Anteil an weiblichen Mitgliedern. Die Gewaltbereitschaft ist bei den Kameradinnen nicht so hoch wie bei den Männern, allerdings fallen sie stark durch Propagandadelikte auf und agieren im Hintergrund. Was häufig verkannt bleibt: Frauen sind für rechtsextreme Einstellungen nicht weniger anfällig als Männer. Ich halte einen Dialog darüber für notwendig. Dieser Beitrag soll zu einer solchen Debatte anregen. Die Politik muss Antworten darauf finden, dass Frauen sich von rechtsextremen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Gedankeninhalten angesprochen fühlen. Im Folgenden werden deshalb aktuelle Entwicklungen im rechtsextremen Spektrum geschlechterspezifisch beschrieben. Das rechtsextreme Frauenbild Im ihrem Parteiprogramm von 2005 befürwortet die NPD zwar eine Frauenpolitik, die den "Frauen und Mädchen volle Gleichberechtigung einräumt", doch sollte die Frau nicht "aus finanziellen Gründen außerhäuslich arbeiten müssen, da der Beruf in der Familie sie voll auslastet".(1). Das rückwärtsgewandte Frauenbild wurde insbesondere durch die Formulierungen von NPD-Spitzenkandidat Pastörs nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern deutlich, der ausführte, seine Frau habe ihn so hervorragend bekocht, seine Wäsche gewaschen und ihm geholfen, die Kraft aufzubringen, dass er diesen Wahlkampf überstehen konnte. Später sagt er noch, es seien diese "stillen, treuen, schaffenden Frauen", die der NPD so gut täten.(2) In der Praxis der Kameradschaftskreise zeigt sich oft, dass Frauen, obwohl sie dafür kämpfen, nicht als gleichrangig akzeptiert werden. Berichten von Aussteigerinnen zufolge werden Frauen bei Sauforgien unter den Kameraden regelrecht "weitergereicht". Ein Teil der Frauen passt sich auch den Männern und deren Aggressionen an. (3) Auf der anderen Seite wehrt sich ein Großteil rechtsradikaler Anhängerinnen gegen eine untergeordnete Rolle. Eva Braun, die stille Frau an Hitlers Seite, ist für viele junge Frauen in der Nazi-Szene längst kein Vorbild mehr. Sie wollen nicht "nur Freundin eines Neonazis sein", sondern selbst als aktive Kämpferin gesehen werden. So klagt beispielsweise eine Aktivistin der Mädelschar Deutschland in der Postille Feuer und Sturm, dass es um das Frauenbild in der Bewegung nicht gerade gut bestellt sei. Weiter schreibt sie, die rechte Szene sei eine reine Männerdomäne, in der sich Frauen nur schwer behaupten könnten.(4) Das Auftreten rechtsextremer Frauen ist sehr unterschiedlich. In der NPD treten Frauen tendenziell eher traditionell, in einer Frauenrolle der Mutter, in der freien Kameradschaftsszene eher modern und auch emanzipierter auf. Eine allgemeine Regel lässt sich daraus allerdings nicht ableiten. Der rechtsextreme Frauenanteil Rechtsextreme Demonstrantinnen einer freien Kameradschaft in Arnstadt 2006. (© H.Kulick) Wissenschaftlich belastbare, nachprüfbare Zahlen über die qualitative und quantitative Partizipation von Frauen in der rechtsextremen Szene existieren kaum. Geschlechtsspezifische Analysen gehören bisher nicht zu den Prioritäten der Rechtsextremismus-Forschung. Sofern vorhanden, handelt es sich um Schätzungen, die deutlich voneinander abweichen. Der Vergleich verschiedener Messungen ergibt einen Frauenanteil zwischen 10 und 20 Prozent. Die NPD verfügt beispielsweise auf ihren Funktionärsebenen (Landes- und Bundesvorstand) über einen Frauenanteil von knapp neun Prozent (5). Der Verfassungsschutz schätzt den Anteil der Frauen in der Kameradschaftsszene auf 10 Prozent. In Bayern ist er auf 16 Prozent gestiegen, in Niedersachsen geht man von 20 und in Thüringen von fast 30 Prozent aus.(6) Frauen betätigen sich überwiegend auf der Organisationsebene im Hintergrund, führen beispielsweise die Kassen, verwalten Adressen und verschicken Propagandamaterial. Zu den eigentlichen Führungskadern der "Freien Kameradschaften" gehören nur sehr wenige Frauen. Frauen sind ebenso wie Männer in verschiedenen Bereichen des Rechtsextremismus aktiv. Neuere Forschungsergebnisse weisen einen Anteil von Mädchen und Frauen an rechtsextrem bzw. fremdenfeindlich motivierten Straf- und Gewalttaten von 5 bis 10 Prozent aus. Rassistische und rechtsextreme Einstellungen gibt es laut Analyse des "Thüringen Monitors" bei 28 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer.(7) Bei Propagandadelikten sind Frauen anteilsmäßig öfter an Volksverhetzungen beteiligt als Männer. Es wird vermutet, dass die WählerInnenschaft rechtsextremer Parteien sich durchschnittlich zu einem Drittel aus Frauen und zwei Dritteln aus Männern zusammensetzt (8). In manchen Regionen stellen sie sogar die Hälfte aller WählerInnen. Durch das wachsende Engagement von Frauen im rechtsextremen Milieu verankern sich auch rechte Männer stärker in der Szene, und es kommt zur Gründung von "nationalen Familien". Während früher Familiengründung bei Männern häufig die Bereitschaft zum Ausstieg verstärkt hat, werden sie heute zunehmend durch Bindung an rechte Frauen fester in der Szene gehalten. Das bedeutet, dass Frauen aktiv zur Verfestigung und zum Ausbau von Neonazi-Strukturen beitragen. Organisationsgrad von Frauen in der rechtsextremen Szene Seit Ende der 90er Jahre steigt die Zahl rechtsextremer Frauengruppen. Meist gründen sich so genannte "Mädelgruppen" als Sektion oder Arbeitsgruppe regionaler Kameradschaften. Selbstständig organisierte Frauengruppen sind die Ausnahme. 1999 wurde von "Nationalen Aktivistinnen" die Mädelschar Deutschland gegründet, die sich allerdings später in den etwas bescheideneren Arbeitskreis Mädelschar umbenannte. Die Website des Arbeitskreis Mädelschar ist auch nur über die Website des Widerstand Nord zu erreichen. Das bekannteste Frauenmagazin in der rechtsextremen Szene ist die "Triskele" (die Triskele ist ein heidnisches Symbol und ähnelt in eckiger Form einem dreiarmigen Hakenkreuz). Es erscheint seit 2000 vierteljährlich als Hochglanz-Heft und wurde früher über den ehemaligen Skingirl-Freundeskreis Deutschland, heute über ein Postfach in Essen, vertrieben. Zwischen den Frauen in Ost und West gibt es auch kleine Unterschiede. So werden Frauen in Westdeutschland eher in einer rechtsextremen Szene aktiv, in der ein traditionelles Frauenbild vorherrscht, wohingegen die Frauen in den neuen Bundesländern auch den Anspruch haben, politischen Einfluss (u.a. in der NPD) zu gewinnen. Ostdeutsche Frauen sind auch viel stärker durch einen Anti-Globalisierungskurs geprägt. Als Ursache hierfür wird die stärkere Emanzipation der Frauen im Osten genannt.(9) Trotz einiger Bemühungen ist es noch nicht zur Gründung einer bundesweit agierenden Frauenorganisation gekommen. Die bislang namhaftesten Frauen-Gruppierungen in der rechtsextremen Szene waren: ÜbersichtEinige rechtsextreme Frauenorganisationen Skingirl-Freundeskreis Deutschland (SFD) Die NPD-nahe Organisation SFD bestand neun Jahre und war damit die älteste in der Bundesrepublik. Sie kämpfte für die Gleichstellung von Mann und Frau unter dem Dogma der "homogenen Volksgemeinschaft" und wollte den Zusammenhalt zwischen den Nationalistinnen fördern. Im Jahr 2000 löste sich der SFD auf, um möglichen Repressionen wegen des NPD-Verbotsverfahrens aus dem Weg zu gehen. Die meisten Mitglieder integrierten sich danach in andere rechtsextreme Frauenorganisationen. Das Braune Kreuz Das Braune Kreuz ist keine reine Frauengruppe, trotzdem geben dort Frauen den Ton an. Es ist 1998 aus dem Umfeld des SFD, durch Cathleen Crewe, entstanden und kümmert sich um die medizinische Erstversorgung auf Demonstrationen. Das Braune Kreuz wird von vielen Neonazi-Frauen unterstützt, so auch von Christiane Dolscheid, der Betreiberin des Nazi-Zentrums "Club 88" in Neumünster. Fränkische Aktionsfront (FAF) Die Frauen in der 2004 verbotenen FAF aus Nürnberg zeigten ihre politischkämpferische Haltung sehr deutlich. Ihnen ging es nicht nur um Themen wie Mutterschaft, Abtreibung, Kinder und Familie, sondern auch um Themen, die in den Augen rechtsextremer Männer als ebenso relevant gelten. Arbeitskreis Mädelschar des Widerstand Nord Dieser Arbeitskreis wurde 1999 von Inge Nottelmann gegründet und ist im engeren Umfeld der "Freien Nationalisten" in Hamburg aktiv. Mädelring Thüringen Die Frauen um die Meininger Aktivistin Yvonne Mädel wollen die politische Bildung vorantreiben. Das oberste Ziel ist allerdings "unser Volk" nicht aussterben zu lassen. Mädelgruppe der Kameradschaft Tor, Berlin Die Mädelgruppe und der Mädelring Thüringen gehörten zu den Aktivsten in der Bundesrepublik. Nach Hausdurchsuchungen 2005 wurde die Mädelgruppe der Kameradschaft Tor vom Innenminister Berlins wegen "verfassungsfeindlicher Ziele" verboten. Aktive Frauen Fraktion (AFF), Baden Württemberg Diese Organisation wurde von Isabell Pohl gegründet. Sie organisiert Treffen des rechtsextremen Wikinger-Forums und Skinheadkonzerte mit der Kameradschaft Schwaben. Aus den Einnahmen, die auf Pohls Konto fließen, wird angeblich auch die Band Race War (Rassenkrieg) unterstützt. Ermittlungsbehörden werfen der AFF "Aufruf zum Krieg und Volksverhetzung" vor. Freier Mädelbund (FMB) Die 1999 gegründete Vereinigung, mit Postfachadresse in Bad Gandersheim (Niedersachsen), arbeitet eng mit der Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene in Mainz zusammen. Beide widmen sich besonders der Betreuung von inhaftierten Neonazis und deren Angehörigen. Gemeinschaft deutscher Frauen (GdF) Die in Berlin ansässige GDF richtet sich an politisch interessierte Mütter und "junge unerfahrene Mädels". Sie vertritt ein rückwärtsgewandtes Frauenbild und sieht die zentrale Rolle der Frau im Kinderkriegen/ -erziehen und in der Unterstützung des Mannes. Die GdF unterhält enge Kontakte zur NPD und JN, ist aber nicht parteigebunden. Mitte September 2006 wurde in Sachsen-Anhalt darüber hinaus mit dem ''Ring Nationaler Frauen'' (RNF) die erste NPD-Frauenorganisation gegründet. Gitta Schüßler, MdL in Sachsen, hat deren Vorsitz übernommen und strebt mit dem RNF die weitere Vernetzung und einen Dachverband für nationale Frauengruppen an. Ihren Schwerpunkt hat die RNF bisher in den neuen Bundesländern. Die NPD wird über ihre Frauenorganisation versuchen, ihr Frauenbild, zumindest gegenüber der Öffentlichkeit, zu modernisieren. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass es künftig auch intern eine stärkere Auseinandersetzung über das Frauenbild innerhalb der rechtsextremen Szene geben wird. Was ist nun aus all dem zu folgern? Folgerungen: Herausforderungen für unsere Gesellschaft Angesichts der beschriebenen Entwicklungen müssen wir uns fragen, welche Angebote Politik und Gesellschaft machen können. Ich halte für den Umgang mit der Problematik folgende Ansätze für wichtig: Neonazi-Mädchen und -Frauen müssen als politisch handelnde Akteurinnen und nicht als eher harmlose, unpolitische Mitläuferinnen wahrgenommen werden. Die Forschung zum Rechtsextremismus muss den Genderansatz integrieren. Zum Umgang mit Kindern aus "nationalen Familien" müssen spezielle pädagogische Ansätze entwickelt werden. Dabei sind die von Neonazi Thomas Wulff vorangetriebenen "Siedlungsbewegungen" mit zu beachten, durch die in strukturschwachen Gebieten Neonazi-Familien oft das kulturelle und politische Klima erheblich prägen. Die Jugendarbeit vor Ort muss verstärkt werden. Mädchen, aber auch Jungen, brauchen mehr Angebote und AnsprechpartnerInnen. Dazu brauchen die Jugendlichen auch Räume, in denen eine vertrauensvolle Ansprache überhaupt erst möglich wird. Es müssen spezifische und auf die aktuellen Entwicklungen in der Neonazi-Szene zugeschnittene Angebote für Mädchen und Frauen entwickelt und unterbreitet werden. In Kitas und Schulen müssen von Anfang an Demokratie und Menschenrechte gelehrt und gelebt werden. Die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Ideologien auch unter Genderaspekten muss in die Lehrpläne pädagogischer Studienrichtungen integriert werden. Frauen und Kinder müssen vor häuslicher Gewalt, die bei Paaren aus der Neonazi-Szene keine Seltenheit zu sein scheint, besser geschützt werden. Wir brauchen speziell auf Frauen abgestimmte Ausstiegsprogramme. Gewaltschutz für die Frauen – und ggf. ihre Kinder - muss ein Aspekt dieser Programme sein. Für Angestellte von Kommunalverwaltungen, Polizeibehörden und BürgerInnenämtern müssen Fortbildungsprogramme mit Informationen über die Neonazi-Szene angeboten werden. Initiativen vor Ort müssen von PolitikerInnen auf Bundes- Länder- und Kommunalebene ideell und materiell ausreichend unterstützt werden. Ich denke, die bestehenden Bundesprogramme müssen wieder stärker zivilgesellschaftlich ausgerichtet werden, damit Initiativen vor Ort problemspezifisch und ohne bürokratische Hürden forschen, beraten und helfen können. Im Vordergrund aller Strategien muss die Prävention stehen. Angebote sollten sich ebenso an Nazi-AnhängerInnen richten wie an Jugendliche, die sich ambivalent gegenüber rechtsextremen Angeboten verhalten, aber noch nicht in die rechte Szene integriert sind. Und an Kinder, die drohen, in die rechtsextreme Szene hineinzuwachsen. Aufklärungsarbeit ist dabei ein ganz wesentlicher Baustein. Die pädagogischen Angebote müssen dazu geeignet sein, politische Gegenpositionen zum Rechtsextremismus zu stärken. Jugendliche brauchen Unterstützung, um sich nicht als AußenseiterInnen (im rechten Mainstream) zu verstehen. Fußnoten: (1) Auszug aus dem Parteiprogramm der NPD. Kapitel 2, Grundlage unseres Volkes ist die deutsche Familie, Stand: 9.11.2005: "Die Leistung der Hausfrau und Mutter ist mit keiner Arbeitsleistung anderer Berufe zu vergleichen. Ihr gebührt ein nach Anzahl der Kinder gestaffeltes Hausfrauen- und Müttergehalt, das ihrer vielseitigen Tätigkeit und Verantwortung entspricht. Sie sollte nicht aus finanziellen Gründen außerhäuslich arbeiten müssen, da der Beruf in der Familie sie voll auslastet. Ihre Altersrente ist zu sichern. Dies gilt alternativ auch für alleinerziehende Väter. Die NPD befürwortet eine Frauenpolitik, die den Frauen und Mädchen volle Gleichberechtigung einräumt. Die Leistungen der Frauen am Wiederaufbau unseres Landes nach 1945 sind zu würdigen." (2) Süddeutsche Zeitung, 19.09.2006 (3) Vgl. KÖTTIG, Michaela: Mädchen und junge Frauen aus dem rechtsextremen Milieu. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 1. Aufl., Heft 56/57, 2001, S. 103 – 116. (4) Vgl. RÖPKE, Andrea, SPEIT, Andreas (Hrsg.), Braune Kameradschaften. Die militanten Neonazis im Schatten der NPD. 2., aktualisierte Aufl., Berlin, 2005, S. 88. (5) berechnet aus Information des Bundeswahlleiters zur NPD, Stand: 09.11.2005, , Nationaldemokratische Partei Deutschlands, NPD, Externer Link: www.bundeswahlleiter.de (6) Vgl. RÖPKE, SPEIT, a.a.O., S. 88 (7) Vgl. EDINGER, Michael, HALLERMANN, Andreas, SCHMITT, Karl: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. 1990 bis 2005: Das vereinigte Deutschland im Urteil der Thüringer. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2005 Externer Link: http://www.thueringen.de (8) Vgl. KÖTTIG, Michaela: Die Rolle von Mädchen und jungen Frauen in rechtsextremen Jugendcliquen. Politische Orientierungsmuster und Umgang mit Gewalt. In: Arbeitskreis Mädchen und Rechtsextremismus: Rechte Mädchen - was tun?. Dokumentation der Fachtagung "Mädchen und Rechtsextremismus", Sendenhorst Erdnuß Druck, 2002, S. 6 -14, zit. nach N.N.: Männer/Frauen: Rechtsextremismus - (k)ein Frauenphänomen?, s. unter Externer Link: http://www.ida-nrw.de (9) Vgl. BÜTTNER, Frauke: Zwischen Tradition und Rebellion – Zur Bedeutung von Frauen in der rechten Szene und den Selbstbildern der Akteurinnen. Vortrag bei Friedrich-Ebert-Stiftung, 25./26.09.2006 Literaturempfehlungen zu Frauen in der rechtsextremen Szene: Antifaschistisches Frauennetzwerk, Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus (Hrsg.): Braune Schwestern? Feministische Analysen zu Frauen in der extremen Rechten. Unrast Verlag, Münster, 2005 KÖTTIG, Michaela: Die Rolle von Mädchen und jungen Frauen in rechtsextremen Jugendcliquen. Politische Orientierungsmuster und Umgang mit Gewalt. In: Arbeitskreis Mädchen und Rechtsextremismus: Rechte Mädchen - was tun?. Dokumentation der Fachtagung "Mädchen und Rechtsextremismus", Sendenhorst Erdnuß Druck, 2002, S. 6-14 KÖTTIG, Michaela: Mädchen und junge Frauen aus dem rechtsextremen Milieu. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis. 1. Aufl., Heft 56/57, S. 103 – 116 ROMMELSPACHER, Birgit: Der Hass hat uns geeint. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Frankfurt am Main [u.a.], Campus-Verlag, 2006 RÖPKE, Andrea, SPEIT, Andreas (Hrsg.): Braune Kameradschaften. Die militanten Neonazis im Schatten der NPD. 2., aktualisierte Aufl., Berlin, 2005 RÖPKE, Andrea: "Retterin der weißen Rasse". Rechtsextreme Frauen zwischen Straßenkampf und Mutterrolle. 1. Aufl., Braunschweig, 2005 Berlin, 26. Juni 2007 Downloadmaterialien: Prof. Gudrun Ehlert, Hochschule Mittweida: ''Frauen und Mädchen in der rechten Szene, Erfahrungen von Sozialarbeitern aus Sachsen'', Präsentationsmaterialien http://www.gruene-bundestag.de/cms/frauen/dokbin/188/188627.pdf Kirsten Döring und Reno Kenzo: Mädchen und Frauen im Rechtsextremismus. Handout für Fachgespräch der GRÜNEN im Bundestag vom Juni 2007 http://www.gruene-bundestag.de/cms/frauen/dokbin/188/188632.pdf Rechte Zuhörerin bei einer NPD-Veranstaltung in Berlin 2006. (© H.Kulick) Rechtsextreme Demonstrantinnen einer freien Kameradschaft in Arnstadt 2006. (© H.Kulick) Skingirl-Freundeskreis Deutschland (SFD) Die NPD-nahe Organisation SFD bestand neun Jahre und war damit die älteste in der Bundesrepublik. Sie kämpfte für die Gleichstellung von Mann und Frau unter dem Dogma der "homogenen Volksgemeinschaft" und wollte den Zusammenhalt zwischen den Nationalistinnen fördern. Im Jahr 2000 löste sich der SFD auf, um möglichen Repressionen wegen des NPD-Verbotsverfahrens aus dem Weg zu gehen. Die meisten Mitglieder integrierten sich danach in andere rechtsextreme Frauenorganisationen. Das Braune Kreuz Das Braune Kreuz ist keine reine Frauengruppe, trotzdem geben dort Frauen den Ton an. Es ist 1998 aus dem Umfeld des SFD, durch Cathleen Crewe, entstanden und kümmert sich um die medizinische Erstversorgung auf Demonstrationen. Das Braune Kreuz wird von vielen Neonazi-Frauen unterstützt, so auch von Christiane Dolscheid, der Betreiberin des Nazi-Zentrums "Club 88" in Neumünster. Fränkische Aktionsfront (FAF) Die Frauen in der 2004 verbotenen FAF aus Nürnberg zeigten ihre politischkämpferische Haltung sehr deutlich. Ihnen ging es nicht nur um Themen wie Mutterschaft, Abtreibung, Kinder und Familie, sondern auch um Themen, die in den Augen rechtsextremer Männer als ebenso relevant gelten. Arbeitskreis Mädelschar des Widerstand Nord Dieser Arbeitskreis wurde 1999 von Inge Nottelmann gegründet und ist im engeren Umfeld der "Freien Nationalisten" in Hamburg aktiv. Mädelring Thüringen Die Frauen um die Meininger Aktivistin Yvonne Mädel wollen die politische Bildung vorantreiben. Das oberste Ziel ist allerdings "unser Volk" nicht aussterben zu lassen. Mädelgruppe der Kameradschaft Tor, Berlin Die Mädelgruppe und der Mädelring Thüringen gehörten zu den Aktivsten in der Bundesrepublik. Nach Hausdurchsuchungen 2005 wurde die Mädelgruppe der Kameradschaft Tor vom Innenminister Berlins wegen "verfassungsfeindlicher Ziele" verboten. Aktive Frauen Fraktion (AFF), Baden Württemberg Diese Organisation wurde von Isabell Pohl gegründet. Sie organisiert Treffen des rechtsextremen Wikinger-Forums und Skinheadkonzerte mit der Kameradschaft Schwaben. Aus den Einnahmen, die auf Pohls Konto fließen, wird angeblich auch die Band Race War (Rassenkrieg) unterstützt. Ermittlungsbehörden werfen der AFF "Aufruf zum Krieg und Volksverhetzung" vor. Freier Mädelbund (FMB) Die 1999 gegründete Vereinigung, mit Postfachadresse in Bad Gandersheim (Niedersachsen), arbeitet eng mit der Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene in Mainz zusammen. Beide widmen sich besonders der Betreuung von inhaftierten Neonazis und deren Angehörigen. Gemeinschaft deutscher Frauen (GdF) Die in Berlin ansässige GDF richtet sich an politisch interessierte Mütter und "junge unerfahrene Mädels". Sie vertritt ein rückwärtsgewandtes Frauenbild und sieht die zentrale Rolle der Frau im Kinderkriegen/ -erziehen und in der Unterstützung des Mannes. Die GdF unterhält enge Kontakte zur NPD und JN, ist aber nicht parteigebunden.
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Von Monika Lazar
2021-06-23T00:00:00
2011-11-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/41511/folgerungen-fuer-die-politik-frauen-im-rechtsextremen-spektrum/
Die Politik muss Antworten darauf finden, dass Frauen sich von rechtsextremen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Gedankeninhalten angesprochen fühlen. Thesen von Monika Lazar.
[ "Rechtsextremismus", "NPD", "Frauen", "Frauenpolitik", "Frauenrolle" ]
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Die Wolga | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Bitte klicken Sie auf das Bild, um die interaktive Karte zu öffnen. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-02-07T00:00:00
2015-07-24T00:00:00
2022-02-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/210090/die-wolga/
Mit einer Länge von 3530 Kilometern ist die Wolga der größte Strom Europas. Und sie ist ein Mythos, hervorgebracht in zahlreichen Liedern oder Gemälden wie von Ilja Repin über die Wolgatreidler. Bevor die Wolga im 16. Jahrhundert zum Strom des Russis
[ "Umsiedlung", "Russland", "Wolga", "Stalin", "Handel", "Europa", "Wolgadeutsche", "Vertreibung", "Vertreibung der Deutschen", "Katharina die Große", "Unesco Weltkulturerbe", "Jaroslawl", "Wolgograd", "Stalingrad", "Historische deutsche Siedlungsgebiete" ]
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Bei Hilfebedürftigkeit: Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung | Rentenpolitik | bpb.de
Rentnerin mit Hund. Die Höhe der Grundsicherung richtet sich nicht nach der Stellung im Erwerbssystem, sondern soll das sozial-kulturelle Existenzminimum abdecken. Ein Haustier gehört leider in der Regel nicht dazu. (© picture-alliance/dpa) Anspruchsberechtigt auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sind zum einen ältere Menschen ab Erreichen der Regelaltersgrenze der Gesetzlichen Rentenversicherung. Der Anspruch auf eine Rente ist dabei nicht entscheidend. Zum anderen können dauerhaft voll Erwerbsgeminderte, das sind Personen mit dem vollendeten 18. Lebensjahr, die wegen Krankheit oder Behinderung dauerhaft außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, eine Leistung erhalten. Der Anspruch auf Grundsicherung ist nicht daran gebunden, ob die sonstigen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente (Wartezeit) erfüllt sind. Bedürftigkeitsprüfung Anspruch auf Grundsicherung besteht unabhängig von einer Vorleistung oder von den Ursachen, aber erst dann, wenn das anzurechnenden Einkommen und das verwertbare Vermögen nicht ausreichen, um das soziokulturelle Existenzminimum abzudecken. Die Höhe der Grundsicherung richtet sich nicht nach der Stellung im Erwerbssystem, sondern soll das sozial-kulturelle Existenzminimum abdecken. Sie setzt sich im Wesentlichen aus dem Regelbedarf und den Kosten für Unterkunft und Heizung, sofern diese angemessen sind, zusammen. Die Kosten trägt der Bund. Leistungen: Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft Der gesamte Regelbedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen wird nach Regelsätzen erbracht, also pauschaliert berechnet. Durch die Regelsätze werden die Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens abgegolten. Die Regelsätze gelten einheitlich für ganz Deutschland. Leben Hilfeempfänger nicht allein, sondern mit einem Partner zusammen, wird dies bei der Festsetzung der Regelsätze berücksichtigt. Die Regelsätze für Haushaltsangehörige sind in Prozentsätzen vom Eckregelsatz, der dem sog. "Haushaltsvorstand“ zusteht, festgelegt. Damit soll berücksichtigt werden, dass mit einem größeren Haushalt Kostenvorteile bei der Haushaltsführung verbunden sind. Die Unterkunftskosten werden, da sie regional sehr unterschiedlich ausfallen, in ihrer tatsächlichen Höhe (Miete und Nebenkosten einschließlich Heizkosten) übernommen. Die Kosten müssen allerdings angemessen sein und dürfen das "vertretbare Maß", üblicherweise orientiert an den Mietobergrenzen nach dem Wohngeldgesetz, nicht überschreiten. Wenn man Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft zusammenfasst, errechnet sich ein Bedarfsniveau von etwa 740 Euro (2017) im Monat. Allerdings: Hier handelt es sich um einen rechnerischen Durchschnitt der Wohnungskosten im gesamten Bundesgebiet. In Städten und Regionen, in denen die Mieten besonders hoch liegen, wird mehr gezahlt, in Städten und Regionen mit einem entspannten Wohnungsmarkt aber auch deutlich weniger. Empfängerzahlen Ende 2017 erhielten knapp 1,1 Millionen Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, darunter befanden sich etwa je zur Hälfte Personen, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, und Personen mit einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung. Zwischen 2003 − seit der Einführung der Grundsicherung − und 2017 hat sich der Empfängerkreis stark erhöht. Die Dynamik des Anstiegs ist bei den voll erwerbsgeminderten BezieherInnen dynamischer im Vergleich zu den BezieherInnen von Grundsicherung im Alter. Auf einen Blick: Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Stand: 2017/2018 Regelbedarf der Grundsicherung 2018 Alleinstehender416 Euro Ehepaar je Person374 Euro Gesamtbedarf einschließlich der bundesdurchschnittlichen Kosten der Unterkunft für eine alleinstehende Person (2017)~ 740 Euro Empfänger von Grundsicherung 2017 im Alter515.000 bei Erwerbsminderung544.000 im Alter in % der Bevölkerung3,1 % Rentnerin mit Hund. Die Höhe der Grundsicherung richtet sich nicht nach der Stellung im Erwerbssystem, sondern soll das sozial-kulturelle Existenzminimum abdecken. Ein Haustier gehört leider in der Regel nicht dazu. (© picture-alliance/dpa)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-07T00:00:00
2019-06-28T00:00:00
2022-01-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/rentenpolitik/293240/bei-hilfebeduerftigkeit-grundsicherung-im-alter-und-bei-erwerbsminderung/
Die Grundsicherung hat einen fürsorgerechtlichen Charakter: Sie hat die Aufgabe eines "letzten sozialen Netzes", ist also "Ausfallbürge" für diejenigen Notlagen, die weder durch eigene oder familiäre (Selbst)Hilfe noch durch vorgelagerte Sozialleistu
[ "Rentenpolitik", "Rente", "Renten", "Alterssicherung", "Sozialstaat", "Reformen", "Vorsorge", "Rentner", "Rentnerinnen", "Grundsicherung im Alter", "Grundsicherung", "Grundsicherung bei Erwerbsminderung" ]
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Notizen aus Moskau: Überall Politik | Russland-Analysen | bpb.de
Lange war im sowjetischen Russland klar: Politik ist die Teilnahme an der Auseinandersetzung um institutionalisierte Macht. In der Sowjetunion gab es entsprechend keine Politik außerhalb der Partei. Oder besser: Es gab keine erlaubte Politik außerhalb der Partei. Und wer es dennoch versuchte, wurde hart sanktioniert und verschwand meist erst im Lager und dann oft in der erzwungenen Emigration. Das änderte sich mit der Perestroika. Ein kurzer Frühling begann, der so etwa bis zur Parlamentsbeschießung durch Präsident Jelzin im Oktober 1993 dauerte. Solange war Politik hip und frei und sogar ziemlich demokratisch (wenn auch ein wenig chaotisch, aber das ist ja auch mal ganz schön). Russland war plötzlich, politikgeschichtlich, sehr modern. Ab 1993 schieden sich die Sphären – es gab nun "politische" Politik (russisch: "polititscheskaja" politika), also den meist, wenn auch nicht nur in Parteien organisierten Kampf um politische Macht, und "zivilgesellschaftliche" oder "staatsbürgerliche" Politik" (russisch: "graschdanskaja" politika). Diese Unterscheidung hat ihren Grund. Die Ausweitung "des Politischen" in alle Lebensbereiche, im Westen eng mit ’68, dem Aufkommen der Bürgerinitiativbewegungen und dem Prozess einer Enthierarchisierung der Machtverhältnisse zwischen Staat/Gesellschaft und Individuum und Mann und Frau verbunden, hat in Russland (wie in weiten Teilen Osteuropas) so richtig erst nach dem Ende der Sowjetunion Fahrt aufgenommen. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nannte diese Ausweitung der Legitimität politischen Engagements jenseits der auch im Westen vom Staat kontrollierten Institutionen schon 1962 in seiner Dissertation einen "Strukturwandel der Öffentlichkeit". Im Westen wurde mit diesem "Strukturwandel" der Politikbegriff erheblich erweitert. Politisch waren nun auch zuvor "private Angelegenheiten" wie zum Beispiel Gewalt in der Ehe oder Familie. Und nach und nach wurde es so auch legitim (im Gegensatz zu legal, was es immer schon war), ohne Vermittlung durch politische Parteien und staatliche Institutionen für seine Rechte einzutreten. Später nannte man diese neue entstandene Sphäre, "Politik zu machen", ohne Politiker zu werden Zivilgesellschaft (eigentlich ein kleines deutsches Missverständnis, da das originär englische "Civil Society" wörtlich übersetzt "bürgerliche Gesellschaft" heißt, ebenso wie das russische "graschdanskoje obschtschestwo"). All diese hochtrabenden Überlegungen waren den allermeisten nicht-staatlichen Akteuren in Politik und Gesellschaft natürlich nicht bewusst. Sie nahmen sich einfach diese Freiheit, weil sie, zu Recht, ein Recht darauf beanspruchten, das eigene Schicksal und das ihrer Gesellschaften mit zu bestimmen. Die Phase der Unschuld endete Mitte der 1990er Jahre – nach der Parlamentsbeschießung, dem Tschetschenienkrieg 1994 und der manipulierten Wiederwahl von Jelzin 1996, die den Oligarchen-Staat während Jelzins zweiter Amtszeit schuf. "Politik" trennte sich im Bewusstsein der meisten Menschen erneut scharf von "gesellschaftlichem Engagement". Erstere war dreckig, korrupt, gefährlich, moralisch anrüchig. Letzteres wohltätig, hatte eine gewisse Würde, war aber zunehmend marginal. "Ich/Wir machen keine Politik" wurde zum Mantra der Engagierten, mit dem sie ebenso Zustimmung bei der Bevölkerung zu erlangen wie den Regierenden zu signalisieren versuchten, sie seien keine Gefahr für deren Macht. Wladimir Putin hat dieses Verhältnis dann in seiner erst "gelenkt", später "souverän" genannten Demokratie formalisiert. Er machte sich schnell, wie schon kurz nach seinem Amtsantritt geschrieben wurde, zum "einzigen Politiker Russlands" (also ganz im Sinne von Carl Schmitt, nach dem souverän nur ist, wer ohne andere zu fragen entscheiden kann). Die Sphären "Politik" und "gesellschaftliches Engagement" waren erneut streng getrennt. "Politik" war ausschließlich Sache des Kremls. Wer das nicht einsah, wurde marginalisiert oder vernichtet (oder, Tradition muss sein, verschwand auch wieder, wie Michail Chodorkowskij, im Arbeitslager). Gleichzeitig wurde "gesellschaftliches Engagement" ohne ausgesprochenen (im Wortsinn!) politischen Anspruch sozusagen staatlich lizensiert. Eine beim Justizministerium registrierte Menschenrechts-NGO durfte sich um Menschenrechte kümmern, eine ökologische NGO um die Umwelt und ein soziologisches Forschungsinstitut durfte Meinungsumfragen machen. Kurz: Experten durften sich als "Experten" zu ihren Fachgebieten äußern. Über spezielle Beratungsgremien, den (Bei-)Räten und Kommissionen beim Präsidenten, bei der Regierung, beim Ministerium X, beim Gouverneur Y, der Polizei oder dem Bürgermeister wurden so viele NGOs einerseits eingebunden, erhielten aber gleichzeitig einen wenn auch begrenzten Einfluss auf Entscheidungsfindungen, und, so dachten die meisten zumindest, einen gewissen Schutz gegen staatliche Repressionen. Ähnliche korporative Strukturen gab und gibt es für nicht-staatliche Wissenschaftseinrichtungen, Think Tanks und Lobbygruppen. Dieses Arrangement schien auf Dauer angelegt, doch die Wiederkehr öffentlicher Massenproteste und damit auch öffentlicher, nicht aus dem einen Zentrum namens Kreml kontrollierter Politik im Winter 2011/2012 änderte alles erneut. Seither ist der Kreml fieberhaft mit Einfangen, Einhegen und Eingrenzen der Politik und ihrer Protagonisten (Subjekte!) beschäftigt. Dem dienen eigentlich all die im vorigen Jahr schnell (und handwerklich schlecht) gestrickten Gesetze: das liberalisierte Parteiengesetz, das verschärfte Verleumdungsgesetz, das verschärfte Gesetz über Landesverrat und das Gesetz zu Internetsperren. Bald wohl auch ein Gesetz zum "Schutz religiöser Gefühle". Aus dieser Reihe ragt in seiner Bedeutung das sogenannte "NGO-Agentengesetz" heraus. In diesem Gesetz wird der Begriff "Politik" von oben herab neu definiert und zwar paradoxerweise nicht einschränkend, sondern umfassend. Alles ist nun Politik und entsprechend findet die Staatsanwaltschaft auch überall Politik: Soziologie ist Politik; Initiativen zum Umweltschutz sind Politik; Einfluss von Juristen und Anwälten auf die Praxis der Rechtsprechung ist Politik; Vorschläge an Kommunalverwaltungen sind Politik; das Monitoring staatlicher Rechtsverletzungen ist Politik. Über 50 verschiedene Tätigkeiten, die von der Staatsanwaltschaft in Bescheiden an NGOs in den vergangenen Wochen als Politik qualifiziert wurden, hat die Kasaner NGO AGORA schon aufgezeichnet. Und die Liste wird weiter wachsen. Bei einem der bisher prominentesten "Agentenopfer", dem Meinungsumfrageinstitut Lewada-Zentrum, liest sich die "Verwarnung" der Staatsanwaltschaft etwa so: Umfragen machen ist in Ordnung, sie aber zu veröffentlichen beeinflusst die öffentliche Meinung und ist damit dem NGO-Agentengesetz" zufolge bei gleichzeitigen Einnahmen aus dem Ausland Politik. Und die ist ohne "Agentenanmeldung" verboten. So wird aus der Ausweitung des Politikbegriffs ein Repressionsinstrument zur Kontrolle von Öffentlichkeit und der Versuch, sich das Politikmonopol zurück zu holen. Nun strebt jeder undemokratische (und mancher demokratische) Staat danach, Informationen zu kontrollieren. Gelungen ist es, zumindest auf längere Sicht, nie. Während die sowjetischen Partei- und Propagandamedien Ende der 1980er Jahre noch die Erfolge des Sozialismus feierten, stellten die gleichen Leute, die heute im Lewada-Zentrum forschen, fest, dass 93 Prozent der Menschen die wirtschaftliche Lage als "ungünstig" und "kritisch" bewerteten. Diese Glasnost, diese Offenheit war sicher nicht ursächlich für das Ende der Sowjetunion. Die Unzufriedenheit war Ergebnis einer verfehlten Politik. Das Umfrageinstitut war nur der Bote, der die schlechte Nachricht überbrachte. Heute versuchen die Machthaber wieder die verbreitete Unzufriedenheit zu bekämpfen, indem sie den Boten erwürgen. Mit dem Lewada-Zentrum, das formal als NGO registriert ist, und weiteren Instituten, wie einer Filiale des staatsnahen Allrussischen Zentrums zur Untersuchung der Öffentlichen Meinung (WZIOM), dem St. Petersburger Zentrum für Unabhängige Sozialforschung oder dem Forschungszentrum "Region" aus Uljanowsk, sind nun neben vielen NGOs auch Institute mit hoher wissenschaftlicher Reputation betroffen. Und siehe da, die Wissenschaftscommunity regt sich. Eine Vereinigung der Umfrageinstitute, eine Assoziation unabhängiger Wirtschaftsforschungsinstitute, eine Vereinigung soziologischer Beratungsunternehmen und andere (viele der Unterzeichner dienen als Auftragnehmer durchaus dem russischen Staat oder beraten ihn auf die eine oder andere Weise) fordern in öffentlichen Erklärungen den Staat auf, die Finger von Lewada und Co. zu lassen (vgl. S. 24–28). Denn die russische Wissenschaft, auch die Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, sind inzwischen längst Teil der internationalen Forschung und kooperieren häufig eng mit ausländischen Partnern. Die Angst geht um, dass die Attacke des Staats sich nicht allein auf NGOs beschränken wird. Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-06-03T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/162361/notizen-aus-moskau-ueberall-politik/
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Wir haben Brücke zu sein | AV-Medienkatalog | bpb.de
Buch: Ekkehard Kuhn, Georg Stingl Produktion: IFAGE im Auftrag des ZDF, Bundesrepublik Deutschland 1988 Format: 37 Min. - VHS-Video - s/w Stichworte: Biographie - Geschichte - Gewerkschaft - Nationalsozialismus - Parlamentarismus - Widerstand FSK: 6 Jahre Kategorie: Dokumentarfilm Inhalt: Porträt des CDU-Politikers Jakob Kaiser (1888-1961) von seinen gewerkschaftlichen Aktivitäten in der Weimarer Zeit bis hin zu seiner Tätigkeit als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen unter Adenauer. Das Porträt wird ergänzt durch Aussagen von Zeitzeugen und politischen Weggefährten Jakob Kaisers. Der Film folgt in seiner chronologischen Struktur der Biographie Jakob Kaisers. Sequenzen mit entsprechenden Titeleinblendungen verdeutlichen die entscheidenden Lebensstationen Kaisers, der neben Adenauer die Grundlagen der Deutschlandpolitik nach 1945 mitbeeinflußte. Die Dokumentation stellt dabei die unterschiedlichen Positionen beider Politiker heraus: Kaiser vertrat den Wunsch nach einem geeinten Deutschland, das seinen eigenen Weg zwischen Ost und West beschreiten sollte, Adenauer strebte die Westeinbindung an, die auch Konzessionen an die westlichen Siegermächte nicht ausschloß. Der Film ist ohne Erarbeitung spezieller Vorkenntnisse einsetzbar.
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2021-06-23T00:00:00
2012-10-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146505/wir-haben-bruecke-zu-sein/
Porträt des CDU-Politikers Jakob Kaiser (1888-1961) von seinen gewerkschaftlichen Aktivitäten in der Weimarer Zeit bis hin zu seiner Tätigkeit als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen unter Adenauer. Das Porträt wird ergänzt durch Aussagen von Ze
[ "Biographie", "Geschichte", "Gewerkschaft", "Nationalsozialismus", "Parlamentarismus", "Widerstand" ]
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Louise Otto-Peters | Die Revolution von 1848/49 | bpb.de
Louise Otto-Peters war die wohl bedeutendste deutsche Feministin des 19. Jahrhunderts und zählt als sozialkritische Autorin und Demokratin zu den herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens ihrer Zeit. Geboren am 26. März 1819 in Meißen, wuchs sie in einem bürgerlichen, Kunst und Literatur liebenden Elternhaus auf; der Vater war Jurist. Schon als junges Mädchen begann sie zu schreiben. Nach dem zeitigen Tod der Eltern (1835) und ihres Verlobten Gustav Müller (1841), eines Dresdner Juristen und Literaten, beschloss sie, als politische Dichterin und Schriftstellerin zu wirken. Müller hatte sie mit der Literatur und den Ideen der vormärzlichen Opposition in Berührung gebracht. Ihr besonderes Interesse galt von Anfang an der sozialen Frage und insbesondere dem Kampf für Frauenrechte. In Ehe, Familie, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat waren Frauen damals benachteiligt, eingeschränkt und teilweise völlig rechtlos. Gleich in ihrer ersten Artikelfolge von 1843/44 trat sie in einer von Robert Blum initiierten Debatte in den „Sächsischen Vaterlandsblättern“ für eine verbesserte Mädchenbildung und die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an den Angelegenheiten des Staates ein. Sie erlangte als Journalistin und Autorin sozialkritischer Prosa und Lyrik in der vormärzlichen Oppositionsbewegung Beachtung; ihr Roman „Schloß und Fabrik“ durfte 1846 nur zensiert erscheinen. In der Revolution von 1848/49 unterstützte Louise Otto die deutsche Nationalbewegung und engagierte sich zugleich als soziale Demokratin und Feministin. Mit ihrer „Adresse eines Mädchens“ an den sächsischen Innenminister und die sogenannte Arbeiterkommission, in der sie existenzsichernde Erwerbsmöglichkeiten für Arbeiterinnen verlangte, wurde sie nun deutschlandweit bekannt. Doch auch als Herausgeberin der „Frauen-Zeitung“, die zwischen 1849 und 1852/53 unter dem Motto „Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen“ erschien, machte sie sich einen Namen. Das Blatt diente der Sammlung und Vernetzung Gleichgesinnter und dem Austausch über die Probleme und Interessen von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr eigenes Emanzipationsprogramm hatte sie bereits 1848 formuliert und in der Zeitschrift „Sociale Reform“ veröffentlicht. Es enthielt neben verbesserten Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für Frauen, die sie als Grundlage eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens erachtete, und der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau in Ehe und Familie auch das Stimmrecht für Frauen. Sie zählt damit nicht nur weltweit zu den Vorkämpferinnen des Frauenwahlrechts, sondern war mit ihrem umfassenden Ansatz zur Demokratisierung der patriarchalen Geschlechterordnung und -beziehungen dem Denken ihrer Zeit weit voraus. Nach der Niederschlagung der Revolution gehörte Louise Otto zu den politisch Überwachten und verlor viele Freunde und Gesinnungsgenossen durch Verhaftung und Emigration. Sie verfasste jetzt vor allem Belletristik sowie Schriften zur Kunst. Bevor es 1858 zur Heirat kam, war sie viele Jahre mit dem zu langer Zuchthaushaft verurteilten Revolutionär und Schriftsteller August Peters verlobt. Seit 1860 lebte das Paar in Leipzig und arbeitete bis zum Tod von August Peters 1864 gemeinsam für die „Mitteldeutsche Volks-Zeitung“, ein demokratisches Blatt. Beide engagierten sich für die wieder erstarkende Nationalbewegung. In dieser Zeit begann Louise Otto-Peters erneut zur „Frauenfrage“ zu publizieren. Ihre größte Bedeutung erlangte sie als Mitbegründerin des Frauenbildungsvereins sowie des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) 1865 in Leipzig. Der ADF, dessen Vorsitzende sie bis zu ihrem Tode am 13. März 1895 blieb, steht für die organisatorischen Anfänge der deutschen Frauenbewegung. Mit ihm entstand ein gesamtdeutsch orientiertes Netzwerk lokaler Frauenvereine, das mit seinen Initiativen die Gesellschaft des Kaiserreichs nachhaltig herausforderte und veränderte. Von nun an waren die ungleichen Rechte von Frauen und Wege zu ihrer Überwindung ein Thema, das aus der öffentlichen Debatte in Deutschland nicht mehr verschwand. Das revolutionierte jahrtausendealte patriarchale Denkformen und Geschlechterbeziehungen. Louise Otto-Peters erwarb sich besondere Verdienste als Mitherausgeberin des ADF-Vereinsblatts „Neue Bahnen“, als Verfasserin frauenpolitischer Schriften sowie als Mitverantwortliche für die ersten Massenpetitionen der deutschen Frauenbewegung an Reichstag und Länderregierungen. Sie hinterließ außerdem ein umfangreiches schriftstellerisches Werk an Romanen, Erzählungen, Novellen, Gedichten, Theater-, Literatur- und Musikkritiken, einzelnen Opernlibretti, historischen Frauenporträts sowie zahlreiche Zeitschriftenbeiträge. Initiiert vom ADF wurde ihr im Jahr 1900 ein Denkmal in Leipzig gestiftet.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-04-18T00:00:00
2023-02-01T00:00:00
2023-04-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/revolution-1848-1849/517883/louise-otto-peters/
Louise Otto-Peters (1819-1895) war Schriftstellerin, Journalistin und Publizistin. Sie gilt als Pionierin der deutschen Frauenbewegung und engagierte sich in der Revolution von 1848/49.
[ "Louise Otto-Peters", "1848", "Porträt" ]
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2 | Filmpropaganda im Ersten Weltkrieg | Europe 14|14 | bpb.de
Im Ersten Weltkrieg kämpften Soldaten nicht nur mit Bajonett, Kanonen und Granaten, sondern auch mit der Filmkamera in der Hand. Propagandafilme hatten die Aufgabe, die Zivilbevölkerung für den Krieg zu begeistern. Werbefilme riefen sie dazu auf, ihre Ersparnisse in Kriegsanleihen zu investieren. Das Medium Film erlangte eine große Bedeutung und nicht zuletzt deshalb gilt der Erste Weltkrieg als das erste globale Medienereignis. Im Verlauf unseres zweitägigen Workshops am Deutschen Historischen Museum (DHM) beschäftigen wir uns damit, wie Medien im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden. Dazu analysieren wir Werbe- und Propagandafilme aus Deutschland und Großbritannien und untersuchen Originalobjekte aus der Sammlung des DHM zum Ersten Weltkrieg. Am Ende des Workshops verstehen wir dann besser, auf welche Art und Weise Propaganda im Ersten Weltkrieg stattgefunden hat. Wir wünschen uns, dass du Objekte (wie ein Interview, einen Orden, etc.), Film- oder Fotomaterial mit Bezug zum Ersten Weltkrieg und zu deinem Heimatland recherchierst und im Workshop präsentierst. Mit der Vorstellung dieses Materials steigen wir in den Workshop ein. Anschließend geben uns Expertinnen und Experten Input zum Thema "Propaganda und Erster Weltkrieg". Gemeinsam sichten wir Filme aus den Jahren 1914-18 und analysieren filmische Erzählweisen und ihre Wirkungen. Den Zusammenhang und die kontextuellen Bezüge zwischen den Filmen und der Geschichte des Ersten Weltkriegs erarbeiten wir anschließend anhand von exemplarischen Objekten aus der Dauerausstellung des DHM. Wir beenden den Workshop mit der Präsentation der Arbeitsergebnisse, die wir gemeinsam diskutieren. Um an diesem Workshop teilzunehmen, solltest du bereits über Grundkenntnisse zum Ersten Weltkrieg und/oder zur Geschichte des Films verfügen sowie fließend Deutsch oder Englisch sprechen können. Workshopreferenten/ -referentinnen: Nikolas Doerr & Philippe Carasco, Deutsches Historisches Museum, Berlin, Externer Link: www.dhm.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-01-23T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/histocon/177557/2-filmpropaganda-im-ersten-weltkrieg/
Filmwerkstatt/ Filmanalyse
[ "Europe 14|14" ]
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Impressum | Tschechien | bpb.de
Herausgeberin : Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Berliner Freiheit 7 53111 Bonn Fax-Nr.: +49 228 99515-309 Internet-Adresse: http://www.bpb.de E-mail: E-Mail Link: info@bpb.de Redaktion : Elke Diehl, Jürgen Faulenbach, Christine Hesse (verantwortlich, bpb), Jutta Klaeren Manuskript und Mitarbeit : Dr. Cornelia Alban, Berlin; Christiane Brenner, Collegium Carolinum, München; Elke Diehl, Bonn; Jürgen Faulenbach, Bonn; Dr. Eva Hahn, Augustfehn; Dr. Vladimir Handl, Institut für internationale Beziehungen, Prag; Christine Hesse, Bonn; Jutta Klaeren, Bonn; Alena Krizkova, Akademie der Wissenschaften, Prag; Dr. Jaroslav Kucera, Karls-Universität, Prag; Dr. Alena Miskova, Karls-Universität, Prag; Dr. Dieter Segert, Bonn; Dr. Jaroslav Sonka, Berlin. Titelbild : dpa Online-Bearbeitung : Externer Link: Franzis´ print & media, München Text und Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Der Text kann in Schulen zu Unterrichtszwecken vergütungsfrei vervielfältigt werden. Printausgabe 2002
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2021-12-07T00:00:00
2011-09-13T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/tschechien-276/9674/impressum/
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Entwicklung durch Migration: ein neuer Forschungsansatz | Entwicklung durch Migration | bpb.de
Einleitung Entwicklungs- und Migrationsforschung sind bisher weitgehend getrennt voneinander betrieben worden, obwohl sie offensichtlich in enger Beziehung zueinander stehen. Beide waren in der Öffentlichkeit und der Wissenschaft von Defizitansätzen geprägt: Erstens: Migranten werden in der Öffentlichkeit und in wissenschaftlicher Literatur sowohl von Befürwortern als auch von Skeptikern der Migration als "defizitäre Wesen" geschildert, die es zu integrieren und zu "kulturalisieren" gelte. Migration wird in diesem Zusammenhang generell als Krisenerscheinung gekennzeichnet und mit "Überflutung" assoziiert. Die Konzentration der öffentlichen Diskussion auf "Integration" und "Integrationsdefizite" in den letzten Jahren hat diesem Denkansatz noch Auftrieb gegeben. Der Wert der mitgebrachten Kulturelemente wird so implizit ausgeklammert. Ein Beispiel für diese Denkweise findet sich in der Argumentation der Herzog-Kommission der CDU: Migration wurde als Teillösung des demographischen Problems abgelehnt, ohne aber eine andere Lösung anzubieten und ohne positive Aspekte auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Andererseits wird in dem sehr gründlich ausgearbeiteten interfraktionellen Bericht "Migration and Development" des britischen Unterhauses darauf hingewiesen, dass auch bei rein monetärer Betrachtung die Kosten von Migration durch den Nutzen übertroffen werden. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil britische Migrationsforscher der damaligen britischen konservativen Regierung und der Öffentlichkeit Deutschland noch im Jahr 1994 wegen seiner Öffnung gegenüber den ostmitteleuropäischen Ländern und Südeuropa als positives Beispiel für den ökonomischen Nutzen von Einwanderung nahe zu bringen versuchten. Zweitens: Als defizitär gelten auch die Entwicklungsländer, die es mit westlicher Hilfe zu Leistungen zu befähigen gelte. Alternative Szenarien einer "Abkopplung", wie sie etwa Dieter Senghaas vertreten hat, sind mit dem Ende des Ostblocks und dem Scheitern der Entwicklungsstrategien von Ländern wie Tansania, Kuba und Nordkorea sowie dem Übergang Chinas zu einer immer intensiveren Verknüpfung mit der Weltwirtschaft obsolet geworden. Die Entwicklungsliteratur schildert eine Kette von Misserfolgen, die auf Korruption, Inkompetenz, politische Instabilität und mangelnde kulturelle Voraussetzungen zurückgeführt werden. Betroffen von derartigen Szenarien ist insbesondere Afrika, das in den Medien fast nur mit Katastrophen in Verbindung gebracht wird. Mit der Verlagerung der Entwicklungszusammenarbeit von den früher präferierten großen Projekten wie dem Bau von Staudämmen auf die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen treten karitativ-unterstützende Motive wieder stärker in den Vordergrund. Zuweilen wird zudem die Entwicklungshilfe selbst mit Katastrophenszenarien identifiziert, so in Brigitte Erlers Buch "Tödliche Hilfe". Jahrzehntelang sind die beiden Bereiche mit einer dritten Defizit-Idee verbunden worden: dem brain drain, das heißt dem Verlust der bestausgebildeten Spezialisten an die reichen Länder. Aus diesem Grund hat die deutsche Entwicklungspolitik konsequent an der Rückführung der hier Ausgebildeten festgehalten (sofern sie nicht über eine Eheschließung die Beschränkungen umgehen konnten). Gleichzeitig ist Migration nach Deutschland ganz weitgehend auf Europäer beschränkt worden. Obwohl Angebote vieler afrikanischer und asiatischer Staaten vorlagen, Arbeitskräfte zu entsenden, hat sich die Bundesrepublik auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus den Ländern nördlich des Mittelmeers beschränkt, die Mitglieder der Europäischen Union waren, wurden oder werden wollen. Zahlenmäßig eng begrenzt blieben Anwerbungen aus Marokko, Tunesien und Südkorea. Vom Defizitansatz zur Verknüpfung Diese Politik ist aus faktischen und aus theoretischen Gründen überholt und nicht mehr praktikabel. Erstens: Sie ist aus faktisch-pragmatischen Gründen überholt, weil die USA während des Clinton-Booms dazu übergegangen sind, sich für die besten Köpfe aus der ganzen Welt zu öffnen. Insofern können auch die in Deutschland Ausgebildeten in die USA emigrieren, wenn Deutschland ihnen keine Chancen bietet. Weitere Länder wie Kanada, Australien und selbst Irland verfolgen die gleiche Strategie. Bezeichnend für diesen Zusammenhang ist, dass ausgerechnet deutsche Entwicklungshilfe am Beginn der Überproduktion von Computerspezialisten in Indien stand. Viele dieser Spezialisten gingen anschließend in die USA und bildeten eine personelle Grundlage für den IT-Boom in Kalifornien. In späteren Jahren kehrten einige von ihnen schließlich nach Indien zurück und begründeten dort eine heute blühende Computerindustrie. Deutschland hat sich insofern durch seine Politik selbst bestraft, es nimmt seine wirtschaftlichen Chancen nicht wahr - ganz abgesehen vom Export seiner eigenen Spitzenwissenschaftler in die USA, die wegen der kontraktiven Bildungspolitik in Deutschland keine Chance finden. Zweitens: Diese Politik ist überholt und nicht praktikabel aus entwicklungstheoretischen Gründen, weil mit der Hin- und Herwanderung eine Win-Win-Situation entstehen kann, in der über transnationale Netzwerke beide Länder profitieren können: das Entwicklungsland durch Kapital- und Wissenstransfers und das Industrieland durch demographische Erneuerung. Die Fähigkeiten der Einwanderer zu Kettenmigration und Netzwerkbildung spielen hier eine besondere Rolle. Analytisch und praktisch wichtig für die weitere Entwicklung ist die Frage, unter welchen Bedingungen sich - wie in dem Indien-Kalifornien-Beispiel - eine Kette positiver Zusammenhänge und Folgewirkungen für alle Beteiligten - ein circulus virtuosus - ergeben kann, und unter welchen Kontexten es dazu kommt. Diese Perspektive bedeutet einen Paradigmenwechsel sowohl in der Migrations- als auch in der Entwicklungsdebatte, der die Ressourcen der Migration in den Mittelpunkt der Debatte rückt, statt nur die Defizite zu betrachten. Insgesamt wird mit einem solchen Paradigmenwechsel ein realistisches, optimistisches Szenario an die Stelle eines pessimistischen gesetzt, der "Umbruch in der Welt als Chance" genutzt, wie Bundespräsident Horst Köhler es in seiner Antrittsrede ausgedrückt hat. Damit ist zugleich eine andere Debatte beendet, mit der vor allem Anfang der neunziger Jahre Entwicklungs- und Migrationspolitik verbunden war: Es ging darin um die Idee, man könne und wolle mit einer besseren oder mit einer finanziell besser ausgestatteten Entwicklungszusammenarbeit die "reiche Welt" vor der Migration aus der "armen Welt" abschirmen. Dieser Ansatz ist einerseits wegen der demographischen Krise in der reichen Welt überholt, andererseits ist durch wissenschaftliche Analysen und praktische Erfahrungen klar geworden, dass derartige Mechanismen nicht funktionieren. Im Gegenteil: Wenn ein Land sich ökonomisch dynamisch entwickelt, werden im Transformationsprozess zunächst mehr Arbeitskräfte freigesetzt. Die Folge ist eine höhere Migration. Erst in einem späteren Stadium nimmt die Migrationsneigung ab, wenn die weiter wachsende Wirtschaft mehr Arbeitskräfte aufnehmen kann und die Geburtenrate sinkt. Steigende Einkommen und eine größere Marktförmigkeit der Gesellschaft erleichtern es zudem, Migrationsentscheidungen zu treffen und durchzuführen. Dies hängt damit zusammen, dass es nicht Angehörige der allerärmsten Schichten der Bevölkerung sind, die sich zum Weggang entscheiden, sondern eher Menschen, die im Modernisierungsprozess stehen und über das Mindestmaß an Mitteln verfügen, das Voraussetzung für eine Migration ist. Zwar wird die Debatte um Migrationsbegrenzung auf dem Wege der Entwicklungshilfe inzwischen weniger heftig geführt, aber sie hat sich in den Verträgen der EU mit den Staaten am Südrand des Mittelmeers niedergeschlagen und taucht immer wieder auf. Die entsprechenden Gedankengänge sind nur noch insofern aktuell, als sie zur Verbrämung des Drucks der reichen auf die armen Länder dienen, Migrantinnen und Migranten zurückzuhalten. Es ist schwierig, Migrationsverläufe exakt zu quantifizieren. So ist die entsprechende Prognose Philip Martins über eine anfängliche Steigerung der mexikanischen Migration in die USA als Resultat des NAFTA-Prozesses zwar eingetreten, auf Grund der mexikanischen Wirtschaftskrise ist die Steigerung aber sehr viel stärker ausgefallen als vorhergesagt, und es gibt auch noch kein Anzeichen für ein Ende des Migrationsdrucks. Insofern ist die schematische Darstellung des britischen Unterhaus-Berichts instruktiv (vgl. Schaubild 1 der PDF-Version), die zunächst mehr Migration und anschließend ein Auslaufen der Entwicklung zeigt, auch wenn keine Aussage zu den Zeiträumen und Quantitäten gemacht wird. Kein Zweifel besteht daran, dass Modernisierung und wirtschaftliche Aktivierung eines Landes zunächst Migration freisetzen. Auch historisch lässt sich dies belegen: Man denke etwa an Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und an Spanien zwischen 1960 und 1973. Ende traditioneller Entwicklungspolitik Die Entwicklungspolitik ist an einer Scheidelinie angelangt. Einerseits sind wichtige asiatische Länder wie Indien, China und vor allem Malaysia, Singapur, Taiwan und Südkorea keine bedürftigen Entwicklungsländer mehr. Indien, jahrzehntelang das größte Empfängerland, hat die neue Situation im Jahr 2003 scharf markiert, indem es seinen Verzicht auf weitere Entwicklungshilfe erklärte. Nach der Tsunami-Katastrophe hat es diesen Verzicht auf Hilfe wiederholt und sich selbst als helfenden Akteur ins Spiel gebracht. Ähnliches gilt für die führenden Länder Lateinamerikas wie Chile und Brasilien. Noch mehr als in der Vergangenheit sind die ökonomischen Beziehungen der entwickelten Länder zu diesen Schwellenländern von wirtschaftlichen Eigeninteressen bestimmt, insbesondere dem Interesse an der Vermarktung hochwertiger technischer Systeme oder von Dienstleistungskomplexen. Japan, die USA und die EU bemühen sich um Freihandelsabkommen mit wichtigen Schwellenländern, vor allem in Lateinamerika. Andererseits sind vor allem viele afrikanische Länder in ihrer Entwicklung nicht nur nicht entscheidend weitergekommen, sondern ihre staatlichen Strukturen lösen sich tendenziell auf, so dass die Voraussetzungen für Entwicklung und Investitionen kaum mehr gegeben sind. Wie die sehr unterschiedliche Interventionsneigung der USA in Staaten wie dem Irak und Liberia mit großer Deutlichkeit zeigt, ist der Stellenwert von Ländern ohne wichtige Ressourcen für die USA, die einzige Supermacht der Welt, und auch für die anderen großen Länder mit dem Ende der Konkurrenzsituation des Kalten Krieges entscheidend gesunken, so dass der traditionellen Entwicklungspolitik auch von dieser Seite die politische Dynamik fehlt. Zugleich muss konstatiert werden, dass gerade Länder, die hohe Entwicklungsleistungen erhalten haben, in ihrer Entwicklung stagnierten oder sogar zurückgefallen sind, während andere Länder mit wenig oder gar keinen "Finanzspritzen" entscheidend weitergekommen sind. China, Indien und Brasilien haben in den letzten vierzig Jahren weniger als ein Prozent ihres Bruttosozialprodukts an Hilfe erhalten, aber dessen ungeachtet in den Jahren 1965 bis 2002 ihr Pro-Kopf-Einkommen vervielfacht: China von 85 auf 940 $, Indien von 90 auf 480 $ und Brasilien von 200 auf 2 850 $. Länder, die sehr hohe Entwicklungshilfesummen erhalten haben, die zum Teil sogar ihr gesamtes Bruttosozialprodukt übertrafen, haben sich demgegenüber nicht entwickeln können. Dies gilt insbesondere für Länder in Afrika südlich der Sahara. So lag etwa das Pro-Kopf-Einkommen Ghanas zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit über dem Chinas, Indiens und Südkoreas. Es belief sich 1992 immer noch auf 440 $, im Jahr 2002 aber - ungeachtet außergewöhnlich hoher Unterstützung durch westliche Länder - nur noch auf 270 $. Der Entwicklungshilfespezialist Heinrich Langerbein, der diese Vergleichsdaten zusammengestellt hat, weist erklärend darauf hin, dass die meisten Entwicklungshilfegelder in die Industrieländer zurückfließen - vor allem wenn sie projekt- und liefergebunden sind - und dass große Summen von "kleinen Macht-Eliten kassiert und als Fluchtgeld ins Ausland gebracht" werden. Der langjährige kongolesische Diktator Mobutu ist für ein solches Verhalten ein bekanntes Beispiel. Als Fazit muss festgehalten werden, dass Entwicklungshilfe wenig effektiv gewesen ist. Dagegen ist anzunehmen, dass private Transfers von Migranten in ihre Heimatländer die Adressaten zielgenauer erreichen. Hinzu kommt ein quantitatives Argument. Im erwähnten Ausschuss-Bericht des Britischen Unterhauses wird festgestellt, dass die Migration aus entwicklungspolitischer Sicht zugleich ein enormer Devisenbringer für die Entwicklungsländer ist und in dieser Funktion die staatlichen Finanztransfers in der Entwicklungshilfe inzwischen weit übertrifft (vgl. Schaubild 2 der PDF-Version) . Es wird argumentiert, dass eine kontrollierte Erhöhung der Migration aus den armen in die reichen Länder weit bedeutsamere Entwicklungseffekte haben werde als alle absehbaren Anstrengungen der Entwicklungshilfe, ganz abgesehen von deren Durchsetzbarkeit in den wohlhabenden Ländern. Die deutsche "Green Card" Die traditionelle deutsche Entwicklungspolitik war mit einer expliziten Nichteinwanderungsdoktrin verbunden. Fachpersonal aus den Entwicklungsländern sollte ausgebildet werden und nach der Ausbildung in das jeweilige Land zurückkehren. Dies war eine in sich schlüssige Doktrin, die durchaus auch mit Erfolgen verbunden war. Dieses Paradigma lässt sich nicht mehr halten. Mit der Proklamation der "Green Card" ist es in einer gezielten öffentlichen politischen Aktion aufgegeben worden. Andere europäische Staaten sind dieser Initiative gefolgt. Wie in den USA tut sich heute auch in Deutschland eine Nachwuchslücke bei den Fachkräften im naturwissenschaftlichen Sektor auf. Die Universitäten und Unternehmen beginnen, gezielt Studierende aus Mittelosteuropa und Asien anzuwerben. Nach wie vor wandern viele befähigte und gut ausgebildete Wissenschaftler aus Deutschland in die USA aus. Die Ursachen dafür liegen einerseits in der Dynamik des tertiären Sektors in den USA, der als einer der entscheidenden Boom-Sektoren der amerikanischen Wirtschaft bezeichnet werden kann, andererseits in der Stagnation oder sogar Kontraktion des Hochschulsektors in Deutschland, der staatsmonopolitisch organisiert und eingeschränkt ist und in den letzten Jahren mit einer Serie von Stellenstreichungen kleiner gemacht wurde. Symbolisch steht dafür die Weiterwanderung des ersten Green-Card-Inhabers mangels einer dauerhaften Perspektive in Deutschland. Die traditionelle Nichteinwanderungs- und Anti-Brain-Drain-Politik lässt sich in Zukunft nicht länger durchhalten. Zu den genannten pragmatischen und entwicklungstheoretischen Gründen kommt hinzu, dass sich bei fehlenden Niederlassungs- und Karrieremöglichkeiten von Migranten aus armen Ländern keine Kettenmigrationseffekte einstellen können, die für die Dynamik von Migrationsprozessen entscheidend sind. Wegen seiner demographischen Defizite braucht Europa diese Art Zuwanderung zudem dringend. Deutschland konkurriert, wie die Süssmuth-Kommission "Zuwanderung" bemerkt hat, mit anderen Ländern um die besten und fähigsten Spezialisten und Wissenschaftler. Es ist dabei mit zwei Handikaps belastet: Englisch ist in Deutschland nicht die dominante Sprache, und das deutsche Forschungs- und Hochschulsystem ist im Vergleich zu den USA unterfinanziert. Mit der neuen restriktiven Visumspolitik der USA könnten allerdings die Chancen wachsen, dass europäische Länder stärker aufgesucht werden. Das indische IT-Beispiel Entwicklung ist in der globalisierten Welt nicht mehr nachholende Entwicklung, wie dies für die fünfziger Jahre gelten konnte, als deutsche, sowjetische und amerikanische Ingenieure im Wettbewerb Stahlwerke in Indien nach ihren jeweiligen Mustern bauten, während gleichzeitig die Stahlmärkte weitgehend gegeneinander abgeschottet blieben. Vielmehr findet Entwicklung heute in vernetzter Form statt, sie zielt auf immer offenere weltweite Märkte und nutzt die spezifischen Standort- und Kostenvorteile der einzelnen Länder. Weniger entwickelte Länder können dabei auf ihre niedrigeren Lohn- und Kostenstrukturen setzen, entwickeltere auf ihre Infrastruktur, ihre fortgeschrittenen Technologien und ihre höhere Effizienz. Optimale Kosten-Nutzen-Effekte treten dann auf, wenn beides vereint wird: die Effizienz der entwickelten Länder mit den Kostenvorteilen der weniger entwickelten. Dies setzt eine enge Kooperation und Durchlässigkeit voraus, und zwar nicht nur bei der Technik, sondern vor allem beim Personal. Personal aus den Entwicklungsländern kann in den entwickelten Ländern arbeiten und sich deren Arbeitsweisen und Standards aneignen. Im Falle einer Rückkehr werden die erworbenen Kenntnisse und Arbeitsweisen mit der intimen Kenntnis der Situation des Heimatlandes verbunden. Darüber hinaus können Netzwerke aufgebaut werden, die über Firmenstrukturen, Verwandtschaftsverhältnisse oder andere Verbindungen laufen und die entwickelte Welt mit der weniger entwickelten verbinden. Viele Länder, u.a. auch Deutschland, haben derartige Personalaustausche im Rahmen von Inter-Company-Transfers erleichtert, was allerdings nur Großunternehmen zugute kommt. Das Paradebeispiel derartiger produktiver Beziehungen ist sicherlich die indische Computerindustrie. Hier hat zunächst eine Ausbildung qualifizierter Ingenieure in Indien über den aktuellen Bedarf hinaus stattgefunden. Ein Teil dieser Fachkräfte wanderte seit den sechziger Jahren in die USA aus und trug später entscheidend zur Dynamik der IT-Wirtschaft in den USA bei. Insbesondere in den neunziger Jahren gab es keine Begrenzungen auf Seiten des Personals. Die IT-Wirtschaft konnte Erhöhungen der Einwanderungsquoten durchsetzen, sobald die bestehenden Quoten erschöpft waren. Wichtig war ferner die Arbeitsenergie und -intensität dieser Gruppe von Einwanderern im besten Arbeitsalter. Darüber hinaus machten sich viele aus Indien eingewanderte IT-Ingenieure in den USA selbständig, es existiert sogar ein eigener Verband für diese Gruppe. In einem zweiten Schritt wanderte ein Teil dieser Gruppe von IT-Spezialisten zurück, und es wurden Kooperationsnetze zwischen IT-Unternehmen in den USA und in Indien geknüpft. Die IT-Wirtschaft im Raum Bangalore blühte auf und entwickelte mit großer Dynamik Software. Getragen wurde sie ganz überwiegend von Unternehmern, die aus den USA zurückgewandert waren. Die weltweite Krise der IT-Wirtschaft seit dem Jahr 2002 führte schließlich dazu, dass die indischen Produktionsanteile weiter anstiegen, weil die indischen Unternehmen in einem schrumpfenden Weltmarkt ihre komparativen Kostenvorteile voll ausspielen konnten, entweder als Zulieferer amerikanischer Firmen oder als selbständige Akteure. Die indische IT-Wirtschaft produziert auf höchstem Niveau - mit den Kostenvorteilen eines Entwicklungslandes. Die Übertragbarkeit der optimierenden Netzwerk-Strukturen Inwiefern und inwieweit ist dieser Paradefall einer remigrations- und netzwerkgestützten Entwicklung auf andere Länder und auf andere Produktionszweige übertragbar? Gibt es Parallelen in anderen Ländern, die Erfolge und Misserfolge demonstrieren? Drei spezielle Charakteristika der indischen Software-Entwicklung lassen sich herausstellen: die Ausbildung einer großen Zahl qualifizierter Spezialisten auf Weltniveau;die Entscheidung der Regierung Bill Clinton, die Einwanderung von Computerspezialisten faktisch nicht zu beschränken, also die Spielregeln des freien Marktes in diesem Bereich auf die Migration anzuwenden;die Eigenschaft von Software-Produkten, sich protektionistischen Maßnahmen und behördlichen Blockaden sowohl von Seiten des Entwicklungslandes wie des entwickelten Landes weitgehend zu entziehen. Man denke dabei auf der indischen Seite an die extrem entwickelte und korruptionsanfällige Bürokratie und auf der amerikanischen an die Neigung, bei wirtschaftlichen Problemen protektionistische Maßnahmen zu ergreifen. Ein Beispiel dafür sind die einseitigen Stahlzölle, die im Jahr 2004 nach einer Entscheidung der Welthandelsorganisation zurückgenommen werden mussten, den europäischen und asiatischen Stahlexporteuren aber geschadet haben. Software ist über das Internet transportierbar und insofern kaum durch behördliche Restriktionen zu erfassen. Es gibt Parallelen des hier für die indische IT-Wirtschaft beschriebene Beitrags von Rückwanderern - sowohl in der historischen Rückschau wie in den letzten Jahrzehnten: In Deutschland haben die Emigranten von 1849 eine entsprechende Rolle gespielt. Für die letzten Jahrzehnte lassen sich entsprechende Effekte für Südkorea und für Taiwan nachweisen, im letzteren Fall in Bezug auf die Hardware-Industrie. Ein besonders interessantes Beispiel ist in jüngster Zeit Vietnam. Hier haben die ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter mit bundesdeutscher Unterstützung wirtschaftliche Dynamik ausgelöst; gleichzeitig sind Migrationsketten entstanden, die zu Studienzwecken und mit wirtschaftlichen Zielen weiter nach Deutschland drängen. Überraschend ist dabei, dass dieses einzige positive Beispiel in Bezug auf das heutige Deutschland ausgerechnet mit produktiven Netzen aus der DDR-Vergangenheit zusammenhängt, und zwar mit der Rolle der DDR als "Juwel" im Ostblock, wie dies Richard von Weizsäcker einmal bezeichnet hat. Zugleich lässt sich aufzeigen, dass es anderen Ländern nicht gelungen ist, entsprechende Entwicklungen anzustoßen und die Vielzahl ausgewanderter Spezialisten für das Herkunftsland produktiv zu machen. Dies gilt beispielsweise für Mexiko, das ein spezielles staatliches Programm zur Rückwerbung ausgewanderter Spezialisten unterhält, das aber allem Anschein nach mit problematischen Eigeninteressen der Elite und insbesondere der Programm-Zuständigen belastet ist. Forschungsdesiderate Die dynamische Globalisierung der Weltwirtschaft in den Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich auf den Abbau von Handels- und Investitionshemmnissen konzentriert und den freien Austausch von Menschen vernachlässigt. Faktisch ist die freie Bewegung innerhalb der OECD-Welt (mit Ausnahme der Türkei und Mexikos) weitgehend gewährleistet; für Angehörige der Entwicklungsländer gilt dies jedoch nicht. Die Analyse von Migrations- und Entwicklungspolitik hat sich mehr oder weniger separiert voneinander vollzogen und Tragweite und Chancen der Migration für die Entwicklung tendenziell vernachlässigt. Stattdessen ist in der Migrationsliteratur ebenso wie in der öffentlichen Debatte der Abschottungs- und Bedrohungsreflex stark spürbar, etwa in dem Terminus migration crisis. Allerdings ist auf Grund der demographischen Rahmenbedingungen völlig klar, dass es große Bevölkerungsbewegungen aus der armen in die reiche Welt geben wird. Fraglich ist nur, wie produktiv und wie konflikthaft diese Prozesse verlaufen werden. Von daher muss sich die Forschung zur Entwicklungspolitik für Migrationsphänomene öffnen und sie als Elemente einbauen. Es ist evident, dass Re-Migranten über viele Fähigkeiten verfügen, die westliche Spezialisten nicht besitzen. Zugleich ist nach dem Ende der Phantasien über autozentriert-isolierende Entwicklungen klar, dass es Anschübe und Übertragungen aus der Außenwelt und insbesondere aus der entwickelten Welt geben muss, um Entwicklungsimpulse auszulösen und insbesondere Kenntnisse über Spitzentechnologien und Märkte weiterzugeben.Die Migrationsforschung sollte sich für die Entwicklungsperspektive "jenseits des brain drain" öffnen. Das ist bislang kaum geschehen. Dies erklärt sich erstens daraus, dass die Idee von Rückkehr und Rückkehrförderung politisch belastet ist. Damit werden fremdenfeindliche Konnotationen verbunden, die vor allem in Deutschland in einem starken Spannungsverhältnis zur Eigenidentifizierung der Forscher standen. Es erklärt sich zweitens aus der sehr verbreiteten Tendenz, Migranten als hilfsbedürftige und "defizitäre Wesen" zu beschreiben. Damit wird - wenngleich in wohlmeinender Absicht - deren Eigeninitiative und Eigendynamik abgewertet. Drittens schließlich ist die Katastrophen- und Krisenbeschreibung anzuführen, mit der Migration nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in weiten Teilen der Literatur immer wieder zusammengebracht wird. Insgesamt ist in dieser Beziehung - wie Gary Freeman es für die amerikanische Literatur einmal beschrieben hat - ein Übergewicht normativer Annahmen und engagierter Beschreibungen, verbunden mit theoretisch-analytischen Defiziten, zu konstatieren.Aufgabe der Forschung muss es sein, das Verhältnis von Migration und Entwicklung zu klären und Optimierungsstrategien und -modelle zu entwerfen. Dazu können Fallstudien dienen, in denen unterschiedliche Verläufe von Migration und Entwicklung verfolgt werden, von dequalifizierend-unproduktiven bis zu qualifizierend-produktiven. Insbesondere sind die Beziehungen zwischen Ländern, die traditionell Studenten nach Deutschland entsenden, und deren Beziehung mit ökonomischer Entwicklung relevant, und zwar für das betreffende Herkunftsland, für Deutschland oder auch für die USA, in die gut ausgebildete Spezialisten vielfach abwandern. Beispiele sind der Iran, die Türkei, Griechenland, aber auch Indonesien und Vietnam - ein Land mit einer langen Tradition universitärer Zusammenarbeit mit der ehemaligen DDR. Speziell zu berücksichtigen ist auch der Aspekt der Geschlechterrollen und ihres Einbaus in die Entwicklungsstrategien der Nationalstaaten. Der Haushalts- und Pflegebereich ist wegen seiner privaten Gestaltung für Dequalifizierung und geringe Bezahlung anfällig und durch informelle Beschäftigungsverhältnisse geprägt, entweder auf Grund gezielter Politik oder auf Grund des Nichteingreifens der Staaten in diesen Bereichen, das den einheimischen Haushalten weitgehende Freiheit lässt.Eine weitere Differenzierung ist in sektoraler Hinsicht notwendig. Dazu gehören die oben erwähnte Software-Entwicklung in Kalifornien und Indien und die Hardware-Entwicklung in Taiwan. Erfolgreiche Entwicklungen zeichnen sich auch im medizinischen Sektor einiger mittelosteuropäischer Länder, in Israel, Thailand und ebenfalls in Indien ab. Dagegen scheint die Abwanderung medizinischen Personals aus Südafrika nach England, Australien und Kanada bisher nur für die Einwanderungsländer vorteilhaft gewesen zu sein. Zu untersuchen wäre dabei, inwiefern und inwieweit die Politiken der entwickelten Länder derartige Prozesse ermöglichen, behindern oder kanalisieren. Normativ kann sich eine derartige Forschungsperspektive an der schrittweisen Entwicklung einer offenen Welt orientieren, in der nicht mehr nur der Warenverkehr frei ist, sondern auch der Personenverkehr. Realpolitisch muss sie die Bedingungen und Wege identifizieren, mit denen Migrations-, Kommunikations- und Austauschprozesse eingeleitet und gefördert werden können, die den Beteiligten auf beiden Seiten nutzen und die ihnen erlauben, ihre Fähigkeiten zu optimieren, Mehrwert zu schaffen und damit Entwicklung zu ermöglichen. Vgl. Ines Michalowski, Integration Programmes for Newcomers - a Dutch Model for Europe?, in: Anita Böcker/Betty De Hart/Ines Michalowski (Hrsg.), Migration and the Regulation of Social Integration, Osnabrück 2004, S. 163 - 176. Vgl. Bericht der Kommission "Soziale Sicherheit" zur Reform der sozialen Sicherungssysteme: www. cdu.de, 30.9. 2003. Vgl. House of Commons. International Development Committee, Migration and Development: How to work for poverty reduction. Sixth Report of Session 2003 - 04, London 2004. Vgl. Sarah Spencer (Hrsg.), Immigration as an Economic Asset. The German Experience, Stoke-on-Trent 1994, S. XXI ff. Vgl. Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon Dritte Welt, Hamburg 199810. Brigitte Erler, Tödliche Hilfe. Bericht von meiner letzten Dienstreise in Sachen Entwicklungshilfe, Freiburg/Brsg. 1985. Eine systematische Zusammenfassung des entsprechenden Diskussionsstandes findet sich in: Gerald Braun/Angelina Topan, Internationale Migration. Ihre Folgen für die Ursprungsländer und Ansätze eines Migrationsregimes, Sankt Augustin 1998 (Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien Nr. 153). Siehe auch den Beitrag von Holger Kolb in dieser Ausgabe. Vgl. Johannes-Dieter Steinert, Migration und Politik. Westdeutschland - Europa - Übersee 1945 - 1961, Osnabrück 1995; Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entwicklung und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er Jahren bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001. Siehe dazu den vergleichenden Überblick von Gail McLaughlan/John Salt, Migration Policies Towards Highly Skilled Foreign Workers. Report to the Home Office, London 2002; online unter: www. homeoffice.gov.uk. Vgl. AnnaLee Saxenian, Silicon Valley's New Immigrant Entrepreneurs, in: W. A. Cornelius/T. J. Espenshade/I. Salehyan (Hrsg.), The International Migration of the Highly Skilled. Demand, Supply and Development Consequences in Sending and Receiving Countries, San Diego 2001, S. 197 - 234 (CCIS Anthologies 1). Siehe hierzu auch: Uwe Hunger, Vom "brain drain" zum "brain gain". Migration, Netzwerkbildung und sozio-ökonomische Entwicklung: das Beispiel der indischen "Software-Migranten", in: IMIS-Beiträge, Nr. 16, 2000, S. 7 - 22. (IMIS = Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien). Siehe dazu im Einzelnen den Beitrag von Uwe Hunger in diesem Heft. Vgl. zum Konzept Commission of the European Communities, Commission Communication to the Council and the European Parliament on Immigration, SEC (1991) 1855 final, Brüssel 1991; Horst Breier, Development and Migration. The Role of Aid and Co-operation, in: OECD (Hrsg.), Migration and Development. New Partnerships for Co-operation, Paris 1994, S. 162 - 178; Sami Nair, Rapport de bilan et d'orientation sur la politique de codéveloppement liée aux flux migratoires, Paris 1997 (www.ladocumenta tionfrancaise.fr/brp/notices/984000139.shtml); Christophe Daum, Développement des pays d'origine et flux migratoires: La nécessaire déconnexion, in: Hommes et Migrations, (1998) 1214, S. 58 - 72. Zu den Verträgen und der spanischen Diskussion: Axel Kreienbrink, Einwanderungsland Spanien. Migrationspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen, Frankfurt/M. 2004. Vgl. Philip Martin, Economic Integration and Migration: The Mexico-US Case, Arbeitspapier der University of California, Davis 2002. Vgl. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Siehe hierzu auch A. Kreienbrink (Anm. 13). Heinrich Langerbein, Je mehr Hilfe, desto größer die Armut. Die erfolgreichsten Staaten kamen fast ganz ohne Unterstützung aus, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 3. 2004. Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommen Gary S. Becker/Guity Nashat Becker, Die Ökonomik des Alltags, Tübingen 1998, S. 326 - 328, S. 349. Vgl. House of Commons. International Development Committee, Migration and Development: How to work for poverty reduction. Sixth Report of Session 2003 - 04, The Stationary Office London, London 2004. Vgl. Uwe Hunger/Holger Kolb (Hrsg.), Die deutsche "Green Card". Migration von Hochqualifizierten in theoretischer und empirischer Perspektive (IMIS-Beiträge, Themenheft Nr.22), Osnabrück 2003; Holger Kolb, Einwanderung zwischen wohlverstandenem Eigeninteresse und symbolischer Politik. Das Beispiel der deutschen "Green Card", Münster 2004. Vgl. Zuwanderung gestalten, Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung", Berlin 2001. Vgl. Holger Kolb, Pragmatische Routine und symbolische Inszenierungen - zum Ende der "Green Card", in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, (2003) 7, S. 231 - 235. Vgl. Jürgen Wiemann, Von Indien lernen! Entwicklungspolitische Bewertung der Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Entwicklungs- und Transformationsländern, Berlin 2000. Vgl. A. Saxenian (Anm.11). Vgl. Vivian Hermann/Uwe Hunger, Die Einwanderungspolitik für Hochqualifizierte in den USA und ihre Bedeutung für die deutsche Einwanderungsdiskussion, in: U. Hunger/H. Kolb (Anm.18), S. 81 - 98. Vgl. A. Saxenian (Anm. 11). Vgl. Martina Fromhold-Eisebith, Internationale Migration Hochqualifizierter und technologieorientierte Regionalentwicklung. Fördereffekte interregionaler Migrationssysteme auf Industrie- und Entwicklungsländer aus wirtschaftsgeographischer Perspektive, in: IMIS-Beiträge, (2002) 19, S. 21 - 41. Vgl. Uwe Hunger, Vom Brain Drain zum Brain Gain. Die Auswirkungen der Migration von Hochqualifizierten auf Abgabe- und Aufnahmeländer. Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung: Gesprächskreis Migration und Integration, Bonn 2003. Siehe hierzu auch: ders., Indian IT-Entrepreneurs in the US and India. An Illustration of the "Brain Gain Hypothesis", Journal of Comparative Policy-Analysis 2004, S.99 - 110. Vgl. Benedikt Köhler, Ludwig Bamberger. Revolutionär und Bankier, Stuttgart 1999. Für Schweden vgl. Per Olof Grönberg, International Migration and Return Migration of Swedish Engineers in the 1990s, in: Uwe Hunger/Susanne In der Smitten (Hrsg.), Migration und Entwicklung. Ergebnisse der Konferenz für Nachwuchswissenschaftler und Studierende, Münster 2003 (Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster: Civil-Society Network 2004. http://www. civil-society-network.org/download/Hunger_InDer Smitten_Migrationskonferenz.pdf). Vgl. A. Saxenian (Anm. 11.). Vgl. Richard von Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1999. Zu Vietnam vgl. den Beitrag von Karin Weiss in diesem Heft. Vgl. Utta Groß-Bölting, Der "Brain Drain" in Mexiko und die Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess, Magisterarbeit, Institut für Politikwissenschaft , Universität Münster 2003. Felicitas Hillmann/Hedwig Rudolph, Jenseits des brain drain. Zur Mobilität westlicher Fach- und Führungskräfte nach Polen, Discussion Paper FS I 96 - 103 des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Berlin 1996. Vgl. Gary Freeman, Political Science and Comparative Immigration Politics, in: Michael Bommes/Ewa Morawska (Hrsg.), International Migration Research: Constructions, Omissions and the Promises of Interdisciplinarity, Aldershot 2004, S. 111 - 128. Vgl. Christine Chin, Organisierte Randständigkeit als staatliches Modell: Frauen und Migration in Südostasien, in: Dietrich Thränhardt/Uwe Hunger (Hrsg.), Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Leviathan-Sonderheft 2003, Wiesbaden 2003, S. 313 - 333. Siehe hierzu auch: Giuseppe Sciortino, Einwanderung in einen mediterranen Wohlfahrtsstaat: die italienische Erfahrung, in: ebd., S. 253 - 273.
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Thränhardt, Dietrich
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28964/entwicklung-durch-migration-ein-neuer-forschungsansatz/
Eine Verknüpfung von Entwicklungs- und Migrationspolitik ist mit positiven Effekten sowohl für Migranten als auch für das Entsende- und das Aufnahmeland verbunden. Die Green Card in Deutschland ist ein erster Schritt in diese Richtung.
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Großbritanniens Wahl | Hintergrund aktuell | bpb.de
Anfang Mai 2015 befand sich der damalige britische Premier David Cameron auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Seine Partei, die konservativen Tories, gewann bei der britischen Unterhauswahl eine große Zahl an Parlamentssitzen dazu und konnte fortan mit absoluter Mehrheit allein weiterregieren. Der strahlende Sieger Cameron freute sich auf fünf Jahre stabilen Regierens mit einem klar gestärkten Mandat. Etwas mehr als zwei Jahre später ist Cameron von der politischen Bildfläche in Großbritannien verschwunden – und die Briten schritten am 8. Juni 2017 erneut zur Unterhauswahl. Ursache dafür ist ihr historisches Interner Link: Votum für den Austritt aus der EU. Rund 52 Prozent der Briten stimmten am 23. Juni 2016 für den "Brexit" und damit gegen die Linie des Regierungschefs, der sich für den Verbleib in der EU stark gemacht hatte. Cameron, der das Referendum selbst initiiert hatte, trat nach dem Votum für den Brexit zurück. Die langjährige Innenministerin Theresa May setzte sich im parteiinternen Rennen der Tories als neue Parteichefin und Premierministerin durch. Vor dem Brexit-Referendum hatte sich May für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Nach dem Referendum vollzog sie einen 180-Grad-Schwenk und machte sich für einen Interner Link: "harten Brexit" stark, der Großbritannien auch aus dem Interner Link: Binnenmarkt und der Zollunion führen soll. Überraschende Neuwahl Mitte April 2017 kündigte May überraschend an, neu wählen zu lassen, zu einem Zeitpunkt, als ihre Conservative Party in Umfragen besonders gut stand. Zuvor hatte sie eine vorgezogene Unterhauswahl monatelang kategorisch ausgeschlossen. May erklärte ihren Sinneswandel so: Sie brauche ein möglichst starkes Mandat, um bei den so bedeutenden Austrittsverhandlungen mit den verbliebenen 27 EU-Staaten das bestmögliche Ergebnis für Großbritannien herausholen zu können. Externer Link: Einige Kommentatoren in der europäischen Presse nahmen ihr das nicht ab. Von "Unfug" sprach etwa die linke deutsche Tageszeitung taz: "Warum sollte es die Brüsseler Verhandlungspartner kümmern, wie groß ihre Mehrheit im Unterhaus ist? Mit der Neuwahl soll es vor allem der Labour Party an den Kragen gehen." Die oppositionelle Labour Party war zu diesem Zeitpunkt mit knapp über 30 Prozent Stimmenanteil zweitstärkste politische Kraft im britischen Unterhaus. Nach ihrer Niederlage bei der Unterhauswahl 2015 war die Mitte-links-Partei in eine Krise geschlittert. Seit September 2015 führt der weit links stehende Jeremy Corbyn die Partei. Unter ihm verlor die Labour-Partei Umfragen zufolge weiter an Zustimmung. Innerhalb der Partei wurde Corbyn von vielen vorgeworfen, sich vor dem Brexit-Referendum nicht stark genug gegen den EU-Austritt engagiert zu haben. Bei einer Vertrauensabstimmung im Juni 2016 stimmten 172 der Labour-Unterhausabgeordneten gegen Corbyn und 40 für ihn. Corbyn wischte das Ergebnis als "bedeutungslos" vom Tisch. May wolle die Uneinigkeit innerhalb der Labour Party nutzen, um die Mehrheit der Tories im Unterhaus auszubauen, spekulierten daher viele Kommentatoren über Mays Motiv für die vorgezogene Wahl. Dass es May sehr wohl um eine bessere Position in den Verhandlungen mit der EU gehe, argumentierte hingegen die wirtschaftsliberale britische Tageszeitung Financial Times: "Entscheidend wird sein, dass die folgende Parlamentswahl erst 2022 und nicht bereits 2020 stattfindet. May wird dadurch eher Kompromisse machen können - zum Beispiel bei der Frage, wie viel Großbritannien der EU Externer Link: wegen des Brexit schuldet oder bei der Frage, ob der Europäische Gerichtshof in einer Übergangsphase für Großbritannien zuständig bleibt. Diese Themen könnten die Brexit-Verhandlungen in der finalen Phase sonst zum Scheitern bringen." Die niederländische Zeitung 'De Volkskrant‘ sah eine Verbindung von innen- und außenpolitischen Motiven Mays: "Ein großer Sieg von May aber könnte genauso gut die Chance auf einen weichen Brexit erhöhen. Die Premierministerin wird mit einer größeren Mehrheit im Parlament schließlich nicht länger Gefangene der Euroskeptiker in ihrer Partei sein." Wahlkampf im Schatten des Brexit Der Brexit wurde zu einem der Externer Link: bestimmenden Themen des Wahlkampfs . May setzte sich als harte Kämpferin in Szene, die Brüssel bei den Brexit-Verhandlungen die Stirn bieten werde. Sie werde "eine verdammt schwierige Frau" sein, erklärte May. Und: "Kein Abkommen mit der EU ist besser als ein schlechtes Abkommen." Das missfiel der linksliberalen britischen Sonntagszeitung The Observer: "Wenn Großbritannien ohne Abkommen aus der EU rauscht, hätte das traumatische Auswirkungen auf unsere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa." Dass Mays Position in der innerbritischen Debatte so selten angefochten werde, sei laut The Observer eine Schande "Zu verdanken ist dies der Schwäche der heutigen Labour Party", klagte das linksliberale Blatt. Eine Mitte Mai vom renommierten Institut YouGov veröffentlichte Meinungsumfrage zeigte, dass sich mittlerweile eine klare Mehrheit der Briten auf Pro-Brexit-Kurs befindet. Nur noch 22 Prozent sind demnach gegen den EU-Austritt. Beim Referendum im Juni 2016 waren es noch 48 Prozent. Als neue Gruppe wurden von YouGov die so genannten "Re-Leaver" identifiziert. Zu ihnen zählen rund 23 Prozent der Briten. Sie halten den Brexit zwar für falsch, fordern von der britischen Regierung aber, das Ergebnis des Referendums in die Tat umzusetzen. "Das ist eine gute Nachricht für Theresa May und einer der Gründe dafür, dass sie zur Neuwahl rief, bevor die Briten von den negativen wirtschaftlichen Folgen des Brexit getroffen werden", analysierte die linksliberale britische Tageszeitung The Guardian. Neben den Tories ist nur die EU-feindliche, rechtspopulistische Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs (Ukip) klar für den Brexit. Doch die Partei ist ähnlich wie Labour zerstritten. Bei der letzten Unterhauswahl im Jahr 2015 bekam sie nur einen Parlamentssitz. Die landesweit einzige pro-europäische Partei sind die Liberaldemokraten. "Wir können das Land vor einem harten Brexit bewahren", lautete die Wahlkampf-Devise von Parteichef Tim Farron. Die Liberaldemokraten waren von 2010 bis 2015 Koalitionspartner der Tories. Bei der Unterhauswahl 2015 stürzten sie von 23 auf 7,8 Prozent der Stimmen ab. Laut Umfragen konnten die Liberaldemokraten seither nur leicht zulegen – wohl auch deshalb, weil sich die Mehrheit der Briten mit dem Brexit abgefunden habe, wie The Guardian schrieb: "Die Wunde [des Referendums] scheint zu heilen. Das ist nicht gut für die Partei [der Liberaldemokraten]." Die Führung der Labour Party sah im Wahlkampf keine Alternative zum Brexit. Doch sie forderte eine möglichst enge Beziehung mit der EU, also keinen "harten Brexit". In ihrem Wahlprogramm setzte die Labour Party auf soziale Themen. Sie forderte höhere Steuern für Gutverdienende und mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem. Schulklassen sollten kleiner und Studiengebühren abgeschafft werden. Post, Bahn- und Energieunternehmen sollten verstaatlicht werden. Die britische Presse reagierte darauf gespalten. Über einen "sozialistischen Irrweg" und "zentralstaatlich ausgeübte Gleichmacherei" schimpfte die konservative Tageszeitung The Daily Telegraph. Ganz anders The Guardian: Labours Parteiprogramm biete endlich "eine klare Leitlinie dafür, wie sich eine moderne Mitte-links-Partei den Herausforderungen einer krisengeschüttelten wohlhabenden Nation stellt". Die Tories setzten diesmal mehr als früher auf soziale Themen. Sie forderten in ihrem Wahlprogramm mehr Staatsintervention und Kontrolle der Marktwirtschaft. Bei Energiepreisen für Verbraucher sollte es eine Obergrenze geben. Arbeitnehmer sollten mehr Mitbestimmungsrechte erhalten. Mit diesen Versprechen sollten nach Meinung der meisten britischen Kommentatoren frühere Labour-Wähler geködert werden, denen die eigene Partei unter Jeremy Corbyn zu weit nach links gerutscht war. Weitere Wahlkampfthemen: Zuwanderung und Innere Sicherheit Den Wahlausgang am 8. Juni 2017 sahen nur wenige voraus. The Daily Telegraph wähnte May auf Erfolgskurs: "Sie hat verstanden, dass [die beiden früheren Premiers] Margaret Thatcher und Tony Blair aus ihrer jeweiligen Oppositionsrolle heraus an die Macht kommen konnten, weil sie mit ihren Wahlprogrammen sowohl die traditionellen Anhänger der eigenen Partei als auch jene ansprachen, die sonst nicht Anhänger der Tories oder von Labour waren." Doch der Linksruck sei für May mittelfristig nicht ungefährlich, warnte die konservative Tageszeitung The Times: "May ist bei den Wählern überaus beliebt. Doch ihr zutiefst beunruhigender Linksruck in wirtschaftlichen Fragen wird Konflikte innerhalb der Tories in der Zukunft schüren." Umstritten waren zudem Mays restriktive Pläne bei der Frage der Zuwanderung, dem zweiten bestimmenden Thema des Wahlkampfs neben dem Brexit. Die Premierministerin kündigte an, die Netto-Zuwanderung auf unter 100.000 Menschen pro Jahr zu senken. Im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 276.000 Personen. May plädierte unter anderem dafür, dass EU-Bürger nach dem Brexit nicht mehr wie bisher relativ schrankenlos einreisen dürfen. Die britische Presse sah Mays Vorhaben vor allem aus wirtschaftspolitischer Sicht größtenteils kritisch. "Eine kluge Zuwanderungspolitik wird von klaren Prinzipien gesteuert, nicht von einer willkürlich gewählten Zahl”, mahnte etwa die konservative Tageszeitung The Evening Standard. Der Externer Link: Selbstmordanschlag in Manchester knapp zwei Wochen vor der Wahl und ein weiterer Anschlag mit einem PKW in London auf Fußgänger auf der London Bridge ließen die auch in Großbritannien stets schwelende Debatte über innere Sicherheit und Integration kurzzeitig wieder neu aufleben. Wie auch immer die Unterhauswahl ausgehen sollte, sei letztlich nicht so wichtig, bilanzierte The Observer und verwies auf die anstehenden historischen Austrittsverhandlungen mit der EU: "Die ungeheure Herausforderung des Brexit ist von größerer Bedeutung. Der ungleiche Kampf May gegen Corbyn wird bald vergessen sein – die Reihe von grundlegenden Entscheidungen, die in den nächsten zwei Jahren getroffen werden müssen, hingegen nicht. Sie werden das Land, in dem wir leben, für die nächsten Generationen gestalten." Dennoch überraschte der Wahlausgang am 8. Juni. Die Tories verloren 13 Sitze und ihre absolute Mehrheit. Labour gewann dagegen 30 Mandate hinzu, die Liberaldemokraten vier. Damit verknüpft sind neue Diskussionen über das Wahlergebnis als Wählervotum für einen eher "weichen" statt "harten" Brexit - und über die politische Zukunft Theresa Mays. Weitere Inhalte Externer Link: Das britische Wahlergebnis vom 8. Juni 2017 im Detail (BBC-Grafiken) Externer Link: Pressestimmen zum Ausgang der Wahl 2017 (eurotopics.net) Interner Link: Hintergrund Aktuell (23.04.2015): Die Parlamentswahlen in Großbritannien 2015 Interner Link: Hintergrund Aktuell (12.05.2015): Ergebnisse der Unterhauswahlen in Großbritannien 2015 Interner Link: Hintergrund Aktuell: Der Austritt beginnt - EU tagt zum Brexit Interner Link: Hintergrund Aktuell (29.07.2016): Großbritannien bereitet sich auf den Brexit vor
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-10-04T00:00:00
2017-05-31T00:00:00
2021-10-04T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/249268/grossbritanniens-wahl/
Die Briten haben am 8. Juni 2017 ein neues Parlament gewählt. Die konservative Premierministerin Theresa May hatte die Neuwahl im April überraschend angekündigt. Ihr erklärtes Ziel: ein starkes Mandat für die Brexit-Verhandlungen. Doch ihre Conservat
[ "Großbritannien", "Unterhauswahl", "Parlamentswahl", "Brexit", "EU-Austritt", "europäische Union", "Deutsche Wahlen" ]
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Wahl-O-Mat zur Bürgerschaftswahl in Bremen | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, am 15. April 2015 geht der Wahl-O-Mat zur Bürgerschaftswahl in Bremen online. Er wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und der Landeszentrale für politische Bildung Bremen mit einer regionalen Jugendredaktion entwickelt. Das interaktive Online-Tool gibt mit seinen 38 Thesen einen Überblick über aktuelle Themen des Wahlkampfes und errechnet, welche der zur Wahl stehenden Parteien der eigenen politischen Position am nächsten stehen. Alle 11 Parteien, die zur Bürgerschaftswahl antreten, haben sich im Vorfeld zu den 38 Thesen der Wahl-O-Mat-Redaktion positioniert. Im Rahmen der Pressekonferenz testen Spitzenkandidaten und prominente Vertreter der in der Bürgerschaft vertretenen Parteien den Wahl-O-Mat zum ersten Mal. Dazu laden wir Sie herzlich ein am 15. April 2015 um 10.30 Uhr, in den Festsaal der Bremischen Bürgerschaft, Am Markt 20, 28195 Bremen. Sie selbst können ebenfalls den Wahl-O-Mat „spielen“, mit den Machern ins Gespräch kommen und erste Eindrücke einfangen. Vertreter der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, der Bundeszentrale für politische Bildung und die Parteienvertreter stehen für Gespräche zur Verfügung. Ablauf: - Eröffnung durch die Landeszentrale für politische Bildung Bremen - Grußwort Christian Weber, Präsident der Bremischen Bürgerschaft - Präsentation des Wahl-O-Mat durch Jugendliche des Redaktionsteams - Die Spitzenkandidaten der Parteien spielen den Wahl-O-Mat Anschließend: Pressegespräch mit den Spitzenkandidaten und Vertretern der Landeszentrale für politische Bildung Bremen und der Bundeszentrale für politische Bildung Ende: ca. 12.00 Uhr Kurzinformation zum Wahl-O-Mat: Seit 2002 ist der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung im Einsatz, um vor allem junge Wähler zu informieren und zu motivieren. Das Online-Angebot wird im Vorfeld von Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen eingesetzt. Der Wahl-O-Mat hat sich zu einer festen Größe für politische Informationen im Vorfeld von Wahlen etabliert und wird von immer mehr Menschen genutzt: Vor der Bundestagswahl 2013 informierten sich 13,3 Millionen Nutzer im Wahl-O-Mat über die Programme der Parteien. Insgesamt wurde der Wahl-O-Mat im Vorfeld von Wahlen schon über 43 Millionen Mal genutzt. Alle Presseinformationen und Material zum Download finden Sie unter Externer Link: www.wahl-o-mat.de/presse Wir freuen uns auf Ihr Kommen! Mit freundlichen Grüßen Miriam Vogel - Referentin - Presseeinladung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Miriam Vogel Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-04-09T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/204383/wahl-o-mat-zur-buergerschaftswahl-in-bremen/
Am 15. April 2015 geht der Wahl-O-Mat zur Bürgerschaftswahl in Bremen online. Er wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und der Landeszentrale für politische Bildung Bremen mit einer regionalen Jugendredaktion entwickelt. Das interak
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"This Ain't California" | "This Ain't California" | bpb.de
Filmplakat "This ain't California" (© Wildfremd Production GmbH) Ein Film über Skateboarder in der DDR? Gab es die denn überhaupt im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat? Sehr wohl, wie der Film "This Ain't California" von Marten Persiel zeigt, der am 16. August 2012 bundesweit gestartet ist. In 90 Minuten taucht der Film in das künstlerisch nachempfundene Lebensgefühl junger DDR-Skater ein und erzählt, wie sich diese Subkultur in den 1980er-Jahren zu einer kleinen und informellen, aber äußerst lebendigen Szene entwickelte, die sich vor allem in Berlin und Leipzig zusammenfand. "This Ain't California" zeigt einfühlsam einen meist ausgeblendeten Teil des DDR-Alltags, einen, in dem man jede Menge Spaß haben konnte. Dennoch spaltet Marten Persiels DDR-Skater-Film Kritik und Publikum. Denn die vermeintliche Dokumentation ist, ohne dies je im Film kenntlich zu machen, zum Großteil inszeniert. Die erzählte Geschichte ist, gleichwohl auf Recherchen basierend, von den Filmschaffenden erdacht. Deshalb und wegen etlicher Unklarheiten hinsichtlich der Materiallage fühlen sich die einen massiv getäuscht und werfen der Regie "Geschichtsklitterung" vor. Andere schätzen wiederum die filmischen und erzählerischen Qualitäten von "This Ain't California" und drücken ein Auge zu oder stören sich erst gar nicht an dem undurchschaubaren Mix von Fakten und Fiktion. Eine Auseinandersetzung mit der Genrefrage und die unterschiedlichen Rezeptionsansätze zum Film stehen daher auch im Mittelpunkt dieses Online-Spezials. Entsprechend analysiert die Filmrezension nicht nur filmsprachliche und dramaturgische Aspekte, sondern auch, ob und inwiefern die Machart von "This Ain't California" den Meinungsbildungsprozess des Publikums in Bezug auf den Film und sein historisches Thema beeinflusst – eine Fragestellung, mit der sich auch das ergänzende filmpädagogische Arbeitsblatt befasst. Die Kritik, es mit den Fakten nicht allzu genau zu nehmen, wollen die Filmemacher jedoch nicht stehen lassen. Es geht ihnen vielmehr um eine "gefühlte Wahrheit", wie Regisseur Marten Persiel und Produzent Ronald Vietz im Interview erklären, und damit um einen interessanten, aber auch streitbaren dokumentarischen Ansatz. Dass innerhalb des Dokumentarfilm-Genres die Grenzen zum Spielfilm verwischen, ist kein neues Phänomen, wie die Autorin Luc-Carolin Ziemann in ihrem Artikel über "Fake-Dokus" aufzeigt. Nicht um filmische Freiheiten, sondern um eine individuelle Jugendrinnerung geht es schließlich in Jenni Zylkas Porträt eines ehemaligen DDR-Skaters. Ziel dieses Spezials ist es, den Blick des Kinopublikums zu sensibilisieren für den freien künstlerischen Umgang mit filmischen Formen, wie er beispielhaft in "This Ain't California" zu beobachten ist. Nicht zuletzt wollen diese Texte aber auch zur Diskussion anregen – über Erwartungen an das Genre Dokumentarfilm oder über die Frage, mit welchen Methoden Zeitgeschichte im Film vermittelt werden kann oder sollte. Filmplakat "This ain't California" (© Wildfremd Production GmbH)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-21T00:00:00
2012-08-13T00:00:00
2021-12-21T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/142341/this-ain-t-california/
Ein Film über Skateboarder in der DDR? Gab's die denn überhaupt im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat? Sehr wohl, wie der Film "This Ain't California" von Marten Persiel zeigt...
[ "Arbeiter- und Bauernstaat", "Skater", "Film", "DDR" ]
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Verbände in der Familienpolitik | Familienpolitik | bpb.de
Familienpolitik ist eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die ressortübergreifend auf die Schultern vieler Akteure verteilt ist. Neben den so genannten öffentlichen Trägern, wie Bund, Länder und Kommunen, zählen dazu auch nichtstaatliche Akteure: die freien Träger der Wohlfahrtspflege, Kirchen, Familienverbände, Arbeitgeber und Gewerkschaften. Verbände spielen eine zentrale Rolle bei der Gestaltung, Entwicklung und Vermittlung familienpolitischer Entscheidungen. Johanna Possinger vom Deutschen Jugendinstitut skizziert, welche Verbände zu den zentralen Akteuren der Familienpolitik in Deutschland gehören und beschreibt, wie diese im politischen Willensbildungsprozess wirken. Verbände repräsentieren gesellschaftliche Vielfalt und legitimieren demokratische Prozesse, indem sie Forderungen bestimmter Bevölkerungsgruppen Ausdruck verleihen und dafür sorgen, dass die konkreten Lebenssituationen von Menschen im politischen Prozess berücksichtigt werden. Sie filtern und bündeln die Interessen ihrer Mitglieder (Interessenselektion und Interessenaggregation), um innerhalb ihrer Organisation einen Konsens zu finden und so eine klare Position nach außen vertreten zu können. Als Sprachrohr und "Anwälte" ihrer Mitglieder vermitteln sie diese Positionen und Interessen dann an die Öffentlichkeit und die Politik (Interessenartikulation). Verbände Unter Verbänden versteht man grundsätzlich Organisationen, die dem Bereich des "Dritten Sektors" zugeordnet werden, der zwischen dem Staat und dem Markt angesiedelt ist. Es handelt sich dabei um freiwillige Zusammenschlüsse von natürlichen bzw. juristischen Personen, die nach innen arbeitsteilig organisiert sind und nach außen gegenüber dem Staat, aber auch anderen Interessensgruppen gemeinsame Ziele vertreten, indem sie an politischen Entscheidungsprozessen mitwirken. (Alemann von 1996) Hierbei nehmen Verbände auch eine wichtige Rolle als kritische Berater der Politik ein. Sie fördern die Integration von Bürgerinnen und Bürgern in den Staat, indem sie Menschen die Chance geben, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Sie erfüllen zudem eine wichtige Funktion als "Transmissionsriemen" zwischen der Politik und der Gesellschaft. Dies geschieht zum einen dadurch, dass sie mit ihrer Interessenvertretung etwa im Bereich der Familienpolitik vermeiden wollen, dass politische Entscheidungen getroffen werden, die an den Wünschen und Bedarfen von Familien vorbeigehen und die Politik dementsprechend beraten. Zum anderen vermitteln sie Entscheidungen der Politik an ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit, indem sie zum Beispiel Gesetze und deren Auswirkungen für die Praxis erklären. Als "kommunizierende Röhren", also als Gesprächspartner zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, der Verwaltung und dem Gesetzgeber leisten sie damit einen unverzichtbaren Beitrag zum Gelingen des demokratischen Prozesses (Straßner 2006). In der Familienpolitik sind es vor allem drei Typen von Verbänden, die im politischen Beratungs- und Gesetzgebungsprozess eine zentrale Rolle spielen: Verbände der freien Wohlfahrtspflege, Familienverbände sowie Verbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften. Verbände der freien Wohlfahrtspflege Die sechs großen Verbände der freien Wohlfahrtspflege zählen zu den zentralen Partnern des Staates in der Familienpolitik. Dazu gehören die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Deutsche Caritasverband (DCV), der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV), das Deutsche Rote Kreuz (DRK), das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (DW) und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Diese sechs Spitzenverbände haben sich außerdem in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengeschlossen. Die heutige Gestaltung der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland geht überwiegend auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie das erste Viertel des 20. Jahrhunderts zurück. Damals gründeten sich wohlfahrtspflegerische Initiativen aus unterschiedlichen Motivationen heraus (zum Beispiel christliche Nächstenliebe, Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter, bürgerliche Aufklärung), um sich den dringenden sozialen Problemen ihrer Zeit anzunehmen (wie Massenarmut, Opfer der Weltkriege). Heute zählen die Verbände der freien Wohlfahrtspflege mit über 1,5 Millionen Beschäftigten zur Riege der größten Arbeitgeber in Deutschland und haben damit eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeutung. Tabelle: Wohlfahrtsverbände Arbeiter- wohlfahrt (AWO)Deutscher Caritas- verband (DCV)Deutscher Paritätischer Wohlfahrts- verband (DPWV)Deutsches Rotes Kreuz (DRK)Diakonisches Werk (DW)Zentralwohl- fahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) Gründung1919 als "Hauptaus- schuss für Arbeiter- wohlfahrt in der SPD" gegründet.1897 als "Caritas- verband für das katholische Deutschland" gegründet.1924 als "Vereinigung der freien gemein- nützigen Wohlfahrts- einrichtungen in Deutschland“ gegründet.1866 gegründet.1849 als "Zentralaus- schuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche" ins Leben gerufen.1917 gegründet. Organi-sationDie AWO ist föderativ aufgebaut und besteht aus 3800 Ortsvereinen, 480 Kreis- verbänden, 29 Landes- und Bezirks- verbänden sowie dem Bundes- verband. Sie hat 114.600 hauptamtliche Mitarbeiter/ -innen (Stand 2008).Mitglieder des DCV sind 27 Diözesan- verbände mit 500 Teilverbänden, 19 Fach- verbände sowie 260 caritative Genossen- schaften. Der DCV verfügt über 507.500 hauptamtliche Beschäftigte (Stand 2008).Der DPWV ist föderativ aufgebaut und gliedert sich in 15 Landes- verbände sowie 280 Kreis- geschäfts- stellen. Er beschäftigt rund 317.400 Hauptamtliche (Stand 2008).Mitglieder des DRK sind seine 19 Landes- verbände und ca. 500 Kreis- verbände sowie 33 Schwestern- schaften. Der Verband beschäftigt etwa 132.000 Mitarbeiter/ -innen (Stand 2008).Zum DW gehören 24 Landeskirchen, neun Freikirchen und 90 Fachverbände. Die Diakonie beschäftigt mehr als 443.600 Angestellte (Stand 2008).Die ZWST gliedert sich in 18 Mitglieds-organisationen, die überwiegend als Landes- verbände organisiert sind. Sie beschäftigt rund 1000 Mitarbeiter/ -innen. Selbst-verständ- nisDie AWO ist politisch unabhängig und sieht sich Grundwerten des freiheitlich-demokratischen Sozialismus verpflichtet, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit und Toleranz.Kennzeichnend ist die Einbindung der Caritas in die katholische Kirche. Die Basis ihrer Arbeit sind theologische und ethische Grundsätze wie das christliche Gebot der Nächstenliebe. Sie versteht sich als Anwalt Benachteiligter.Der DPWV sieht sich als Verband sozialer Bewegungen und ist der Idee sozialer Gerechtigkeit – insbesondere der Gleichheit aller (Parität) – verpflichtet. Er legt Wert auf konfessionelle und politische Unabhängig- keit und die Achtung der Autonomie seiner Mitglieder.Das DRK orientiert sich an den Grundsätzen Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Es versteht sich als Teil einer weltweiten Gemeinschaft, die Menschen in Not unterschiedslos Hilfe gewährt.Die Diakonie ist das evangelische Pendant zur katholischen Caritas. Auf Grundlage des christlichen Evangeliums will sie sich durch "tätige Nächstenliebe" um Menschen in Not kümmern.Die ZWST richtet ihre Arbeit am jüdischen Gebot der Wohltätigkeit (hebräisch: "Zedaka") aus. Nach diesem Leitbild der jüdischen Sozialarbeit gehört Wohltätigkeit zu den religiösen Pflichten. Quelle: Johanna Possinger, Deutsches Jugendinstitut (DJI), eigene Zusammenstellung Grundlage der Arbeit der freien Wohlfahrtspflege ist das Subsidiaritätsprinzip (von lat. "subsidium" = Hilfe, Beistand), auf dem die föderale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland fußt. Demnach darf die jeweils größere Einheit (wie etwa der Staat) im Wesentlichen nur dann tätig werden, wenn die untergeordnete Einheit (wie etwa die Verbände in freier Trägerschaft) dazu nicht in der Lage ist. Der Gedanke der Subsidiarität fördert die Erledigung einer Aufgabe durch kleinere Einheiten und schützt diese vor Eingriffen der jeweils größeren. Der Staat sollte Aufgaben, die kleinere Einheiten auch erledigen können, somit nicht an sich reißen. Das Subsidiaritätsprinzip stammt ursprünglich aus der katholischen Soziallehre und ist unter anderem im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert (Interner Link: Artikel 23 GG). Das Prinzip kennzeichnet die Zusammenarbeit von freier und staatlicher Wohlfahrtspflege und legt fest, dass staatliche Träger – in diesem Fall also die größeren Einheiten – die Selbständigkeit freier Träger, das heißt der kleineren Einheiten, achten müssen. Staatliche Träger sind zum Beispiel Kommunen, Kranken- und Pflegekassen, Jugendämter, die Sozialämter und die Familienkassen. Zielgruppe "Familie" In der Praxis gibt es nicht immer einen Vorrang der freien Träger gegenüber den staatlichen. Stattdessen zeichnet sich das Verhältnis zwischen der freien Wohlfahrtspflege und dem Staat durch komplexe Kooperationsbeziehungen aus. So ergänzen freie Träger die Angebote des Staates sinnvoll und schließen bestehende Angebotslücken durch ihre freien, gemeinnützigen Dienste und Einrichtungen. Beispielsweise besuchen derzeit bundesweit rund zwei Drittel der Kinder eine Kindertageseinrichtung in freier beziehungsweise sonstiger Trägerschaft (wie zum Beispiel private Elterninitiativen oder Betriebskitas), während rund ein Drittel eine staatliche Einrichtung nutzt. Die Wohlfahrtsverbände verbindet dabei das gemeinsame Ziel, die Lebenslagen von Menschen zu verbessern. Sie engagieren sich in der Kindertagesbetreuung, Erziehungs-, Partnerschafts- und Familienberatung, der Altenpflege, der Familienhilfe, der Schwangerenberatung, der Suchtberatung oder auch Familienbildung. Auch zahlreiche Einrichtungen wie zum Beispiel Krankenhäuser, Kindergärten, Umweltgruppen, Familienferienstätten, Mehrgenerationenhäuser oder Sportvereine sind bundesweit in freier Trägerschaft. Anders als etwa die Familienverbände sind die großen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege nicht nur auf die Zielgruppe "Familie" ausgerichtet, sondern auf alle Hilfebedürftigen. Familien stellen aber eine zentrale Nutzergruppe der Angebote in freier Trägerschaft dar. Die freien Wohlfahrtsverbände spielen außerdem eine wichtige Rolle bei der Aktivierung des bürgerschaftlichen Engagements, indem sie Bürgerinnen und Bürgern mithilfe des Bundesfreiwilligendienstes, des Freiwilligen Sozialen Jahres, Ehrenamtsbörsen und Spenden die Möglichkeit anbieten, sich für andere ehrenamtlich zu engagieren. Durch ihre Arbeit mit Ehrenamtlichen haben die Wohlfahrtsverbände, ähnlich den Familienverbänden, den Vorteil, persönliche Kontakte zu Familien in unterschiedlichen Lebenslagen zu haben und so Wissen über die Bedarfe von Familien sammeln zu können, das unmittelbar in die familienpolitischen Positionen der Verbände miteinfließen kann. Für ihre Mitglieder erfüllen die Wohlfahrtsverbände eine wichtige Dienstleistungsfunktion, denn sie bieten unter anderem aufbereitete Fachinformationen, Fortbildungen zu neuen gesetzlichen Regelungen oder juristische Beratungen an. Umgekehrt ermöglichen es die kleineren Mitgliedseinheiten auf Kommunal- und Landesebene den Bundesverbänden, frühzeitig bundesweite familienpolitische Bedarfe zu erkennen und diese an die Politik zu vermitteln. Sie sind damit auch wichtige Seismografen der Familienpolitik. Neben ihren Rollen als Träger gemeinnütziger Dienste und Einrichtungen sowie als Dienstleister für ihre Mitglieder, erfüllen die sechs großen Wohlfahrtsverbände in Deutschland darüber hinaus also auch wichtige Funktionen als Anwälte von Hilfsbedürftigen sowie als Berater der Politik. Dabei unterscheiden sie sich in weltanschaulichen, humanitären und religiösen Leitbildern und Zielsetzungen ihrer Arbeit. Jenseits dieser Unterschiede setzen sich die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in der Familienpolitik jedoch alle dafür ein, strukturelle und ökonomische Benachteiligungen von Familien zu beseitigen, Armut von Familien wirksamer zu bekämpfen und Familie als generationenübergreifende Verantwortungsgemeinschaft zu stärken. Familienverbände Als Akteure an der Schnittstelle zwischen den freien Trägern und der staatlichen Familienpolitik verstehen sich die Familienverbände in Deutschland. Ähnlich wie die Wohlfahrtsverbände sind sie parteipolitisch ungebundene, teilweise weltanschaulich profilierte Fach- und Interessengruppen. Auch sie sind teilweise Träger von Angeboten für Familien vor Ort. Als "Anwälte" für Familien setzen sie sich außerdem gezielt gegenüber der Politik, den Medien und der Öffentlichkeit für die Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen für Familien ein. Zudem sind Familienverbände auch darauf ausgerichtet, die Selbsthilfepotenziale von Familien zu stärken. Mit ihrer fachlichen Arbeit zu den Schwerpunkten Armut von Familien, Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben, Infrastruktur für Familien und Familienbildung wollen sie ihrerseits einen Beitrag zur familienfreundlicheren Gestaltung der Gesellschaft leisten. Familienverbände verstehen sich hierbei auch als Instrumente einer kritischen Beratung und Begleitung der staatlichen Familienpolitik, zum Beispiel indem sie Gesetzesvorhaben der Bundesregierung kritisieren und eigene Vorstellungen einer "besseren" Politik für Familien an politische Entscheidungsträger herantragen. Tabelle: Familienverbände Deutscher Familien- verband e.V. (DFV)Familienbund der Katholiken (FDK)Evangelische Aktionsge-meinschaft für Familienfragen e.V. (eaf)Verband binationaler Familien und Partner-schaften e.V. (iaf)Verband allein-erziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV)Zukunftsforum Familie e.V. (ZFF) Gründung1924 gegründet.1953 gegründet.1953 gegründet.1972 gegründet.1967 gegründet.2002 gegründet. Organi-sationDer DFV hat mehr als 15.500 Mitglieder, 16 Landes- verbände und mehrere Orts- und Kreisverbände. (Stand 2013).Mitglieder im Bundes- verband sind die Diözesan- und Landes-verbände, 15 katholische Verbände sowie einzelne Familien- und Familien- gruppen.Die eaf ist der familien- politische Dachverband evangelischer Institutionen und Verbände auf Bundes- und Landesebene.Der iaf ist die Interessen-vertretung binationaler und multinationaler Familien und Partner-schaften.Der VAMV vertritt die Interessen von 9000 Mitgliedern und über 3 Mio. Eineltern- familien in Deutschland (Stand 2013).Das ZFF wurde auf Initiative der Arbeiter-wohlfahrt als Fachverband gegründet. Mitglieder des ZFF sind deshalb Gliederungen der AWO, aber auch andere Verbände und Einzel- personen. Selbst-verständ- nisDie DFV ist politisch und konfessionell ungebunden und sieht seine Aufgabe darin, die Interessen der Familie gegenüber der Legislative und der Wirtschaft zu wahren. Dazu gehört u.a. der Schutz von Ehe und Familie, die gesetzliche Anerkennung der Erziehungs-leistung sowie die Schaffung einer kinder-freundlichen Umwelt.Der FDK basiert auf christlichen Wert- vorstellungen. Neben seiner Interessen- vertretung von familien- bezogenen Anliegen in Kirche, Staat und Gesellschaft sieht er seinen besonderen Auftrag u.a. darin, für den Schutz und das Gelingen von Familie einzutreten.Die eaf orientiert ihre Arbeit an christlichen Wert- vorstellungen. Sie betont die Notwendigkeit, der veränderten Lebens- wirklichkeit von Familien gerecht zu werden. Dazu setzt sie sich u.a. für die partner- schaftliche Fürsorge- verantwortung von Männern und Frauen, wirtschaftliche Sicherheit und Teilhabe-gerechtigkeit für Kinder ein.Der iaf will das interkulturelle Zusammen- leben in Deutschland gleich-berechtigt und zukunfts-weisend gestalten. Er engagiert sich gegen Rassismus, Diskriminierung und rechtliche Ein- schränkungen binationaler Familien.Der VAMV unterstützt Allein-erziehende durch Informationen, Beratung und Lobbyarbeit. Er setzt sich u.a. für gute Kinder-betreuung, garantierte Unterhalts-zahlungen und eine bessere Existenz-sicherung von Kindern ein.Das ZFF setzt sich für eine zukunfts-orientierte Familienpolitik ein, der ein weiter Familien- begriff zugrundeliegt. Schwer- punkte der Arbeit des ZFF sind u.a. Elterngeld und Zeitpolitik sowie die Bekämpfung von Kinderarmut. Quelle: Johanna Possinger, Deutsches Jugendinstitut (DJI), eigene Zusammenstellung Zu den großen Familienverbänden in Deutschland gehören der Deutsche Familienverband (DFV), der Familienbund der Katholiken (FDK), die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (eaf), der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf), der Verband kinderreicher Familien Deutschland (KRFD) sowie das auf Initiative der Arbeiterwohlfahrt gegründete Zukunftsforum Familie (ZFF). Auch die Selbsthilfeinitiativen Alleinerziehender (SHIA) sowie diverse Landesverbände und regionale beziehungsweise diözesane Gliederungen zählen zu den Familienverbänden. Die Verbände DFV, FDK, eaf, VAMV und iaf sind außerdem überkonfessionell in der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen (AGF) zusammengeschlossen. Die AGF fördert den Dialog zwischen den Familienverbänden und den Akteuren der staatlichen Familienpolitik. Sie arbeitet mit familienpolitischen Vereinigungen auf europäischer Ebene zusammen und unterstützt die Kooperation der Familienverbände untereinander. Des Weiteren wurde im Jahr 2000 das Bundesforum Familie (BFF) gegründet. Dieses geht auf den Versuch zurück, ähnlich wie etwa in Frankreich, ein nationales Gremium aller Familienorganisationen zu schaffen. Es umfasst bundesweit knapp 120 Mitgliedsorganisationen, zu denen neben den Familienverbänden auch die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen, Stiftungen, Gewerkschaften oder auch Arbeitgeberverbände gehören. Über diese institutionalisierten Zusammenschlüsse von AGF und BFF hinaus gehen Familienverbände miteinander auch zu bestimmten Themen Kooperationen ein (wie etwa im Bündnis "7% für Kinder" oder im "Bündnis Kindergrundsicherung"). Mit einem solchen Schulterschluss versuchen sie ihren Positionen mehr politisches Gewicht zu verleihen und von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen zu werden. Verbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften Ebenfalls zu den zentralen Akteuren der Familienpolitik zählen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Zu den größten Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft gehören die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Bei den Gewerkschaften ist vor allem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu nennen. Genau wie die Wohlfahrts- und die Familienverbände bündeln auch die Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände die Interessen ihrer Mitglieder und stellen deren tarif-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Sprachrohr in die Gesellschaft dar. Arbeitgeberverbände und die Mitgliedsgewerkschaften des DGB (wie etwa IG Metall oder ver.di) handeln frei und unabhängig von Staat Tarife für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus, die in zeitlich befristeten Tarifverträgen festgelegt werden. Damit üben die Sozialpartner unmittelbaren Einfluss auf das Familienleben aus, indem sie zum Beispiel durch ihre Tarifverträge maßgeblich darüber bestimmen, wie viel Zeit und Geld Familien zur Verfügung steht. Zugleich vertreten die Wirtschaftsverbände, im Unterschied zu den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und den Familienverbänden, nicht unmittelbar die Interessen von Familien, sondern die Interessen der Arbeitgeber. Sie verfolgen damit familienpolitisch oft andere Ziele als es die gemeinnützigen Interessenverbände tun. So liegt es beispielsweise eher im Interesse von Arbeitgeberverbänden die Arbeitsmarktverfügbarkeit von Frauen und Männern für den Arbeitsmarkt zu steigern – unabhängig davon, welche Familienverpflichtungen diese zu leisten haben. Familienverbände vertreten hingegen die Interessen der Familien, das heißt sie wollen die Teilhabe von Eltern am Erwerbsleben zwar auch fördern, setzen sich darüber hinaus aber ebenso dafür ein, dass Eltern sowie Pflegende neben ihren Arbeitszeiten noch ausreichend freie Zeit für sich und ihre Kinder beziehungsweise bedürftigen Angehörigen haben. Nicht immer unproblematisch ist hierbei, dass die Arbeitgeberverbände über deutlich größere finanzielle Ressourcen verfügen und damit im politischen Beratungs- und Beeinflussungsprozess oftmals eine stärkere Durchsetzungskraft haben als die gemeinnützigen Interessenverbände. Der demografische Wandel macht mehr Familienfreundlichkeit nötig Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels ist das Engagement der Sozialpartner im Bereich Familie in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Dies liegt daran, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften selbst zunehmend erkennen, dass eine familienbewusste Personalpolitik für sie auch wirtschaftliche Vorteile hat. So trägt eine hohe Familienfreundlichkeit des Arbeitgebers dazu bei, Männer und Frauen mit Familienverpflichtungen im Unternehmen zu halten, deren Zufriedenheit und Motivation zu steigern sowie Krankheits- und Fluktuationsraten zu senken. Wenn auch bei vielen Arbeitgebern hier noch großer Nachholbedarf besteht, haben zum Beispiel Initiativen wie das "audit berufundfamilie" der gemeinnützigen Hertie-Stiftung, das Arbeitgebern bei der (Weiter-)Entwicklung familienbewusster Angebote unterstützt und diesen für ihre Maßnahmen Zertifikate verleiht, dazu beigetragen, dass die hohe Bedeutung von Familienfreundlichkeit in den vergangenen Jahren immer mehr im Bewusstsein der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften angekommen ist. Darüber hinaus erweisen sich strategische Kooperationen zwischen dem Bundesfamilienministerium und den Spitzenverbänden von Arbeitgebern und Gewerkschaften als eine zielführende Strategie der Politik, die Wirtschaft bei der Gestaltung einer familienbewussten Arbeitswelt stärker in die Pflicht zu nehmen. Schon 2003 rief die Bundesregierung gemeinsam mit den großen Arbeitgeberverbänden, dem Deutschen Gewerkschaftsbund, Stiftungen und einzelnen Unternehmen die "Allianz für Familie" ins Leben. In einem Spitzengespräch "Familie und Wirtschaft" einigte man sich auf Grundsätze einer familienbewussten Arbeitswelt und unterzeichnete eine gemeinsame Erklärung. 2011 bekannten sich die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft und des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur einer "Charta für familienbewusste Arbeitszeiten". Solche Willensbekundungen können zwar als positives Signal gewertet werden, führen jedoch alleine nur selten zu konkreten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen von Männern und Frauen mit Familienverpflichtungen. Mehr bewegen konnte hier hingegen das vom Bundesfamilienministerium geförderte Unternehmensprogramm "Erfolgsfaktor Familie". In den vergangenen Jahren hat dieses zu einer stärkeren Sensibilisierung der Wirtschaft für das Thema familienfreundliche Arbeitswelt beigetragen, indem es unter anderem Erfolgsbeispiele einer familienbewussten Personalpolitik vorstellt, in einem Wettbewerb die familienfreundlichsten Unternehmen auszeichnet oder Förderprogramme zu einzelnen Maßnahmen einer betrieblichen Familienorientierung (wie zum Beispiel betriebliche Kinderbetreuung) unterstützt. Politikberatung in der Familienpolitik Wie arbeiten Verbände nun speziell im Bereich der familienpolitischen Politikberatung? In der Regel beginnt dieser Prozess mit der Meinungsfindung im eigenen Verband. Meist werden im Rahmen von Ausschüssen einzelne familienpolitische Themen diskutiert und gemeinsame Positionen dazu entwickelt. In diesen Ausschüssen sitzen oftmals nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Verbände und ihrer Mitglieder, sondern auch externe Experten, die zusätzliches Wissen in die Diskussionen einbringen. Die hier gebildeten Positionen werden dann in hierarchisch höheren Entscheidungsgremien weiter abgestimmt (zum Beispiel auf Bundesverbandsebene). Auf diese Weise entstehen innerhalb des jeweiligen Verbandes familienpolitische Positionspapiere, politische Empfehlungen sowie kritische Stellungnahmen zu aktuellen Gesetzentwürfen. Um ihren Positionen mehr politisches Gewicht zu verleihen, tauschen sich insbesondere die freien Verbände der Wohlfahrtspflege sowie die Familienverbände in bundesweiten Foren wie dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) aus. Der DV stellt den Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger im Bereich soziale Arbeit dar und eignet sich als Plattform, damit Verbände unterschiedliche Standpunkte auszutauschen sowie im Konsens gemeinsame Positionen entwickeln können, um diese dann geschlossen in die Kanäle des politischen Beratungsprozesses einzuspeisen. Das Spektrum an Methoden der familienpolitischen Politikberatung ist bei Verbänden sehr vielfältig. Neben der Beratung einzelner Abgeordneter sowie von Bundes- und Landesministerien, ist die Mitarbeit in politischen Gremien und Beiräten (etwa bei den Familienberichten der Bundesregierung) sowie die Teilnahme als extern geladene/r Sachverständige/r zu Anhörungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestages von wesentlicher Bedeutung, um die Interessen des Verbandes gegenüber der Politik zu vertreten und politische Entscheidungen zu beeinflussen. Auch wenn Anhörungen von vielen Verbänden durchaus kritisch gesehen werden, da von den Fraktionen in der Regel nur solche Expert/innen als Sachverständige eingeladen werden, die deren parteipolitische Zielsetzungen unterstützen (Huber 2009, S. 19). So werden von der CDU/CSU-Fraktion neben Sachverständigen aus der Wissenschaft und Fachpraxis, die deren Position inhaltlich stützen, tendenziell häufig Arbeitgeber- und Industrieverbände geladen. Bei der SPD-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken sind es dagegen häufiger Gewerkschaftsverbände. Trotz aller Kritik sind Anhörungen jedoch eine wichtige Plattform, um die eigene Position des Verbandes öffentlichkeitswirksam darzustellen. Des Weiteren ist die Zusammenarbeit mit den Massenmedien etwa in Form von Interviews, Pressekonferenzen und Pressemitteilungen ein wichtiges Instrument, um familienpolitisch relevante Themen zu besetzen und so politischen Druck aufzubauen. Oft werden auch Fachtagungen zu einzelnen familienpolitischen Fragestellungen (wie etwa zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf) durchgeführt, die sich an eine breite Öffentlichkeit richten und Vertreter der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik mit Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft sowie aus der Praxis der sozialen Arbeit in einen Austausch bringen. Zudem betreiben manche Verbände eigene Akademien, die mit ihren Fortbildungen (zum Beispiel zur Auswirkung eines Gesetzes in der Praxis) ebenfalls wichtige politische Beratungsarbeit leisten. Netzwerkpflege und Timing Von besonderer Bedeutung, um überhaupt gehört und wahrgenommen zu werden, sind für Verbände persönliche Kontakte zur Politik und den Medien. Die Beziehungspflege zu Abgeordneten gilt als entscheidend, um familienpolitische Informationen zwischen der Verbandspraxis und der Politik fließen zu lassen und um an Beratungsprozessen in Gremien und Anhörungen beteiligt zu werden. Neben Beziehungen zu Abgeordneten selbst sind hierbei auch deren wissenschaftliche Mitarbeiter im Bundestag wichtige Netzwerkpartner. Diese filtern in der Regel die fachlichen Informationen, die den Abgeordneten vorgelegt werden und machen oftmals selbst Vorschläge, welche Verbände in Prozesse einzubeziehen sind. Wie auch in anderen Politikbereichen, kommt es in der familienpolitischen Beratung für Verbände dabei auf das richtige Timing an (Huber 2009, S. 19). Denn der politische Apparat ist nur zu bestimmten Zeitpunkten aufnahmefähig für den Input von außen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn im Familienministerium ein Referenten-Entwurf erarbeitet werden muss, also eine Art Vorarbeit eines später von der Bundesregierung beschlossenen Gesetzentwurfs. Da diese Zeitfenster von außen oft schwer zu erkennen sind, sind auch in diesem Fall persönliche Kontakte der Verbände zu Abgeordneten und ihren Mitarbeitern entscheidend. Die Verbände sind fester Bestandteil der familienpolitischen Landschaft Die Politikberatung ist nur eine der vielfältigen Funktionen, die Wohlfahrts-, Familien-, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände in der deutschen Familienpolitik erfüllen. Sie sind zum einen Interessenvertreter beziehungsweise "Anwälte" ihrer Mitglieder und vermitteln deren Positionen an die Öffentlichkeit sowie an politische Entscheider auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Im familienpolitischen Willensbildungsprozess sind sie zudem Berater, Kritiker und Mahner. Neben ihren Aufgaben im Bereich der Interessenvertretung, leisten insbesondere die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sowie auch Familienverbände einen großen Beitrag zur Schaffung einer familienfreundlichen Infrastruktur, indem sie als Träger von Angeboten (zum Beispiel in der Kindertagesbetreuung, der Pflege, der Familienbildung oder -beratung) Frauen und Männer bei ihren Fürsorgeaufgaben unterstützen und entlasten. Aus der familienpolitischen Landschaft Deutschlands sind die Verbände damit nicht wegzudenken. Literatur Alemann, Ulrich von 1996: Was sind Verbände? In: Informationen zur politischen Bildung, Heft 253, Bonn. Bertsch, Frank 2009: Auf der Suche nach einer verantwortlichen Familienpolitik. Archivheft für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, Berlin, 2/2009: S. 16-29. Boeßenecker, Karl-Heinz 2005: Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Eine Einführung in Organisationsstrukturen und Handlungsfelder der deutschen Wohlfahrtsverbände. Juventa: Weinheim und München. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2011: Fachlexikon der Sozialen Arbeit (7. Auflage). Nomos Verlag: Baden-Baden. Enste, Dominik 2004: Die Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Eine ordnungspolitische Analyse und Reformagenda. Deutscher Institut-Verlag: Köln. Gerlach, Irene 2010: Familienpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden. Huber, Claudia K. 2009: Eine Frage der Präsentation? Kommunikationsprozesse und Darstellungsformen in der wissenschaftlichen Politikberatung. Eine Fallstudie im Bereich Familienpolitik. OPR Online-Papers, 1/2009, Bertelsmann Stiftung: Gütersloh. Richter, Gregor 2002: Privatisierung und Funktionswandel der Freien Wohlfahrtspflege. Nomos: Baden-Baden. Straßner, Alexander 2006: Interner Link: Funktionen von Verbänden in der modernen Gesellschaft. Aus Politik und Zeitgeschichte: Verbände und Lobbyismus. 15-16/2006, Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn. Winter, Thomas von/Willems, Ulrich (Hrsg.) 2007: Interessenverbände in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden. Unter Verbänden versteht man grundsätzlich Organisationen, die dem Bereich des "Dritten Sektors" zugeordnet werden, der zwischen dem Staat und dem Markt angesiedelt ist. Es handelt sich dabei um freiwillige Zusammenschlüsse von natürlichen bzw. juristischen Personen, die nach innen arbeitsteilig organisiert sind und nach außen gegenüber dem Staat, aber auch anderen Interessensgruppen gemeinsame Ziele vertreten, indem sie an politischen Entscheidungsprozessen mitwirken. (Alemann von 1996) Der Begriff "Transmissionsriemen" (Transmission, lat.: Übertragung) stammt ursprünglich aus dem Maschinenbau und bezeichnet eine Vorrichtung, die Kraft von einer Maschine auf eine andere überträgt. In diesem Sinn übertragen Verbände "Kräfte" zwischen Politik und Gesellschaft. Vgl. Timm, Gerhard 2011: Freie Wohlfahrtspflege. In: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. Siehe Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 2011: "Kita vor Ort: Aktuelle Daten zur Betreuungssituation der Kinder im Alter von unter 6 Jahren aus Ebene der Jugendamtsbezirke", Technische Universität Dortmund. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2013: Positionspapier: Kinder, Familie, Frauen. Berlin. BMFSFJ 2005: Betriebswirtschaftliche Effekte familienfreundlicher Maßnahmen. Kosten-Nutzen-Analyse. Prognos AG im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-01-13T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/familie/familienpolitik/198908/verbaende-in-der-familienpolitik/
In der Familienpolitik spielen auch nicht-staatliche Akteure eine wichtige Rolle, nämlich die freien Träger der Wohlfahrtspflege, Kirchen, Familienverbände, Arbeitgeber und Gewerkschaften. Johanna Possinger stellt die wichtigsten Verbände vor und ski
[ "Familienpolitik", "Wohlfahrtsverbände", "Familienverbände", "Arbeitgeber und Gewerkschaften", "Familienfreundlichkeit", "Politikberatung", "Netzwerke", "Deutschland" ]
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Fernsehen in getrennten Systemen | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de
Cover der "FF-Dabei", der wöchentlichen Programmzeitschrift für Funk und Fernsehen in der DDR (© FF Dabei) Fernsehen in der DDR 1970–1989 Die 1970er und 1980er Jahre sind durch ein Nachlassen der Zuwachsraten des Fernsehens gekennzeichnet. Die Teilnehmerzahlen (Gebührenzahler) und die Zuschauerzahlen erreichten eine Sättigungsgrenze. Ende der 1980er Jahre hatten etwa 95 % aller Haushalte in West und Ost ein Fernsehgerät.  Abgrenzung trotz Entspannungspolitik   Im Osten Deutschlands waren die 1970er Jahre durch einen Wechsel in der Führung von Partei und Staat bestimmt: Erich Honecker löste Walter Ulbricht ab. Standen im Hintergrund auch Entspannungsbemühungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, die in den Vier-Mächte-Verhandlungen kulminierten, so war die Politik der DDR gegenüber der Bundesrepublik doch durch eine stärkere Abgrenzung und die Betonung der DDR als "neue(r) sozialistische(r) Nation" gekennzeichnet. Diese Politik führte dazu, dass der Deutsche Fernsehfunk am 11. Februar 1972 in "Fernsehen der DDR" umbenannt wurde.  Unterhaltungsorientierung im DDR-Fernsehen  Kurz nachdem Erich Honecker den langjährigen SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht entmachtet und sich an seine Stelle gesetzt hatte, versuchte er beide Programme zu modernisieren. Bestehende Unterhaltungssendungen wurden ausgebaut und neue – analog zu den Angeboten von ARD und ZDF – konzipiert (z. B. Unterhaltungsabende wie "Ein Kessel Buntes" oder Volksmusiksendungen). Das Programm zielte stärker darauf, die DDR als Nation zu propagieren und sie als Heimat in das Bewusstsein der Zuschauer zu bringen. Die Vermittlung politischer Weltsichten bestand weiterhin, aber es zeigte sich nun deutlich, dass sich mit der Veränderung der Lebensverhältnisse und der Technologisierung der Produktion auch andere gesellschaftliche Leitbilder und Orientierungen herausbildeten. Im Westen wie im Osten – dort etwas zeitversetzt – korrespondierten diese mit bevorzugten unterhaltenden Sendungen und Darstellungsweisen im TV-Programm. Cover der "FF-Dabei", der wöchentlichen Programmzeitschrift für Funk und Fernsehen in der DDR (© FF Dabei) Stagnation in der Programmentwicklung   Die Fernsehentwicklung in den 1980er Jahren ist in der DDR zunehmend durch eine Stagnation in der Programmentwicklung gekennzeichnet. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass es nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann zu einem regelrechten Exodus von Künstlern, Filmemachern, Autoren und Schauspielern aus der DDR kam, deren Fehlen die Programmentwicklung des Fernsehens beeinflusste. Zum anderen wirkte nun auch das Fernsehen der Bundesrepublik stärker in die DDR hinein, nachdem es vor allem in den 1980er Jahren zu technologischen Veränderungen in der Ausstrahlung (vor allem durch die Verbreitung von Fernsehprogrammen per direkt abstrahlendem Satellit) kam.  "Free flow of communication"?  Die grenzüberschreitende Verbreitung von Hörfunk und vor allem von Fernsehen wurde nun international vehement diskutiert (unter dem Stichwort des "free flow of communication"). Es setzte sich gegenüber den Abschottungsversuchen der Ostblock-Staaten, die eine vorherige Zustimmung bei der Abstrahlung fremder Programme auf ihre Territorien forderten, mehr und mehr durch. Vor allem durch die Satellitentechnik war das 'Westfernsehen' nun auch in allen DDR-Gebieten zu sehen.  In den nicht-informationsbezogenen Programmteilen entwickelten sich im Fernsehen der DDR gleichzeitig auch Nischen, in denen etwas mehr Selbstständigkeit gewagt wurde, die sich dann vor allem 1988/89 auch in neuen Programmideen (z. B. "Elf 99") auswirkte.  Fernsehen wird Leitmedium in West und Ost Das Fernsehen entwickelt sich in den 1970-er Jahren zum Leitmedium (© picture-alliance/dpa) Im Westen Deutschlands waren beide Jahrzehnte durch Reformversuche der ab 1969 regierenden sozialliberalen Koalition (Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher), durch ein gesellschaftliches Aufbruchsklima und starke öffentliche Kontroversen gekennzeichnet. In den 1980er Jahren kam der Einstieg in ein kommerzielles Fernsehen hinzu.  Seit 1976 war die Medienentwicklung durch die Diskussion über neue Verbreitungstechnologien (Kabel, Satellit, Videos) und die sich mit der bevorstehenden Programmvermehrung ergebenden Möglichkeiten der Einführung eines kommerziellen Fernsehens bestimmt. Der Wechsel in der Bundesregierung zu einer christlich-liberalen Regierung unter Helmut Kohl führte ab 1982 zu einem Programm der Deutschen Bundespost zur Verkabelung der Republik, wurde damit der technische Grundstein für die ab 1984 in vier Städten eingeführten Kabelpilotprojekte gelegt, in denen es erstmals auch kommerzielle Programme gab.  Seit den 1970er Jahren hatte sich das Fernsehen in Ost und West gleichermaßen zum Leitmedium entwickelt. Was hier wie dort über den Bildschirm lief, bestimmte stärker als das Radio oder die Tageszeitungen die gesellschaftliche Debatte und das private Gespräch. Politische Konflikte wie das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt wurden in der Live-Übertragung zu einem gesellschaftlichen Ereignis wie zuvor nur Sportübertragungen. Das Fernsehen förderte so in der Bundesrepublik den Zusammenhalt einer Gesellschaft, deren alte Bindungsstrukturen wie Großfamilie, Kirche oder Betriebe an Bedeutung und Kraft verloren hatten. In der DDR imaginierte das Fernsehen das Bild einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie real von den Menschen nicht unbedingt täglich erfahren wurde, aber für viele auch als Zielvorstellung dienen konnte.  Medium der Modernisierung   In diesem Sinne war das Fernsehen in beiden deutschen Staaten Ausdruck der Modernisierung einer mobiler werdenden und auf eine größere Unabhängigkeit ihrer Individuen setzenden Gesellschaft. Es war zugleich auch einer ihrer Motoren, weil es Bilder der Modernisierung verbreitete und ihre Werte (wie Schnelligkeit, Beschleunigung, Offenheit für Neues etc.) durch ihre wiederholte Thematisierung propagierte. Dass der durchschnittliche Fernsehkonsum pro Jahr immer weiter anwuchs, deutet an, dass das Fernsehen umgekehrt offenbar auch die Folgen der Individualisierung linderte und Geborgenheit und Heimat vermittelte. Vor allem ältere Menschen verbrachten mehr und mehr Zeit vor dem Fernsehapparat.  Fernsehen und Politik in der BRD Fernsehen bildete durch seine besondere Bild-Ton-Qualität und Verbreitungsmöglichkeiten wie die Live-Ausstrahlung, eine besondere Form von Öffentlichkeit. Diese erzeugte schon in den 1950er Jahren den Eindruck von Unmittelbarkeit und Teilhabe. Dies führte dazu, dass die Politik in Ost wie West das Fernsehen argwöhnisch betrachtete. Gleichwohl nutzte sie aber zunehmend dessen Vermittlungspotenziale.  Fernsehen als Medium politischer Öffentlichkeit   War das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem der Bundesrepublik auf weitgehende Unabhängigkeit des Fernsehens vom Staat angelegt, so wurde umgekehrt in der DDR eine besonders enge Verbindung von Staat, Partei und Fernsehen gesucht. Die Fernsehgeschichte ist deshalb in der Bundesrepublik durch eine frühe, oft direkte Auseinandersetzung zwischen Politik und Fernsehen gekennzeichnet, die Entwicklung in der DDR durch eine feste Verkoppelung von Politik und Fernsehen, die oft nur indirekt – und nicht immer erfolgreich – unterlaufen werden konnte.  Demonstration gegen die Entlassung des TV-Redakteurs der Sendung Panorama, Gert von Paczensky, vor dem Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart im Mai 1963. (© picture-alliance, Harry Flesch) Gesellschaftskritik in politischen Magazinen   Die Politiker der Bundesrepublik taten sich mit dem Medium Fernsehen schwer: Erst in den 1970er Jahren arrangierten sie sich mit der Kritik an ihrem Handeln durch das Fernsehen. Vor allem das nach einem englischen Vorbild gestaltete NDR-Magazin "Panorama", das ab 1961 die Politik der Bundesregierung kritisch begleitete und kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es galt, unhaltbare Zustände der Gesellschaft (beispielsweise die Polizeiaktion gegen den "Spiegel" 1962) anzuprangern, störte konservative Politiker beträchtlich. Immer wieder versuchten sie, Druck auf die Fernsehanstalt, die die Sendung produzierte, (den NDR) auszuüben und in die Redaktion hineinzuregieren. Die konservative Springer-Presse und ihr lautestes Sprachrohr, die "Bild-Zeitung", lieferten dabei oft willfährig Schützenhilfe. So wurde der "Panorama"-Moderator Gert von Paczensky in Schlagzeilen als "Spitzbart" bezeichnet, somit als eine Art westlicher Ulbricht tituliert, der schleunigst vom Bildschirm zu entfernen sei. Paczensky wie auch seine Nachfolger Eugen Kogon und Joachim Fest mussten ihren Moderatorenstuhl vorzeitig räumen, nach politischen Interventionen, die sich gegen kritische Kommentare zur Politik der Bundesregierung richteten. Doch "Panorama" selbst machte weiter. Als sich das WDR-Magazin "Monitor" unter Claus Hinrich Casdorff ebenfalls kritisch der Politik der Bundesregierung widmete, nahm die Kritik am NDR-Magazin ab.  Die Auseinandersetzungen um die Fernsehberichterstattung zeigten, dass das West-Fernsehen sich gegen die ihm zugemutete Rolle, nur die Meinung der Regierung wiederzugeben, erfolgreich wehrte und damit auch in der Bevölkerung das Bewusstsein von der Notwendigkeit einer kritischen Öffentlichkeit aufbauen konnte.  Fernsehen und Politik in der DDR Hauptgebäude des Deutschen Fernsehfunks der DDR in Berlin-Adlershof (© Bundesarchiv, Bild 183-79070-0002 / Fotograf: Horst Sturm und Eva Brüggemann) In der DDR war das Verhältnis von Politik und Fernsehen grundsätzlich anders definiert. Nach dem Leninschen Verständnis der Medien, das auch für die DDR in den 1950er Jahren maßgeblich war, hatten die Medien Agitatoren, Propagandisten und Organisatoren der Massen im Sinne der Partei zu sein. Dementsprechend war die Organisation des Fernsehens eng verkoppelt mit dem Staat und der führenden Partei, der SED.  Das "Staatliche Fernsehkomitee" war nicht nur direkt beim Ministerrat der DDR verankert – sein Vorsitzender war bis zum Ende der DDR das ZK-Mitglied Heinz Adameck –, sondern die Weisungen für das Fernsehen kamen auch direkt von der Partei. Zuständig waren sowohl die Abteilung für Agitation und Propaganda beim ZK der SED als auch – seit den 1970er Jahren – die Agitationsabteilung des Politbüros des ZK der SED, das zunächst unter der Leitung von Albert Norden, später von Werner Lamberz, ab 1979 von Joachim Herrmann stand. Zusätzliche Kontrollen übte das Ministerium für Staatssicherheit aus, das für die Medienkontrolle zuletzt 42 offizielle und 350 inoffizielle Mitarbeiter beschäftigte . 1984 wurde für das Fernsehen auch eine eigene SED-Kreisleitung gebildet, um die Fernsehproduktion stärker an die Partei zu binden .  Sprachanweisungen durch das Politbüro Insbesondere für die politische Berichterstattung und hier vor allem für die Nachrichten der "Aktuellen Kamera" wurden direkte Sprachanweisungen vom Politbüro der SED gegeben. Diese Praxis führte dazu, dass das DDR-Fernsehen über bestimmte aktuelle Ereignisse erst Tage später berichtete, weil vom Politbüro noch keine konkrete Sprachregelung vorlag.  Diese Sprachregelungen führten zudem zu einem sehr hölzernen, eben 'offiziellen' Redestil in den Nachrichtensendungen, der zur Folge hatte, dass das DDR-Publikum sich oft lieber bei ARD und ZDF informierte, weil dort das politische Geschehen deutlicher und klarer formuliert wurde. Auch präsentierten diese unterschiedliche Meinungen und strebten nicht von vornherein eine Bewertung an.  Herausbildung inoffizieller Öffentlichkeiten   Hatte das bundesrepublikanische Publikum seit den 1960er Jahren, seitdem ARD und ZDF ihre politische Berichterstattung ausgebaut hatten, das Fernsehen als eine neutrale Instanz der Darstellung der Welt kennen und schätzen gelernt, so verstand es umgekehrt das DDR-Fernsehen als ideologisch einseitig und nicht neutral. Eine solche Einschätzung war auch in der DDR bei weiten Teilen des Publikums verbreitet und schlug sich auch in der Glaubwürdigkeit der politischen Berichterstattung nieder. Der Einfluss des DDR-Fernsehens auf die öffentliche Meinungsbildung war nicht zuletzt dadurch viel eingeschränkter als der des bundesrepublikanischen Fernsehens. Nicht zufällig entwickelten sich in der DDR deshalb vor allem in den 1970er und 1980er Jahren Formen von inoffiziellen Öffentlichkeiten jenseits der Medien und insbesondere jenseits des Fernsehens (die Verbreitung von Schreibmaschinentexten, Lesungen in Wohnungen, Kommunikation in inoffiziellen Gruppen etc.).  Grenzüberschreitender TV-Empfang Mauerbau in Berlin - mit einem Kran werden hinter Stacheldraht Betonblöcke aufgestellt. (© Bundesarchiv, Bild 173-1321 / Fotograf: Wolf, Helmut J. / CC-BY-SA) Fernsehen in Deutschland existierte seit seinen Anfängen grenzüberschreitend. So vor allem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Beide waren durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame kulturelle Tradition und eine nationale Geschichte miteinander verbunden. Zwischen deren Bewohnern bestanden zahlreiche familiäre Verbindungen.  Technisch besitzen die im UKW-Frequenzband abgestrahlten Fernsehprogramme eine Reichweite bis etwa 150 km, wenn sich ihnen keine landschaftlichen Erhebungen in den Weg stellen. Das Fernsehen der Bundesrepublik erreichte mit seinen Sendern entlang der innerdeutschen Grenze und in West-Berlin weite Gebiete der DDR, mit Ausnahme des Gebiets um Dresden sowie der nordöstlichen Teile von Mecklenburg-Vorpommern. Die DDR-Programme konnten umgekehrt im Norden weit in die norddeutsche Tiefebene nach Westen hin ausgestrahlt werden, südlich davon wurde ihre Reichweite durch die Mittelgebirge stark begrenzt. Empfang von Westfernsehen in der DDR  Zwar gingen die DDR-Behörden nach 1961 massiv gegen den Empfang des 'Westfernsehens' vor – die FDJ drehte zum Beispiel vielen Bürgern die nach Westen gerichteten Antennen um –, doch konnten sie langfristig den Empfang bundesrepublikanischer Programme in der DDR nicht verhindern. Ab 1971 wurde der Empfang westlicher Fernsehprogramme auch nicht mehr verfolgt. In der Bundesrepublik wurde 1959/60 ein starker Einfluss des DDR-Fernsehens auf die Arbeiterschaft im Westen befürchtet, nachdem die DDR leistungsstarke Sender an ihrer Westgrenze aufgebaut hatte, doch erwiesen sich die Befürchtungen als grundlos, wie einige eigens durchgeführte Befragungen erkennen ließen .  Gegenseitige Beeinflussung   Fernsehen bildete also eine Öffentlichkeit, die auch unabhängig von den jeweils Regierenden mehr oder weniger Einfluss auf die Bevölkerung in Ost und West hatte. Das hatte zur Folge, dass in beiden deutschen Fernsehsystemen auch das jeweils andere Deutschland thematisiert und die Bilder des jeweils anderen Fernsehens kommentiert wurden. Als das DDR-Fernsehen Anfang der 1960er Jahre mit der Ausstrahlung von Sendungen am Vormittag ("für Schichtarbeiter") begann, setzte die ARD, später ARD und ZDF gemeinsam, ebenfalls ein Vormittagsprogramm dagegen, das anfangs nur im NDR- und SFB-Bereich sowie von den Sendern an der innerdeutschen Grenze, später dann von allen bundesrepublikanischen Sendern ausgestrahlt wurde. Das Fernsehen entwickelt sich in den 1970-er Jahren zum Leitmedium (© picture-alliance/dpa) Demonstration gegen die Entlassung des TV-Redakteurs der Sendung Panorama, Gert von Paczensky, vor dem Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart im Mai 1963. (© picture-alliance, Harry Flesch) Hauptgebäude des Deutschen Fernsehfunks der DDR in Berlin-Adlershof (© Bundesarchiv, Bild 183-79070-0002 / Fotograf: Horst Sturm und Eva Brüggemann) Mauerbau in Berlin - mit einem Kran werden hinter Stacheldraht Betonblöcke aufgestellt. (© Bundesarchiv, Bild 173-1321 / Fotograf: Wolf, Helmut J. / CC-BY-SA) Quellen / Literatur Interner Link: Unterhaltungssendungen im DDR-Fernsehen Interner Link: Politische Magazine BRD/DDR Interner Link: Politisierung des Fernsehens in den 60er und 70er Jahren Interner Link: Rundfunk- und Fernsehkomitee Interner Link: Westempfang in der DDR Interner Link: Unterhaltungssendungen im DDR-Fernsehen Interner Link: Politische Magazine BRD/DDR Interner Link: Politisierung des Fernsehens in den 60er und 70er Jahren Interner Link: Rundfunk- und Fernsehkomitee Interner Link: Westempfang in der DDR Riedel 1977, S.34. Wilke 2002, S. 217f. Ebd., S.225. Hickethier 1998, S.198f.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-07-04T00:00:00
2017-04-09T00:00:00
2022-07-04T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/246233/fernsehen-in-getrennten-systemen/
Die Politik der DDR gegenüber der BRD war in den 1970er Jahren durch eine stärkere Abgrenzung und die Betonung der DDR als sozialistischer Nation gekennzeichnet. Dies führte dazu, dass der Deutsche Fernsehfunk 1972 in "Fernsehen der DDR" umbenannt wu
[ "Tele-Visionen", "Fernsehen", "Entspannungspolitik", "Unterhaltungsorientierung", "DDR" ]
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Persönlichkeit, politische Präferenzen und politische Partizipation | Sozialisation | bpb.de
Die Vorstellung, dass die Persönlichkeit eines Menschen sein politisches Denken und Handeln beeinflusse, ist nicht neu. In den Sozialwissenschaften und darüber hinaus erlangte sie vor mehr als einem halben Jahrhundert einige Prominenz. Damals meinten Theodor W. Adorno und seine Kolleginnen und Kollegen, mit der im Kindesalter geformten autoritären Persönlichkeit ein Denkmuster gefunden zu haben, das Menschen potenziell faschistisch werden lasse. Die Arbeit von Adorno und Kollegen zog wohlbegründete Kritik auf sich. Doch wurde dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn es wurde nicht nur Adornos Konzept verworfen, sondern es geriet die gesamte Vorstellung, politische Einstellungen und politisches Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern würden von deren Persönlichkeit beeinflusst, in Misskredit und Vergessenheit.Seit zwei Jahrzehnten erlebt diese Idee jedoch eine Renaissance. Die Grundannahme, dass in der Persönlichkeit zusammengefasste psychische Kräfte politisches Denken und Handeln beeinflussen, ist dieselbe geblieben. Allerdings haben sich seit der Untersuchung zur "Authoritarian Personality" Konzepte, Theorien und Instrumente der Forschung deutlich gewandelt. Daher werden im Folgenden zunächst wichtige Konzepte der Persönlichkeitsforschung im Überblick dargestellt, ehe Wirkungen von Persönlichkeitseigenschaften auf politische Vorlieben und politisches Verhalten erläutert sowie Folgerungen gezogen werden. Persönlichkeitseigenschaften Fragt man nach der Persönlichkeit eines Menschen, bezieht man sich meist auf Verhaltenstendenzen, die eine Person über die Zeit und Situationen hinweg an den Tag legt, und die sie von anderen Personen gleichen Alters in der gleichen Kultur unterscheiden. Wird beispielsweise eine Person als schüchtern beschrieben, ist damit gemeint, dass sie häufig zurückhaltender handelt als andere Personen. Der wohl führende Ansatz in der Persönlichkeitspsychologie sieht in Eigenschaften, die in Anlehnung an die Alltagspsychologie gewonnen werden, solche langfristig stabilen Merkmale zur Charakterisierung der individuellen Besonderheiten von Menschen. Innerhalb des Eigenschaftsparadigmas hat sich seit den 1990er Jahren die Auffassung durchgesetzt, dass fünf relativ umfassende Eigenschaftsdimensionen, die sogenannten Big Five, genügen, um wesentliche Unterschiede zwischen Menschen zu erfassen. Es handelt sich um die Dimensionen Verträglichkeit, Extraversion, emotionale Stabilität (oder Neurotizismus), Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrung. Verträglichkeit bezieht sich auf das Bedürfnis nach harmonischen Beziehungen zu anderen Menschen. Personen mit hohen Werten auf dieser Dimension werden als vertrauensvoll, altruistisch, mitfühlend und warmherzig beschrieben und ziehen Kooperation dem Wettbewerb vor. Extraversion meint in erster Linie das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und sozialer Interaktion. Hohe Extraversionswerte zeigen an, dass Menschen aktiv, gesprächig und durchsetzungsfähig sind. Personen am oberen Ende der Gewissenhaftigkeitsdimension, die sich wesentlich auf Zuverlässigkeit und Leistung bezieht, werden als fleißig, gründlich, gut organisiert und einfallsreich beschrieben. Emotional stabile Personen lassen sich nicht leicht aus der Ruhe bringen, können negative Emotionen wie Sorgen, Enttäuschung und Wut gut kontrollieren. Schließlich suchen Personen mit hohen Werten auf der Offenheitsdimension verschiedenste Informationen und Anregungen und werden als tolerant, vielfältig interessiert und aufgeschlossen für Neues beschrieben. Persönlichkeitseigenschaften sind zum Teil genetisch angelegt, zum Teil in frühen Lebensjahren erworben und bleiben im Laufe des Lebens relativ konstant. Damit sind die Neigungen und Bedürfnisse, die sich in Persönlichkeitseigenschaften niederschlagen, Einstellungen und Verhalten in spezifischen Situationen zeitlich vorgelagert und können auf diese wirken. Dies geschieht dadurch, dass sie Einfluss darauf nehmen, welche Ziele eine Person verfolgt, welche Stimuli in ihrer Umwelt sie als wichtig erachtet und wie sie darauf reagiert. Im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen führen tief verankerte Persönlichkeitseigenschaften somit zu charakteristischen Anpassungen eines Menschen, also zur Ausprägung bestimmter Gewohnheiten, Einstellungen und Verhaltensmuster. Vor diesem Hintergrund kann es kaum erstaunen, dass Persönlichkeitseigenschaften menschliches Verhalten in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären vorhersagen können. Ebenso liegt es nahe, Informationen über die Persönlichkeit von Menschen etwa bei der Personalauswahl zu nutzen. Beispielsweise würde man einer schüchternen Person nicht unbedingt raten, einen Beruf als Lehrkraft zu ergreifen, dagegen gewissenhafte Personen gerne mit Aufgaben betrauen, die Akribie erfordern. Wenigstens auf den ersten Blick könnte es jedoch fragwürdig erscheinen, diese allgemeinen, gleichsam unpolitischen Persönlichkeitseigenschaften mit politischen Einstellungen und Verhaltensweisen in Verbindung zu bringen. Tatsächlich liegt es jedoch gar nicht so fern. Denn Menschen legen tief verankerte Verhaltenstendenzen nicht ab, sobald sie sich der politischen Sphäre nähern. Man mag allerdings zweifeln, ob das politische Geschehen Reize bereithält, auf die Personen in Abhängigkeit von ihren Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich reagieren. Eine wachsende Zahl von Befunden zu Wirkungen von Persönlichkeitseigenschaften auf politisches Verhalten und politische Präferenzen spricht dafür, dass diese Zweifel unbegründet sind. Persönlichkeit und politische Partizipation Wie sehr sich Menschen für politisches Geschehen interessieren und wie stark sie sich am politischen Prozess beteiligen, hängt auch von Persönlichkeitseigenschaften ab. Solche Zusammenhänge entstehen, sofern politisches Engagement den mit der Persönlichkeit eines Menschen zusammenhängenden Neigungen und Bedürfnissen entspricht (positiver Zusammenhang) oder diesen widerspricht (negativer Zusammenhang). Um diese Überlegung anwenden zu können, ist es nützlich, sich Eigenschaften verschiedener Formen von politischer Beteiligung ins Gedächtnis zu rufen. In politischen Prozessen versuchen Akteurinnen und Akteure nicht zuletzt ihre Auffassungen darzustellen, für sie zu werben und in der Auseinandersetzung mit anderen durchzusetzen. Politische Prozesse führen somit zu häufig konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen Menschen. Für die verschiedenen Formen politischen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern gilt das in unterschiedlichem Maße. Die Kandidatur für ein öffentliches Amt und die Organisation einer Demonstration erfordern es beispielsweise, im öffentlichen Wettstreit die eigenen Standpunkte darzulegen und um Unterstützung zu werben. In Wahlen können Bürgerinnen und Bürger ihre politischen Vorlieben hingegen geheim zum Ausdruck bringen. Im Vergleich mit den beiden anderen politischen Aktivitäten ist die Teilnahme an Wahlen somit weniger geeignet, Selbstdarstellungsbedürfnisse zu befriedigen, erfordert aber auch weniger Streitbarkeit und Mut zum öffentlichen Bekenntnis. Diese Unterschiede zwischen Formen politischer Teilhabe spiegeln sich in Einflüssen von Extraversion, emotionaler Stabilität und Verträglichkeit auf ihre Nutzung wider. Für die USA konnte gezeigt werden, dass verträgliche Menschen politische und daher potenziell konflikthafte Diskussionen eher meiden. Dagegen sind emotional stabile und extravertierte Personen dazu überdurchschnittlich bereit. Hohe Extraversionswerte begünstigen darüber hinaus in verschiedenen Gesellschaften die Nutzung diverser Formen politischer Teilhabe, etwa Kontakte zu Abgeordneten, die Unterstützung von Parteien und Kandidaten in Wahlkämpfen sowie die Teilnahme an (genehmigten und nicht genehmigten) Demonstrationen. Auch die Übernahme öffentlicher Ämter scheint wahrscheinlicher zu werden, je extravertierter, emotional stabiler und weniger verträglich Personen sind. Darüber hinaus entsprechen nicht alle Formen politischer Aktivität gleichermaßen den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Einige Formen sind illegal, andere legal, aber wenig verbreitet und gelten nicht als legitim, wieder andere sind erlaubt, gelten als legitim, ja die Nutzung mancher wird geradezu als Bürgerpflicht angesehen. Die Gewissenhaftigkeitsdimension erfasst unter anderem, inwieweit Menschen sich an geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln orientieren. Daher erscheint es folgerichtig, dass in Deutschland hohe Gewissenhaftigkeitswerte dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger mit dem Wahlrecht eine gewisse Verpflichtung verbunden sehen und auch tatsächlich ihre Stimme abgeben. Dagegen halten sich Menschen mit dieser psychischen Disposition von weniger konventionellen und illegalen Formen der politischen Aktivität eher fern. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass politische Prozesse sich auf gesamtgesellschaftliche Fragen beziehen, die jenseits des unmittelbaren Erfahrungshorizonts vieler Menschen liegen. Sich mit Politik zu befassen, ist daher nicht selbstverständlich. Es erstaunt deshalb nicht, dass Offenheit für Erfahrung, also die Disposition, nach diversen Anregungen zu suchen, auch Interesse an politischen Fragen, politische Informiertheit wie auch verschiedene politische Aktivitäten begünstigt. Politisches Engagement spiegelt somit zu einem gewissen Teil die in Persönlichkeitseigenschaften erfassten Neigungen und Bedürfnisse von Menschen wider. Nicht zuletzt tragen offenbar hohe Werte auf den Dimensionen Offenheit und Extraversion zu ausgeprägter politischer Aktivität bei. Sie lassen es also wahrscheinlicher werden, dass Personen dem in der politischen Bildung häufig hochgehaltenen Ideal politisch interessierter und aktiver Bürgerinnen und Bürger entsprechen. Persönlichkeit und politische Präferenzen Der Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften ist nicht auf den Grad politischer Aktivität beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf politische Präferenzen. Dementsprechend spiegeln sich Unterschiede in der Persönlichkeit auch in politischen Wertorientierungen, ideologischen Vorstellungen sowie Einstellungen zu politischen Sachfragen, Kandidaten und Parteien wider. Eine wesentliche Ursache für diese Zusammenhänge ist wiederum darin zu suchen, dass etwa bestimmte Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme den psychischen Neigungen und Bedürfnissen einer Person besonders gut entsprechen oder diesen widersprechen. Beispielsweise könnte eine liberalere Zuwanderungspolitik von offenen Menschen als Möglichkeit gesehen werden, zusätzliche Anregungen zu erhalten, und daher begrüßt werden. Personen mit niedrigen Ausprägungen dürften dieselbe Aussicht eher als Störung oder Bedrohung empfinden und daher ablehnend reagieren. Das Beispiel bezieht sich nicht zufällig auf Offenheit. Denn diese Eigenschaft erweist sich auch hier als ausgesprochen einflussreich. Sehr offene Menschen tendieren eher zu politisch linken Grundorientierungen, betrachten überkommene Moralvorstellungen kritisch und legen vergleichsweise großen Wert auf erfüllende Beziehungen zu anderen Menschen, auf individuelle Selbstverwirklichung und auf das Wohlergehen auch ihnen fernstehender Menschen. Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu folgerichtig, dass Offenheit auch die Haltung zu politischen Sachfragen beeinflusst. Bei gesellschaftspolitischen Streitfragen befürworten offene Personen überdurchschnittlich häufig liberale Positionen, so etwa in der Zuwanderungspolitik, in der Abtreibungsfrage und bei der Regelung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. In der Außenpolitik treten sie mit erhöhter Wahrscheinlichkeit für die Vertiefung der europäischen Integration sowie eine im engen Verbund mit anderen Ländern abgestimmte Außenpolitik ein, während sie den Irakkrieg 2003 überdurchschnittlich stark ablehnten. In den USA begünstigt eine stark ausgeprägte Offenheit auch eine marktkritische Haltung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik; in Deutschland sind die entsprechenden Befunde nicht eindeutig. Bei Wahlen entscheiden sich sehr offene Personen schließlich überdurchschnittlich häufig für linke und linksliberale Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten, während sie konservative eher meiden. Gewissenhaftigkeit scheint in gewisser Weise spiegelbildlich zu Offenheit zu wirken. Sehr gewissenhafte Menschen neigen dazu, in der Gesellschaftspolitik an traditionellen Moralvorstellungen festzuhalten und beurteilen daher Politikvorschläge kritisch, die davon abzurücken versprechen. In der Außenpolitik treten sie eher für isolationistische Positionen ein und sind überdurchschnittlich oft bereit, den Einsatz militärischer Gewalt zu befürworten. Letzteres dürfte nicht zuletzt mit ihrer Neigung zusammenhängen, eindeutig zwischen "richtig" und "falsch" zu unterscheiden. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik scheinen sie marktfreundliche Vorstellungen zu bevorzugen, auch wenn die Befunde für Deutschland an dieser Stelle nicht ganz eindeutig sind. Hohe Werte auf der Gewissenhaftigkeitsdimension begünstigen die Ausprägung eher rechter oder gar rechtsextremer Grundorientierungen sowie auf Bewahrung zielender Wertorientierungen. An der Wahlurne lassen sie ein Votum für konservative Parteien wahrscheinlicher werden, Stimmen für linke und linksliberale Parteien hingegen weniger wahrscheinlich. Für die übrigen Persönlichkeitseigenschaften liegen weniger eindeutige und konsistente Befunde vor. Hochgradig verträgliche Menschen befürworten überdurchschnittlich stark eine auf sozialen Ausgleich bedachte Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie kooperative und gewaltfreie Lösungen in der Außenpolitik. Für emotionale Stabilität konnten Wirkungen zugunsten einer marktfreundlichen Haltung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nachgewiesen werden. Extraversion scheint hingegen nur vereinzelt mit politischen Grundorientierungen, Einstellungen zu Sachfragen oder Wahlverhalten zusammenzuhängen. Persönlichkeitseigenschaften beeinflussen, so können wir festhalten, auch politische Präferenzen. Zum Teil spielen dabei dieselben Eigenschaften eine prominente Rolle wie bei der politischen Aktivität, zum Teil auch andere. Extraversion beeinflusst offenbar die Bereitschaft zu politischer Aktivität, jedoch kaum politische Vorlieben. Für Gewissenhaftigkeit gilt der Tendenz nach das Gegenteil. Offenheit für Erfahrung erweist sich hingegen in beiden Hinsichten als einflussreich. Folgerungen Wie der vorangegangene Überblick über ausgewählte Forschungsergebnisse zeigt, kommen die in Persönlichkeitseigenschaften gebündelten Neigungen und Bedürfnisse auch darin zum Ausdruck, wie stark sich Menschen mit Politik befassen, wie stark sie Möglichkeiten zur politischen Beteiligung nutzen, welche Standpunkte sie zu politischen Sachfragen beziehen, wie sie Parteien und Politiker bewerten und wen sie wählen. Wie in anderen Lebensbereichen auch spielen bei der politischen Urteilsbildung und Partizipation zum Teil unbewusste, kaum willentlich beeinflussbare psychische Neigungen und Bedürfnisse eine Rolle. Politik ist also durchaus eine Frage der Persönlichkeit. Die vorgestellten Zusammenhänge dürfen allerdings nicht überinterpretiert werden. Manche Befunde scheinen von der Messmethode abzuhängen und über Gesellschaften hinweg nicht stabil zu sein. Auch handelt es sich um Tendenzen, nicht um deterministische Beziehungen. Beispielsweise mischen sich sehr extravertierte Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit als introvertierte häufig und vernehmbar in politische Prozesse ein. Aber stark ausgeprägte Extraversion führt nicht zwangsläufig zu politischer Aktivität, wie auch Introvertiertheit politisches Engagement nicht ausschließt. Das kann kaum anders sein, da Persönlichkeitseigenschaften allgemeine, nicht politikspezifische Neigungen und Bedürfnisse erfassen. Geht es um Politik, kommen zusätzliche Einflüsse ins Spiel, beispielsweise früh erworbene Parteibindungen oder ein aus der Situation heraus erwachsendes Interesse an bestimmten Fragen. Zudem setzen politische Eliten in ihrem Kampf um die politische Deutungshoheit Kommunikationsstrategien ein, welche die politische Prägekraft von Persönlichkeitseigenschaften verstärken oder abschwächen können. Nicht zuletzt diese Argumente sollten auch verdeutlichen, dass es verfehlt wäre, aus dem Nachweis von Wirkungen zum Teil erblicher, zum Teil früh erworbener Persönlichkeitseigenschaften zu folgern, politische Ansichten und Verhaltensweisen seien von frühester Jugend an für das gesamte Leben genau festgelegt. Diese Einschränkungen vermögen aber nichts daran zu ändern, dass Persönlichkeitseigenschaften politische Präferenzen und politisches Verhalten beeinflussen. Gerade die Verknüpfung beider Wirkungen erscheint bemerkenswert und politisch bedeutsam. So begünstigt stark ausgeprägte Offenheit für Erfahrung nicht nur aktive Beteiligung am politischen Geschehen, sondern gleichzeitig eine Präferenz für eher linke, traditionelle Vorstellungen infrage stellende Politikentwürfe. Personen, die persönlichkeitsbedingt politisch vergleichsweise aktiv sind, vertreten also aus demselben Grund überzufällig häufig bestimmte politische Standpunkte. Insoweit sind diese politischen Standpunkte persönlichkeitsbedingt unter politisch aktiven Personen stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Sie dürften daher öffentlich sichtbarer sein und stärkeren Einfluss auf politische Prozesse und deren Ergebnisse, also etwa Gesetze, nehmen, als es ohne politische Wirkungen von Persönlichkeitseigenschaften der Fall wäre. Es scheint daher persönlichkeitsbedingte Ungleichheiten in der Repräsentation politischer Standpunkte zu geben. Dieser Befund kann unterschiedlich bewertet werden. Im Vergleich zu den Wünschen der Bevölkerung stärker auf Wandel bedachte politische Entscheidungen könnten als Triebfeder des gesellschaftlichen Fortschritts angesehen werden. Die Bewertung dürfte noch wohlwollender ausfallen, wenn man annimmt, dass eine sich rasch wandelnde Gesellschaft – man denke an Migration, den demografischen Wandel und die Pluralisierung von Lebensformen – einer hohen Anpassungsfähigkeit politischer Entscheidungen bedürfe. Legt man die Messlatte demokratischer Gleichheit an, kann ein kritischeres Urteil resultieren. Denn es treten offenbar Ungleichheiten auf, die überdies auf relativ stabilen, nicht beliebig veränderbaren und zum Teil unbewusst wirkenden Neigungen und Bedürfnissen beruhen. Über die Konsequenzen, die man aus den kleinen, subtilen Wirkungen von Persönlichkeitsunterschieden zieht, entscheiden somit nicht zuletzt demokratietheoretische Vorstellungen. Welche Position man hier bezieht, dürfte auch von Persönlichkeitseigenschaften abhängen. Vgl. Theodor W. Adorno et al., The Authoritarian Personality, New York 1950. Vgl. Richard Christie/Marie Jahoda (eds.), Studies in the Scope and Method of "The Authoritarian Personality", Glencoe 1954; John Levi Martin, The Authoritarian Personality, 50 Years Later: What Questions Are There for Political Psychology, in: Political Psychology, 22 (2001) 1, S. 1–26. Persönlichkeitseinflüsse auf politische Eliten wurden hingegen untersucht. Vgl. David G. Winter, Personality and Political Behavior, in: David O. Sears/Leonie Huddy/Robert Jervis (eds.), Political Psychology, Oxford 2003. Vgl. Jens B. Asendorpf, Psychologie der Persönlichkeit, Heidelberg 20074, insbes. Kap. 1–4. Diese fünf Dimensionen umfassen verschiedene Unterdimensionen oder Facetten, auf die hier nicht eingegangen wird. Vgl. Paul T. Costa/Robert R. McCrae, Revised NEO Personality Inventory (NEO PI-R) and NEO Five Factor Inventory. Professional Manual, Odessa 1992; Jeffery J. Mondak, Personality and the Foundations of Political Behavior, Cambridge, MA 2010, S. 47ff. Vgl. Dan P. McAdams/Jennifer L. Pals, A New Big Five: Fundamental Principles for an Integrative Science of Personality, in: American Psychologist, 61 (2006) 3, S. 204–217. Vgl. kritisch zur Wirkung von Persönlichkeitsmerkmalen: Brad Verhulst/Lindon J. Eaves/Peter K. Hatemi, Correlation not Causation: The Relationship between Personality Traits and Political Ideologies, in: American Journal of Political Science, 56 (2012) 1, S. 34–51. Der Einfachheit halber werden Menschen mit hohen Werten auf der jeweiligen Persönlichkeitsdimension mit dem entsprechenden Adjektiv beschrieben. Vgl. Alan S. Gerber et al., Disagreement and the Avoidance of Political Discussion: Aggregate Relationships and Differences across Personality Types, in: American Journal of Political Science (i.E.); Markus Steinbrecher/Harald Schoen, Persönlichkeit und politische Partizipation im Umfeld der Bundestagswahl 2009, in: Politische Psychologie, 2 (2012) 1, S. 58–74. Vgl. J.J. Mondak (Anm. 6); ders. et al., The Participatory Personality: Evidence from Latin America, in: British Journal of Political Science, 41 (2011) 1, S. 211–221; M. Steinbrecher/H. Schoen (Anm. 9); Michele Vecchione/Gian Vittorio Caprara, Personality determinants of political participation, in: Personality and Individual Differences, 46 (2009) 4, S. 487–492; Alan S. Gerber et al., Personality Traits and Participation in Political Processes, in: Journal of Politics, 73 (2011) 3, S. 692–706. Vgl. Heinrich Best, Does Personality Matter in Politics?, in: Comparative Sociology, 10 (2011) 6, S. 928–948. Vgl. Sandra Huber/Hans Rattinger, Die Nichtwähler – ein besonderer Menschenschlag?, in: Siegfried Schumann unter Mitarbeit von Harald Schoen (Hrsg.), Persönlichkeit, Wiesbaden 2005; M. Steinbrecher/H. Schoen (Anm. 9). Vgl. J.J. Mondak (Anm. 6); Harald Schoen/Markus Steinbrecher, Beyond Total Effects, in: Political Psychology (i.E.). Vgl. zu den in diesem Abschnitt dargestellten Befunden: Gian Vittorio Caprara et al., Personality and Politics, in: Political Psychology, 27 (2006) 1, S. 1–28; ders./Michele Vecchione/Shalom H. Schwartz, Mediational Role of Values in Linking Personality Traits to Political Orientation, in: Asian Journal of Social Psychology, 12 (2009) 1, S. 82–94; Alan S. Gerber et al., Personality and the Strength and Direction of Partisan Identification, in: Political Behavior (i.E.); Markus Klein, Der Stellenwert von Persönlichkeitseigenschaften im Rahmen einer Theorie des Postmaterialismus, in: S. Schumann (Anm. 12); J.J. Mondak (Anm. 6); Harald Schoen, Stabil, aber auch politisch stabilisierend?, in: S. Schumann (Anm. 12); ders., Personality Traits and Foreign Policy Attitudes in German Public Opinion, in: Journal of Conflict Resolution, 51 (2007) 3, S. 408–430; ders./Siegfried Schumann, Personality Traits, Partisan Attitudes, and Voting Behavior, in: Political Psychology, 28 (2007) 4, S. 471–498; Siegfried Schumann, Persönlichkeitsbedingte Einstellungen zu Parteien, München u.a. 2001; Michele Vecchione et al., Personality Correlates of Party Preference, in: Personality and Individual Differences, 51 (2011) 6, S. 737–742; Jürgen R. Winkler, Persönlichkeit und Rechtsextremismus, in: S. Schumann (Anm. 12). Vgl. Alan S. Gerber et al., The Big Five Personality Traits in the Political Arena, in: Annual Review of Political Science, 14 (2011), S. 265–287. Auch sind einige Zusammenhänge komplizierter, als es an dieser Stelle ausgeführt werden konnte. Vgl. J.J. Mondak (Anm. 6); M. Steinbrecher/H. Schoen (Anm. 9). Vgl. Sidney Verba/Kay Lehman Schlozman/Henry Brady, Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics, Cambridge, MA 1995, S. 163ff.
Article
, Harald Schoen
2021-12-07T00:00:00
2012-11-29T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/150628/persoenlichkeit-politische-praeferenzen-und-politische-partizipation/
In politischem Engagement und politischen Vorlieben kommen auch langfristig stabile Persönlichkeitseigenschaften zum Ausdruck. Persönlichkeitseinflüsse können zu Verzerrungen in Prozessen politischer Interessenvermittlung beitragen.
[ "Aus Politik und Zeitgeschichte 49-50/2012", "Sozialisation", "Persönlichkeit", "politische Präferenzen", "politische Partizipation" ]
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Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen | Gesundheitspolitik | bpb.de
Tiefe Einschnitte erfolgten mit dem 2004 in Kraft getretenen GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG), das 2003 von einer großen gesundheitspolitischen Koalition unter Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen verabschiedet worden war. Beispiele für aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegliederte Leistungen Sterbegeld Entbindungsgeld Arzneimittel, die der Verbesserung der Lebensqualität dienen nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel Kassenzuschuss für Fahrtkosten (bis auf wenige Ausnahmen) Sterilisation ohne medizinische Notwendigkeit Quelle: Eigene Darstellung Über diese Einschnitte hinaus wurde eine Reihe von Leistungen eingeschränkt (z.B. bei der künstlichen Befruchtung). Das nachfolgende GKV-WSG ermöglichte es den Krankenkassen, Versicherte zu den Behandlungskosten heranzuziehen, wenn der Behandlung Folge ästhetischer Operationen, Tätowierungen oder Piercings war. Diese Ausschlüsse wurden damit begründet, dass diese Leistungen entweder versicherungsfremd oder nicht zweckmäßig bzw. nicht notwendig im Sinne des SGB V seien. Bei manchen dieser Leistungen (z.B. beim Sterbegeld) ist eine solche Sichtweise auch nachvollziehbar. Bei anderen wiederum existieren oft recht breite Grauzonen. Dies ist etwa der Fall bei der Messung der therapeutischen Wirksamkeit von Heilverfahren und Medikamenten oder bei der Grenzziehung zwischen medizinischer Notwendigkeit und bloßer Erhöhung der Lebensqualität. Leistungsausschlüsse können hier für zahlreiche Versicherte schwer zu rechtfertigende Nachteile mit sich bringen. Wiederum andere Leistungsausschlüsse (etwa der Zuschuss für Brillen) erscheinen unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit generell als willkürlich und ungerechtfertigt. Entscheidungen über Leistungsausschlüsse fallen aber nicht allein durch Gesetzesänderungen, sondern durch Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Erstattungsfähigkeit von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Dabei hat der GBA die im SGB V aufgeführten Anforderungen an die Eigenschaften von Leistungen zugrunde zu legen. Zuzahlungen Das GMG enthielt nicht nur eine Reihe von Leistungsausgrenzungen bzw. -einschränkungen, sondern nahm vor allem umfangreiche, im Wesentlichen noch heute geltende Änderungen an den Zuzahlungsbestimmungen in der GKV vor. Mit dieser Reform wurden neue Zuzahlungen eingeführt (Praxisgebühr - bereits wieder abgeschafft, häusliche Krankenpflege) und bestehende Zuzahlungen – zum Teil drastisch – erhöht. Sie orientieren sich seither an dem Richtwert von zehn Prozent der Kosten, wobei für jede einzelne Leistung mindestens fünf Euro (aber maximal der jeweilige Preis) und höchstens zehn Euro zuzuzahlen sind. Die im Jahr 2014 geltenden Zuzahlungsregelungen gehen aus der folgenden Tabelle hervor: Zuzahlungen zu GKV-Leistungen im Jahr 2016 BereichZuzahlungGrenzen/Ausnahmen Arznei- und Verbandmittel 10 % der Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro, nicht mehr als die Kosten des Mittels Fahrkosten1pro Fahrt 10 % der Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro Häusliche Krankenpflege(max. 28 Tage im Jahr) 10 % der Kosten des Mittels zuzüglich 10 Euro je Verordnung10 % der Kosten des Mittels zuzüglich 10 Euro je Verordnung Haushaltshilfe 10 % der kalendertäglichen Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro Heilmittel 10 % der Kosten des Mittels zuzüglich 10 Euro je Verordnung Hilfsmittel 10 % für jedes Mittelmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro, nicht mehr als die Kosten des Mittels, Ausnahme: Hilfsmittel, die zum Verbrauch bestimmt sind: 10 % je Verbrauchseinheit, maximal 10 Euro pro Monat Krankenhausbehandlung 10,00 Euro pro Kalendertagmaximal 28 Tage pro Kalenderjahr Stationäre Vorsorge 10,00 Euro pro Kalendertag Medizinsche Rehabilitation (ambulant und stationär) 10,00 Euro pro Kalendertagbei Anschlussrehabilitation begrenzt auf 28 Tage pro Kalenderjahr unter Anrechnung der Zuzahlung für Krankenhausbehandlung Medizinische Rehabilitation für Mütter und Väter (pro Kalendertag) 10,00 Euro pro Kalendertag Soziotherapie 10 % der kalendertäglichen Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro Zahnersatz135 bis 50 %abhängig von den eigenen Bemühungen zur Gesunderhaltung der Zähne Fußnote: 1 Kinder sind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres generell von Zuzahlungen befreit, Ausnahmen: Fahrkosten und Zahnersatz. Quelle: vdek 2016. Gesetzliche Sozial- und Überforderungsklauseln begrenzen allerdings in gewissem Maße die Höhe der individuellen Zuzahlungen: Der Höchstbetrag für Zuzahlungen ist für jeden Versicherten auf maximal 2 Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt begrenzt (§ 62 SGB V). Die Bezugnahme auf die "Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" bedeutet, dass bei der Berechnung der Belastungsgrenze nicht nur das individuelle Bruttoeinkommen aus abhängiger Arbeit, sondern auch andere Einkunftsarten (z.B. Mieteinnahmen) sowie die Einkünfte anderer Haushaltsmitglieder herangezogen werden. Der Versicherte muss das Erreichen der Belastungsgrenze gegenüber seiner Krankenkasse nachweisen und die Zuzahlungsbefreiung beantragen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, so hat die Krankenkasse dem Versicherten eine entsprechende Bescheinigung auszustellen bzw. die zu viel gezahlten Zuzahlungen zu erstatten. Im Jahr 2015 waren aufgrund der 2-Prozent-Regelung gut 513.000 Versicherte von Zuzahlungen befreit . Für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, gilt eine reduzierte Zuzahlungshöhe von maximal 1 Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (§ 62 SGB V). Auch chronisch Kranke müssen die Befreiung beantragen und entsprechende Nachweise liefern. Außerdem müssen sie die Dauerbehandlung gegenüber ihrer Krankenkasse jeweils spätestens nach dem Ablauf eines Kalenderjahres nachweisen. Im Jahr 2015 waren aufgrund dieser Regelung knapp 5,2 Millionen Versicherte von Zuzahlungen befreit . Für chronisch Kranke, die nach einem bestimmten Datum geboren sind, gilt hingegen eine Zuzahlungsgrenze von zwei Prozent, wenn sie an einer Krankheit leiden, für die das SGB V eine Früherkennungsuntersuchung vorsieht und sie an dieser Früherkennungsuntersuchung nicht regelmäßig teilgenommen haben oder sich nicht über die Teilnahme ärztlich haben beraten lassen. Als schwerwiegend chronisch krank gilt nach einer Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), wer regelmäßig wegen ein- und derselben schwerwiegenden chronischen Erkrankung in ärztlicher Behandlung ist und gleichzeitig mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt: Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 2 oder 3, Behinderungsgrad oder eine Erwerbsfähigkeitsminderung von mindestens 60 Prozent, notwendige kontinuierliche medizinische Versorgung, ohne die "eine lebensbedrohliche Verschlimmerung der Erkrankung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität" (G-BA 2011) durch diese Erkrankung droht. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind von Zuzahlungen vollständig befreit, außer bei der Versorgung mit Zahnersatz. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) wurde 2004 die zuvor geltende vollständige Zuzahlungsbefreiung für sozial Schwache abgeschafft, also solche Personen, die eine bestimmte Bruttoeinkommensgrenze unterschreiten oder Empfänger bestimmter staatlicher Fürsorgeleistungen waren. Sterbegeld Entbindungsgeld Arzneimittel, die der Verbesserung der Lebensqualität dienen nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel Kassenzuschuss für Fahrtkosten (bis auf wenige Ausnahmen) Sterilisation ohne medizinische Notwendigkeit Quelle: Eigene Darstellung Antwort a) ist richtig: Die Höhe von Zuzahlungen beträgt 10 Prozent der Kosten, in der Regel jedoch mindestens 5 und höchstens 10 Euro je Leistung. Antwort a) ist richtig: Die Höhe von Zuzahlungen beträgt 10 Prozent der Kosten, in der Regel jedoch mindestens 5 und höchstens 10 Euro je Leistung. In den zurückliegenden Jahren hat der Gesetzgeber verstärkt versucht, das Instrument der Zuzahlungen zu flexibilisieren, um die Inanspruchnahme von Leistungen durch die Versicherten in die gewünschte Richtung zu lenken. So sind Zuzahlungsnachlässe u.a. möglich, wenn die Versicherten regelmäßig an qualitätsgesicherten Maßnahmen der Primärprävention oder der betrieblichen Gesundheitsförderung teilnehmen; regelmäßig bestimmte Maßnahmen der Krankheitsfrüherkennung in Anspruch nehmen; sich an der hausarztzentrierten Versorgung, an integrierten Versorgungsformen oder an strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke (Disease Management Programme) beteiligen. Ebenso kann bei der Abgabe von rabattierten Arzneimitteln die betreffende Zuzahlung reduziert oder aufgehoben werden. Allerdings ist die Ermäßigung von oder der Verzicht auf Zuzahlungen an die begründete Erwartung geknüpft, dass dadurch insgesamt Einsparungen erzielt werden. Das Gesamtvolumen der Zuzahlungen zu GKV-Leistungen hat sich im Vergleich zu den frühen 1990er oder gar den frühen 1980er Jahren erhöht. Im Jahr 2015 belief sich die Summe der Zuzahlungen auf gut 3,8 Milliarden Euro (Tabelle), also knapp zwei Prozent der GKV-Leistungsausgaben in diesem Jahr und rund 75 Euro pro GKV-Mitglied und Jahr. Zuzahlungen zu GKV-Leistungen im Jahr 2015 in Mio. Euro LeistungZuzahlungsvolumen Ärztliche Behandlung --- Zahnärztliche Behandlung --- Arznei-, Verband- und Heilmittel aus Apotheken 2153 Heil- und Hilfsmittel, Behandlung durch sonstige Heilpersonen 716 Krankenhausbehandlung 750 Überschuss der Aufwendungen/der Erträge des Strukturfonds 66 Empfängnisverhütung, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch 2 Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen 75 Behandlungspflege, Häusliche Krankenpflege 50 Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation 9 Summe 3821 Quelle: BMG 2016: 15. Dabei gehen die tatsächlichen finanziellen Belastungen privater Haushalte durch Gesundheitsleistungen noch weit über die in der GKV-Statistik ausgewiesenen Zahlen hinaus: Zu den GKV-Zuzahlungen sind die so genannten Aufzahlungen zu addieren, also die privaten Zahlungen zu solchen Leistungen, für die das GKV-Leistungsrecht nur Festzuschüsse vorsieht und der Patient die Differenz zu den Gesamtkosten selbst tragen muss. Dies betrifft v.a. den Zahnersatz und die Hilfsmittel. Der Umfang dieser Aufzahlungen ist erheblich, lässt sich aber nicht genau beziffern, weil sie privat zwischen Patient und Arzt fließen. Zudem ist es bei diesen Leistungen häufig schwierig, eine klare Trennlinie zwischen notwendigem und nicht notwendigem Leistungsumfang zu ziehen. Die GKV-Zuzahlungsstatistik enthält nicht die Zahlungen für die so genannten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). Dies sind solche Leistungen, die der Arzt als privatärztliche Leistungen für Kassenpatienten erbringt und deren Kosten die Patienten daher vollständig privat tragen müssen. Seit Ende der 1990er Jahre haben Ärzte IGeL erheblich ausgeweitet. Im Jahr 2010 belief sich der Gesamtumfang des IGeL-Marktes schätzungsweise auf 1,5 Milliarden Euro . Zuzahlungen werden überaus kontrovers diskutiert. Befürworter von Zuzahlungen argumentieren, dass damit ein gesundheitsbewusstes Verhalten und eine verantwortungsvolle Inanspruchnahme von Leistungen gefördert werde . Dass Zuzahlungen einen solchen Effekt haben, konnte bisher empirisch nicht nachgewiesen werden. Der vorliegende Wissensbestand über die Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten spricht vielmehr gegen diese Behauptung. Es deutet nichts daraufhin, dass gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten aus finanziellen Motiven aufgegeben werden, zumal das Eintreten einer Erkrankung als Folge solcher Handlungen ein lediglich mögliches Ereignis in der Zukunft ist. Hier wird im Hinblick auf die eigene Gesundheit ein Kosten-Nutzen- Kalkül unterstellt, das in der sozialen Realität nicht existiert. Überdies unterliegt der vermutlich größte Teil der gesundheitsrelevanten Determinanten (Arbeits-, Umwelt- und soziale Lebensbedingungen) nicht oder kaum dem Einfluss der betroffenen Personen. Die Gefahr, dass Versicherte, die individuell nicht an ihren Behandlungskosten beteiligt werden, zu einer übermäßigen Inanspruchnahme von Leistungen neigten («moral hazard»), ist bei chronischen bzw. schweren Erkrankungen oder risikoreichen Operationen ohnehin nicht gegeben ; allenfalls könnte man sie bei Bagatellerkrankungen vermuten, aber auch hier ist die Inanspruchnahme von Leistungen in aller Regel mit Eingriffen in den Tagesablauf und anderen Unannehmlichkeiten verbunden . Was die Wirkung von Zuzahlungen auf die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen angeht, deuten empirische Untersuchungen darauf hin, dass sie vor allem dann Steuerungseffekte haben, wenn sie für die Patienten finanziell deutlich spürbar sind . In diesem Fall treffen sie aber insbesondere sozial schwache Bevölkerungsschichten und bergen darüber hinaus die Gefahr, dass medizinisch notwendige Behandlungen aus finanziellen Gründen unterbleiben oder verzögert werden. Aber auch ungeachtet dessen stellen Zuzahlungen eine Verletzung des Solidarprinzips dar, weil sie Kranke und vor allem chronisch Kranke finanziell überproportional belasten und im Ergebnis die paritätische Finanzierung von Krankenbehandlungskosten aushöhlen. Ende 2012 fasste der Bundestag den einstimmigen Beschluss, die wichtigste dieser Zuzahlungen, die Praxisgebühr, zum 1.1.2013 abzuschaffen. In der Bundesregierung hatte sich die FDP für eine Abschaffung der Praxisgebühr stark gemacht. Die Oppositionsparteien hatten diesen Schritt ohnehin schon seit langem gefordert. In dem Umstand, dass auch die schwarz-gelbe Koalition sich zu diesem Schritt durchrang, ist allerdings kein Anzeichen für eine grundsätzliche ordnungspolitische Umkehr zu sehen. Die FDP durfte hoffen, sich die Abschaffung dieser unpopulären Zuzahlung zuschreiben zu können und damit ihre schlechten Umfragewerte zu verbessern. Zugleich hatte dieser Schritt einen klientelpolitischen Hintergrund, denn die Vertragsärzte hatten sich seit Einführung der Praxisgebühr immer wieder über den damit verbundenen bürokratischen Aufwand beklagt. Die gute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung erleichterte der Koalition den Abschied von der Praxisgebühr. Zudem wurde in der Diskussion von verschiedener Seite auch darauf hingewiesen, dass dieses die ihr zugedachte Steuerungsfunktion – die Verringerung der Arztbesuche – verfehlt habe. Dies lässt sich auch als Hinweis darauf interpretieren, dass der Vorwurf einer verbreiteten unnötigen Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung durch GKV-Versicherte nicht haltbar ist. Einschränkungen des Solidarprinzips Welche Kriterien staatliche Sozialpolitik bei der Finanzierung und der Leistungsgewährung zugrunde legt, ist Produkt sozialer Auseinandersetzungen und darauf bezogener Handlungsstrategien. Wenn die GKV am Beginn dieses Jahrhunderts in hohem Maße am Solidarprinzip ausgerichtet ist, so ist dies Ausdruck der in diesem Prozess wirkenden Kräfteverhältnisse und der auf ihrer Grundlage getroffenen Entscheidungen. Die Frage, ob und inwiefern die Ausrichtung am Solidarprinzip weiter Bestand haben soll, wird dabei durchaus kontrovers diskutiert. Ihre Beantwortung ist aus gegenwärtiger Perspektive offen. Der Solidarausgleich hat sich in den Nachkriegsjahrzehnten als ein bedeutsamer Orientierungspunkt in der Entwicklung der GKV herauskristallisiert. Allerdings haben sich dort bis in die Gegenwart immer auch Bestimmungen zur Finanzierung sowie zum Leistungs- und Organisationsrecht gehalten, die dem Solidarprinzip zuwiderlaufen. Darin kommt zum Ausdruck, dass es bei Sozialpolitik immer auch darum geht, bestimmte soziale Gruppen durch die Gewährung von Privilegien an den Staat und die von ihm geschaffene Sozialordnung zu binden . Seit Mitte der 1970er Jahre und insbesondere durch die Gesundheitsreformen seit der Jahrhundertwende haben sich die Tendenzen zur Aushöhlung des Solidarprinzips deutlich verstärkt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist seine Geltung in der GKV in erster Linie durch die nachfolgend genannten Merkmale eingeschränkt. Die erwähnten Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen führen dazu, dass Kranke, insbesondere chronisch Kranke, überproportional mit Kosten belastet und die das Solidarprinzip kennzeichnenden Umverteilungsmechanismen geschwächt werden. Die seit 2003 verabschiedeten Reformen (GMG, GKV-WSG, GKV-FinG) stellen eine Abkehr vom Grundsatz der paritätischen Beitragsfinanzierung als einem Kernelement des Solidarprinzips in der GKV dar. Der 2005 eingeführte Sonderbeitrag für die Versicherten in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, die Einführung eines Zusatzbeitrags 2009 und dessen Erhöhung im Jahr 2011 mit der Option seiner unbegrenzten Ausweitung bei gleichzeitigem Einfrieren des Arbeitgeberbeitragssatzes verlagern die Finanzierungslasten aller künftigen Ausgabenüberhänge auf die Schultern der Versicherten. Mehr noch: Das GKV-FinG 2010 hat mit den erwähnten Bestimmungen die Tür zu einem vollständigen Umbau des GKV-Finanzierungssystems aufgestoßen. Die seit 2007 allen Versicherten eingeräumte Option für monetäre Wahltarife begünstigt junge und gesunde Versicherte. Personen mit höherem Erkrankungsrisiko und chronisch Kranke dürften von diesen Angeboten keinen Gebrauch machen. Dem Solidarsystem werden durch die betreffenden Beitragsermäßigungen Mittel entzogen, die auf die Versichertengemeinschaft umgelegt werden müssen. Der Solidarausgleich wird damit geschwächt. Zugleich erhalten die Krankenkassen damit eine Option, Strategien der Risikoselektion zu verfolgen. Mit Selbstbehalt- und Beitragsrückerstattungsmodellen halten Prinzipien der privaten Krankenversicherung Einzug in die GKV. BMG 2016: 16. BMG 2016: 15. Zok 2010: 4, Schnell-Inderst/Hunger/Hintringer et al. 2011: 10, 19, 30. Z.B. Breyer/Zweifel/Kifmann 2005. Z.B. Braun/Kühn/Reiners 1999: 59ff.; Reiners 2011. Hajen/Paetow/Schumacher 2011. Z.B. von der Schulenburg 1987; von der Schulenburg/Greiner 2007. Mielck 2000: 240ff.; Klose/Schellschmidt 2001: 136f. Esping-Andersen 1990.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-14T00:00:00
2017-07-19T00:00:00
2022-01-14T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/252845/leistungsausgrenzungen-und-zuzahlungen/
Seit den 1970er Jahren hat der Gesetzgeber zahlreiche Veränderungen in der Finanzierung von Gesundheitsleistungen vorgenommen, die zu einer deutlichen Privatisierung der Kosten geführt haben.
[ "Leistungsausgrenzungen", "Zuzahlungen", "Wahltarife" ]
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Wirklichkeit schaffen: Integration als Dispositiv - Essay | 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de
Einleitung Der Diskurs über "Migration" wird nicht nur in Deutschland intensiv, affektiv und zum Teil heftig geführt. Für die Akteure des Diskurses steht einiges auf dem Spiel. Das, was verloren und vielleicht auch gewonnen werden kann, ist ein zentrales imaginäres gesellschaftliches Moment, nämlich die Frage, wer "wir" sind und wer "wir" sein wollen. "Migration" beunruhigt. Diese Beunruhigung ist tiefgreifend. Sie betrifft grundlegende Praxen und Selbstverständnisformen wie zum Beispiel, wer in Deutschland juristisch legal und kulturell legitim von sich behaupten darf, Bürgerin und Bürger dieses Landes zu sein und als solche zu handeln. Sie betrifft aber auch die weitgehend von einseitig kulturellen und zumeist vornehmlich deutschsprachigen Routinen geprägten Institutionen und Organisationen im sozialen sowie gesundheitlichen Bereich. Sie werden durch diese Diskussionen in ihren Selbstverständnissen, Strukturen und Mustern grundlegend irritiert. Schließlich zeigt sich die Beunruhigung aber auch auf einer individuellen Ebene, da durch Migration als selbstverständlich geltende Ressourcenverteilungen, aus denen sich Privilegien oder Benachteiligungen aufgrund der sozialen Position ergeben, problematisiert werden. Kurzum: Die Auseinandersetzung mit dem Topos Migration ist mit Affekten verbunden und wird zum Teil leidenschaftlich geführt, weil es "um etwas geht", weil die mit Migrationsphänomenen verbundenen Veränderungen das Verständnis des gesellschaftlichen "Wir", institutionelle Logiken und die symbolische und faktische Privilegierung der Individuen in Unruhe versetzen. Mit der zumindest rhetorischen Anerkennung der Migrationstatsache, also dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, seit etwa Anfang des neuen Jahrtausends wird in der deutschsprachigen Öffentlichkeit das Thema Migration nahezu ausnahmslos in einem Atemzug mit der Vokabel "Integration" behandelt. Da es hierbei nicht ausschließlich um eine Analyse, sondern auch um normative und regulative Fragen geht, findet "Integration" im Kontext der erwünschten Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse Verwendung. Der analytische, noch mehr aber der normative Gebrauch des Integrationsbegriffs ist aus etlichen Gründen problematisch, von denen hier nur die wichtigsten skizziert werden sollen. Problematik des Integrationsbegriffs Obschon der Ausdruck "Integration" in der öffentlichen Debatte auf sehr unterschiedliche Sachverhalte (Zielsetzungen wie Wege der Zielerreichung) verweist, wird die Vokabel verwendet, als ob ihr ein klares politisches Paradigma zugrunde liegen würde: "Ein Blick in den Nationalen Integrationsplan (NIP) der Bundesregierung macht dies deutlich: Integration steht hier für eine ganze Reihe gesellschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen, die bei der Sprachförderung beginnen und bis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses reichen, die Position von Frauen verbessern oder das 'friedliche Zusammenleben' sichern sollen. Klassisch sozialkritische Argumentationsfiguren, wie die, dass es 'soziale Bedingungen und Barrieren' (NIP, S. 13) gibt, die Integration verhindern, wechseln sich dabei ab mit solchen aus dem konservativeren Repertoire, wenn 'Kultur eine wesentliche Grundlage unseres Zusammenlebens' ist und unschwer zu erkennen ist, dass hier von unserer' Kultur die Rede ist (NIP, S. 19). (...) Man kann dieses Changieren als Ausdruck der verschiedenen migrations- und letztlich gesellschaftspolitischen Perspektiven deuten, die sich in den Text einschreiben und es ermöglichen, dass Integration 'von links bis rechts' als catch-all-phrase funktioniert." Hierbei wird die Bedeutungsoffenheit des Begriffs durch rhetorische Vereinheitlichung und Einbettung in einen ordnungspolitischen Kontext kompensiert. Mit "Integration" werden weiterhin nicht Strategien der Bewältigung eines von Restriktionen geprägten Alltags, alternative Praktiken der sozialen Selbstinklusion und noch viel weniger subversive Praxen der Zugehörigkeitsaneignung von Migrantinnen und Migranten erfasst. Auch kommen mit der Integrationsvokabel kaum Maßnahmen zur rechtlichen Integration von Migrantinnen und Migranten im Sinne der Ausstattung mit Teilhaberechten oder politische Maßnahmen zur aktiven Bekämpfung von Diskriminierung in den Blick. Ebenfalls selten werden Strategien genannt, die eine soziale Einbeziehung in bedeutende gesellschaftliche Teilbereiche wie Arbeitsmarkt, Politik, Verwaltung oder Bildung ermöglichen würden. Tatsächlich wird in der Regel von "Integration" unter dem Vorzeichen der "Nicht-Integration", der "Desintegration" gesprochen. Der Integrationsdiskurs basiert auf Negativnarrativen über die "verweigerte", "misslungene", die "verpasste" oder gar die "unmögliche" Integration. Gerade aus dieser Negation entfaltet der Integrationsimperativ seine normative Kraft. Das fortwährend erneuerte Attest der gescheiterten Integration ermöglicht eine beständige Neuformulierung von Integrationsaufforderungen. Dies erleichtert sich dadurch, dass "Integration" als gesellschaftlicher Ausnahmefall dargestellt wird, ohne dass der Begriff klar definiert ist: "Demnach ist ein Migrant oder eine Migrantin erfolgreich integriert, wenn er oder sie die deutsche Sprache beherrscht, einen Bildungsabschluss besitzt und erwerbstätig ist. Ein solcher Integrationsbegriff ist aber äußerst problematisch. Wendet man ihn an, so müsste auch Mohammed Atta, einer der Todespiloten vom 11. September, als integriert beurteilt werden. Er beherrschte die deutsche Sprache sehr gut. So gut sogar, dass er in Deutschland einen akademischen Abschluss erlangte." Vor dem Hintergrund der semantischen Vagheit und performativen Assoziation mit Phänomenen des Scheiterns kann "Integration" zur Durchsetzung disziplinarischer Maßnahmen instrumentalisiert werden, was im Zuge der gegenwärtig dominanten Verwendungsweise von "Integration" auch geschieht. "Integration" ist hier eine Anpassungsleistung, die als "Migranten" geltende Personen zu erbringen haben. "Integration" ist zugleich ein Sanktionssystem, da bei nicht erbrachter "Integration" symbolische und ökonomische Strafen drohen. "Integration" bestätigt die Zuschreibung von Fremdheit, da die Vokabel nahezu ausschließlich benutzt wird, um über sogenannte Menschen mit Migrationshintergrund (MmM) zu sprechen. Indem sie als MmM bezeichnet werden, werden sie - selbst wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und hier ihren Lebensmittelpunkt haben - als "fremde Elemente", die zu integrieren seien, konstruiert. Die Frage der "Integration" wird aber beispielsweise nicht mit Bezug auf sexuelle Vergehen an Kindern durch inländische, christliche Geistliche gestellt oder mit Bezug auf wirtschaftskriminelle Biografien von Menschen, die selbstverständlich und fraglos als Deutsche verstanden werden. Sie wird auch nicht gestellt bei funktionellem Analphabetismus von Menschen, die als Deutsche gelten, und auch nicht, wenn wir es mit einem Fall von fehlendem moral sense, einem moralischen Bewusstsein, angesichts der Situation Anderer zu tun haben. Schließlich muss auch darauf hingewiesen werden, dass wenn "Integration" zur Analyse und Regulation von Bildungsfragen Verwendung findet, ein folgenreicher Reduktionismus greift. Der Begriff Integration thematisiert und versteht Individuen nicht als widerständige und eine eigensinnige Geschichte aufweisende Subjekte, sondern als "Elemente", die einem größeren Ganzen einzuordnen, eben zu integrieren seien. Die Tilgung von Subjektivität im Integrationsbegriff ist folgenreich für erziehungswissenschaftlich angelegte Überlegungen: Sie weist darauf hin, dass Integration letztlich keinen angemessenen normativen Bezugspunkt pädagogischen Handelns und pädagogischer Institutionen darstellen kann. Denn, wenn "Integration" mit Bezug auf Bildungsfragen zur zentralen Referenz wird, wird der pädagogische Handlungswiderspruch zwischen "gesellschaftlicher Brauchbarkeit" und "Selbstentfaltung" eindeutig zugunsten der Brauchbarkeit aufgelöst. Dadurch reduziert das Bildungsziel "Integration" den pädagogischen Bezug auf den Menschen auf Entwicklung und Pflege seines gesellschaftlichen Nutzens. An diesem Beispiel wird im Übrigen eine allgemeine Tendenz der zunehmenden Aushöhlung pädagogischer Sinnbezirke und ihrer Indienstnahme durch ökonomische und funktionalistische Kalküle deutlich. Sich auf Bildung beziehende Fragen werden erstaunlicher- und bezeichnenderweise entpädagogisiert. "Integration" schafft Wirklichkeit Worin aber besteht die positive Bedeutung des Integrationsbegriffs? Welche Wirklichkeit vermag er zu schaffen? "Integration" kann verstanden werden als ein Bündel symbolischer und außersymbolischer Praxen, das auf die mit Migrationsphänomenen diskursiv assoziierte Beunruhigung bezogen ist. Um dieses Verständnis von "Integration" zu erläutern, greife ich auf den Dispositivbegriff von Michel Foucault zurück. Dispositive sind strukturierte, gleichwohl bewegliche Bündel von Praktiken, die in einer spezifischen Weise - dies macht ihren Zusammenhang aus - in bestimmte Bereiche intervenieren: Dispositive haken positiv und negativ ein; sie bestätigen, behindern und leiten den Fluss des Gesagten, des Sagbaren, des vergegenständlichten Wissens und des nicht sagbaren Wissens um und ab; dadurch sichern und modifizieren sie diesen Fluss, ebenso wie sie Effekte dieses Flusses sind. Foucault bezeichnet das Dispositiv als ein heterogenes Netz, das zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem geknüpft ist. Die Hauptfunktion von Dispositiven ist es, auf eine urgence, einen Notstand, eine Dringlichkeit, ein bestehendes oder eventuell eintretendes Problem zu reagieren. Ein Beispiel für eine derartige "Notsituation", aus der letztlich ein Dispositiv hervorgeht, ist die schwere Kontrollierbarkeit der stark anwachsenden Zahl an Menschen in westlichen Gesellschaften bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es werden Machttechniken entwickelt, welche die große Menge an Menschen besser kontrollieren und ökonomisch nutzbar machen lassen sollen. Die entwickelten Techniken richten den Blick auf eine übergeordnete Einheit, zu der die Menschen zusammengefasst werden: auf die Gesamtheit der zu normierenden Gesellschaftsmitglieder, die Bevölkerung. Mittels des Bevölkerungsdispositivs wird auf das Leben der Einzelnen, die als Einzelne gar nicht mehr in Augenschein genommen werden müssen, Einfluss ausgeübt. Dispositive sind hierbei im engeren Sinn keine Strategien von Subjekten, sondern "Strategien von Kräfteverhältnissen". In diesen Strategien werden gegensätzliche Interessen gebündelt und unterschiedliche Ereignisse in einen Zusammenhang gebracht. Durch diese Art der strategischen Vereinheitlichung und Sinnstiftung soll der Notstand, auf den sich das Dispositiv bezieht, gemindert werden. Wichtig ist, dass diese Strategien in einem engen und wechselseitigen Verhältnis zu Wissenssystemen (Epistemen) stehen. Diese Wissenssysteme wirken auf die Art und Weise, wie Ereignisse in einem gesellschaftlichen Kontext primär wahrgenommen und mit Bedeutung versehen werden, beziehungsweise welche Assoziation bestimmte Begriffe in den öffentlichen Debatten wecken. So wie das Wissen die Stütze des Dispositivs ist, so stützt das Dispositiv das Wissen. Mit dem Ausdruck "Integrationsdispositiv" verstehe ich im Folgenden das Bündel von Vorkehrungen, Maßnahmen und Interpretationsformen, mit dem es in öffentlichen Debatten gelingt, die Unterscheidung zwischen natio-ethno-kulturellem "Wir" und "Nicht-Wir" plausibel, akzeptabel, selbstverständlich und legitim zu machen. Das Integrationsdispositiv antwortet einem strategischen Regelungsbedarf, der dadurch entsteht, dass die imaginierte Einheit "Nation" in eine Krise gerät. Sie gerät durch Prozesse in die Krise, die nicht allein mit Migrationsphänomenen einhergehen und aus ihnen resultieren, bei denen jedoch Phänomene des faktischen und symbolischen Überschreitens und Infragestellens des Prinzips der nationalen Grenze eine prominente Rolle spielen. Diese Krise lässt sich in einer grammatisch simplen Paraphrase wiedergeben: "Wer sind wir?" Die Vorstellung des "nationalen Wir" bedarf fortwährender Imaginationspraxen im Sinne einer konstanten "Selbstbestätigung". Dazu gehören etwa nationale Wettbewerbe wie der Eurovision Song Contest oder die Fußball-Weltmeisterschaft, bei welchen mit Fahnen und Fähnchen an Autos und Häusern, mit regressiver Freude, johlendem Taumel, untröstlicher Ernüchterung, einer karnevalesken Hemmungslosigkeit und mit von der Bekleidungsindustrie diktierten Farbcodes das "Wir" bestätigt wird. Aber auch die Vermittlung bestimmter Geschichtsbilder im Schulunterricht oder "nationale Selbstbilder", die über Medienberichte oder auch im Zusammenhang mit den Diskussionen über eine Leitkultur vermittelt werden sollen, sind Teil der Selbstimagination. Insofern handelt es sich bei der Nation - wie bei, formal gesehen, allen Identitätsformen - um ein Krisenphänomen, genauer: um eine Selbsterschaffung in der Krisenbewältigung. Denn Imaginationspraxen dieser Art sind insbesondere dann vonnöten, wenn das phantasierte "Wir" in eine Krise gerät - sei dies nun eine durch die mediale Inszenierung der sogenannten Globalisierung nahegelegte Krise oder eine, die aus der öffentlichen Thematisierung dessen erfolgt, dass als fremd geltende Menschen und ihre Lebensweisen sich dauerhaft in dem Raum niederlassen, der als eigener beansprucht wird. Das Integrationsdispositiv ist mithin ein dem Strategienbündel der Nation gegenüber komplementäres strategisches "Manöver". Es spiegelt das nationale Dispositiv. Mit Blick auf Deutschland kann man sogar behaupten, dass sich Integrations- und nationales Dispositiv wechselseitig stützen und hervorbringen. Das Integrationsdispositiv reagiert somit nicht auf den Umstand, dass sich in Deutschland zu viele "Nicht-Deutsche" aufhalten und es einer statistischen und bevölkerungspolitischen Regulation bedarf, sondern darauf, dass das, was Deutschland ist, als Krisenphänomen in Erscheinung tritt: Wenn wir uns verlieren, wer sind wir dann noch? "Wir" in der Krise Der in dieser Frage enthaltenen "Drohung" sind abfangende, mindernde und beschwichtigende Strategien, Praxen und Symbolisierungen zugeordnet, deren Zusammenhang das Integrationsdispositiv ins Leben ruft. Es klang oben bereits an, dass dies eine schattenhafte Furcht vor dem "Anderen" ist, die für kollektive Identität in einer besonderen und für nationale Identität in einer übersteigerten Weise konstitutiv ist. Wir können drei operative Merkmale unterscheiden, welche das Wesen des Integrationsdispositivs kennzeichnen. 1. Es unterscheidet mittels Bezeichnungs- und Visibilisierungspraxen sowie der allseitigen Legitimität staatlicher Kontrollen zwischen natio-ethno-kulturellem "Wir" und "Nicht-Wir". Dies soll verdeutlicht werden anhand des folgenden Beispiels: Unter der Überschrift "Besondere Integrationsbedürftigkeit" steht auf der Webseite des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF): "Ausländer, die von der Ausländerbehörde zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet werden, gelten als besonders integrationsbedürftig, wenn sie zum Beispiel das Sorgerecht für ein in Deutschland lebendes minderjähriges Kind haben und sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können und sich deshalb noch nicht in das Leben in Deutschland integrieren konnten." Solange sowohl die Integrationsvokabel als auch alle zwischen Fürsorglichkeit und Sanktion eingespannten Integrationspraxen nicht in Bezug auf "Inländerinnen" und "Inländer", die ihre Kinder schlagen, oder "Inländer", die ihre Frauen schlagen, Anwendung finden, ist "Integration" eine diskursive und außerdiskursive Praxis der Erzeugung und Behandlung "der Anderen". Sie macht "uns" deutlich, dass "wir" keine "Anderen" sind. Glück gehabt! 2. Der Unterscheidung wird eine institutionalisierte, systematisch differenzielle Behandlungsweise von "Wir" und "Nicht-Wir" zugeordnet. Die Unterscheidung wird dadurch sozial verwirklicht. Mittlerweile scheint es in Deutschland ganz klar zu sein, dass es neben der (nota bene: phantasmatischen) Unterscheidung zwischen Männer und Frauen, eine zweite große Unterscheidung gibt, die zwischen MmM und MoM (Menschen ohne Migrationshintergrund). "Mit" heißt hierbei: (noch) nicht ganz "Wir". Den MmM droht bei "verweigerter Integration" - wenn "sie" sich also weigern, (wie) "wir" zu sein, oder sich weigern, die Selbstdisziplin aufzubringen, die erforderlich ist, um zu funktionieren und brauchbar zu sein wie "wir" - der Ausschluss aus dem symbolischen und auch geopolitischen Zugehörigkeitsraum. 3. Diese Differenzierungen - ihre Beziehung zueinander kann man sich vorstellen wie ein Mobile - werden fortwährend als legitime Unterscheidungen und Behandlungen ausgegeben. Wer zweifelt ernsthaft daran, dass es MmM und MoM gibt, dass die Integration der ersten alternativlos ist, dass Sanktionen legitim sind, wenn sie sich der Integration willentlich versperren? Kurzum: Das Integrationsdispositiv ist das Netz, das zwischen kulturellen, institutionellen, bürokratischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und medialen Ereignissen gespannt ist, in welchen ein natio-ethno-kulturelles "Wir" sich von seinem "Anderen" scheidet. Es ermöglicht so ein sprachliches und in Institutionen vergegenständlichtes Wissen darüber, wer "wir" sind und wer "wir" nicht sind, aber auch wer "sie" sind. Dieses Wissen festigt das Dispositiv, ohne es - denn es gibt keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen - allerdings jemals zu fixieren. Als heterogene strategische Konstellation umfasst das Integrationsdispositiv wissenschaftliche Aussagen wie etwa der Migrationssoziologie, die in jüngster Zeit wieder verstärkt von der Unvermeidbarkeit der Assimilation spricht, oder der Interkulturellen Pädagogik, die immer wieder der Verlockung erliegt, sich als kompensatorische Pädagogik der Förderung von MmM anzubieten. Aber auch Institutionen, Gesetze, Regelungen und administrative Maßnahmen - "kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes" - spiegeln Zugehörigkeitsverhältnisse wider. Legitimation des "Wir" Gemeinsam ist diesem "entschieden heterogenen Ensemble", dass es als Effekt ein bestimmtes Verständnis der eigenen Zugehörigkeit, ein bestimmtes Welt- und Selbstverhältnis konstituiert. Die strategische Funktion dieses Dispositivs besteht in einer differenziellen Identifizierung, die Grundlage des von keinem Plan ausgearbeiteten Verwaltens der Körper und Biografien ist: Die faktische Systematik und Methodik der materiellen und symbolischen Ungleichbehandlung soll legitim erscheinen. Trotz einer allseitigen Rhetorik universalistischer Ethik und Rechte ist diese Ungleichbehandlung sowohl strukturell als auch habituell anzutreffen, wie regelmäßig in Berichten der EU-Kommission über Diskriminierungen in der EU und in Deutschland zu lesen ist. Nicht nur in der politischen Integrationsdebatte, auch in der Integrationsforschung dominiert eine Fixierung auf "Nation" als Bezugsrahmen, um Migration und ihre Folgen zu thematisieren. In der Migrationsforschung werden seit einiger Zeit Alternativen zu einem verzerrenden "methodologischen Nationalismus" diskutiert. Die politischen und öffentlichen Diskussionen bleiben allerdings einer Idee von Nation verhaftet, die implizit von der Vorstellung eines kulturell und weltanschaulich organischen Gebildes ausgeht. Dieses Gebilde werde durch die gemeinsame Abstammung, die geteilte Religion, die eine Geschichte, die selbstverständliche Sprache oder den einen Wertekonsens zusammengehalten - obwohl dies im Widerspruch steht mit anderen gegenwärtigen Selbstnarrationen wie Globalisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Postmoderne oder Regionalisierung. Ungeachtet der unterschiedlichen politischen Nuancen wird dadurch Integration, die Eingliederung zum konstitutiven Prinzip der Gesellschaft. "Die Gesellschaft" selbst entzieht sich aber der Definition und steht damit nicht mehr zur Debatte. Sie gilt als fraglose Norm und ist als solche "gesetzt". Insofern kann der Integrationsdiskurs, das unausgesetzte öffentliche Reden über "Integration", als Versuch interpretiert werden, durch die Rede über "die Anderen" und die Notwendigkeit, diese in ein vermeintlich bestehendes Ganzes zu integrieren, "die Gesellschaft" und "das gesellschaftliche Wir" zu beschwören. Problematisch ist, dass es sich permanent zu entziehen droht. "Wir", die wir im Sprechen erst entstehen, sprechen so viel über die (Integration der) Anderen, damit wir wissen, wer wir sind. Vgl. Paul Mecheril/Oskar Thomas-Olalde, Integration als (Bildungs-)Ziel?, in: Raingard Spannring/Susanne Arens/Paul Mecheril (Hrsg.), bildung - macht - unterschiede. Facetten eines Zusammenhangs, Innsbruck 2011, S. 119-131. Serhat Karakayal, Ambivalente Integration, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Dossier: Der Nationale Integrationsplan auf dem Prüfstand, November 2007, online: www.migration-boell.de/web/integration/47_1366.asp (29.8.2011). Vgl. Thomas Geisen, Vergesellschaftung statt Integration, in: Paul Mecheril et al. (Hrsg.), Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturelle-pädagogische Forschung, Münster 2010, S. 14f. Kamuran Sezer, Was wird unter Integration verstanden?, September 2010, online: www.migration-boell.de/web/integration/47_2674.asp (29.8.2011). Vgl. Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 120ff. Ebd., S. 120. Die Ausführungen gehen zurück auf Überlegungen zu etwas, das wir "Ausländerdispositiv" genannt haben. Vgl. Paul Mecheril/Bernhard Rigelsky, Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv und die Ausländerpädagogik, in: Christine Riegel/Thomas Geisen (Hrsg.), Jugend, Zugehörigkeit und Migration, Wiesbaden 2007, S. 61-80. Webseite des BAMF: www.integration-in-deutschland.de/nn_659118/SharedDocs/Glossar/DE/Integration/B/besondere-integrationsbeduerftigkeit.html (31.8.2011). M. Foucault (Anm. 5), S. 120. Ebd. Vgl. Andreas Wimmer/Nina Glick-Schiller, Methodological nationalism and beyond: nation-state building, migration and the social sciences, in: Global Networks, 4 (2002) 2, S. 301-334.
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, Paul Mecheril
2021-12-07T00:00:00
2012-01-25T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/59747/wirklichkeit-schaffen-integration-als-dispositiv-essay/
Integration und Migration sind Vokabeln, die im öffentlichen Diskurs zusammengehören. Der Beitrag offeriert eine Lesart, die Integration als Reaktion darauf versteht, dass das Phantasma des natio-ethno-kulturellen "Wir" in eine Krise geraten ist.
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PISA – Mathematik und Naturwissenschaften | Die soziale Situation in Deutschland | bpb.de
Bei PISA-2018 lagen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften über dem OECD-Durchschnitt. Allerdings bleibt der Abstand zu den Spitzenreitern groß. Zudem waren die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften 2018 schlechter als 2015 und 2015 schlechter als 2012. Rund ein Fünftel der 15-Jährigen in Deutschland ist als leistungsschwach zu bezeichnen. Auf der anderen Seite erreichten in Mathematik etwa 13 Prozent eine der beiden höchsten Kompetenzstufen und in Naturwissenschaften etwa 10 Prozent (OECD-Durchschnitt 11 bzw. 7 Prozent). Fakten In der OECD-Studie PISA werden die Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften gemessen. PISA fragt dabei nicht Faktenwissen ab, sondern testet, ob die Teilnehmenden ihr Wissen anwenden und Informationen sinnvoll verknüpfen können. Die Leistungen der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland liegen in allen drei Bereichen über dem OECD-Durchschnitt. Allerdings bleibt der Abstand zu den Spitzenreitern – vier chinesische Provinzen und Singapur – und auch zu einigen europäischen OECD-Staaten, wie Estland und Finnland, insgesamt groß. Zudem waren die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften 2018 schlechter als 2015 und 2015 schlechter als 2012. Zwischen 2012 und 2018 reduzierte sich die Zahl der Pisa-Punkte im Bereich Mathematik von 514 auf 500 und bei den Naturwissenschaften von 524 auf 503. Der Rückgang der Leistungen beim Leseverständnis ist hingegen statistisch nicht belastbar (2012: 508 Punkte / 2018: 498 Punkte). Im Jahr 2018 lag in Deutschland bei rund einem Fünftel der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler die Leistung in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften jeweils unterhalb der Kompetenzstufe 2. Diese 15-Jährigen haben Probleme, mathematische oder naturwissenschaftliche Fragen zu beantworten bzw. Zusammenhänge zu erkennen, wenn nicht alle relevanten Informationen vorliegen und sie nicht angeleitet werden bzw. der Kontext nicht vertraut ist, also die Routine fehlt. Auf der anderen Seite erreichten in Mathematik etwa 13 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland eine der beiden höchsten Kompetenzstufen (Stufe 5 oder 6). Im OECD-Durchschnitt traf dies auf 11 Prozent der Schülerinnen und Schüler zu. Die OECD-Länder mit dem größten Anteil besonders leistungsstarker Schüler sind die Niederlande (18 Prozent), die Schweiz (17 Prozent) und Polen (16 Prozent). Spitzenwerte wurden allerdings außerhalb der OECD erzielt: Bei sechs Teilnehmerstaaten aus Asien lagen die Werte zwischen 44 und 21 Prozent (Peking-Shanghai-Jiangsu-Zhejiang bzw. Südkorea). In Naturwissenschaften erfüllten in Deutschland etwa 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Anforderungen von Kompetenzstufe 5 oder 6 (OECD-Durchschnitt: 7 Prozent). Diese Schüler können ihr naturwissenschaftliches Wissen und ihr Wissen über Naturwissenschaften kreativ und selbstständig auf eine Vielzahl von Situationen anwenden, auch auf solche, mit denen sie nicht vertraut sind. In Mathematik erzielten bei PISA-2018 die Jungen in Deutschland 7 Punkte mehr als die Mädchen. OECD-weit lag die Differenz bei 5 Punkten. In Naturwissenschaften weisen die Mädchen und die Jungen dagegen ein ähnliches Leistungsniveau auf, weil sich die Leistungen der Jungen gegenüber früheren Studien verschlechtert haben. Unter den in Mathematik oder Naturwissenschaften leistungsstarken Schülerinnen und Schülern rechnet in Deutschland etwa ein Viertel der Jungen – aber nur ein Achtel der Mädchen – damit, im Alter von 30 Jahren als Ingenieur oder Naturwissenschaftler tätig zu sein. Etwa ein Viertel der leistungsstarken Mädchen geht davon aus, später einen Gesundheitsberuf auszuüben. Unter den leistungsstarken Jungen ist dies für weniger als ein Zehntel der Fall. Schließlich glauben lediglich 7 Prozent der Jungen und 1 Prozent der Mädchen, dass sie später im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik tätig sein werden. Der sozioökonomische Status ist in allen PISA-Teilnehmerländern ein einflussreicher Faktor bei den Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften: Sozioökonomisch schwächere Schüler liegen bei den Leistungen deutlich hinter den privilegierten Schülern. Ein hoher Anteil sozioökonomisch Benachteiligter findet sich bei den Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund – bei PISA-2018 war es in Deutschland etwa die Hälfte. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (hier: Beide Eltern im Ausland geboren) hat sich in Deutschland zwischen 2009 und 2018 von 18 auf 22 Prozent erhöht. Zwei weitere Faktoren für den Leistungsrückgang in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften sind nach Aussagen der Schulleitungen in Deutschland ein überdurchschnittlich hoher Mangel an Sachmitteln und Personal – Letzteres insbesondere an Schulen, die einen hohen Anteil an sozioökonomisch benachteiligten Schülern haben. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Informationen zum Thema PISA-2018: Lesekompetenz finden Sie Interner Link: hier... Informationen zum Thema PISA-2018: Lernumfeld und Wohlbefinden finden Sie Interner Link: hier... PISA (Programme for International Student Assessment) ist eine international vergleichende Schulleistungsstudie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development – OECD). Die Studie findet seit dem Jahr 2000 alle drei Jahre statt. Sie ermittelt in erster Linie inwieweit Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften erworben haben. Aber auch das Schulklima, das Wohlbefinden der Schüler und Schülerinnen sowie der Einfluss der sozialen Herkunft, des Geschlechts und des Migrationshintergrundes auf das Leistungsniveau werden erfasst. International wurden in knapp 22.000 Schulen die Daten von mehr als 600.000 Schülerinnen und Schülern erhoben. Dabei sind die Stichproben repräsentativ für die 15-Jährigen des jeweiligen Staates. In Deutschland nahmen an 223 Schulen insgesamt 5.451 Schülerinnen und Schüler aller Schularten an der PISA-Testung 2018 teil. Auch für Deutschland ist die Stichprobe repräsentativ, sie erlaubt aber keine verallgemeinerbaren Vergleiche zwischen den Bundesländern. PISA ordnet die Teilnehmerländer entsprechend ihrem Abschneiden in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften ein. Eine Rangliste, die alle drei Bereiche zusammenfasst, gibt es nicht. Bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 wurde der OECD-Mittelwert auf 500 festgelegt. Allerdings liegt der OECD-Mittelwert in den späteren Erhebungen nicht mehr genau bei 500, sondern hat sich etwa durch ein anderes Lösungsverhalten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer oder den Zuwachs an OECD-Staaten verändert. Zur genaueren Beschreibung der Schwierigkeiten von Aufgaben sowie der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler werden seit PISA 2000 Kompetenzstufen definiert. In der PISA-Studie 2018 werden sechs Kompetenzstufen für mathematische Kompetenz (1 bis 6) und sieben für naturwissenschaftliche Kompetenz (1a/b, 2 bis 6) unterschieden. Siehe hierzu ggf.: Interner Link: PISA 2018 – Grundbildung im internationalen Vergleich OECD-Mitglieder: Externer Link: http://www.oecd.org/berlin/dieoecd/ PISA – Mathematik und Naturwissenschaften PISA-Punkte insgesamt, ausgewählte europäische Staaten, 2018 Mathematik 1 Naturwissen- schaften 1 523 Estland 530 519 Niederlande 503 516 Polen 511 515 Schweiz 495 509 Dänemark 493 509 Slowenien 507 508 Belgien 499 507 Finnland 522 502 Schweden 499 502 Vereinigtes Königreich 505 501 Norwegen 490 500 Deutschland 503 500 Irland 496 499 Österreich 490 499 Tschechien 497 496 Lettland 487 495 Frankreich 493 495 Island 475 492 Portugal 492 489 OECD-Durchschnitt 489 487 Italien 468 486 Slowakei 464 483 Luxemburg 477 481 Litauen 482 481 Spanien 483 481 Ungarn 481 454 Türkei 468 451 Griechenland 452 Fußnote: 1 PISA-Punkte: Bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 wurde der OECD-Mittelwert auf 500 festgelegt. Allerdings liegt der OECD-Mittelwert in den späteren Erhebungen nicht mehr genau bei 500, sondern hat sich etwa durch ein anderes Lösungsverhalten der Teilnehmer oder den Zuwachs an OECD-Staaten verändert. Quelle: PISA 2018: Grundbildung im internationalen Vergleich Quellen / Literatur OECD: PISA 2018 Ergebnisse – Ländernotiz Deutschland; PISA 2018: Grundbildung im internationalen Vergleich (Hrsg: Kristina Reiss, Mirjam Weis, Eckhard Klieme, Olaf Köller) OECD: PISA 2018 Ergebnisse – Ländernotiz Deutschland; PISA 2018: Grundbildung im internationalen Vergleich (Hrsg: Kristina Reiss, Mirjam Weis, Eckhard Klieme, Olaf Köller)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-12T00:00:00
2012-05-12T00:00:00
2022-01-12T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/135812/pisa-mathematik-und-naturwissenschaften/
Bei PISA-2018 lagen die Leistungen in Deutschland in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften über dem OECD-Durchschnitt. Allerdings bleibt der Abstand zu den Spitzenreitern groß.
[ "Pisa", "PISA-Studio", "Standortwettbewerb", "Bildung", "Zukunft", "Zahlen und Fakten", "Europa", "EU", "EU-28", "EU-27", "Mathematik", "Naturwissenschaften", "Lernumfeld", "Herkunft" ]
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Rassismus und Repräsentation: das Islambild deutscher Medien im Nachrichtenjournalismus und im Film | Oray | bpb.de
Der gesellschaftliche Diskurs über Muslim*innen und die Religion des Islams wird maßgeblich von Medienbildern und Narrativen bestimmt. Gemeint sind Darstellungs-, Erzähl- und Deutungsmuster, die in der Lage sind, sowohl öffentliche als auch private Wahrnehmungen thematisch auszurichten und inhaltlich vorzustrukturieren. Trotz der zunehmenden Bedeutung sozialer Medien als Räume gesellschaftlicher Aushandlung sind es noch immer die Themenagenden und Deutungsangebote traditioneller Medien, die bestimmen, wer öffentlich sichtbar ist und auf welche Weise. Vor diesem Hintergrund ist die Bilanz der Forschung zur medialen Darstellung "des Islams" ernüchternd: Sie zeigt, dass das öffentliche Islambild seit Jahren von konflikthaften, alltagsfernen und oftmals (subtil) rassistischen Erzählmustern dominiert wird. Der Einfluss von Medienbildern auf Alltagsdiskurse ist dabei unbestritten und wird auch durch zahlreiche Studien über verbreitete Ressentiments gegen Muslim*innen in Deutschland und anderen Industrienationen nahegelegt. Die Bedeutung traditioneller Massenmedien für die Herstellung und Festigung antimuslimischer Narrative kann jedoch nicht nur auf den klassischen Journalismus beschränkt werden. Gerade Formate der Populärkultur wie Filme und Unterhaltungsserien tragen durch ihren einfachen Zugang, ihre Emotionalität und ihr Spiel mit zeitgenössischer Ästhetik dazu bei, dass sich problematische Sichtweisen auf den Islam gesellschaftlich etablieren. Zugleich liegt hier aber auch ein Potential für mehr Selbstbestimmung, Rassismuskritik und gesellschaftliche Aufklärung. In der Populärkultur finden sich Erzählmuster, die Muslim*innen nicht mehr nur pauschal als fremde "Andere" beschreiben. Auf die politische Bedeutung von Unterhaltungsmedien ist wiederholt hingewiesen worden. Im Rahmen gesellschaftlicher Debatten um Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Anerkennung gewinnen sie immer mehr an Bedeutung. Dieser Beitrag wirft auf das Medienbild des Islams daher zwei Schlaglichter: zunächst werden zentrale Diskursmuster des klassischen Nachrichtenjournalismus identifiziert. Dabei zeigt sich, dass negative Islamnarrative überaus hartnäckig sind, teils aber auch flexibel und anpassungsfähig, solange nur die Trennlinie zwischen "uns" und "denen" erhalten bleibt. Die Ursachen hierfür liegen in spezifischen journalistischen Produktionsbedingungen, aber auch in Publikumserwartungen und Wissensumwelten, wie sie etwa auch von Elternhäusern und Schule vermittelt werden. Der zweite Teil behandelt das Islambild populärer Medien, wobei Filme und Unterhaltungsserien im Fokus stehen. Am Beispiel international erfolgreicher, kommerzieller Produktionen einerseits und Beiträgen migrantischer bzw. muslimischer Filmschaffender anderseits wird die gesellschaftliche Verantwortung und das emanzipatorische Potential medialer Popkultur erörtert. Der Beitrag macht zweierlei deutlich: erstens, wie sich antimuslimische Islamnarrative in (einigen) Mediendiskursen kontinuierlich reproduzieren, wobei diese im rechten Meinungsspektrum verschärft und durch die latenten Rassismen des konservativ-liberalen Milieus gestützt werden. Zweitens zeigt er, wie rassismuskritische, migrantische bzw. muslimische Stimmen sich in die öffentlichen Deutungskämpfe über den Islam einmischen, wobei auch sie Medien als Sprachrohre und Repräsentationsorgane nutzen. Politisierung und Dämonisierung des Islams im Nachrichtenjournalismus Das Interesse deutscher Massenmedien am Islam erwachte während der iranischen Revolution von 1978/79. Dabei beschränkte sich die Islamberichterstattung vor diesem Ereignis weitgehend auf Regelphänomene, etwa die jährlich wiederkehrende Berichterstattung über den Ramadan oder die Pilgerfahrt. Erst die islamische Revolution des Ayatollah Khomeini im Iran änderte dies schlagartig und ließ den Islam zu jenem weltweit beachteten Medienthema werden, das er bis heute ist. Mit dieser Entwicklung einher ging eine starke Politisierung des Islambildes, und, was als Hauptproblem der derzeitigen Situation betrachtet werden kann, eine Verengung der Themenauswahl, die wie bei fast keinem anderen Thema mit Fragen der Gewalt assoziiert wird. Mehr als jeder zweite Beitrag über den Islam thematisiert die Religion im Kontext körperlicher Gewalt. Gewalt tritt dabei in verschiedener Form auf, als Terrorismus, als familiäre Gewalt, als Gewalt gegen Frauen oder als ethnisch-religiöse Gewalt, die die Demokratie durch Gesetzlosigkeit gefährde (ähnlich dem rechtspopulistischen Bedrohungsszenario von muslimischen "Parallelgesellschaften"). Kein Wunder also, dass in Studien seit Jahren auf stabile Ablehnungswerte gegenüber Muslim*innen und den Islam hingewiesen wird. Im Bereich der Auslandsberichterstattung über die sogenannte "islamische Welt" sind die Negativwerte durch die Konzentration auf Gewaltkonflikte so hoch wie sonst nur im Bereich der Kriegs- und Krisenberichterstattung. Problematisch ist dabei nicht das Berichten über Gewalt und Repression an sich, sondern die Fixierung auf dieses enge Themenspektrum. Mit anderen Worten: Kritisch ist weniger, worüber berichtet wird, als worüber nicht berichtet wird. Ein Gewaltbild des Islams kennzeichnet dabei keineswegs nur den Boulevardsektors, sondern prägt auch seriöse Medien. Dabei liegt der Islam im engeren Sinne der Theologie, des religiösen Kultus und Ritus kaum im Interesse deutscher Massenmedien. Ein Blick auf die Islamberichterstattung der letzten vier Jahrzehnte vermittelt fast den Eindruck, der Islam sei gar keine Religion, sondern eine Form der Politik oder der politischen Ideologie der Gewalt. Theologische Tatbestände, etwa dass Jesus Christus im Islam als Prophet und Vorgänger Mohammeds betrachtet wird, sind in der deutschen Gesellschaft mehrheitlich unbekannt. Darin ähneln sich Islam und Judentum, das in seiner religiösen und kulturellen Substanz ebenfalls kaum in den Medien präsent ist und wenn, dann oft als Hintergrundfolie für die historische Aufarbeitung des Holocaust. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Ignatz Bubis, früherer Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, 1999 erkannte, dass das heutige Islambild ihn an das Bild des Judentums im 19. und frühen 20. Jahrhundert erinnert. Bestätigung findet Bubis‘ Vergleich auch noch zwanzig Jahre später. Dies deutet auf das Versagen einer sich liberal gebenden Öffentlichkeit hin, wobei nicht zuletzt der Nachrichtenjournalismus bei der Vermittlung nicht-christlich-religiöser Inhalte seiner Aufklärungsfunktion kaum gerecht wird. Statt auf interreligiöse Bildung wird auf politische und soziale Konfliktstoffe gesetzt. Einseitiger Bildjournalismus, fehlende Selbstrepräsentation und mediale Skandalisierung Ein Problem der Islamberichterstattung ist auch die Bildsprache, die aufgrund ihres scheinbaren Abbildcharakters von besonderer Bedeutung ist. Immer wiederkehrend sind etwa Impressionen von verschleierten Frauen, "Menschenmassen" in Mekka, bei Protesten oder auf der Flucht, bewaffnete Islamist*innen, die Prachtbauten des arabischen Golfs, islamische Schlachtrituale und Geißelprozessionen aus dem Iran. Auf dem Cover des Nachrichtenmagazins "Cicero" fand man 2014 eine vollverschleierte Burkaträgerin – statt eines Gesichts saß hinter dem Augengitter eine eingesperrte Friedenstaube. Nur wenige Monate später liefen auf dem Cover desselben Blattes viele kleine Waffenträger aus dem Bart eines überdimensionierten Islamisten (bzw. Salafisten). Seit der iranischen Revolution zeigt der Journalismus eine Bilderwelt, die vor allem Fremdheit suggeriert. Betrachter*in und Gezeigtes begegnen sich dabei nicht auf Augenhöhe, häufig kommen eher visuelle Strategien der Anonymisierung, Homogenisierung und Entmenschlichung zum Einsatz. Wie ein positiver Schock wirken da vereinzelt publizierte Fotos wie etwa das junger Musliminnen, die jüngst im Spiegel von ihren Modevorlieben erzählten und dazu selbstbewusst in die Kamera blickten. Die Bildsprache der Medien ist insgesamt symbolisch überfrachtet. Die Diversität muslimischen Lebens dokumentiert sie kaum. Auch die mediale Selbstrepräsentation muslimischer Stimmen befindet sich in einer strukturellen Schieflage. So wird das deutsche Islambild etwa in politischen Talkshows von den immer gleichen Politiker*innen und selbsternannten Islamexpert*innen beherrscht. Letztere zeichnet weniger eine islamwissenschaftliche Expertise als Prominenz (z.B. Alice Schwarzer) oder Herkunft (z.B. Necla Kelek) aus. Beides dient als Medienkapital, das den journalistischen Marktwert ihrer Stellungnahmen erhöht. Die Inszenierung von Personen als muslimische Kronzeug*innen für antimuslimische Haltungen folgt derselben Logik. Ihre scheinbare kulturelle Nähe zum Islam verschleiert den teils offen-antimuslimischen Charakter ihrer Aussagen. Häufig fehlen wissenschaftlich anerkannte Expert*innen und Stimmen von Muslim*innen selbst. Bevorzugt werden hingegen extreme Positionen radikaler Islamprediger und "Islamkritiker*innen", wodurch künstlich Kontroversen erzeugt und ein "Kulturkampf" suggeriert wird. Diese Diskurslogik greift auch in Fällen, in denen Muslim*innen zwar in Talkshows eingeladen werden, sie die negative Themenagenda jedoch weder positiv umdeuten noch kritisch offenlegen können. Ihre Rolle beschränkt sich häufig auf die der moderaten und integrierten Muslim*innen. All dies trägt zu einer öffentlichen Entfremdung von muslimischen Lebensweisen bei, ist jedoch systemlogisch für einen Journalismus, der statt auf Fachwissen auf Sensationalismus baut. Für ein differenziertes Islambild braucht es jedoch deutlich mehr Zwischentöne und einer Medien-(selbst)kritik statt polarisierter Debatten. Das Medienbild des Islams wird nicht nur durch die Wahl des Themas (Agenda Setting), sondern auch durch Deutungen und Interpretationsrahmen (Framing) bestimmt. Hierdurch wird das "Was" und "Wie" der Islamberichterstattung inhaltlich abgesteckt. Genau diese Textstrukturen aber sind es letztlich, die mit strukturellen Rassismen in anderen Bereichen unserer Gesellschaft – in Institutionen, Bildungseinrichtungen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt – zusammenhängen. Mit Michel Foucault lässt sich hier von einer wechselseitigen Beeinflussung und Verstärkung institutioneller und symbolischer Machtverhältnisse sprechen. Umkämpfte Öffnungstendenzen Die deutsche Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden. Zwar werden wichtige Aspekte postmigrantischer Wirklichkeit nach wie vor medial ausgeklammert, aber auf den Kommunikationsplattformen des Internets treten immer mehr muslimische bzw. migrantische Stimmen in Erscheinung. Onlineformate wie Blogs, Videokanäle, Twitter-Profile und Onlinemagazine bieten engagierte, rassismuskritische und alltagsnahe Beiträge. Ihre gesellschaftliche Reichweite bleibt jedoch begrenzt, solange sie sich nur auf virtuelle Öffentlichkeiten beschränken und – wie etwa bei muslimischen Weblogs – kaum vernetzt sind. Sie haben dennoch das Potential, klassische Mediendiskurse thematisch zu erweitern, sofern sie anschlussfähig an journalistische Arbeitsweisen und die Erfahrungswelten des Publikums sind. Hilfreich ist hier, dass auch die Redaktionen traditioneller Medien allmählich vielfältiger werden. Migrant*innen und Muslim*innen sind im deutschen Journalismus noch stark unterrepräsentiert. Organisationen wie die Neuen Deutschen Medienmacher*innen setzen sich daher gezielt für eine Förderung deutscher Medienschaffender mit Migrationserfahrungen ein. Nach mehreren Generationen der Zuwanderung und trotz bestehender Ungleichheitsstrukturen im Bildungssystem treten so zunehmend neue journalistische Stimmen auf den Plan. Auch für sie bleibt es jedoch eine Herausforderung, sich nicht von der Logik negativer Nachrichtenwerte vereinnahmen zu lassen, sondern nach Möglichkeit eigene Debattenimpulse zu setzen. Ob und auf welche Weise dies in einem Mediensystem möglich ist, in dem antimuslimische Narrative trotz – oder gerade wegen – fortschreitender gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse zirkulieren, bleibt eine Frage zukünftiger Analysen. So sehr die oben beschriebenen Öffnungstendenzen Grund zur Hoffnung geben, so sehr ruft ein gesellschaftlich wie politisch etablierter Rechtspopulismus berechtigte Sorge hervor. Vom Parlamentsraum bis hinein in die sozialen Medien sorgt er dafür, dass sich die gesellschaftliche Debatte radikalisiert und sozial abkapselt. Eine auf gemeinsamen Überzeugungen basierende demokratische Debattenkultur wird durch Hate Speech und Fake News untergraben. Rassistische Äußerungen und Verschwörungsnarrative über Migrant*innen und Muslim*innen bilden hierfür das symbolische Rüstzeug. Es wird versucht, die liberale Gesellschaft – verstanden als humanitär und pluralistisch – auszuhöhlen. Gerade im Nachrichtenjournalismus ist es Rechtspopulist*innen erstaunlich gut gelungen, ihre antidemokratischen Positionen zu platzieren und so kommunikative Öffnungsprozesse zu durchkreuzen. Stabilisierung und Dekonstruktion antimuslimischer Diskurse im Film Welche Bedeutung haben nun aber populärkulturelle Mediendiskurse in Filmen und Unterhaltungsserien für die Gesellschaft? Erste Antworten liefert der mehrdeutige Begriff "des Populären". In frühen kultursoziologischen Betrachtungen zuweilen als minderwertiges Gegenstück zur bürgerlichen Hochkultur und Rauschmittel "der Massen" verurteilt, trugen vor allem die Cultural Studies zu einer theoretischen Aufwertung populärer Kulturprodukte bei. Für sie bewegt sich Populärkultur im Spannungsfeld zwischen kommerziellen Interessen, gesellschaftlichen Hierarchien, emanzipatorischen Ideen und den Interpretationen eines aktiven Publikums. Popkulturelle Mediendiskurse beinhalten daher immer gleich mehrere gesellschaftsrelevante Potentiale: sie neigen dazu, bestehende Machtverhältnisse abzusichern, indem sie Mehrheitsüberzeugungen aufgreifen und festigen. Zugleich bieten sie Raum für kritische und widerständige Haltungen, die dazu beitragen, veraltete "Wir"-Vorstellungen zu hinterfragen. Orientalistische Sehnsüchte und das Terror-Narrativ im Film Diverse Hollywoodproduktionen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass antimuslimische Narrative auch in fiktionale Medienformate einfließen. Jack Shaheens Analyse hunderter TV- und Kinofilme stellt hierfür eine der wichtigsten empirischen Quellen dar. Sie belegt, dass sich an der Darstellung von Muslim*innen als unzivilisiertes Spiegelbild eines sich selbst als aufgeklärt empfindenden Westens in den vergangenen hundert Jahren Filmgeschichte strukturell wenig geändert hat. So lassen sich bereits in Filmen der 1920er Jahre orientalistische Erzählmuster über Muslim*innen und Araber*innen finden. Als brutale Sklavenhalter, übersexuelle Wüstenscheichs und sinnliche Bauchtänzerinnen (z.B. Der Scheich, 1921) werden sie exotisiert und für kulturell rückständig erklärt, während die westlichen Protagonist*innen kultiviert, fortschrittlich und moralisch überlegen erscheinen. Jene gegensätzlichen Figurenzeichnungen setzen sich in Filmen der 1970er und 1980er Jahre fort, wenn auch mit leichten symbolischen Verschiebungen: Vor dem Hintergrund internationaler Krisen und Konflikte – Iranische Revolution, erster Golfkrieg, Palästinakonflikt – treten Muslim*innen nun zunehmend als Terrorist*innen in Erscheinung (Frantic, 1988; Delta Force, 1986; Zurück in die Zukunft, 1985). Hier zeigen sich Parallelen zum Nachrichtenjournalismus, der durch die Iranische Revolution ebenfalls eine symbolische Zäsur erlebte (s.o.). Mit dem muslimischen Terroristen ist dabei ein medialer Stereotyp entstanden, der bis heute weder in der journalistischen Berichterstattung noch in filmischen Diskursen an Popularität verloren hat. Zur filmischen Überlieferung antimuslimischer Erzählmuster trugen auch diverse Blockbuster der 1990er Jahre bei. In ihnen wird das Narrativ vom Islam als nationale und kulturelle Bedrohung populärkulturell fortgeschrieben: Filme wie Die Mumie (1999), True Lies (1994) und Nicht ohne meine Tochter (1990) zeichnen muslimische Männer als frauenfeindlich, gewaltbereit und antiwestlich , muslimische Frauen als unterdrückt und stimmlos. Zudem greifen Kassenschlager wie die Indiana Jones-Reihe (1981-2008) das koloniale Narrativ vom düsteren Orient auf, dessen kulturelles Erbe allein durch das Einschreiten eines weißen, männlichen Helden vor dem Vergessen gerettet werden kann. Jüngere Beispiele wie die kommerziell erfolgreichen US-Serien 24 und Homeland setzen zudem auch politische Losungen wie den "War on Terror" der US-Regierung unterhaltungsmedial in Szene. Obwohl sich hier auch positive muslimische Charaktere finden – etwa in Gestalt des patriotischen CIA-Agenten oder des Spezialisten für Terrorismusbekämpfung –, lässt sich das Hinzufügen eines einzelnen, sympathischen Charakters zum bekannten Negativrepertoire schnell als oberflächliche Erzählstrategie entlarven, die einer Rassismuskritik zuvorkommen will. Dies erinnert an die Mechanismen, mit denen, wie oben gezeigt, muslimische Talkshowgäste rekrutiert werden: auch ihre Rolle erschöpft sich häufig in der Bestätigung eines negativen Islambildes. Popkultur und Nachrichtenjournalismus weisen also Gemeinsamkeiten auf. Unterhaltungsmedien sind kommunikative Räume, in denen vorherrschende Vorstellungen von Muslim*innen als "kulturell Andere" aufgegriffen und fiktional verarbeitet werden. Die sich auch an anderen gesellschaftlichen Orten zeigende Diskriminierung von Muslim*innen – etwa im Bildungssystem, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt – wird mittels derartiger Medienbilder symbolisch unterfüttert. Mit anderen Worten: Was an Erzählmustern öffentlich zirkuliert, schlägt sich auch auf das alltägliche Zusammenleben und das Handeln in Institutionen nieder. Die medial konstruierten Vorstellungen von Muslim*innen als fremd, kulturell inkompatibel und bedrohlich bekräftigen und normalisieren dabei gesellschaftliche Ungleichbehandlungen. Die Tatsache, dass der persönliche Kontakt zwischen Personen mit und ohne muslimische Identitätsbezüge zwar stetig zunimmt, es jedoch immer noch Regionen beziehungsweise Bevölkerungsgruppen in Deutschland ohne direkte Kontakterfahrungen gibt , unterstreicht die Wichtigkeit differenzierter, vielstimmiger, kritischer wie auch anerkennender Medienbilder. Für Menschen, die den Großteil ihres Wissens über Muslim*innen und den Islam aus Nachrichten und Unterhaltungsmedien beziehen, wird die gesellschaftspolitische Verantwortung auch populärer Mediendiskurse deutlich. Zwar kann das Publikum fiktionale Medieninhalte durchaus als "nicht real" entschlüsseln. Antimuslimische Narrative werden also keinesfalls automatisch aus Unterhaltungsformaten in Alltagsdiskurse übertragen. Dennoch legen die besonderen Eigenschaften populärer Medien, etwa ihre emotionale Attraktivität, geringe Komplexität und ihr Hang zu optimistischen Gesellschaftsvisionen, nahe, dass durch sie auch reale soziale Phänomene effektiv vermittelt werden können. So kann es passieren, dass persönliche Islamerfahrungen schon einmal mit den Leseerinnerungen aus Karl Mays Orientromanen oder den "Märchen aus 1001 Nacht" vermischt werden. Das emanzipative Potential filmischer Populärkultur Filmische Populärkultur lässt sich jedoch nicht darauf beschränken, dass sie gesellschaftliche Ungleichheiten bekräftigt. In ihr findet mehr statt als die Reproduktion des negativen Islambildes. Unterhaltungsmedien sind immer auch Aushandlungsorte für Herrschaftskritik, gesellschaftliche Zugehörigkeit und kollektive Identitätsbildung. Plastisch werden diese Potentiale am Beispiel migrantisch-deutscher Filmproduktionen, die Erfahrungen der multikulturellen Gesellschaft als gesellschaftlich relevante Themen einführen. Durch sie werden migrantische Filmschaffende selbst zu aktiven Stimmen im öffentlichen Diskurs. Dabei war das migrantische Kino in seinen Anfangsjahren noch stark von Problemperspektiven geprägt. Filme wie 40 m2 Deutschland (1985) von Tevfik Başer sowie Yasemin (1988) vom deutschen Regisseur Hark Bohm wurden zwar vielfach ausgezeichnet, griffen jedoch mit ihrer beklemmenden Darstellung muslimischer Frauenwelten das etablierte Opfernarrativ von der unterdrückten Muslima und ihren autoritären Ehemännern, Brüdern und Vätern auf. Ihre Geschichten erzählen von Isolation und Repression innerhalb muslimischer Familienstrukturen in einem Deutschland, das durch die Zuwanderung sogenannter "Gastarbeiter*innen" zwar kulturell und religiös pluraler geworden war, seine neuen Mitbürger*innen jedoch nicht wirklich anerkannte, so dass ein gesellschaftliches Zusammenwachsen blockiert wurde. Entsprechend handeln weitere frühe Filme von Ausgrenzung (Shirins Hochzeit, 1976) und rassistischen Anfeindungen (Die Kümmeltürkin geht, 1985, Dokumentarfilm). Deren Bemühungen, durch Visualisierung die Anerkennung in der Einwanderungsgesellschaft zu fördern, wurden in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch kaum erkannt, weshalb man sie letztlich als "Betroffenheitskino" abtat. Kontrapunkte setzen hier Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher (1969) und Angst essen Seele auf (1973), die sich für migrantische Erfahrungswelten im vom Nationalsozialismus geprägten Nachkriegsdeutschland interessierten, ohne dabei "von fürsorglich ausgrenzendem Mitleid geprägt" zu sein. Mit Beginn der 1990er Jahre wurde das Kino migrantischer Autor*innen thematisch vielfältiger und löste sich zunehmend vom Genre des Sozialdramas. Einen besonderen Entwicklungsschub nahmen dabei deutsch-türkische Filmproduktionen, die sich zunächst über Kurzfilme (z.B. Ein Fest für Beyhan, 1994) der Öffentlichkeit präsentierten. Später kamen komödiantische Stoffe über das Berliner Alltagsleben (Ich Chef, du Turnschuh, 1997), Erzählungen über homosexuelle Liebesbeziehungen und fluide Genderidentitäten (Lola und Bilidikid, 1999) sowie Fatih Akins erster Kinoerfolg und Gangsterballade Kurz und Schmerzlos (1997) hinzu. Von der (internationalen) Öffentlichkeit spätestens seit Gegen die Wand (2004) gefeiert, setzte Akin fortan neue Maßstäbe für ein multithematisches migrantisches Kino, das neben Herkunfts-, Generations- und Identitätsfragen stets auch die deutsche Gesellschaft als selbstverständliche Heimat porträtierte. Die Erzählungen migrantischer und anderer Filmschaffender zeigen, wie in Filmen stereotypen Mehrheitsvorstellungen von migrantischen und muslimischen Lebensweisen widersprochen werden kann und diese zugleich emotional zugängliche Gegenbilder schaffen. Filmische Popkultur stellt dabei immer auch ein "Konfliktfeld" verschiedener Interpretationen dar. Hier zeigt sich ihre Vieldeutigkeit: Wo Culture-Clash-Serien wie Türkisch für Anfänger (2006-2008) trotz ihres humoristisch-aufklärerischen Grundtons in starren Erzählmustern und Figurenzeichnungen verhaftet bleiben, gelingt es Filmen wie Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) durch originell-komische Sprachspiele und ironische Überzeichnungen dem Publikum seine eigenen stereotypen Erwartungshaltungen vorzuführen. Dabei sind humoristische Formate keinesfalls nur kritisch gegenüber antimuslimischen Erzählmustern. Comedians wie Bülent Ceylan etwa reproduzieren in teils expliziter Weise hochgradig stereotype Deutungen. Als Witz getarnt und von einer als muslimisch inszenierten Künstlerfigur vorgetragen, werden hier antimuslimische Diskurse durch scheinbar authentische Muslim*innen bekräftigt. Fazit Es zeigt sich, dass sich das heutige Islambild am Scheideweg zwischen dauerhafter Negativagenda und zögerlicher Erneuerung befindet. Durch das Internet ist es muslimischen Stimmen heute verstärkt möglich, eigene Beiträge zu setzen und so öffentlich sichtbar zu werden. Solange ihre Perspektiven jedoch nicht in traditionelle Medien einfließen, bleibt ihre gesellschaftliche Wirkung beschränkt. Der strukturelle Rassismus des Islambildes großer Medien hängt eng mit antimuslimischen Einstellungen in der Bevölkerung sowie strukturellen Rassismen in anderen Gesellschaftsbereichen – in Bildungseinrichtungen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt – zusammen. Die negativ-stereotypen "Wissensstrukturen" moderner Medien reflektieren und prägen zugleich den strukturellen Rassismus in anderen Teilen der Gesellschaft. Ohne eine grundsätzliche Revision und kulturelle Öffnung unserer Medienbilder werden wir Rassismus nicht überwinden. Im Gegenteil: Besonders in Sozialen Medien werden islambezogene Debatten zunehmend radikal geführt. Auch rechtspopulistische Akteur*innen nutzen virtuelle Plattformen für ihre anti-demokratische Propaganda. Von ihnen geht die Gefahr aus, das umkämpfte Selbstbild Deutschlands als plurale, offene und liberale Gesellschaft nachhaltig zu beschädigen. Eine differenziertere Medienagenda erfordert einen internen Umbau der Islamberichterstattung weg von einer Fokussierung auf Politik und Konflikte hin zu einer breiteren sozialen, theologischen und alltagsbezogenen Palette an Themen und Deutungsmustern. Zu diesem Zweck sollten öffentlich-rechtliche Sender ihre Islamberichterstattung bilanzieren und Programme von der Rand- in die Hauptsendezeit verlegen, die die kulturelle und religiöse Pluralität Deutschlands porträtieren. Auch deutsche Privatmedien bedürfen der selbstkritischen Auseinandersetzung über strukturelle Zwänge und redaktionelle Routinevorgänge, gegen die es sensibilisierte Journalist*innen schwer haben, Änderungen anzustoßen. Zentral für nachhaltige Veränderungsprozesse ist auch, der Unterpräsentation migrantischer bzw. muslimischer Journalist*innen zu begegnen: Bestehende Qualifizierungs- und Förderprogramme sollten ausgebaut werden, damit sich unter den Medienschaffenden ein vielfältiges Perspektiv- und Erfahrungsspektrum entwickeln kann. Nicht zuletzt hängen Mediendiskurse nicht nur von den Produzent*innen, sondern auch vom Wissen und den Interpretationsaktivitäten des Publikums ab. Rezipient*innen sollten daher frühzeitig in ihren Medienkompetenzen gefördert werden. Dies sollte insbesondere in Bildungsinstitutionen wie Schule und Universität erfolgen. Vgl. Siegfried Jäger, BrandSätze. Rassismus im Alltag, Duisburg 1996. Vgl. Gert Pickel, Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie. Wie sich religiöse Pluralität auf die politisch Kultur auswirkt. Religionsmonitor – verstehen, was verbindet. Bertelsmann Stiftung 2019, in: Externer Link: www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Religionsmonitor_Vielfalt_und_Demokratie_7_2019.pdf [15.07.2020]; Kai Hafez/Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor – verstehen, was verbindet, Bertelsmann Stiftung 2015. Vgl. Andreas Dörner, Politik im Unterhaltungsformat. Zur Inszenierung des Politischen in den Bildwelten von Film und Fernsehen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41, 1999, S. 17-25. Vgl. Kai Hafez, Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 2. Das Nahost- und Islambild der deutschen überregionalen Presse, Baden-Baden 2002, S. 92ff. Vgl. Pickel 2019; Hafez/Schmidt 2015. Vgl. Hafez 2002, S. 95. Vgl. Steffen Moritz/Anja S. Göritz/Simone Kühn/Brooke C. Schneider/Eva Krieger/Jana Röhlinger/Sarah Zimmerer, Muslims Love Jesus, too? Corrective Information Alters Prejudices against Islam, in: Pastoral Psychology 66, 2017, S. 65-77. Vgl. Wolfgang Benz, "Muslime sind nicht die neuen Juden", Interview auf Islam IQ vom 5.11.2017, in: Externer Link: www.islamiq.de/2017/11/05/muslime-sind-nicht-die-neuen-juden/ [15.07.2020]. Vgl. Kai Hafez/Udo Steinbach (Hrsg.), Juden und Muslime in Deutschland. Minderheitendialog als Zukunftsaufgabe, Hamburg 1999. Vgl. Cicero-Redaktion, Cicero auf den Spuren des islamistischen Terrors, Artikel vom 11.1.2015, in: Externer Link: www.cicero.de/innenpolitik/eigener-sache-cicero-auf-den-spuren-des-islamistischen-terrors/58718 [15.07.2020]. Vgl. Margreth Lünenborg, Representing Migration – Building National Identity. Pictures of Difference and Enmity in German Media, in: Anne Grüne/Kai Hafez/Subekti Priyadharma/Sabrina Schmidt (Hrsg.), Media and Transformation in Germany and Indonesia. Asymmetrical Comparisons and Perspectives, Berlin 2019, S. 161-186. Vgl. Hatice Kahraman, "All meine Kleidungsstücke haben einen Wert für mich", Artikel vom 1.3.2020, in: Externer Link: www.spiegel.de/stil/muslimische-frauen-ueber-mode-all-meine-kleidungsstuecke-haben-einen-wert-fuer-mich-a-1f3f4def-8278-4886-b13b-1f5caf58faec [15.07.2020]. Vgl. Kai Hafez, Freiheit, Gleichheit und Intoleranz. Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas, Bielefeld 2013, S. 256. Vgl. Yasemin Shooman, "…weil ihre Kultur so ist". Narrative des antimuslimischen Rassismus, Bielefeld 2004, S. 100ff. Vgl. Hafez 2013, S. 249ff. Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973. Vgl. Kerstin Engelmann/Friederike Günther/Nele Heise/Florian Hohmann/Ulrike Irrgang/Sabrina Schmidt, Muslimische Weblogs. Der Islam im deutschsprachigen Internet, Berlin 2010. Vgl. Georg Ruhrmann/Yasemin Shooman/Peter Widmann, Einleitung. Medien als Moment und Objekt sozialen Wandels in Einwanderungsgesellschaften, in: Dies. (Hrsg.), Media and Minorities. Questions on the Representation from an International Perspective, Göttingen [u.a.] 2016, S. 15. Vgl. Neue Deutsche Medienmacher*innen, Wer wir sind, in: Externer Link: www.neuemedienmacher.de/ueber-uns/ [15.07.2020]. Vgl. Mechthild Gomolla/Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden 2009. Vgl. Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Weinheim 2017; Amadeu Antonio Stiftung, Toxische Narrative. Monitoring rechts-alternativer Akteure, in: Externer Link: www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/publikationen/monitoring-2017.pdf [25.07.2020]; Juan Serrano/Juan Carlos Medina/Simon Hegelich/Morteza Shahrezaye/Orestis Papakyriakopoulos, Social Media Report. The 2017 German Federal Elections, München 2018, in: Externer Link: https://mediatum.ub.tum.de/doc/1452635/1452635.pdf, S. 18f. [22.07.2020]. Vgl. Kai Hafez, The Staging Trap. Right-Wing Politics as a Challenge for Journalism, in: Journalism. Theory, Practice, Criticism 20 (1), 2019, S. 24-26. Vgl. Gabriele Klein, Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie. Wiesbaden 2004, S. 210-222. Vgl. Jack G. Shaheen, Hollywood’ s Muslim Arabs, in: The Muslim World 90 (1-2) 2000, S. 22-42. Asultany zufolge werden in US-amerikanischen Mediendiskursen muslimische und arabische Identitäten oftmals synonymisiert. Mediale Repräsentationen von Muslim*innen sind dann zumeist gleichzeitig Repräsentationen von Araber*innen (auch wenn Personen mit arabischen Herkunftsbezügen in den USA nur eine Minderheit unter den dort lebenden Muslim*innen darstellt), vgl. Evelyn Alsultany, Arabs and Muslims in the U.S. American Media Before and After 9/11. In: Georg Ruhrmann/Yasemin Shoo-man/Peter Widmann (Hrsg.): Media and Minorities. Questions on the Representation from an Interna-tional Perspective, Göttingen [u.a.] 2016, S. 104. Vgl. Shaheen 2000, S. 25ff. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Ella Shohat/Robert Stam, Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the Media, London [u.a.] 2003, S. 151. Vgl. Asultany 2016, S. 110ff. Vgl. Gomolla/Radtke 2009; Doris Weichselbaumer, Discrimination against Female Migrants Wearing Headscarves. IZA Discussion Paper 2016, in: Externer Link: http://ftp.iza.org/dp10217.pdf#page=14, S. 12f. [15.07.2020]. Vgl. Coşkun Canan/Naika Foroutan/Mara Simon/Albrecht Hänig, Ostdeutschland postmigrantisch. Einstellungen der Bevölkerung Ostdeutschlands zu Musliminnen und Muslime in Deutschland, in: Externer Link: www.projekte.hu-berlin.de/de/junited/ostdeutschland-postmigrantisch.pdf, S. 33ff. [15.07.2020]. Vgl. Dörner 1999, 20f. Vgl. Iman Attia, Die "westliche Kultur" und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und anti-muslimischem Rassismus, Bielefeld 2009, S. 101ff. Vgl. Leif Kramp, Populärkultur, in: Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Swantje Lingenberg/Jeffrey Wimmer (Hrsg.), Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse, Wiesbaden 2015, S. 207-218; Elisabeth Klaus/Margreth Lünenborg, Cultural Citizenship. Ein kommunikationswissenschaftliches Konzept zur Bestimmung kultureller Teilhabe in der Mediengesellschaft, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 52 (2) 2004, S. 193-213. Vgl. Deniz Göktürk, Migration und Kino. Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?, in: Carmine Chiellino (Hrsg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart 2000, S. 333-336. Vgl. Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld 2004, S. 102ff. Vgl. Diana Schäffler, "Deutscher Film mit türkischer Seele". Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis in die Gegenwart, Saarbrücken 2012, S. 21. Göktürk 2000, S. 332. Vgl. Ortrud Gutjahr, Migration in die Ungleichzeitigkeit. Fatih Akins Gegen die Wand und die Wende im deutsch-türkischen Film, in: Waltraud Wara Wende/Lars Koch (Hrsg.), Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm, Bielefeld 2010, S. 234. Vgl. Christopher Treiblmayr, "Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch". Männlichkeit, Homosexualität und Migration in Kutluğ Atamans "Lola und Billidikid" (Deutschland 1998), in: Bettina Dennerlein/Elke Frietsch (Hrsg.), Identitäten in Bewegung. Migration im Film. Bielefeld 2011, S. 191-225. Vgl. Ernst Schreckenberg, (Spiel)Film, Migration und politische Bildung, in: Heidi Behrens/Jan Motte (Hrsg.), Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Zugänge, Konzepte, Erfahrungen, Schwalbach 2006, S. 338ff. Vgl. Stuart Hall, Notes on Deconstructing "The Popular", in: Raiford Guins/Omayra Zaragoza Cruz (Hrsg.), Popular Culture. A Reader, London [u.a.] 2005, S. 67. Vgl. Deniz Bayrak/Sarah Reininghaus, "Was sind wir denn jetzt, Türken oder Deutsche?". Die filmische Inszenierung von Interkulturalität in Almanya – Willkommen in Deutschland (2011), Zeit der Wünsche (2005) und Zimt und Koriander (2003), in: Klaus Schenk/Renata Cornejo/László V. Szabó (Hrsg.), Zwischen Kulturen und Medien. Zur medialen Inszenierung von Interkulturalität, Wien 2016, S. 172f. Vgl. Patricia Carolina Saucedo Añez, Die mediale Konstruktion der Andersartigkeit. Fremdbilder in den argentinischen, bolivianischen und deutschen Medien, Dissertation Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt 2019.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2022-03-01T00:00:00
2020-08-27T00:00:00
2022-03-01T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/themen-und-hintergruende/314621/rassismus-und-repraesentation-das-islambild-deutscher-medien-im-nachrichtenjournalismus-und-im-film/
Trotz der zunehmenden Bedeutung sozialer Medien sind es noch immer die traditionellen Medien, die bestimmen, wer öffentlich sichtbar ist und auf welche Weise. Das öffentliche Islambild wird seit Jahren von konflikthaften und alltagsfernen Erzählmuste
[ "Islam", "Islambild", "Rassismus", "Medien", "Journalismus", "Nachrichtenjournalismus", "Diskurs" ]
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Professionelles Fundraising im Nonprofit-Bereich | Presse | bpb.de
"Fundraiser sind die Helden, in Amerika und auf der ganzen Welt, weil wir, ohne uns dafür zu entschuldigen, Menschen herausfordern, mehr zu spenden und mehr zu riskieren. Wir finanzieren Organisationen, die Leben retten und Veränderungen in der Gesellschaft bewirken." Die These der US-Fundraisierin Joan Flanagans wird in Deutschland nicht von allen unterschrieben. Noch immer haftet dem Fundraising das Image des Bettelns an. Oft wird Fundraising ad hoc eingesetzt, um Haushaltslöcher zu stopfen. Dass nachhaltiges und strategisches Fundraising mit beidem nur sehr wenig zu tun hat, wird die Bundeszentrale für politischen Bildung/bpb inzwischen zum 4. Mal im Rahmen ihres Fundraising-Tags der politischen Bildung am 11. Juni 2010 in Köln verdeutlichen. In acht Workshops werden Aktionen und Konzepte des Fundraisings für die politische Bildung vorgestellt. Neben Einstiegstehmen wie "Von der Spende zur Zusammenarbeit", "Europäische Fördermittel" oder "Das 1x1 des Fundraisings" behandeln die Workshops auch Spezialthemen wie "Fundraising 2.0 – Twitter, Facebook und Online-Plattformen sinnvoll nutzen" und "Datenbanken im Fundraising". Den Eröffnungsvortrag hält Nonprofit-Forscher Prof. Dr. Michael Vilain von der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt. Sein Thema: "I am what I am? – Markenbildung und Vertrauen als Grundlage für erfolgreiche Kommunikation und Mitteleinwerbung". "Die starke Nachfrage von Mitarbeitern aus Organisationen der politischen Bildung an den ersten drei Fundraising-Tagen hat uns dazu motiviert, auch einen vierten Fundraising-Tag zu organisieren", so Daniel Kraft, verantwortlicher Referent bei der bpb für Marketing und Fundraising und Organisator der Veranstaltung. Ziel ist es auch weiterhin, die Anbieter und Träger der politischen Bildungsarbeit in Deutschland dabei zu unterstützen, zusätzliche Finanzierungsquellen für ihre Arbeit zu erschließen. Die Veranstaltung ist mit über 200 Teilnehmern bereits ausgebucht. Für Mitarbeiter/innen von Institutionen, Stiftungen und Bildungsträgern Zeit 11. Juni 2010, von 9:00 bis 17:15 Uhr Ort KOMEDMediaPark KölnIm MediaPark 750670 Köln Externer Link: https://www.komed.de Teilnahmebeitrag 25 € (inklusive Programm, Mahlzeiten, Kaffeepausen) Kontakt für Pressevertreter: E-Mail Link: kraft@bpb.de Interner Link: Pressemitteilung als PDF-Version (79 KB) Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-12-23T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49996/professionelles-fundraising-im-nonprofit-bereich/
Am 11. Juni 2010 findet in Köln der 4. Fundraising-Tag der politischen Bildung statt. Ziel der Fachtagung ist es, weiterhin Anbieter und Träger der politischen Bildungsarbeit in Deutschland dabei zu unterstützen, zusätzliche Finanzierungsquellen für
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NPD-Verbot | Pro | Rechtsextremismus | bpb.de
Lorenz Caffier: Die NPD ist geistiger Brandstifter Lorenz Caffier (CDU) ist seit 2006 Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern und Sprecher der CDU-geführten Innenministerien und Innenbehörden der Länder zum geplanten Parteienverbotsverfahren gegen die NPD. Eine wehrhafte Demokratie, so Caffier, sollte eine Partei, die außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens steht, verbieten – und ihr auch endlich den Geldhahn abdrehen. Die in unserem Grundgesetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung ist das Fundament unserer Gesellschaft. Sie ist das höchste Gut der deutschen Verfassungsordnung und deshalb besonders geschützt. Das bedeutet: Unsere Demokratie ist wehrhaft und das Bundesverfassungsgericht kann Parteien, die sich in kämpferisch-aggressiver Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, verbieten.   Genau das ist bei der NPD der Fall. Die Partei steht außerhalb unseres verfassungsrechtlichen Rahmens und muss deswegen verboten werden. Die Protagonisten der Partei stellen ihr Wirken in die Tradition der NSDAP. Die NPD pflegt ein enges Bündnis mit neonazistischen Kameradschaften. Die NPD ist der geistige Brandstifter für fremdenfeindliche Straftaten aus den Reihen der ihr nahestehenden Kameradschaften.   Ein Verbot der NPD ist wichtig, auch, um den Rechtsextremismus in seiner Gesamtheit zu schwächen. Die wichtigste Geldquelle für den Rechtsextremismus in Deutschland ist die staatliche Parteienfinanzierung. Die NPD ist in zwei Landtagen vertreten. Auch der Schweriner Landtag ist immer wieder die unfreiwillige Bühne für die dumpfen Parolen der Abgeordneten von der NPD. Es ist für mich unerträglich, dass der Steuerzahler diese Partei und ihre menschenverachtende Hetze mitfinanzieren muss. Mit einem Verbot der NPD würde diese Finanzquelle endgültig versiegen.   Ein Verbot allein genügt aber nicht. Extremistisches Gedankengut und politische Meinungen kann man nicht verbieten. Meinungen kann man nur verändern und beeinflussen in demokratischer Grundsatzarbeit. Die politischen Kräfte der demokratischen Parteien vor Ort an der Basis müssen dafür sorgen, dass unsere Bürger sich mit ihren Sorgen ernst genommen fühlen. Es darf nicht sein, dass die NPD mit Hartz-IV-Sprechstunden oder Beratungen zur Befreiung von der Rundfunkgebühr auf Stimmenfang geht. Jeder von uns ist aufgefordert, für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu werben und sie zu leben. Die Feinde unserer Demokratie dürfen nie wieder eine Chance haben, in unserem Land Fuß zu fassen oder gar zu erstarken. Prof. Dr. Erardo Cristoforo Rautenberg: Was die NPD propagiert, ist Gift für unser Land Die NPD verunglimpfe das demokratische System, mit ihrem öffentlichen Auftreten stelle sie sich auch zunehmend in die Tradition der NSDAP – für Erardo Cristoforo Rautenberg, Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg und Mitglied der SPD, ist deshalb klar, dass ein NPD-Verbot geboten ist und auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben könnte. Einst galt die Maxime, die NPD nicht durch einen Verbotsantrag aufzuwerten, solange der Wähler sie immer wieder eindeutig an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern ließ. Doch diese Zeiten sind vorbei, weil sich die NPD in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen seit einigen Jahren in den Landtagen befindet. Das bedeutet, dass die NPD ihr Gedankengut mit Steuergeldern verbreiten darf, was für mich ein unerträglicher Zustand ist. Denn die NPD propagiert populistische, realitätsferne Lösungen für gesellschaftliche Probleme, sie verunglimpft das demokratische System – was durch das demonstrative Verwenden der schwarz-weiß-roten Farben des Wilhelminischen Kaiserreichs und des Dritten Reichs symbolisiert wird –, sie hetzt gegen Ausländer, sie schürt rassistische Vorurteile – was einen Angriff auf die Grundlage unserer europäischen Wertegemeinschaft bedeutet und Gift für ein Land ist, das vom Export ins Ausland lebt – und hat sich mit ihrem öffentlichen Auftreten zunehmend in die Tradition der NSDAP gestellt. Exemplarisch dafür sind ihre Veranstaltungen zum Volkstrauertag, den sie wie früher die Nazis als "Heldengedenktag" bezeichnet. Einer solchen Partei die Ausübung des Demonstrationsrechts gegen Blockadeaktionen von Gegendemonstranten zu ermöglichen, sollte die Polizei nicht länger verpflichtet sein. Politisches Leben in einer Demokratie bedeutet zwar Streit, indem insbesondere die vom Grundgesetz privilegierten Parteien aufgrund unterschiedlicher Programme verschiedene Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbieten. Doch verbindet alle Parteien ein demokratischer Grundkonsens, dem das Wertesystem unseres Grundgesetzes und das Bekenntnis zu unserem demokratischen Rechtsstaat zugrunde liegen. Dies unterscheidet die NPD von demokratischen Parteien. Darüber, ob die NPD nicht nur verfassungsfeindlich, sondern auch verfassungswidrig und damit zu verbieten ist, kann nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden (Art. 21 Abs. 2 GG). Ich halte einen erneuten NPD-Verbotsantrag für geboten und ein Verbot auch für erreichbar. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass tatsächlich alle V-Leute aus den Führungsgremien der Partei abgezogen werden und dass das für ein Verbotsverfahren gesammelte Material nicht von diesen stammt. Denn nur daran ist das erste Verbotsverfahren gescheitert. Zwar verweisen Skeptiker darauf, dass nach einem erfolgreichen Verbotsantrag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch anders entscheiden könnte, doch wird man sich im europäischen Rechtsraum bewusst sein, dass Deutschland nach den Völkermorden der NS-Zeit keine Partei duldet, die an die Tradition der NSDAP anknüpft. Auch halte ich den Schaden, den die NPD als Partei durch Verbreitung ihres Gedankenguts mit staatlicher finanzieller Hilfe anrichtet, für größer als den, der im Falle eines Verbots durch eine mögliche Untergrundtätigkeit droht. Schließlich erübrigt ein Verbot der NPD keinesfalls die Auseinandersetzung mit dem Gedankengut ihrer Anhänger, sodass die Zivilgesellschaft weiterhin gefordert sein wird. Eva Högl: Es ist unerträglich, dass sich die NPD über Steuergelder finanziert Der Kampf gegen den Rechtsextremismus ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Für die SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl gehört dazu auch ein Verbot der NPD, unter anderem, weil die Partei damit ihren Zugriff auf öffentliche Gelder verlöre. Ein Verbot, so Högl, würde auch klarstellen, dass es sich bei der NPD nicht um eine demokratische Partei handelt. Rechtsextremismus ist in Deutschland keine Randerscheinung. Rassistische und menschenfeindliche Einstellungen sind in allen gesellschaftlichen Teilen verankert. Ihre Bekämpfung ist daher eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe und geht uns alle an. Zum Engagement gegen Rechtsextremismus und für Demokratie und Toleranz gehört auch ein Verbot der NPD. Die NPD ist nicht nur verfassungsfeindlich, sondern meiner Meinung nach verfassungswidrig. Ihr menschenverachtendes Programm wendet sich in radikal-kämpferischer Weise gegen unser Grundgesetz und ganz explizit gegen die in Artikel 1 verankerte Menschenwürde: Die NPD kategorisiert Menschen, würdigt sie herab und spricht ihnen in bestimmten Bereichen das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Leben ab. Sie hat das erklärte Ziel, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat abzuschaffen – auch das mit kämpferischen Mitteln. Es ist unerträglich, dass eine Partei mit diesen Zielen ihre politischen Aktivitäten mit Steuergeldern finanziert. Etwa 40 Prozent der NPD-Einnahmen stammen aus staatlichen Töpfen, mit diesem Geld bezahlt sie unter anderem ihre menschenverachtenden Plakate. Mit einem Parteiverbot würden der NPD öffentliche Gelder entzogen, die sie für verfassungsfeindliche Aktionen und zur Stärkung der rechtsextremen Szene insgesamt benutzt. Zudem verlöre sie geldwerte Leistungen wie Zugang zu Infrastruktur, Arbeitsmittel und Dienstfahrzeuge, die sie über öffentliche Ämter erhält: Gegenwärtig hat die NPD das Recht, unsere öffentlichen Plätze zu besetzen. Sie darf in Rathäusern tagen, sie kann Aufmärsche organisieren und muss dabei sogar von der Polizei geschützt werden. Auch hier in Berlin gehen Rechtsextreme auf die Straße und bedrohen die Menschen, wie zum Beispiel am 1. Mai in Schöneweide. Mit einem Verbot können wir die NPD daran hindern, dass sie unsere öffentlichen Plätze weiter vereinnahmt. Ein Parteiverbot hat – zurecht – sehr hohe Hürden zu überstehen und ist auch nicht die schnelle Lösung gegen Rechtsextremismus. Es ist dennoch unsere Aufgabe, die NPD mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen und damit zu verhindern, dass sie unsere Demokratie weiter für die Verwirklichung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele instrumentalisiert. Es zeichnet eine starke Demokratie aus, dass sie ihren Feinden ganz klar die rote Karte zeigt und notfalls auch zu den äußersten Mitteln greift. Bianca Klose: Die NPD ist keine demokratische Partei Solange die NPD nicht verboten ist, halten Menschen sie für eine demokratische Partei. Das darf nicht sein, findet Bianca Klose von der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus" (MBR). Die Beratungsstelle wurde von ihr 2001 gegründet mit dem Ziel, die Zivilgesellschaft für ein offensives Eintreten gegen Rechts zu mobilisieren. Die Aufklärung über die NPD und ihre undemokratischen Ziele hat von Anfang an mit zu den Aufgaben der MBR gehört. Ein Verbot der Partei würde für Klose dazu beitragen, die rechte Szene zu schwächen. Die Sorge, dass ihre Parteigänger sich nach einem Verbot radikalisierten und in den Untergrund gingen, hält sie für unbegründet. Wir sehen immer wieder, dass Bürgerinnen und Bürger entsetzt darüber sind, dass die NPD noch nicht verboten ist. Daraus resultiert oft die falsche Annahme, dass sie deswegen demokratisch sei. Doch die NPD ist keine gewöhnliche, demokratische Partei und will auch keine sein. Nach ihrem Selbstverständnis hat sie nur gezwungenermaßen, vorübergehend, diesen Status. Das Ziel der NPD nämlich ist die Abschaffung der Demokratie. Sie vertritt menschenverachtende, antidemokratische Positionen und strebt eine autoritär strukturierte "Volksgemeinschaft" an. Zudem arbeitet die Partei ganz offen mit dem aktionistischen Milieu der "Freien Kameradschaften" zusammen und agiert als juristisch gesichertes Standbein und verlässlicher Partner des gewaltbereiten Szene-Nachwuchses wie beispielsweise der "Autonomen Nationalisten". Damit ist die NPD wirkungsmächtigster Teil des organisierten Rechtsextremismus in Deutschland! Und deshalb gehört sie verboten. Ein NPD-Verbot wäre ein herber Rückschlag für die gesamte rechtsextreme Szene. Argumente, dass ein Parteienverbot den Zulauf stärkt, sich die Szene zusätzlich radikalisiert oder sich die Organisation einfach umbenennt, widersprechen allen Erfahrungen. Das Gegenteil ist richtig: Das Vermögen und die gesamte Infrastruktur würden entzogen und es gäbe ein Wiederbetätigungsverbot. In der Regel hört man nach Verboten von den betroffenen Organisationen kaum noch etwas. Ein NPD-Verbot würde die Szene also schwächen, der Neuaufbau einer Partei mit vergleichbaren Strukturen würde viele Jahre dauern. Wie viele Aufmärsche und Rechtsrockkonzerte, die als Parteiveranstaltung getarnt angemeldet werden, müssten ausfallen? Wie viele gewaltbereite Neonazis würden plötzlich ihren gut bezahlten Job bei der NPD verlieren? Natürlich bleiben Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Köpfen und Institutionen auch ohne die NPD eine langfristige gesellschaftliche Herausforderung. Aber es gibt keinen Grund, solch eine Ideologie durch Privilegien, die einer Partei in Deutschland zustehen, noch zusätzlich zu fördern. Ein Verbot kann nur Teil einer Gesamtstrategie sein, die von möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen getragen werden muss. Nur wenn die Probleme benannt werden, antifaschistisch Engagierte nicht kriminalisiert werden und gleichzeitig zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus langfristig gesichert und gefördert werden, kann der Kampf gegen diese menschenverachtende Ideologie erfolgreich sein. Dr. Bekir Alboğa: Ein NPD-Verbot schwächt den rechten "Kampf um die Köpfe" Bekir Alboğa leitet das Referat für interkulturelle und interreligiöse Zusammenarbeit der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB). Seiner Meinung nach könnte ein NPD-Verbot die Organisationsstruktur der extremen Rechten empfindlich stören. Auch hätte es Signalwirkung – aber nur, so Alboğa, wenn man es nicht bei einem Verbot belässt, sondern dieses Teil einer Gesamtstrategie gegen Rechtsextremismus wäre. Zunächst muss betont werden, dass die Frage eines NPD-Verbots äußerst komplex ist und es viele gute Argumente für und gegen ein Verbot gibt. Mein Hauptargument für ein NPD-Verbot ist, dass dem Rechtsextremismus eine organisatorische Operationsbasis entzogen werden würde. Das gilt allen voran für finanzielle Aspekte, unter anderem die Parteienfinanzierung. Ohne die NPD gäbe es eine Operationseinheit und k´einen in das demokratische Parteiensystem eingebundenen Akteur weniger, der sich als "demokratisch" legitimiert. Denn darüber agieren sie als die scheinbar konservative Biedermann-Partei, die angeblich für den einfachen Deutschen auf der Straße und für die "guten alten Werte" einstünde. Durch ein Verbot also wäre ein Teil der Strategie des "Kampfes um die Köpfe" geschwächt. Allerdings zeigt sich deutlich, dass dieser "Kampf um die Köpfe" immer mehr ins Internet und in die sozialen Medien ausweicht und mit wenig sanktionierten Feindseligkeiten gegenüber dem Islam und Muslimen zunehmend punktet. Für die rechtsextremistische Szene dürfte ein NPD-Verbot allerdings keine größeren Auswirkungen haben. Zum einen nimmt der parteigebundene Rechtsextremismus immer mehr ab, das geht zumindest aus dem aktuellen Verfassungsschutzbericht hervor. Zum anderen haben sich die Strategien der Rechten bereits verändert. Wie schon Matthias Quent von der Uni Jena dargestellt hat, gehen Rechtsextremisten mehr und mehr dazu über, sich im ländlichen Raum auszubreiten und sich dort als "Kümmerer" darzustellen. Andere Teile des Rechtsextremismus wandern zunehmend ab in andere Organisationen, wie etwa Freie Kameradschaften oder die Autonomen Nationalisten, die nicht parteigebunden sind. Und dennoch wäre ein NPD-Verbot ein Signal an die Gesellschaft, wenn auch ein problematisches. Wenn man versucht, das Problem Rechtsextremismus durch ein reines Kontrollparadigma (Verbote, Gesetze, Polizeimaßnahmen) zu lösen, könnte das Signal auch sein: "So, jetzt haben wir den Rechtsextremismus verboten, und damit ist auch gut." Die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstreflexion (Entstehungsparadigma) könnte darunter leiden und die vielen Entstehungsbedingungen und -gründe für dieses Problem nicht weiter angegangen werden. Ein NPD-Verbot wäre also nur dann ein positives Signal, wenn man es einbindet in eine Gesamtstrategie, welche auch die Entstehungszusammenhänge einbindet. Gute Gründe für und gegen ein NPD-Verbot Gute Gründe für und gegen ein NPD-Verbot Inhalt Darüber hinaus würde auch ein NPD-Verbot sicherlich kaum dazu beitragen, das Vertrauen von Migranten in die Sicherheitsbehörden wiederherzustellen. Durch den NSU-Skandal ist dieses Vertrauen äußert stark erschüttert. Es ist daher mehr als fraglich, ob ein NPD-Verbot diesbezüglich positive Wirkung entfalten würde. Kurzfristig ist davon jedenfalls nicht auszugehen. Da muss über ein Verbot hinaus noch wesentlich mehr getan werden. Insbesondere einschlägige Internetpräsenzen, Internetforen und Social-Media-Aktivitäten als häufig straffreier Raum rechtsradikaler Gruppen müssen zunehmend als Problem thematisiert und ihnen der Nährboden entzogen werden. Insgesamt muss der Gesamtkontext mit den Grundbedingungen, die diesen bedenklichen Nährboden ermöglichen und die Wege zu Rechtsradikalismus bereiten, in ein Gesamtlösungskonzept einfließen. Insofern kann ein Verbot ein, aber nicht der alleinige Teil des Lösungskonzeptes sein. Gute Gründe für und gegen ein NPD-Verbot Gute Gründe für und gegen ein NPD-Verbot Inhalt Die Studienergebnisse werden Ende 2013 in der Zeitschrift "Berliner Debatte Initial" publiziert. Einige Befunde der Studie wurden von Quent während einer Konferenz in Jena im Dezember 2012 präsentiert.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-10-16T00:00:00
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https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/170616/npd-verbot-pro/
Nur verfassungsfeindlich zu sein, reicht nicht aus für ein Parteiverbot. Eine Partei muss darüber hinaus auch eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung zeigen – und diese Ordnung beseitigen wollen, so will es das B
[ "NPD-Verbot", "NPD-Verbotsverfahren", "NPD", "wehrhafte Demokratie", "Rechtsextremismus", "Lorenz Caffier", "Erardo Cristoforo Rautenberg", "Eva Högl", "Bianca Klose", "Bekir Alboga" ]
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Anwendungen des Internet der Dinge | Medienpolitik | bpb.de
Die Anwendungen, die derzeit unter dem Begriff Internet der Dinge zu verstehen sind, lassen sich in fünf Kategorien unterscheiden: Fernbedienung via Netz Messung und Sammlung von Daten Profiling und Vorschläge Daten sammeln und Aktivität Daten suchen und Produktion Dossier-Beitrag: Externer Link: Petra Grimm: Smarte schöne neue Welt? – Das Internet der Dinge
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Die Anwendungen des Internets der Dinge in verschiedensten Bereichen lassen sich derzeit in verschiedene Kategorien unterteilen. Wie sehen diese aus und was bedeuten sie?
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Reformationsjubiläen und Lutherbilder | Reformation | bpb.de
Für die Bewohner der westlichen Welt scheint es keinen natürlicheren Umgang mit bedeutenden Ereignissen und wichtigen Gestalten der Geschichte zu geben als das Jubiläum, die gemeinschaftliche Feier an runden Jahrestagen. So bringt der Kulturbetrieb unaufhörlich Feiern zum Gedächtnis von Entdeckungen und Erfindungen, Schlachten und Revolutionen und so weiter, von Komponisten, Dichtern, Wissenschaftlern, Kirchenmännern, Politikern und anderen hervor. Damit hält er sie als Schlüsselereignisse und Schlüsselfiguren der eigenen Geschichte im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft – und hält sich selbst in Bewegung. Doch der Eindruck, diese Art des Umgangs mit bedeutender Vergangenheit sei selbstverständlich, geradezu naturgegeben, täuscht. Der Brauch, geschichtlicher Ereignisse und Gestalten regelmäßig feierlich zu gedenken, ist selbst eine Hervorbringung der Geschichte, und er ist keine 500 Jahre alt. Er verdankt sich der Reformation. Mutter aller Jubiläen Erfunden wurde das historische Jubiläum von protestantischen Universitäten, die im 16. Jahrhundert begannen, das Gedächtnis ihrer eigenen Gründung an runden Daten festlich zu begehen. 1617 gelang der bis dahin akademischen und lokalen Praxis der Sprung auf die große gesellschaftliche und internationale Bühne: mit dem ersten Zentenar von Martin Luthers Thesenanschlag von 1517, dessen Bedeutung als Schlüsselereignis der Reformation sowie der von ihr geprägten Geschichte überhaupt damit fixiert war. Im Wettstreit zweier evangelischer Fürsten, der Kurfürsten von Sachsen und der Pfalz, eines Lutheraners und eines Reformierten, die sich beide durch eine solche Feier als Anführer der Protestanten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation profilieren wollten, wurde der 31. Oktober 1617 beziehungsweise der Sonntag danach zur 100-Jahr-Feier des Beginns der Reformation. Begangen wurde dieses Jubiläum von fast allen evangelischen Ständen des Reiches sowie von den lutherischen Königreichen Dänemark und Schweden. Es war so eindrücklich, dass das Gedächtnis des Thesenanschlags hinfort an vielen Orten alle 100, alle 50, ja schließlich alle 25 Jahre gefeiert wurde. Für andere reformationsgeschichtliche Ereignisse begründete man dieselbe Tradition, so 1630 für die Übergabe des Augsburgischen Bekenntnisses und 1655 für den Abschluss des Augsburger Religionsfriedens. Dem Erfolg dieser neuen Form des Feierns und Gedenkens konnte sich auch der konfessionelle Gegner nicht entziehen, ebenso wenig Gruppen, die an nichtkirchliche Ereignisse erinnern wollten. So wurde das Jubiläum zu dem allgegenwärtigen Element des kulturellen Lebens, als das wir es kennen. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert, der Zeit des Historismus, die das Jubiläum ebenso liebte wie das historische Denkmal, fand man überall in der westlichen Welt immer neue Anlässe für festliches historisches Gedenken, wobei man bevorzugt nun auch biografisches, an den Geburts- und Todestagen bedeutender Männer und gelegentlich auch Frauen festgemachtes Gedenken pflegte. Freilich war eine solche Bereicherung und Befestigung des kulturellen Gedächtnisses keine bloße Beschäftigung mit der Vergangenheit. Vielmehr feierte jede Epoche, was sie an Großem und Bedeutendem auf das gefeierte Vergangene zurückführte – und damit, was sie für groß und bedeutend hielt. So wurden die Jubiläen zu gesellschaftlichen Großereignissen, in denen die jeweiligen Zeiten sich selbst inszenierten und die gefeierten Gegenstände immer neu in Szene setzten. Wenn also die Reformation zu diesen Gegenständen gehörte, dann deshalb, weil die feiernden Gesellschaften darin ein Schlüsselereignis der eigenen Geschichte sahen, in dessen Gedächtnis sie sich entscheidender Züge ihrer Gegenwart zu vergewissern suchten. Geschichtsbild Für das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften gilt ebenso wie für das menschliche Gedächtnis im Allgemeinen, dass es besonders an Personen und ihren Taten haftet. Das war bei den Jubiläumsfeiern zum Gedächtnis der Reformation nicht anders. Einen wesentlichen Bestandteil bildete von Beginn an die Erinnerung an die Reformatoren. Dabei gab es Unterschiede; denn die verschiedenen evangelischen Konfessionen sahen sich mit unterschiedlichen Protagonisten spezifisch verbunden, zudem gedachten einzelne Länder und Regionen der Männer, die die Reformation bei ihnen eingeführt hatten, als eigener Reformatoren. Keiner jedoch wurde so nachdrücklich, in so vielen konfessionellen Kontexten und so international gefeiert wie Martin Luther. Mit ihm hatte die Reformation begonnen, mit ihm war der als Symbol für das Ganze gefeierte Thesenanschlag verbunden, seine Lebensgeschichte bot besonders reiches Gedächtnismaterial, und so spielte er bei den Reformationsjubiläen von Anfang an eine hervorgehobene Rolle. Mit der Zuspitzung der allgemeinen Jubiläumskultur auf biografische Daten und ihrer damit einhergehenden Personalisierung, die das 19. Jahrhundert brachte, wurde die Zentrierung auf Martin Luther im Luthertum, zum Teil auch darüber hinaus, umfassend; nicht allein die nun aufkommenden biografischen Lutherjubiläen, sondern alle Reformationsjubiläen wurden zu großen "Lutherevents". Luther wurde zum Spiegel, in dem Epoche um Epoche ihre höchsten Werte und Ziele zelebrierte und beschwor. Kurz, aus einer Gestalt der Geschichte wurde ein Geschichtsbild – oder besser, eine lange Bilderreihe. Rettender Kirchenlehrer Die ersten Jubiläen des 17. und 18. Jahrhunderts waren gesellschaftliche Großereignisse, in denen die Symbiose von Kirche, Kultur und politischem Gemeinwesen, die für das nachreformatorische Konfessionelle Zeitalter kennzeichnend war, in einer überbordenden Fülle von Gottesdiensten, akademischen Reden, Festschriften, sozialen Aktivitäten, Musikaufführungen, Theaterspielen, Feuerwerken, Dekorationen von Kirchen und Häusern und vielem mehr zur Darstellung kam. Gefeiert wurde so die evangeliumsgemäße Erneuerung der Kirche, die Befreiung von päpstlichem Irrtum und Joch. Martin Luther war hier der neue Mose, der mit der wiederhergestellten wahren Lehre diese Erneuerung und Befreiung in die Wege geleitet hatte: "Alle Menschen groß und klein, die zur Erkenntnis gekommen sein des Evangeliums, Luthers Lehr’, die sagen Gott herzlich Lob und Ehr, daß sie erlebt dies Jubeljahr." Mit seiner Lehre war Luther der Engel, der nach dem Propheten Daniel am Ende der Zeiten kommen oder nach der Apokalypse des Johannes der Welt das ewige Evangelium verkündigen sollte; mit seiner das Papsttum ins Wanken bringenden Predigt erfüllte er die Vision des Propheten Daniel von einem weiteren Engel, der sein Volk von allen gottlosen Feinden erlösen würde. So jubelte man 1617. Auch beim Zentenar der Confessio Augustana 1630 wurde Luther als Kirchenlehrer gepriesen – ebenso im folgenden Jahrhundert, als man die Reformation "im Jahr 1717 nach Christi Geburt, dem Jahr 200 nach dem Offenbarwerden des Antichristen" feierte, und das nicht nur in Deutschland, sondern ausladender noch in Dänemark und Norwegen. Aufklärer und Revolutionär Bei dem Jubiläum von 1817, das mit derselben Fülle kirchlicher, akademischer, musikalischer und volksfestlicher Aktivitäten begangen wurde, war es nicht mehr der Kirchenlehrer Luther, den man rühmte. Die Aufklärung hatte ein neues Bild der Reformation gezeichnet und festgestellt, dass das Entscheidende an diesem Ereignis nicht auf religiös-kirchlichem Gebiet liege, sondern in seinen Wirkungen – die sich zunächst innerhalb der evangelischen Kirchen niedergeschlagen, aber längst von diesen gelöst und außerhalb ihrer weiter entfaltet, ja die ganze Menschheit ergriffen hätten: in dem Aufbruch aus Aberglauben und Intoleranz zu Gewissensfreiheit, Mündigkeit und selbstverantworteter Sittlichkeit. Und so war der Luther, den man nun feierte, kein Mann einer Konfession, sondern eine Schlüsselgestalt der Weltgeschichte: "Dein Licht ging auf, und aus dem Staube hub die zertret’ne Menschheit sich", sang man in einem Lied zum ersten Reformationsjubiläum des 19. Jahrhunderts, das Lutheraner und Reformierte als gemeinprotestantisches Fest begingen, und an dem sich nun auch römische Katholiken und Juden beteiligten. Mit seiner in den Ablassthesen erstmals öffentlich vorgebrachten Kritik an der oktroyierten kirchlichen Lehre habe Luther die Aufklärung angestoßen, mit seiner Ablehnung der klerikalen Hierarchie die Mündigkeit aller befördert, mit seiner Bibelübersetzung zur allgemeinen Bildung angespornt, mit seiner Berufung auf das Gewissen vor dem Kaiser zu Worms Gewissensfreiheit und Toleranz das Tor geöffnet. Kurz, mit Luther "[brach] die Morgenröte eines freien Glaubens hervor". Dass sich diesem Kommentar des jüdischen Publizisten Saul Ascher zum Reformationsjubiläum 1817 bis 1917 weitere jüdische Stimmen hinzufügen ließen, zeigt, dass der "Aufklärer Luther" tatsächlich zu einem Bild von säkularer Reichweite geworden war. Das heißt nicht, es hätte keine anderen Stimmen gegeben. Konfessionell-lutherische Kreise wiesen jenes Bild als Verzeichnung zurück, forderten eine entschlossene Orientierung an dem Theologen und Kirchenmann. 1817 war das erste Jubiläum, bei dem eine gewisse Pluralisierung des Bildes von Luther und der Reformation zum Ausdruck kam. Doch aufs Ganze gesehen beherrschte in Europa, zumal in Deutschland, das Bild jenes Reformators das Feld, der mutig gegen die Tyrannei von Papst und Kaiser aufgestanden war und den Weg für Aufklärung, allgemeine Bildung, Gewissensfreiheit, Toleranz und Mündigkeit eröffnet hatte. Landauf, landab trat dieser Held in Statuen aus Erz und Stein den Menschen sichtbar vor Augen. Der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517, eigentlich nichts anderes als das reguläre Anbringen von Disputationsthesen am Schwarzen Brett der Wittenberger Universität, als welches die Tür der Schlosskirche diente, wurde zum expressiven Akt eines hammerschwingenden Revolutionärs stilisiert. "Deutscher Luther" Zu Luthers 400. Geburtstag 1883, dem ersten ausdrücklich seiner Person geltenden Großjubiläum, wurde dieser Revolutionär in Kirchen und Auditorien, auf Straßen und Plätzen, in mündlicher und schriftlicher Rede und mit viel Musik gefeiert. Dabei verband sich mit dem Lobpreis für die Früchte seines aufklärerischen Wirkens in Deutschland ein neues Motiv, das bislang allenfalls am Rande eine Rolle gespielt hatte: der "deutsche Luther", die Identifikationsfigur für das gerade zum Nationalstaat geeinte deutsche Volk. "Keine andere der neueren Nationen hat je einen Mann gesehen (…), der so in Art und Unart das innerste Wesen seines Volkes verkörpert hätte. (…) Wir Deutschen finden in alledem kein Räthsel [sic!], wir sagen einfach: Das ist Blut von unserem Blute", tönte der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke in seinem Jubiläumsvortrag. Der "deutsche Luther" drang in den folgenden Jahrzehnten immer stärker in den Vordergrund, bis er im Ersten Weltkrieg, in dessen Entscheidungsjahr 1917 die 400-Jahr-Feier der Reformation fiel, allgegenwärtig war. Es mangelte nicht an kritischen Stimmen, die die primär religiöse Rolle des Reformators herausstellten – "Nicht das Deutsche an Luther war die Hauptsache. Die Hauptsache war sein Evangelium" – und die die übernationale Bedeutung seiner Botschaft betonten – "Luther gehört nicht nur uns, er gehört der Menschheit an". Doch die alles übertönende, in unzähligen Schriften verkündigte Botschaft war 1917 die von dem "deutschen Luther", der als "Mann aus Erz" das nationale Selbstbewusstsein kräftigen und sowohl die Soldaten an der Front als auch die Bürger im Land zuversichtlich und stark erhalten sollte. Einer von vielen Anders entwickelte sich der Lutherbilderreigen in den USA. Hier feierten die Lutheraner erstmals 1817 mit großem Aufwand ein Reformationsjubiläum und waren damit die ersten, die in dem noch jungen Staat die Geschichte der eigenen Konfession "zum Gegenstand der Erinnerungskultur machten". Mit dem Rückblick auf die Reformation verband sich die Bestimmung des eigenen Standpunktes in dem Land, in dem man erst seit Kurzem lebte. So wurde die Wiederentdeckung des Evangeliums durch den Kirchenlehrer Martin Luther als Vorgeschichte der Verbreitung des Evangeliums verstanden, die unter ganz anderen Bedingungen durch die Ansiedlung des Luthertums auf dem neuen Kontinent geschah: "Das Licht, das Luther angesteckt, bestrahlt auch diese Lande (…). Hier, wo die schwärzeste Finsternis das Land wie Nacht bedeckte; wo tödlich gift’ger Schlangenbiss der Wilden schreckend weckte, da stehen Tempel Gottes nun (…)", sang man beim Jubiläum. Es war der der Jubiläumstradition des 17. und 18. Jahrhunderts entsprechende Kirchenlehrer Luther, der in solchen Tönen, überwiegend in deutscher Sprache und von Gemeinden, die an der Verbindung zu Deutschland festhielten, gepriesen wurde. Doch bei der Feier von 1817 hatte auch der "Aufklärer Luther" seine Advokaten und das ebenfalls in charakteristischer, dem US-Kontext angepasster Manier: Der als "glorious revolution" gepriesenen Reformation verdanke man die "happy effects" von Glaubensfreiheit, Mündigkeit und allgemeiner Bildung, und da die Glaubensfreiheit "parent of civil freedom" sei, verdanke man der Reformation indirekt auch die politische Freiheit – welche vor allem in den Vereinigten Staaten verwirklicht sei. Die Pfarrer und Gemeinden, die in diesem Geist feierten, taten das in englischer Sprache. Wie die deutschen Lutheraner feierten sie gemeinsam mit anderen, in Amerika freilich weit vielfältigeren evangelischen Kirchen. Doch anders als in Deutschland folgte hier aus der Feier des Thesenanschlags als gesamtprotestantisches Schlüsselereignis, dass Luther weniger hervorgehoben, sondern in die Riege aller Reformatoren eingereiht erschien. "This nobler German" Das war beim Jubiläum von 1883 ganz anders. Der Grund lag nicht nur darin, dass es hier um die Feier von Martin Luthers Geburtszentenar ging, sondern auch in der Tatsache, dass die amerikanischen Lutheraner mittlerweile an Zahl und öffentlichem Gewicht zugenommen hatten. So wurde der Wittenberger Reformator nun in zahllosen Schriften und Reden gepriesen, von Lutheranern ebenso wie von Protestanten aus anderen Kirchen und auch, wenngleich nicht ohne Widerspruch, von US-amerikanischen Juden. Und nun wurden nicht nur von der Reformation als ganzer, sondern besonders von Luther her die Linien der gesamtgesellschaftlichen Wirkungen gezogen: "Luther opened the Bible and revealed our inheritance, by the force of religious conviction we have gained our civil and religious liberty", schrieb ein presbyterianischer Theologe. Während die Deutschen begannen, "Luther den Deutschen" auf den Schild zu heben, stellte ein amerikanischer Historiker fest: "To Martin Luther, above all men, we Anglo-Americans are indebted for national independence and mental freedom." Und ein methodistischer Theologe schrieb mit deutlichem Brückenschlag zur US-Geschichte: "Find the birthplace of liberty – Wittenberg. There was the World’s ‚Declaration of Independence‘ written, and Martin Luther’s Reform is the apostle and prophet of human freedom." Dass man bei aller Betonung der internationalen und die Vereinigten Staaten besonders betreffenden Bedeutung Luthers immer die deutsche Herkunft des Reformators gewürdigt hatte, machte es 1917 beim Jubiläum schwieriger, in den USA enthusiastisch von Luther zu sprechen. Denn seit einem halben Jahr standen Deutschland und die Vereinigten Staaten miteinander im Krieg. Das Jubiläum wurde durchaus begangen, doch der Überschwang von 1883 war dahin. Vielfach wurde nun der Akzent mehr auf die religiös-theologische Seite von Luthers Wirken als auf die gesellschaftlichen "happy effects" gesetzt. Diese konnten gleichwohl auch weiterhin herausgestellt werden – nun freilich als solche, die sich in den Vereinigten Staaten und nicht in Deutschland durchgesetzt und die die USA, nicht Deutschland, zum wahren Erben Luthers gemacht hätten. Das zu betonen, war ein besonderes Anliegen der amerikanischen Lutheraner skandinavischen Hintergrunds, die ihren Glauben nicht als spezifisch deutsche Konfession kompromittiert und sich selbst nicht dem Verdacht politischer Illoyalität ausgesetzt sehen wollten. So mahnten sie ihre Glaubensgenossen, sich den übernationalen Luther nicht durch "intellektuellen Raub" nehmen zu lassen, und betonten, dass Luther und Thomas Jefferson "kinsmen" seien: "The religious liberty, which was won by the heroism of Martin Luther, was a precursor of the civil liberty which (…) 1776 has become our heritage." Was Deutschland betraf, ließ sich in dieser Perspektive ein gutes, an Luther orientiertes von dem schlechten, jetzt Krieg führenden Deutschland unterscheiden. So konnten die Amerikaner von einem methodistischen Landsmann aufgefordert werden, "this nobler German" zu folgen und nicht "the modern sceptical and superstitious Germany which would germanize mankind with the help of Krupp guns, poison gases, and liquid fire"; in Erinnerung an "Luther, Kant, Lessing, Goethe, Schiller, Bach, Mendelssohn and Beethoven, Steuben, Herkimer, De Kalb, Carl Schurz und Franz Sigel" sollten sie aufschreien "against Kaiserism and despotism", wie Luther es mit seinen Worten "Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir" in Worms getan habe. "Prophet der Deutschen" In Deutschland schritt indessen der "deutsche Luther" weiter fort. Bei den Jubiläen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere 1921 bei der großen 400-Jahr-Feier von Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag, sollte der "Held von Worms" dem militärisch geschlagenen, sich durch den Versailler Vertrag gedemütigt fühlenden, wirtschaftlich am Boden liegenden deutschen Volk Halt und Zuversicht geben. 1933, in dem Jahr, das nicht nur die Machtübernahme der Nationalsozialisten, sondern zehn Monate später auch den 450. Geburtstag Martin Luthers brachte, schien vielen die ersehnte Wende zum Besseren gekommen. Luther wurde zum "Propheten der Deutschen", der sie verheißen hatte. Die Gefolgsleute des neuen Regimes in der evangelischen Kirche, die Deutschen Christen, planten, das Jubiläum zu einer missionarischen Veranstaltung ihrer neu gegründeten Reichskirche zu machen: Aus dem "großen Lutherfest", "dem Gedenktag, der nur rückwärts blickt, wird das Weihefest für ein neues Haus der deutschen Kirche Martin Luthers. (…) Die Stunde der Volksmission ist da", erklärte die neue Reichskirchenregierung. Denn wenn die Protestanten sich geschlossen in den Dienst dieses Reiches stellten, würden umgekehrt die der Kirche entfremdeten, doch von Hitlers Regime begeisterten Massen sich der nun wahrhaft deutschen evangelischen Kirche wieder zuwenden. Dieses Jubiläumsprogramm konnte auf die kurze Formel "Luther und Deutschland!" gebracht werden und ließ sich verdichten zu der Variante "Luther und Hitler". Eine marginale Rolle spielte bei dem Jubiläum die sogenannte Judenfrage, was das antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer" beklagte und mit dem wiederholten Vorwurf an die evangelische Kirche verband, sie "schweige" Luthers antijüdische Schriften wie schon immer auch jetzt "tot". Doch der Jubiläumsredner einer Großkundgebung der Berliner Deutschen Christen rühmte die "völkische Sendung Luthers"; sie ziele darauf, dass das Christentum "artgemäß" werde, wozu die Anwendung des Arierparagrafen in der Kirche und die Befreiung vom Alten Testament gehöre. Das war freilich ein Programm, das zwar einen harten Kern befriedigte, aber die mit dem Jubiläum verbundenen Hoffnungen durchkreuzte, denn nach diesem Auftritt liefen den Deutschen Christen die Anhänger davon. So verhallten jene Stimmen nicht ungehört, die den deutsch-völkischen Luther zurückwiesen und die ganze Tendenz, die Bedeutung Luthers an politisch-kulturellen Wirkungen zu bemessen, für unsachgemäß erklärten: Luther sei vielmehr, wie das unter anderem von dem Theologen Dietrich Bonhoeffer erarbeitete "Betheler Bekenntnis" betonte, "ein treuer Zeuge der Gnade Jesu Christi", und sein Dienst sei "nicht auf das deutsche Volk beschränkt". Er sei nicht mehr und nicht weniger als ein die Heilige Schrift auslegender "Lehrer der christlichen Kirche", wie der Schweizer Theologe Karl Barth schrieb. Mit diesen Stimmen war eine Rückkehr zum Kern des Lutherbildes gegeben, das die Jubiläen des 17. und 18. Jahrhunderts bestimmt hatte. Wegbereiter der proletarischen Revolution Es verwundert nicht, dass das erste Lutherjubiläum nach dem Untergang des "Dritten Reiches", der wenige Monate nach der Niederlage erstaunlich festlich begangene 400. Todestag des Reformators 1946, ganz von diesem kirchlich-theologischen Lutherbild bestimmt war. Der "deutsche Luther" hatte gründlich ausgedient, nun erwartete man von dem Ausleger der Heiligen Schrift Aufrichtung im allgemeinen Zusammenbruch. Doch im selben Jahr begann mit der Neuauflage von Friedrich Engels "Der deutsche Bauernkrieg" von 1870 in der entstehenden DDR eine andere Linie, die Verbreitung und Prägung sozialistischer Lutherbilder. Zunächst im Gefolge Engels’ als "Fürstenknecht" denunziert, dem Thomas Müntzer als plebejischer Revolutionär gegenüberstand, wurde der Wittenberger Reformator in dem Maße, in dem der sozialistische deutsche Staat zu seiner Legitimierung positiver historischer Anknüpfungspunkte bedurfte, neu bewertet. Der 450. Jahrestag der Reformation 1967 und vollends der 500. Geburtstag Martin Luthers 1983 wurden nicht nur von der Kirche begangen, sondern auch von staatlicher Seite mit großem Aufwand gefeiert. Beide Male kam eine Lutherbriefmarke heraus – 1983 übrigens auch in anderen Ländern des Ostblocks. Luther galt jetzt als "einer der größten Deutschen". Als Träger der "frühbürgerlichen Revolution", die eine notwendige Stufe auf dem Weg zur proletarischen Revolution darstelle, spielte der Reformator nun eine positive Rolle im Geschichtsbild der sozialistischen Volksrepublik. Der "Aufklärer Luther" und der "deutsche Luther" waren in neuer Weise zusammengekommen. Im Zuge der parallel zu den staatlichen veranstalteten kirchlichen Feiern hingegen wurde darauf bestanden, dass die eigentliche Bedeutung des Reformators in seiner kirchlich-theologischen Rolle liege. "Vater im Glauben" Was sich gleichzeitig im Westen diesseits und jenseits des Atlantiks abspielte, kann kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Das Jubiläum von 1983 wurde auf allen Ebenen und mit Veranstaltungen aller Art gefeiert. Vielerorts gab es ebenfalls Lutherbriefmarken, nicht allein in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen europäischen Ländern, darunter solche ohne lutherische Tradition, sowie in mehreren Staaten des amerikanischen Kontinents. Darin kam bildlich einmal mehr zum Ausdruck, dass man in dem Wittenberger Reformator eine Gestalt würdigte, die über den Raum der Kirche hinaus von weltweiter Bedeutung sei; welches Bild von Martin Luther genau hinter der Würdigung stand, konnte offen bleiben. Zugleich wurden kritische Töne laut: In der Bundesrepublik prangerten evangelische Pfarrer und Medien besonders Luthers antijüdische Schriften an, und in den USA wurden diese nun erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Auffällig war die starke Beteiligung von Katholiken an diesem Jubiläum. Und sie prägten nochmals ein neues Lutherbild: Luther, der überkonfessionell gemeinsame "Vater im Glauben". Es ist das jüngste in der langen Reihe der Lutherbilder. In den Jahrzehnten seither ist es verblasst. Wie es scheint, wird das Jubiläum 2017 kein eigenes prägen und auch keines aus der Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen – doch dann soll ja auch die Reformation und nicht ein einzelner Reformator gefeiert werden. Vgl. Dorothea Wendebourg, Vergangene Reformationsjubiläen, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Der Reformator Martin Luther 2017, Berlin 2014, S. 261–281. Illustriertes Flugblatt "Wunderwerck D. Martin Luthers", 1618, zit. nach Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 107/2010, S. 285–324, hier S. 309. Vgl. ebd., S. 307f. Zit. nach Wolfgang Flügel, Konfession und Jubiläum, Leipzig 2005, S. 215. Vgl. Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Göttingen 19702, S. 18f. Zit. nach Dorothea Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108/2011, S. 270–335, hier S. 292. Ebd., S. 327. Vgl. Dorothea Wendebourg, Jews Commemorating Luther in the 19th Century, in: Lutheran Quarterly New Series 26/2012, S. 249–270. Zit. nach Wendebourg (Anm. 6), S. 304. So Ernst Troeltsch, Ernste Gedanken zum Reformations-Jubiläum, zit. nach ebd., S. 306. Karl Holl zit. nach ebd. Wolfgang Flügel, Die Selbstdarstellung deutscher Einwanderer im Reformationsjubiläum 1817, in: Klaus Thanner/Jörg Ulrich (Hrsg.), Reformationsvergegenwärtigung als Standortbestimmung (1717–1983), Leipzig 2012, S. 71–99, hier S. 81. Zit. nach ebd., Anm. 64. Frederick Henry Quitman, zit. nach ebd., S. 96. Vgl. Wendebourg (Anm. 8), S. 245f. Zit. nach Hartmut Lehmann, Martin Luther in the American Imagination, München 1988, S. 182. Frederic Henry Hedge, zit. nach ebd., S. 179. Zit. nach ebd., S. 183. Zit. nach ebd., S. 284. Frank Wakeley Gunsaulus, zit. nach ebd., S. 276. Vgl. Dorothea Wendebourg, Das Reformationsjubiläum des Jahres 1921, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 110/2013, S. 316–361. Siehe etwa Hans Preuß, Martin Luther. Der Prophet, Gütersloh 1933; ders., Luther und Hitler, in: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 66/1933, Sp. 970–979, Sp. 994–999. Aufruf der Reichskirchenregierung zum Jubiläum, in: Gesetzesblatt der Deutschen Evangelischen Kirche 1933. Hermann Dörries, Luther und Deutschland, Tübingen 1934, S. 19. Hans Preuß, Luther und Hitler, Erlangen 1933. So z.B. im Jubiläumsartikel in: Der Stürmer 46/1933, S. 4; siehe auch Der Stürmer 22/1943, S. 3 sowie 49/1943, S. 3. So der Berliner Gauobmann Reinhold Krause auf der sogenannten Sportpalast-Kundgebung am 13.11.1933. Vgl. Wendebourg (Anm. 1), S. 274. Zit. nach Kurt Dietrich Schmidt (Hrsg.), Bekenntnisse und grundsätzliche Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Göttingen 1934, S. 107f. Karl Barth, Luther, in: Theologische Existenz heute 4/1933, S. 8–16, hier S. 11. Siehe auch den Beitrag von Luise Schorn-Schütte in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Siehe auch Wendebourg (Anm. 1), S. 276f. Erich Honecker zit. nach Rudolf Mau, Beobachtungen zum Lutherjubiläum 1983 in der DDR, in: Theologische Literaturzeitung 138/2013, S. 1045–1058, hier S. 1050. Siehe Gottfried Maron, 1883 – 1917 – 1933 – 1983: Jubiläen eines Jahrhunderts, in: ders., Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung, Göttingen 1993, S. 188–208, hier S. 198.
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, Dorothea Wendebourg
2022-02-17T00:00:00
2016-12-19T00:00:00
2022-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/239245/reformationsjubilaeen-und-lutherbilder/
Das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften haftet besonders an Personen. So bildete auch die Erinnerung an die Reformatoren von Beginn an einen wesentlichen Teil der reformatorischen Jubiläumskultur. Keiner wurde so sehr gefeiert wie Martin Luther.
[ "Reformation", "Jubiläum", "Erinnerungskultur", "Martin Luther", "USA" ]
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Im Umbruch: Investieren in lokale Köpfe | Lokaljournalismus | bpb.de
Ein Bild aus vergangenen Zeiten: Klaus-Peter Scheller, Lokalchef des Stadtboten, begrüßt die Kollegen am Montagmorgen zur täglichen Konferenz. Nach dem kurzen Rückblick auf die Samstagsausgabe geht es sofort zur Sache. Im Stadtrat wird heute über den Haushaltsplan für das kommende Jahr diskutiert. Wie in der großen Politik auch, nutzen die Fraktionschefs die Haushaltsdebatte zur Generalabrechnung mit dem politischen Gegner. Die Lokalredaktion hat schon die Redeentwürfe der Kommunalpolitiker, Teile der für morgen geplanten Artikel sind schon vorformuliert. Aber welche Zitate in der hitzigen Debatte noch fallen werden, wissen die Journalisten vom Stadtboten natürlich noch nicht. In der Konferenz geht es darum, welche Themen auf die zwei Seiten gepackt werden, die für die Haushaltsdebatte reserviert sind. Aufmacher soll der Schwimmbadbau werden. Ein größeres Stück auf der linken Seite soll sich um die Müllgebühren drehen, die voraussichtlich steigen sollen. Und dann gibt es noch vier Einspalter mit Zusammenfassungen der Reden. Alle gleich lang, der Stadtbote vermeidet den Eindruck, eine Partei bevorzugen zu wollen. Schellers bange Frage lautet: "Wann muss der Andruck spätestens beginnen?" Seine Stellvertreterin Karin Müller hat schon mal mit der Technik geredet: "23 Uhr ist das späteste der Gefühle." Scheller seufzt. Doch auch an diesem Tag wird er es wieder schaffen, die zwei Zeitungsseiten pünktlich zuzunageln. Klaus-Peter Scheller, Karin Müller und den Stadtboten gibt es nicht. Aber genau so haben Lokaljournalisten noch vor 20 Jahren gearbeitet. Was im Rathaus beschlossen wurde, war wichtiges Thema der örtlichen Tageszeitung. Deren Stellenwert in der Bevölkerung war umso größer, je aktueller sie über das berichten konnte, was in der Kommune vor sich ging. Richtig gut war sie, wenn sie kommunalpolitische Ereignisse und Entwicklungen bereits schildern konnte, bevor sie beschlossene Sache waren. Das alles war möglich und vieles davon noch heute – doch das Entscheidende ist dem Lokaljournalismus in manchen Regionen verloren gegangen: die gute Vernetzung von Journalistenpersönlichkeiten mit den Repräsentanten des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Region. Denn der Klaus-Peter Scheller von heute findet nicht mehr die Zeit, um Stunden auf den Presseplätzen des Kommunalparlaments und im Rathaus zu verbringen. Er kümmert sich vielmehr darum, das angelieferte Material zu redigieren und das Blatt zuzumachen. Mancherorts tut er dies inzwischen am Newsdesk, dem Herzen der Redaktion. Wenn sich überhaupt noch ein Journalist zur Ratssitzung blicken lässt, dann ist es ein Freier, dessen Bezahlung nach gedruckter Zeile erfolgt. Ob er bei der nächsten Haushaltsdebatte wieder dabei sein wird, ist fraglich, die Vernetzung mit den kommunalen Entscheidungsträgern schwach. Für diesen rasanten Wandel gibt es gute Gründe. Fast 50 Prozent der täglichen Zeitungsauflage in Deutschland werden von Blättern geliefert, die zu Medienkonzernen gehören. Das muss nicht schlecht sein, heißt aber, dass hier Synergien und arbeitsteilige Prozesse womöglich stärker fortgeschritten sind als bei der überwiegend mittelständisch geprägten Konkurrenz. Und noch eine andere Zahl markiert den Wandel: In den letzten sieben Jahren sank die Zahl der fest angestellten Redakteurinnen und Redakteure bei Tageszeitungen von knapp 15.000 auf knapp 13.000. In diesem Zeitraum ging weder die Zahl der Zeitungen zurück noch der Seiten, die die Redaktionen Tag für Tag füllen müssen. Also mehr Arbeit für jeden einzelnen Redakteur, zusätzlich "angereichert" um die zu schreibenden Texte für den Online-Auftritt der Zeitung. Denn bei den wenigsten Blättern wurde eine nennenswerte Zahl an neuen Online-Arbeitsplätzen geschaffen. Und damit der Schritt für eine konsequente Umsetzung der digitalen Möglichkeiten. Die Veränderungen in den Redaktionen gehen schleichend vonstatten, nur selten mit einem solchen Donnerschlag wie bei den nordrhein-westfälischen Titeln der WAZ-Mediengruppe vor einigen Jahren. Dort verkündete das Management einen rigiden Sparplan. Von 900 Redakteursstellen sollten 300 gestrichen werden. Am liebsten sozialverträglich, doch zur Not auch mit der Brechstange. Den Gewerkschaften DJV und ver.di gelang es, gemeinsam mit den Betriebsräten die schlimmsten Auswüchse des Sanierungspakets abzumildern. Doch am massiven Stellenabbau und der Schließung einzelner Lokalredaktionen änderte sich nichts. Dass zentrale Redaktionseinheiten aufgestockt wurden, konnte den lokaljournalistischen Bedeutungsverlust der WAZ-Zeitungen nicht aufwiegen. Die Personalkosten bei der WAZ gingen in der Tat nach unten, die Auflage aber auch. Denn die Leser im Ruhrgebiet merkten, dass sich auch die Qualität der Berichterstattung änderte. Manche Themen fanden überhaupt nicht mehr in der Zeitung statt, andere wurden nur noch als Meldungen abgehandelt. Im Klartext: Zu wenig Personal für zu viele Themen. Die WAZ steuert inzwischen wieder um, doch in den meisten Verlagen hat sich noch längst nicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Lokaljournalismus im längst begonnenen Online-Zeitalter das größte Pfund der Tageszeitung ist. Innovationen sind eher selten anzutreffen. Die Gefahr ist groß, dass die Verlage das Lokale im Internet genau so verlieren wie vor Jahren die Kleinanzeigenmärkte. Wer mit dem lokalen Pfund wuchern will, muss in redaktionelle Köpfe investieren.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-12-10T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/151261/im-umbruch-investieren-in-lokale-koepfe/
In den letzten sieben Jahren sank die Zahl der fest angestellten Redakteurinnen und Redakteuren bei Tageszeitungen kontinuierlich – die Zahl ihrer Aufgaben aber steigt. Für die konsequente Umsetzung der digitalen Herausforderungen fehlen Stellen, sag
[ "WAZ", "Ökonomie", "Umbruch", "Journalismus", "Verlage" ]
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"Spot on: Europe" - Students and young filmmakers from Germany and Poland | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de
Starting point As political integration in the European Union gains momentum, hopes are also rising that we will be able to develop a common European ideal - one that can provide the solid democratic foundation that binds an active and participatory European community of citizens. Without acknowledging that they are based on national models, standard arguments assume that a common European identity and a culturally networked Europe are preconditions for creating a viable European democracy. Europe is more than the EU, and it is more than institutional and economic integration. Europe is an organic multitude of cultures, mentalities and languages, a colourful mosaic of experiences and memories, architectural styles and ways of living, both in our own countries and with those outside our national borders. Europe is not expressed as uniformity, but as exciting variety. It includes many unique and special views and ways of life that are not only less than harmonious, but at times even appear to contradict one another. Against this background, a 'European identity' is not a static, settled condition. Instead, it´s an open and dynamic process that allows Europeans to communicate with each other using the images that they possess, both of themselves and of others. The search for a European identity continues in personal, local, regional, national and European contexts, as well as in the factors that play a role in feelings of personal identification. This debate, however, has failed to address a few key questions. What sorts of identity does Europe offer? In what guises is identity being created or aspired to in the public sphere? What underlies these ideas of identity? What are the distinguishing images and values that best describe the relationship between identity and citizenship education in a European context? By proclaiming 2005 as the European Year of Citizenship through Education, the Council of Europe has underlined the claim of the citizens of the European Union to an active role in EU democracy, as well as their wish to share common values such as tolerance, solidarity, and the demand for equal rights and a voice in government. The "Spot on: Europe" Workshop will pursue questions such as: what can films do to help anchor this identification process? And what films reconcile conflicting images of a European culture and a European way of life? Report Interner Link: Report by Viola Georgi (PDF-Version: 165 KB) Methods Over two and a half days, students and their teachers from two cultural backgrounds (Poland and Germany) will meet with directors and producers from the film world, experts from the field of media education, scholars and journalists. The academic observer overseeing the entire NECE workshop series will also be on hand to evaluate the programme. Organisation Informationen and Management apex – Kultur- und Bildungsmanagement Anja Ostermann i. A. der bpb Reiderweg 18 58285 Gevelsberg Fon: + 49 (0) 2332 4199 Mailto: E-Mail Link: ostermann@apex-management.de Internet: Externer Link: www.lab-concepts.de Language: German-Polnish with simultaneous translation. Programme October 26th-28th, 2005 Frankfurt (Oder) / Slubice Collegium Polonicum ul. Kosciuszki 1 PL-69-100 Slubice Wednesday October 26th, 2005 Arrival by 1:00 p.m. In the Collegium Polonicum 2:00 p.m. Welcome address Dr. Krzysztof Wojciechowski Collegium Polonicum 2:15 p.m. Welcome and opening remarks Katrin Willmann, Federal Agency for Civic Education Marion Döring, European Film Academy 2:30 p.m. "Film without Borders: The Medium of Film and its Intercultural Importance" Discussion with the screening of the short film SVITJOD 2000 Thomas Hailer, Director of the Children´s Film Festival Berlin Katrin Schlösser, Producer Hannes Stöhr, Director Students from Germany and Poland Moderation: Marion Döring, Director European Film Academy 4:30 p.m. Pause 5:15 – 6:00 p.m. Statement European common ground in the European Year of Citizenship Education Prof. Dr. Timm Beichelt, University Viadrina Frankfurt (Oder) 7:30 p.m. Reception and screening in the Slubicer Kulturhaus 8:30 p.m. Introduction Hannes Stöhr, Director Followed by One Day in Europe Thursday October 27th, 2005 In the Collegium Polonicum 10:00 a.m. "Europe in Film – Films about Europe – Where is Europe happening?" Remarks and round of discussions on clips from the films: 25 Visions of Europe and Lost and Found Robert Glinski, Director Thomas Krüger, German Federal Agency for Civic Education Marc Rothemund, Director Students from Germany and Poland Moderation: Nikolaj Nikitin, Editor-in-chief and publisher of Schnitt – Das Filmmagazin Stefan Laudyn, Festival Director Warsaw International Film Festival 12:30 p.m. Lunch with other participants 2:00 p.m. Corollary Programme Topic-related city tours Slubice/Frankfurt (Oder) Organised by transkultura Followed by Museum Viadrina, Kurfürstensaal Welcome address: Dr. Martin Schieck Followed by A reading with Uwe Rada from "The Oder, Resumé of a River " 6:15 p.m. Project presentations and discussions "Learning from experience – What the media can do to encourage European citizenship education" Presentation: "Looking across the river" Presentation: "Eureka!" Klaus Dieter Felsmann, Media education expert Kornel Miglus, Director Andreas Voigt, Director Moderation: Jan Ebert, Brandenburg State Office for Civic Education 7:30 p.m. Reception and screening in Slubicer Kulturhaus "Invisible - Illegal in Europe" Followed by a question and answer session with director Andreas Voigt Friday October 28th, 2005 In Collegium Polonicum 10:00 a.m. Discussion round with all participants "Vision European Film Culture?" Summary – Confirming Results – Outlook 12:00 p.m. Departure
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-04-11T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/128876/spot-on-europe-students-and-young-filmmakers-from-germany-and-poland/
Hier finden Sie den Workshop zum Thema "Spot on: Europe". Students and young filmmakers from Germany and Poland – The search for European ways of life and cultural identities in film and the media.
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Jüdische Fest- und Feiertage | bpb.de
Einleitung Sabbat/Schabbat Der höchste wöchentliche Feiertag ist der Sabbat. Es ist der siebte Tag der jüdischen Woche, an dem G"tt (das heilige Wort Gott darf nach jüdischer Tradition nicht ausgeschrieben werden, weil sich der Mensch kein Bildnis von G"tt machen darf) nach sechs Tagen Schöpfung eine Ruhepause eingelegt hat. Fromme Juden dürfen am Samstag nicht arbeiten. Kochen und Feuermachen bedeuteten in biblischer Zeit Arbeit, deshalb dürfen die Gläubigen am Sabbat und an den religiösen Feiertagen weder kochen noch das Licht anschalten, keine elektrischen Geräte benutzen und nicht Auto fahren. Selbst die Fortbewegung mit Bussen, Bahnen, Schiffen oder Flugzeugen ist verboten. Wer am Sabbat oder an einem hohen Feiertag in Israel durch ein religiöses Viertel fährt, muss mit Beschimpfungen rechnen. Mitunter werfen streng Gläubige Steine auf vorbeifahrende Autos. Die Benutzung von Aufzügen verletzt ebenfalls die Sabbat- und Feiertagsruhe. In israelischen Hotels fahren an diesen Tagen deshalb so genannte Sabbat-Lifte, die automatisch auf jedem Stockwerk halten. Mitfahren ist den Frommen erlaubt, nicht jedoch das Drücken der Knöpfe, die etwas in Gang setzen. Nach alter Tradition wird in jüdischen Haushalten am Freitag für den Sabbat vorgekocht. So entstanden vor allem in den jüdischen Schtetln Osteuropas zahlreiche Spezialitäten, die über viele Stunden warm gehalten werden. Andere typische Feiertagsgerichte werden kalt gegessen. Religiöse Feiertage Rosch ha-Schana Das jüdische Jahr beginnt mit Rosch ha-Schana (Kopf des Jahres) am 1. und 2. Tischri (Mitte bis Ende September). Gedacht wird an diesem Tag der Erschaffung der Welt. Gelehrte haben aus biblischen Lebensläufen und -geschichten errechnet, dass G"tt die Welt im Jahr 3761 v. Chr. erschaffen hat. Nach dem jüdischen Kalender beginnt demnach im September 2010 das Jahr 5771. Neujahr ist hier ein eher stilles Fest, an dem die Gläubigen beten. Morgens wird das Widderhorn (Schofar) geblasen, ein Mahn- und Weckruf des Gewissens. Yom Kippur Nach den darauf folgenden zehn "Hohen Tagen" der Besinnung, inneren Einkehr und Läuterung feiern die gläubigen Juden ihren höchsten stillen Feiertag Yom Kippur (10. Tischri), den Tag der Versöhnung mit G"tt und den Mitmenschen. Die Gottgefälligen fasten an diesem Tag und erlangen durch Buße, Reue und Umkehr die göttliche Verzeihung für ihre Missetaten. Sukkot Aus dem vorbiblischen Erntedank ist das Laubhüttenfest Sukkot (15.-23. Tischri) entstanden. Im alten Israel brachten die Bauern zu Sukkot Früchte ihrer Ernte zum Tempel nach Jerusalem, um G"tt für die Erträge zu danken. Symbolisch gilt Sukkot auch als Fest der Freude über das im Leben Erreichte. Nicht minder symbolisch sind die Laubhütten (Sukka), die die frommen Juden zu Sukkot bauen, um darin die Festwoche zu verbringen. "Wir sollen nicht denken, dass die festen Häuser, die wir uns im Laufe unseres Lebens gebaut haben, für uns eine Burg sind (...). Wir dürfen nie vergessen, dass es nur Einen gibt, der uns wahrhaft schützen kann (...)", erklärt Dr. Michael Rosenkranz auf der jüdischen Internetseite www.talmud.de - Externer Link: Link . Das Fest erinnert auch an die lange Wanderschaft der Israeliten nach ihrer Flucht aus Ägypten und generell an die Unbeständigkeit des irdischen Lebens. Unter www.hagalil.com - Externer Link: Link findet sich eine Anleitung zum Bau einer Laubhütte. Simchat Tora Zum Abschluss des Laubhüttenfestes holen die Gläubigen am 23. Tischri an Simchat Tora (Fest der Tora-Freude, Mitte Oktober) die heiligen Tora-Rollen aus dem Schrank und tragen sie (oft freudig tanzend) in einer Prozession siebenmal durch die Synagoge. Die Kinder bekommen Süßigkeiten geschenkt. Gefeiert wird, dass G"tt den Juden die heiligen Bücher gegeben hat. Im Gottesdienst lesen zwei Gemeindemitglieder Schluss und Anfang des Pentateuch vor. Der jährliche Zyklus der Tora-Lesungen beginnt von neuem. Channukka Mit dem Lichter- und Weihefest Channukka (25. Kislew - 2. Tevet, Mitte-Ende Dezember) erinnern die Juden an die Wiedereinweihung ihres Zweiten Tempels im Jahr 164 v. Chr. (3597 jüd. Zeitrechnung). Die Makkabäer hatten die griechisch-syrischen Besatzer aus Judäa vertrieben. Nach einer Legende reichte das Öl für das ewige Licht des siebenarmigen Leuchters (Menorah), der nie erlöschen durfte, nur noch für einen Tag. Für die Herstellung neuen geweihten Öls brauchten die Tempeldiener jedoch acht Tage. Nun geschah ein Wunder: Das Licht brannte mit einem Ölvorrat, der normalerweise nur für 24 Stunden reichte, volle acht Tage. Daran erinnern die acht Arme des Channuka-Leuchters. Jeden Tag des Festes zünden die Gläubigen im Gedenken an das Tempelwunder ein Licht an, bis am achten Festtag alle Lichter brennen. Channuka ist ein Freuden- und Familienfest. Familien versammeln sich um den Leuchter und singen nach dem Anzünden der Kerzen. Die Kinder bekommen Geschenke und spielen mit den traditionellen Channuka-Kreiseln (Treidel). Tewet Am 10. Tag des Monats Tewet (Ende Dezember / Anfang Januar) fasten die Gläubigen zum Gedenken an den Beginn der babylonischen Belagerung Jerusalems. Sie sprechen das Totengebet (Kaddisch) für Verstorbene, deren Todestag und Grabstätten sie nicht kennen, vor allem für die Opfer der Schoah (Holocaust). Purim Ähnlich dem christlichen Karneval feiern die Juden am 14./15. Adar (März) Purim. Mit dem "Losfest" erinnern die Gläubigen an die Rettung der persischen Juden. Haman, der höchste Beamte des persischen Königs, wollte alle Juden im Lande töten lassen, weil sich Esthers jüdischer Cousin Mordechai geweigert hatte, vor ihm niederzuknien. Nachdem sich Esther beim König für die Juden eingesetzt hatte, entmachtete der König den Bösewicht und rettete so die persischen Juden. Im Gedenken daran lesen die Gläubigen zu Purim aus dem Buch Esther. Wenn das Wort Haman gelesen wird, machen vor allem die Kinder Lärm mit Rasseln, um den Namen des Bösen zu übertönen. Viele kommen verkleidet zum Gottesdienst. Tu Bischwat Am Neujahrsfest der Bäume Tu Bischwat am 15. Schevat (Ende Januar / Anfang Februar) mussten die Bauern im alten Israel den Zehnten ihrer Ernte an die Grundherren abgeben. Mit dem Ende der Regenzeit begann in der Natur eine neue Wachstumsperiode. Pessach Etwa zeitgleich mit dem christlichen Osterfest erinnern die Juden zu Pessach (übersetzt etwa "überschreiten" oder "verschonen") vom 14.-22. Nissan an den Auszug ihres Volkes aus Ägypten. Der Name des Festes bezieht sich auf einen der Höhepunkte der biblischen Exodus-Überlieferungen. Nachdem der Todesengel die männlichen Erstgeborenen aller ägyptischen Familien getötet hatte und dabei nur die Hebräer verschonte, entließ der Pharao das jüdische Volk aus Gefangenschaft und Sklaverei. Im Buch Exodus der Bibel finden sich genaue Anweisungen für das Pessach-Fest: Die Gläubigen müssen ungesäuertes, hefefreies Brot essen. Sie räumen vor dem Fest alles aus dem Haus, was Sauerteig enthält oder mit Gesäuertem in Berührung gekommen ist. Deshalb putzen religiöse Familien ihre Häuser und Wohnungen vor Pessach gründlich. Damit wird an den überstürzten Aufbruch der Israeliten aus Ägypten erinnert. Sie hatten keine Zeit mehr, den Teig für ihre Brote gären zu lassen. Stattdessen gab es nur aus Mehl und Wasser hergestellte trockene Mazze (eine Art Knäckebrot, übersetzt "Brot des Elends"). Die gläubigen Familien und Gemeinden eröffnen das Pessachfest am Seder-Abend, dem Vorabend des Festes (Erev Pessach) mit der Lesung der Haggada, der Geschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten. Dazu gibt es die traditionellen Pessach-Gerichte: Mazze, Eier, Petersilie und Wein. Lag Ba Omer Am 18. Ijar (Mai) erinnern die Juden an den Todestag des Rabbiners Schimon Bar Jochai (Raschbi) und an den gescheiterten Bar Kochba Aufstand gegen die römische Besatzung im Jahr 135 n. Chr. Einer talmudischen Legende zufolge musste sich Schimon Bar Jochaj zwölf Jahre in einer Höhle verstecken, wo er sich ausschließlich dem Tora-Studium widmete. Heute zünden die Israelis zu Lag Ba Omer als Symbol für das Licht der Tora Lagerfeuer an. Die Feuer erinnern auch an die Signalfeuer der Bar-Kochba-Aufständischen, die für die Freiheit Israels kämpften. Schavuot Sieben Wochen nach Pessach feiern die Juden mit dem Wochenfest Schavuot am 6. Siwan Gottes Übergabe der zehn Gebote an Moses auf dem Berg Sinai. Im Gottesdienst werden deshalb in der eigens geschmückten Synagoge die zehn Gebote und das Buch Rut gelesen. Dazu essen die Gläubigen Honig und trinken Milch, weil das Volk Israel die heiligen Worte der Tora wie ein "unschuldiges Kind begierig getrunken" habe. Nach christlicher Überlieferung haben die Jünger Jesu am Tag des jüdischen Schavuot-Festes den Heiligen Geist empfangen. Daran erinnert das Pfingstfest. Weltliche Feiertage Yom Ha Shoa Am 27. Nisan (April), dem Yom Ha Shoa, gedenkt das jüdische Israel der etwa sechs Millionen jüdischen Opfer der Schoah (Holocaust). Um zwölf Uhr mittags heulen im ganzen Land die Sirenen. Fast alle Menschen bleiben zu einer Schweigeminute stehen. Autos, Busse und Züge stoppen. Yom Ha Sikaron Am 4. Ijar (April/Mai), dem Yom Ha Sikaron, erinnern sich die jüdischen Israelis der Opfer ihrer Kriege. Yom Haz Ma'ut Ein Freudentag ist der 5. Ijar, der israelische Unabhängigkeitstag Yom Haz Ma'ut. Am Abend des 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion in Tel Aviv den Staat Israel aus. Zuvor hatten die Vereinten Nationen die Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Tags darauf überfielen die Armeen der Nachbarländer den frisch gegründeten Staat. Trotz der militärischen Übermacht der Gegner gewann Israel den Krieg und dehnte sein Gebiet auf die heute als Waffenstillstandsgrenzen von 1949 bekannten Linien aus. Viele Palästinenser sind geflohen oder wurden von der israelischen Armee vertrieben. Ihnen gilt der israelische Unabhängigkeitstag seitdem als Tag der Nakba (Katastrophe). QuellentextDer jüdische Kalender Der jüdische Kalender richtet sich, ähnlich wie der islamische, nach dem Mond, wird aber dem Sonnenjahr durch einen Schaltmonat regelmäßig angepasst. So fallen die jüdischen Fest- und Feiertage nach dem europäischen Kalender in jedem Jahr auf andere Tage, immer aber in dieselbe Jahreszeit. Alle Feiertage sowie der wöchentliche Ruhetag Sabbat (Samstag) beginnen jeweils am Vorabend mit dem Sonnenuntergang und enden mit dem Sonnenuntergang am Feiertag selbst - sobald mindestens drei Sterne am Himmel sichtbar werden. Quellen und weitere Infos: Zentralrat der Juden in Deutschland: www.zentralraddjuden.de - Externer Link: Link Internetmagazine und Portale zu jüdischen Themen: www.hagalil.com - Externer Link: Link www.talmud.de - Externer Link: Link Der jüdische Kalender richtet sich, ähnlich wie der islamische, nach dem Mond, wird aber dem Sonnenjahr durch einen Schaltmonat regelmäßig angepasst. So fallen die jüdischen Fest- und Feiertage nach dem europäischen Kalender in jedem Jahr auf andere Tage, immer aber in dieselbe Jahreszeit. Alle Feiertage sowie der wöchentliche Ruhetag Sabbat (Samstag) beginnen jeweils am Vorabend mit dem Sonnenuntergang und enden mit dem Sonnenuntergang am Feiertag selbst - sobald mindestens drei Sterne am Himmel sichtbar werden.
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Fishman, Robert B.
2021-06-23T00:00:00
2011-09-13T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben-in-deutschland-304/7706/juedische-fest-und-feiertage/
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Finanzielle Bildung | Ökonomische Bildung | bpb.de
Einleitung Wozu benötigen private Haushalte finanzielle Bildung? Wenn private Haushalte finanzielle Dienstleistungen nachfragen, werden sie vor vielfältige Probleme gestellt, beispielsweise komplexe und undurchschaubare Produkte oder irreführende Werbung. Auch fehlt Haushalten meist das Verständnis der Funktionsweise von Finanzmärkten. In der Schule wird das notwendige Wissen nur selten erworben, weil es zum Teil den Lehrenden selbst an eigenen finanziellen Kompetenzen fehlt. Zur Bewältigung ökonomisch geprägter Lebenssituationen und zum "guten Leben" im Sinne eines gelungenen und selbstbestimmten Lebens müssen finanzielle Entscheidungen getroffen werden. Um dies in zufriedenstellendem Maß bewerkstelligen zu können, sind Kompetenzen notwendig, die nicht im traditionellen Bildungskanon (Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften, Künste) enthalten sind. Finanzielle Entscheidungen können lebenslange Konsequenzen nach sich ziehen, weshalb möglichst frühzeitig damit begonnen werden sollte, finanzielle Kompetenzen zu erwerben, auch weil einige dieser Konsequenzen Gefahren bergen: "Financial services are both necessary to consumers and dangerous for them." Ein Hauptziel der finanziellen Bildung ist die Vermeidung von Verarmungsprozessen. Studien belegen, dass finanzielle Fehler in der Haushaltsführung die wichtigste Ursache für Verarmung bei Arbeitslosigkeit darstellen. Sie führen die Haushalte früher oder später in die Überschuldung. Eine Studie zur Wirksamkeit von Schuldnerberatungen zeigt, dass sich der Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit Schulden und Geld für die privaten Haushalte auszahlt: So erhöhte eine intensive Schuldnerberatung die Wahrscheinlichkeit, einen sicheren Arbeitsplatz zu erhalten, und bei einem Teil der Klienten stieg sogar das Einkommen an. Über die Bewältigung finanziell geprägter Lebenssituationen hinaus verhilft finanzielle Bildung auch zu einem verbesserten allgemeinen Weltverständnis. Hierzu gehört ein grundlegendes Verständnis für die Funktion von Geld und Vermögen im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang sowie für die Funktionsweise von Finanzmärkten in einer globalisierten Wirtschaft. Finanzielle Kompetenz ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie beruht auf einer Verknüpfung von Kompetenzen zur Bewältigung privater Finanzprobleme mit solchen zur Analyse und Bewertung gesamtwirtschaftlicher Problemlagen und Politikkonzeptionen. Zum Begriff der finanziellen Bildung Finanzielle Bildung ist Teil der ökonomischen Bildung: "Financial education is therefore the addition of financial competence to the goals of economic education. Much of the current discussions around economic education in Germany and North-America revolve around exactly this issue: including financial knowledge, financial literacy and financial capability as goals for economic education." In der Literatur gibt es keine einheitliche Definition für finanzielle Bildung. Eine für die Commerzbank arbeitende Autorengruppe stellt darauf ab, dass finanzielle Bildung dazu dienen solle, den Alltag zu bestehen und Chancen wahrzunehmen. Dazu gehören das Verständnis der Funktionen von Geld, das Geldmanagement, der Umgang mit Lebensrisiken, der Vermögensaufbau und die Altersvorsorge sowie das Verleihen und Anlegen von Geld. Grundlegend ist ein "handlungsorientierter lebenspraktischer Zugang" . Ernest Gnan et al. zeigen hingegen, dass auch andere Zugänge möglich sind. Die Autoren analysieren rund 50 Grundsatzerklärungen von Bildungsinitiativen zum Thema "finanzielle Bildung". Als Schnittmenge stellen sich die Vermittlung von Wissen und Verständnis sowie Kompetenzen zur Entscheidungsfindung heraus. Im Zentrum stehen das Wissen über und das Verständnis von Finanzdienstleistungen. Darüber hinaus zielen die untersuchten Bildungsinitiativen darauf ab, die Beziehungen zu anderen Akteuren des Finanzwesens im weiteren Sinne zu verbessern. Dazu gehören beispielsweise das Wissen über Möglichkeiten zur Selbsthilfe, das Wissen über Rechte und eine bessere Artikulation im Umgang mit Akteuren des Finanzdienstleistungssektors sowie die Abschätzung von gesellschaftlichen Konsequenzen finanzieller Entscheidungen. Ein weiteres Ziel finanzieller Bildung betrifft das "gesellschaftliche Umfeld". Dabei geht es um die Vermittlung von Werten, Einstellungen und Denkweisen im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen. In der Definition der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spielen das "Verständnis von Finanzprodukten" sowie "die Fähigkeit und das Bewusstsein um finanzielle Risiken und Möglichkeiten" eine Rolle. Andere beziehen darüber hinaus in ihre Definition das Verständnis von Finanzprodukten, das Sparen, das Ausgeben und die Bewältigung von Schulden ein. Hinzu tritt die Fähigkeit, auf aktuelle ökonomische Entwicklungen - wie beispielsweise die Finanzkrise - reagieren zu können. Dabei wird auf den Zusammenhang von privaten finanziellen Problemlagen und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen verwiesen. Der vom amerikanischen National Council on Economic Education (NCEE) entwickelte Test zur finanziellen Bildung "Financial Fitness for Life" erfasst auch "The Economic Way of Thinking" als einen wesentlichen Teilbereich. Darüber hinaus finden sich Subtests wie "Saving" und "Money Management" oder eine Mischung verschiedener Bereiche, beispielsweise "Spending and Using Credit". Kernbereiche finanzieller Bildung Will man auf der Basis der Literaturanalyse die Inhalte der finanziellen Bildung konkretisieren, lassen sich vier Kernbereiche identifizieren: Vermögen bilden, mit Verschuldung umgehen, sich versichern und täglich mit Geld umgehen (Zahlungsverkehr). Diese vier Bereiche tauchen so oder ähnlich immer wieder in den verschiedenen und ansonsten heterogenen Arbeiten zur finanziellen Bildung auf. Die Kernbereiche bilden ein lebensnahes Inhaltskonstrukt. Eine exakte Abgrenzung ist im Einzelfall nicht immer möglich. So mag im Bereich "Täglich mit Geld umgehen" auch das Thema "Mit Verschuldung umgehen" relevant werden. Solche Überschneidungen können als Chance angesehen werden, Parallelen zu ziehen und Transfers zu leisten. Auch ist es möglich, Fach- und Bildungskategorien der ökonomischen Bildung wie beispielsweise Knappheit und Risiko mit Inhalten aus der finanziellen Bildung zu erarbeiten. Beispielsweise ist der Umgang mit Geld letztlich immer auf Ressourcenknappheit zurückzuführen. Ökonomische Kategorien lassen sich in allen vier Kernbereichen auffinden, wobei in jedem Kernbereich die einzelnen Kategorien unterschiedliche Relevanz haben können. Die Konzentration auf vier Kernbereiche erschöpft gewiss das Thema "finanzielle Bildung" nicht. Sie soll aber sicherstellen, dass die wichtigsten Inhalte erfasst werden. In der Abbildung (sh. Abbildung in der PDF-Version) werden die vier Kernbereiche mit ihrer Vernetzung grafisch veranschaulicht. Vermögen bilden. Vermögensbildung durch Sparen bedeutet, in der Gegenwart zugunsten der Zukunft auf Konsum zu verzichten. Es werden also Konsum- und Einkommensströme zeitlich voneinander entkoppelt. Die Entscheidungen, die bei der Vermögensbildung getroffen werden müssen, verlangen Klugheit und Verantwortungsgefühl, und theoretisch umfasst der Planungshorizont die gesamte Lebensspanne. Das "gute Leben" bedeutet eine angemessene und selbstbestimmte Bewertung des Lebensstandards in verschiedenen Lebensphasen, beispielsweise während der ersten Berufstätigkeit, beim Existenzaufbau im mittleren Alter und im Ruhestand. Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen damit überfordert sind. Tendenziell herrschen "Kurzsichtigkeit" und eine Vernachlässigung der Altersvorsorge vor. Vermögen ist nicht allein Absicherung, sondern auch Einkommensquelle, sei es durch Zinsen, Mieteinnahmen oder Dividenden. Je nachdem, in welcher Form Vermögen gehalten wird - beispielsweise in Sparbüchern, Aktien, Immobilien -, unterscheiden sich Erträge und Risiken. Zur finanziellen Allgemeinbildung gehört, dass zumindest die wichtigsten und gängigen Finanzprodukte hinsichtlich ihrer Risiken, Fristen und Erträge verglichen werden können. Vermögensbildung ist rechtlich geregelt und wird - beispielsweise für die Altersversorgung und die Bildung von Wohneigentum - staatlich gefördert. Die Verknüpfungen der individuellen und gesellschaftlichen Aspekte des Kernbereichs Vermögensbildung zeigen sich beispielsweise bei den Themen Inflation oder Vermögensverteilung. Der unterschiedliche Einfluss von Inflation auf verschiedene Vermögensformen - Wertverlust von Geldvermögen und "Flucht in die Sachwerte" -, die ungleiche Vermögensverteilung und ihre Entwicklung im Zeitablauf werfen Gerechtigkeitsfragen auf, die von hoher politischer Brisanz sind. Zum mündigen Staatsbürger gehört deshalb auch Finanzkompetenz als Allgemeinbildung. Mit Verschuldung umgehen. Verschuldung bedeutet, zugunsten der Gegenwart auf zukünftigen Konsum zu verzichten. Wieder werden Konsum- und Einkommensströme zeitlich voneinander entkoppelt, aber in umgekehrter Reihenfolge wie beim Sparen. Besonders junge Menschen tendieren dazu, die Rückzahlung von Krediten als "Nachsparen" aufzufassen, und übersehen deshalb die Risiken der Verschuldung. Kredite müssen fristgemäß zurückgezahlt werden, und bei verspäteten Raten fallen Verzugszinsen an. Mahnbescheide werden verschickt, Kredite gekündigt und zur sofortigen Zahlung fällig gestellt. Es folgen Lohnabtretungen, Pfändungen und am Ende der "Offenbarungseid", die Eidesstattliche Versicherung. Zur finanziellen Allgemeinbildung gehört es, Vor- und Nachteile der Kreditaufnahme mit einem Barkauf zu vergleichen. Dafür sollten unterschiedliche Kreditgeber und deren Geschäftsgebaren wie beispielsweise Banken, private Kreditvermittler oder Handelsunternehmen in Grundzügen bekannt sein. Private Überschuldung liegt vor, wenn Ratenverpflichtungen nicht mehr bedient werden, weil das verfügbare Haushaltseinkommen und ein eventuell vorhandenes eigenes Vermögen dauerhaft nicht ausreichen, neben dem Lebensunterhalt weiteren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Am Ende nimmt der Schuldenberg - nicht zuletzt durch Verfahrenskosten - immer weiter zu, selbst wenn der Schuldner Raten abzahlt. Letzter Ausweg kann die Privatinsolvenz sein, die dem redlichen Schuldner eine Möglichkeit eröffnen soll, sich von seinen Restschulden zu befreien. Der Umgang mit Verschuldung, insbesondere aber mit Überschuldung, stellt eine komplexe Aufgabe dar, bei der die privaten Haushalte auf Hilfe angewiesen sind, beispielsweise durch Schuldnerberatungsstellen. Das Wissen um Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten kann deshalb zur finanziellen Allgemeinbildung gezählt werden. Überschuldung führt zur Senkung des Lebensstandards, also zum Gegenteil dessen, was mit der Schuldenaufnahme ursprünglich beabsichtigt worden ist. Von der sozialen Umgebung wird Überschuldung oft als Symptom für Unfähigkeit und mangelnde Leistungsfähigkeit angesehen. Neben materiellen Problemen geht sie mit einer psychischen und sozialen Destabilisierung einher sowie häufig mit Ehe- beziehungsweise Familienproblemen und Suchtproblemen. Gesamtgesellschaftliche Aspekte der Verschuldung, die zur finanziellen Allgemeinbildung des mündigen Staatsbürgers gehören, sind die Staatsverschuldung und internationale Schuldenkrisen. Sich versichern. Versicherungen sind ein wesentliches Merkmal sozialer Marktwirtschaften. Der Kernbereich "Sich versichern" umfasst: Risiken für den Einzelnen, für seine Familie, für Gruppen und für die Gesellschaft insgesamt; Sozialversicherung und Individualversicherung; Versicherungsarten; statistische Aspekte und Risikominderung durch verantwortungsvolles Verhalten im eigenen Erfahrungsbereich. Zur Finanzkompetenz gehört es, die Risiken des täglichen Lebens beschreiben zu können und sie nicht zu bagatellisieren oder gar zu ignorieren. Der Bagatellisierung von Risiken steht allerdings die "Überversicherung" gegenüber, welche durch aggressive Werbung und Verkaufsmethoden bewirkt werden kann. Mündige Verbraucher wählen von den vielfältigen Angeboten, die der Markt für Versicherungen bietet, jene aus, die ihren Bedürfnissen am besten dienen. Dazu müssen sie die Versicherungsangebote auf ihre Qualität, insbesondere hinsichtlich des Preis-Leistungs-Verhältnisses, hin analysieren und vergleichen können. Von besonderer Bedeutung ist, unter welchen Bedingungen eine Versicherung zahlt, welche Verpflichtungen der Versicherungsnehmer eingeht und welche Rolle Meldefristen sowie pünktliche Prämienzahlungen spielen. Vorzeitiger Tod, Krankheit, Unfall, Diebstahl, Haftpflichtschäden und andere "Schadensfälle" können die wirtschaftliche Existenz eines privaten Haushalts gefährden. Keine Versicherung kann verhindern, dass solche Dinge geschehen. Der Einzelne hat allerdings einen gewissen Einfluss auf die Risiken, die er eingeht. Versicherungen leisten im "Schadensfall" Zahlungen, die mehr oder minder ausreichen, den Schaden zu beheben. Wo das nicht möglich ist - keine Versicherung kann einen tödlich verunglückten Menschen wieder lebendig machen - können finanzielle Schwierigkeiten, beispielsweise Einkommensausfall wegen eines Unfalls, für die Familie gemildert werden. Die Verknüpfung privater und gesellschaftlicher Aspekte wird beim Vergleich zwischen Sozial- und Individualversicherung deutlich. In der Sozialversicherung - Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall-, und Arbeitslosenversicherung - richten sich die Beiträge nach dem Einkommen des Versicherten, nicht nach dem Risiko: Es gilt das Prinzip des sozialen Ausgleichs. Mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung finden die Zweige der Sozialversicherung ihre Entsprechungen in der Individualversicherung, beispielsweise in der privaten Lebensversicherung für die Alters- und Hinterbliebenenvorsorge. Im Unterschied zur Sozialversicherung folgt die Beitragsberechnung der Individualversicherung nicht dem Prinzip des sozialen Ausgleichs, sondern dem Äquivalenzprinzip (Versicherungsprinzip): Die Höhe des Versicherungsbeitrags richtet sich nach dem Risiko der jeweiligen Risikogruppe. Beide Prinzipien geraten leicht in Konflikt, wie der politische Diskurs über die Reform der Krankenversicherung zeigt. Täglich mit Geld umgehen. Ein weiterer wichtiger Teil der finanziellen Bildung ist der tägliche Umgang mit Geld. Hierzu gehört in erster Linie die Erstellung eines persönlichen Haushaltsbuches. Es sollte die Einnahmen und Ausgaben für einen bestimmten Zeitraum, beispielsweise eine Woche oder einen Monat, ausweisen, um sich einen Überblick über das eigene Budget, seine Belastung und seine Struktur zu verschaffen. Für die Organisation des Zahlungsverkehrs ist die Kompetenz zur Verwaltung eines Girokontos unerlässlich: Überweisung, Einzugsermächtigung, Dauerauftrag, Lastschrift, Online-Banking. Zur Verwaltung eines Girokontos gehört die ständige Kontrolle über das laufende Kontoguthaben, um potenzielle Kontoüberziehungsgefahren abzuwenden. Durch die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von EC-Karten, die der Erleichterung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs dienen, kann schnell der Überblick über die eigenen Finanzen verloren gehen. Beim Einsatz von Kreditkarten wird das Girokonto erst zu einem späteren Zeitpunkt belastet. Leicht sind die Ausgaben längst vergessen, wenn sie im Kontoauszug ausgewiesen werden. Viele Banken und Sparkassen bieten für Schüler und Auszubildende ein oft kostenloses Girokonto an, bei dem eine Kontoüberziehung nicht oder nur in geringem Maße möglich ist. Die meisten anderen relevanten Funktionen stehen allerdings zur Verfügung. Das Schülerkonto bietet die Möglichkeit, bereits in jungen Jahren die Grundlagen des Zahlungsverkehrs zu erlernen. Zu beachten ist, dass der Kontoinhaber für falsch eingetippte Werte selbst die Verantwortung trägt. Aus Sicht der Kreditinstitute hat das kostenlose Girokonto für Schüler auch die Funktion, frühzeitig Kunden zu binden. Deshalb sind Girokonten für Schüler häufig mit besonderen Vergünstigungen verknüpft, die bisweilen an ein bestimmtes Alter gebunden sind. Stand und Perspektiven der finanziellen Bildung In Europa wurden in der jüngsten Zeit zahlreiche Projekte initiiert, die auf die Stärkung der finanziellen Bildung ausgerichtet sind. Immer wieder starten vor allem Banken Initiativen zur Förderung der finanziellen Allgemeinbildung. Nach wie vor jedoch ist die finanzielle Bildung großer Bevölkerungskreise unzureichend. Dabei ist das Interesse an finanzieller Bildung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durchaus vorhanden. Die Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer Finanzkompetenz fällt bei etwa 50 Prozent der Befragten dieser Gruppe indes sehr schlecht aus. Im Hinblick auf Geld- und Finanzfragen meinen sie, sich "kaum" oder "gar nicht" auszukennen. Thomas Retzmann führt allerdings eine Studie an, die auf die Selbstüberschätzung von Jugendlichen hinweist. Diese Unsicherheit beruht meistens auf Wissensdefiziten im täglichen Umgang mit Geld. Eine Untersuchung der Commerzbank zeigt, dass die negative Selbsteinschätzung realistisch ist. So verfügen Studierende der Wirtschaftswissenschaften nur zu einem kleinen Teil (14 Prozent) über ein gutes Finanzwissen. Im Vergleich zum Rest der Bevölkerung schneiden sie damit lediglich marginal besser ab. Auch außerhalb des deutschsprachigen Raums kommen Studien immer wieder zu dem Ergebnis, dass die finanzielle Bildung sowohl von jungen als auch von älteren Menschen mangelhaft ist. In einer Studie der Commerzbank zu Ursachen für mangelndes Finanzwissen wurden Einstellungen und Normen zum Umgang mit Geld geprüft. Das Thema Geld ist in Deutschland nach wie vor tabu: "Über Geld spricht man nicht". Weder über zu wenig noch über zu viel Geld wird geredet. Das Thema Geld wird zur Intimsphäre gezählt. Menschen, die sich in finanziellen Fragen auskennen, werden nicht als tüchtig angesehen, sondern genießen einen schlechten Ruf. Man glaubt, sie seien "oberflächlich" oder wollten andere übervorteilen. Der Nutzen einer Beschäftigung mit Geld wird gering eingeschätzt. Eine weit verbreitete Einstellung besteht darin, dass der Staat den Bürger zu versorgen habe und eine eigenständige Beschäftigung mit Geld daher überflüssig sei. Auch erscheint vielen das Thema zu komplex oder abstrakt. Diese Einstellungen treffen nicht auf alle Befragten gleich stark zu, aber im Trend ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen es vermeiden, sich intensiv mit finanziellen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Der Grundstein für einen erfolgreichen Umgang mit den eigenen Finanzen sollte bereits im Kindesalter gelegt werden, indem Eltern versuchen, ihren Kindern eine adäquate Einstellung zum Taschengeld zu vermitteln. Finanzielle Bildung im Elternhaus ist wirksamer als in der Schule oder anderen externen Bildungsinstitutionen. Doch nicht alle Elternhäuser können dies leisten. Finanzielle Bildung zu Hause misslingt, wenn die Eltern selbst in Geldangelegenheiten inkompetent sind. Finanzielle Inkompetenz wird in diesen Elternhäusern dann über die Generationen verfestigt. Deshalb und aus Gerechtigkeitserwägungen sind in der finanziellen Bildung die Schule, die politische Bildung allgemein und die Einrichtungen der Erwachsenenbildung in der Pflicht. Mit "Ratgeber-Literatur" oder sporadischen Medienbeiträgen kann finanzielle Bildung nicht geleistet werden. Sie bedarf der fachdidaktischen Fundierung im Rahmen der ökonomischen Bildung gemäß dem Leitbild des mündigen Verbrauchers und mündigen Wirtschaftsbürgers. Vgl. Klaas Macha/Michael Schuhen, Financial Literacy von angehenden Lehrerinnen und Lehrern, in: Thomas Retzmann (Hrsg.), Finanzielle Bildung in der Schule, Schwalbach/Ts. 2011, S. 143-158, und Udo Reifner/Anne Schelhowe, Financial Education, in: Journal of Social Science Education, 9 (2010) 2, S. 32-42. Vgl. Lothar Krappmann, Kompetenzförderung im Kindesalter, in: APuZ, (2002) 9, S. 14-18. U. Reifner/A. Schelhowe (Anm. 1), S. 32. Vgl. Dieter Korczak/Gabriela Pfefferkorn, Forschungsvorhaben zur Überschuldungssituation und Schuldnerberatung in der Bundesrepublik Deutschland, Abschlussbericht, München 1990. Vgl. Bundesregierung, Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2008. Vgl. Astrid Kuhlemann/Ulrich Walbrühl, Wirksamkeit von Schuldnerberatung in Deutschland, Gummersbach 2007, S. 16. U. Reifner/A. Schelhowe (Anm. 1), S. 33. Marco Habschick/Martin Jung/Jan Evers, Kanon der finanziellen Allgemeinbildung, Frankfurt/M. 2004, S. 9. Vgl. Ernest Gnan/Maria A. Silgoner/Beat Weber, Volkswirtschafts- und Finanzbildung: Konzepte, Ziele, Messung, in: Geldpolitik und Wirtschaft, (2007) 3, S. 30-52. Vgl. OECD, OECD Project on Financial Education and its International Network on Financial Education, 2009, online: www.financial-education.org/dataoecd/8/28/44409678.pdf (22.2.2011). Vgl. Investor Education Fund, online: www.getsmarteraboutmoney.ca/managing-your-money/planning/investing-basics/Pages/what-is-financial-literacy.aspx (22.2.2011). National Council on Economic Education, Financial Fitness for Life. Theme Tests. Questions with Answers. Entire Assessment for the Upper Elementary Level, New York 2004; vgl. auch dies., Entire Assessment for Middle School level, New York 2004; dies., Entire Assessment for high school level, New York 2004. Vgl. weiterhin z.B. Hans Kaminski et al., Unterrichtseinheit "Finanzielle Allgemeinbildung" (o.J.); vgl. auch Michael-Burkhard Piorkowsky et al., Verbraucherkompetenz für einen persönlich erfolgreichen und gesellschaftlich verantwortlichen Konsum. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Ernährungspolitik beim BMELV, Bonn-Berlin 2008; vgl. auch Allianz Global Investors, Mit Geld richtig umgehen, Frankfurt/M. 2007. Vgl. zur Diskussion um die kategoriale Bildung beispielsweise: Klaus-Peter Kruber, Hinführung zu "Denken in ökonomischen Kategorien" als Aufgabe des Wirtschaftsunterrichts, in: Bernd O. Weitz (Hrsg.), Standards in der ökonomischen Bildung, Bergisch Gladbach 2005, S. 203-223. Vgl. Hans Jürgen Schlösser, Konsumentenkredite in der Bundesrepublik Deutschland, in: Unterricht Wirtschaft, 3 (2000), S. 10f. Vgl. ders., Schulden und kein Ende? Überschuldung, Insolvenzrecht und der private Haushalt, in: Unterricht Wirtschaft, 3 (2000), S. 7-9. Vgl. ders., Risiko und Versicherungen, in: arbeiten+lernen Wirtschaft, 29 (1998), S. 22-33. Vgl. das EU-Programm DOLCETA zur Verbrauchererziehung, online: www.dolceta.eu (24.2.2011); vgl. auch Michael-Burkhard Piorkowsky, Lernen mit Geld umzugehen, in: APuZ, (2009) 26, S. 40-46. Vgl. Marco Habschick/Britta Seidl/Jan Evers, Survey of Financial Literacy Schemes in the EU27, Hamburg 2007, sowie Heiko Steffens, Trends, Praxis und Politik zur Förderung der Verbraucherbildung aus Sicht der OECD, in: T. Retzmann (Anm. 1), S. 159-170. Vgl. Bundesverband deutscher Banken, Jugendstudie. Wirtschaftsverständnis und Finanzkultur, Berlin 2003, 2006 und 2009. Vgl. Thomas Retzmann, Einführung in die Thematik. Finanzielle Allgemeinbildung im Defizit - Eine Herausforderung für die ökonomische Bildung, in: ders. (Anm. 1), S. 5-7. Vgl. Commerzbank, Finanzielle Allgemeinbildung von Studenten der Wirtschaftswissenschaft (Präsentation), Frankfurt/M. 2004. Vgl. Annamaria Lusardi/Olivia S. Mitchell/Vilsa Curto, Financial Literacy among the Young. Working Paper, 2009; dies., Financial Literacy an Financial Sophistication in the Older Population: Evidence from the 2008 HRS, Working Paper, 2009. Vgl. Commerzbank, Die Psychologie des Geldes. Qualitative Studie für die Commerzbank AG, Präsentation, Hamburg 2004. Vgl. Stephen J. Dubner, Is Teaching Financial Literacy a Waste of Time? Freakonomics. Blog der New York Times vom 19.9.2008, online: http://freakonomics.blogs.nytimes.com/2008/09/19/is-teaching-financial-literacy-a-waste-of-time (24.2. 2011).
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, Hans Jürgen Schlösser / , Maria Neubauer / , Polia Tzanova
2021-12-07T00:00:00
2011-10-06T00:00:00
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https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33414/finanzielle-bildung/
Mit "Ratgeber-Literatur" oder sporadischen Medienbeiträgen kann finanzielle Bildung nicht geleistet werden. Sie bedarf der fachdidaktischen Fundierung im Rahmen der ökonomischen Bildung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
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Die Preise steigen | Politik aktuell. Blick hinter Nachrichten | bpb.de
Ein einfaches Milchbrötchen beim Bäcker kostet heute 80 Cent. Vor ein paar Monaten hat es noch 60 Cent gekostet. Beim Einkaufen merkt man, dass vieles teurer geworden ist. Besonders teuer sind zum Beispiel Öl, Butter und Mehl. Weil Bäcker viel Mehl brauchen, sind auch Brot und Brötchen teurer geworden. Wenn viele Dinge gleichzeitig teurer werden, nennt man das Inflation. Inflation heißt: Wir müssen mehr bezahlen. Unser Geld ist schneller aufgebraucht. Wir können mit unserem Geld also weniger kaufen. Das betrifft nicht nur Waren, sondern auch Dienstleistungen. Eine Dienstleistung ist zum Beispiel, wenn eine Handwerkerin etwas repariert. Oder wenn ein Friseur Haare schneidet. Wie stark steigen die Preise in Deutschland? Expertinnen und Experten beobachten jeden Monat ganz genau, wie die Preise sich verändern. Sie überprüfen viele verschiedene Preise. Daraus rechnen sie dann die Inflation aus. Sie sagen: Die Inflation im Mai war fast 8 Prozent. Das ist für Deutschland ein sehr hoher Wert. Viele Jahre lang war die Inflation zwischen 0 und 3 Prozent. Damit sind die Firmen und die Menschen gut zurecht gekommen. 8 Prozent Inflation bedeutet: Für jeden Euro muss man ungefähr 8 Cent dazu bezahlen. Also: Was vorher 1 Euro gekostet hat, kostet jetzt 1 Euro und 8 Cent. Dabei vergleicht man immer den Preis heute mit dem Preis vor einem Jahr. Aber das gilt nur im Durchschnitt. Manche Sachen sind viel teurer geworden, andere weniger. Und einige Sachen sind auch billiger als früher. Das Heizen wird deutlich teurer. (© picture-alliance, Hauke-Christian Dittrich) Am stärksten sind die Preise für Energie gestiegen. Das sind die Preise für Diesel und Benzin, Heizöl, Gas und Strom. Energie ist insgesamt 38 Prozent teurer geworden. Also: Wer vor einem Jahr 100 Euro bezahlt hat, muss jetzt 138 Euro bezahlen. Bei Lebensmitteln ist die Inflation auch besonders hoch. Das merkt man beim Einkaufen. Besonders teuer geworden sind zum Beispiel Butter, Öl und Fleisch. Bei Mieten gibt es große Unterschiede: Besonders in großen Städten steigen die Mieten schon seit Jahren sehr stark. In anderen Orten ist es weniger schlimm. Billiger geworden ist das Telefonieren. Und auch für Bus und Bahn bezahlen die meisten Menschen weniger. Der Grund dafür ist das 9-Euro-Ticket. Was kann dagegen helfen? Das 9-Euro-Ticket ist eine von mehreren Hilfen gegen die Inflation. Das Ticket macht Bus- und Bahnfahren viel billiger als sonst. Viele Menschen können deshalb Geld sparen. Die Bundesregierung und der Bundestag haben das Ticket beschlossen. Es gibt das Ticket in den Monaten Juni, Juli und August 2022. Ob es auch nach diesen Monaten ein billiges Ticket geben soll, darüber wird in den Parteien und in den Medien gesprochen. Fahren mit Bus und Bahn ist billiger geworden (© picture-alliance, Monika Skolimowska ) Das Ticket muss man einmal im Monat für 9 Euro kaufen. Damit kann man dann überall in Deutschland mit Bussen und Bahnen fahren. Auch in den meisten Regional-Zügen gilt das Ticket. Außerdem haben die Regierung und der Bundestag den Tank-Rabatt beschlossen. Das heißt: Auf Benzin und Diesel muss man seitdem weniger Interner Link: Steuern zahlen. Dadurch sollte das Tanken billiger werden. Den Tank-Rabatt gibt es in den Monaten Juni, Juli und August in diesem Jahr 2022. Und es gibt weitere Hilfen: Alle Berufstätigen bekommen in diesem Jahr 2022 300 Euro Energiegeld. Familien bekommen für jedes Kind 100 Euro extra. Arme Menschen leiden ganz besonders unter der Inflation. Für sie wird es jetzt noch schwerer, Miete und Essen zu bezahlen. Das merkt man auch daran, dass immer mehr Menschen zu den Tafeln gehen. Die Tafeln sind Vereine. Sie verschenken Essen an Menschen mit wenig Geld. Experten und Expertinnen sagen: Arme Menschen brauchen jetzt schnell viel mehr Hilfe. Sonst geht es ihnen sehr schlecht. Die Verbraucherzentralen fordern: Wer Interner Link: Hartz Vier bekommt, hat nicht genug Geld für gesundes Essen. Deshalb muss Hartz Vier jetzt schnell erhöht werden. Auch das Essen in der Schule oder im Kindergarten muss billiger werden. Und für Obst und Gemüse sollte der Staat weniger Steuern nehmen. Dann wird es wieder etwas billiger. Ein anderes Mittel gegen die Inflation ist die Geldpolitik. Für die Geldpolitik ist in Europa die Europäische Zentralbank zuständig. Im Juli hat diese Bank eine wichtige Entscheidung getroffen: Sie hat die Zinsen angehoben. Das bedeutet: Für Unternehmen und auch für Privatleute wird es teurer, sich Geld zu leihen. Und es lohnt sich wieder mehr, Geld zu sparen. Damit will die Zentralbank die Inflation in Europa bremsen. Aber woher kommt die Inflation eigentlich? Die aktuelle Inflation hat verschiedene Gründe. Manche Gründe haben mit der Corona-Pandemie zu tun. Andere haben mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Es kommen also mehrere Gründe zusammen. Die Corona-Pandemie ist schlecht für die Wirtschaft in der ganzen Welt. Viele Firmen können seit dem Beginn der Pandemie nicht mehr so gut arbeiten. Die Firmen haben auch höhere Kosten: Es ist schwieriger und teurer geworden, Waren herzustellen und zu transportieren. Deshalb verlangen die Firmen höhere Preise. In diesem Jahr gab es aber auch viele Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen. Das bedeutet: Es gibt auch wieder mehr Möglichkeiten, Geld auszugeben. Viele Menschen wollen jetzt wieder mehr Dinge kaufen. Man sagt dazu auch: Die Nachfrage steigt. Das kann auch dazu führen, dass die Preise steigen. Und dann kam der Krieg dazu: Im Februar hat Russland sein Nachbarland Interner Link: Ukraine angegriffen. Seitdem sind die Energiepreise besonders stark gestiegen. Denn Russland ist ein sehr großes Land, das viel Erdgas und Öl verkauft. Seit dem Krieg wollen viele Länder aber keine Geschäfte mehr mit Russland machen. Deshalb gibt es große Veränderungen im Welthandel. Die Ukraine ist auch ein wichtiges Land für die Wirtschaft. Denn es gibt dort sehr viele Weizenfelder. Aus Weizen macht man Mehl für Brot. Vor dem Krieg hat die Ukraine den Weizen in viele andere Länder verkauft. Seit dem Krieg geht das fast gar nicht mehr. Deshalb sind Mehl und Brot überall auf der Welt teurer geworden. Beim Einkaufen merkt man: Vieles ist teurer geworden (© picture-alliance, Hendrik Schmidt) Manche reiche Menschen und Firmen nutzen die Krise auch aus. Einige spekulieren mit Lebensmitteln. Das bedeutet: Sie verdienen mit den Lebensmitteln extra viel Geld. Sie kaufen und verkaufen zum Beispiel große Mengen Weizen. Dann wird der Weizen noch knapper und noch teurer. Auch dadurch steigt die Inflation. Alle diese Gründe gibt es nicht nur in Deutschland. In vielen anderen Ländern passiert dasselbe. Deshalb gibt es zur Zeit auch in vielen Ländern eine hohe Inflation. Überall fragen sich die Menschen: Wie lange werden die Preise noch weiter so stark steigen? Fachleute für Wirtschaft schätzen: Auch im nächsten Jahr werden die Preise noch steigen. Aber nicht mehr so stark wie jetzt. Hartz Vier Hartz Vier ist Geld, das man in Deutschland vom Staat bekommen kann. Es ist eine Hilfe für Menschen, die keine Arbeit haben. Eigentlich heißt dieses Geld Arbeitslosengeld 2. Man muss dafür einen Antrag beim Jobcenter stellen. Der Name Hartz Vier kommt von dem Gesetz, in dem die Regeln für das Geld stehen. Es war das vierte Gesetz aus einer Reihe von Sozial-Gesetzen. Eine Gruppe mit dem Manager Peter Hartz hatte Vorschläge für diese Gesetze gemacht. Steuern Steuern sind Geld, das Menschen und Firmen an den Staat bezahlen. In Gesetzen steht, wie viel Steuern jeder zahlen muss. Wenn man arbeitet, wird die Steuer oft direkt vom Lohn abgezogen. Eine andere wichtige Steuer ist die Mehrwert-Steuer: man bezahlt sie bei jedem Einkauf. Das Geld bekommen die Finanzämter. Der Staat muss mit dem Geld dann alle seine Leistungen bezahlen. Dazu gehören zum Beispiel: Schulen und Krankenhäuser bauen. Hilfe für Menschen mit wenig Geld. Polizei, Lehrkräfte und Feuerwehrleute bezahlen. Das Heizen wird deutlich teurer. (© picture-alliance, Hauke-Christian Dittrich) Fahren mit Bus und Bahn ist billiger geworden (© picture-alliance, Monika Skolimowska ) Beim Einkaufen merkt man: Vieles ist teurer geworden (© picture-alliance, Hendrik Schmidt) Hartz Vier ist Geld, das man in Deutschland vom Staat bekommen kann. Es ist eine Hilfe für Menschen, die keine Arbeit haben. Eigentlich heißt dieses Geld Arbeitslosengeld 2. Man muss dafür einen Antrag beim Jobcenter stellen. Der Name Hartz Vier kommt von dem Gesetz, in dem die Regeln für das Geld stehen. Es war das vierte Gesetz aus einer Reihe von Sozial-Gesetzen. Eine Gruppe mit dem Manager Peter Hartz hatte Vorschläge für diese Gesetze gemacht. Steuern sind Geld, das Menschen und Firmen an den Staat bezahlen. In Gesetzen steht, wie viel Steuern jeder zahlen muss. Wenn man arbeitet, wird die Steuer oft direkt vom Lohn abgezogen. Eine andere wichtige Steuer ist die Mehrwert-Steuer: man bezahlt sie bei jedem Einkauf. Das Geld bekommen die Finanzämter. Der Staat muss mit dem Geld dann alle seine Leistungen bezahlen. Dazu gehören zum Beispiel: Schulen und Krankenhäuser bauen. Hilfe für Menschen mit wenig Geld. Polizei, Lehrkräfte und Feuerwehrleute bezahlen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-08-02T00:00:00
2022-07-22T00:00:00
2022-08-02T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/511035/die-preise-steigen/
Viele Dinge sind in letzter Zeit teurer geworden: Ein Brötchen beim Bäcker, eine Packung Nudeln, aber auch Miete, Strom und Heizung für die Wohnung. Warum müssen wir dafür jetzt mehr bezahlen? Was ist Inflation? Und was kann man dagegen tun?
[ "Inflation", "Wirtschaft", "Deutschland", "Verbraucher", "Preissteigerung" ]
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Biografien & Autobiografien | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
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Wie ich mich als 16-Jähriger dem Islamischen Staat anschlossOliver N. und Sebastian Christ Interner Link: Zwei Schwestern. Im Bann des DschihadÅsne Seierstad Interner Link: Mitten unter uns: Wie ich der Folter des IS entkam und er mich in Deutschland einholteMasoud Aqil Interner Link: Undercover Dschihadistin. Wie ich das Rekrutierungsnetzwerk des Islamischen Staats ausspionierteAnna Erelle Interner Link: Mein Sohn, der Salafist. Wie sich mein Kind radikalisierte und ich es nicht verhindern konnteNeriman Yaman Interner Link: Ich hole euch zurück. Ein Vater sucht in der IS-Hölle nach seinen SöhnenJoachim Gerhard, Denise Linke Interner Link: Ich war ein Salafist. Meine Zeit in der islamischen ParallelweltDominic Musa Schmitz Interner Link: Black Box DschihadMartin Schäuble Mein Zimmer im Haus des Krieges – 351 Tage gefangen in Syrien Janina Findeisen Die Journalistin Janina Findeisen wird 2015 auf einer Recherchereise in Syrien gekidnappt und anschließend 351 Tage gefangen gehalten. Sie war nach Syrien gereist, um ihre zum Islam konvertierte Schulfreundin zu treffen und um zu verstehen, wie es zu deren Radikalisierung kam. Kurz nach dem Treffen wird sie entführt. Sie verbringt fast ein Jahr an unterschiedlichen Orten, wird in wechselnde Zimmer eingesperrt und stets von bewaffneten Männern bewacht. 7/2020 | Piper | 336 Seiten | Taschenbuch: 11,00 Euro | E-Book: 9,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: piper.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Leonora. Wie ich meine Tochter an den IS verlor – und um sie kämpfte Maik Messing, Volkmar Kabisch, Georg Heil Leonora Messing war 15 Jahre alt, als sie aus ihrem Dorf in Sachsen-Anhalt verschwand. In Syrien schloss sie sich dem „Islamischen Staat“ an und wurde Drittfrau eines deutschen „IS“-Terroristen. Wie konnte sich Leonora so schnell so stark radikalisieren? Wie sieht ihr Leben in den Kriegswirren aus und was bedeutet das für die verzweifelten Angehörigen? Der Vater kämpft darum, Leonora aus Rakka zurückzuholen – und geht dafür gefährliche Risiken ein. 9/2019 | Ullstein | 334 Seiten | Taschenbuch: 18,00 Euro | E-Book: 16,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: ullstein-buchverlage.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad Souad Mekhennet Was passiert hinter den Fronten des Dschihad? Wie ticken Warlords und jugendliche Attentäter? Die Journalistin Souad Mekhennet berichtet von ihren Recherchen in sogenannten No-Go-Areas des Terrors und ihren Treffen mit Dschihadisten. 9/2017 | C. H. Beck | 384 Seiten | Hardcover: 24,95 Euro | E-Book: 18,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: chbeck.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Maryam A. Mein Leben im Kalifat. Eine deutsche IS-Aussteigerin erzählt Christoph Reuter Als sie 2014 mit ihrem Mann nach Syrien reist, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen, ist Maryam A. Mitte zwanzig. Doch das Leben im „Kalifat“ ist nicht geprägt von Glauben und Gemeinschaft, wie sie es sich erhofft hatte. Stattdessen erlebt sie Terror, Gängelung und ständige Bombardierungen sowie den zermürbenden Kleinkrieg der Dschihadistinnen und Dschihadisten untereinander. Unter Lebensgefahr gelingt es ihr zu fliehen, aber bis heute muss sie versteckt in Nordsyrien leben. Christoph Reuter hat Maryams Bericht über ihre Zeit beim „Islamischen Staat“ aufgeschrieben. 11/2017 | Penguin Random House | 256 Seiten |Taschenbuch: 18,00 Euro | E-Book: 13,99 Euro) Zur Bestellung auf Externer Link: randomhouse.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Meine falschen Brüder. Wie ich mich als 16-Jähriger dem Islamischen Staat anschloss Oliver N. und Sebastian Christ Oliver N., in der Nähe von Wien aufgewachsen, ist gerade 16 geworden, als er sich in Syrien dem sogenannten Islamischen Staat anschließt. Ein halbes Jahr verbringt er im "Kalifat", erlebt die Brutalität der islamistischen Kämpfer und kann sich nach einer schweren Verwundung zurück nach Österreich retten. 10/2017 | Kiepenheuer & Witsch | 288 Seiten |Taschenbuch: 14,99 Euro | E-Book: 12,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: kiwi-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad Åsne Seierstad An einem Nachmittag im Oktober 2013 kommen die norwegischen Schwestern Ayan und Leila nach der Schule nicht nach Hause. Stattdessen schicken sie eine E-Mail: Sie befinden sich auf der Reise nach Syrien, um sich dort dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Für ihr dokumentarisches Buch hat Åsne Seierstad eine norwegische Familie bei den dramatischen Versuchen begleitet, ihre beiden Töchter aus dem „IS“-Gebiet zurückzuholen. 10/2017 | Kein & Aber | 528 Seiten | Hardcover: 26,00 Euro | E-Book: 20,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: keinundaber.ch Auch erhältlich in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Mitten unter uns: Wie ich der Folter des IS entkam und er mich in Deutschland einholte Masoud Aqil Der kurdische Journalist Masoud Aqil hat neun Monate in Syrien in der Gewalt der Terrormiliz „Islamischer Staat“ verbracht. In Deutschland angekommen sagt er: "Es sind mehr islamistische Terroristen in diesem Land, als wir ahnen". In "Mitten unter uns" beschreibt Aqil, dass der "IS" die die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 genutzt hätte, um Terroristen nach Europa zu schleusen. 8/2017 | Europa Verlag | 256 Seiten | Hardcover: 18,90 Euro Auf der Verlagswebsite nicht mehr bestellbar, aber anderweitig verfügbar Interner Link: Zum Anfang der Seite Undercover Dschihadistin. Wie ich das Rekrutierungsnetzwerk des Islamischen Staats ausspionierte Anna Erelle Anna Erelle recherchiert in den sozialen Netzwerken, mit welchen Methoden radikale islamistische Organisationen in Europa Jugendliche für den Krieg in Syrien anwerben. Unter dem Deckmantel der jungen Konvertitin Melodie nimmt sie auf Facebook Kontakt mit einem Kommandanten des IS auf und entlockt ihm Informationen über das Söldnerleben in der Kampfzone. Bereitwillig gibt der Mann Auskunft, denn er will Melodie an sich binden. Nach dem Erscheinen ihres Buchs wurde die Autorin vom "IS" mit einer Fatwa bedroht und lebt nun unter Polizeischutz. 4/2016 | Knaur TB | 272 Seiten | Taschenbuch: 9,99 Euro | E-Book: 9,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: droemer-knaur.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Mein Sohn, der Salafist. Wie sich mein Kind radikalisierte und ich es nicht verhindern konnte Neriman Yaman Was ist, wenn man bemerkt, wie sich der eigene Sohn radikalisiert? Neriman Yaman ist die Mutter von Yusuf, der im April 2016 im Alter von 16 Jahren ein Sprengstoffattentat auf einen Sikh-Tempel in Essen verübte. Neriman Yaman schildert, wie Yusuf sich immer weiter von seiner Familie entfremdete und immer tiefer in die Parallelwelt des Salafismus abrutschte. Yaman versuchte, ihn von seinen neuen Freunden zu lösen. Sie suchte Hilfe bei den verschiedensten Stellen: Bei Moscheen, beim Jugendamt, beim Schulamt, bei der Beratungsstelle "Wegweiser". Dennoch kam es zu dem Anschlag. 10/2016 | mvgverlag | 256 Seiten | Hardcover: 19,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: m-vg.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Ich hole euch zurück. Ein Vater sucht in der IS-Hölle nach seinen Söhnen Joachim Gerhard, Denise Linke Joachim Gerhard erzählt, wie seine beiden Söhne innerhalb kurzer Zeit zum Islam konvertierten, sich radikalisierten und sich im Alter von 19 und 23 Jahren in Syrien dem "Islamischen Staat" angeschlossen haben. Das Buch berichtet von den Versuchen des Vaters, Kontakt zu ihnen aufzunehmen und sie aus Syrien zurückzuholen. 9/2016 | Fischer Taschenbuch | 224 Seiten | Taschenbuch: 14,99 Euro | E-Book: 12,99 Euro) Zur Bestellung auf Externer Link: fischerverlage.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Ich war ein Salafist. Meine Zeit in der islamischen Parallelwelt Dominic Musa Schmitz Dominic Musa Schmitz konvertierte als 17-Jähriger zum Islam und war in der deutschen Salafisten-Szene aktiv. Er begleitete den Prediger Pierre Vogel und arbeitete mit Sven Lau zusammen. Schmitz ist aus der Szene ausgestiegen und hat seine Erfahrungen dokumentiert. In seinem Buch schildert er, warum er als junger Deutscher den radikalen Islam attraktiv fand, wie er die Zeit in Salafisten-Kreisen erlebte und wie die Szene-Netzwerke in Deutschland funktionieren. Zudem geht es darum, wie er sich Schritt für Schritt von der Bewegung löste. 2/2016 | Ullstein | 256 Seiten | E-Book: 14,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: ullstein-buchverlage.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Black Box Dschihad Martin Schäuble Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine, Daniel, wächst in einer gut situierten deutschen Familie auf, besucht das Gymnasium und begeistert sich für Hip-Hop. Der andere, Sa'ed, stammt aus den Palästinensergebieten, teilt sich ein Zimmer mit acht Geschwistern und bricht früh die Schule ab. Trotz aller Unterschiede vereint die beiden ein Ziel: Sie wollen kämpfen im Dschihad. In parallel erzählten Biografien zeichnet Martin Schäuble ihr Leben und ihren Weg in den "heiligen" Krieg nach. 3/2011 | Hanser Verlag | 224 Seiten | Taschenbuch: 14,90 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: hanser-literaturverlage.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-02-06T00:00:00
2021-08-05T00:00:00
2023-02-06T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/infodienst/337775/biografien-autobiografien/
Warum und wie radikalisierten sich Jugendliche? Was unternehmen Familien, um ihre Töchter und Söhne aus dem "IS"-Gebiet zurückzuholen? Wie sah das Leben im "Islamischen Staat" aus?
[ "Biografien", "Autobiografien", "Islamismus", "IS-Rückkehrer", "IS-Rückkehrerinnen", "IS-Anhänger", "Islamischer Staat (IS)", "Radikalisierung", "Prävention" ]
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M 04.01 Die Chaos-WG | Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Integration | bpb.de
Aufgaben: Beschreibe die Wohngemeinschaft (WG). Wo gibt es offensichtlich Probleme? Was läuft hier nicht optimal? Wo treten möglicherweise Konflikte auf? Wie könnte man die Probleme lösen? Versuche mit Hilfe des Rasters Lösungsstrategien für die einzelnen Probleme im Zusammenleben dieser WG zu erarbeiten. Unbenanntes Dokument Zimmer Problem Lösung Faktor/Aspekt Gemeinsam genutzte Räume: Küche         Bad         Flur         Gemeinschaftszimmer/ Wohnzimmer         Private Räume: Berts Zimmer (jeweils eigenes Zimmer)         Übergeordnete Räume/Wohnung gesamt: Hausgemeinschaft, Treppenhaus, Garten         !doctype>
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-04-30T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/projekt-integration/134683/m-04-01-die-chaos-wg/
Eine Bildcollage zeigt offensichtliche Probleme und Konfliktpunkte einer Wohngemeinschaft. Die Schülerinnen und Schüler haben die Aufgabe, die Probleme zu benennen und Lösungen für ein gelungenes Zusammenleben in der WG zu erarbeiten.
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