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Fujimori will zurück zur Demokratie - taz.de
Fujimori will zurück zur Demokratie ■ Im Fernsehen versprach Perus Präsident ein Referendum und Neuwahlen für Parlament/ San Ramón vom aufgelösten Parlament als Gegenpräsident vereidigt/ Gewalttätige Demonstrationen in Lima Lima (taz) - Der peruanische Präsident Alberto Fujimori hat versprochen, binnen eines Jahres zur Demokratie zurückzukehren. Er werde seine Notmaßnahmen vom 5. April im Juli einem Referendum unterwerfen und im kommenden Februar Neuwahlen fürs Parlament ausschreiben, erklärte der Staatschef Dienstag abend in einer Fernsehansprache. Unterdessen bröckelt jedoch die Unterstützung im eigenen Land. Sein Wirtschaftsminister Carlos Bolona und der Superintendent für Banken und Versicherungen, Hugo Garcia Salvatecci, traten zurück. Hunderte von Anhängern von Fujimoris bisherigem ersten Stellvertreter Máximo San Ramón demonstrierten am Dienstag in Lima, als San Ramón vom aufgelösten Parlament als Gegenpräsident vereidigt wurde. Die taz hatte nach Berichten vom Wochenende verfrüht gemeldet, die Zeremonie habe nach San Ramóns Rückkehr nach Peru in der Nacht zum Sonntag stattgefunden. San Ramón legte vor den Abgeordneten seinen Amtseid auf die von Alberto Fujimori suspendierte Verfassung ab. Da das Kongreßgebäude noch immer von Militärs abgeriegelt ist, fand die schlichte Zeremonie am Sitz der Anwaltskammer statt. Draußen stießen mehrere hundert Anhänger der Opposition mit den Sicherheitskräften zusammen, die das Gebäude abriegelten. Auch vor dem Hotel, in dem die Mission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) untergebracht ist, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen rund 200 Anhängern und Gegnern Fujimoris. OAS-Generalsekretär Joao Baena Soares und Uruguays Außenminister Hector Gros Spiel, die einen Dialog zwischen Fujimori und der Opposition anbahnen sollen, führten am Dienstag erste Gespräche mit Politikern, Unternehmern, Richtern und Vertretern von Menschenrechtsvertretern. Auch mit Präsident Fujimori und den Präsidenten der beiden aufgelösten Parlamentskammern kamen sie zusammen. Gros Spiel erklärte, in Kürze würde Soares zusammem mit drei anderen OAS-Außenministern eine weitere Vermittlungsreise nach Peru unternehmen. Sie stehen jedoch vor einem schwierigen Unterfangen, denn ein Dialogangebot der Regierung an „alle politischen und sozialen Kräfte“ ab 1. Mai haben die Politiker ausgeschlagen. Hatte doch der diktatorisch regierende Präsident gleichzeitig allen, die sich seiner Politik widersetzten, „energische Maßnahmen“ angedroht. In seiner Fernsehansprache kündigte Fujimori nun erneut einen „nationalen Dialog“ für den 5. August an. Alle gesellschaftlichen Kräfte sollten dabei über eine Reform der suspendierten Verfassung beraten. Daß diese reformbedürftig ist und die Korruption im Justizapparat nach drastischen Säuberungen ruft, ist unter allen Politikern unbestritten. Kaum jemand will den Status quo ante wiederherstellen. Fujimori kündigte an, die für den 8. November geplanten Kommunalwahlen würden wie gewohnt stattfinden. Dabei solle die Bevölkerung auch zu den Verfassungsänderungen Stellung nehmen, die möglicherweise im August beschlossen werden. Den 28. Februar kommenden Jahres hat die Regierung als Termin für die Neuwahl des Parlaments ausgewiesen. Am 5.April 1993, am Jahrestag des Putschs, sollen die Abgeordneten zur ersten Sitzung zusammentreten. Fujimori zeigte sich „enttäuscht“ über das internationale Mißtrauen gegenüber seinen Maßnahmen, wies aber auf die „breite öffentliche Unterstützung“ hin, die er und die Armee in Peru genössen. Die Popularität des Präsidenten ist bisher in den verarmten Bevölkerungsschichten ungebrochen, die sich nun wirtschaftliche Verbesserungen und eine effizientere Terrorismusbekämpfung erhoffen. Armeechef General Hermozo dementierte Behauptungen San Ramóns, er habe hohe Offiziere auf seiner Seite. San Ramón wird von keiner Regierung der Welt als legitimer Präsident Perus anerkannt, doch auch Fujimoris international isoliertes Regime wird große Schwierigkeiten haben, seine radikal-neoliberalen Wirtschaftspläne im Alleingang zu verwirklichen. Wirtschaftsminister Bolona zog Konsequenzen aus seinem gescheiterten Versuch, mehr als 800 Millionen eingefrorener Kredite loszueisen. Neben Salvatecci trat auch Perus Botschafter in Washington, Roberto McLean, zurück. Zentralbankpräsident Jorge Chavez seinerseits wurde von Fujimori gefeuert, nachdem er mit Gegenpräsident San Ramón konferiert hatte. R. Leonhard/rik
r. leonhard/rik
■ Im Fernsehen versprach Perus Präsident ein Referendum und Neuwahlen für Parlament/ San Ramón vom aufgelösten Parlament als Gegenpräsident vereidigt/ Gewalttätige Demonstrationen in Lima
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Staatshilfe für Lufthansa: Aus Rettungsschirm wird Fallschirm - taz.de
Staatshilfe für Lufthansa: Aus Rettungsschirm wird Fallschirm Die Lufthansa wird mit Milliarden Euro Steuergeldern gerettet. Sein Stimmrecht will der Staat nur in Ausnahmefällen nutzen. Trotz Staatshilfe wird die Lufthansa zahlreiche Maschinen am Boden lassen Foto: Boris Roessler/dpa BERLIN taz | Für Deutschlands große Fluglinie naht die Rettung vor der Corona-bedingten Insolvenz: Lufthansa und Bundesregierung haben die Eckpunkte für ein milliardenschweres Rettungspaket festgelegt. Das Unternehmen bestätigte „fortgeschrittene Gespräche“ über die Hilfen. Der Staat würde demnach neun Milliarden Euro in die Airline investieren und dafür erstmals seit 23 Jahren wieder Anteilseigener werden. Am Mittwochabend hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine baldige Einigung angekündigt. Damit enden acht Wochen des Ringens um den richtigen Weg zur staatlichen Rettung des Großkonzerns. Die Manager des Unternehmens wollten staatlichen Einfluss möglichst vermeiden, damit Politiker nicht künftig in geschäftlichen Fragen mitreden können. Es bleibt ihnen aber derzeit keine andere Wahl, als die Hilfe der Regierung anzunehmen. Bei der Rettung der Lufthansa geht es nicht nur um den Erhalt eines deutschen Prestigeunternehmens, sondern auch um wertvolle Arbeitsplätze und um wichtige Infrastruktur. Das neue Coronavirus hatte einen anderthalb Jahrzehnte langen Boom der Luftfahrt abrupt beendet. Mit den Reisebeschränkungen ist der Flugverkehr im März und April um 80 Prozent eingebrochen, wie der Weltverband der Luftfahrtbranche IATA mitgeteilt hat. Sie erwartet in diesem Jahr einen Rückgang des Ticket-Verkaufs um gut die Hälfte und damit einen Ausfall an Einnahmen in Höhe 300 Milliarden Euro. Krise trifft die Branche weltweit Anders als bei anderen Krisen trifft das alle Anbieter gleichermaßen. IATA-Generaldirektor Alexandre de Juniac erwartet auch nach dem Ende der Pandemie nur eine schleppende Erholung. Das entspricht der Einschätzung der Lufthansa: Auch im kommenden Jahr werden gruppenweit 300 von 760 Flugzeugen am Boden bleiben. Einen Schock mit derartigen Langzeitfolgen verkraftet kein Unternehmen. Das Überleben von ohnehin angeschlagenen Fluglinien steht durchweg in Frage. Norwegian Airlines oder Alitalia waren schon vor der Krise in Geldnot und drohten, dem Weg von Thomas Cook Aviation, Jet Airways oder Adria Airways in die Pleite zu folgen. Andere Namen müssen nun Hilfe akzeptieren, die sie vor Corona nie gewollt hätten: Die Lufthansa, ihr US-Konkurrent Delta Airlines oder ihr asiatischer Partner Singapore Airlines gehörten zu den profitabelsten Vertretern der Branche. Staat gelobt Zurückhaltung Doch immerhin stehen hier die Retter bereit. Wer keine zahlungskräftige Regierung im Rücken hat, rutsche nun unausweichlich in die Zahlungsunfähigkeit – beispielsweise Virgin Australia, deren Schuldenstand auf fast sieben Milliarden Dollar hochgeschnellt ist. Die Kapitalspritze für die Lufthansa kommt vom Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) der Regierung. Dieser kauft dazu Aktien, die das Unternehmen neu ausgibt. Theoretisch gibt das der Regierung die Mitspracherechte, die jeder Großaktionär genießt. Diese können über die Besetzung der Konzernspitze mitentscheiden und strategische Impulse vorgeben. Der Staat gelobt jedoch Zurückhaltung: „Der WSF beabsichtigt, die mit den Aktien verbundenen Stimmrechte insgesamt nur in Ausnahmefällen wie dem Schutz vor einer Übernahme auszuüben“, heißt es in der Mitteilung der Lufthansa. Damit erfüllt sich im Wesentlichen das, was sich das Management gewünscht hat.
Finn Mayer-Kuckuk
Die Lufthansa wird mit Milliarden Euro Steuergeldern gerettet. Sein Stimmrecht will der Staat nur in Ausnahmefällen nutzen.
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Todesfall in Wuppertal nach Festnahme: 25-Jähriger stirbt auf Polizeiwache - taz.de
Todesfall in Wuppertal nach Festnahme: 25-Jähriger stirbt auf Polizeiwache Ein festgenommener Mann bricht auf einem Wuppertaler Revier zusammen und stirbt. Erst nach öffentlichem Druck wird darüber informiert. Erst nach öffentlichem Druck wurde über den Todesfall auf dem Polizeirevier informiert Foto: imago WUPPERTAL/BERLIN taz | Ein Todesfall in einem Polizeigewahrsam beschäftigt Wuppertal. Die Staatsanwaltschaft Wuppertal räumte am Sonntagnachmittag ein, dass bereits am Montag ein 25-Jähriger im örtlichen Polizeigewahrsam verstarb. Zuvor war ein Handyvideo, mutmaßlich von dessen Festnahme, aufgetaucht und in sozialen Medien über dessen Tod spekuliert worden. Laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft und der zu den Todesumständen ermittelnden Polizei Hagen war am Montag um 5.20 Uhr ein Streifenwagen von einem Taxifahrer auf zwei streitende Personen aufmerksam gemacht worden. Diese hatten sich zuvor in seinem Auto befunden und seien Geschwister gewesen. Bei dem Streit sei die Frau auch körperlich verletzt worden. Nach Anhalten der Polizei habe der 25-Jährige versucht, eine Beamtin zu Boden zu reißen. Als dieser darauf festgenommen werden sollte, habe er sich „massiv“ gewehrt und zwei Beamte leicht verletzt, so die Behörde. Mit Unterstützungskräften wurde der Mann schließlich auf das Polizeirevier gebracht. Dort sei ihm, wegen Verdachts von Drogeneinfluss, eine Blutprobe entnommen worden – bei der er plötzlich bewusstlos geworden sei. Eine Reanimation sei erfolgos geblieben. Ermittler sehen Drogen als Todesursache Staatsanwaltschaft und Polizei verwiesen am Sonntag auf die Obduktion, bei der keine Hinweise auf ein „todesursächliches Fremdverschulden oder eine todesursächliche Gewalteinwirkung“ festgestellt wurden. Vielmehr habe wohl „eine internistische Grunderkrankung im Zusammenwirken mit einem Drogenkonsum den Tod herbeigeführt“. Ermittelt werde deshalb nicht gegen die eingesetzten Polizeibeamten, sondern gegen eine unbekannte Person, die dem 25-Jährigen Drogen zur Verfügung gestellt habe. Auf dem Handyvideo der mutmaßlichen Festnahme ist nur die Fixierung einer Person zu erkennen. Eine Frau ruft dabei: „Nein, das ist nicht richtig. Er ist noch ein Kind.“ Die Beamten fordern sie auf, die Kamera auszumachen. Die Linken-Innenexpertin Martina Renner kritisierte, dass die Polizei erst auf öffentlichen Druck und nach Tagen über den Todesfall berichtete. Die Initiative „Death in Custody“ schrieb von „tödlicher Polizeigewalt“.
Konrad Litschko
Ein festgenommener Mann bricht auf einem Wuppertaler Revier zusammen und stirbt. Erst nach öffentlichem Druck wird darüber informiert.
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Politische Krise in Südkorea: Spaltpilz befällt Regierungspartei - taz.de
Politische Krise in Südkorea: Spaltpilz befällt Regierungspartei Nach dem Skandal um Präsidentin Park Geun Hye spaltet sich die konservative Partei. Die Splitterpartei hofft auf den Noch-UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. 29 Abgeordnete der konservativen Regierungspartei Saenuri verlassen das sinkende Schiff Foto: dpa SEOUL taz | Der Zwist in Südkoreas konservativem Lager spiegelt sich nun auch in der Parteienlandschaft wieder: Am Dienstag spalteten sich 29 Abgeordnete von der Regierungspartei Saenuri (Neue Welt) ab und gründeten ein eigenes politisches Bündnis. Das tauften sie zunächst Neue Konservative Partei. Saenuri bleiben damit nur noch 99 Sitze in der 300 Mitglieder großen Nationalversammlung. In den nächsten Wochen werden noch weitere Überläufer erwartet. Zum Spaltpilz wurde die inzwischen wegen eines der größten innenpolitischen Skandale suspendierte Staatspräsidentin Park Geun Hye. Das Verfassungsgericht entscheidet in den nächsten Monaten über die Rechtmäßigkeit ihrer vom Parlament bereits beschlossenen Amtsenthebung. Park wird unter anderem vorgeworfen, einer langjährigen Freundin dabei geholfen zu haben, vermeintliche Spendengelder in Höhe von rund 70 Millionen Dollar von koreanischen Großkonzernen erpresst zu haben. Das Geld soll unter anderem in Briefkastenfirmen nach Deutschland geflossen sein. Abspaltung als Distanzierung Die jetzige Abspaltung ist der Versuch der parteiinternen Anti-Park-Fraktion, sich im Vorfeld erwarteter Neuwahlen glaubhaft von der Präsidentin zu distanzieren. Schließlich liegen Parks Umfragewerte seit Wochen konstant bei nur noch vier Prozent – einem historischen Tiefstwert. Die Strategie der Splitterpartei verkündete die Abgeordnete Yoo Seong Min nur wenige Stunden nach der Abspaltung in einem Interview: „Wir hoffen, dass [UN-]Generalsekretär Ban Ki Moon der Neuen Konservativen Partei beitreten wird. Bei uns kann er sich sicher sein, in einer fairen Vorwahl anzutreten.“ In der Tat deutet vieles darauf, dass der zum Jahreswechsel aus dem Amt scheidende UN-Generalsekretär bei seiner baldigen Rückkehr nach Südkorea offiziell seine Präsidentschaftskandidatur verkünden wird. Das Angebot der Saenuri-Abtrünnigen befreit den 72-Jährigen von einem Dilemma: Die Neue Konservative Partei ermöglicht ihm, seiner konservative Heimat treu zu bleiben, aber zugleich nicht mit der als korrupt wahrgenommenen Saenuri in Verbindung gebracht zu werden. Laut einer Umfrage vom Montag liegt Ban bei der Bevölkerung knapp vor dem vielversprechendsten Kandidaten der linksliberalen Minjoo-Partei.
Fabian Kretschmer
Nach dem Skandal um Präsidentin Park Geun Hye spaltet sich die konservative Partei. Die Splitterpartei hofft auf den Noch-UN-Generalsekretär Ban Ki Moon.
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Präsidentschaftswahlkampf in den USA: Libertärer Rand Paul kandidiert - taz.de
Präsidentschaftswahlkampf in den USA: Libertärer Rand Paul kandidiert Ein Feind der Gewerkschaften und des Politestablishments und ein Freund der Drogenfreigabe: Der Sohn des libertären Stars Ron Paul will US-Präsident werden. Rand Paul grüßt seine Anhänger. Bild: ap LOUISVILLE afp | Der US-Senator Rand Paul hat als zweiter Republikaner seine Bewerbung für die Präsidentschaftskandidatur 2016 verkündet. „Wir sind gekommen, um unser Land zurückzuerobern“, sagte Paul am Dienstag vor Anhängern in Louisville im Bundesstaat Kentucky. Der 52-jährige Augenarzt präsentiert sich als Außenseiter, der es mit der etablierten Politik in der Hauptstadt aufnehmen will. Als Wahlkampfslogan wählte er „Besiegt die Washingtoner Maschine. Entfesselt den amerikanischen Traum“. Der Regierungsapparat und die Schulden hätten sich unter dem republikanischen Ex-Präsidenten George W. Bush verdoppelt und würden sich unter dessen demokratischem Nachfolger Barack Obama verdreifachen, rief Paul der Menge zu. „Die Washingtoner Maschine, die unsere Freiheiten verschlingt und in jede Ecke unseres Lebens eindringt, muss gestoppt werden.“ Auf seiner Internetseite schrieb der Präsidentschaftsbewerber, er wolle die USA „zu den Prinzipien von Freiheit und begrenztem Staat“ zurückführen. Paul steht dem libertären Flügel der republikanischen Partei nahe, der den Staat auf das Allernötigste reduzieren will. Der Senator lehnt staatliche Einmischungen in die Wirtschaft strikt ab, zugleich vertritt er eher liberale Haltungen in der Drogenpolitik und beim Schutz der Bürgerrechte. Außerdem ist die politische Agenda des Senators von schroffer Gewerkschaftsfeindlichkeit geprägt. Das Engagement des US-Militärs in der Welt sieht er skeptisch. Liebling der Tea-Party Zuletzt hatte sich Paul in der Außen- und Sicherheitspolitik der republikanischen Parteilinie etwas angenähert. In seiner Rede am Dienstag machte er deutlich, dass er den Kampf gegen den „radikalen Islam“ fortsetzen wolle. „Ich würde alles tun, um Amerika gegen jene zu verteidigen, die die Menschheit hassen“, sagte er. Paul hatte im November 2010 mit Unterstützung der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung einen Senatssitz im Bundesstaat Kentucky errungen. Sein Vater Ron Paul hatte sich 2008 und 2012 vergeblich um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner beworben, nachdem er 1988 bereits erfolglos für die Libertäre Partei angetreten war. Mit Pauls Erklärung nimmt das Rennen um die republikanische Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im November 2016 weiter Fahrt auf: Ende März hatte bereits der christlich-konservative Senator Ted Cruz aus Texas seine Ambitionen verkündet. Sehr wahrscheinlich ist außerdem die Bewerbung des früheren Gouverneurs von Florida, Jeb Bush. Der Sohn von Ex-Präsident George H.W. Bush und Bruder von Ex-Präsident George W. Bush gilt als Wunschkandidat des republikanischen Establishments. Obama darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten. Als große Favoritin für die Kandidatur bei seinen Demokraten gilt die frühere Außenministerin und ehemalige First Lady Hillary Clinton. Ihre offizielle Bewerbung wird noch in diesem Monat erwartet. Vergangene Woche hatten US-Medien berichtet, dass Clinton Büroräume im New Yorker Stadtteil Brooklyn als Wahlkampfzentrale angemietet habe. Ende November hatte der frühere Senator Jim Webb als erster Demokrat seine Präsidentschaftsbewerbung erklärt.
taz. die tageszeitung
Ein Feind der Gewerkschaften und des Politestablishments und ein Freund der Drogenfreigabe: Der Sohn des libertären Stars Ron Paul will US-Präsident werden.
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DAS ENTSCHEIDENDE DETAIL: Was bleibt, sind Säcke - taz.de
DAS ENTSCHEIDENDE DETAIL: Was bleibt, sind Säcke ■ Das Hochwasser geht langsam zurück. Was bleibt, sind Schäden in Milliardenhöhe – und riesige Berge an Sandsäcken. Wohin damit? Für die Entsorgung der Sandsäcke sind die Kommunen zuständig. Sand wird, wie andere Baustoffe auch, normalerweise auf einfache Deponien gebracht, wo nur unbelasteter Bauschutt und Boden abgeladen wird. Sand aus den Säcken, die bei der Flut zum Einsatz kamen, muss aber besonders gehandhabt werden. Der Sand aus den Sandsäcken, die keinen Kontakt zum Wasser hatten, kann als Material zum Straßenbau wiederverwendet werden. Die Sandsäcke aus überfluteten Gebieten können hingegen durch Öl und Chemikalien verschmutzt sein. Um den Verschmutzungsgrad des Sandes zu bestimmen, müssen die Sandsäcke von den Entsorgungsunternehmen einer organoleptischen Kontrolle unterzogen werden – das heißt eine Prüfung von Geruch und Farbe. Bei Anzeichen von Öl oder Chemikalien sollen die Sandsäcke auf gesicherte Mülldeponien gebracht werden. Doch für die Geruchsproben gibt es keine objektiven Maßstäbe – die Prüfer riechen unterschiedlich gut, und die Ergebnisse lassen sich nicht vergleichen. „Die einfache organoleptischen Kontrolle ist der unüberschaubaren Menge der verwendeten Sandsäcke geschuldet“, sagt Alfons Baier, Hydrogeologe der Uni Erlangen/Nürnberg. Anders gesagt: Weil es so viele Sandsäcke gibt, muss es schnell gehen. JULIA LAUTER
JULIA LAUTER
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Mit der taz zum Sommerdom - taz.de
Mit der taz zum Sommerdom Riesige Räder, wilde Wasser und einen Salto Mortale – all das bietet der Sommerdom auf dem Heiligengeistfeld, der gestern von Bausenator Eugen Wagner (SPD) eröffnet wurde. Wer sich in den kommenden vier Wochen in das Spektakel der insgesamt 44 Erwachsenen- und 19 Kinder-Karussells stürzen und seinem Magen ein umwälzendes Vergnügen be-reiten möchte, der möge noch ein wenig weiterlesen. Denn die taz verschenkt fünf Umschläge mit Karussell-Freikarten, gültig für je zwei Erwachsene und zwei Kinder. Die ersten fünf AnruferInnen, die uns am Montag, den 28. Juli, zwischen 11.30 Uhr und 12 Uhr unter sab/Foto: Steffen Kugler
sab
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Feuertod in der JVA Kleve: Gedächtnislücken der Justiz - taz.de
Feuertod in der JVA Kleve: Gedächtnislücken der Justiz Eine Staatsanwältin wusste schon vor dem Tod von Amad A., dass es sich um eine Verwechslung handelte. Nun könne sie sich an nichts erinnern. In der JVA Kleve war Amad A. unschuldig eingesperrt Foto: Markus van Offern/dpa DÜSSELDORF taz | „Ich kann mich nicht erinnern.“ Keinen Satz sagt die Braunschweiger Staatsanwältin Silke Schaper vor dem Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags, der den Tod des ohne Rechtsgrundlage inhaftierten und in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Kleve verbrannten Geflüchteten Amad A. aufklären soll, am Dienstagnachmittag öfter. Dabei war Ende Mai eine von der Juristin unterzeichnete brisante Verfügung aufgetaucht, die klarmacht, dass Schaper schon Wochen vor dem Zellenbrand wusste, dass der Kurde aus dem syrischen Aleppo mit einem dunkelhäutigen Mann aus Mali verwechselt wurde. Amad A. sei „nicht identisch“ mit der Person Amed G., notierte die Staatsanwältin mit Datum vom 27. Juli 2018, also mehr als zwei Monate vor dem Tod des Geflüchteten. Die Worte „nicht identisch“ hat die heute 50-Jährige unterstrichen. Sie habe deshalb auch mit dem Polizisten Frank G. von der Polizei Kleve telefoniert, hielt Schaper schriftlich fest. Vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss machte die Juristin trotzdem massive Erinnerungslücken geltend. Der Fall sei ihr erst wieder ins Gedächtnis gerückt, nachdem sie ihre eigene Verfügung noch einmal gelesen habe. Vom Tod des Kurden, der aus Verzweiflung über seine unrechtmäßige Inhaftierung am 17. September 2018 ein Feuer in seiner Zelle gelegt haben soll, habe sie erst „vor zwei Wochen durch eine Presseanfrage“ erfahren. Amad A. war bei dem Brand so schwer verletzt worden, dass er zwölf Tage später nach einer Lungentransplantation starb. „Ich kümmere mich um wesentliche Fälle. Das war für mich kein wesentlicher Fall“, erklärte die niedersächsische Staatsanwältin in Düsseldorf. Sie habe den Malier Amed G. wegen mehrfachen Diebstahls, etwa von „Turnschuhen bei Karstadt“, suchen lassen. Im Nachhinein habe sie rekonstruiert, dass sie wohl von einer „geografisch interessierten Mitarbeiterin“ ihrer Geschäftsstelle darauf hingewiesen worden sei, dass der Geburtsort von Amad A. – Aleppo – nicht in Mali liege. Beschwerde über Anreise An das laut ihrer eigenen Verfügung erfolgte Telefonat mit dem Klever Polizisten G., der den Geflüchteten in Haft hielt und gegen den heute wegen Freiheitsberaubung ermittelt wird, könne sie sich aber „nicht erinnern“, sagte Schaper am Dienstag und lachte. „Ihr Lachen spricht Bände“, meinte daraufhin der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, der Christdemokrat Jörg Geerlings. Warum ihr klar gewesen sei, dass der in Kleve inhaftierte Amad A. nicht die „sehr dunkle Hautfarbe“ des von ihr gesuchten Maliers Amed G. hatte, wisse sie leider auch nicht mehr, erklärte die Braunschweigerin – und beschwerte sich, dass sie „für etwas, an das man sich nicht erinnern kann“, sieben Stunden Anreise- und Arbeitszeit aufwenden müsse. Vom CDU-Abgeordneten Oliver Kehrl darauf hingewiesen, dass es um den Tod eines Menschen gehe, fing sich Schaper aber wieder – und erklärte, „in 20 Jahren“ nicht einen ähnlichen Fall gehabt zu haben. Sie habe deshalb auch versucht, Kontakt zu der Staatsanwaltschaft Hamburg aufzunehmen, die den Malier Amed G. ebenfalls suchte. „Aber von dort ist nichts gekommen“, so die Juristin. Das sei aber „durchaus üblich“. Zumindest „widersprüchlich“ seien die Aussagen der Juristin, sagte der Obmann der Grünen im Untersuchungsausschuss, Stefan Engstfeld, nach der Sitzung. „Einerseits soll es sich um ein unwesentliches Verfahren gehandelt haben“, so der Grüne zur taz. „Andererseits telefoniert die Staatsanwältin mit der Polizei eines anderen Bundeslands, wendet sich auch an Hamburg.“ Schmallippiger Polizist Engstfeld hofft nun, dass niedersächsische Informatiker klären können, wann genau am 27. Juli 2018 die Staatsanwältin mit dem Klever Polizisten G. telefoniert hat. Denn der hat genau an diesem Tag noch einmal in Polizeidatenbanken zum Fall Amad A. recherchiert – und nach Aussagen von LKA-Beamten soll auch daraus innerhalb weniger Minuten erkennbar gewesen sein, dass der Kurde und der Malier nicht identisch sein konnten. Die Staatsanwaltschaft Kleve geht deshalb erneut dem Verdacht der Freiheitsberaubung nach. Erste Untersuchungen waren eingestellt worden, worauf auch die in Deutschland lebenden Eltern vom Amad. A. Beschwerde eingelegt hatten. Entsprechend schmallippig gab sich im Landtag der unter Verdacht stehende Kriminalkommissar G. „Ich mache von meinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch“, war der einzige wesentliche Satz, den er außer Angaben zu seiner Person sagte. Dennoch sei durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses schon heute deutlich, dass die Verwechselung des Kurden Amad A. mit dem Malier Amed G. den Behörden Wochen vor dem tödlichen Brand bekannt war, sagte der Sozialdemokrat Sven Wolf nach der Sitzung zur taz. „Wenn das einer geografisch interessierten Mitarbeiterin einer Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft Braunschweig aufgefallen ist, muss das auch den Beamten in NRW aufgefallen sein“, so der SPD-Fraktionsvize. Dass überhaupt wieder wegen Freiheitsberaubung ermittelt werde, sei „eine große Leistung des Untersuchungsausschusses“.
Andreas Wyputta
Eine Staatsanwältin wusste schon vor dem Tod von Amad A., dass es sich um eine Verwechslung handelte. Nun könne sie sich an nichts erinnern.
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Biografie des Bruders von Che Guevara: Erinnerungen an Ernesto - taz.de
Biografie des Bruders von Che Guevara: Erinnerungen an Ernesto „Ich habe mich nie als Opfer gefühlt“: Juan Martín Guevara im Gespräch über Kuba, seine Eltern und den berühmten Bruder Che. 1959 in Havanna: Juan Martín Guevara mit seinem Bruder Ernesto und ihrer Mutter Celia de la Serna Foto: Oficina de Asuntos Históricos, Havanna taz.am wochenende: Herr Guevara, Sie haben die Erinnerungen an ihren ältesten Bruder Ernesto mit Unterstützung der französischen Journalistin Armelle Vincent festgehalten. Welchen Anteil hatte sie an dem nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch „Mein Bruder Che“? Juan Martín Guevara: Armelle hat mich bereits vor vielen Jahren für die französische Zeitschrift L’Amateur de Cigare interviewt. Damals war ich der offizielle Vertreter für kubanische Havanna-Zigarren in Argentinien. Aber erst seit 2009 habe ich über meinen Bruder zu sprechen begonnen. Danach ist sie nochmals auf mich zugekommen. Sie hat meine Erinnerungen aufgenommen, eine Architektur für die Erzählung angelegt und das Buch auf Französisch geschrieben. Mein Ziel war es, mit dem Buch Che zu vermenschlichen. Deshalb ist es mir auch wichtig, von der Familie zu sprechen, den Menschen zu zeigen, der Vater und Mutter hatte. Auf den letzten Seiten erwähnen Sie, dass Ihre Schwester Celia, die nach Ches Tod nicht mehr über ihren berühmten Bruder öffentlich sprach, von dem Buchprojekt nicht wüsste. Wie hat Sie nun auf die Veröffentlichung reagiert? Sie weiß nichts davon. Sprechen Sie nicht miteinander? Doch, aber von anderen Dingen. Sie wird es aber bald mitbekommen, wenn das Buch auch in Buenos Aires erscheint. Noch ist es in Argentinien nicht erhältlich. im Interview:Juan Martín GuevaraZur Person: 1943 geboren, lebt in Buenos Aires. Er ist der jüngste der vier Geschwister von Ernesto Che Guevara. In den 1970er Jahren war er Mitglied der kommunistischen PRT. Acht Jahre, bis 1983, verbrachte er während der Militärdiktatur im Gefängnis. Nach seiner Freilassung arbeitete er als Vertreter für kubanische Bücher und Zigarren in Argentinien. Zum Buch: Juan Martín Guevara, Armelle Vincent: „Mein Bruder Che“. Aus dem Französischen von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017, 352 Seiten, gebunden, 22 Euro Anhand Ihrer Aufzeichnungen erfährt man viele Details aus der Kindheit und Jugend Ihres Bruders, der Revolutions­ikone. Man bekommt aber auch das facettenreiche Bild einer eher ungewöhnlichen Familie mit unangepassten Eltern vermittelt. Wie haben Ihrer Meinung nach Vater und Mutter die Persönlichkeit und den späteren Lebensweg Ernestos beeinflusst? In unserer Familie war die Freiheit das Wichtigste im Leben, aber auch die Lektüre, das Wissen und die Auseinandersetzung mit Dingen. Die Eltern waren sehr unterschiedlich. Mein Vater hatte viel Energie, war immer am Träumen, probierte hier und dort etwas Neues aus, brachte aber nie etwas zu Ende. Meine Mutter war ebenfalls vital und unangepasst, aber etwas disziplinierter. Aus diesen für den damaligen Mittelstand nicht normalen Verhältnissen stach Ernesto bald besonders hervor. Bei uns war man gegen die Kirche, gegen das Militär, gegen die Aristokratie. Man war immer anti. Über die Beziehung zwischen Ihrer Mutter, Celia de la Serna, und ihrem erstgeborenen Sohn wurde viel geschrieben. Über dessen Beziehung zum Vater Ernesto Guevara Lynch weiß man relativ wenig. Sie beschreiben das Verhältnis der beiden als schwierig. Warum? Auch im umgekehrten Sinn hat mein Vater Ernesto beeinflusst. Er war jemand ohne Struktur, reiste quer durchs Land und hinterließ hier und dort Kinder. Er gehörte nirgendwohin. Sicher hat er uns Kinder beeinflusst, aber er war widersprüchlich und ein Opportunist. Konservativ war er nicht. Es war aber wohl eher meine Mutter, die Ernesto prägte. Sie war gradliniger, konsequenter. Gemeinsam haben sie ihn aber dazu gebracht, mit seinem chronischen Asthma zurechtzukommen. Ihr Vater unterstützte spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, war Antikommunist und Antiperonist. Nach der kubanischen Revolution wandelte er sich zu einem überzeugten Castristen. So war er. Er war kein Lügner, aber er manipulierte die Realität, war sehr beweglich, um in verschiedenen Momenten und Situationen zurechtzukommen. Hat diese Eigenschaft Ihres Vaters Ernesto verärgert? Schließlich war er ein Mann mit Prinzipien. Einerseits sicher. Aber mein Vater war auch ein lebendiger Typ, tauchte mal hier, mal dort auf. Diese Fähigkeit, überall bestehen zu können – sei es in Rio, São Paulo oder Caracas – die hat er an uns weitergegeben. Und was hielt Ihr Bruder damals von General Juan Perón? In seiner Jugend war er Mitglied in einer antiperonistischen Organisation gewesen. Aber der Peronismus in Argentinien war eine Massenbewegung, in der sich linke wie rechte Kräfte sammelten. Che hatte Kontakt zum linken Flügel der Peronisten. Umgekehrt unterhielt Perón Beziehungen zu Leuten wie Franco, Stroessner und Somoza – nicht aber zu Fidel Castro. Obwohl Sie das jüngste von fünf Geschwistern waren, fühlten Sie sich früh den politischen Idealen ihres fünfzehn Jahre älteren Bruders verbunden. Im Januar 1959, unmittelbar nach dem Triumph der kubanischen Revolution, reisten Sie als Fünfzehnjähriger nach Havanna, um Ihren Bruder zu besuchen. War das für Sie ein Schlüsselmoment? Ich war schon vor meiner Reise nach Kuba als Schüler politisch interessiert gewesen. Aber in Kuba erlebte ich etwas sehr Direktes. Drei Monate war ich dort mit den Compañeros zusammen. Das waren junge Leute, Siebzehnjährige, die schon Befehlshaber der Armee waren. Einige von ihnen treffe ich noch heute, wenn ich auf Kuba bin. Ich lernte das revolutionäre Denken durch die kubanische Revolution selbst kennen und nicht so sehr durch das, was Che sagte. Nach dem Aufenthalt waren meine Mutter und ich in unterschiedlichen Organisationen politisch aktiv – sie als Unterstützerin Kubas, ich in einer sozialistischen Gruppe. Auch nach der Ermordung Che Guevaras in Bolivien 1967 blieb das Leben Ihrer Familie eng mit Kuba verbunden. Welche Rolle spielt das Land für die Guevaras? taz.am wochenendeVon ihrem Frühjahrshoch ist die SPD unter Martin Schulz schnell wieder abgestürzt. Alles schien möglich. Und nun? Eine Vorwahlanalyse lesen Sie in der taz.am wochenende vom 20./21. Mai. Außerdem: Der FC Bayern München hat jetzt einen eigenen TV-Sender und schottet sich gegenüber Journalisten ab. Und: Inga Humpe, die Königin der Club-Kultur, im Gespräch über Nichtwähler und freie Liebe. Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Sehen Sie: Mein Vater und Maria, meine ältere Schwester, starben in Kuba. Ernesto ist dort begraben. Meine Nichte und Neffen, meine Kinder und Enkel leben in Kuba. Das ist nicht die kubanische Revolution, das ist Kuba. Und ich war viele Jahre offizieller Vertreter für kubanische Bücher und Zigarren. Ich kenne das Land in- und auswendig und verstehe die dortigen Prozesse. Warum sind Sie gegenüber Fidel Castro so loyal? Weil auch Fidel loyal war. Er war ein Anführer, kämpfte an vorderster Front, nicht nur in der Guerilla. Klar, Fidel war Politiker, trat als Staatsoberhaupt auf, aber im persönlichen Umgang war er ein Typ mit Prinzipien. Jene, die ihn kritisieren und ihn als Verräter bezeichnen, tun dies, weil sie seine und die Politik Kubas ablehnen. Sie selbst waren in den 1970er Jahren in Argentinien in der kommunistischen PRT, dem Partido Revolucionario de los Trabajadores, aktiv. Sie zahlten einen hohen Preis: 1975 wurden Sie in Córdoba verhaftet und blieben auch während der Militärdiktatur bis 1983 im Gefängnis. Haben Sie nach der Freilassung nie daran gedacht, nach Kuba zu emigrieren? Zunächst einmal: Ich habe mich niemals als Opfer gefühlt. Ich war an der Front, und wir haben verloren. Entweder waren wir tot oder gefangen. Von den nach dem Militärputsch Verschwundenen, Gefolterten oder ins Meer Geworfenen haben wir erst später erfahren. Wir haben lange gedacht, dass die Dinge sich draußen noch ändern könnten. Als das nicht der Fall war, haben wir zum eigenen Schutz nach außen dicht gemacht. Schwer wog nach der Freilassung die Niederlage der Linken und der Montoneros. Die Folge war eine Art ideologische Diaspora. Ich persönlich dachte, kurzfristig bin ich zwar pessimistisch, aber langfristig bleibe ich Optimist. Diesen Optimismus habe ich mir beibehalten. Auch wenn der kubanische Botschafter mir nach meiner Freilassung vorschlug, nach Kuba zu gehen, wollte ich doch in Argentinien bleiben. Ich wollte wissen, wie es mit diesem Land, das wir hatten verändern wollen, nun weitergehen würde. Schließlich ist es mein Land. Juan Martín Guevara, Armelle Vincent: „Mein Bruder Che“. Aus dem Französischen von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017, 352 Seiten, gebunden, 22 Euro
Eva-Christina Meier
„Ich habe mich nie als Opfer gefühlt“: Juan Martín Guevara im Gespräch über Kuba, seine Eltern und den berühmten Bruder Che.
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Kommentar Computervirus: Das Geschäft mit der Angst - taz.de
Kommentar Computervirus: Das Geschäft mit der Angst Ein Wurm, ein Virus, der Teufel! Cyberwaffen, Cyberwar, Cyberangriffe – ist das Ende also nahe? Die Anwort ist so einfach, dass sie niemand glauben wird: Nein. Die russische Firma Kaspersky Labs behauptet gegenüber der BBC, es gebe eine neue Schadsoftware, die schon seit zwei Jahren ihr Unwesen treibt. Die sei noch böser als der Virus Stuxnet, viel mehr noch – das Böseste, was es bisher gab. „Flame“ wird der neue Schädling von Fachleuten genannt. Wie der Teufel hat „Flame“ auch anderen Namen. Er macht nichts kaputt, sondern sammelt nur Daten, wie bisher bekannt, offenbar von befallenen Rechner im Nahen Osten – also nicht weltweit wie Facebook. Eine Firma, die Anti-Virenprogramme programmiert und verkauft, entdeckt einen neuen Virus? Ach. Wer hätte das gedacht? Bevor man jetzt die üblichen Verdächtigen aufzählt (Staat im Nahen Osten mit fünf Buchstaben) oder die sattsam bekannten Verschwörungstheorien bemüht (SIE sind schon überall drin!): Wir haben keine unabhängigen Quellen, wir wissen nicht, wer die Malware programmiert hat – obwohl ein Minister eines Staates am Mittelmeer geheimnisvoll herumraunt –, wie wissen nicht wozu, wir wissen fast gar nichts. Aber wir trauen es ihnen (bitte selbst ausfüllen) zu. Wir wissen nur, dass ein Programm, das technische Prozesse in Großrechnern heimlich manipulieren kann, viel zu aufwändig herzustellen ist, als dass Scriptkiddies oder andere virtuelle Hooligans damit Schaden anrichten könnten. Um Software wie Stuxxnet und Flame zu programmieren, benötigt man viele IT-Fachleute und viel Zeit – fast so viel wie für ein einfaches Betriebssystem. Und wie kommt die Spionage-Software auf einen Rechner? Haben die keine IT-Abteilung im Nahen Osten oder sind das auch nur Pappnasen wie oft bei deutschen Unternehmen, deren Webseiten andauern gehackt werden? Fragen über Fragen. Stellt aber keiner. Kaspersky betreibt professionell das Geschäft mit der Angst, wie alle Verkäufer von Anti-Viren-Software und anderem Regenzauber. Kaspersky braucht den dümmsten anzunehmenden Nutzer, wie der Pfarrer das arme Sünderlein braucht. Cyberwaffen, Cyberwar, Cyberangriffe – ist das Ende also nahe? Die Anwort ist so einfach, dass sie niemand glauben wird: Nein. Es gibt nur eine finstere Bedrohung aus dem berüchtigten Cyberspace. Die hat zwei Ohren, sitzt vor dem Monitor und kümmert sich nicht um Sicherheit, weil wir das schon immer so gemacht haben, weil das unbequem und kompliziert sei, weil Websites dann so komisch aussehen, wenn man geschützt surft, weil E-Mails nicht mehr hübsch wirken und man das Logo von Werbeagenturen nicht mehr sehen kann, wenn man auf Hochsicherheits- und Anti-Phishing-Modus wechselt, und weil der Rechner immer nervig fragt, ob man dieses oder jenes Programm (I_love_you.exe) wirklich installieren möchte und man ganz sicher sei? Die Viren werden immer schlimmer. Nichtes Neues also aus dem Cyberspace.
Burkhard Schröder
Ein Wurm, ein Virus, der Teufel! Cyberwaffen, Cyberwar, Cyberangriffe – ist das Ende also nahe? Die Anwort ist so einfach, dass sie niemand glauben wird: Nein.
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Debatte Autoritärer Nationalismus: Führertypen in der Trutzburg - taz.de
Debatte Autoritärer Nationalismus: Führertypen in der Trutzburg Orbán, Erdoğan & Co: Der globale Erfolg des autoritären Nationalismus ist vor allem eine Reaktion auf einen aggressiven Kapitalismus. Die Ansage der autoritären Nationalisten ist nicht, die kapitalistische Globalisierung zu stoppen. Sie wollen die Globalisierungsgewinne nur nicht mehr teilen Illustration: Eléonore Roedel Seit geraumer Zeit raufen sich Gelehrte die Haare, um eine Erklärung für den vermeintlich weltweiten Siegeszug autoritärer Herrschaften zu finden. Sie beschränken sich dabei häufig auf den Rechtspopulismus als Erklärung. Damit können sie die Vielfalt und die Zeitgleichheit rigoros bevormundender Systeme jedoch kaum begreiflich machen. Putins Russland, Xis China, Trumps USA, Orbáns Ungarn, Modris Indien und Erdoğans Türkei – um nur einige zu nennen – sind mit dem Deutungsmuster „globalisierter Rechtspopulismus“ jedenfalls nicht hinreichend zu verstehen. Eine umfassendere Interpretation beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen radikalökonomischer Globalisierung und autoritärem Nationalismus. Demnach schafft die spezifische Form, in der sich in den einzelnen Staaten die Globalisierung vollzogen hat, einen idealen Nährboden für den Erfolg „charismatischer“ Führertypen. Diese inszenieren eine Wehrhaftigkeit gegenüber „anstürmenden Gefahren“ und stimmen mit ihren Anhängern darin überein, dass nur ein starker Mann die Trutzburg schützen kann. Um eine solche Entwicklung besser verstehen zu können, muss man die (nach wie vor dominante) Idee der nationalen Souveränität näher betrachten: Der Nationalstaat lebt von der Vorstellung, politische Angelegenheiten – auch im wirtschaftlichen Bereich – selbstbe­stimmt zu gestalten. Seit Langem wird diese Idee jedoch ausgehöhlt. Klimawandel und Migration sind keine rein ­nationalstaatlich lösbaren Angelegenheiten, und technische Globalisierung schert sich nicht um nationale Souveränität. Smartphones plus Social Media haben noch alle nationalen Grenzen überschritten, und die autonom fahrenden Autos werden folgen. Genauso wird die Digitalisierung zügig alle Volkswirtschaften durchdringen, ganz egal, ob in Chile oder in Südafrika, in Portugal oder in Vietnam. Der Nationalstaat mit seinem Souveränitätsanspruch bemüht sich zwar darum, auch hierfür Regeln zu generieren, doch häufig sind diese von bescheidener Wirkung und können die von dem Ökonomen Joseph Schumpeter treffend als Grundprinzip des Kapitalismus beschriebene „schöpferische Zerstörung“ nicht aufhalten. Betroffene Menschen fühlen sich, bei allen auch positiven Änderungen, der kalten Zugluft dieser ökonomischen Globalisierung oft schutzlos ausgeliefert. Die extreme Beschleunigung der technologischen Entwicklung, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz und der Digitalisierung, versetzt viele in Schrecken und führt zu Ver­lust­ängsten und einer existenziellen Verunsicherung. Wo werde ich morgen stehen, wo meine Kinder, wo die Gesellschaft? Die Unplanbarkeit der Zukunft hat sich in ihren Augen ins Extreme gesteigert und wird als ungebremste Fahrt in einen dunklen Tunnel wahrgenommen. Arbeitsplatz- und Standortabbau Doch nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderung verängstigt die Menschen, sondern auch die aggressive Form wirtschaftlicher Globalisierung. Globale Konzerne bekämpfen sich zusehends bis aufs Messer, um einem Konkurrenten Paroli zu bieten. Sie scheuen nicht davor zurück, die Produktion dorthin zu verlagern, wo sie die kostengünstigsten Strukturen vorfinden, und ziehen wie moderne Nomaden heute von Bangladesch nach Äthiopien und morgen nach Kuba. Die Globalisierung hat seit den 1980er Jahren ein alles beherrschendes und vielfach beschriebenes „Hemd“ an: das des ungezügelten Kapitalismus. Diese kapitalistische Landnahme hat unterschiedliche Formen, im Westen etwa ist es der Neoliberalismus, in China hat sich die paradoxe Form des kommunistischen, besser gesagt: des von einer Partei gelenkten Staatskapitalismus durchgesetzt. Gerade durch diesen Wettstreit verschiedener kapitalistischer Varianten ist die Welt jedoch zu einem Ort geworden, in dem immer rücksichtsloser um Marktanteile gerungen wird. Eine große Anzahl von Menschen erlebt diese Auseinandersetzungen in den wirtschaftlichen Kampfzonen am eigenen Leib. Wenn ein internationaler Konzern Arbeitsplätze an einem Standort abbaut, um an anderer Stelle zu für ihn günstigeren Konditionen neue Produktionsstätten hochzuziehen, ist die viel beschworene „soziale Verantwortung“ oft nur Teil von Sonntagsreden. Und man unterschätze nicht, welche disziplinierende Wirkung die Schließung eines größeren Werks auf Hunderttausende von Arbeitnehmern hat – nicht nur auf die Blue Collar, sondern auch auf die White Collar worker, also auf den Großteil der Mittelschichten. Denn diese wissen damit: Der Nächste kann ich sein. Das Beispiel Siemens in Görlitz findet sich sozusagen in allen Ländern. Der jeweilige Nationalstaat ist diesem „globalen Spiel“ nahezu machtlos ausgeliefert. Es ist für jedermann erkennbar, welchen „allgemeinen Verlust der ökonomischen Souveränität“ Nationalstaaten zu erdulden haben, so der indische Ethnologe und Globalisierungsforscher Arjun Appadurai. Die Übernahme eines 10-prozentigen Anteils an Daimler durch einen chinesischen Milliardär illustriert diese Entwicklung als Pars pro Toto. Der alte Chauvinismus Und genau in diesen Zeiten, in denen eine weltumspannende, als kriegerisch zu betrachtende Rivalität ausgetragen wird und alle Gesellschaften deswegen unter Druck stehen – nicht zuletzt deshalb, weil sich Ungleichheiten erheblich verschärfen –, in diesen Zeiten treten zunehmend „Anführer“ auf die politische Bühne. Sie behaupten, dass auch ökonomische nationale Souveränität wieder gestärkt werden kann. Ihre Ansage ist nicht, die kapitalistische Globalisierung zu stoppen, ihre Beteuerung ist vielmehr, die daraus resultierende Dynamik auf nationaler Ebene steuern und Globalisierungsgewinne nicht mehr teilen zu wollen. Das Wasser der Globalisierung soll sozusagen über die Mühlen des Protektionismus ins eigene Gefolgschaftslager fließen. Trump liefert dafür gerade die besten Beispiele. Was dabei in modernen Gewändern daherkommt, ist jedoch der alte nationalistische Chauvinismus. Angeführt in aller Regel von einer narzisstischen Persönlichkeit, deutbar als Verkörperung einer In-Group, wird eine autoritäre Politik verfolgt, bei der „Demokratie“ zum Lippenbekenntnis verkommt und instrumentalisiert wird. Das Versprechen lautet, dass von nun an die Privilegien und der (relative) Wohlstand der sich als etabliert Wahrnehmenden – der „Ureinwohner“, der „wirklichen Gläubigen“ oder des „wahren Volks“ – wiedergewonnen beziehungsweise geschützt werden. Der französische Publizist ­Alexis de Tocqueville würde hier von der klassischen Tyrannei der Mehrheit sprechen. Doch darf man sich diese Gefolgschaft nicht als passives Objekt, geblendet und verführt von einem Rattenfänger, vorstellen. Was wir in aller Regel sehen, ist eine Übereinstimmung zwischen Angeführten und Anführer. Er ist es, der die als berechtigt wahrgenommene Bevorzugung der Anhänger aufrechterhält oder wiederherstellt. Getreu der Devise „Halte mir die Welt vom Leibe!“ haben sie kein Problem mit einer radikalökonomischen Globalisierung, solange sie ihnen von Nutzen ist und negative Konsequenzen in andere Länder ausgelagert werden. Leidtragende eines „Raubtierkapitalismus“ sind also simultan durchaus oft auch Leidverursachende, die ihre Sonderrechte konservieren wollen. Die Zuweisung von Opfer- und Täterrollen entbehrt daher häufig der Eindeutigkeit. Ein weiteres Versprechen ist die „Rückgabe des gerechtfertigten Stolzes“ und die Betonung der Großartigkeit der jeweiligen Nation. Niemand solle es mehr wagen, einen Russen, Chinesen, Türken, Polen etc. auch nur scheel anzuschauen. So atavistisch und archaisch dieses aggressive Stammesdenken – inklusive ausgeprägten Führerkults – erscheinen mag, so modern und wirkmächtig ist diese Strategie nach wie vor. Äußere und innere Feinde Des Weiteren werden zwei Arten von Feinden bestimmt: Zu inneren Feinden werden in aller Regel die erklärt, die sich nicht einfügen in die Gleichschaltungspolitiken, wie wir sie in all diesen nationalistischen Harte-Hand-Regimen gegenwärtig beobachten können. Dazu genügt es bereits, die Politik des „Gebieters“ zu kritisieren. Entsprechend ausgebaut sind dort die oft sehr modernen Überwachungs- und Kontrollsysteme. Das gilt in unterschiedlichen Graden für China und Russland ebenso wie für Ungarn oder die Türkei, durchaus aber auch für die USA. Ein äußerer Feind ist den majestätisch Auftretenden immer hilfreich, weil er die Binnengruppe der Gefolgsleute zusammenschweißt. Das können die „vergewaltigenden Mexikaner“ genauso sein wie Kurden in Syrien. Eine Kriegsdrohung oder die tatsächliche Anwendung militärischer Gewalt ist eine probate Möglichkeit der neuen rigiden Machtherrscher, zu beweisen, dass sie nationale Souveränität aufrechterhalten können. Dass damit die Kriegsgefahr, global gesprochen, deutlich ansteigt, wird hierbei billigend in Kauf ge­nommen. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Als Fazit lässt sich feststellen, dass die beschriebenen Muster auch bei vielen Analysen des Rechtspopulismus auffindbar sind, dass sie aber in einen breiteren Erzählrahmen integriert gehören: den eines nationalistischen Hardlinertums in kapitalistischen Gewändern. Der nun auf Lebenszeit zum Autokraten gemachte Xi Jinping etwa lässt sich kaum als Rechtspopulist deuten, als ein autoritärer kapitalistischer Nationalist jedoch allemal. Die Prognose des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama von 1989, liberale Demokratien und kapitalistisch organisierten Wirtschaftssysteme hätten sich als Paar dauerhaft durchgesetzt, hat sich als falsch erwiesen. Doch auch die Symbiose zwischen autoritärem Nationalismus und verschiedenen Spielarten des Kapitalismus wird nicht das Ende der Geschichte sein. Eine solche Regression lässt sich jedoch nur verhindern, wenn wir, die Anhänger liberaler Demokratien und offener Gesellschaften, diese mit aller Vehemenz verteidigen.
Helmut Däuble
Orbán, Erdoğan & Co: Der globale Erfolg des autoritären Nationalismus ist vor allem eine Reaktion auf einen aggressiven Kapitalismus.
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„Volle Breitseite“ für Kisch & Co - taz.de
„Volle Breitseite“ für Kisch & Co Eine Ausstellung in der ngbk in Kreuzberg zeigt noch bis Mittwoch Plakate von SchülerInnen, AktivistInnen und KünstlerInnen, die sich solidarisch mit dem räumungsbedrohten Buchladen in Kreuzberg zeigen Von Peter Nowak „Friede den Bücherwürmern – Kampf den Miethaien“, lautet die Parole auf einem der Plakate, die aktuell in der ngbk – der neuen gesellschaft für bildende kunst – in der Oranienstraße in Kreuzberg zu sehen sind. Die dortigen Ausstellungen haben immer einen politischen Hintergrund – und die aktuelle mit dem Titel „Volle Breitseite“ hat für die Galerie eine besondere Dringlichkeit. Denn letztes Jahr ist die Immobilie selbst an einen Fonds aus Luxemburg verkauft worden. Seitdem fürchten die MieterInnen – neben der nbgk der Buchladen Kisch & Co, das Werkbundarchiv-Museum der Dinge, das Architekturbüro kleyer.koblitz und das Yogastudio Jivamukti – die Verdrängung aus Kreuzberg. Der Buchladen Kisch & Co ist seit dem 31. Mai ohne Mietvertrag (taz berichtete). „Die Vermieter haben ein unmögliches Knebelangebot – verbunden mit Verschwiegenheitsklauseln – zur Verlängerung vorgelegt. Mit diesem hätte der Buchhandel sich verpflichtet, die Räume zum Ende des Jahres zu verlassen“, erklärt ein Aktivist der berlinweiten Kampagne „Kisch & Co bleibt“. Die Ausstellung „Volle Breitseite“ ist ein Teil des Kampfes für den Erhalt des Buchladens und des Kulturstandortes in dem Gebäude. Die rund 80 Plakate zeigen die Bandbreite der Unterstützung. Einige haben SchülerInnen gefertigt, die dort schildern, wie wichtig Bücher für sie sind. Die räumungsbedrohte Kreuzberger Kiezkneipe Meuterei hat ebenso ein Plakat beigesteuert wie das am 7. August geräumte Neuköllner Syndikat. Die gentrifizierungskritische Initiative kunstblock and beyond dokumentiert auf ihrem künstlerisch gestalteten Poster aktuelle Gentrifizierungsprozesse in Kreuzberg. Viele der PlakatkünstlerInnen wollen anonym bleiben. Das gilt auch für die ZeichnerInnen des Fonds, der das Gebäude gekauft hat. Doch auf einem Plakat sind die Gesichter von zwei Frauen zu sehen. Darunter steht: „Wir sind Kirsten und Sigrid Rausing. Wir lassen gerade den Buchladen Kisch & Co räumen“. Die Ausstellung ist noch bis zum 19. August von 12 bis 18 Uhr in der nbgk zu sehen. Am Mittwoch den 26. August findet ab 18.30 Uhr die fünfte Solidaritätskundgebung vor dem Buchladen statt. Eingeladen ist auch Christroph Trautvetter, der für die Rosa-Luxemburg-Stiftung über die verschlungenen Eigentümerstrukturen in Berlin forscht.
Peter Nowak
Eine Ausstellung in der ngbk in Kreuzberg zeigt noch bis Mittwoch Plakate von SchülerInnen, AktivistInnen und KünstlerInnen, die sich solidarisch mit dem räumungsbedrohten Buchladen in Kreuzberg zeigen
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Von Anfang an weniger Chancen - taz.de
Von Anfang an weniger Chancen Kinder, die erst in der Schule Gemeinschaft lernen, Eltern, die bei jedem Extra bangen – Einblicke in die Zusammenhänge von Armut und Bildung und ein Auszug aus einer Reportage im aktuellen Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer „Viele sehen von außen auf Tenever – und finden das hier das Allerletzte“Immer aufpassen, „damit ihr mal nicht so schwer arbeiten müsst wie ich“ Von Susanne Gieffers Don Do Ko Don Kon. Dodonkododonkodokododon – nein, es geht hier in Osterholz-Tenever nicht um Rhododendron, die Don Kosaken oder irgendwelche Kokons: Es geht ums Trommeln, ums Lernen und um Gemeinsamkeit. Die 20 Kinder im Musikraum der Schule Andernacher Straße finden die scheinbar verirrten Silben kein bisschen fremd. Es ist ihr Rhythmus. Hoch aufgereckt stehen die vier in der ersten Reihe vor ihren großen Trommeln, die Beine gespreizt, die Füße fest auf dem Boden, die Arme in die Höhe gestreckt, den Rücken durchgedrückt, das Gesicht geradeaus, das Kinn erhoben. Die Trommeln reichen nicht für alle, in den Reihen dahinter stehen die Kinder vor ihren Stühlen, darauf blaue, rote, gelbe Quader aus Plastik. Alle in derselben Pose. Dann beginnen sie. Do-don-ko-dodon-ko, jede Silbe ein gemeinsamer Schlag auf Trommel oder Quader, den einen Arm in der Höhe, den anderen nach unten und umgekehrt. Und immer wieder aufrichten. Es ist laut. Ohrenbetäubend. Beeindruckend. „Langsam fahren, sonst verpasst ihr die Ausfahrt“, ruft Masakazu Nishimine in die Runde. Der Künstler, der hier traditionelles japanisches Trommeln unterrichtet, hat die Kleinen genau im Blick. „Masa, guck mal, ich kann’s“, kräht ein Junge. „Erst, wenn ihr alle richtig spielt, sieht es auch gut aus“, sagt Masa, „strengt euch an, aber macht langsam: Jeder muss es verstehen.“ An diesem Morgen trommeln sie verschiedene Lieder, japanische und deutsche. Das „Auf der Mauer, auf der Lauer“ bekommt japanisch 20-fach synchron getrommelt eine ganz neue Note, irgendwie massiv, erschütternd, tiefgründig. Masa, wie ihn hier alle nennen, kommt einmal die Woche. Im Rahmen des Muse-Projekts, das die Yehudi-Menuhin-Stiftung für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf ins Leben gerufen hat, bringt er den Drittklässlern Trommeln bei. Und noch viel mehr. Ein Gefühl für Rhythmus, für Bewegung und für Gemeinsamkeit. Auf den ersten Blick mag es wie eigentümlicher Luxus scheinen, mit dem es die Kinder bereits zu einem Auftritt ins Bremer Rathaus geschafft haben. Auf den zweiten Blick geht es hier um ganz Grundsätzliches. Den Kindern den Rücken stärken will Schulleiter Uwe Hehr mit Projekten wie diesem. An der Schule Andernacher Straße in Osterholz-Tenever haben 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Und sehr viele sind arm. Kinder die am Montag mit Riesenhunger in die Schule kommen, weil es am Wochenende zu Hause kaum etwas zu essen gab. Kinder die am Montag fast einschlafen, weil das ganze Wochenende zu Hause die Glotze lief und keiner darauf achtete, wann das Kind ins Bett kam. „Kinder die keine Strümpfe oder nur welche mit Riesenlöchern drin anhaben“, erzählt Lehrer Folkert Hanssen. Die Armut sei nicht immer eine materielle, betonen Hehr und Hanssen. „Das Geld für Kaba und Vanillemilch ist da“, sagt Hanssen, „und statt eines liebevoll gemachten Butterbrots und Saft oder Tee bringen sie oft so’n teures gekauftes Teil mit.“ Ganz oft fehle zu Hause das Miteinander, „es gibt entweder keine Erziehung oder ganz strenge Regeln. Aber keine Flexibilität“, hat Uwe Hehr beobachtet. Die Folge: Die Kinder sind in ihrer Entwicklung nicht so weit, wie sie sein sollten, wenn sie zur Schule kommen. „Sie sind in der Regel nicht in der Lage, gemeinsam in der Gruppe zu arbeiten, gemeinsam zu essen, aufeinander zu warten“, sagt Hehr, „die sozial-emotionale Seite ist hinterher.“ Auf die Frage, ob die Lehrer hier ihr Pensum schafften, schütteln beide mit dem Kopf. Hanssen erzählt von dem Druck, unter dem er und seine Kollegen stehen: „Die eigentliche Aufgabe, nämlich Wissen zu vermitteln, kommt zu kurz.“ Und wenn Uwe Hehr leise sagt: „Unsere sind einfach kleiner“, dann wird klar, warum die Bild-Zeitung, die nach der VERA-Grundschuluntersuchung über die Sozialindikatoren der Andernacher Straße „die schlechteste Schule Bremens“ titelte, hier Hausverbot hat. Im vierten Schuljahr wäre in „Deutsch Grammatik dran. Aber da kann man unseren Kindern nicht mit kommen, das geht nicht“, sagt Hehr. „Wir schaffen nicht, in vier Jahren das aufzuholen, was zuvor zu Hause gefehlt hat.“ Also geht es Hehr, Hanssen und den anderen Lehrern hier um anderes: „Lust machen auf Schule, stark machen“, sagt Hehr dazu, „wir gucken auf Stärke, Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen. Wenn diese Seite stimmt, dann lernen die den Rest von alleine“, so der Schulleiter und setzt hinterher: „Das ist meine persönliche Sicht.“ Dass Eltern an ihren Kindern nicht interessiert seien, glaubt Anne Knauf nicht. Die Leiterin des Kindertagesheims Andernacher Straße erklärt den Druck, der auf vielen Bewohnern des Hochhausviertels lastet: „Wenn ich als Erwachsener mit meinen Lebensumständen mehr als genug zu tun habe, dann gehe ich nicht mit meinem Kind spazieren oder lese ihm vor, sondern ich versorge es und habe mit mir selbst zu tun.“ Das gilt nicht nur für Migranten, das gilt auch für deutsche Familien. „Migranten kommen meist ohne Bildungshintergrund hierher“, sagt Knauf, und bis zu der Frage „Was muss mein Kind denn können, damit es in dieser fremden Kultur zurechtkommt?“ kämen viele erst gar nicht. Die Kinder haben Entwicklungsverzögerungen in allen Bereichen. „Sie haben von Anfang an die schlechteren Startchancen“, sagt Knauf. Und oft bleiben sie im Stadtteil. „Nur der Weg zur Ausländerbehörde ist bekannt“, erzählt Anne Knauf. Und der Weserpark. Wenn sie mit ihren Kids den Bürgerpark besuchen, hören die Erzieherinnen regelmäßig ein erstauntes „Das ist ja ein Wald!“ – denn erwartet wurde, was sonst, ein Einkaufszentrum. 35 Prozent der Menschen in Tenever leben von der Sozialhilfe, und das trifft vor allem Kinder und Jugendliche, denn Tenever ist der kinderreichste Ortsteil in ganz Bremen. „Hier wächst gewissermaßen die Zukunft Bremens und der Sozialversicherungssysteme heran“, erklärte Joachim Barloschky von der Stadtteilgruppe Tenever bei einem Integrationsworkshop in Rotterdam, auf dem er im vergangenen Jahr den Stadtteil und die Arbeit der Gruppe vorstellte. Tenever ist international. Hier leben Menschen aus 88 Ländern, 40 Prozent sind Ausländer, 30 Prozent sind Aussiedler. „Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, egal aus welchem Land sie kommen, welche sonstigen kulturellen und moralischen Werte sie haben“, sagte Barloschky in Rotterdam. Seine Kollegin Maren Schreier sagt ein paar Monate später in einem der Hochhäuser: „Die Kids kriegen oft nur Markensüßigkeiten aus der Werbung mit. Die Kinder sollen’s gut haben. Sie sollen es nicht merken“, dass das Geld fehlt. „Es ist in der Tat so, dass die Leute am Ende sind“, sagt Joachim Barloschky, „die arbeiten Teilzeit hier, illegal da, die kloppen Nachtschichten auf Tagschichten.“ Das macht, sagt Barloschky, einen schlechten Start aus. Knauf, Barloschky, Schreier und die anderen Tenever-Engagierten sehen die vielen Kulturen und die Zwei- bis Mehrsprachigkeit vieler Kinder durchaus als Chance – aber das, sagen sie, sei längst nicht bei allen so. „Viele sehen von außen auf Tenever“, sagt Anne Knauf, „und finden das hier das Allerletzte.“ Mit Vorurteilen sind Anne Knauf und ihre KollegInnen häufig konfrontiert. Und mit der Haltung, die Migranten sollten gefälligst deutsch lernen und mit ihren Kindern zu Hause deutsch sprechen – wie wichtig die Muttersprache aber für die Kinder und ihre Familien ist und wie viel Potenzial die Mehrsprachigkeit bergen kann, das werde viel zu wenig geschätzt. Ein Lehrer wie Folkert Hanssen von der Grundschule schätzt jeden seiner kleinen Schützlinge. „Es ist schön, dich in meiner Klasse zu haben, und ich komme auch deshalb jeden Tag gern in die Schule, weil du in meiner Klasse bist, so oder ähnlich“, zitiert Peter Halamoda das Zeugnis, das seine Tochter einst nach Hause brachte. Ausgestellt von Folkert Hanssen. Der wird später abwinken, persönliche Briefe wie diese hätten in dieser Jahrgangsstufe alle Lehrer allen Schülern ausgestellt, individuell und motivierend habe es sein sollen. Peter Halamoda hat dieses Zeugnis seiner Tochter eingerahmt und an die Wand gehängt. Er ist Elternsprecher und im Stadtteil sehr aktiv. „Je mehr Bildung man hat, desto mehr kann man machen“, sagt der Mann, der jahrelang Trucks durch ganz Europa gefahren hat. Jetzt ist er arbeitslos. „Es geht dabei gar nicht so sehr um Zeugnisse oder Dokumente“, findet Halamoda, „es geht um praktische Erfahrung.“ Aber, setzt er nachdenklich nach, „manchmal sind auch Papiere wichtig“. Das merkt er, wenn er bei Jobs, von denen er weiß, er wäre geeignet, gleich von der Bewerbung absieht, weil Hochschulabsolventen gewünscht werden. Halamoda kennt Tenever gut. Erzählt von Sozialhilfekarrieren, von den Sprachschwierigkeiten, die „das Internationale“ mit sich bringe, davon, dass er eine Software zu bekommen versucht, die die Infoblätter für die anderen Eltern in verschiedene Sprachen übersetzt, und er erzählt von den Spanischkursen, die er sich für die Schule wünscht, wie am Kippenberg-Gymnasium in Schwachhausen. Da aber zahlen die Eltern. „Das wäre hier natürlich nicht möglich“, sagt Halamoda, „da fangen die Unterschiede an“. Nicht erst bei den Spanischkursen. Wenn Klassenfahrten anstehen, fehlt vielen das Geld. Dafür gibt es Zuschüsse vom Amt für Soziale Dienste. „Da hab’ ich einen Sammelantrag fertig gemacht“, erzählt Halamoda, „ich hab keine Angst vor denen im Amt.“ Dennoch seien trotz gewährter Zuschüsse viele Kinder nicht mitgefahren. „Weil die das Geld so ausgegeben haben“, glaubt Halamoda. „Ich bin auch so einer“, sagt neben ihm etwas verdruckst Martin Schneider (Name geändert), „ich leb’ vom Unterhalt und vom Kindergeld.“ Die Klassenfahrt aber würde er seinen drei Kindern möglich machen. „Meine Kinder sind noch überall mit hingefahren“, erklärt er und klingt sehr stolz. „Du planst ja auch“, sagt Halamoda zu Schneider, „aber die anderen lassen das alles so auf sich zukommen.“ Doch auch das Planen hilft nicht immer. „Wenn Ausflüge anstehen, komme ich schon ins Schwitzen“, sagt Martin Schneider, „wenn größere Summen bezahlt werden müssen, erst recht.“ Seine Kinder sollen aufpassen in der Schule. „Hätte ich mehr aufgepasst, wäre ich nicht auf dem Bau gelandet.“ Da hat er sein halbes Leben lang geschuftet. Jetzt ist er 35, arbeitslos, „Rücken kaputt“. Immer schön aufpassen, „damit ihr mal nicht so schwer arbeiten müsst wie ich“. Die vollständige Reportage „Sie wollen alle nur eines: ein geregeltes Leben“ steht im Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer: www.arbeitnehmerkammer.de.
Susanne Gieffers
Kinder, die erst in der Schule Gemeinschaft lernen, Eltern, die bei jedem Extra bangen – Einblicke in die Zusammenhänge von Armut und Bildung und ein Auszug aus einer Reportage im aktuellen Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer
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Aus Le Monde diplomatique: Davos der Frauen - taz.de
Aus Le Monde diplomatique: Davos der Frauen In Frankreich setzen sich über 500 wirtschaftsnahe feministische Netzwerke für Frauen in Führungsetagen ein. Das nennt man Marktfeminismus. Nur unter Ihresgleichen: Frankreichs Finanzfeministin Christine Lagarde Foto: Andreas Henn/dpa Als der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron am 2. Dezember 2016 im Internationalen Kongresszentrum von Deauville sein Programm zur Gleichstellung vorstellte, sprach er auf Englisch: „Es ist unbedingt notwendig, Frauen den Aufstieg in leitende Positionen in Wirtschaft und Politik zu ermöglichen.“ Im Saal saßen mehrheitlich Geschäftsfrauen und Politikerinnen. Eingeladen hatte das Women’s Forum for the Economy and Society (WF). Keine drei Wochen später unterzeichneten zwei WF-Vorsitzende den Aufruf „Elles marchent“, um Macron im Wahlkampf zu unterstützen. Das Women’s Forum, dem die Presse den Spitznamen „Davos der Frauen“ verpasst hat, hat seit seiner Gründung 2005 erheblich an Einfluss gewonnen. Die alljährlichen Zusammenkünfte sind ein Treffpunkt für Organisationen und Netzwerke, die mehr Frauen in die Führungsetagen bringen wollen. Die Soziologin Sophie Pochic spricht von „Marktfeminismus“: In den 1980er Jahren jenseits des Atlantiks entstanden, wurde der Marktfeminismus Anfang der 2000er Jahre auch in Frankreich en vogue. Wozu französische Tochtergesellschaften US-amerikanischer Multis entscheidend beigetragen haben. Françoise Picq, Historikerin, Soziologin und ehemalige Aktivistin der Frauenbewegung MLF (Mouvement de libération des femmes), erklärt dazu: „In den Vereinigten Staaten ist diese Allianz selbstverständlich. In einem kapitalistischen System besorgt man sich das Geld eben da, wo es zu finden ist – mittels Fundraising oder großer Stiftungen.“ Während es in Frankreich noch vor 17 Jahren knapp 100 wirtschaftsnahe feministische Netzwerke gab, sind es heute laut dem Cercle InterElles über 500.Weibliche Führungskräfte von France Télécom, IBM France, Schlumberger und GE Healthcare haben 2001 diesen Eliteklub gegründet, der zugleich als Schaufenster für die Multis und Informationsplattform für Frauen dienen sollte, die leitende Funktionen anstreben. Wenn die Multis auf Feminismus machen Erstes erfolgreiches Ergebnis ihrer Lobbyarbeit war im Jahr 2011 die Verabschiedung des Gesetzes Copé-Zimmermann, das private und öffentliche Unternehmen mit über 500 Angestellten und einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro dazu verpflichtete, ihre Kontrollgremien zu jeweils mindestens 40 Prozent mit Männern und Frauen zu besetzen. Ausgenommen von dieser Regelung sind allerdings die Vorstände und Geschäftsleitungen, bei denen die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse liegen. Hier betrug der Frauenanteil 2019 nur 17,9 Prozent. Die einzige Gesellschaft im CAC 40, dem Leitindex der 40 börsennotierten französischen Unternehmen, an deren Spitze derzeit eine Frau steht, ist der Energieversorger Engie; Isabelle Kocher wird ihre Leitungsfunktion bei Engie Anfang 2021 an Catherine MacGregor übergeben. Nichtsdestotrotz gehört Frankreich nicht nur zu den wenigen Ländern, die überhaupt Quoten eingeführt haben, es kann sich mittlerweile auch auf den höchsten Frauenanteil in den Kontrollgremien großer Unternehmen berufen: 2019 lag er bei 43,6 Prozent, im Vergleich zu 8,5 Prozent im Jahr 2007. Außer in Frankreich gibt es verbindliche Regelungen bisher nur in Norwegen (seit 2003), Italien (seit 2011) und im US-Bundesstaat Kalifornien (seit 2018). Ende November einigte sich nach langem Streit auch die Regierungskoalition in Deutschland auf eine verbindliche Frauenquote für Aufsichtsräte. Dass der Feminismus von Eliten vorangetrieben wird, ist nicht neu. Berühmte Beispiele aus dem vorigen Jahrhundert sind vor allem die Suffragetten, die weltweit für das Frauenwahlrecht kämpften, oder in Frankreich die Gesundheitsministerin Simone Veil, deren Gesetzesinitiative zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen am 29. November 1974 von der Nationalversammlung angenommen wurde. Die Angst der Chefin vor Radikalfeministinnen In der Geschichte des Feminismus gab es immer schon unterschiedliche Strömungen, die einander bisweilen sogar bekämpft haben. Auch Aude de Thuin, die ihr Women’s Forum als „Wirtschaftsforum nach dem Vorbild von Davos“ definiert, will auf keinen Fall mit radikalfeministischen oder gewerkschaftlichen Organisationen in Verbindung gebracht werden. Von Anfang an wurde das jährliche WF-Treffen, an dem zwischen 1000 und 2000 Frauen teilnehmen, von internationalen Konzernen gesponsert. Engie, McKinsey und das Facility-Management-Unternehmen Sodexo waren ebenso darunter wie Renault, dessen ehemaliger CEO Carlos Ghosn einer der ersten Unterstützer des Women’s Forum war. 2019 belief sich der Umsatz von Wefcos, dem Unternehmen, das das Forum organisiert, auf 6,6 Millionen Euro: Ein Ticket für zwei bis drei Kongresstage kostet zwischen 3000 und 4000 Euro. Dieses Unternehmensmodell hat auch andere Organisationen inspiriert. Der Club Journée de la femme digitale (JFD), der regelmäßig bei den Konferenzen des Women’s Forum dabei ist, fördert weibliche Start-ups. Finanzielle Unterstützung erhält JFD von einer Handvoll CAC-40-Unternehmen wie dem Mineralölkonzern Total, der Telekomfirma Orange oder L’Oréal, aber auch von US-Konzernen wie Google und Microsoft. Gleichstellung fördere das Wachstum, ist das zentrale Argument für mehr Frauen in Führungspositionen. Boris Janicek, ehemals leitender Angestellter bei L’Oréal und Co-Präsident im Club 21e Siècle zur Förderung von Diversität in Unternehmen, lobt beispielsweise die Bank Goldman Sachs, die seit Juli 2020 nur noch Börsengänge von Unternehmen begleitet, in deren Vorstand mindestens ein Mitglied mit „diversem Hintergrund“ sitzt und Frauen bevorzugt werden sollen. Janicek versichert: „Hier geht es nicht um Altruismus oder gesellschaftliche Verantwortung seitens der Firmen. In Unternehmen, deren Leitung divers aufgestellt ist, liegt die Wertsteigerung bei 44 Prozent in vier Jahren, in anderen bei nur 13 Prozent.“ Monitoring, Networking und Mentoring Auch die großen Beratungsfirmen wie EY oder McKinsey vertreten die These, dass die Gleichstellung gut für den Markt und der Markt gut für die Gleichstellung sei. Einmal im Jahr bringt McKinsey in Kooperation mit dem Women’s Forum die Studie „Women matter“ heraus. Darin wird privaten wie öffentlichen Unternehmen ein Standardprogramm für das Personalmanagement nahegelegt: zu „Monitoring“ (Überwachung der Kennzahlen), „Networking“ (die Einrichtung von Netzwerken für Frauen in Führungspositionen) und „Mentoring“ (individuelle Begleitung). Seit das Gesetz Copé-Zimmermann Wirkung zeigt, schenkt der französische Staat weiblichen Führungskräften zunehmend mehr Aufmerksamkeit. Unter Macrons Präsidentschaft sind ihre Interessenvertretungen regelrecht im Aufwind. Regierungsmitglieder wie die ehemalige Arbeitsministerin Muriel Pénicaud oder die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium Agnès Pannier-Runacher waren bereits beim Women’s Forum eingeladen, ebenso wie Astrid Panosyan, die Mitbegründerin von Macrons Partei En Marche! (heute La République en Marche). Im Oktober 2019 gaben das Wirtschafts- und das Bildungsministerium bei Chiara Corazza, Generaldirektorin des Women’s Forum, eine Studie in Auftrag, die im Februar 2020 unter dem Titel „Les femmes au cœur de l’économie – La France pionnière du leadership au féminin dans un monde en pleine transformation“ (Frauen im Herzen der Wirtschaft: Frankreich als Vorbild für weibliches Unternehmertum in einer sich wandelnden Welt) veröffentlicht wurde. LMd Januar 2021Dieser Artikel stammt aus der Januarausgabe 2021 von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version) und im Januar mit einer besonderen Beilage: Dem Fleischatlas 2021. Weitere Informationen unter monde-diplomatique.de. Der Bericht stützt sich weitgehend auf die Arbeit der verschiedenen Ausschüsse des Women’s Forums, die von verschiedenen Unternehmen geleitet werden: Die Großbank BNP Paribas steht hinter „Frauen und Klima“, das Versicherungsunternehmen Axa leitet den Ausschuss „Frauen und der Zugang zu Gesundheitsdiensten“, und „Frauen und künstliche Intelligenz“ ist eine Initiative von Microsoft. „Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, aber auch des wirtschaftlichen Erfolgs: 240 Millionen Arbeitsplätze können bis 2025 entstehen und das globale Bruttoinlandsprodukt kann um 28 Billionen US-Dollar wachsen, wenn Frauen und Männer gleichermaßen vertreten sind“, lautet das Fazit der WF-Studie, die als Grundlage für einen Gesetzentwurf zur wirtschaftlichen Emanzipa­tion der Frau dienen soll, der jedoch noch aussteht. Gender Pay Gap? Nicht so wichtig Von den 27 vorgeschlagenen Maßnahmen betreffen die meisten den Zugang zu technischen und wissenschaftlichen Berufen, die Einführung von Quoten, den Zugang zu Förderprogrammen oder die Schaffung neuer Stipendien für Hochbegabte. Nur an zwei Stellen werden der Gender Pay Gap erwähnt und gleiche Gehälter gefordert, und nur an einer Stelle wird die Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs vorgeschlagen. Diese letzte Maßnahme wurde inzwischen umgesetzt: Ab 1. Juli 2021 soll sich der Anspruch auf Vaterschaftsurlaub von 14 auf 28 Tage verdoppeln. Diese Wahlverwandtschaft zwischen den „Marktfeministinnen“ und der „Macronie“ hat dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften auf dem Feld der beruflichen Gleichstellung an den Rand gedrängt wurden. 2018 ließ sich die Regierung zum Beispiel von Sylvie Leyre beraten, die damals die Personalabteilung des Konzerns Schneider Electric leitete. Arbeitsministerin Muriel Pénicaud lud sie ein, an der Konzeption einer Software zur Beurteilung ungleicher Arbeitsvergütung mitzuarbeiten. Auf Grundlage dieser Zusammenarbeit entstand der Index der beruflichen Gleichstellung, der in das im September 2018 ratifizierte „Gesetz zur freien Wahl der beruflichen Zukunft“ eingeflossen ist. Während die Regierung Macron die Expertisen von Unternehmenschefinnen und weiblichen Führungskräften aus dem Privatsektor zu Rate zieht, um Gesetzentwürfe auszuarbeiten, hat sie die Beziehungen zu anderen feministischen Organisationen abgebrochen. „Eineinhalb Jahre hatten wir keinen Kontakt zu Marlène Schiappa, der Staatssekretärin für Gleichstellung“, erinnert sich Caroline De Haas, Gründerin des Frauenkollektivs #NousToutes. „Das änderte sich erst nach unserer Demo gegen Femizide im November 2019, an der mehrere zehntausend Menschen teilgenommen haben.“ Auch Marilyn Baldeck, Chefdelegierte der Europäischen Gesellschaft zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen am Arbeitsplatz (Association européenne contre les violences faites aux femmes au travail, AVFT), bedauert, dass die „Kommunikationskanäle zu den staatlichen Instanzen“ seit 2017 verschwunden seien. Eine mal mehr, mal weniger subtile Form von Zensur Die Staatssekretärin Schiappa steht zu diesem Bruch mit den – wie sie sagt – „Satellitenverbänden der sozialistischen Partei“, wobei sie betont, dass die AVFT weiterhin bezuschusst werde. Hakt man nach, reagiert sie aufbrausend: „Es handelt sich um eine politisch orientierte Vereinigung, die den linken Parteien sehr nahesteht. Ich kann keine Gesetzentwürfe erstellen, indem ich Menschen einen Stift in die Hand drücke, die in Opposition zur Regierung stehen.“ Marilyn Baldeck verwahrt sich sichtlich amüsiert gegen diese Vorwürfe: „Weder die AVFT noch ich selbst standen jemals der sozialistischen Partei nahe, und übrigens auch keiner anderen Partei.“ Die wirtschaftsnahen Frauenverbände haben gute Verbindungen zu Medienunternehmen, die ihnen politisch nahestehen. Sie nutzen diese Kanäle zu Werbezwecken, im Gegenzug können sich die großen Medienkonzerne einen feministischen Anstrich verpassen. Das „Davos der Frauen“ nutzte zunächst die Kommunikationskanäle der „PR-Päpstin“ Anne Méaux, später diejenigen der Agentur Publicis.Jedes Jahr ist dem Treffen eine lobende Berichterstattung im Figaro sicher, in der Zeitschrift Elle sowie in den Wirtschaftsmagazinen Challenges, Les Échos und La Tribune, allesamt Medienpartner des Women’s Forum. Diese Nähe kann zu einer mal mehr, mal weniger subtilen Form von Zensur führen. Ein Journalist, der für eines der genannten Medien arbeitete, erzählt von einem Telefonat, in dem eine leitende Redakteurin gegenüber einer Freelancerin bestätigt: „Ein Porträt über Anne Méaux zu veröffentlichen, wäre gewagt. Sie ist sehr einflussreich. Sie kennt alle unsere Werbekunden. Wenn ich sie kritisiere, werde ich gefeuert.“ Für dasselbe Blatt verfasste eine junge Journalistin einen Artikel über die Personalpolitik bei L’Oréal, nachdem eine Mitarbeiterin gegen das Unternehmen geklagt hatte, weil sie wegen ihrer Schwangerschaft diskriminiert worden war. Allerdings war L’Oréal der zweitwichtigste Werbekunde dieser Zeitschrift. Die Firma rief umgehend in der Chefredaktion an, um den Artikel ändern zu lassen, der bereits online erschienen war, und eine Gegendarstellung zu veröffentlichen. Seither erwähnt die Zeitschrift den Kosmetikhersteller nur noch mit lobenden Worten. Business with Attitude Schließlich legt L’Oréal als Sponsor des Women’s Forum Wert auf ein feministisches Image. Das Unternehmen ist Partner des Beirats für Gleichstellung, der 2019 von den G7-Staaten unter dem Vorsitz Frankreichs eingerichtet wurde. Ähnlich ging auch die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF vor. Im Frühjahr 2019, in der Hochphase der Proteste gegen eine Reform zur Öffnung des Personenverkehrs für den Wettbewerb, rief die Geschäftsleitung in der Redaktion an und bat um einen Artikel, in dem ihre Unternehmenspolitik in Sachen Gleichstellung gelobt wird. Den Journalisten bot sie dafür kostenlose Zugtickets an. In den genannten Medien ist die Förderung weiblicher Führungskräfte nicht nur ein wiederkehrendes Thema, sondern auch eine Finanzquelle. So verleiht die Zeitschrift Madame Figaro seit mittlerweile vier Jahren den Preis „Business with Attitude“. Ausgezeichnet werden Managerinnen an der Spitze von Start-ups. Rund 100 Kandidatinnen werden von der Redaktion und einer Jury unter die Lupe genommen, die sich weitgehend aus Führungskräften großer Unternehmen zusammensetzt – dieses Jahr mit dabei: La Poste, das Hotelunternehmen Accor, die Privatbank Oddo BHF, der Energieversorgungskonzern Engie, Google und EY sowie die öffentliche Investitionsbank Bpifrance in Gestalt ihres Kommunikationschefs und Exekutivdirektors Patrice Bégay. Die Zeitschrift Elle ihrerseits hat das Forum „Elle Active“ ins Leben gerufen. 2019 waren die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde, und Jacques de Peretti, General­direktor von Axa France, eingeladen, ihre Ideen zum Feminismus zu präsentieren. Mit von der Partie waren die Netzwerke Force Femmes, Laboratoire de l’égalité, Financi’elles oder InterElles. Ein Stand von L’Oréal Paris lud die Teilnehmerinnen dazu ein, sich schminken zu lassen – mit dem Hinweis, dass bei Vorstellungsgesprächen auch das Erscheinungsbild zählt. Printmedien wie – Elle würden durch solche Veranstaltungen und das damit einhergehende Markensponsoring mittlerweile ihr Überleben sichern, meint Sophie Pochic. Die Feminisierung der Führungsetagen ist also auf gutem Weg. Anders sieht es jedoch an der Basis der Pyramide aus: 2018 war fast jede dritte Frau in Teilzeit beschäftigt; und weibliche Angestellte machten sogar 78 Prozent der Teilzeitbeschäftigen aus. In stark weiblich dominierten Berufen im Dienstleistungssektor (Reinigungswesen, Gastronomie, Einzelhandel, Pflege und so weiter) sind Teilzeitverträge die Regel. Zwischen Wohltätigkeit und militantem Feminismus Um diese Diskrepanz zu beheben, will Delphine Remy-Boutang, Chefin des digitalen Beratungsunternehmens The Bureau und Initiatorin der Journée de la femme digitale, die Unternehmen in die Verantwortung nehmen. Sie sollen ihren Angestellten einen Ausweg aus unsicheren Arbeitsverhältnissen bieten: „Viele Frauen haben einen Arbeitsplatz, der verschwinden wird. Kassiererinnen zum Beispiel. Man muss diesen Frauen helfen, sich digital weiterzubilden.“ Diesen Weg verfolgt auch Force Femmes. In dem 2005 gegründeten Verein machen teilweise dieselben Frauen mit, die sich auch im Women’s Forum engagieren. Ihren Vorsitz führt die bekannte Unternehmerin Véronique Morali. Mit der finanziellen Unterstützung großer Konzerne helfen die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen von Force Femmes arbeitslosen Frauen über 45 Jahren, eine Anstellung zu finden oder sich selbstständig zu machen. „Bürgerliche Frauen haben bisweilen ihre Stellung genutzt, anderen Frauen zu helfen“, meint Françoise Picq: „Die Grenze zwischen Wohltätigkeit und militantem Feminismus ist oft fließend.“ Marion Rabier, Dozentin für Politikwissenschaften an der Universität Mulhouse, wird deutlicher: „Ich denke nicht, dass die Feminisierung der Geschäftswelt automatisch auch ein Hebel für die berufliche Gleichstellung ist.“ Als Beispiel nennt sie eine Unternehmerin, die sie beim Women’s Forum traf. Sie beklagte sich, dass ihre beiden Sekretärinnen gerade im Mutterschutz seien, und vertraute Rabier an, dass sie in Zukunft nur noch ältere Bewerberinnen einstellen wolle. Aus ideologischen Gründen befürworten diese Frauen eine Politik, die der großen Mehrheit ihrer Geschlechtsgenossinnen schadet. So lobte Laurence Parisot, die Präsidentin des Arbeitgeberverbands Medef, im September 2017 die Beschlüsse zur Reform des Arbeitsrechts, obwohl gut 60 Persönlichkeiten und feministische Organisationen davor warnten, dass die Maßnahmen „die beruflichen Ungleichheiten verstärken“ würden. Die Staatsekretärin spricht von Kundenzufriedenheit Seit einigen Jahren streiken immer wieder Servicekräfte, die von Subunternehmern in Hotels beschäftigt werden. Als im Sommer 2019 das Hotel Ibis Batignolles im 17. Pariser Arrondissement bestreikt wurde, kündigte Staatssekretärin Marlène Schiappa an, sich mit der Situation zu befassen. 2015 war Sébastien Bazin, Chef der Accor-Gruppe, zu der das Hotel gehört, Gast des Women’s Forum. Im September 2019 besuchte Schiappa die Streikposten des Ibis-Hotels, um klarzumachen, „dass sie sich nicht in die geschäftlichen Entscheidungen des Unternehmens einmischen und folglich auch nicht gegen die Vergabe an Subunternehmen vorgehen könne“, erinnert sich eine Gewerkschafterin, die den Streik unterstützt hat. Im Juli 2020 gab Marlène Schiappa ihr Amt an Élisabeth Moreno ab, die beigeordnete Gleichstellungsministerin. Die ehemalige Geschäftsführerin des Computer- und Smartphoneherstellers Lenovo France und später von Hewlett-Packard Afrika ist laut Chiara Corazza eine „Freundin des Women’s Forum“: „Ich werde ihr, so gut ich kann, helfen.“ Moreno war ebenfalls Mitglied im Club 21e-Siècle, besuchte den Journée de la femme digitale und unterstützte Women in Africa, eine 2015 von Aude de Thuin gegründete Initiative. „Ich setze große Hoffnung in Élisabeth Moreno, ich kenne sie gut“, erklärt Thuin, die Gründerin des Women’s Forum. Kurz nach ihrem Amtsantritt empfing Moreno die feministischen Organisationen, die ihre Vorgängerin ein wenig vernachlässigt hatte, zwar zum Essen. Dennoch ist nicht gesagt, dass damit ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Bei diesem Treffen erklärte eine Aktivistin der Fédération nationale Solidarité Femmes, dass ihre Organisation eine Notrufnummer für Opfer von Gewalt betreibe. Die Ministerin entgegnete daraufhin ganz selbstverständlich: „Ach ja, verstehe, Sie sprechen von Kundenzufriedenheit.“ Einige Wochen später kündigte die Regierung an, dass sie den Betrieb dieser Hotline zum Gegenstand eines Wettbewerbs machen wolle. „Eine Entscheidung, die früher oder später dazu führen könnte, dass sie einem Betreiber anvertraut wird, der sich mehr um die wirtschaftliche Rentabilität als um die Qualität dieser Dienstleistung kümmert“, warnt Solidarité Femmes in einer Onlinepetition vom 16. November. Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein
Maïlys Khider
In Frankreich setzen sich über 500 wirtschaftsnahe feministische Netzwerke für Frauen in Führungsetagen ein. Das nennt man Marktfeminismus.
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Gabriels Besuch beim US-Außenminister: Viel gemeinsam, wenig Kritik - taz.de
Gabriels Besuch beim US-Außenminister: Viel gemeinsam, wenig Kritik Beim ersten Gespräch der beiden Kollegen warb Gabriel für eine transatlantische Partnerschaft. Er mahnte die USA aber auch zur Achtung der gemeinsamen Werte. Laut Gabriel sind sie die „New Kids on the Block“ Foto: dpa WASHINGTON dpa | Außenminister Sigmar Gabriel hat bei ersten Gesprächen mit seinem US-Kollegen Rex Tillerson und Vizepräsident Mike Pence in Washington große Gemeinsamkeiten festgestellt. Es gebe zwar Differenzen mit US-Präsident Donald Trump bei den Themen Migration, Europa, Ukraine und der Haltung zu Russland, sagte Gabriel am Donnerstag. Bei den Treffen mit Pence und Tillerson hätten sich diese Unterschiede aber nicht gezeigt. „Ich war sehr zufrieden damit, dass wir hier eine große Bandbreite gemeinsamen Verständnisses hatten“, sagte Gabriel. Sowohl Pence als auch Tillerson hätten klar gemacht, dass sie ein großes Interesse an einer Stärkung Europas haben, sagte Gabriel. Auch das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union würden sie nicht als Beginn eines Auseinanderbrechens der EU interpretieren. Die USA müssten auch ein Eigeninteresse an einem starken Europa haben, sagte Gabriel. Pence kündigte in dem Gespräch mit Gabriel an, zur Münchner Sicherheitskonferenz nach Deutschland zu reisen. Ob auch Tillerson zu der Konferenz vom 17. bis 19. Februar kommen wird, ist dagegen noch unklar. Er habe aber die Absicht, am kurz zuvor stattfindenden G20-Außenministertreffen in Bonn teilzunehmen, sagte Gabriel. Tillerson war erst am Mittwochabend vereidigt worden. Gabriel zählte am Donnerstag zu den ersten ausländischen Gästen seines Kollegen. Anschließend sprach er von sich und Tillerson als „New Kids on the Block“ (Die neuen Kids im Viertel), in Anlehnung an eine US-Boygroup der späten 80er Jahre. Achtung der Werte angemahnt Gabriel setzte sich in den Gesprächen für einen freien und fairen Handel ein und stellte sich gegen die Bestrebungen Trumps, den US-Markt abzuschotten. In Sachen Russland bekräftigte der Vizekanzler, dass die bestehenden Sanktionen der EU nur abgebaut werden könnten, wenn es Fortschritte im Minsker Friedensprozess für die Ost-Ukraine gebe. „Dagegen ist von niemandem etwas gesagt worden“, sagte er zu seinen Gesprächen. Trump hat eine Debatte über die Reduzierung der Sanktionen eröffnet. Gabriel warb in Washington für eine starke transatlantische Partnerschaft. In politischer und kultureller Hinsicht stehe keine Weltregion Deutschland und Europa so nahe wie die Vereinigten Staaten. „Deswegen wollen wir mit ausgestreckter Hand auf die USA zugehen.“ Gabriel mahnte die USA aber auch zur Achtung der gemeinsamen Werte. „Uns verbindet mit den USA ein festes Wertegerüst“, sagte er. „Aber bei diesen Werten muss es eben auch bleiben, es darf kein Abweichen davon geben.“ Dazu gehöre Religionsfreiheit ebenso wie der faire Umgang miteinander. US-Präsident Trump wird eine vielfache Verletzung dieser Werte vorgeworfen, etwa durch den pauschalen Einreisestopp für Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern, seine Drohung mit Strafzöllen für ausländische Waren oder seine billigende Äußerung zur Folter. Am Freitag reist Gabriel weiter nach New York, um dort Gespräche bei den Vereinten Nationen zu führen und UN-Generalsekretär Antonio Guterres zu treffen.
taz. die tageszeitung
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Journalismus im Exil: Andersdenkende in Gefahr - taz.de
Journalismus im Exil: Andersdenkende in Gefahr In Afghanistan gehen die Taliban juristisch gegen Exilmedien vor. Verbliebene Mit­ar­bei­te­r:in­nen werden vorgeladen, ihnen drohen Repressionen. Ein Jahr nach ihrer erneuten Machtübernahme: Taliban am Nationalfeiertag im August 2022 „11.000 Menschen auf Ausreise-Sperrliste der Taliban.“ „Teenager festgenommen, weil sie ohne Rechtsvormund zusammenlebten.“ Das sind Schlagzeilen, unter denen afghanische Exilmedien kontinuierlich über die Lage im immer weniger zugänglichen Afghanistan unter Taliban-Herrschaft berichten. Nur wenige westliche Medien haben dort noch Korrespondent:innen. Dem islamistischen Regime ist solch eine Berichterstattung ein Dorn im Auge, auch wenn sich die einzelnen Berichte meist nicht unabhängig überprüfen lassen. Nun haben die Taliban ein Verfahren eingeleitet, um zehn solcher Medien die Lizenz zu entziehen. Das gab Abdul Hak Hammad, Chef der Medienaufsichtskommission ihres Informationsministeriums, Anfang Januar in den Staatsmedien bekannt. Namen nannte er nicht, er sagte nur, dass es sich gegen Medien richte, deren „Besitzer und Chefs aus dem Land geflohen sind“, aus dem Exil „gegen die Interessen der Staatsordnung und des Volkes arbeiten“ und „Propaganda“ betrieben. Konkrete Anschuldigungen wurden nicht bekannt. Da Ver­tre­te­r:in­nen der betroffenen Medien, die sich noch im Land aufhalten, Vorladungen erhielten, ist inzwischen aber klar, um wen es sich handelt: drei ehemals führende, auch gegenüber der früheren Regierung kritische Zeitungen, Hascht-e Sobh (8 Uhr morgens), Etelaat-e Rus (Nachrichten des Tages) und Kabul Sobh (Kabuler Morgen) sowie kleinere Nachrichtenagenturen und Webportale. Alle arbeiten vom Ausland online weiter, verfügen aber über Mit­ar­bei­te­r:in­nen und Netzwerke von In­for­man­t:in­nen in Afghanistan. Zarif Karimi, der den Mediendachverband Nai (Die Rohrfeder) in Kabul leitet, sagte der taz, dass die Taliban versucht hatten, den Prozess im Alleingang durchzuziehen, nachdem Ver­tre­te­r:in­nen der zehn Medien sich weigerten, vor Gericht zu erscheinen. Das Urteil sollte schon am vorigen Sonntag fallen. Aber örtliche Journalistenverbände, die inzwischen die Rechtsvertretung der Medien übernahmen, erreichten eine Verschiebung. Laut Karimi argumentierten sie mit dem Mediengesetz der alten Regierung, nachdem es vor einem Verfahren eine Anhörung bei der Medienaufsichtskommission geben müsse. Ob es zu der Anhörung kommt, ist bisher unklar. Einen neuen Gerichtstermin gibt es jedenfalls noch nicht, so Karimi. Interessant ist, dass die Taliban damit einen ersten Anflug von Rechtsstaatlichkeit zeigen. Ansonsten sind nämlich Verfahren ohne Verteidiger oder das Recht, Zeugen der Verteidigung zu benennen, an der Tagesordnung. Auch darüber berichteten Exilmedien wiederholt. Nur die Scharia soll zählen Ansonsten ist die Rechtslage unklar. Er wird interessant zu sehen, ob das alte Mediengesetz noch zum Tragen kommt, das die Talibanführung formal nicht abgeschafft hat, obwohl sie mehrmals erklärte, nur islamisches Recht, die Scharia, anwenden zu wollen. Allerdings enthielt auch das alte Gesetz schon den Gummiparagrafen, dass Medienberichterstattung sich nicht „gegen islamische und nationale Werte“ und „nationale Interessen“ richten dürfe. So argumentieren auch die Taliban. Trotz ihrer weitgefächerten Repressalien gegen Andersdenkende lassen die Taliban bisher weiter im Land arbeitenden unabhängigen Medien überraschenden Spielraum. Allerdings sind die Medien von den Taliban-Einschränkungen für das Arbeitsleben von Frauen betroffen und üben wegen der unklaren Rechtslage eine gewisse Selbstzensur. Andere Exilmedien wie die Frauen-Nachrichtenseite Ruchschana oder Amu TV, die erst nach der erneuten Machtübernahme der Taliban entstanden, befinden sich zumindest juristisch außerhalb deren Reichweite. Aber ihren Mit­ar­bei­te­r:in­nen und Quellen im Land drohen ebenfalls Repressalien.
Thomas Ruttig
In Afghanistan gehen die Taliban juristisch gegen Exilmedien vor. Verbliebene Mit­ar­bei­te­r:in­nen werden vorgeladen, ihnen drohen Repressionen.
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Steuerschätzung wird vorgestellt: Die Schulden werden weiter steigen - taz.de
Steuerschätzung wird vorgestellt: Die Schulden werden weiter steigen Die Steuerschätzung, die am Donnerstag veröffentlicht wird, könnte ein düsteres Bild zeichnen. Auch für 2021 bleibt die schwarze Null unrealistisch. Leeres Ladengeschäft am Berliner Ku'damm während des Lockdowns im April Foto: Stefan Boness/Ipon BERLIN taz | Die Schulden in den öffentlichen Haushalten steigen vorläufig wohl weiter. Die schwarze Null – ein ausgeglichener Bundeshaushalt – „kann in einem überschaubaren Zeitraum nicht mehr erreicht werden“, sagte Werner Gatzer kürzlich. Die Einschätzung des Staatssekretärs von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) passt zur neuen Steuerschätzung, die am Donnerstag veröffentlicht wird. Möglicherweise muss die Bundesregierung dieses Jahr nochmals mit einigen Milliarden Euro weniger auskommen. Erste Berechnungen des Finanzministeriums deuten daraufhin, dass die Steuereinnahmen 2020 um etwa 10 Milliarden Euro unter der Schätzung vom vergangenen Mai bleiben könnten. Damals hatte der Arbeitskreis Steuerschätzung bereits einen Rückgang der Einnahmen des Bundes um 44 Milliarden Euro prognostiziert. Der Einbruch ist das Ergebnis der Coronakrise: Kontaktbeschränkungen, Geschäftsschließungen, Kurz­arbeit und Schrumpfung der Wirtschaft um etwa 5,8 Prozent in diesem Jahr. Die Unternehmen zahlen weniger Gewinnsteuer, die Beschäftigten weniger Lohn- und Einkommensteuer. Wie sich die coronabedingte Wirtschaftskrise genau auf die Staatsfinanzen auswirkt, ist augenblicklich jedoch schwer zu ermitteln. Der weitere Rückgang der Steuereinnahmen könnte sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Aber nicht nur die Folgen der Coronakrise sind dafür verantwortlich, sondern auch frühere Beschlüsse der Koalition. So haben Union und SPD die Steuerbelastung leicht gesenkt, um die sogenannte kalte Progression auszugleichen. Außerdem steigt 2021 beispielsweise der steuerliche Kinderfreibetrag. Auch die Kassen brauchen extra Geld Neben geringeren Einnahmen machen sich im Bundeshaushalt nächstes Jahr auch teilweise höhere Ausgaben bemerkbar. Wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit und verminderten Arbeitszeiten gehen den gesetzlichen Krankenkassen Sozialbeiträge verloren. Sie haben bereits einen Zuschussbedarf aus dem Bundeshaushalt von rund 17 Milliarden Euro angemeldet. Auch die Bundesagentur für Arbeit dürfte eine Finanzspritze brauchen. Positiv wirkt der bescheidenen Finanzlage die Erholung der Wirtschaft entgegen. Nach Einschätzung von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) verläuft sie in Form des Buchstaben V – soll heißen: scharfer Rückgang, aber auch schnelle Erholung. Nächstes Jahr könnte das Wachstum um die 4 Prozent betragen. Voraus­setzung: Harte Kontaktbeschränkungen wie dieses Jahr werden nicht mehr eingeführt. Trotzdem, so Scholz und Gatzer, muss zumindest der Bund auch 2021 mit zusätzlichen Schulden rechnen. Er wird seine Ausgaben nicht aus den Einnahmen decken können wie in den vergangenen Jahren. Es geht wohl kein Weg daran vorbei, die Schuldenbremse nach 2020 auch für 2021 außer Kraft zu setzen. Dieses Jahr plant Scholz mit einem schuldenfinanzierten Defizit von rund 200 Milliarden Euro. Wenn es gut läuft, sinkt diese Summe bis Jahresende auf 150 Milliarden. Nächstes Jahr könnten dann zusätzliche Kredite von etwa 80 Milliar­den Euro nötig werden. Den Haushalt für 2021 und die mittelfristige Finanzplanung beschließt das Bundeskabinett voraussichtlich in zwei Wochen. Steuererhöhungen oder wesentliche Sparmaßnahmen will die Koalition den Bürger:innen im Jahr der Bundestagswahl wahrscheinlich nicht zumuten. So wird der gesamte Schuldenstand einstweilen weiter steigen – bis er durch den erwarteten Aufschwung von selbst wieder abnimmt.
Hannes Koch
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Psychokrimi im Ersten: Blaues Wunder in Karlsruhe - taz.de
Psychokrimi im Ersten: Blaues Wunder in Karlsruhe Im neuen ARD-Krimi „Sechs Tage Angst“ spielt die russische Drogenmafia mit den Ermittlern. Sogar die Staatsanwältin (Katharina Böhm) steht unter Mordverdacht. Tom und Katja Schilling (Thomas Sarbacher und Katharina Böhm) inspizieren das ausgebrannte Auto, in dem die verkohlte Leiche eines Weißrussen gefunden wurde. Bild: swr/krause-burberg Täter- und Ermittlerperspektiven wechseln gleich mehrfach. So zeigen bereits die ersten Szenen des SWR-Krimis die wichtigsten Akteure: Die russische Drogenmafia ermordet ihren Kurier Igor. Staatsanwältin Katja Schilling entdeckt Igors Schwester am Tatort und damit ihre wichtigste Zeugin. Schillings langjähriger Erzfeind, der Bandenchef Mankoff, landet in Untersuchungshaft. Der Fall scheint klar. Doch sechs Tage vor der wichtigen Zeugenvernehmung bläst die Mafia von Karlsruhe zur Hetzjagd auf die Zeugen. Die Justiz gerät unter Druck, und Katja Schilling erlebt ihr blaues Wunder. Die Staatsanwältin, Katharina Böhm in der Hauptrolle, wird jäh vom Souverän in Amtsrobe zum Spielball der badischen Unterwelt. Die Fernsehkrimiautoren Johannes Dräxler und Remy Eyssen, bekannt u. a. durch „Die Kommissarin“ und „SOKO Wien“, haben Schilling dabei recht naiv und allzu verletzlich angelegt. Hier stolpert sie über eine Studentenliebschaft, dort fällt sie auf einfache Tricks herein. Erschwerend für die geschwächte Staatsdienerin ist es – hier wird nun ein altbekanntes Krimimotiv bemüht –, dass Staatsanwaltschaft und Polizei sich beharken, zumal Schillings Exmann ermittelt. Diesen Ungeliebten spielt Thomas Sarbacher übrigens ausgezeichnet. Der aus einigen „Tatort“-Folgen bekannte schweizerische Regisseur Markus Fischer inszeniert seine Hauptfigur ziemlich sentimental. Der Film ist aber ohnehin kein Actionthriller, trotz ein paar klassischer Straßenszenen wie Blaulichtfahrten und quietschende Reifen im Parkhaus. Auch die Prozessszenen sind meist biederes Zimmertheater. Vielmehr ist „Sechs Tage Angst“ ein Psychokrimi: Eine verängstigte, einsame Kronzeugin, überzeugend gespielt von der jungen Natalie Rudziewicz, auf der Flucht vor dem kaltblütigen Bandenboss Mankoff. Der sitzt zwar ein, doch von Dirk Martens mit wenigen Worten und einer großartigen Mimik eisigen Kalküls gespielt, ist die Schreckensfigur Mankoff über seinen Klan allgegenwärtig. Eine glänzende Musikauswahl von Peter Scherer verstärkt dieses Spiel bis zur Beklemmung. So werden ein paar Längen wett gemacht. Und der Film führt in ein durchaus spannendes Geflecht von Misstrauen, Verrat und wachsender Angst, ein intelligent eingefädeltes Fluchtszenarium mit überraschenden Wendungen. Besonderer Verdienst ist der konsequente Bruch mit dem lieb gewonnenen Zuschauergefühl, die Guten gut zu kennen, wenn die Staatsmacht im Fernsehen auf Verbrecherjagd geht. Sechs Tage Angst. Mittwoch, 13.1.2010, 20.15 Uhr. ARD. Mit Katharina Böhm. Regie: Markus Fischer. 89 Minuten.
Peter Korneffel
Im neuen ARD-Krimi „Sechs Tage Angst“ spielt die russische Drogenmafia mit den Ermittlern. Sogar die Staatsanwältin (Katharina Böhm) steht unter Mordverdacht.
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Kindertherapeutin über Zukunftangst: „Das Problem sind die Erwachsenen“ - taz.de
Kindertherapeutin über Zukunftangst: „Das Problem sind die Erwachsenen“ Isca Salzberger-Wittenberg musste als Kind eines Rabbiners vor den Nazis fliehen. Die 100-Jährige versteht gut, dass die Klimajugend protestiert. Isca Salzberger-Wittenberg in ihrem Londoner Wohnzimmer Foto: Karolina Maria Dudek Isca Salzberger-Wittenberg empfängt mich in ihrem schönen alten Haus im Londoner Stadtteil Golders Green. Sie sitzt in einem gemütlichen Sessel mit Blick auf Büsche und Bäume im Garten. Auf dem Wohnzimmerboden stehen noch etliche Vasen mit Blumen und unter der Decke klebt ein goldener Luftballon – Überbleibsel von ihrem 100. Geburtstag im März. Die freundliche alte Dame beantwortet meine Fragen mit großer Ausdauer, manchmal fragt sie auch interessiert zurück und erkundigt sich nach dem Leben in Deutschland. wochentaz: Sie sind seit über 70 Jahren Kinder-Psychotherapeutin und Sie interessieren sich sehr für das Weltgeschehen. Was halten Sie von den aktuellen Protesten junger Leute gegen die Klimapolitik ihrer Regierungen? Isca Salzberger-Wittenberg: Die verstehe ich sehr gut. Die Zukunft dieser Jugendlichen ist wegen des Klimawandels gefährdet. Ich mache mir große Sorgen um meine Enkel und Urenkel. Es wird Dürren geben und Hunger und viele Flüchtlingsbewegungen. Viele Leute nehmen das Thema nicht ernst. Wir beuten die Natur und unsere Lebensgrundlagen aus. Das ist sehr deprimierend. im Interview:Isca Salzberger-Wittenberg Die Frau Isca Salzberger-Wittenberg wurde 1923 als jüngste von drei Schwestern in Frankfurt am Main geboren. Ihr Vater war der bekannte Rabbiner Georg Salzberger. Sie besuchte die jüdische Grundschule in Frankfurt. 1939 flüchtete sie mit ihren Eltern nach London. Als ihre ältere Schwester 1962 starb, heiratete sie deren Witwer und zog die beiden Söhne groß. Inzwischen hat sie fünf Enkel und vier Urenkel. Heute lebt sie mit einer Pflegerin in ihrem Haus im Londoner Stadtteil Golders Green. Im März feierte sie ihren 100. Geburtstag. Die Therapeutin Isca Salzberger-Wittenberg ist eine der ältesten noch lebenden Kinderpsychotherapeutinnen. Sie arbeitete 25 Jahre lang an der Tavistock-Klinik in London, der größten Einrichtung für Kinder- und Jugendpsychotherapie in Großbritan­nien. Zehn Jahre lang war sie dort Vizepräsidentin. Salzberger-Wittenberg gab 50 Jahre lang Seminare für Säuglings- und Kleinkindbeobachtung. Sie hat zahlreiche Fachartikel veröffentlicht und drei Bücher geschrieben beziehungsweise mit herausgebracht: „Psychoanalytisches Verstehen von Beziehungen. Ein Kleinianischer Ansatz“ (1973), „Die Pädagogik der Gefühle. Emotionale Aspekte beim Lehren und Lernen“ (1983) und „Beginnen und Beenden im Lebenszyklus“ (2013). Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Protestierende Jugendliche, die in Deutschland und in Großbritannien Straßen blockieren, werden von manchen als Kriminelle bezeichnet. Das ist absurd. Sie setzen sich doch für die Zukunft unseres Planeten ein. Das Problem sind die Erwachsenen, die den Klimawandel und die Umweltzerstörung verdrängen, nicht die protestierenden Jugendlichen. Psychotherapeuten berichten, dass viele Kinder und Jugendliche heute depressiv werden, weil sie Zukunftsängste haben. War das immer schon so? Nein, das ist eine neue Entwicklung. Früher hatten Jugendliche auch viele Probleme. Viele hatten Gemütsschwankungen, sie nahmen Drogen oder sie tranken zu viel. Die meisten Jugendlichen haben eine schwierige Zeit. Sie gehen durch so viele Veränderungen mit ihrem Körper und in ihrem Leben. Das war früher nicht anders als heute. Aber die verbreitete Zukunftsangst ist neu. Sie haben in den 70er Jahren eine Beratungsstelle für Jugendliche an der bekannten Londoner Tavistock-Klinik mitbegründet. Warum war Ihnen das wichtig? Ich wollte, dass Jugendliche einfach einen Termin machen und sich beraten lassen können. Das Angebot gibt es heute noch. Sie bekommen aber nur drei Termine. Danach entscheiden die Therapeuten, ob eine längerfristige Therapie sinnvoll ist. Nach drei Sitzungen kann man gut feststellen, ob jemand die eigene Situation ernsthaft verbessern möchte. Sie selbst sind in den 20er und 30er Jahren in Frankfurt aufgewachsen. Rückblickend könnte man sagen: Als jüdisches Mädchen hätten Sie allen Grund für Zukunftsängste gehabt. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Meine beste Freundin war ein christliches Mädchen: Hannelore. Sie lebte mit ihrer Familie bei uns im Haus und wir hatten viel Spaß. Ich war die jüngste Tochter des Rabbiners Georg Salzberger. Die Leute kamen mit allen ihren Problemen zu ihm. Ich mochte es nicht so sehr, dass immer fremde Leute bei uns zu Hause waren. Aber ich liebte die jüdischen Festtage, Pessach zum Beispiel. Da durften wir lange aufbleiben und es wurde viel gesungen. Außerdem machten wir schöne Urlaubsreisen in die Berge. In unserem Haus waren auch interessante Menschen zu Gast, der Religionsphilosoph Martin Buber zum Beispiel. Auch mit dem Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm waren meine Eltern befreundet. Sie haben sich sogar im Haus seiner Familie kennengelernt. 1933 kamen die Nazis an die Macht. Was änderte sich für Sie? Es begann schleichend. Plötzlich musste ich Angst haben, dass mich christliche Schulkinder vom Fahrrad schubsten. Auf den Litfaßsäulen waren judenfeindliche Bilder und Schlagzeilen. Wir lernten schnell, den Mund zu halten, um uns und unsere Familien nicht zu gefährden. Dann durften wir plötzlich nicht mehr ins Theater gehen, Geschäfte wurden angegriffen, und die ersten Bekannten emigrierten. Während unserer letzten beiden Jahre in Frankfurt hatte ich immer Angst, dass sie uns abholen und töten würden. Ich konnte die Erwachsenen nicht verstehen, die sagten, das würde alles vorbeigehen. Erinnern Sie sich an die November­pogrome 1938? Ja, es war die Hölle. In der sogenannten Kristallnacht wurden beide Synagogen, an denen mein Vater Rabbiner war, von den Nazis angezündet. Mein Vater lief frühmorgens hin, aber er konnte nichts mehr ausrichten. Neben unserem Haus war ein jüdisches Jugendheim mit großen Glasfenstern. Die wurden eines Nachts eingeworfen. Meine Eltern waren nicht da, und wir drei Schwestern hatten große Angst. Ein anderes Mal kam die Gestapo auch zu unserem Haus. Sie sagten zu uns: „Jetzt werdet ihr zum ersten Mal lernen, was arbeiten bedeutet.“ Sie zwangen uns, die Bücher meines Vaters aus dem Fenster in den Hof zu werfen. Das waren sehr wertvolle religiöse Bücher. Danach nahm der Terror weiter zu. Ihr Vater wurde ins KZ Dachau gebracht. Zunächst hatte er sich versteckt und wurde von der SS gesucht. Unser Telefon wurde abgeschaltet. Meine Mutter war mit uns Kindern alleine. Mein Vater stellte sich, weil er dachte, dass es für seine Familie besser wäre. In Dachau musste er nachts in der Kälte draußen stehen, er wurde schrecklich geschlagen. Er hat uns nie detailliert davon erzählt. Aber er hat berichtet, dass ein jüdisches Quartett musizieren musste, während die Gefangenen geschlagen wurden. Wie konnte Ihr Vater aus Dachau freikommen? Einige Gemeindemitglieder hatten ihm eine gefälschte Arbeitserlaubnis für Amerika besorgt. Deshalb ließen ihn die Nazis wieder frei. Sie wollten uns einfach nur loswerden. Als er herauskam, hatte er eine schwere Lungenentzündung. Ich hatte, während er weg war, jeden Tag ängstlich am Fenster gestanden und auf den Postboten gewartet, der den Nachbarn kleine Schachteln mit der Asche ihrer Angehörigen gebracht hatte. Zum Glück kam es mit ihm nicht so weit. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Warum sind Sie erst 1939 aus Deutschland geflohen? Mein Vater, der ja Rabbiner war, sagte: „Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff.“ Und das, obwohl er wusste, was die Nazis vorhatten, weil er „Mein Kampf“ gelesen hatte. Erst nachdem er aus Dachau wiedergekommen war, wollte er mit uns fliehen. Er musste sich jede Woche bei der Gestapo melden. Es dauerte noch vier Monate, bis wir nach England ausreisen konnten. Es war eine schlimme Zeit. Wir mussten Listen mit allen unseren Sachen schreiben. Sie sagten, unseren Besitz würden wir wiederbekommen, aber natürlich ist alles weg. Ich half meiner Mutter, unser Visum für England zu organisieren. Das konnte ich, weil an meiner jüdischen Grundschule der Unterricht komplett auf Englisch gewesen war. Wir mussten Leute in Großbritannien finden, die für uns bürgten, dass wir dem Staat nicht zur Last fallen würden. Wir fanden sie schließlich in der jüdischen Gemeinde in London, und so konnten wir an Ostern 1939 mit einem kleinen Koffer pro Person und meinem Cello nach London fliegen. Als wir in der Luft waren, sagte mein Vater: „Jetzt kannst du ihnen auf den Kopf spucken!“ Wie wurden Sie von den Engländern aufgenommen? Sie waren sehr freundlich. Wenn ich sagte, dass ich aus Deutschland komme, sagten sie: „Die Deutschen sind so tüchtig.“ Das war vor dem Überfall auf Polen. Danach galten wir vielen als Feinde, obwohl wir ja aus Deutschland geflüchtet waren. Die Engländer ignorierten, dass in Deutschland Juden gejagt und ermordet wurden. Ich verstehe das nicht, denn Churchill und die Regierung wussten über die Verbrechen in den KZ Bescheid. Mein Vater wurde Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde in Belsize in Nordwest-London. Dort lebten sehr viele aus Deutschland geflohene Juden, er predigte auf Deutsch. Es war ein wenig so wie in Frankfurt: Die Leute hatten große Probleme, ihren Alltag zu bewältigen, es gab viel Trauer und viel Schmerz. Aber es gab auch viel Wärme und Verbundenheit. Sie waren 16, als Sie emigrierten. Was haben Sie damals gemacht? Das Jewish Refugee Committee besorgte mir eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester. Danach studierte ich Sozialwissenschaften in Birmingham. In den 50er Jahren gehörte ich zu den Ersten, die an der Tavistock-Klinik Kinderpsychotherapie studierten. Ich hatte berühmte Lehrer wie Esther Bick und John Bowlby. Ihre Schwester ist 1962 mit 44 Jahren gestorben. Sie haben dann ihre beiden Kinder großgezogen. Sie hatte mich vor ihrem Tod darum gebeten. Es war nicht einfach, neben meinem Beruf die beiden Jungs großzuziehen. Sie waren damals zwei und acht Jahre alt. Ich habe auch den Mann meiner Schwester geheiratet. Das ist erstaunlich. Wir haben uns sehr gut verstanden. Er war ein sehr freundlicher, ruhiger Mann. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ihren Erfahrungen mit den ­Nazis und Ihrer Entscheidung, Psychotherapeutin zu werden? Ich wollte eine Antwort auf die Frage finden, wie aus guten Freunden plötzlich Feinde werden konnten. Ich habe das am eigenen Leib erlebt. Die christlichen Kinder haben uns plötzlich angespuckt, wenn wir ihnen auf dem Weg zur Schule entgegenkamen. Mein Vater hatte viele nichtjüdische Bewunderer. Ich konnte nicht verstehen, dass die Leute uns plötzlich hassten und verfolgten. Wie können Menschen so grausam sein und solche Verbrechen be­gehen? Haben Sie eine Antwort gefunden? In der Psychotherapie wissen wir, dass alle Menschen zwei Seiten in sich tragen, eine liebevolle und eine grausame oder gleichgültige. Als Therapeutin versuche ich den Patientinnen und Patienten nahezubringen, beide Seiten zu verstehen und nichts zu verdrängen. Die Psychoanalyse lehrte mich, dass wir alle versuchen, andere zu beschuldigen, und dass wir unsere eigenen destruktiven Aspekte auf andere projizieren. Das kann Beziehungen belasten, aber auch zu Angriffen auf Fremde und sogar zum Völkermord führen. Wir müssen daran arbeiten, im Anderen das gemeinsame Menschliche zu sehen, statt ihm gefürchtete und schmerzliche Aspekte unseres Selbst zuzuschreiben. Machen die traumatischen Erfahrungen Ihrer Kindheit Sie zu einer besseren Therapeutin? Das möchte ich so nicht sagen. Aber wenn man selbst Schmerz erlebt hat, kann man den Schmerz der anderen vielleicht besser verstehen und ihnen helfen, ihn zu akzeptieren. Sie haben 50 Jahre lang Säuglings­beobachtung für angehende Therapeuten unterrichtet. Dabei mussten die Studierenden zwei Jahre lang einmal in der Woche mehrere Stunden lang ein Baby beobachten. Warum? Säuglingsbeobachtung ist eine wundervolle Sache. Die Studierenden gehen zu den Familien nach Hause und beobachten das Baby, was es macht und wie die Eltern mit ihm interagieren. Sie dürfen sich nicht einmischen, sie müssen die kleinsten Veränderungen beobachten und später im Seminar darüber berichten. Die Fähigkeit zu beobachten ist essenziell für Therapeuten. Wie hat sich der Umgang mit Säuglingen im Laufe der Zeit verändert? Als ich in England Kinderpflegerin gelernt habe, durften wir die Säuglinge nicht auf den Arm nehmen und trösten, wenn sie geweint haben. Das empfand ich als grausam. Ich bin nur in dieser Kinderstation geblieben, weil es einen kleinen Jungen gab, den ich ins Herz geschlossen hatte und den ich nicht im Stich lassen wollte. Heute ist es zum Glück selbstverständlich, dass man sich möglichst liebevoll um ein Baby kümmert. Arbeiten Sie heute noch als Therapeutin? Ich habe noch vier erwachsene Patienten, drei davon kommen schon sehr lange regelmäßig zu mir nach Hause. Eigentlich müssten sie nicht mehr kommen, aber sie wollen es. Während des Covid-Lockdowns haben wir die Sitzungen am Telefon gemacht. Eine weitere Langzeitpatientin kommt seit einiger Zeit nicht mehr. Sie hat akzeptiert, dass sie jetzt allein an ihren Problemen arbeiten muss. Ihre Abneigung gegen Beziehungen mit Männern hat sich geändert, und jetzt, mit 72 Jahren, hat sie geheiratet. Fühlen Sie sich nach mehr als 80 Jahren in Großbritannien als Britin? Nein, überhaupt nicht. Aber ich freue mich über die britische Staatsbürgerschaft und bewundere die Demokratie dieses Landes. Die britische Demokratie ist aber leider heute in Gefahr. Die Regierungspartei macht viele Fehler, aber es steht mir nicht zu, das öffentlich zu kritisieren. Wo fühlen Sie sich zu Hause? Nirgends, aber am ehesten noch in Israel. Ich war sehr oft da. In Israel wird mehr Wert auf die emotionale Gesundheit älterer Leute gelegt als in Großbritannien. Einige junge Britinnen und Briten möchten wegen des Brexits die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Wenn sie vor den Nazis geflüchtete Vorfahren haben, geht das unkompliziert. Ist das in Ihrer Familie ein Thema? Meine Enkelkinder denken tatsächlich darüber nach, und ich finde es völlig in Ordnung. Die Deutschen haben sich so verändert und viel dazugelernt. Die meisten sind heute Demokraten. Viele junge Deutsche kommen hierher und helfen im Jüdischen Flüchtlingskommittee mit. Deutschland ist heute ein guter Ort, auch für jüdische Menschen. Und Deutschland ist auch offen für Flüchtlinge, das ist sehr gut. In Ihrem jüngsten Buch sagen Sie, dass es wichtig ist, sich mit Trennungen, Leid und Tod auseinanderzusetzen. Wie schaffen Sie das selbst? Mein anstehender Tod macht mich sehr betroffen. Die Natur und die Bäume trösten mich. Wenn ich Blumen und Pflanzen sehe, den Vögeln zuhöre, die Wolken beobachte, fühle ich mich dem Leben verbunden und freue mich, dass es weitergehen wird, wenn ich nicht mehr da bin. Außerdem mache ich weiterhin einiges, was ich sehr liebe. Zum Beispiel treffe ich interessante Menschen und spiele jeden Tag Klavier. Ich denke dann an nichts anderes. Erst vor zwei Jahren habe ich wieder mit dem Klavierspielen angefangen. Davor hatte ich Cello gespielt, aber das schwere Cello konnte ich nicht mehr halten. Sie haben für die Neuauflage Ihres Buches ein zusätzliches Kapitel geschrieben: „Noch älter und dem Tode nahe“. Warum war Ihnen das wichtig? Sehr alte Menschen müssen mit so vielen Verlusten klarkommen: Verlust der Unabhängigkeit, Verlust von Freunden und Kollegen. Es ist schwer, mit dem Gefühl des Ausgeschlossenseins klarzukommen. Zum Beispiel, weil man nicht mehr gut hören oder sehen kann oder weil man einen Rollstuhl benötigt. Wie haben Sie Ihren 100. Geburtstag gefeiert? Meine Kinder haben ein wunderbares Konzert organisiert. Ein Cellist, dem ich vor vielen Jahren eine Ausbildung finanziert habe, hat für mich gespielt. Wir haben ein Straßenfest für die Nachbarn gemacht. Und ich habe so viele Blumen bekommen. King Charles und Queen Camilla haben eine schöne Karte geschickt. Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie niemals 100 Jahre alt werden wollten. Ich wollte keine Invalidin werden, und jetzt bin ich es doch in gewisser Weise. Ich benötige einen Rollstuhl, um das Haus zu verlassen. Das war mir zunächst peinlich, weil ich dachte, die Leute denken, dass ich kein aktives Leben mehr führen kann. Ich habe es tatsächlich erlebt, dass Leute meine Pflegerin angesprochen haben, statt mit mir zu reden. Ich muss auf so vieles verzichten. Es fühlt sich manchmal an, als sei ich wieder in meine Kindheit zurückgeworfen. Aber meine Neugier auf Menschen hat nicht nachgelassen, und ich liebe meine Arbeit. Ich bin ein sehr positiv gestimmter Mensch. Ich habe schlimme Zeiten erlebt, aber ich habe auch sehr viel Glück gehabt in meinem Leben.
Tina Stadlmayer
Isca Salzberger-Wittenberg musste als Kind eines Rabbiners vor den Nazis fliehen. Die 100-Jährige versteht gut, dass die Klimajugend protestiert.
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Bürger in Uniform - taz.de
Bürger in Uniform Scharnhorst-Kaserne präsentiert Bremer Militärgeschichte: Von der Bürgerkompanie bis zur Bundeswehr – fast alles Bürger in Uniform Wehrmacht? Zwei Offiziere, die in Opposition zur Naziführung stehen Bremen taz ■ Wer aufräumt, findet bisweilen Dinge, die der näheren Betrachtung lohnen. So ähnlich mag es Oberst Greiner gegangen sein, als er den Fahnensaal der Scharnhorst-Kaserne unter die Lupe nahm. Alte Fahnen, Uniformröcke und Orden verstaubten dort – von denen kaum noch einer der Soldaten wusste, wofür sie standen. Greiners Idee: eine Ausstellung. Eine, die historisch-didaktischen Ansprüchen genügt. Professionelle Hilfe holte sich Greiner dazu vom ehemaligen Kriegsdienstverweigerer und Mitarbeiter des Focke Museums, Heinz Gerd Hofschen. Der stellte nicht nur sein Fachwissen, sondern auch Exponate seines Hauses zur Verfügung. Zwei Traditionen charakterisieren demnach das Militär in Bremen: zum einen die Bürgerkompanien, die für den „Bürger in Uniform“ stehen, zum anderen das Stadtmilitär, das das „professionalisierte Töten“ (O-Ton Hofschen) repräsentiert. Erstere gingen zivilen Berufen nach und wählten ihre Offiziere aus den eigenen Reihen. Ihre letzte Sternstunde hatten sie in der Revolution von 1848: Auf ihren Druck hin erließ der Senat ein gleiches und freies Wahlrecht für alle Männer – das Bürgermeister Smidt freilich schon ein Jahr später wieder kippte. Für die andere Seite der Bremer Miltärgeschichte, den absoluten Gehorsam des Untertans, so lernen die BesucherInnen von Greiners kleiner Sammlung, stand das 75. preußische Infranterieregiment. Sein Schicksal war durch die militärische Niederlage im ersten Weltkrieg besiegelt. Die Wehrmacht wird bei der Ausstellung durch zwei Offiziere vertreten, die sich in Opposition zur Naziführung befanden. Oberst Hellmuth Groscurth und General Hans Graf von Sponeck. Die beiden, begründet Hofschen, sollten den heutigen Bundeswehrsoldaten als Vorbild dienen: „Es ging uns auch darum zu zeigen, welche Handlungsmöglichkeiten die Offiziere haben“, sagt Hofschen. Bei der Auswahl der Exponate dominieren Uniformenjacken und Helme. „Das war beabsichtigt Daran kann man sehen, wie sich der Charakter des Krieges verändert hat“, sagt Hofschen. Da bekommt die preußische Pickelhaube eine Tarnüberzug und die verschnörkelte, fast schon barocke Uniform des 19. Jahrhunderts weicht im ersten Weltkrieg der grauen Zweckuniform. Zusammen mit dem Maschinengewehr, so Hofschen, solle hier das Augenmerk auf die „Mechanisierung des Mordens“ gelenkt werden. In der letzten Vitrine setzt sich die Bundeswehr mit ihrer eigenen Geschichte auseinander. „Als die sich 1956 am Rande Bremens einrichteten, waren sie nicht unumstritten, sie hatten Anweisung, nicht mit Uniform in die Stadt zu gehen“, weiß Hofschen zu berichten. In Bremen, damals Hochburg der Arbeiterbewegung, herrschte gut zehn Jahre nach Kriegsende ein antimilitaristischer Konsens. Und auch später blieb die Stadt für die Bundeswehr kein einfacher Standort. Die Auseinandersetzungen um dieVereidigung von 1.700 Rekruten im Weserstadion im Mai 1980 bleibt dann auch nicht unerwähnt. Für bundesweite Empörung habe das kriminelle Verhalten der Protestierer gesorgt, heißt es auf einer erläuternden Tafel. Fritz Schorb
Fritz Schorb
Scharnhorst-Kaserne präsentiert Bremer Militärgeschichte: Von der Bürgerkompanie bis zur Bundeswehr – fast alles Bürger in Uniform
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■ Die rassistische Gewalt in Brandenburg nimmt ungebremst zu: Die neue deutsche Normalität - taz.de
■ Die rassistische Gewalt in Brandenburg nimmt ungebremst zu: Die neue deutsche Normalität Kaum ein Wochenende vergeht in Brandenburg ohne einen fremdenfeindlichen Übergriff. Am Wochenende hat ein junger Mann ohne Anlaß einem Asylbewerber aus dem Libanon von hinten ein Messer in den Körper gerammt. Erst vergangene Woche schlug ein 17jähriger einem Aussiedler ins Gesicht und brüllte: „Hier wird deutsch gesprochen. Wir werden euch alle töten.“ Mitte Februar sorgte eine tödliche Hetzjagd auf einen algerischen Asylbewerber für Schlagzeilen. Wenn man von diesen Ereignissen hört, kann man nicht glauben, daß sie im heutigen Deutschland passieren. Bei dem, was in Brandenburg augenscheinlich jeden Tag geschehen kann, kann man nicht mehr von einer Häufung von Einzelfällen sprechen. Wenn eine Reihe solcher Ereignisse ohne massenhafte Proteste auf offener Straße passiert, dann haben Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß einen festen Platz in der Gesellschaft gefunden. Ein fundamentaler Unterschied in der Einstellung zu Fremden in Ost- und Westdeutschland kann nicht mehr geleugnet werden. Obwohl oder gerade weil dort der Anteil von Ausländern an der Bevölkerung vergleichsweise gering ist, scheinen sie um ihr Leben fürchten zu müssen. Ich als Deutscher türkischer Herkunft, der sein Land im Europäischen Parlament vertritt, haben alle Grund, Angst zu haben, wenn ich mich im Osten dieses Landes aufhalte. Wenn die ausländerfeindlichen Banden um die Häuser ziehen, werde auch ich mein Gesicht und meine Hautfarbe nicht hinter meinem deutschen Abgeordnetenausweis verstecken können. Angesichts dieser Situation müßte die Bevölkerung Brandenburgs eigentlich alarmiert sein. Aber von Verunsicherung ist nichts zu spüren. Außer einem leicht gesagten Wort des Bedauerns ist von Brandenburgs Landesvater Stolpe oder anderen Regierenden im Osten Deutschlands nichts zu hören. Aber betroffene Sonntagsreden sind jetzt nicht mehr genug. Die Arbeitslosigkeit und die allgemeine Verunsicherung durch den gesellschaftlichen Wandel können immer als Rechtfertigung herhalten. Warum werden keine Konsequenzen aus den Ereignissen gezogen und öffentlich thematisiert, wie es dazu kommen konnte? Wo sind die Pläne, um in Zukunft weitere Gewalt gegen Fremde zu unterbinden? Mit mehr Polizei wird das Problem nicht zu lösen sein. Dürfen wir – zu ihrem eigenen Schutz – keine Asylbewerber mehr nach Brandenburg gehen lassen? Ozan Ceyhun Europaabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen
Ozan Ceyhun
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ARMEN KINDERN NUTZEN STEUERSENKUNGEN NICHT: Arbeitslose brauchen Familienpolitik - taz.de
ARMEN KINDERN NUTZEN STEUERSENKUNGEN NICHT: Arbeitslose brauchen Familienpolitik Jedes dritte Kind in Schwerin oder Halle und jedes fünfte in Hamburg oder Kiel wird von der Politik im Stich gelassen. Zu diesem Ergebnis kommt, wer den neuen Familienbericht der Bundesregierung mit den aktuellen Zahlen über die Kinderarmut kombiniert. Hartz IV hat mit einem Schlag – Armut per Gesetz – die Zahl unter Armutsbedingungen lebender Kinder und Jugendlicher auf ein Rekordniveau von 1,7 Millionen ansteigen lassen. Zwar werden im Wahlkampf neue Wohltaten für Familien proklamiert. Doch verarmte Kinder und ihre Eltern bleiben ohne Stimme. Wer arbeitslos ist oder sich mit 1-Euro- oder Minijobs über Wasser zu halten versucht, dem helfen keine Steuersenkungen. Auch vom SPD-Elterngeld profitieren nur gut Verdienende. Wer ohne Erwerbseinkommen ist, stünde durch den Wegfall des bisherigen Erziehungsgeldes sogar schlechter. Von einem Ausbau außerhäuslicher Betreuung könnten zwar auch verarmte Kinder profitieren. Er soll aber nicht vorrangig benachteiligten Kindern helfen, sondern die Erwerbsoptionen gut ausgebildeter Mütter verbessern. Zudem hängt die Qualität der Betreuung von der Mitarbeit und dem Portemonnaie der Eltern ab: Gute Ganztagsschulen beruflich erfolgreicher und engagierter Eltern liegen in den besseren Stadtvierteln, heruntergekommene Verwahranstalten in den Armutsghettos. Parteiübergreifend ist Familienpolitik aktuell nicht einfach auf Erwerbsarbeit fixiert. Vielmehr soll Erwerbsarbeit an die Stelle bisheriger Familienpolitik treten. Man hofft, dass die Massenarbeitslosigkeit sich durch mehr Wirtschaftswachstum und den Bevölkerungsrückgang bald verflüchtigt. Altbackene Familienstrukturen müssten daher den Anforderungen einer globalisierten Arbeitswelt angepasst werden. Doch dies ist eine trügerische Hoffnung. Zwar mögen künftig mehr gut ausgebildete Frauen beruflich reüssieren, doch gering qualifizierte Mütter (und Väter) machen auch künftig keine Karriere. Für sie bleiben allenfalls Billigjobs ohne Perspektive. Erwerbsarbeit kann Familienpolitik nicht ersetzen. HARRY KUNZ
HARRY KUNZ
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Krankenkassen zahlen Ehec-Ausgleich - taz.de
Krankenkassen zahlen Ehec-Ausgleich NACHSCHLAG 1,5 Millionen Euro für Schleswig-Holsteins Uni-Kliniken. Die Kosten deckt das nicht Nach der Ehec-Epidemie im vergangenen Jahr soll das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) eine Sonderzahlung von den gesetzlichen Krankenkassen im Land erhalten. Wie das UKSH und die Kassen am Donnerstag mitteilten, habe man sich auf einen einmaligen Pauschalbetrag in Höhe von 1,5 Millionen Euro geeinigt. Das Geld soll für den zusätzlichen Aufwand des Klinikums im Zusammenhang mit der gefährlichen Ehec-Welle 2011 entschädigen. Das UKSH behandelte den Angaben zufolge rund 300 Ehec- und HUS-Patienten. Ärzte und Pfleger waren über Wochen Tag und Nacht im Einsatz. Die Ehec-Kosten seien deutlich höher gewesen als die nun vereinbarte Sonderzahlung, sagte der UKSH-Sprecher Oliver Grieve. Er bezifferte die Summe auf rund 5,5 Millionen Euro. Jetzt sei die Politik gefordert, die Verluste auszugleichen, so Grieve. In der Mitteilung hieß es: „Es darf nicht sein, dass nur die Gemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten und die betroffenen Krankenhäuser die Kosten einer Epidemie tragen müssen, die die gesamte Gesellschaft betrifft.“ Die vereinbarte Sonderzahlung ist eine freiwillige Leistung der Krankenkassen. In dem gesetzlich vorgegebenen Abrechnungssystem über Fallpauschalen ist die Bezahlung von zusätzlichen Aufwendungen nicht vorgesehen. Auch mit anderen Krankenhäusern, die wegen der Ehec-Epidemie zusätzlichen Aufwand hatten, trafen die Kassen Vereinbarungen über Sonderzahlungen.  (dpa)
taz. die tageszeitung
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Reich werden mit der PDS - taz.de
Reich werden mit der PDS Wer eine Wahlwette auf die PDS abschließt, kann viel Geld verdienen – falls sie die Wahlen gewinnen sollte BERLIN rtr/taz ■ Wer in London auf die PDS als stärkste Partei setzt, darf auf eine Quote von 1:151 hoffen. Für einen Pfund Einsatz könnte im Falle eines Wahlsiegs also mit 151 Pfund Gewinn gerechnet werden. Die Buchmacher von Ladbrokes, London, sehen damit die Chancen der PDS auf einen Wahlsieg ähnlich mies wie die Meinungsforscher. Die Chancen des Bundeskanzlers auf eine zweite Amtszeit sind laut Ladbrokes dagegen gestiegen. Das Wettbüro setzte die Quote für Schröder von bisher 1:3 auf 1:2 herunter. Unions-Kandidat Edmund Stoiber (CSU) wird von Ladbrokes weiter als Favorit für die Kanzlerschaft geführt. „Die Deutschen sind von Schröders Flutmanagement sichtlich beeindruckt“, kommentierte ein Sprecher. In der Wette „Welche Partei erhält die meisten Sitze?“ liegt die CDU/CSU bei Ladbrokes mit einer Quote von 1:1,33 zurzeit klar in Führung. Die SPD kommt auf eine Quote von 1:2,75. FL kommentar SEITE 12
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Wer eine Wahlwette auf die PDS abschließt, kann viel Geld verdienen – falls sie die Wahlen gewinnen sollte
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heute in hamburg: „Die Geschichte der Frauen wird ausgelassen“ - taz.de
heute in hamburg: „Die Geschichte der Frauen wird ausgelassen“ Vortrag und Diskussion: „Geschichte und Aktualität der Frauen­bewegung in der Bundes­republik“, mit Gisela Notz, Von-Melle-Park 9, Raum S27, 18 Uhr Interview Julika Kott taz: Frau Notz, wie sichtbar sind Frauenbewegungen in der deutschen Geschichte? Gisela Notz: Heutzutage wird mehr darüber veröffentlicht, aber insgesamt sind Frauen in der Geschichte viel weniger präsent als Männer. Geschichte wird hauptsächlich durch Männer geschrieben. Es wurde von den Frauen zu wenig dokumentiert und an Archive übermittelt, sodass die Quellenlage in der Frauenbewegung sehr dünn ist. Das kritisierte die westdeutsche Frauenbewegung schon lange: Man spricht von „HISstory“ und eben nicht von „HERstory“. Weil in Geschichtsbüchern nur Männer zu sehen sind? Genau, es werden namhafte Männer gezeigt, aber die Geschichte der Frauen und der unteren Schichten wird weitestgehend ausgelassen. Dagegen wollen wir ankämpfen und deshalb beschäftigen wir uns als Feministinnen auch verstärkt mit Frauengeschichte. Wie sind Kapitalismus und Sexismus verknüpft? Wir sprechen schon lange vom kapitalistischen Patriarchat oder vom patriarchalen Kapitalismus, um diese enge Verknüpfung aufzuzeigen. Der Kapitalismus beruht sowohl auf der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und auf der Frauenunterdrückung als auch auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Welche Rolle spielt Hamburg in der Geschichte der Frauenbewegungen? Hamburg war schon immer eine frauenbewegte Stadt und spielte als Hafenstadt eine große Rolle in der Arbeiterinnenbewegung. Foto: Evelin FrerkGisela Notz, geboren 1942, ist Sozial­wissenschaftlerin und Historikerin mit Schwerpunkt auf der historischen Frauen­forschung. Gab es da besondere Protagonistinnen? Luise Zietz war eine führende Sozialdemokratin und Wahlrechtskämpferin, die beim Arbeiterstreik 1896/97 die Frauen der Hafenarbeiter in eigens dafür organisierten Versammlungen dazu aufrief, ihre Männer beim Streik zu unterstützen. Auch Alma Wartenberg war eine wichtige Figur der Hamburger Frauenbewegung, die sich für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen stark machte. Sie organisierte Veranstaltungen zur Aufklärung und verkaufte sogar Verhütungsmittel aus ihrem kleinen Koffer – das war damals strafbar. Vor welchen Herausforderungen stehen Frauenbewegungen heute? Angesichts der wieder erstarkten rechtspopulistischen, konservativen AkteurInnen, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen, brauchen wir breite Bündnisse zur Organisierung von Widerstand gegen Privatisierung, Ausgrenzung, Gewalt und Unterdrückung.
Julika Kott
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Dürftige Hintergründe, hilfreiche Tips - taz.de
Dürftige Hintergründe, hilfreiche Tips ■ Das „Reiseland Costa Rica“ aus der edition aragón Seitdem Costa Rica auch für deutschsprachige Urlauber ein beliebtes Reiseziel und der Tourismus zur zweitwichtigsten Einnahmequelle geworden ist, sind in Deutschland mindestens sechs Reiseführer über das mittelamerikanische Land erschienen. Die edition aragón hat sich einen Namen bei Reiseführern für Individualtouristen gemacht. Der Fernreisende nach Taiwan, Vietnam oder Iran wird durch das Verlagsprogramm ebenso bedient wie der Städtereisende nach Vancouver oder der Pauschaltourist an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Der Band „Reiseland Costa Rica“ von Andreas Drouve ist handlich, umfassend und liefert detaillierte Routenbeschreibungen. Sympathisch ist die Idee des Autors, im zweiten und wichtigsten Teil seines Buches die touristischen Informationen durch Auszüge aus seinem privaten Reisetagebuch aufzulockern. Drouve entschied sich, im Gegensatz zu anderen Costa-Rica-Reiseführern, für die sinnvolle Gliederung in sieben Kapitel, die den Provinzen des Landes entsprechen. Eine Gliederung in Nationalparks und Reservate sprengt den Rahmen eines handlichen Reiseführers. Der einleitende, erste Teil zu Geschichte, Wirtschaft und vor allem Kultur hätte etwas ausführlicher ausfallen können. Der interessierte Leser vermißt Angaben zur aktuellen Politik und sozialen Situation, zumal sich seit 1994 die Negativmeldungen über Costa Rica in der deutschen Presse häufen. Und die oberflächlichen Berichte über das Geiseldrama ist auch nicht gerade geeignet, der kleinen Nation zumindest eine faire Darstellung einzuräumen. Natürlich dürfen in einem dreiseitigen Abriß über die Literatur des Landes die wichtigsten Namen (Alberto Cañas, Alfonso Chase) ebensowenig fehlen wie die wichtigsten Neuerscheinungen der neunziger Jahre. Schließlich verfügt das Land auch heute noch über eine blühende und sehr interessante Literaturszene. Die Werke der ambitionierten jungen Autorinnen und Autoren (Rodrigo Soto, Tatiana Lobo) unterscheiden sich grundlegend von denen ihrer KollegInnen in Nicaragua, El Salvador oder Guatemala. Drouve hätte sich nur die Mühe machen müssen, die entsprechenden Leute zu kontaktieren bei Verlagen in der Hauptstadt San José oder im Umfeld der Uni in San Pedro. Entschädigt wird der Leser jedoch durch den umfassenden dritten Teil mit dem Titel „Costa Rica von A-Z“. Die alphabetischen Reisetips sind hilfreich für den auf eigene Faust reisenden Touristen. Ob er Informationen zu Hotel-, Touren- und Flugbuchungen, Angaben zu Spanischkursen an der Pazifikküste oder ganz einfach nützliche Telefonnummern sucht – fast immer kann er sich auf Drouves Fleißarbeit verlassen. Unter „Autoverleih“ vermißt der Leser jedoch Informationen über Firmen, die im Schadensfall keine Eigenbeteiligung erheben. Drouve verschweigt, daß die von ihm genannten meist internationalen Agenturen schon bei kleineren Schäden bis zu 1.000 US-Dollar vom Mieter erheben. Befremdend sind zudem die Angaben zu den hauptstädtischen Hotels. Als preisgünstige Alternative hätte Drouve auf die aus dem Boden sprießenden „Bed & Breakfast“-Pensionen verweisen können, die den kleinen Geldbeutel eines Rucksacktouristen nicht überstrapazieren. Dies hätte ihm den peinlichen Hinweis auf zwei stadtbekannte Stundenhotels erspart. Klaus Jetz Andreas Drouve: „Reiseland Costa Rica“, edition aragón, Moers 1995, 308 Seiten, 29,80 DM
Klaus Jetz
■ Das „Reiseland Costa Rica“ aus der edition aragón
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■ Ecuador: Verhaftungen - taz.de
■ Ecuador: Verhaftungen Quito (epd) — In Ecuador sind nach Angaben des Innenministeriums fünf Menschen, darunter ein Spanier und eine Deutsche, wegen des Verdachts auf Zusammenarbeit mit „subversiven Gruppen“ festgenommen worden.
taz. die tageszeitung
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Architekturbiennale Venedig: Textungeheuer, bunte Grafiktools - taz.de
Architekturbiennale Venedig: Textungeheuer, bunte Grafiktools Gerade findet in Venedig die 17. Architekturbiennale statt. Die Rolle und Möglichkeiten der Architekten und Planer werden dort überschätzt. Dänischer Entwurf auf der Archtiekturbiennale in Venedig Foto: imago Die diesjährige Biennale 2021 neigt sich dem Ende zu. Was aber bleibt? Die auf das Gelände der Giardini und des Arsenale konzentrierte Ausstellung ist, mit 61 nationalen Beiträgen und 17 kollateralen Events, naturgemäß in sehr vielen Händen von Unter­kuratoren. Dieser Umstand birgt die Gefahr der Verzettelung einer ausgegebenen Leitlinie. Die BiennaleDie Architekturbiennale in Venedig geht noch bis 21. November. Katalog, engl./ ital.: 2 Bände; 450 und 220 Seiten, 80 Euro Auch das diesjährige Motto – „How will we live together“ – ist kein gutes Bindemittel, weil jeder die Vorgabe sehr individuell auslegt, was schon in der Unschärfe der Formulierung dieses Themas angelegt ist. Damit sind wir bei einem immer wiederkehrenden Problem aller Architekturbiennalen: Fast nichts von dem, was man sieht, ist selbsterklärend oder Anschauungsobjekt an sich, das ohne Erklärungen auskommt, es sei denn man, gibt sich mit den vielen bunten „Bildchen“ zufrieden, auf denen manchmal tatsächlich Gebautes zu sehen ist. Meist aber sehen wir Textungeheuer, bunte Grafiktools oder geknipste Fotos: Mal schaut man Menschen beim Bauen zu, beim Zimmern, mal bei der Zurichtung und Handhabung von Wellblech, Dachpappe und Lehmziegeln. Viele Kabinette sind ärgerlich textlastig über das zuträgliche Maß einer verdaubaren Rezeption hinaus. Wände mit Blättern tapeziert Ein weiteres Problem: Die meisten Kuratoren können nicht komprimieren, eine Sachlage anschaulich auf den Punkt (zur Anschauung) bringen, konzentriert ein Resümee in Text und Bild vorlegen. Es gibt Räume in denen Hunderte (sic!) eng bedruckte DIN-A4-Blätter an die Wände tapeziert sind; in einem anderen Raum sind 104 spielkartengroße Texte zu einem Thema an die Wand gepinnt: Gut gemeint – schlecht gemacht resp. nachgedacht. Überall begegnet man komplizierten Grafiken, mehrfarbigen Diagrammen (deren Decodierung schwerfällt), Renderings ohne wirkliche Botschaft, kryptischen Installationen und elend langen Listen von irgendetwas. Was sie aussagen oder belegen wollen ist – na ja, dass es überall Probleme gibt: Katastrophen, Ressourcenknappheit, Ausbeutung, konzerngesteuerte Raffgier, Raubbau an der Natur. Wenn man den Parcours im zentralen Pavillon beginnt, muss man aufpassen, dass einem die Zeit nicht fortläuft. Man muss sich selbst antreiben, um an „Eingemachtes“ zu kommen: Man ist froh, wenn man hier mal einem abgebildeten Gebäude (Architektur!) begegnet, auch wenn sich der Sinn des Gezeigten nicht immer gleich erschließt. Fragen ohne Antworten In den Länderpavillons wird eingangs eine missliche Lage mit vielen Worten skizziert; es wird eine Frage aufgeworfen. Dann werden Belege dafür vorgelegt, die Lage wird illustriert – meist aber ohne Aha-Effekt, denn selten wird eine Lösung angeboten. Vor allem keine, für die Architekten mit ihrem Metier und Vokabular zuständig sind. Dänemark präsentiert sich als Teestube, in der im Pavillon selbstgereinigtes Wasser, selbstangebauter Tee und selbstgetöpferte Tassen geboten werden. Upps! Na ja … politisch korrekt. Architektur? Spanien hängt tausend DIN-A4-Blätter an die Decke – unlesbar. Der Schweizer an sich problematisiert Grenz­erfahrungen. Die Ausstellung selbst bleibt kryptisch modellhaft. Russland rekapituliert die Geschichte seines Pavillons auf kopierten Buchseiten in Postkartengröße und zeigt einen martialischen Animationsfilm mit in Uniformen gekleideten und schwer bewaffneten Menschen. Architektur? Japan zerlegt ein klassisches (Tee-)Haus und sortiert fein säuberlich die Bauteile nach Typus, Stärke, Länge auf dem Boden des Pavillons; immerhin gibt dies Einblick in den Prozess des Baues vor der Architektur. Schön gemacht. – So geht es weiter. Das metiersbedingte Architektonische der Architektur diesseits der Katastrophen bleibt zumeist auf der Strecke. Der Inhalt des Deutschen Pavillons ist zynisch, banal und genau deshalb nicht sonderlich originell, weil er besonders originell sein will. Das aber reicht nicht. Zu sehen ist nichts. Barcodes an die Wand zu tapezieren ist nicht zeigen, sondern verweisen. Wenn man aber selbst nichts zu sagen hat, soll man das Feld anderen überlassen und schweigen. Stimmen im Netz raunen zu lassen hat auf einer Ausstellung nichts zu suchen. Als Kontrast empfiehlt sich der Belgische Pavillon: Architekturmodelle im ungewohnten Maßstab 1:15. Man sieht auf Augenhöhe präsentierte fantasiegetränkte bauliche Capriccios gleichsam wie am Straßenrand aufgestellt. Ein sinnliches Vergnügen, eins der wenigen – irgendwie entwaffnend. Bescheidene Auftritte Und die Schatzkammer Arsenale? In der Summe sind hier, in den Werfthallen, auf sehr angenehme Weise, bescheidene Auftritte zu beobachten. Angesichts der auch an diesem Ort aufgezählten globalen Probleme (Wasser- und Materialknappheit, Überschwemmungen, Erdbeben) sieht man nachdenkliche, lösungsorientierte, am Einfachen entlang gedachte Inszenierungen und auch bauliche Vorschläge. Keine architektonischen Triumphgebärden vergangener Biennalen, keine eitlen Starallüren einzelner Architekten, sondern quasi der Twist zwischen ruralen und urbanen Strategien des Bauens (noch nicht der Architektur). Manchmal wird es hier arg gemütlich, denn das vorherrschende Darstellungsmittel sind puppenstubenartig anmutende Modelle, denen man dann auch wieder nicht traut. Hier setzt sich aber eine Art trotzig vorgetragener Optimismus durch, der in starkem Kontrast zu den Problemen steht. Eine interessante Beobachtung: Das klassische Hofhaus als architektonisch immer noch raffinierter Typus ist mittlerweile weltweit in vielerlei Variationen und Kombinationen (gereiht, gestapelt, verwoben) eine Grundfolie für die Organisation von Wohnmodellen für alle sozialen Schichten und Altersgruppen. Ein Beweis dafür, dass sich Bewährtes morphologisch weiterentwickeln lässt. Raumschiff Enterprise Man begegnet aber auch hier Überinszenierungen à la Raumschiff Enterprise, Geschichten, die in Comicmanier erzählt werden und mit unnötigen Effekthaschereien versehen sind. Durchlaufende Themen bleiben aber Nachhaltigkeit (im Bau und im Gebrauch), modulares (also preiswertes) Bauen, Formen der Landerschließung, handwerkliche Traditionen, Material­recherche, Schutz vor Kälte, Hitze, Wind und Regen. Damit sind wir bei den Urfragen der Architektur. Zu deren Kern aber dringt die Biennale nicht vor. Manchmal wünscht man sich etwas Schönes: etwas Gebautes, vor dem man einfach stehen bleibt und staunt, etwas, um „dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst (Baukunst), Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit – irgendetwas Verklärendes, Raffiniertes, Tolles und Göttliches“. Friedrich Nietzsche hatte gut reden­. Aber draußen wartet ja das begehbare Kunstwerk Venedig: In touristenbereinigten Coronazeiten unwiderstehlich und zum Tränenerweichen schön, verklärend, raffiniert, toll und manchmal einfach göttlich.
Martin Kieren
Gerade findet in Venedig die 17. Architekturbiennale statt. Die Rolle und Möglichkeiten der Architekten und Planer werden dort überschätzt.
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Das Ende der Romantik - taz.de
Das Ende der Romantik OPERNPREMIERE Damiano Michieletto hat für die Komische Oper „Le Cendrillon“ des französischen Komponisten Jules Massenet inszeniert Karolina Gumos als Le Prince Charmant Foto: Monika Rittershaus von Niklaus Hablützel Henrik Nanasi wird die Komische Oper nächstes Jahr verlassen. Warum man ihn vermissen wird, war am Sonntag Abend mal wieder zu hören. Jules Massenet hat sich mit seiner „Manon“ als Großmeister für nach Samt und Seide duftenden Seelenschmerz in die Spielpläne der Welt eingeschrieben. Aber ausgerechnet dieser stets unter Kitschverdacht stehende Franzose klingt unter Nanasis Leitung noch nicht einmal romantisch. „Le Cendrillon“ ist 1899 uraufgeführt worden. Massenet erzählt das Märchen von Aschenputtel ganz kühl und in großer Distanz, als sei es ihm nur darauf angekommen, diesen allgemein bekannten Stoff für ziemlich gewagte Experimente mit musikalischen Stilen und Zitaten anzustellen. Oft geht es barock zu im Orchester, manchmal aber auch mittelalterlich mit schnarrenden Dudelsack-Quinten und Kirchentonarten. Übergangslos schließen sich Vaudeville-Episoden von Offenbachs Gnaden an, die sich dann plötzlich zu ironischem Wagner verdichten. Dann und wann erinnern glockenhelle Bläser sogar an Mahler. Nanasi lässt nichts aus in diesem geistreichen, präzise in Tempo und Lautstärken abgemessenen Universum musikalischen Könnens. Er nimmt das souveräne Handwerk ernst, das Orchester spielt wunderbar transparent und klar den Reichtum des vergessenen Werkes aus, das bei Wikipedia noch nicht einen Artikel gefunden hat. Nanasi hat es mit seiner genauen und durchdachten Arbeit der Opernwelt zurückgebracht, und zum Glücksfall wird die Wiederentdeckung dadurch, dass er mit dem jungen Venezianer Damiano Michieletto einen Partner im Geiste gefunden hat. Auch der Regisseur wirft einen kühlen Blick auf die Romantik des Stücks und sieht, dass sie nicht echt ist. Schon gar nicht da, wo sie am massivsten auftritt, im großen Duett des Aschenputtels mit dem Prinzen. Dafür lässt Massenet Singstimmen und Orchester in Orgien des Wohlklanges verschmelzen, die deutlich jenseits des guten Geschmacks liegen. Es klingt, als habe er augenzwinkernd vorführen wollen, wie man den Höhepunkt einer romantischen Oper hinkriegt. Es ist Kitsch, aber bewusst als Mittel eingesetzt. Ebenso ironisch lässt Michieletto dazu Gazevorhänge vom Bühnenhimmel fallen, auf denen Traueräste aufgemalt sind. Bühnenarbeiter bringen Scheinwerfer in Stellung und wedeln mit Nebelwerfern das Bild ab. Glotzt nicht so romantisch! Das ist romantische Oper. Das ist sie eben nicht, nicht mehr. Massenet selbst hatte genug davon am Ende seines Jahrhunderts, und Michieletto hat ihn sehr gut verstanden. Das ganze Märchen mit all seinen Sehnsuchtsträumen spielt ohne jede Illusion im Probenraum des Balletts. Dort führt Agnes Zwierko als böse Schwiegermutter das Zepter über eine ganze Armee schöner Bräute für den Prinzen. Sie sind durchnummeriert, ihre eigenen zwei Töchter (Mirka Wagner und Zoe Kassa) sind Nummer 79 und 80. Die Nummer 81 ist Nadia Mchantaf, das Aschenputtel. Auch sie hat getanzt, als ihr guter Vater noch Ballettmeister war. Der Bass Werner van Mechelen singt mit großer Wärme einen gescheiterten alten Mann, dem nur seine Tochter blieb. Sie hatte sich einst schwer verletzt beim Tanz, ihr linkes Bein ist in Schienen gebunden. Im Krankenbett und Nachthemd wird sie hereingefahren. Ein zauberhaft leichtes Theaterspiel entsteht und zeigt zwei Menschen, die Mitgefühl verdienen Medizinischer Realismus Natürlich beklagt sie ihr trauriges Los, aber der harte, sogar medizinische Realismus der Szene unterbindet von vornherein jede Sentimentalität. Nadia Mchantef hat eine herrlich klare, dennoch volle Stimme. Zudem kann sie sich auch noch freuen wie ein richtiges Kind, wenn sie dann im Traum wieder tanzen kann. Dort trifft sie den Prinzen, den Massenet eigenwillig mit einem Sopran besetzt hat. Romantisch wäre der lyrische Tenor gewesen. Nun darf die bewährte Karoline Gumos einen am Hofe gelangweilten Königssohn spielen, der eigentlich nur darauf wartet, sich in ein schwer behindertes Mädchen zu verlieben. Genau das geschieht denn im Duett der Frauenstimmen, raffiniert inszeniert durch pantomimische Verdoppelungen der Rollen, in denen sich nun Wirklichkeit und Traum mischen. Ein zauberhaft leichtes Theaterspiel entsteht und zeigt zwei Menschen, die echtes Mitgefühl verdienen und auch wecken. Sie behaupten sich in der hart um sie herum montierten Arbeitswelt der Probebühne, wo nicht nur Traum und Wirklichkeit aufeinandertreffen, sondern auch Menschlichkeit und der bösartige Drill gesellschaftlicher Konvention. Massenet, der Starkomponist seiner Zeit, scheint ihn gehasst zu haben. Nanasi und Michieletto haben ihn zur kabarettreifen Groteske zugespitzt. Es ist ihnen märchenhaft gut gelungen. Nächste Vorstellungen: 16., 19., 26., 29. 6. sowie 2., 10. 7.
Niklaus Hablützel
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Berliner Alltag: Kinderlachen, Kinderweinen - taz.de
Berliner Alltag: Kinderlachen, Kinderweinen Die Kolumne spannt einen weiten Bogen. Vom Krieg in der Ukraine und Kriegsflüchtlingen bis zu den Supermüttern im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Für alle, die es nicht kennen: So sieht das Kino International in der Berliner Karl-Marx-Allee aus Foto: dpa/Jens Kalaene Eins kann ich sagen. Buchpremiere ist nichts gegen Kindergeburtstag, zumindest, was meine Aufregung angeht. Ersteres war vorletzten Sonntag. Berlin-Mitte, Kino International, das Prestige-Objekt der DDR-Regierung. In diese Sessel hatte schon Erich Honecker gepupst. Das Gebäude sieht von außen aus wie ein überdimensionierter Röhrenfernseher. Wenn man von der gegenüber liegenden Straßenseite der Karl-Marx-Allee aus guckt, möchte man hinlangen und umschalten. „Es ist ein Jammer, dass sie die Straße so verfallen lassen“, sagte meine ehemalige Deutschlehrerin. Sie kommt zu jeder meiner Buchvorstellungen und schickt mir hinterher Fehlerlisten. Ich verdanke ihr viel. Zu Schulzeiten sagte sie immer: „Leas Aufsätze lese ich abends vorm Schlafengehen, weil die so schön geschrieben sind. Dann les ich sie morgens nach dem Aufstehen noch mal und stelle fest, dass nichts drinsteht. Drei minus.“ Sie hatte übrigens unrecht. Die Karl-Marx-Allee ist nicht verfallen. Sie wirkt lediglich etwas verlassen, seit da keine Panzer mehr fahren. Die rollen derweil durch die Ukraine. Bei meiner Freundin S. waren am Tag vorher neue Geflüchtete angekommen. Großmutter, Mutter, Kind. Die Mutter war am 24. Februar noch in Kiew bei der Maniküre gewesen. „Hat mir ihre Fingernägel gezeigt. Der Lack war noch dran. Und plötzlich ist Krieg.“ Seitdem war sie nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. „Sie hat nur ihre Tochter eingesammelt und ist zu ihrer Mutter gefahren. Sie dachten ja, es wäre nur kurz.“ Das Kind hatte aufgehört zu sprechen. „Hat gestern das erste Mal seit drei Wochen wieder gelacht.“ Stopptanz ja, Topf schlagen nein Mein Sohn lacht die ganze Zeit. Vier Jahre alt ist er geworden. Unser erster richtiger Kindergeburtstag dank Pandemie. Hier mein Resümee: Stopptanz, ja. Topf schlagen, nein. (Die Kinder haben Angst vorm Augen verbinden und keine Orientierung.) Ansonsten: Lieber Marmor- als Käsekuchen. Tisch decken lassen. Geschenkeauspacken zelebrieren und zum Schluss Nudeln essen zum Runterkommen. Das Beste war sowieso die Baustelle direkt vor dem Haus. Der Mütterhass steckt so tief drin in unserer Gesellschaft Was ich eigentlich erzählen wollte: Vor zwei Wochen habe ich anderthalb Stunden lang vor ausverkauftem Saal über Mutterbilder gesprochen. (Die gute Mutter ist schon bei den Brüdern Grimm ausschließlich tot denkbar. So hingebend, anspruchslos, unsichtbar kann nicht mal eine Kunstfigur sein.) Aber als die Sprache auf selbstgefällige Mütter in Prenzlauer Berg kam, die auf der Straße keinem Platz machen und ihre Kinderwagen überall hinschieben, gab es Szenenapplaus. Der Mütterhass steckt so tief drin in unserer Gesellschaft, da können wir noch viele Bücher gegen anschreiben. Vor allem unter Ostdeutschen scheint sich die Vorstellung des invasiven westdeutschen Mutterkörpers durchgesetzt zu haben, der sich in „unser“ Habitat einschleicht und dort mittels unkontrollierter Fortpflanzung die Wohngebiete besetzt und mit Muttermilch verunreinigt. Nur nochmal kurz: Kinder sind das Armutsrisiko Nummer eins in Deutschland, deshalb müssen wir lange arbeiten, um sie uns leisten zu können, und wenn wir sie dann haben, sind wir alt und müde und alles andere geht uns am Arsch vorbei. Das ist aber nicht die Schuld der Mütter! Da stimmt was nicht in der Sozialgesetzgebung. Und nebenbei bemerkt. Wir sind heute so alt, wie unsere Großeltern waren, als wir geboren wurden. Und die waren uns sowieso immer die liebsten. Wenn sie sich nicht gerade in Wölfe verwandelt haben. Verworrener Text? Call my Deutschlehrerin. Ich geh Käsekuchen essen.
Lea Streisand
Die Kolumne spannt einen weiten Bogen. Vom Krieg in der Ukraine und Kriegsflüchtlingen bis zu den Supermüttern im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.
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Bundesregierung schützt Kleinsparer-Konten: Garantiert ohne Gesetz - taz.de
Bundesregierung schützt Kleinsparer-Konten: Garantiert ohne Gesetz Die Furcht vor einer Kundenpanik treibt die Bundesregierung zum Versprechen, Erspartes zu sichern. Die Bundesregierung will verunsicherte Kleinsparer beruhigen. Bild: dpa Das war wohl das Ziel der Aktion: "Merkel gibt Staatsgarantie für ALLE Sparer", vermeldete die Bild-Zeitung gestern übergroß auf ihrer Titelseite. Und weiter: "Ihr Geld ist sicher." Genau um diese Botschaft an die Massen von Kleinsparern ging es der Bundeskanzlerin und ihrem Finanzminister Peer Steinbrück, als sie am Sonntag überraschend eine Staatsgarantie für alle privaten Spar-, Giro- und Terminkonten in Deutschland abgaben. Und diese schöne Nachricht wollte sich Regierungssprecher Ulrich Wilhelm am Tag danach nicht kaputtmachen lassen. "Ich möchte an Sie appellieren, die Wirkung der Aussage nicht durch Detailfragen zu relativieren", sagte er den Hauptstadtjournalisten, die mit vielen Fragen in die Bundespressekonferenz kamen. Zum Beispiel, wie groß die Gesamtsumme ist, die die Regierung nun absichert. 568 Milliarden Euro, wie das Finanzministerium am Sonntag erklärt hatte? Oder doch 800 Milliarden? Oder doppelt so viel? Diese Zahlen kursierten am Montag. Weil die Bundesbank - offenbar selbst überrascht vom Versprechen Merkels und Steinbrücks - am Vormittag noch rechnete, wollte sich Steinbrücks Sprecher Torsten Albig nicht festlegen, sondern sprach nur noch von "über einer Billion". Und was ist eigentlich mit dem Bundestag, der doch einem entsprechenden Gesetz zustimmen müsste? Offenbar auch eine unangemessene Detailfrage. Denn die Regierung plant gar nicht, ihr Versprechen juristisch dingfest zu machen. "Eine umfassende politische Erklärung, hinter der die große Koalition steht, ist in ihrer Tragweite belastbarer als jedes Gesetz", sagte Wilhelm. Erst wenn es tatsächlich zu Zahlungen des Bundes kommt, solle das Parlament beteiligt werden. Nicht nur die Opposition ist verärgert über diesen Alleingang der Regierung. Auch so mancher Vertreter der Bankenbranche zeigte sich gestern hinter vorgehaltener Hand "verwundert" und "überrascht" über die Aktion von Merkel und Steinbrück, die nicht wirklich überzeugend gewirkt habe und eigentlich auch nicht unbedingt notwendig gewesen sei. Denn durch den gesetzlichen Einlagensicherungsfonds und weitere Garantien der jeweiligen Bankenverbände sind Privatanleger in Deutschland ohnehin gut abgesichert (siehe Seite 2). Offiziell hingegen loben die Bankenverbände die "zusätzliche Garantie", die die Bundesregierung gegeben habe. Eine Sprecherin des Bundesverbandes deutscher Banken betonte aber, dass dies "keine juristische Aussage" gewesen sei, sondern eine politische. Über die genauen Details seien die Institute noch nicht informiert worden. Unbehagen über das Versprechen der Regierung äußerte auch der Finanzwissenschaftler Hans-Peter Burghof von der Universität Hohenheim. Es handele sich vermutlich um "die größte Garantie der Weltgeschichte", sagte er im ZDF. Würde wirklich ein Teil dieser Garantie eingelöst werden, käme der Staat in Schwierigkeiten. Die Europäische Zentralbank verhindere, "dass man einfach so Geld druckt", und zusätzliche Staatsanleihen würden die Bonität Deutschlands verschlechtern. Anlass für die Garantieerklärung waren Berichte der Europäischen Zentralbank, dass es in anderen EU-Staaten zu vermehrtem Abheben von Bargeld gekommen sei. "Das wollten wir für Deutschland verhindern", sagte Finanzministeriums-Sprecher Albig. Bislang ist hierzulande von einem Ansturm auf die Bankautomaten noch nichts zu sehen. Doch die Kunden sind verunsichert. "Es gibt erhöhten Beratungsbedarf", heißt das im PR-Sprech der Presseabteilungen in den großen deutschen Banken. Die Kunden fragen also nach, lassen ihr Geld dann aber auf der Bank. Lediglich in Einzelfällen würden "größere Beträge abgehoben", hieß es gestern bei der Dresdner Bank. Keinen Zusammenhang hat die Sparer-Garantie Albig zufolge mit der Krise des Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate (HRE). Hier sei am Sonntagabend eine Lösung vereinbart worden, die keine zusätzlichen Kosten für den Bund bedeute (siehe Kasten). Über die HRE-Rettung hinaus plant Steinbrück offenbar einen Rettungsplan für die gesamte Finanzbranche. Man müsse versuchen, "in Deutschland insgesamt einen Schirm zu spannen, damit wir nicht von einem Fall zu dem anderen Fall geraten", sagte der Finanzminister. Details dieses "Plans B" nannte er nicht. Während Steinbrücks Ankündigung in Finanzkreisen als globale Bürgschaft für Geldhäuser interpretiert wurde, wies Albig entsprechende Spekulationen zurück. Es gehe lediglich darum, "Strukturen für künftige Lösungen" zu definieren. Bleibt zu hoffen, dass diesmal Detailfragen erlaubt sind.
S. Kosch
Die Furcht vor einer Kundenpanik treibt die Bundesregierung zum Versprechen, Erspartes zu sichern.
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Schulplatzmangel in Berlin: Große Pause statt Bauoffensive - taz.de
Schulplatzmangel in Berlin: Große Pause statt Bauoffensive Obwohl die Schulbauoffensive seit Jahren läuft, kommt man nicht aus der Defensive. In Mitte kämpft das Schulamt gegen Personalnot und Fehlplanungen. Soll wieder reaktiviert werden: Der alte Standort des Weddinger Diesterweg-Gymnasiums Foto: picture-alliance/ dpa | Klaus-Dietmar Gabbert BERLIN taz | Eigentlich sollten inzwischen alle künftigen Siebt­kläss­le­r*in­nen wissen, auf welche Oberschule sie nach den Sommerferien gehen: Spätestens am 20. Juni sollten die Bescheide zentral verschickt werden – was auch schon deutlich später war als in anderen Jahren, doch es fehlten nun einmal Hunderte Schulplätze an Oberschulen. Viele Schü­le­r*in­nen bekamen deshalb erstmals nur einen Blanko-Bescheid, ohne konkrete Schulzuweisung. Bei David M., Vater eines Sechstklässlers aus Mitte, ist allerdings auch am Montag, sieben Tage nach Versand, noch immer nichts im Briefkasten gelandet. Die Sommerferien beginnen kommende Woche. Im Schulamt, erzählt M., sei niemand zu erreichen gewesen, die Stelle für die Oberschulzuweisungen ist als „vakant“ aufgeführt. Irgendwann erreichte er dann die Sachbearbeiterin für die Grundschulen. „Sie konnte mir sagen, was in dem noch nicht zugestellten Brief steht: dass unser Sohn einen Platz auf dem Tiergarten-Gymnasium hat.“ Das Beispiel aus Mitte zeigt ganz schön, warum viele Berliner Eltern und Lehrkräfte gerade das Gefühl haben, dass man auch im fünften Jahr der Schulbauoffensive eher noch dabei ist, sich aus der Defensive zu kämpfen: Die bezirklichen Schulämter sind überlastet, und konkrete Baumaßnahmen kommen oft langsamer voran als gedacht, so dass sie nicht kurzfristig den Druck aus der Entwicklung der Schü­le­r*in­nen­zah­len nehmen könnten. „Das wird in den kommenden Jahren schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe, gerade im Oberschulbereich“, gibt Mittes Bildungsstadträtin Stefanie Remlinger (Grüne) auf Nachfrage umumwunden zu. Für das kommende Schuljahr nimmt das Diesterweg-Gymnasium in der Böttgerstraße im Wedding, quasi als „Überlaufschule“ für alle Unversorgten, noch zwei zusätzliche Klassen auf – dafür wurden wiederum Willkommensklassen für ukrainische Geflüchtete in einen Jugendklub und die bezirkliche Musikschule ausgelagert. „Das zeigt, wie enorm hoch der Druck ist“, sagt Remlinger. „Denn auch die ukrainischen Kinder brauchen ja möglichst schnell eine Perspektive in Regelklassen.“ Spätestens nach den Sommerferien dürfte dieses Thema aktuell werden – und Remlingers „Jugendklub“-Modell an seine Grenzen kommen. Planungsfehler der Vergangenheit Das Diesterweg-Gymnasium ist zugleich ein Beispiel für Planungsfehler in der Vergangenheit, die jetzt die schnelle Schaffung von dringend benötigten Schulplätzen weiter verzögern. Der ehemalige Standort in der Putbusser Straße ist ein Sanierungsfall, sogar ein sogenannter „Großschadensfall“. Im denkmalgeschützten Gebäudeensemble aus den 70er Jahren steht das Wasser, es gebe wohl auch eine Asbestbelastung, sagt Remlinger, die das Gebäude neulich begehen konnte, „mit Schutzanzug“. Eigentlich übernimmt in solchen Fällen die landeseigene Ho­woge: auch eine Idee der Schulbauoffensive, um die Bezirke bei solchen Großbaustellen zu entlasten. Doch die Bildungsverwaltung nahm die Sanierung vor rund zwei Jahren aus der Schulbauoffensive raus – jetzt ist formal der Bezirk zuständig. Dort passierte erst mal nichts. Remlinger sagt, man brauche diese Schule aber dringend in Mitte, sie will den Standort reaktivieren und die Baustelle in die Schulbauoffensive „zurückverhandeln“. In die Investitionsplanung für ihren Bezirk, die allerdings vom Senat noch beschlossen werden muss, hat Remlinger jetzt 50 Millionen Euro dafür eingestellt. Eine erste Tranche 2024 über 2,5 Millionen Euro soll für eine Wirtschaftlichkeitsprüfung bestimmt sein: „Damit wir wissen, ob eine Sanierung überhaupt noch in Frage kommt im Vergleich zu einem Abriss.“ Remlinger rechnet „nicht vor 2028/29“ mit einer Wiedereröffnung des Schulstandorts. Eine Frage sei auch, sagt die Stadträtin, die das Amt im Herbst 2021 übernommen hat, was aus den Investitionsplanungen der vergangenen Jahre überhaupt realisiert werden könne. Da seien viele Investitionsmittel „nicht mit einer Planung hinterlegt“, habe sie festgestellt. Das ist vor allem auch deshalb schlecht, weil die Senatsfinanzverwaltung bei jeder Haushaltsaufstellung schaut, wie viele Mittel tatsächlich abgerufen wurden – und den Etat im Zweifel nach unten korrigiert. Auch in anderen Bezirken sind langsame Baufortschritte ein Problem, heißt es am Montag in einer Mitteilung der Linke-Fraktion in Marzahn-Hellersdorf. Dort geht es eher um Grundschulstandorte. Eine Anfrage an das Schulamt habe gezeigt, dass bei vielen Baumaßnahmen der Zeitplan nicht eingehalten werden könne, sagt Fraktionschef Bjoern Tielebein. Man wünsche sich daher, „dass das Bezirksamt klar artikuliert, an welchen Stellen es einen erhöhten Bedarf sieht.“ Vater David M. aus Mitte protestierte noch am Telefon spontan, als er vom Tiergarten-Gymnasium erfuhr: Die Schule in Moabit sei zu weit weg, zudem habe sie „einen schlechten Ruf“. Die Sachbearbeiterin habe dann noch „spontan“ einen Platz am Diesterweg-Gymnasium gefunden: „Gerade sei einer frei geworden, das Kind gehe wohl auf eine Privatschule, hieß es.“ Für M. zeigt das aber auch, wie viel Chancenungerechtigkeit in dem Schulplatzmangel steckt: „Wer die Ressourcen hat und sich zu wehren weiß, der hat Glück.“ Die Stelle für die Oberschulzuweisungen ist in Mitte dauerhaft vakant Wann die vakante Stelle im Schulamt Mitte nachbesetzt wird, ist noch nicht klar, sagt Remlinger. Sie bemühe sich um eine Abordnung aus einer anderen Abteilung: „Es ist gerade ganz einfach die Entscheidung, ob die Mitarbeiter ans Telefon gehen oder Akten bearbeiten – eins geht nur, sonst brechen wir zusammen“, erklärt sie die schlechte Erreichbarkeit für besorgte Eltern kurz vor den Ferien. Und der verzögerte Versand der Schulbescheide in Mitte? Auslieferungsschwierigkeiten beim Zusteller, sagt Remlinger. Zumindest dafür kann das Schulamt also mal nichts.
Anna Klöpper
Obwohl die Schulbauoffensive seit Jahren läuft, kommt man nicht aus der Defensive. In Mitte kämpft das Schulamt gegen Personalnot und Fehlplanungen.
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Schulstart während Corona: Frische Luft dank CO2-Sensoren? - taz.de
Schulstart während Corona: Frische Luft dank CO2-Sensoren? Das Umweltbundesamt fordert, sich um die Luftqualität im Klassenzimmer zu kümmern. Weniger Kohlendioxid hilft nicht nur gegen Corona. In Mecklenburg-Vorpommern beginnt die Schule wieder – hoffentlich in gut gelüfteten Klassenzimmern Foto: Jens Büttner/ dpa FREIBURG taz | CO2-Sensoren in Klassenräumen könnten das Risiko einer Übertragung des Coronavirus in Schulen deutlich senken. Davon ist das Umweltbundesamt (UBA) überzeugt. Schließlich sei das CO2 (Kohlendioxid), das jeder Mensch ausatmet, ein guter Indikator für mangelnde Durchlüftung und damit auch ein Indiz für die Konzentration von Aerosolen im Raum, erklärt die Fachbehörde. Noch im August, rechtzeitig zum Beginn des neuen Schuljahrs, will das UBA einen entsprechenden Forderungskatalog vorstellen, dessen Details gerade intern abgestimmt werden. Die oft schlechte Lufthygiene in Klassenzimmern war dem UBA schon lange vor Corona ein Dorn im Auge. Nun erneuert das Umweltamt seine erstmals im Jahr 2009 erhobene Forderung nach CO2-Messungen in Schulen. Die Behörde hofft so, „zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“: das Risiko von Corona-Infektionen zu senken und zugleich die Lernbedingungen durch bessere Luft zu verbessern. „In Klassenzimmern herrschen manchmal CO2-Werte von 2.000 bis 3.000 ppm“, sagt Heinz-Jörn Moriske, Experte für Innenraumlufthygiene am UBA. Bei solchen Konzentrationen sei „die kognitive Leistungsfähigkeit der Schüler bereits deutlich beeinträchtigt“. In der Außenluft liegt der Wert im Mittel bei etwa 410 ppm (parts per million). Im Hinblick auf das Risiko, sich mit Corona zu infizieren, bietet sich der CO2-Wert auch deswegen als attraktiver Wegweiser an, weil er leicht zu messen ist. Ausreichend präzise Sensoren sind heute günstig im Handel erhältlich, ebenso fertig konfigurierte CO2-Ampeln, die anzeigen, wann ein Raum mal wieder gelüftet werden sollte. Die Aerosole selbst zu erfassen wäre hingegen sehr aufwendig, weshalb man ganz elegant auf das Kohlendioxid als probaten Indikator ausweicht. Messungen wären auch andernorts sinnvoll Lufthygieniker Moriske weist aber auch darauf hin, dass eine CO2-Messung im Hinblick auf Coronarisiken nur ein Indiz sein kann. Wenn eine Person, etwa beim Niesen, Tröpfchen in großem Stil im Raum verteilt, ist das natürlich ein ganz anderes Thema. Denn Tröpfchen zeigen sich in den CO2-Messwerten nicht. Lediglich jene Aerosole, die während der normalen Atmung abgegeben werden, korrelieren gut mit den Kohlendioxidwerten. Gleichwohl hält Moriske CO2-Messungen auch in anderen Räumen für sinnvoll, in denen sich viele Menschen aufhalten. Zum Beispiel in der Gastronomie oder in Großraumbüros. Spätestens wenn die Konzentration von Kohlendioxid über 1.000 ppm ansteige, sei eine bessere Durchlüftung erforderlich. Grundsätzlich sei das zwar ein altbekanntes Thema, aber „durch Corona wurde es wichtiger denn je“.
Bernward Janzing
Das Umweltbundesamt fordert, sich um die Luftqualität im Klassenzimmer zu kümmern. Weniger Kohlendioxid hilft nicht nur gegen Corona.
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SPD in Kiel setzt voll auf Sieg - taz.de
SPD in Kiel setzt voll auf Sieg ■ Kandidat Engholm will den Kieler Sumpf trockenlegen / Absage an Koalitionen mit Grünen oder FDP / Europaabgeordneter Walter zum neuen Landesvorsitzenden gewählt / Erneut Neuwahlen im März gefordert Aus Kiel Henrich Fenner Die Zuversicht, nach dem Beinahe–Wahlsieg am 13. September nun in Neuwahlen die seit 37 Jahren regierende CDU abzulösen, beherrschte den Parteitag der schleswig–holsteinischen Sozialdemokraten vom Wochenende in Kiel. Kontroverse Debatten gab es deshalb nicht. „Zuletzt 1967“, erinnerte sich der Bundestagsab geordnete Gansel entschuldigend, „haben die schleswig–holsteinischen Genossen einen Parteitag in solcher Geschlossenheit und Harmonie erlebt“. Mit überwältigender Mehrheit von 150 Ja–Stimmen wählten die 173 Delegierten den Europa–Abegeordneten Gerd Walter aus Lübeck zum neuen Landesvorsitzenden. Er löst damit Günther Jansen nach 12jähriger Amtszeit ab. Jan sen hatte aus persönlichen Gründen auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Der „Pfad aus dem schleswig– holsteinischen Sumpf der Barschel–Pfeiffer–Affäre“ führt über die Wahl Björn Engholms zum Ministerpräsidenten, sagte Jansen in seinem Rechenschaftsbericht. Den Grünen und den „wirtschaftsliberalen Supertaktikern“ der FDP erteilte er als Koalitionspartner eine Absage. Das Wahlziel heiße absolute Mehrheit. Während der scheidende Vorsitzende an seinem wochenlangen Verschweigen der SPD–Kontakte zum ehemaligen Medienreferenten Pfeiffer noch „schwer zu tragen hat“, präsentierte sich sein Nachfolger Walter unbeschwerter. „Wir haben an einer winzigen Stelle Mist gebaut und dafür ein Stück Vertrauen verloren. Aber das ist dann auch alles“. Walter kündigte für seine Amtszeit an, das Reformbündnis aus alter Arbeiterbewegung und neuen sozialen Bewegungen voranzubringen. Die Grünen seien eine „überflüssige Schwächung dieser Bewegung“. Mit einem gegenüber der September–Wahl nur auf einer Position veränderten Schattenkabinett will Björn Engholm den Wechsel in das Ministerpräsidentenamt schaffen. Er erneuerte seine Forderung nach unverzüglichen Neuwahlen im März 1988. Die Bedeutung der Schleswig–Holstein– Wahl unterstrichen der Ehrenvorsitzende Willy Brandt und Parteichef Hans–Jochen Vogel in ihren Reden, in denen sie Engholm ihre volle Unterstützung zusicherten.
Henrich Fenner
■ Kandidat Engholm will den Kieler Sumpf trockenlegen / Absage an Koalitionen mit Grünen oder FDP / Europaabgeordneter Walter zum neuen Landesvorsitzenden gewählt / Erneut Neuwahlen im März gefordert
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Europäische Erstsemesterfete - taz.de
Europäische Erstsemesterfete Am Wochenende begann Berlin als Kulturstadt Europas 1988 / Ein Potpourri mit Werbeblöcken / Die ersten Millionen sind verpulvert / Zitable Politiker-Statements  ■ Von G. Goettle und S. Vogel Berlin (taz) – Die U-Bahneingänge sind wieder dekoriert. Der Berliner Bär rechts, schwarz-rot- gold links oder umgekehrt, je nach Standpunkt, zur Selbstbedienung für fahnenverarmte Nationalisten und Fußballfans – an ihren Wimpeln sollt ihr sie erkennen. So feiert man in Berlin Feste: Kulturstadt Europas 1988. Am Freitagabend gings los. Edith Clever (gen. Flickenschild) vier Stunden im Hebbeltheater, gleichzeitig, viereinhalb Kilometer Luftlinie entfernt, das Nederlands Dans Theater in der Volksbühne, irgendwo im hintersten Neukölln Improvised Music, im halbfertigen Kammermusiksaal der Philharmonie das Scharoun- Ensemble und schließlich als fünfter Punkt im Fadenkreuz Gewobenes und Gestricktes: das Dressaster von Claudia Skoda im Hamburger Bahnhof. Gala mit Rumstehen ohne Getränk, die Wirbelsäule bohrt sich langsam in Richtung Kopf, Applaus vom Band, in der Pause klaustrophobische Teststrecke für das Freibier (hier bedient Sie die Firma Schultheiß). Pulikumsquälen gehört zur Mode – wer 50 Mark dafür bezahlt, ist zwangsläufig Maso. Häßliche Models und beruhigtes Gähnen unter den Damen Zuschauerinnen: Im Zweifel gehen wir immer alle als Avantgarde durch. Auf der Hängebrücke über der ehemaligen Bahnhofshalle beginnt die Menschheitsgeschichte noch einmal von vorne: im Mutterkuchen, aus dem sich ein androgynes Wesen mit fleischfarbener Strumpftitte aus der transparenten Plastikfolie herauspellt. Mit Orgeln und Quietschenten hüpft es sich aus frischgestärkten Rüschenbergen in die Volants sündiger Putzigkeit. Dann flugs in die stürmische Kindheit. Mit Folklore und Zigeunerlook lockt die schönblöde Carmen fürs Wohnzimmer. Programmunterbrechung für den Werbeblock: E-88- Hemdchen, 100 Prozent Baumwolle, farbecht, kochfest. Babydoll in Rimini übt den Flirt mit dem Bodyneger, wenn die Hommage an Rudi Gernreich anstakst. Nun reißt der dramaturgische Faden, was auch die Imagetransfers über Demo-Sakkos und Guerilla-Safari-Jerseyanzüge, Popklamotten bis zum Obenohne-Badeanzug (gestrickte braune Unterhose mit Nierenschutz und V-Trägern) nicht wettmachen können. Danach Pause mit Livekontakten. Nichts ist langweiliger als ernstgemeinte Mode. Wenn die ersten eineinhalb Millionen verpulvert sind (bis Jahresende sollen es 55 werden), ist es Zeit, eine Pommes bude aufzusuchen. Samstag morgen, nächste Runde im Tempodrom-Zirkuszelt. Sacht rieselt draußen der Schnee, und alle sind sauer. Niemandes Einladungsliste zum „Kulturfrühschoppen“ von Melina Mercouri wird so recht berücksichtigt. So verliert sich ein Häufchen von vielleicht einem Drittel der angekündigten „1.600 europäischen Künstlern und ihren Kollegen“ schlotternd im Halbdunkel des Tempodroms, löffelt schlabbriges Rührei, schmiert mit Nürnberger Würstchen im Senf rum und hört sich blöde Kanzlerwitze vom lauen „Tornado“ Günther Thews an. Einzig Rosa von Praunheim weiß zu gefallen – ganz Weltmann trägt er eine Neo- siebziger-Jahre-Hose mit Schlag. Dazu spielt die Combo als wär sie noch von der Nacht übriggeblieben. In der Berliner Abendschau des Regionalfernsehens sah die Veranstaltung indessen richtig nett aus. Das ist schließlich die Hauptsache: Gemütlichkeit im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit. Neuer Kostüm- und Ortswechsel. Mittags geht Mann gedeckt in die Große Orangerie des Schlosses Charlottenburg, um tiefgründelnde Samstagsreden offiziellster Natur zu hören. Aus dem Hausschatz europäischer Kulturgeschichte bedienen sich: der Regierende Bürgermeister von Ber lin Eberhard Diepgen, Seine Exzellenz der Ministerpräsident des Königreiches Spanien Herr Felipe Gonzalez Marquez sowie der Bundesminister des Auswärtigen Herr Hans-Dietrich Genscher. Es blecht die vom letzten Jahr übriggebliebene „Fanfare für Berlin“, und schon geht es los mit all den Zitaten von „großen“ Dichtern und Denkern, mit den „Herzen“ der unteilbaren Nation und aller Europäer, mit all den „tiefgreifenden ..“ „Verwurzelungen ...“, dem „Symbol“, dem „besten Ort für ..“, dem „Jugend begeistern ...“, dem „Identität bewahren ...“, den bedenklichen und den optimistischen Tönen in den Stimmen der Herren. Schließlich Herr Gonzalez: „Tut nur so, als ob ihr an die neue europäische Geschichte glauben wollt, und ihr werdet an sie glauben.“ Gruß, Schluß, diesmal ohne Büffet. Nur die Nachrichtenagenturen sind auf ihre Kosten gekommen bei all den Statements für jede Gelegenheit. Abends: Das Eröffnungsfest in der Kongreßhalle umsonst und drinnen „in Zusammenarbeit mit den Firmen Kaisers Kaffee Berlin, Schultheiß Brauerei AG, Coca Cola/Firma Winter, Mövenpick, Winfried Gaßmann und Heinrich Gerresheim“. „Könnten Sie mir bitte ein Glas Sekt geben?“ – „Sie möchten ein Glas Kupferberg Gold?“ Die 2.000 über die Theaterkassen rekrutierten original „Berliner und Berlinerinnen“ kommen pünktlich um acht Uhr im kleinen Schwarzen, Silbernen oder Roten zum Promis-Gucken, vorrätig im Verhältnis eins zu eins. Wollten Sie sich nicht schon immer mit berühmten Künstlern um die Pfirsichbrause prügeln? Nur die Video-Ausstattung in den verschiedenen Räumen des Nicht- Geschehens läßt zu wünschen übrig. Dann hätte man live im Fernsehen die angeblich von Helmut Baumann vom Theater des Westens inszenierte Gesamt-Show vielleicht doch noch genießen können. Der Gebührenzähler rattert: wieder eine Million weg.
G.Riedle / S.Vogel
Am Wochenende begann Berlin als Kulturstadt Europas 1988 / Ein Potpourri mit Werbeblöcken / Die ersten Millionen sind verpulvert / Zitable Politiker-Statements  ■ Von G. Goettle und S. Vogel
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Wer mit dem Geldtopf tanzt - taz.de
Wer mit dem Geldtopf tanzt Rot-Grün: Offener Machtkampf ums Finanzressort. BUND & Co fordern neuen Zuschnitt der Umweltbehörde  ■ Von Silke Mertins und Achim Fischer Um das Schlüsselressort Finanzen ist zwischen SPD und GAL ein offener Machtkampf entbrannt. Der designierte Bürgermeister und Noch-Finanzsenator Ortwin Runde (SPD) wies alle grünen Begehrlichkeiten kategorisch zurück. Während er dem GAL-Anwärter auf diesen Posten, Haushaltsexperte Willfried Maier, noch vor einem Jahr bescheinigte, er habe „das Naturell“für diesen Job, fragte er gestern: „Wer hatte denn diese Idee?“Die SPD wolle diese zentrale Behörde keineswegs aus der Hand geben. Denn die GAL hätte beim Sparen Schwierigkeiten „mit der eigenen Klientel“. Deshalb wolle er „auf Nummer Sicher gehen“. GAL-Verhandlungsführerin Krista Sager zeigte sich verschnupft ob dieser sozialdemokratischen Arroganz. Es gebe Ressorts, die „den Grünen auf den Leib geschneidert“seien – so wie die Finanzen ihrem Intimus Maier. Selbstverständlich stünde die GAL zur Haushaltskonsolidierung. Eigentlich steht die Postenverteilung erst heute auf der Tagesordung. Kritisch wird es zwischen den bislang weitestgehend Harmonie demonstrierenden Verhandlungspartnern auch bei der Umweltbehörde, die der GAL zugedacht ist. Hamburger Umweltverbände – von BUND bis Robin Wood – forderten am Wochenende eine „härtere Gangart der GAL-Verhandlungsführung“. In einem offenen Brief verlangten sie, „den verbleibenden Verhandlungsspielraum für einen schlagkräftigeren Zuschnitt der Umweltbehörde zu nutzen“. Schon vor zwei Wochen hatten sich die Umweltaktivisten „sehr enttäuscht“gezeigt über die grünen Koalo-Zusagen zu Elbvertiefung und Hafenausbau. Und sie mußten weitere Kröten schlucken: die Zustimmung zum Flughafenausbau, das Festhalten an den Bauplänen für die Trabantensiedlung in Oberbillwerder und das Durchwinken des Transrapid. Auf der Haben-Seite der GAL-Bilanz können die Verbände „nur marginale Erfolge im Umweltbereich“erkennen. „Das waren noch nicht einmal Bauernopfer der SPD“, kommentierte BUND-Sprecher Paul Schmid gestern etwa den Kompromiß, die Baupläne für die Großsiedlung Neugraben-Fischbek (die mit dem Wachtelkönig) auf Eis zu legen. Entsprechende Pläne hätten in der SPD ohnehin bestanden. Die Naturschützer fordern „eine starke, von einem grünen Senator geleitete Umweltbehörde“. Auf dem Wunschzettel: Die Umweltbehörde sollte auch für Flächenpolitik (bisher Stadtentwicklungsbehörde), Landwirtschaft (bisher Wirtschafts-) und Verkehr (bisher Baubehörde) zuständig sein. Es gilt jedoch als sehr wahrscheinlich, daß der bisherige Stadt-enwicklungssenator Thomas Mirow (SPD) die Wirtschaftsbehörde übernimmt und seine bisherige Behörde – inklusive Flächenplanung – in das neue Haus einbringt. Als ähnlich aussichtsreich gilt der grüne Wunsch, die Verkehrspolitik der Baubehörde rauszuschneiden und damit die Umweltbehörde anzufüttern.
S. Mertins / A. Fischer
Rot-Grün: Offener Machtkampf ums Finanzressort. BUND & Co fordern neuen Zuschnitt der Umweltbehörde  ■ Von Silke Mertins und Achim Fischer
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Wie Mikrochips nach Russland gelangen: Waschmaschinen auf Abwegen - taz.de
Illustration: Katja Gendikova Wie Mikrochips nach Russland gelangen:Waschmaschinen auf Abwegen Braucht Kasachstan tatsächlich so viele Waschmaschinen? Die taz hat Handelsströme in Europa ausgewertet. Und dabei Lücken in den Sanktionen entdeckt. Ein Artikel von Jean-Philipp BaeckAnne FrommLuise MösleLile SamushiaLalon Sander 18.7.2023, 09:47  Uhr Die Europastraße 117 ist nicht nur eine Autobahn, sie ist eine Touristenattraktion. Auf 1.100 Kilometern führt sie von Armenien über Georgien nach Russland. Mitten durch den Kaukasus, vorbei an schneebedeckten Gipfeln und geschichtsträchtigen Klöstern. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die E117 aber auch als Handelsstraße an Bedeutung gewonnen. Sie ist die wichtigste Landverbindung zwischen Russland und Georgien. Wer aus der Türkei, Armenien, Aserbaidschan oder dem Nahen Osten Waren nach Russland liefert, fährt wahrscheinlich hier durch – mit legalen, aber auch mit illegalen Transporten. Am Grenzübergang von Georgien nach Russland reihen sich seit Monaten die Lkws aneinander. So auch an diesem Tag Anfang Juli. Einen Kilometer ist die Schlange lang. Viele Fahrer haben ihre Motoren ausgeschaltet, einige ihre Lastwagen verlassen. Um einen Tisch am Straßenrand sitzen georgische Fahrer mit einem Sommerpicknick. Sie haben Gurken, Tomaten, Brot und Käse vor sich. Essen und Warten. Seit Beginn des Kriegs sei das so, erzählen sie. Manchmal würden sie Stunden, manchmal sogar Tage lang ausharren, bis sie über die Grenze könnten. Die EU hat auf den russischen Einmarsch in die Ukraine mit umfassenden Sanktionen reagiert. Sie hat es europäischen Firmen weitgehend verboten, Geschäfte mit russischen Unternehmen zu machen. Sie hat Listen angefertigt, welche Waren nicht mehr aus der EU nach Russland exportiert werden dürfen. Sie hat es sehr schwer gemacht, Geld aus der EU nach Russland zu schicken. Der Handel zwischen der EU und Russland ist so fast zum Erliegen gekommen. Aber eben nur fast. Waren aus der EU gelangen über Umwege trotzdem nach Russland. Zwischenhändler helfen dabei, Logistikunternehmen erschließen neue Routen. Sie führen über Länder außerhalb der EU, auch über Georgien oder Kasach­stan. An deren Grenzen ist es seitdem voller geworden. Und die deutschen Behörden haben Mühe, die Sanktionsverstöße zu verfolgen. Es ist nicht irgendeine Ware, die in Russland landet. Es sind Güter, die Russland für seinen Krieg gut gebrauchen kann, zum Beispiel weil sie Mi­kro­chips enthalten. Dazu zählen auch Waschmaschinen, etwa von Miele aus Deutschland. Neue Wege Die taz hat ausgewertet, wie sich die Handelsströme nach Russland seit Kriegsbeginn verändert haben. Es zeigt sich deutlich: Die Exporte von Europa nach Russland sind drastisch zurückgegangen. Dafür profitieren andere: China exportiert nun fast 13 Prozent mehr nach Russland als vor dem Krieg. Die Türkei verdoppelte die Exporte zwischen 2020 und 2022. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Besonders stark stiegen aber die Exporte von und in die russischen Nachbarstaaten Georgien und Kasachstan. Von Deutschland nach Kasachstan und von Kasachstan nach Russland wird wesentlich mehr exportiert. So hat Kasachstan im Jahr 2022 Waren im Wert von etwa 8,8 Milliarden Dollar nach Russland ausgeführt – 25 Prozent mehr als im Jahr 2021. Für Georgien ist der Anstieg nicht ganz so steil. Am stärksten zeigt sich der Exportboom bei Autos und Maschinen. Dazu gehören auch Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen. Die nach Russland zu exportieren ist nicht grundsätzlich verboten. Aber der Anstieg der Waschmaschinen-Geschäfte macht stutzig. Laut unserer Datenauswertung werden aus Europa nach Russland nur noch halb so viele Waschmaschinen geliefert wie vor dem Krieg. Dafür hat sich der Waschmaschinen-Export von Europa nach Kasachstan im selben Zeitraum mehr als verfünffacht. Wie viel mehr Waschmaschinen von Kasachstan nach Russland exportiert wurden, lässt sich nicht genau sagen. Die UN-Daten, auf denen unsere Auswertung beruht, sind für Kasachstans Waschmaschinen-Ausfuhren nicht vollständig. Aber für die große Gruppe „Maschinen und Anlagen“, zu denen auch die Waschmaschinen zählen, gibt es Zahlen: Während Kasach­stan im Jahr 2021 Maschinen im Wert von 128 Millionen Dollar nach Russland exportierte, waren es im Jahr 2022 Maschinen im Wert von 837 Millionen Dollar. Die deutschen Maschinen-Exporte nach Russland gingen im gleichen Zeitraum von 8 auf 3 Milliarden Dollar zurück. Zu den gefragten Geräten zählen in Russland auch Kühlschränke, Geschirrspülmaschinen und elektrische Milchpumpen – Geräte, in denen Chips verbaut sind. Militärisch-industrieller Waschmaschinen-Komplex Was ist da los? Waschen die Ka­sa­ch:in­nen plötzlich mehr, weil ihre Bevölkerung wächst? Unwahrscheinlich, die Geburtenrate in Kasachstan ist gesunken. Der Verdacht liegt nah, dass Kasachstan die Waren nach Russland durchwinkt und Russland sie in ihre Kleinteile zerlegt. Kann das sein? Für Russland seien alle sanktionierten Produkte und Technologien von Interesse, die dem militärisch-­in­dus­triel­len Komplex zugutekommen, sagt Hans-Jürgen Wittmann von German Trade & Invest. Das ist die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik, eine Art staatliche PR-Agentur für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Besonders interessiert sei Russland, sagt Wittmann, an Maschinen, Informationstechnik und Halbleitern. Russland stellt kaum eigene Chips her, hat sie seit jeher aus Asien, Europa und den USA importiert. Und zerlegt nun offenbar Elektrogeräte, die über Drittstaaten ins Land kommen Halbleiter sind Bestandteile von Computerchips. Sie sind zentral für moderne Elektronik – sowohl für Kühlschränke als auch für Drohnen, Panzer, Raketen und Nachtsichtgeräte. Russland stellt kaum eigene Chips her, es hat sie seit jeher aus Asien, Europa und den USA importiert. Doch sowohl die Europäische Union als auch die USA haben den Export von Halbleitern seit Kriegsbeginn streng reglementiert. Nun nehmen sie Umwege über Drittstaaten. Japanische Jour­na­lis­t:in­nen haben recherchiert, dass seit Kriegs­beginn 75 Prozent der US-amerikanischen Mikro­chips, die in Russland gelandet sind, über Hongkong oder China ins Land kamen – wohl über kleine Chiphändler oder illegale Zwischenhändler. Waschmaschinen-Kleinteile in russischen Panzern? Für Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, war dieser Verdacht ein Grund zur Freude. Wenn Russland mittlerweile Waschmaschinen ausschlachten müsse, liege die Industrie offenbar in Trümmern, sagte sie im vergangenen Herbst vor dem EU-Parlament. Allerdings zeigt das eben nicht nur die Schwäche der russischen Industrie, sondern auch die Schwäche der europäischen Sanktionen. Die EU hat festgelegt, welche Produkte nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen. Dazu gehören die sogenannten Dual-Use-Güter, die zivil, aber auch zum Bau von Waffen genutzt werden können. Waschmaschinen fallen nicht grundsätzlich unter das Embargo. Nur die besonders teuren, luxuriösen Modelle dürfen tatsächlich nicht nach Russland exportiert werden. Andere Waschmaschinen-Typen hat die EU auf die Liste der „Kritischen Güter“ aufgenommen. Unternehmen und Drittländer sollen bei deren Export „besonders wachsam“ sein. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Graumarkt für Güter aus Gütersloh Im nordrhein-westfälischen Gütersloh laufen die Waschmaschinen der Firma Miele vom Band. Von hier werden sie in die ganze Welt geschickt. Fast in die ganze Welt. Miele liefert seit Kriegsbeginn im März 2022 keine Haushaltsgeräte mehr nach Russland. Trotzdem sind in Russland weiter Miele-Maschinen zu haben. Unsere Recherchen zeigen: Von Russland aus bekommt man die Geräte leicht im Internet, zum Beispiel auf Webseiten wie mlshop.ru. Die Seite sieht aus, als käme sie direkt von Miele: professionelles Webdesign, Miele-Logo, Miele-Waschmaschinen im Angebot. Ein offizieller Miele-Shop sei das nicht, schreibt ein Unternehmenssprecher, als wir ihn danach fragen. Es sei der Shop eines Handelspartners, den Miele aber nicht mehr beliefere. Die Versorgung mit den Geräten könne nur über den „Graumarkt“ erfolgt sein. Nach Kriegsbeginn hat Russland sogenannte Parallelimporte legalisiert. Darüber können Einzelhändler Produkte nach Russland importieren, ohne die Genehmigung des Herstellers einzuholen. Das russische Industrie- und Handelsministerium hat eine Liste von Waren festgelegt, die über Parallel­importe eingeführt werden dürfen. Auf dieser Liste steht neben Apple, Siemens und Volkswagen auch Miele. Deswegen könne das Unternehmen gegen diese Importe wenig tun, sagt der Miele-Sprecher der taz. Nur: Wie kommen die Waschmaschinen über die Grenze auf der Europastraße E117? Hört man sich unter deutschen Logistikunternehmen um, erzählen einige, es sei ein offenes Geheimnis in der Branche, dass Güter nach Russland über Georgien und Kasachstan vertrieben werden. Öffentlich will das niemand sagen. Die Sanktionen und die politische Situation in Russland hätten den Transport in und durch das Land zwar erschwert. Aber die Transportwege verlagerten sich. Nicht nachverfolgbar Verhindern soll das eigentlich der deutsche Zoll. Wer kritische Güter wie etwa Dual-Use-Güter in Drittstaaten exportiert, muss das beim Zoll anmelden. Der prüft, ob die Ausfuhr zulässig ist. Dual-Use-Güter dürfen nur mit gesonderter Genehmigung des Bundesamts für Ausfuhrkontrolle ausgeführt werden. Die Zollabwicklung läuft digital, alle Informationen und Risikohinweise werden automatisch an die Zollstellen übermittelt und bei der Ausfuhr kontrolliert, sagt André Lenz, der Sprecher des Zolls am Telefon. Zusätzlich werde auch die Ware selbst risikoorientiert kontrolliert. Wie groß das Problem der Sanktionsumgehung über Drittländer ist, lässt sich schwer festmachen. Belastbare Zahlen gibt es kaum, jede Staatsanwaltschaft erfasst für sich. Stichprobe bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main: Seit Kriegsbeginn wurden dort circa 200 Verfahren wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz eingetragen, schreibt eine Sprecherin auf taz-Anfrage. Eine „nicht unerhebliche Anzahl“ davon habe Fälle betroffen, in denen Waren über Drittländer nach Russland geliefert werden sollten. Das Problem ist: Eine Luxuswaschmaschine, die über Umwege nach Russland soll, lässt sich für den Zoll mitunter schwer finden. Wenn ein deutscher Hersteller angibt, die Waschmaschine in die Türkei zu liefern, dann ist das erst einmal legal. Wenn in der Türkei die Maschine umgeladen und über Zwischenhändler zum Beispiel auf der Straße E117 durch Georgien nach Russland gebracht wird, dann ist das illegal. Diesen komplexen Prozess der Lieferkette stichhaltig nachzuverfolgen, sei oft sehr aufwendig, sagt Lenz. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte deswegen Anfang des Jahres die sogenannte Endverbleibsklausel ins Spiel gebracht. Es gibt sie schon, bei Waffenexporten. Ein Sturmgewehr etwa darf nicht in Unruhegebiete geliefert werden. Taucht es dort aber auf und der Hersteller hatte bei der Ausfuhr angegeben, die Waffe woanders hin zu verkaufen, kann der Hersteller belangt werden. Heckler & Koch ist für solche Geschäfte zu einer Millionenstrafe verurteilt worden. Gegen Habecks Vorschlag gab es aus der Wirtschaft großen Widerstand: Das sei nicht hilfreich, zu kompliziert, zu bürokratisch, zu schwer zu kontrollieren. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Es war einer der Streitpunkte beim neuen Sanktionspaket, das die Europäische Union Ende Juni verabschiedet hat. Es ist das 11. Paket. Die Endverbleibs­klausel hat es nicht hineingeschafft. Dafür will die EU nun diplomatisch und technisch gegen Sanktionsumgehung ankämpfen. So will sie Drittstaaten dabei unterstützen, die Einhaltung von Sanktionen zu überwachen. Sollte trotzdem bekannt werden, dass in Drittstaaten geholfen wird, die Sanktionen zu umgehen, kann die EU die beteiligten Personen oder Unternehmen sanktionieren. Dafür ist die Europäische Union aber auf die Zusammenarbeit mit den Ländern angewiesen. Nur, wie sehr kann sie auf deren Kooperation setzen? Beispiel Kasachstan: Das Land ist mit Russland in einer Zollunion. Die Grenze zwischen den beiden Ländern ist 7.600 Kilometer lang. Zwar hat Kasachstan gerade ein neues Onlinetool zur Überwachung der Grenze eingeführt. Dass das aber flächendeckend arbeitet, bezweifeln nicht nur Transportunternehmer. Aber die EU will mehr als diplomatischen Druck. Als eines der stärksten Instrumente des 11. Sanktionspakets wertet Hans-Jürgen Wittmann von German Trade & Invest das Transitverbot. Seit Beginn des Kriegs gehen auffällig viele Waren auf dem Weg durch Russland „verloren“, die nach China oder in andere Länder geliefert werden sollen. Russische Behörden beschlagnahmen die Fracht, die für militärisches Gerät gebraucht wird, berichten Transportunternehmen der taz. Mit dem neuen Sanktionspaket hat die EU nun verboten, dass solche Güter durch Russland transportiert werden. Logistikunternehmen bestätigen, dass es seit Ende Juni deutlich komplizierter geworden ist, eine Transportgenehmigung durch Russland zu erhalten. Dass die Wege über Drittländer mit dem 11. Sanktionspaket nun aber endgültig blockiert werden, daran glauben die befragten Unternehmen nicht. In einer globalisierten Welt fänden Waren weiter ihren Weg. Greenpeace appelliert an Unternehmen, ihre Abnehmer ganz genau zu prüfen Für Alexander Lurz, Abrüstungsexperte bei Greenpeace, ist daher klar: Sanktionsregime könnten nie hundertprozentig dicht sein. Es brauche auch den Willen von Unternehmen. „Unternehmen müssen auf Geschäfte verzichten, wenn sich auch nur ein entferntes Risiko abzeichnet, dass eigene Schlüsseltechnik auf einem Umweg in der russischen Kriegsmaschinerie landet.“ Um dies zu verhindern, sollten deutsche Unternehmen ihre Abnehmer im Blick behalten. Auffällige Kunden müssten gesperrt werden. Miele gibt an, das bereits zu tun. Und trotzdem bleiben die Produkte weiter auf dem russischen Markt erhältlich. Auf der Europastraße E 117, an der geor­gisch-russischen Grenze, schieben sich die Lkw nur langsam voran. Aber die Stimmung ist gut: Viele Fahrer stehen am Straßenrand, in Flipflops und kurzer Hose. Dass Ende Juni ein neues Sanktionspaket der EU in Kraft getreten ist, davon will hier niemand etwas gehört haben. In einem Lebensmittelladen nahe der Grenze steht Maia, Anfang 40, groß, mit kurzen schwarzen Haaren. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. An der Kasse warten ein paar Lkw-Fahrer. Sie kaufen Cola und Zigaretten. Seit fünf Jahren arbeitet Maia in diesem Geschäft, dem „Dariali Market“. Dariali, wie die Schlucht unweit von hier. Die wartenden Fahrer aus der Lkw-Schlange sichern ihr das Überleben. „Der Verkehr hat stark zugenommen, seit der Krieg begonnen hat“, sagt sie. 24 Stunden, 7 Tage die Woche sei ihr Laden nun geöffnet. Sie habe viel zu tun.
Jean-Philipp Baeck
Braucht Kasachstan tatsächlich so viele Waschmaschinen? Die taz hat Handelsströme in Europa ausgewertet. Und dabei Lücken in den Sanktionen entdeckt.
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Privatisierung von Sicherheitsfirmen: Nicht ordentlich behütet - taz.de
Privatisierung von Sicherheitsfirmen: Nicht ordentlich behütet In Frankfurt behandelt die Bahnhofssecurity einen Mann rassistisch. Der Rückzug der Polizei zugunsten des Sicherheitsdienstes ist ein Irrweg. In Lummerland war das Bahnfahren noch eine sichere Sache. Bild: dpa Auf dem Frankfurter Hauptbahnhof wird ein afrikanisch-stämmiger Jugendlicher von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes der Deutschen Bahn mit dem Schlagstock attackiert, weil er ohne Fahrschein unterwegs gewesen sein soll. So jedenfalls hat es der Grünen-Politiker Daniel Mack am Dienstag öffentlich gemacht. Und da von einem Dementi der Sicherheitsfirma bislang nichts bekannt ist, darf der Vorfall als wahr unterstellt werden. Schon für sich allein genommen ist bei einem solchen Vorgehen gegen einen mutmaßlichen Schwarzfahrer der Ausdruck „drastisch“ ein Euphemismus. Dass jedoch auch Mack, der ebenfalls dunkelhäutig ist, als er den Vorfall mit seinem Mobiltelefon dokumentieren wollte, von einer Mitarbeiterin des Sicherheitsdiensts als „Nigger“ beschimpft wird, der abhauen solle, macht die ganze Angelegenheit zusätzlich pikant – auch für die Security-Leute. Denn Daniel Mack ist in einer privilegierten Position: Als Politiker hat er die Macht der Öffentlichkeit. Die hatte der attackierte 18-Jährige nicht. Wie viele ähnliche Vorfälle mag es also deutschlandweit geben, von denen man schlichtweg nichts erfährt? Im vorliegenden Fall darf von einem rassistischen Hintergrund ausgegangen werden. An dem Frankfurter Vorfall war eine Gruppe von fünf Security-Leuten beteiligt, über die Wortwahl der Kollegin hat sich keiner beschwert. Allen Beschäftigten von privaten Sicherheitsunternehmen nun pauschal fremdenfeindliche Einstellungen unterzuschieben wäre natürlich ebenso falsch wie fatal. Dennoch liegt das Problem sehr tief. Es beginnt bei den überall zu findenden Einsparungen bei der Polizei, die politisch gern als Reform verkauft werden. So war beispielsweise die Bahnpolizei früher einmal Teil des Bundesgrenzschutzes (BGS). Im Zuge der Umwidmung des BGS zu einer Bundespolizei wurde sie aufgelöst. Damit war Platz geschaffen für Privates. Und auch die DB-Sicherheit ist ein eigenständiges Unternehmen, das von der Bahn AG lediglich beauftragt wird. Eine unmittelbare Verantwortung für deren Verhalten besteht somit nicht. Nicht alle Anbieter sind seriös Und der graue Markt der Sicherheit, der mit dem erzwungenen Rückzug der Polizei entsteht, ist und wird immer größer. Und nicht alle privaten Sicherheitsanbieter, die in diese Lücke drängen, sind seriös. Neben die kurzzeitige und somit schlechte Ausbildung, die miese Bezahlung und den starken Arbeitsdruck tritt seit einiger Zeit jedoch ein tatsächliches, flächendeckendes Problem mit der Fremdenfeindlichkeit. So klagte beispielsweise schon Anfang dieses Jahres das brandenburgische Innenministerium darüber, dass jeder zehnte der dortigen 1.150 aktiven Neonazis in privaten Sicherheitsfirmen arbeiten würde. „Es ist ein besorgniserregendes Phänomen“, ließ sich der Pressesprecher zitieren. In ähnlicher Form besteht das Problem fragwürdiger Personalauswahl quer durch alle Bundesländer. Daraus zu schließen, alle privaten Sicherheitsleute seien rechtslastig, ist natürlich unzulässig. Ihr Hauptproblem liegt eher bei dem mit dem Job verbundenen Stress in Konfliktsituationen, den Anpöbeleien durch die „Kunden“ (wie wir Bürger und Bürgerinnen unterdessen ja so schön genannt werden) und Ähnlichem. Und so etwas entlädt sich irgendwann und irgendwo in Beschimpfungen und/oder Übergriffen. Der Frankfurter Vorfall ist dabei nur ein besonders widerwärtiger Fall. Natürlich lassen sich derartige Fälle auch nicht völlig verhindern, wenn solche Sicherheitsaufgaben wieder an die Polizei zurückgegeben werden und sie personell in die Lage versetzt wird, sie auch zu erfüllen. Gleichwohl werden PolizistInnen bei aller Kritik dennoch besser ausgebildet, und auch die Beschwerde- und Sanktionsmöglichkeiten sind größer. Solange wir jedoch weiter dulden, dass die Polizei immer weiter aus der Fläche zurückgezogen wird, bleibt vom Frankfurter Fall lediglich die kurzatmige Empörung übrig. Mehr nicht.
Otto Diederichs
In Frankfurt behandelt die Bahnhofssecurity einen Mann rassistisch. Der Rückzug der Polizei zugunsten des Sicherheitsdienstes ist ein Irrweg.
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Machtkämpfe im Militär - taz.de
Machtkämpfe im Militär PARAGUAY Der gesundheitlich und politisch angeschlagene Präsident Lugo wechselt die Militärspitze aus – schon zum vierten Mal in zwei Jahren BUENOS AIRES taz | Paraguays Präsident Fernando Lugo hat zu Wochenbeginn überraschend die Militärspitze ausgewechselt. Es ist bereits das vierte Mal, dass Lugo während seiner Amtszeit seit August 2008 hochrangige Posten in der Militärführung neu besetzt. Zuletzt waren im November die Chefs von Heer, Luftwaffe und der Marine sowie weitere hochrangige Militärs ausgewechselt worden. Jetzt hat Präsident Lugo erneut die Spitze von Heer, Luftwaffe und Marine sowie fünf andere Spitzenposten neu besetzt. Die Entscheidung war am Montag ohne nähere Erklärungen bekannt gegeben worden. Weder Lugo noch der Kommandant der Streitkräfte, Óscar Velázquez, nannten Begründungen. Experten rätseln deshalb auch in den Medien, warum überhaupt und weshalb zum jetzigen Zeitpunkt der Präsident einen erneuten Wechsel vornimmt. „Der Präsident hat die Befugnisse dazu, aber was steckt dahinter?“, fragt sich der Abgeordnete und Vorsitzende des Verteidigungsauschusses im Parlament, Mario Morel Pintos. Verteidigungsminister Cecilio Pérez Bordón trat Gerüchten über politischen Druck oder gar Putschpläne entschieden entgegen. „Es gibt keine Instabilität“, so Pérez Bordón. Pérez Bordón selbst war erst vor knapp einem Monat Verteidigungsminister geworden. Auch der frühere Oberste Chef der Streitkräfte, Cíbar Benítez, schloss gegenüber der Zeitung ABC mögliche Putschgelüste der Militärs aus. Die Streitkräfte „sind von der Unterordnung unter die politische Macht überzeugt“, so Cíbar Benítez. Das ist „schön und wichtig“. Ein Putsch gegen Lugo ist auch gar nicht nötig. Lugo verfügt im Parlament über keine Mehrheit, und sein weniger Rückhalt schwindet. Zudem musste Lugo vor wenigen Monaten gesundheitliche Probleme einräumen, als er eine Krebserkrankung öffentlich machte und den Beginn einer Chemotherapie bekannt gab. JÜRGEN VOGT
JÜRGEN VOGT
PARAGUAY Der gesundheitlich und politisch angeschlagene Präsident Lugo wechselt die Militärspitze aus – schon zum vierten Mal in zwei Jahren
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Finanzexperte über geplatzte Fusion: „Die Deutsche Bank will niemand“ - taz.de
Finanzexperte über geplatzte Fusion: „Die Deutsche Bank will niemand“ Für das größte deutsche Kreditinstitut wird es schwierig, noch Geldgeber zu finden, sagt Finanzexperte Gerhard Schick. Die Bank werde schrumpfen. Wolken über den Gebäuden der Deutschen Bank. „Die Schwächen sind noch sichtbarer geworden“ Foto: reuters taz: Herr Schick, was wird aus der Deutschen Bank, nachdem die Fusion mit der Commerzbank gescheitert ist? Gerhard Schick: Die Hausaufgabe bleibt, die Bank stabil aufzustellen. Sie benötigt mehr Eigenkapital, muss ihr riskantes Derivatebuch reduzieren und ihre Strukturen vereinfachen. Wer soll der Deutschen Bank jetzt noch Geld geben? Die Aktionäre haben bisher nur verloren. Es wird in der Tat schwierig, noch Geldgeber zu finden. Die Bank wird schrumpfen und einen Teil ihrer Geschäftsaktivitäten verkaufen müssen – zum Beispiel die Vermögensverwaltung. Die Vermögensverwaltung ist eine der wenigen Sparten, die überhaupt noch Gewinne macht. Stimmt, die Deutsche Bank hat Jahre verloren; das ist schwer aufzuholen. Bisher hatte der Vorstand kein Interesse an Reformen: Er hat sich hinter der Komplexität der Bank und dem großen Derivatebuch versteckt. Beides hat verhindert, dass eine andere Bank die Deutsche Bank übernimmt. Die Manager haben hohe Boni kassiert und sich bequem darin eingerichtet, dass ihre wacklige Bank im Zweifel vom Steuerzahler gerettet wird. Wie soll sich das ändern? Die Investmentbanker haben viel Macht in der Deutschen Bank, auch weil sie einen Teil der Aktien besitzen. Genau deswegen hätten die Politik und die Bankenaufsicht einen Wandel erzwingen müssen, indem sie klare Vorgaben machen. Konkret: Sollte man die Deutsche Bank zwingen, sich von ihren Investmentbankern in London zu trennen? Ja, es ist sowieso richtig, das Investmentbanking vom sonstigen Bankgeschäft abzutrennen. Mit Paul Achleitner ist aber ein Investmentbanker der Chef des Aufsichtsrats. Ich hielt Paul Achleitner schon immer für überschätzt. Er hat die Fusion mit der Commerzbank sehr aktiv betrieben und ist gescheitert. Die Aktionäre sollten sich fragen, ob die Deutsche Bank jetzt nicht schlechter dasteht als vor der Fusionsdiskussion. Die Schwächen der Bank sind noch sichtbarer geworden. Zudem hat sich herausgestellt, dass es keinen „Plan B“ gibt. Vielleicht taucht ja noch eine andere Bank auf, die die Deutsche Bank übernehmen will? im Interview:Gerhard Schick47, bis 2018 Bundestagsabgeordneter der Grünen. Jetzt ist er im Vorstand der Bürgerbewegung Fi­nanz­wende. Die Deutsche Bank will derzeit niemand haben. Das sieht man schon am dramatisch niedrigen Aktienkurs. Es lassen sich höchstens einzelne Teile des Geschäfts verkaufen. Anders ist es bei der Commerzbank, für sie gibt es Interessenten. Allerdings müssen Politik und Bankenaufsicht endlich darauf achten, dass durch eine Fusion nicht eine Bank entsteht, die so groß und so systemrelevant ist, dass der Steuerzahler bei einer Pleite einspringen muss. Das schließt aber eine Fusion aus. Die Commerzbank ist jetzt schon systemrelevant. Auch bei der Commerzbank sehe ich nicht, dass alle Arbeitsplätze erhalten werden können. Insgesamt wurden nach Ausbruch der Finanzkrise in Deutschland zu wenige Überkapazitäten im Finanzsektor abgebaut. Andere Länder sind viel weiter als wir. Die Commerzbank gehört zu 15 Prozent dem Staat. Was würden Sie Finanzminister Olaf Scholz raten? Er sollte sich von der Hoffnung verabschieden, dass der Aktienkurs noch einmal stark steigt und er die Papiere ohne Verlust verkaufen kann. In der Finanzkrise 2008 war Finanzminister Steinbrück viel zu großzügig bei der Rettung der Commerzbank. Er hat Milliarden an die damaligen Aktionäre verschenkt. Aber diese Steinbrück-Milliarden sehen wir sowieso nicht wieder. Es wäre besser, die staatlichen Aktien zu verkaufen, wenn sich eine gute Gelegenheit ergibt. Sonst tragen die Steuerzahler ewig das Risiko, falls die Commerzbank noch mal in bedrohliche Schieflage rutscht.
Ulrike Herrmann
Für das größte deutsche Kreditinstitut wird es schwierig, noch Geldgeber zu finden, sagt Finanzexperte Gerhard Schick. Die Bank werde schrumpfen.
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Der Traum vom Dach aus Luft - taz.de
Der Traum vom Dach aus Luft Die Leichtigkeit des Bauens: Eine große Retrospektive in der Münchner Pinakothek der Moderne würdigt den „Antiarchitekten“ Frei Otto, der gerade 80 geworden ist. Sein berühmtestes Werk ist zugleich sein unglücklichstes: die Überdachung des Münchner Olympiastadions VON IRA MAZZONI Retrospektiven sind nicht Frei Ottos Sache. „Wir sollten uns die Zukunft ernsthaft vornehmen“, mahnte er anlässlich der Ausstellungseröffnung und der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Universität München. Ein dickes Buch mit ungelösten Aufgaben liege in seinem Warmbronner Atelier. Der Elan des 80-jährigen Forschers ist ungebrochen. Gefreut hat er sich über die späte Würdigung doch. Gisela Stromeyer, die Tochter des Zeltbauers Peter Strohmeyer, mit dem Frei Otto seit 1954 vertrauensvoll zusammenarbeitete, hat zur Ausstellung die pathetische Rotunde der Pinakothek der Moderne mit ein paar Segeln leicht und licht verwandelt. Diese subversive Geste gegen selbstgefällige Monumentalität hat Otto sichtlich behagt. Immer hat er sich mit seinen heiteren Improvisationen gegen das „Ewigkeitsgetue“ gewandt. So bringt denn seine Werkschau einen frischen Geist ins Museum. „Mit Leichtigkeit“ trat Otto nach dem Krieg „gegen die Brutalität“ des Bauens ein. Gerne sah er sich als Antiarchitekt: „Lieber gar nicht bauen – als zu viel.“ Und so beschäftigte er sich früher als andere mit minimalen, naturgesetzlichen Konstruktionen, machte sich Gedanken über wandelbare Lebenshüllen, die passive Nutzung von Sonnenenergie, Ressourcenschonung durch Vermeidung von Material und den rückstandslosen Rückbau von Überflüssigem. Mit seiner Suche nach der unbekannten, aber natürlichen Form revolutionierte er zusammen mit Strohmeyer den Zeltbau. Die Ausstellung selbst gleicht einem Labor: All die legendären Modelle aus gespannten Netzen, hängenden Ketten, stehenden Gipsbinden sind versammelt. Fotos von den Minimalflächenversuchen mit Seifenlaugen, Momentaufnahmen gezogener Sirupfäden, unzählige Skizzen und poetische Aquarelle zeugen von der Lust am fantastischen Denken, die in allen drei Forschungsstätten Frei Ottos kultiviert wurde: Zunächst in der kleinen privaten „Entwicklungsstätte für den Leichtbau“ (EL) in Berlin Zehlendorf 1958, später im „Institut für leichte Flächentragwerke“ (IL) an der Technischen Hochschule beziehungsweise Universität Stuttgart sowie in seinem Atelier Warmbronn. „Spinnerzentren“ alle drei, die international vernetzt und höchst erfolgreich Modellcharakter für die Bildungsreform haben könnten. Der weltweite Erfolg Frei Ottos beweist: Ohne breitangelegte Grundlagenforschung keine Innovation. Ohne Interdisziplinarität keine Problemlösung. So arbeiteten in dem von Otto initiierten Sonderforschungsbereich „Natürliche Konstruktionen – Leichtbau in Architektur und Natur“ ab 1984 Architekten, Ingenieure, Biologen, Verhaltensforscher, Paläontologen, Morphologen, Physiker, Chaosforscher, Mediziner, Historiker und Philosophen zusammen. 1955 schon überraschte er die Öffentlichkeit mit dem ersten, elementaren Vierpunktzelt auf der Bundesgartenschau in Kassel. Das runde Wellenzelt, die Bedachung des Tanzbrunnens auf der Bundesgartenschau 1957, erfreute sich dann solcher Beliebtheit, dass es Jahr um Jahr wieder aufgebaut wurde. Der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung 1967 in Montreal sorgte schließlich international für Aufsehen. Das zusammen mit Rolf Gutbrod entwickelte Spitzzelt wurde zum Symbol eines neuen, demokratischen Deutschlands. Die über ein Netz von Seilen gespannte Membran formte eine bewegte, lichtdurchflutete Dachlandschaft. Optimismus lag in der Luft. Der vorbereitende Versuchsbau in Stuttgart wurde zum Institut für leichte Flächentragwerke ausgebaut und schuf perfekte Rahmenbedingungen für die forschenden Tüftlerteams und für inspirierende Gastvorträge etwa von Buckminster Fuller, Konrad Wachsmann oder Kenzo Tange. Das IL war jederzeit weltoffenes Labor, Hör- und Festsaal. Dass es inzwischen auch Denkmal ist, will dem Verfechter des Temporären und Wandelbaren nicht so ganz behagen. Frei Ottos berühmtestes, vor zerstörerischen Umbauten gerettetes Werk, die Überdachung des Hauptsportstättenbereichs des Olympiaparks in München, ist zugleich sein unglücklichstes. Otto hatte als Berater von Behnisch und Partner 1968 das Unbaubare baubar gemacht. Dass die Konstruktion freilich aus Sicherheitsgründen massiver ausfiel als seiner Vorstellung von einer Wolkenlandschaft entsprach, ärgert Otto noch heute. Dahingegen ist das beinahe unsichtbare Netzdach über der Voliere im Tierpark Hellabrunn (Entwurf Jörg Gribl, Tragwerksplanung Ted Happold) an Einfachheit, Klarheit und Leichtigkeit kaum zu überbieten. Ein Dach aus Luft allerdings hat Otto trotz langjähriger Vorstudien zu Pneus nie verwirklichen dürfen. Gleichwohl ist das zusammen mit Kenzo Tange und Ove Arup gemeinsam entwickelte Projekt „Stadt in der Arktis“ aus dem Jahr 1970/71 heute durchaus realisierbar. Auch wenn die leichten Gitter, das Latten-Dach der Multihalle in Mannheim (1975), gerne mit einem Walfisch verglichen wird: Ottos Studium der Naturkräfte steuerte nie auf einen Biomorphismus zu. Die zweifellos ästhetischen Formen entstanden immer aus der optimierten Konstruktion. Wenn Otto mit Blick auf die Urzelle formulierte: „Am Anfang war der Pneu“, dann ging es um die Essenz aller Konstrukte, nicht aber um aufgeblasene, irgendwie futuristisch wirkende Membranhüllen. Immer war der naturforschende Architekt und philosophierende Ingenieur seiner Zeit voraus. Er ließ sich das erste bewohnbare Glashaus der Republik bauen, dachte lange vor dem niederländischen Architekturbüro MVRDV über vertikale, „dreidimensionale Gartenstädte“ nach. Er entwickelte „Schatten für die Wüste“ und selbst für die unter Naturschützern verpönte Magnetschwebebahn entwarf er filigran verzweigte Stützen, die nicht nur ökologisch und ökonomisch vertretbar, sondern auch ästhetisch höchst reizvoll sind. Bis heute wird der Weltverbesserer zu Rate gezogen, wenn es gilt, Unmögliches möglich zu machen: Zusammen mit Shigeru Ban entwickelte Otto die Papprollen-Tonnenschale für den Japanischen Pavillon auf der Expo 2000. Und zusammen mit Ingenhoven Overdiek und Partner tüftelt er an den Lichtkelchen der geplanten unterirdischen Bahnhofsanlage Stuttgarts. Ein Projekt, das kein Computer berechnen kann und das wie eh und je im Atelier anhand von hunderten von Modellen experimentell bewiesen werden muss. Zukunft entsteht in vielen Köpfen und zwischen forschenden Fingerspitzen. „Visionäre Fantasie“, so Otto, „ist niemals utopisch.“ bis 28. August, Katalog (Monografie im Birkhäuser Verlag) 40 €, im Buchhandel 78 €
IRA MAZZONI
Die Leichtigkeit des Bauens: Eine große Retrospektive in der Münchner Pinakothek der Moderne würdigt den „Antiarchitekten“ Frei Otto, der gerade 80 geworden ist. Sein berühmtestes Werk ist zugleich sein unglücklichstes: die Überdachung des Münchner Olympiastadions
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Finger weg vom Waller Fleet - taz.de
Finger weg vom Waller Fleet ■ Obdachlosenhelferkreis von St-Stephani fordert Legalisierung des Parzellenwohnens „Dem einen, der keine Bude hatte, ist die Brühe von den entzündeten, offenen Beinen immer in die Stiefel gelaufen. Aus der Straßenbahn ist der geflogen, weil das so gestunken hat. Der sieht jetzt ganz anders aus, eben weil er im Waller Fleet wohnt.“ Marianne Streitberger redet gern Klartext. Und der ist, wenn man dem Obdachlosenhelferkreis der St. Stephani-Gemeinde Glauben schenkt, dem Streitberger angehört, dringend nötig. Denn noch immer schwelt der Streit um das Waller Kleingartengebiet, das der Bausenator Schulte per Fragebogen nach illegalen, dann zu verweisenden Bewohnern durchkämmen will. Und dabei drohen vor allem die Schwächsten unter die Räder zu kommen: Wohungslose, die gerade ein kleines bißchen auf die Beine gekommen sind. Die Politik drumherum, die befürchtete Erweiterung des Gewerbegebietes Bayerstraße auf Kosten der Parzellen durch einen CDU-Senator unter Zugzwang - darum geht es der pensionierten Pastorin Streitberger nicht. „Ich sehe nicht die politischen Geschichten. Ich seh die Einzelnen, die auf der Straße vegetiert haben und denen es sehr viel besser geht, auch wenn sie illegal zu Wohnplatz gekommen sind.“ Und dieses Dutzend Illegale würde eine Räumung laut Streitberger ebenso hart treffen wie die Alteingesessenen. Statt alte und neue Illegale nach 22jähriger Duldung zu vertreiben, fordert der Obdachlosenhelferkreis deshalb in einem offenen Brief an den Bausenator die Legalisierung des Parzellen-Wohnens am Waller Fleet. Weil täglich Obdachlose an der Pfarrhaustür zu St. Stephani standen, trifft sich seit 1981 der Obdachslosenhelferkreis. Zuerst gab es bloß Gutscheine zu fünf Mark für den Kaufmann an der Ecke. Heute wird jeden Sonntag um drei aufgemacht. Dann gibt es Kaffee und Kuchen und um fünf eine Suppe. „Und dann gehen die meisten ganz schnell, weil sie wieder ihren Alkohol brauchen“, erzählt Streitberger. Die Helfer machen sich keine Illusionen. „Wir glauben nicht daran, daß sich da jemand bessert“, meint die agile Ex-Pastorin. „Aber man zeigt den Leuten so, daß man sie als Menschen ansieht und sich nicht wie um Viecher kümmert. Die Menschenwürde fehlt auf den Ämtern.“ Bei allem Engagement ist der Helferkreis aber realistisch. Man kümmert sich nicht um Heilige. „Wir wissen, daß bei den Parzellen auch viel schief läuft, nicht nur bei der Hygiene. Die bezocken sich, und einer hat sogar einem armen Hund 600 DM als Maklercourtage für einen illegalen Parzellenplatz abgeknöpft“, erzählt Streitberger. Doch gerade deshalb, so die Forderung aus dem Stephaniviertel, müßten die Parzellenbewohner nicht in legale und illegale aufgespalten werden. Streitberger: „Statt dessen sollte man nochmal sowas wie der Kaisen machen. Das Wohnen legalisieren, Sickergruben anlegen, Kanalisation.“ Bei der Senatorin für Soziales zeigte man sich gestern von der Forderung des Helferkreises überrascht. Dr. Otto Joachim: „Das Problem mit den Obdachlosen ist so noch gar nicht an uns herangetragen worden.“ Eigentlich fühle man wegen des Engagements in den Inneren Mission im Bereich Obdachlose gut informiert. „Und durch eine Freigabe der Kleingartengebiete werden, glaube ich, Wohnraumprobleme auf's Ganze gesehen nicht gelöst.“ Ein Beleg mehr dafür, daß die Kluft zwischen dem Helferkreis und den Ämtern riesig ist. „Aber die Ämter sollten sich mal fragen, woran das liegt. Die Ämter können doch nicht helfen, weil Gesetze, denen sie folgen müssen, nicht mehr in die Zeit passen“, schimpft Streitberger. Daß das Parzellenhausen bislang illegal ist, bestreitet die agile alte Dame gar nicht. „Aber wenn das gegen die Gesetze ist, müssen die eben geändert werden.“ LR
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■ Obdachlosenhelferkreis von St-Stephani fordert Legalisierung des Parzellenwohnens
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Ulf Poschardts Geschichtsbild: Gut gemeint, das Gegenteil von gut - taz.de
Ulf Poschardts Geschichtsbild: Gut gemeint, das Gegenteil von gut Der „Welt“-Chefredakteur hat einen Detektor für NS-Vergleiche, der häufig Alarm schlägt. Bei eigenen Texten bleibt er stumm. Über verdächtige Rhetorik. Mit Nazi-Analogien geht Ulf Poschardt auf Twitter nicht allzu vorsichtig um Foto: Juergen Blume/imago In meinem ersten Uni-Semester in Israel trat ich einem studentischen Debattierclub bei. Dieser Club verfügte über zwei Grundregeln: Man durfte weder mit Beispielen aus Skandinavien noch mit Nazivergleichen argumentieren. Die erste Regel hatte mit dem Klischee von Skandinavien in Israel zu tun, wonach dort der Sozialstaat immer perfekt funktioniere. Die zweite Regel müsste eigentlich nicht weiter begründet werden. Jahrzehnte später musste ich an diese Regel erinnern, als ich Besuch von Erika Steinbach empfing. Irgendwie hatte sie die eigenartige Vorstellung gewonnen, sie könnte meine Vorbehalte gegen die AfD-eigene Desiderius-Erasmus-Stiftung zerstreuen. Sichtlich stolz schwärmte sie von den zahlreichen Professoren, Anwälten und Ärzten, die die Stiftung unterstützten. Kopfschüttelnd erwiderte ich, dass Bildung leider nicht vor Barbarei schützt und dass auch in den KZs hochgebildete Ärzte gearbeitet hätten. Ob ich die Ärzte in der AfD mit Nazis verglichen habe, war dann sehr bald Gegenstand eines langen Rechtsstreits mit Frau Steinbach. Auch wenn der Rechtsstreit zu meinen Gunsten ausging, bin ich seither bei NS-Analogien noch vorsichtiger als zuvor. Ohnehin gilt es in der historischen Bildungsarbeit, mit der Dialektik des „Nie wieder“ sorgsam umzugehen. Denn „Nie wieder“ bedeutet: Natürlich kann sich die Geschichte wiederholen. Schon allein deshalb müssen strukturelle Analogien grundsätzlich möglich sein. Aber direkte Vergleiche der Gegenwart mit der Nazi­zeit sind dafür in den allermeisten Fällen kein geeignetes Mittel. 

Jemand, der bei diesem Thema neuerdings ungewohnt zartfühlend auftritt, ist der Welt-Chefredakteur Ulf ­Poschardt. Er will NS-Vergleiche schon dort bekämpfen, wo manche zweifeln könnten, dass überhaupt welche stattgefunden haben. In der Jüdischen Allgemeinen knöpfte er sich etwa den Fernsehmoderator Georg Restle vor. Restle sei „nicht zimperlich“, wenn es um jüdische Themen gehe, so der Vorwurf, den Poschardt unter anderem damit belegt, dass Restle Vokabeln wie „Ökozid“ verwendet. Auch bei der Bundeskanzlerin schlug Poschardts Detektor an: Die nämlich hatte für Corona das Wort „Unheil“ verwendet – laut Poschardt „eine fatale Metapher, in der unüberhörbar das,Heil' anklingt“. Man würde sich wünschen, dass Poschardt diese sprachliche Sensibilität auch aufs eigene Schreiben richten könnte. Auf Twitter jedenfalls ist er nicht zimperlich mit Vergleichen, bei denen mir persönlich flau wird. Erst vor Kurzem postete er einen Welt-Artikel über die Umweltaktivistin Neubauer mit dem verfremdeten Goebbels-Zitat „Wollt ihr die totale Angst?“. Neubauer hat es Poschardt angetan: Erst letzten Monat verglich er sie und die Klimabewegung mit der verschwörungstheoretischen bis rechtsradikalen Querdenken-Bewegung. Reichlich selbstgemaltes Geschichtsbild Ebenfalls nicht zimperlich ging er mit linken Demos im Berliner Villenviertel Grunewald um – ähnliche Proteste hätte es laut Poschardt „schon mal“ gegeben, nämlich „zwischen 1933 und 1945“. Das geht nach der Formel: Die Nazis von damals sind die Linken von heute, die Juden von damals sind die jetzigen Kapitalisten. Ohne jeden Skrupel reproduziert er dabei das Vorurteil, dass in einem Reichenviertel hauptsächlich Juden zu Hause sein müssen. Um sich das Ganze leichter zu machen, erklärt er uns wenig später, dass die Naziideologie eigentlich links sei: Sie entstamme nicht blankem Judenhass, sondern dem „Wunsch nach Gleichheit“. Hitler und Goebbels als Kämpfer für Gleichberechtigung? Wo schon der Chef über ein reichlich selbstgemaltes Geschichtsbild verfügt, werden mir einige Welt-Texte etwas verständlicher: Im Sommer etwa zeigte Welt-Chefkommentator Torsten Krauel mal eben Verständnis für Nazi-Verbrecher und stellte nostalgisch fest, dass viele von ihnen ihre Jobs nach dem Krieg auch deswegen behalten durften, weil es 1945 noch keine „Cancel Culture“ gab. NS-Vergleiche ja, aber nur, wenn es gegen die Richtigen geht: Mit dieser Regel wäre Poschardt schon an den Eingangstests meines israelischen Debattierclubs gescheitert. Gott sei Dank ist die Argumentationsweise eines Ulf Poschardt ziemlich unvergleichlich.
Meron Mendel
Der „Welt“-Chefredakteur hat einen Detektor für NS-Vergleiche, der häufig Alarm schlägt. Bei eigenen Texten bleibt er stumm. Über verdächtige Rhetorik.
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Politische Gewalt in Mexiko: Wahlkampf ist, wenn Blut fließt - taz.de
Politische Gewalt in Mexiko: Wahlkampf ist, wenn Blut fließt In Mexiko sind vor den Regionwahlen allein 35 Kandidaten und Kandidatinnen getötet worden. Die Kartelle kämpfen um Einfluss in den Rathäusern. Alma Barragán kandidierte für das Bürgermeisteramt in Moroleón Foto: Armando Solis/ap OAXACA taz | Alma Barragán war guter Dinge, als sie in einer Onlineübertragung zur Teilnahme an ihrer Wahlveranstaltung aufrief: „Kommt vorbei und hört meine Vorschläge, lasst uns einen Moment zusammen verbringen“, sagte die Kandidatin für das Bürgermeisteramt der zentralmexikanischen Stadt Moroleón. Wenige Minuten später war sie tot. Bewaffnete Männer erschossen die 61-Jährige aus einem Wagen heraus, während sie zu ihren Anhängern sprach. Ein Mann und ein Kind wurden verletzt. Wenige Stunden später feuerten Unbekannte in San Fernando auf Jesús Galván. Der Politiker, der ebenfalls als Bürgermeisterkandidat antritt, überlebte das Attentat. Es ist Wahlkampf in Mexiko. Über 90 Millionen Bürgerinnen und Bürger sollen am kommenden Sonntag mehr als 15 Gouverneure, 30 regionale Abgeordnetenhäuser, das Parlament und knapp 2.000 Bürgermeister­ämter entscheiden. Doch mit jedem Tag, mit dem die umfangreichste Wahl in der Geschichte Mexikos näher rückt, nimmt die Gewalt zu. Mit dem Mord an Barragán in der vergangenen Woche steigt die Zahl der getöteten Kandidatinnen und Kandidaten auf 35. Insgesamt starben nach Angaben des Instituts Integralia bis Ende April schon 143 Wahlkampfhelfer, Politikerinnen oder Angehörige. Kein Tag vergeht, an dem nicht Amtsanwärter bedroht, entführt oder verletzt werden. Nach Angaben von Integralia finden die meisten der Verbrechen auf kommunaler Ebene statt. „Für die organisierte Kriminalität, die in fast allen Regio­nen Mexikos präsent ist, spielt die Kontrolle über die Rathäuser eine wichtige Rolle. Wer den Bürgermeister finanziert, hat auch Polizei und Behörden auf seiner Seite, wenn es gilt, Drogen zu transportieren, Schutzgeld zu erpressen oder illegal Eisenerz abzubauen. Der Einfluss ermöglicht es den Kartellen, Informationen über Sicherheitsstrategien und rivalisierende Organisationen zu bekommen“, erklärt Carlos Rubio von Integralia. „Und sie haben Zugang zu den Finanztöpfen der Gemeinden.“ Aus diesem Grund liefern sich auch abseits der Kartelle verfeindete Gruppen innerhalb der Kommunen blutige Kämpfe. Die Parteizugehörigkeit ist Nebensache Bei den Angriffen spielt das Parteiabzeichen meist keine Rolle. Barragán war für die oppositionelle „Bürgerbewegung“ angetreten, Galván für die ehemalige Staatspartei PRI, die sich ebenfalls in der Opposition befindet. Aber auch viele Politiker der regierenden Partei Morena des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador wurden Opfer gewaltsamer Angriffe. Nach dem Tod Barragáns machte der Staatschef die Mafia und, mit Blick auf die korrupten Strukturen von Politik und Wirtschaft, die „Verbrecher mit den weißen Kragen“ für die Tat verantwortlich. Zugleich kritisierte er, dass die Presse die Gewalt im Wahlprozess hochspiele. Allerdings steht López Obrador, der im Dezember 2018 sein Amt übernahm, wegen seiner Politik gegen die Kartelle in der Kritik. Der Präsident setzt in erster Linie auf Sozialprogramme, um arbeitslose Jugendliche von der Mafia fernzuhalten. Um die wirtschaftliche Lage armer Familien zu verbessern, fördert er die ländliche Entwicklung. Doch solche Projekte wirken langfristig. Seine Strategie „Umarmungen statt Schüsse“ zeigt noch keinen Erfolg: Mit mehr als 35.000 Morden sind die vergangenen zwei Jahre die gewalttätigsten, seit diese Verbrechen aufgezeichnet werden. Seine eigens zur Bekämpfung der Mafia gegründete Nationalgarde musste 2020 einen Chef des Sinaloa-Kartells wieder freilassen, weil sie dem massiven Terror der Organisation nicht gewachsen war.
Wolf-Dieter Vogel
In Mexiko sind vor den Regionwahlen allein 35 Kandidaten und Kandidatinnen getötet worden. Die Kartelle kämpfen um Einfluss in den Rathäusern.
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Indien: Ein Zuhause in der Ferne - taz.de
Indien: Ein Zuhause in der Ferne ■ Als Paying guest bei einer Familie im indischen Bundesstaat Rajasthan Udaipur, wo sich Palast und Altstadtfassaden im See spiegeln, ist eine der schönsten Städte im Land der Rajputs: Rajasthan, dem südwestlich gelegenen indischen Bundesstaat, der für seine Paläste, Jain-Tempel und Kamelmärkte berühmt ist. Hausherr Rajendra Singh Rathore empfängt mich auf der Terrasse des großzügigen Familienanwesens, das er von seinem Vater, dem Schwiegersohn des Maharana (Fürsten) von Mewar, geerbt hat. Neben wundervollen Blumen und Pflanzen posiert eine Kanone. Rajputs tragen gerne ihre kriegerische Kultur zur Schau. Als Beschützer der Fürsten verfügten sie einst in Rajasthan über Macht, Einfluß und Großgrundbesitz. Im indischen Kastensystem nehmen sie nach den Brahmanen – Priester und Gelehrte – die höchste Stellung ein. Wirtschaftlich und auch politisch sind heute jedoch viele Angehörige von mittleren und niederen Kasten einflußreicher. Rajendra weiht mich mit sonorer Stimme in die Philosophie der paying guest accomodation ein. Die Idee, Touristen in Privatunterkünften unterzubringen, wurde vor einigen Jahren von der Rajasthan Tourist Development Corporation angeregt. Die „Paying guest“-Angebote in Rajasthan haben sich inzwischen jedoch weit von der ursprünglichen Idee des Urlaubs in Familien entfernt. Die meisten Unterkünfte, die heute noch bestehen, sind zu unpersönlichen Gästezimmern geworden. Anders im Khudala House, so der Name des Einfamilienhauses der Rathores. Rajendra und Gita sind viel in der Welt herumgekommen und wollen Touristen ein Heim in der Ferne anbieten. Das Haus bietet zur Zeit zwei große Zimmer, ein kleiner Anbau ist im Entstehen. Gita arbeitet zur Zeit als Direktorin einer angesehenen Privatschule. Rajendra hat in den letzten Jahren Journalisten aus dem Ausland die Schönheiten der Region gezeigt, einen Film über Tiger im Ratambore-Nationalpark gedreht und vor Jahren als Schauspieler in dem Film „Octopussy“ mitgewirkt. Rajendra begleitet seine BesucherInnen auf Wunsch mit seinem Jeep auf Tagesausflügen zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung von Udaipur: der monumentalen Tempelanlage in Ranakpur, die auf 1.444 Säulen besonders filigran gearbeitete Motive aus der indischen Mythologie vorführt, oder zu dem auf einem Hochplateau gelegenen Chittorgarh Fort, das Zeugnis von den großen Schlachten zwischen Mogulen und Rajputs ablegt. Die Fahrt zu der Bergstation „Mount Abu“, dem höchsten Punkt Rajasthans, ist eine Zweitagereise. Die Stadt Udaipur selbst bietet viele Attraktionen. Dazu gehört der kunstvoll eingerichtete große City-Palast und der Jain- Tempel inmitten der hügeligen Altstadt, wo Silberschmuck und Kunsthandwerk angeboten werden und Dachterrassencafés zum Ausblick auf den See einladen. Berthold Kuhn Adresse: Rajendra & Gita Singh Rathore, Paying Guest Accomodation; 4, Khudala House. Udaipur 313001, Rajasthan/Indien. Tel.: 0091-294-524363
Berthold Kuhn
■ Als Paying guest bei einer Familie im indischen Bundesstaat Rajasthan
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Die Renner: der Imam und die Muslimin - taz.de
Die Renner: der Imam und die Muslimin In der Bibliothek des schwedischen Malmö kann man auch Menschen ausleihen. Ausleihfrist: eine Dreiviertelstunde „Eine Lesbe, bitte.“ „Tut mir leid, die ist ausgeliehen. Aber wie wäre es mit einem Transvestiten, einem Iman oder einem Sinto.“ Die Stadtbibliothek von Malmö verleiht ein paar Mal im Jahr „lebende Bücher“. „Menschen, die einer Minderheit angehören“, erklärt mir Catharina Norén, die Bibliothekarin. „Rede nicht über dein Vorurteil, sondern triff es – und werde es dadurch los“, lautet der Slogan der Aktion. Catharina Norén, eine freundliche Dame mit schlohweißem Haar, hat sich mit einigen Kollegen aus der Bibliothek zusammengetan, um gegen die Diskriminierung von Minderheiten zu kämpfen. Dafür ist Malmö der geeignete Ort: Jeder vierte Einwohner ist Ausländer. Es gibt Stadtteile, in denen kaum ein Schwede lebt. Gettobildung ist die Folge: mangelnde Sprachkenntnisse, Arbeitslosigkeit, eine hohe Kriminalitätsrate und das Gefühl sozialer Isolation. Entsprechend groß sind die Vorurteile gegenüber den jeweils anderen Gruppen. Im Vergleich zu Deutschland sind rechtsradikale Ausschreitungen selten. Aber auch in Schweden gibt es Neonazis. Auch dort brannten Ausländerheime. Und: Einige Städte haben sich geweigert, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Konsequenz für Norén: Sie musste Menschen zusammenbringen, die sich im täglichen Leben nicht begegnen. Zumindest für eine Dreiviertelstunde – so lange ist die Ausleihfrist für das „lebende Buch“. Nachdem die Regeln feststanden, suchte Norén Leute, die bei der Aktion mitmachen wollten. „Das war viel leichter als gedacht“, sagt sie. „Fast jeder, den ich bat, sich als lebendes Buch zur Verfügung zu stellen, sagte Ja.“ Und für manche begehrte „Ausleihobjekte“ gibt es sogar Wartelisten. Besonders gefragt: der Imam und die muslimische Frau. Wen man sonst noch ausleihen kann, will ich von Norén wissen. „Eine Lesbe, einen Transvestiten, einen Behinderten, eine Obdachlose, einen Tierrechtsaktivisten, eine Feministin, einen Farbigen, einen Rom, einen Sinto, einen Exstrafgefangenen, einen Dänen“, zählt sie auf. „Der Däne ist sehr gefragt. RASSO KNOLLER www.malmo.se/turist, www.visitsweden.com
RASSO KNOLLER
In der Bibliothek des schwedischen Malmö kann man auch Menschen ausleihen. Ausleihfrist: eine Dreiviertelstunde
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Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? - taz.de
Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? Das Tragikomische an der AfD, wie die Grünen einst Kohls Klemmjunta entblößten und Klopps Wort zum Sonntag. Ehrenmann: Bernd Lucke, nein, Sepp Blatter. Bild: reuters taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht in der vergangenen Woche? Friedrich Küppersbusch: Auf seinem Tourplakat sieht Mark Knopfler aus wie Heiner Geißler. Und was wird besser in dieser? Heiner Geißler sieht cool aus, ungefähr so wie Mark Knopfler. Sie waren letzte Woche in Helsinki. Haben Sie ein paar „Wahre Finnen“ getroffen? Es war sehr hell, winters soll es dort eher sinki sein. Bei den „Wahren Finnen“ fängt die Fremdenfeindlichkeit ja bereits beim Groll gegen die Schweden an, die dummerweise das heutige Finnland und vor allem Helsinki gegründet haben. Deshalb ist die Stadt zweisprachig beschriftet und weltoffen, während die rechtspopulistischen „Wahren Finnen“ im Grunde also so finnisch sind, dass sie auch stark was gegen Finnland haben. Luís Figo hat seine Kandidatur für das Fifa-Präsidium zurückgezogen. Wie lange müssen wir Sepp Blatter eigentlich noch ertragen? Man wartet auf den vierten Offiziellen, der an der Seitenlinie die Leuchttafel hochhebt: „Nachspielzeit: Bis er tot umfällt“. Doch Gemach: Blatter als Fußballfunktionär war auch eine Erfindung des deutschen Adidas-Konzerns, und Korruptionsvorwürfe kontert er gern mit gegrinsten Sottisen über die WM-Vergabe an Deutschland 2006. Vielleicht sollte man ihn zur Wiederwahl umbenennen in „das verdeckte Foul“. Da sich die Europäer am meisten an ihm stören, hätte der holländische Gegenkandidat durchhalten, oder sagen wir mal ein Bierhoff antreten müssen. Halt jemand, der nicht mehr möchte, dass ein Konzern Verein spielt. Eine Kommission hat herausgefunden, dass die Berliner Grünen pädophile Täter unter sich duldeten. Reiner Zufall oder war Pädophilie in der Gründungsphase in der Ideologie der Grünen angelegt? Und wenn? Bis dahin wurde in Deutschland „vor dem Einschlafen eine Einheitsübung vollführt, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration durchführt“. Okay, die Sprache ist auch nicht so tobend sexy, doch – nach dieser Rede Waltraud Schoppes im Bundestag 1983 saß das Establishment der alten Bundesrepublik entblößt: Kohls Bundesregierung als zeternde zischelnde Klemmjunta. „Hexe“ – „wäre früher verbrannt worden“ geiferte der bürgerliche Wohlanstand der mutigen Grünen entgegen, die den Kanzler aufforderte, „die Menschen darauf hin[zu]weisen, dass es Formen des Liebesspiels gibt, die lustvoll sind und bei denen man nicht schwanger wird“. So wurden – vor Lesben, Schwulen, BDSMlern und allerhand anderen Neigungsgruppen – die ganz normalen Pflicht- und ZwangsrammlerInnen aller Klassen und Geschlechter befreit. Das bis dahin obwaltende Tabu schützte sexuelle Gewalt gegen Kinder zuverlässig mit. Solange man „darüber“ nicht redete, konnte sich der Pädophile so unterdrückt fühlen wie der Schwule – und sich die Rechenschaft sparen. Nach damaligem Recht saßen die grünen Knabenschänder in der Nachbarzelle der „175er“, der nach bewahrtem Nazirecht strafbaren Schwulen. Diese Befreiung hat neues, unverzeihliches Unrecht mitgebracht, und zur Ideologie der Grünen gehört, sich ordentlich zu schämen, aufzuklären, und soweit möglich zu entschädigen. Die AfD zerfällt und spaltet sich weiter und weiter. War das nicht eigentlich eine Spezialität der Linken? Es ist so tragikomisch, wie alle, die „gegen die Altparteien“ antreten, bald öffentlich vorführen, dass sie deren Job nicht können: Lucke möchte eine Luckepartei, doch wie das geht, wissen vielleicht Merkel, Kohl, Schröder – er hat’s nicht drauf. Syrische Aktivisten haben E-Mails an die Öffentlichkeit gebracht, in denen Jürgen Todenhöfer 2011 Baschar al-Assads PR-Frau umwarb. 2012 dann bekam er eine Audienz beim syrischen Despoten. Ist es nicht schön, wenn Journalisten die Sache über ihren eigenen Ruf stellen? Der Spiegel brachte 2014 ein Assad-Interview, tief kundig und mit nanometerfest betonierten Positionen der fragenden Journalisten. Trotzdem mag es Assad als publizistischen Erfolg empfinden, seitenlang im angesehenen deutschen Blatt rumharmlosen zu dürfen. Kurz: Man darf vermuten, dass er Interviews auch ohne jede Schleimerei gewährt, wenn es seiner Agenda frommt. Oder andersherum: Todenhöfer ist Aktivist, kein Journalist. Das muss nicht schlimm sein. Und was machen die Borussen? Klopps aufgezeichnetes Wort zum Sonntag, mit dem er vom Westfalenstadion Abschied nahm, wirft schon die Frage auf: Warum dürfen sich Minderheitsreligionen den dafür geeigneten Sendeplatz in der ARD teilen ? FRAGEN: MEIKE LAAFF
Friedrich Küppersbusch
Das Tragikomische an der AfD, wie die Grünen einst Kohls Klemmjunta entblößten und Klopps Wort zum Sonntag.
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US-Forscher erfand Ergebnisse: Schmerztherapie-Studien gefälscht - taz.de
US-Forscher erfand Ergebnisse: Schmerztherapie-Studien gefälscht Zwölf Jahre lang fiel es nicht auf, dass ein international renommierter Schmerzforscher manipulierte oder erfundene Studien veröffentlichte. Installation der Ausstellung "Schmerz" in Berlin. Bild: dpa Die Schmerzforscher sind erschüttert. Scott Reuben, Professor am Baystate Medical Center in Springfield in Massachusetts und bis vor kurzem ein international renommierter Schmerzforscher hat 21 seiner Studien gefälscht. Viele seiner Empfehlungen wurden auch in Deutschland im Klinikalltag umgesetzt. Angesehene Fachmagazine hatten Reubens Arbeiten publiziert. Jetzt stellt sich heraus, dass Reuben die Ergebnisse seiner Studien teilweise gefälscht, teilweise komplett frei erfunden hat. Man kam Reubens Machenschaften rein zufällig auf die Spur. Im Mai vergangenen Jahres entdeckte ein leitender Angestellter des Baystate Medical Centers Ungereimtheiten in Reubens Arbeiten. Eine Routineprüfung ergab, dass Reuben für zwei klinische Studien keine nötigen Formulare der teilnehmenden Krankenhäuser besaß. Bei einer anschließenden Untersuchung stellte sich heraus, dass es bei 21 Studien über die Wirksamkeit von Schmerzmitteln keine nennenswerte klinische Forschung gibt. Die älteste Veröffentlichung stammt aus dem Jahr 1996. Doch es kommt noch schlimmer: Reuben pflegte offenbar ausgezeichnete Kontakte mit der Pharmaindustrie. Sein Betrug habe "gewerbliche Züge" angenommen, erklärte der Anästhesist Volker Wenzel, Universität Innsbruck, gegenüber der Süddeutschen Zeitung. In der Kritik steht unter anderem der Pharmakonzern Pfizer. Er gewährte Reuben insgesamt fünf Forschungsdarlehen. Zudem war Reuben als bezahlter Sprecher für das Unternehmen tätig. Zuletzt beschäftigte sich Reuben mit zwei Pfizer-Medikamenten - dem Entzündungshemmer Celebrex sowie dem Antikrampfmittel Lyrica. Reuben attestierte beiden Medikamenten eine hohe Wirksamkeit. Allein zehn von Reubens fragwürdigen Studien wurden in dem Fachmagazin Anesthesia & Analgesia veröffentlicht. Der Redakteur Paul White geht davon aus, dass Reubens Arbeiten zum milliardenschweren Verkauf potenziell gefährlicher Schmerzmittel geführt haben. In Reubens Publikationen befindet sich auch das 2004 vom Markt genommene Schmerzmittel Vioxx. Allein in den USA hat das Medikament bei bis zu 140.000 Menschen zu schweren Schäden der Herzkranzgefäße geführt. Auch unter Celebrex ist es zu einer erhöhten Anzahl von Herzinfarkten gekommen. Nach Bekanntwerden der Fälschungen werden nun sämtliche Leitlinien zur Akutschmerztherapie - herausgegeben von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie - durchsucht und die Ergebnisse von Reubens Arbeiten gelöscht. Die deutschen Schmerzspezialisten zeigen sich bestürzt, weisen jedoch daraufhin, dass der Einsatz der betroffenen Substanzen in Deutschland nicht oder nicht nur auf den Arbeiten Reubens beruht. Reuben ist derzeit beurlaubt und von jeglichen Forschungsarbeiten und Lehrtätigkeiten befreit. Der Fall Reuben erweckt Misstrauen gegenüber der klinischen Forschung. Er wirft Fragen auf. Wieso konnte ein Wissenschaftler über zwölf Jahre lang Studien fälschen, ohne dass dies auffiel? Warum veröffentlichten renommierte Fachmagazine über einen so langen Zeitraum gefälschte Forschungsergebnisse? Scott Reuben ist jedoch kein Einzelfall. Gemäß einer Veröffentlichung des Fachmagazins Nature wird nur ein Prozent aller Betrugsfälle aufgedeckt.
Claudia Borchard-Tuch
Zwölf Jahre lang fiel es nicht auf, dass ein international renommierter Schmerzforscher manipulierte oder erfundene Studien veröffentlichte.
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Buch des Ex-FBI-Chefs: Die Comey’sche Dialektik - taz.de
Buch des Ex-FBI-Chefs: Die Comey’sche Dialektik Der frühere FBI-Direktor James Comey stellte in Berlin sein Buch „Größer als das Amt“ vor. Darin hat er einige Geschichten über Präsident Trump zu erzählen. Kein pathologischer Narzisst wie Trump, aber er findet sich schon auch ziemlich gut: James Comey Foto: dpa Die Trump-Präsidentschaft ist eine publizistische Goldgrube. Traditionsreiche Tageszeitungen in den USA, die schon so höflich wie elegisch als „legacy publications“ abgetan wurden, als hätten sie nunmehr in erster Linie historische Bedeutung, verzeichnen wieder einen deutlichen Zuwachs an Abonnenten, und der US-amerikanische Sachbuchbetrieb boomt. Nach Hillary Clinton („What Happened“), dem Boulevard-Reporter Michael Wolff („Fire and Fury“) und dem Atlantic-Chefredakteur David Frum („Trumpocracy“), um nur die prominentesten Namen zu nennen, will nun auch James Comey ein paar Schecks einlösen. Comey war Direktor des FBI, bis er letztes Jahr aus dubiosen Beweggründen von Präsident Trump entlassen wurde. Über den Präsidenten hat Comey ein, zwei Geschichten zu erzählen, die er in den letzten Monaten auch bei jeder Gelegenheit erzählte, und diese Geschichten hat er nun aufgeschrieben. Die bekannteste ist die von dem Treffen unter vier Augen, bei dem Präsident Trump von Comey eine Art Loyalitätsschwur hören wollte, den dieser verweigerte. Als Comey dann versicherte, er werde aber immer ehrlich sein, soll Trump entgegnet haben: „Genau das will ich ja. Ehrliche Loyalität.“ Dieser Wortwechsel, den Comey kurz nach seiner Entlassung öffentlich gemacht hatte, sorgte für großes Aufsehen, machte sich der Präsident doch so möglicherweise der Behinderung der Justiz schuldig. Jedenfalls war klar, dass das Wort „Loyalität“ nun irgendwo in Comeys Buchtitel vorkommen musste. „A Higher Loyalty“ heißt es in der Originalausgabe; der deutsche Titel ist „Größer als das Amt“. Erst einmal nachdenken Der frühere FBI-Direktor ist kein pathologischer Narzisst wie sein Präsident, aber er findet sich schon auch ziemlich gut. Er entwirft in seinem Buch Kriterien für eine starke Führungspersönlichkeit – Integrität, Demut, Ehrlichkeit, Überparteilichkeit, Humor – und kommt stets aufs Neue zu dem Schluss, dass er diesen Idealen entspricht. Oder zumindest versucht, ihnen zu entsprechen. Wieder und wieder gerät er, wie er schreibt, in schwierige Situationen, die keine elegante Auflösung bieten, und verhält sich makellos. Dienstagabend, Comey stellt im Kino International in Berlin sein Buch vor. Der Zeit-Redakteur Holger Stark moderiert. Er nennt James Comey „Jim“ und fragt ihn, ob er nicht ganz entscheidend den Wahlausgang beeinflusst habe, indem er nur wenige Tage vor der Wahl die Wiederaufnahme der FBI-Ermittlungen gegen Clinton öffentlich gemacht hat. Die richtige Antwort auf diese Frage ist: Ja, offensichtlich. Comey aber windet sich und sagt: „I … don’t … know“, als hätte er die Frage noch nie gehört und müsste erst einmal nachdenken. Dabei wird ihm die Frage bei jeder einzelnen dieser Veranstaltungen gestellt, und er beantwortet sie jedes Mal mit denselben faux-introspektiven Kunstpausen. Die Frage, die Stark nicht stellt, ist diese: Warum hat Comey offengelegt, dass das FBI Ermittlungen gegen Clinton am Laufen hatte, nicht aber, dass gegen die Trump-Kampagne ebenfalls ermittelt wurde? Während das Gespräch im Kino International vom Themenkomplex „Clinton und Trump“ dominiert wird, berücksichtigt Comey in seinem Buch sämtliche Stationen seiner Beamtenkarriere. (Das Intermezzo als Privatier beim Rüstungskonzern Lockheed Martin übergeht er.) In einigen der unterhaltsamsten Passagen des Buchs geht es um seine Zeit als Staatsanwalt in New York, in der er Mitglieder der sizilianischen Mafia verhörte, deren Gerede von Loyalität und Familie ihm später wieder begegnen sollte. Bemerkenswert sind zudem die schonungslosen Beschreibungen der Foltermethoden US-amerikanischer Geheimdienste, die Comey als stellvertretender Justizminister unter George W. Bush, wenige Monate nach den Anschlägen des 11. September, zu unterbinden versuchte. Comeys Buch behandelt auch sein Heranwachsen, das Leiden unter den Hänseleien der Stärkeren, das, wie er es heute erzählt, seinen Wunsch festigte, den Schwachen beizustehen und Anwalt zu werden. Das ist die Comey’sche Dialektik, ein pragmatischer Optimismus, zutiefst amerikanisch: Schlimme Dinge passieren, damit man etwas Gutes aus ihnen macht. Einen Bestseller zum Beispiel.
Jan Jekal
Der frühere FBI-Direktor James Comey stellte in Berlin sein Buch „Größer als das Amt“ vor. Darin hat er einige Geschichten über Präsident Trump zu erzählen.
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Merkel über die Ehe für alle: Ohne Fraktionszwang entscheiden - taz.de
Merkel über die Ehe für alle: Ohne Fraktionszwang entscheiden Die Kanzlerin kann sich nun doch eine Abstimmung über die Ehe für alle vorstellen – als „Gewissensentscheidung“. Das gab es bisher nur bei ethischen Fragen. Wenn der Staat entscheide, dass Kinder in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung aufwachsen, „muss ich das positiv zur Kenntnis nehmen“: Angela Merkel im Maxim Gorki Theater in Berlin Foto: dpa BERLIN taz | Als eine Art Kanzlerduell im Zustand gegnerischer Absenz darf man sich das Format „Brigitte live“ vorstellen. Vor zwei Wochen war Martin Schulz zum Gespräch auf offener Bühne ins Maxim-Gorki-Theater gekommen. Er erzählte unter anderem von der großen Liebe zu seiner Frau; das Publikum war hingerissen. Würde Angela Merkel nun also von Joachim Sauer schwärmen? Nun, auf ihre spezielle Merkelsche Art tut sie das. Aber ihr seltsames Kompliment für ihren Ehemann – der könne deutlich besser als sie den Witz eines Cartoons entschlüsseln – ist nicht das, was bleiben wird von diesem Abend. Sondern Merkels Einlassungen zur Ehe für alle. Seit Wochen positionieren sich die Parteien zu diesem Thema. SPD, Grüne und FDP haben die Ehe für alle zur Bedingung für eine wie auch immer geartete Regierungskoalition erklärt. Nur die Union hat bislang stillgeschwiegen. Nun, in der stickigen Luft des Maxim-Gorki-Theaters, fragt ein Mann aus dem Publikum seine Kanzlerin („Ich bin ein großer Fan von Ihnen“), wann er denn seinen Freund endlich seinen Ehemann nennen dürfe. Merkel kreist das Thema erst einmal umständlich ein. Mehrere rhetorische Runden dreht sie, bevor sie zum Kern der Sache vordringt, die Formulierung „Ehe für alle“, das Wort „Homoehe“ gar kommen ihr nicht über die Lippen. Man spürt in diesem Moment sehr deutlich jenen konservativen Kern, der dieser Politikerin schon oft abgesprochen worden ist. Merkel mag in der Mitte Themen wie Frauenquote, Klimapolitik oder Mindestlohn für sich reklamieren. Die Ehe aber, der bürgerliche Familienbegriff, ist für sie wie für viele in der christlich geprägten Union nochmal eine ganz andere Baustelle. Aktuelle EntwicklungenDie SPD will eine Abstimmung im Bundestag zur Homo-Ehe erzwingen. Er hoffe, dass die Union mitziehe, die SPD werde aber auf jeden Fall dafür sorgen, dass eine Abstimmung über einen Gesetzentwurf stattfinden werde, sagte Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz am Dienstag in Berlin, ohne einen genauen Zeitpunkt zu nennen. (dpa) Sie habe zur Kenntnis genommen, sagt sie nun, was die anderen Parteien zum Thema gesagt hätten. Sie sei „ein bisschen bekümmert, dass das Gegenstand von plakativen Beschlüssen ist“. Sie glaube nämlich, dass es sich hier um etwas sehr Individuelles handelt. „Das andere“ sei eine genau so wertvolle Partnerschaft, nach ihrem Eindruck leben „diese Paare“ die gleichen Werte. In ihrem Wahlkreis kenne sie ein lesbisches Paar, das acht Pflegekinder habe. Sie sei leider noch nicht dort gewesen; aber wenn der Staat entscheide, dass Kinder in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung aufwachsen, „muss ich das positiv zur Kenntnis nehmen“. „Eher in Richtung einer Gewissensentscheidung“ Und dann spuckt sie es endlich aus: Sie wünsche sich bei dem Thema eine Diskussion, sagt Angela Merkel, die „eher in Richtung einer Gewissensentscheidung geht“. Im Klartext: die ParlamentarierInnen sollen ohne Fraktionszwang über die Ehe für alle entscheiden. Derlei gab es bislang nur bei ethischen Entscheidungen, in Fragen, die gesellschaftlich breit und leidenschaftlich diskutiert werden. Etwa bei der Präimplantationsdiagnostik, beim Thema Sterbehilfe oder bei der Bonn-Berlin-Entscheidung 1991. Diese Debatten, frei von Fraktionsräson, gelten als Sternstunden des Parlamentarismus. Auch der Tag, an dem die Ehe für alle vom Bundestag beschlossen würde – ein solches Gesetz hätte sicher eine Mehrheit –, könnte solch ein magischer Moment werden. Kaum sind die ersten Tweets aus dem Berliner Gorki-Theater abgesetzt („Merkel wünscht sich Gewissensentscheidung zur #Ehefueralle“), tönt es von der Gegengeraden zurück. Schon habe Merkel wieder mal im Vorbeigehen eine Forderung ihrer politischen Herausforderer abgeräumt, wird gemeckert. Aber die Freude überwiegt bei weitem. Und der Aktionismus. „Auf geht’s!“ twittert der gleichstellungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion Sönke Rix. „Merkel will erst in nächster Wahlperiode frei über die Ehe für alle entscheiden? Warum? Wir können diese Woche abstimmen.“ Der aus dem Bundestag ausscheidende Grünen-Politiker Volker Beck appelliert: „Liebe Frau Merkel, geben Sie die Abstimmung frei und lassen Sie uns noch diese Woche abstimmen. Lassen Sie die Bevölkerung nicht länger warten und ersparen Sie uns allen einen erneuten Wahlkampf zu dem Thema.“ Auch der CDU-Abgeordnete Stefan Kaufmann ist für eine rasche Gewissensentscheidung. Er twittert: „Danke, Frau Merkel! Wie befreiend! Von mir aus könnten wir gerne noch diese Woche abstimmen!“ Auch die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, meint: „Lesben und Schwule sollten jetzt nicht wieder monatelang warten müssen“. 83 Prozent der Deutschen seien nach einer repräsentativen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle eh für die Ehe für alle. Der Druck auf Merkels Union, schnell abstimmen zu lassen, wächst also dramatisch. Es ist aber nicht zu erwarten, dass die Regierungspartei dem Koalitionspartner und der Opposition diesen Gefallen tun wird. Die Aussicht, die Ehe für alle in Aussicht stellen zu können, soll und wird der Union viele Stimmen im Wahlkampf bringen. Und der beginnt für CDU und CSU erst am Montag, wenn der Sitzungsbetrieb zu Ende ist. Dann werden Horst Seehofer und Angela Merkel ihr „Regierungsprogramm“ vorstellen. Im Berliner Maxim-Gorki-Theater stehen nach dem Ende der Merkel-Veranstaltung die Leute beisammen. Haben sie richtig gehört, Merkel ist jetzt auch für die Homoehe? Ja, haben sie. An diesem Sommerabend gehen all die anderen besprochenen Themen irgendwie unter. Dabei gab es so interessante. Zum Beispiel, warum Donald Trump Merkel nicht die Hand geben wollte. Oder dass sie Martin Schulz seinen „Angriff auf die Demokratie“-Vorwurf nicht nachträgt („Schwamm drüber“). Und dass sie auf „friedliche Proteste“ beim G20-Gipfel in Hamburg hofft. Die deutsche Öffentlichkeit, sie kommt eben erst in Wallung, wenn es um das Privateste geht.
Anja Maier
Die Kanzlerin kann sich nun doch eine Abstimmung über die Ehe für alle vorstellen – als „Gewissensentscheidung“. Das gab es bisher nur bei ethischen Fragen.
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Vertuschung statt Aufklärung im Iran - taz.de
Vertuschung statt Aufklärung im Iran Vier Jahre nach den Morden an zwei Politikern und zwei Schriftstellern im Iran sind die Täter immer noch nicht dingfest gemacht. Außer dem Anwalt der Hinterbliebenen der Opfer gerät jetzt auch dessen Rechtsbeistand in die Schusslinie BERLIN taz ■ Seit vier Jahren versucht die in Frankfurt lebende iranische Künstlerin Parastou Forouhar den Mord an ihren Eltern aufzuklären. Die beiden oppositionellen Politiker Parvaneh und Dariush Forouhar wurden am 21. November 1998 in Teheran ermordet. „Laut Gerichtmedizin hatte meine Mutter Würgemale am Hals und im Mundbereich sowie vierundzwanzig Messerstiche in der Brust“, sagt die Tochter. „Mein Vater wurde mit elf Messerstichen ermordet.“ Weder diese beiden Morde, noch die, die zwei Wochen danach an den Schriftstellern Mohammad Mochtari und Mohammad Djafar Pujandeh verübt wurden, sind aufgeklärt. Die Attentate, auch als „Kettenmorde“ bezeichnet, wirkten auf die Bevölkerung, die der Sieg der Reformbewegung bei den Präsidentenwahlen auf bessere Zeiten hoffen ließ, schockierend. Präsident Chatami versprach, er werde alles tun, um Täter und Auftraggeber zu finden. Zwei Monate später gab das iranische Informationsministerium offiziell zu, Angestellte des Geheimdienstes seien in die Mordserie verwickelt gewesen. Doch statt der Staatsanwaltschaft übernahm das Militärgericht die Ermittlungen. Damit nahm ein Prozess von Vertuschungen seinen Lauf. Im Juni 1999 nannte der Chef der Militärstaatsanwaltschaft die Namen von vier Haupttätern, teilte jedoch mit, dass der wichtigste, Said Emami, Stellvertreter des Informationsministers, sich im Gefängnis das Leben genommen habe! Die Ermittlungen wurden im September 2000 abgeschlossen, die Akten dem Militärgericht übergeben. Danach wurden in einem Geheimprozess zwei Personen als Drahtzieher zu lebenslanger Haft, drei, die die Morde ausgeführt hatten, zum Tode verurteilt. Weitere Beteiligte erhielten Haftstrafen. Einige Monate später wurde der Prozess vom Revisionsgericht als mangelhaft bezeichnet. Die nächste Instanz wandelte die Todesstrafen in zehn Jahre Haft um. Die anderen Angeklagten erhielten drei bis vier Jahre und wurden freigelassen. Die Milde der Urteile begründete das Gericht damit, dass die Hinterbliebenen der Opfer auf die Todesstrafe verzichtet hätten. Dazu sagte Parastou Forouhar: „Wir wollten keine Rache üben, sondern die Verbrechen gegen politisch Andersdenkende aufdecken. Zudem fühlen wir uns den politischen Zielen der Ermordeten verbunden und lehnen daher die Todesstrafe ab.“ Der Anwalt der Hinterbliebenen, Nasser Zarafshan, ließ den Fall nicht auf sich beruhen. Die Morde seien nicht aufgeklärt, die Justiz habe es unterlassen, die Auftraggeber zu ermitteln. Nicht einmal der damalige Informationsminister sei zur Verantwortung gezogen worden. Diese Kritik führte dazu, dass dem Anwalt selbst der Prozess gemacht wurde. Er wurde beschuldigt, Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Am 16. August 2002 wurde er festgenommen. Angeblich sollen bei der Durchsuchung seines Büros Waffen und Alkohol gefunden worden sein. Zarafshan wurde von einem Militärgericht zu fünf Jahren Gefängnis und 70 Peitschenschlägen verurteilt. Gegen das Urteil und die Haft habe er sofort Widerspruch eingelegt, sagte Zarafshans Anwalt Djedari Forughi vergangene Woche in Berlin. Das Militärgericht sei weder für die Kettenmorde noch für den Anwalt der Hinterbliebenen zuständig. Er selbst stehe stark unter Druck. Neulich sei er fast durch einen inszenierten Unfall umgebracht worden. Man habe ihm signalisiert, dass er jederzeit verhaftet werden könnte. Diese Einschüchterungen hätten dazu geführt, dass von den rund zehntausend Anwälten höchstens fünfzehn bereit seien, politische Fälle zu übernehmen. Zarafshan sei der sechste Anwalt, der verurteilt worden sei. „Sollte ich verhaftet werden, wird wohl niemand mehr wagen, meine Verteidigung zu übernehmen“, sagte Djedari Forughi. BAHMAN NIRUMAND
BAHMAN NIRUMAND
Vier Jahre nach den Morden an zwei Politikern und zwei Schriftstellern im Iran sind die Täter immer noch nicht dingfest gemacht. Außer dem Anwalt der Hinterbliebenen der Opfer gerät jetzt auch dessen Rechtsbeistand in die Schusslinie
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Im Viertel wird gefeiert - taz.de
Im Viertel wird gefeiert „La Stradas“ Kultur und Kleinkunst rahmen das diesjährige Viertelfest. Das ist vor allem: verkaufsoffen Bremen taz ■ Im Rahmen des „KultUrknall“-Wochenendes tobt ab heute und morgen, am Sonntag, auch das Viertelfest am Ostertorsteinweg: Mit Musik, Theater, Kunst und Gastronomie. Vom verkaufsoffenen Sonntag versprechen sich die baustellengeplagten Geschäfte am O-Weg etwas Aufwind. Kritiker beklagten in den letzten Jahren den Verfall des Viertelfests zu einem reinen Sauf- und Fressfest. Bierstände hatten die Überhand genommen, und so waren viele Besucher stumpf besoffen. Durch die Zusammenlegung mit La Strada soll nun zum zweiten Mal mehr Kultur in das Geschehen gebracht werden. Gestern gesellte sich das Viertelfest also zu den Straßenkünstlern, die schon seit Donnerstag die Bremer anlocken. mw
mw
„La Stradas“ Kultur und Kleinkunst rahmen das diesjährige Viertelfest. Das ist vor allem: verkaufsoffen
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Das Problem mit den E-Rollern: Chaos mit Ansage - taz.de
Das Problem mit den E-Rollern: Chaos mit Ansage E-Roller sind nicht mehr zu übersehen – und machen die Großstädte unsicher. Nicht nur das. Wir zeigen die größten Schwachstellen. Weder öko noch safe: echt enttäuschend, diese E-Roller Foto: dpa 1. Die Unfallgefahr ist groß Bundesweite Zahlen zu Unfällen mit E-Rollern gibt es zwar noch nicht. Aber erste Meldungen aus einzelnen Städten sind alarmierend. Allein in Berlin hat die Polizei in den ersten vier Wochen nach der Zulassung am 15. Juni 21 Unfälle mit 4 Schwer- und 15 Leichtverletzten registriert. In 18 Fällen war der oder die Scooter-NutzerIn verantwortlich. „Hauptunfallursache ist überwiegend die Unachtsamkeit bei der Benutzung von E-Scootern“, teilt die Berliner Polizei mit. In Köln hat die Polizei eine Dringlichkeitssitzung mit Anbietern von Leih-E-Scootern anberaumt, nachdem sie bis Ende Juli 21 Unfälle mit 7 Schwerverletzten aufgenommen hat. Behindertenverbände und der Sozialverband VdK warnen vor der Gefahr, die von den Flitzern vor allem für Menschen mit einem Handicap ausgeht. „Seit Zulassung der E-Roller fühlen sie sich unsicherer, wenn sie in der Stadt unterwegs sind“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. Viele hätten mit ihrem Rollator oder ihrem Rollstuhl auf dem Bürgersteig Slalom fahren müssen. Auch die E-Roller-FahrerInnen leben gefährlich. Forderungen nach einer Helmpflicht sehen die Anbieter skeptisch, weil E-Scooter dann nicht mehr flexibel für jedeN nutzbar wären, etwa für TouristInnen. Dass die sich in der Stadt oft nicht auskennen, trage nicht gerade zur Verkehrssicherheit bei. 2. Zu viele Roller stehen im Weg In vielen Städten blockieren abgestellte E-Roller Gehwege und Ausfahrten. Weil die Gefährte nicht besonders stabil stehen, fallen sie schnell um. Seit die Elektrokleinstfahrzeugeverordnung am 15. Juni in Kraft getreten ist, haben etliche mietbare Anbieter E-Roller auf den Markt geworfen. „Der Rechtsrahmen erlaubt, E-Roller in Städten anzubieten, es ist keine Genehmigung erforderlich“, sagt eine Sprecherin von VOI, nach eigenen Angaben europäischer Marktführer bei E-Rollern mit Präsenz in 32 Städten, davon 8 in Deutschland. Weil die Anbieter an guten Beziehungen zu den Städten interessiert sind, verpflichten sie sich aber, bestimmte Vorgaben zu befolgen: etwa Obergrenzen dafür, wie viele E-Scooter in einem bestimmten Gebiet aufgestellt werden. Oder dass das Abstellen auf Grünflächen nicht erlaubt ist. „Insgesamt haben die Städte aber wenig Einfluss darauf, wo E-Roller abgestellt werden“, sagt eine Sprecherin des Deutschen Städtetags. 3. Es gibt zu wenig verbindliche Regeln Weil Kommunen bislang wenig Handlungsspielraum bei E-Rollern haben, fordert der Deutsche Städtetag „klare Spielregeln“. „Die Anbieter müssen ihre Kundschaft besser über die regelkonforme Nutzung aufklären“, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. „Und sie müssen sicherstellen, dass die Fahrzeuge nicht überall herumstehen und dabei zum Teil andere beeinträchtigen oder behindern.“ Die Anbieter müssten etwa über ein Beschwerdemanagement sicherstellen, dass im Weg stehende Roller schnell entfernt werden. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat die Kommunen bereits im Juli zu einem härteren Durchgreifen bei Regelverstößen aufgefordert. In einem Brief an den Präsidenten des Deutschen Städtetags, den Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), hatte er die Städte und Kommunen aufgefordert, die Sanktions- und Steuerungsmöglichkeiten der Verordnung für mehr Sicherheit und den Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer „in vollem Rahmen“ auszuschöpfen. Beide Seiten sind im Gespräch, um abzustecken, an welchen Punkten nachgebessert werden muss. 4. Die Strafen bei Verstößen sind zu gering E-Roller dürfen nicht auf Bürgersteigen fahren. Tun die NutzerInnen es trotzdem, müssen sie nur eine vergleichsweise geringe Strafe zahlen – rund 30 Euro. Das ist viel zu wenig, sagen Behindertenverbände. In anderen Ländern sind die Strafen weitaus höher. In Frankreich zum Beispiel müssen FahrerInnen, die von der Polizei mit dem E-Scooter auf dem Bürgersteig erwischt werden, 135 Euro Strafe zahlen. Dort kostet auch das störende Parken – 35 Euro werden fällig, wenn das Gefährt unbedacht in den Weg gestellt wird. 5. Die Radwege sind zu voll E-Scooter müssen auf einem Radweg fahren, wenn einer vorhanden ist. „Die Radwege sind ohnehin zu klein und zu kaputt. Jetzt sind sie noch voller geworden“, sagt Johanna Weidauer vom Fahrradverband ADFC. Das ist sowohl für die Rad- als auch für die E-Roller-FahrerInnen störend und mitunter gefährlich. Nach Beobachtung des Fahrradverbands weichen E-Scooter-NutzerInnen immer wieder auf Gehwege aus. Doch da sollen sie auf keinen Fall hin, sagt sie. „Wir brauchen größere und bessere Radwege“, sagt Weidauer. „Dazu sind große Investitionen in die Radinfrastruktur nötig.“ 6. Viele NutzerInnen sind leichtsinnig Das Nutzen von E-Rollern ist gesetzlich ab 14 Jahren erlaubt. Viel zu früh, sagen Behindertenverbände. Manche Anbieter, etwa VOI, sehen zwar ein Mindestalter von 18 Jahren vor. Kontrolliert wird das aber nicht. „Wir können das nicht regulieren“, sagt eine Sprecherin. Bezahlt wird über eine App, KundInnen und Anbieter kommen nicht in Kontakt. Nach Polizeiberichten fahren oft Kinder auf den Geräten. Auch werden die E-Roller mitunter von zwei Personen gleichzeitig benutzt – ein erhebliches Risiko. Immer wieder ziehen PolizistInnen auch stark alkoholisierte FahrerInnen aus dem Verkehr. Behindertenverbände fordern eine Null-Promille-Grenze. Wer einen E-Scooter mietet, braucht keinen Führerschein und nicht mal Vorkenntnisse. Dabei sind die Gefährte nicht leicht zu beherrschen, das Gleichgewicht zu halten ist nicht leicht. Deshalb fordern Verbände obligatorische Sicherheitstrainings vor dem ersten Start. 7. Anbieter beuten EinsammlerInnen aus Die Akkus der Roller benötigen regelmäßig neuen Strom. Bei der Firma Lime übernehmen sogenannte Juicer das Aufladen. Die Juicer bringen im Sinne des Wortspiels den Saft zurück in die Limetten. Die Anbieter Voi und Tier sind ähnlich kreativ: sie beschäftigen Hunter und Ranger, um ihre Roller aufzuladen. Die Juicer, Hunter und Ranger arbeiten in der Regel selbstständig. So wie Simon Baumann, der für Lime arbeitet und seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Auf einer App werden ihm alle E-Roller mit weniger als 15 Prozent Ladung angezeigt. Dann sammelt er die Scooter ein – mit seinem Privatauto. Ein Dienstfahrzeug wird nicht gestellt, es gibt auch keine zentrale Ladestelle. Stattdessen lädt er die E-Roller bei sich zu Hause auf. Flexibilität heißt das in Unternehmenssprache. Die Roller werden also in die eigene Wohnung getragen, sie wiegen etwa 22,5 Kilogramm. „Ein Knochenjob“, sagt Baumann. „Zwischen 5 und 7 Uhr morgens muss man die Roller wieder ausliefern“, fährt er fort. Dafür gibt es von Lime vier Euro pro Roller. Verpasst der Juicer seine zeitlichen Vorgaben, wird die Hälfte des Lohns abgezogen. 8. E-Scooter helfen weder Klima noch Mobilität Leih-E-Roller stehen oft an Orten, die von sehr vielen Menschen frequentiert werden. Die Firmen wollen die Zweiräder so schnell und so oft verleihen wie möglich. Deshalb dürfen sie NutzerInnen nur an zentralen Stellen wieder abstellen – und nicht in den Außenbezirken. Damit sind sie kein Ersatz fürs Auto und lösen auch nicht das Versprechen von mehr Mobilität ein.
Anja Krüger
E-Roller sind nicht mehr zu übersehen – und machen die Großstädte unsicher. Nicht nur das. Wir zeigen die größten Schwachstellen.
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Kai Wegner und Franziska Giffey: Ist er wirklich der Chef? - taz.de
Kai Wegner und Franziska Giffey: Ist er wirklich der Chef? Nach der SPD-Spitze will auch die CDU grünes Licht für Schwarz-Rot in Berlin geben. Sie hat der SPD erstaunlich viel Zugeständnisse gemacht. Die Regierende Senatorin von Berlin? Foto: Sean Gallup/Getty Images BERLIN taz | Schwarz-Rot scheint fest verabredet, Kai Wegner auf dem Weg ins Rote Rathaus, als erster Berliner CDU-Regierungschef seit 2001. Doch worauf würde diese Koalition bauen, die beide Parteien in diesem Frühling mutmaßlich festzurren werden? „Mutmaßlich“, denn es wären nicht die ersten Koalitionsgespräche in Berlin, die scheitern: 2001 platzte eine angestrebte Ampel, 2011 zerlegten sich SPD und Grüne schon beim ersten Treffen, wodurch unverhofft die CDU nachrücken konnte. Die SPD-Verhandler haben in einem Bericht an ihre Parteigremien festgehalten, warum sie auf die Christdemokraten als Partner setzen. Die taz hat sich angeschaut, wer da jeweils Zugeständnisse machen musste. Die Sondierungen hätten zu der Überzeugung geführt, „dass die wesentlichen Positionen der SPD sich bei der Kompromissfindung wider spiegeln“, heißt es in dem Papier der Sozialdemokraten über die Gespräche mit der CDU. Man habe „in allen Bereichen große Schnittmengen“ festgestellt. Die finden sich in neun klassisch von Wohnungsbau bis Arbeit und Soziales überschriebenen Punkten. Im Wohnungsbau setzen CDU und SPD auf landeseigene Gesellschaften wie auch private Akteure – im rot-grün-roten Bündnis hatte Regierungschefin Giffey sich schon dafür rechtfertigen müssen, mit privaten Investoren überhaupt zu reden. Die Mietpreisbremse soll verschärft werden. Was nach einem Problem für die CDU klingen könnte, sollte spätestens nach Kai Wegners Umschwenken zu mehr Mieterschutz im Herbst 2022 keins mehr sein. Was ist mit dem Volksentscheid? Eher unklar bleibt, wie Schwarz-Rot mit dem Resultat des Enteignungs-Volksentscheids weitermacht, für den 2021 fast 60 Prozent der Abstimmenden votiert haben. Zwar betonte Giffey nach der Sitzung des SPD-Landesvorstands: „Es ist auch mit der CDU ganz klar: Wir müssen mit dem Entscheid umgehen.“ Allerdings lehnte sie pauschale Schritte ab. Das ist als Absage an die im Entscheid vorgegeben Grenze von 3.000 Wohnungen zu werten, ab denen laut Volksentscheid enteignet werden sollte. Stattdessen ist eine derartige Sanktion dem Vernehmen nach nur für entweder unsozials oder nicht nachhaltig handelnde Vermieter zu erwarten, egal, wie viele Wohnungen sie besitzen. Dazu sind genaue Kriterien im Gespräch. Die Basis dafür soll ein „Vergesellschaftungsrahmengesetz“ sein, falls die derzeit Enteignung prüfende Expertenkommission dafür grünes Licht gibt. Im Bereich Bildung hat die SPD Gedankenspiele der CDU von vor der Wahl ersticken können, Besserverdienende wie in früheren Jahrzehnten wieder Kita-Gebühren zahlen zu lassen: „Die Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule bleibt erhalten“, heißt es in dem resümierenden Papier. Auch unter der Überschrift „Stadt der Vielfalt“ hat sich die SPD merklich durchgesetzt: Das von der CDU vor der Wahl viel kritisierte Landesantidiskriminisierungsgesetz soll erhalten und ausdrücklich „weiter umgesetzt werden“. Gleiches gilt für das Wahlrecht schon mit 16 Jahren: Auch hier hatte die CDU zuvor abgelehnt, nun soll die Verfassung geändert werden. Dazu ist zwar eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig. Doch Grüne und Linkspartei, künftig oppositionell, haben sich 2022 bereits eindeutig zu einem abgesenkten Wahlalter bekannt. Mindestlohn soll höher werden Auch unter schwarz-roter Regierung soll es mit dem Rückkauf von Unternehmen der Daseinsvorsorge weiter gehen. Erwähnt werden das Fernwärmenetz und Anteile der Gasag, was bereits Rot-Grün-Rot so verabredet hatten. SPD-Handschrift findet sich auch im Abschnitt Arbeit und Soziales: Landes- und Vergabemindestlohn sollen nicht nur erhalten, sondern auch erhöht werden. Beim Thema Verwaltungsreform musste keine der beiden Parteien zurück stecken: Beide hatten sich zuvor schon klar darauf festgelegt, neu zu ordnen, wann der Senat mit seinen Verwaltungen und wann die Bezirke zuständig sein sollen. Bis 2026 soll die Reform abgeschlossen sein. Bei der inneren Sicherheit kommen mit CDU und SPD zwei Partner zusammen, die eindeutig hinter der Polizei stehen. Grüne und Linkspartei hingegen hatten teilweise den Eindruck erweckt, in der Polizei den Gegner und keinen „Freund und Helfer“ zu sehen. „Wir stehen mit beiden Parteien in Kontakt und steuern unsere Expertise zum Koalitionsvertrag gern bei“, sagte Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) am Donnerstag der taz. An oberster Stelle stehen für die GdP ein neues Rettungsdienstgesetz und bessere Arbeitsbedingungen von Polizei und Feuerwehr. Neben einer besseren Ausstattung und flexibleren Arbeitszeiten sei eine Angleichung der Besoldung auf Bundesniveau erforderlich. Die GdP erwartet zudem die Einführung von stationärer Videoüberwachung in stark frequentierten öffentlichen Räumen sowie den flächendeckenden Einsatz von Kameras an der Uniform, so genannte Bodycams. Die müssten auch in Wohnungen eingesetzt werden dürfen. Offenbar wird der 2015 unter Rot-Schwarz auf vier Tage ausgeweitete, 2021 von Rot-Rot-Grün wieder auf zwei Tage reduzierte Unterbindungsgewahrsam wieder verlängert. Das soll nicht bayerische Verhältnisse – bis zwei Monate – erreichen, aber laut Jendro „vielleicht eine Woche“. Am wenigsten konkret wirken die Sondierungsergebnisse beim Thema Verkehr. Auffälligste Aussage darin ist: „Stärker als bisher“ werde der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern gesucht. Wer will, kann das als Klatsche an die bislang im Senat für dieses Thema verantwortlichen Grünen verstehen, die den Autoverkehr zurückdrängen und die Zahl der Parkplätze halbieren wollten. Über das 29-Euro-Ticket, das bisher nur bis Ende April finanziert ist – danach startet das bundesweite 49-Euro-Ticket – heißt es, es gebe ein klares Bekenntnis dafür, es fortzuführen. U- und S-Bahn-Ausbau betrachtet Schwarz-Rot anders als Rot-Grün-Rot auf gleicher Höhe wie den Ausbau des Tram-Verkehrs.
Stefan Alberti
Nach der SPD-Spitze will auch die CDU grünes Licht für Schwarz-Rot in Berlin geben. Sie hat der SPD erstaunlich viel Zugeständnisse gemacht.
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Absturz der MH17 in der Ukraine: „Russland hat bewusst betrogen“ - taz.de
Absturz der MH17 in der Ukraine: „Russland hat bewusst betrogen“ Das britische Internetportal Bellingcat behauptet nachweisen zu können, dass Fotos vom Flugzeugunglück 2014 gefälscht wurden. Ermittler an der Absturzstelle der MH17. Foto: reuters KIEW taz | Mehrere Fotos des russischen Verteidigungsministeriums, die eine angebliche Täterschaft ukrainischer Streitkräfte beim Abschuss des malaysischen Flugzeugs MH17 am 17. Juli 2014 in der Ostukraine beweisen sollten, hat das britische Internetportal Bellingcat untersucht und kommt zum Schluss: Mindestens drei dieser Fotos sind stark manipuliert. Mit der Methode „Error Level Analysis“ (ELA) ist es den Journalisten des Portals nach eigenen Angaben gelungen nachzuweisen, dass die Fotos bereits einen Monat vor dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs aufgenommen worden sind. Diese Erkenntnis bestätigen auch vergleichende Untersuchungen von Google-Satellitenbildern. So sei auf einem Foto eine Wolke nachträglich in das Bild hineinmontiert worden, um einen Wald zu verbergen, der zum Zeitpunkt des Abschusses bereits abgeholzt war. Auch ein Ölfleck vor einem parkenden Auto entspreche nicht der Größe dieses Ölflecks, wie er auf den Bildern des russischen Verteidigungsministeriums zu sehen sei, so Bellingcat. Bei einem weiteren untersuchten Foto, das das russische Verteidigungsministerium 2014 der Presse vorgelegt habe, habe man ebenfalls eine nachträgliche digitale Bearbeitung nachweisen können. „Wir stellen fest, dass die von uns untersuchten drei Fotos mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mit Adobe Photoshop CS5 digital verändert worden sind“, heißt es in einer Veröffentlichung von Bellingcat. Alle drei Fotos stammten aus der Zeit vor dem 17. Juli 2014. Die russische Regierung, so folgert Bellingcat, habe die Weltöffentlichkeit und die Angehörigen der Opfer des Fluges MH17 bewusst betrogen. Bisher habe sich weder die russische Regierung noch eine ukrainische Regierungsstelle zu den Veröffentlichungen von Bellingcat geäußert. „Ich bin kein Experte und kann die Untersuchung von Bellingcat nicht abschließend beurteilen“ sagte der ukrainische Politologe Vladimir Fesenko der taz. „Ich gehe aber davon aus, dass die Ergebnisse von Bellingcat mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entsprechen. Russland will keine Verantwortung für sein Handeln im Juli 2014 übernehmen.“ Rechercheplattform BellingcatBellingcat ist eine Enthüllungsplattform, die 2014 nach einer Crowdfunding-Kampagne vom britischen Blogger Eliot Higgins gegründet wurde. Sie bringt Journalisten zusammen, die investigativ arbeiten. Das Recherche-Netzwerk wertet vor allem frei zugängliche Quellen wie Satellitenbilder und Informationen aus sozialen Medien wie Videos und Fotos aus. Higgins machte sich mit seinem 2012 gestarteten Brown Moses Blog einen Namen als Waffenexperte im Syrienkonflikt. (dpa) Das Internetportal Bellingcat wurde im Juli 2014 von dem britischen Journalisten Eliot Higgins ins Leben gerufen. Finanziert wird das Projekt über Spenden und Crowdfunding. In den Jahren davor hatte sich Higgins mit Veröffentlichungen zum Syrienkrieg einen Namen gemacht. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International beriefen sich in ihren Veröffentlichungen zu Syrien wiederholt auf den Briten.
Bernhard Clasen
Das britische Internetportal Bellingcat behauptet nachweisen zu können, dass Fotos vom Flugzeugunglück 2014 gefälscht wurden.
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konflikte georgiens - taz.de
konflikte georgiens Zwei Kriege in den 90ern Die Georgier sind mehrheitlich christlich-orthodox. In der Antike hieß ihr Gebiet im Südkaukasus wegen der vielen Ethnien „Berg der Sprachen“. Die Abchasen am Schwarzen Meer sprechen eine eigene Sprache und sind Muslime. Als die Regierung in Tbilissi (Tiflis) nach dem Zerfall der Sowjetunion Georgisch zur einzigen Unterrichssprache erklärte, proklamierten die Abchasen 1991 ihre Unabhängigkeit. Den folgenden zweijährigen Bürgerkrieg verlor die Zentralregierung. Der seit 1990 andauernde Konflikt mit den Nordosseten, einem iranischen Volk, wurde nach der Wahl des heutigen georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse 1992 durch einen Waffenstillstand eingeforen.  BK
BK
Zwei Kriege in den 90ern
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Nicht jede Hilfe hilft - taz.de
Nicht jede Hilfe hilft „Gemeinsam für Menschen in Not“ warnt vor sozial ungerechtem Wiederaufbau nach dem Tsunami BERLIN taz ■ Beim Wiederaufbau der vom Tsunami zerstörten Gebiete sollten ungerechte Strukturen in den Katastrophenländern nicht wieder aufgebaut werden. Dies forderte das Bündnis „Gemeinsam für Menschen in Not“ gestern in Berlin. Die fünf darin zusammengeschlossenen Hilfsorganisationen – Brot für die Welt, medico international, misereor, terre des hommes und die Deutsche Welthungerhilfe – zogen nach 100 Tagen eine Bilanz der Hilfe. „Uns ist wichtig, dass beim Wiederaufbau die herrschenden Machtstrukturen in den Ländern nicht verstärkt werden, sondern vor allem den Ärmsten geholfen wird“, sagte Cornelia Füllkrug-Weitzel vom protestantischen Hilfswerk Brot für die Welt. Sie kritisierte, dass in Indien Kastenlose von den Behörden ignoriert und gegenüber Hilfsorganisationen nicht erwähnt würden. Oft werde den Ärmsten nicht geholfen, weil sie als wirtschaftlich uninteressant gelten. „Es darf nicht über die Betroffenen hinweg entschieden werden“, forderte Martin Bröckelmann-Simon vom katholischen Hilfswerk misereor. Er verwies auf die Notwendigkeit, neben den betroffenen Küsten auch dem jeweiligen Hinterland zu helfen, um soziale Spannungen nicht zu verschärfen. Harsha Navaratne von der sri-lankischen Sewalanka Foundation kritisierte, dass in seinem Land der Wiederaufbau auf Kosten der Betroffenen erfolge. So würden an strandnahen Orten jetzt Hotels gebaut, wo zuvor Fischer gelebt hätten. Er forderte, jetzt nicht zu sehr auf den Tourismus zu setzen. Nach der direkten Nothilfe folgt nun die Phase des Wiederaufbaus. Die Deutschen spendeten nach dem Tsunami etwa eine halbe Millarde Euro. Die gleiche Summe versprach die Bundesregierung an Wiederaufbauhilfe. Hans-Joachim Preuß von der Deutschen Welthungerhilfe fürchtet, dass dieses Geld nicht die Betroffenen erreicht, sondern in den Staatsapparaten versickern könnte. Er appellierte deshalb an die Bundesregierung, das noch nicht verteilte Geld nichtstaatlichen Organisationen zukommen zu lassen. Misereor-Geschäftsführer Bröckelmann-Simon kritisierte, dass manche Hilfsorganisationen mit unabgesprochenen Maßnahmen lokale Märkte zerstörten und Preise hochtrieben. Namen wollte er aber auf Nachfrage nicht nennen. Die Konkurrenz der Organisationen zeigte sich gestern auch darin, dass das Bündnis „Deutschland hilft“ genau zeitgleich eine Pressekonferenz abhielt. „Deutschland hilft“ erhielt Spenden von 125 Millionen Euro, „Gemeinsam für Menschen in Not“ 45 Millionen. HEIDE GENTNER
HEIDE GENTNER
„Gemeinsam für Menschen in Not“ warnt vor sozial ungerechtem Wiederaufbau nach dem Tsunami
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Nach dem Kampf der Ideologien - taz.de
Nach dem Kampf der Ideologien Vertreibungen, Diktaturen und neoliberaler Kapitalismus: Das 20. Jahrhundert ist eine Epoche der Extreme in Europa. Mark Mazower porträtiert den „dunklen Kontinent“ nun in einer höchst differenzierten und lesenswerten Studie von IRING FETSCHER Das 20. Jahrhundert hat zuletzt einige große Historiker zu bilanzierenden Werken herausgefordert – allen voran Eric J. Hobsbawn („Das Zeitalter der Extreme“) und François Furet („Das Ende der Illusion“). Mark Mazower fügt diesen Studien ein interessantes und höchst differenziertes neues Jahrhundertporträt hinzu. Britische Gelassenheit des in London lehrenden Forschers verbindet sich darin mit der Optik des aus Polen Stammenden, der die kleineren Staaten und ihre Entwicklung im 20. Jahrhundert nicht – wie manche andere – übersieht. Bewusst verzichtet der Autor auf ein geschichtsphilosophisches Schema, vor dem die Realgeschichte sich negativ oder positiv abhebt. Dass am späten Ende der Sieg von Kapitalismus und – vorerst auch – liberaler Demokratie stand, so Mazowers Ansatz, war keineswegs vorhersehbar. Im Gegenteil, oft hätte es ganz anders und schlimmer kommen können. Dem Verlauf des „kurzen Jahrhunderts“ (Eric J. Hobsbawn) – zwischen 1918 und 1990 – widmet der Autor zwar mehr als 600 Seiten, aber selbst bei diesem Umfang kann die Geschichte nur in Großbuchstaben beschrieben werden. Wie ein geübter Jongleur spielt Mazower dabei mit mindestens vier Bällen: Es geht einmal um liberale, parlamentarische Demokratie und den pseudodemokratischen „Führerstaat“, zum anderen um Liberalismus und sozialistische Staatsintervention, um nationale Homogenität und multiethnische Gesellschaften und schließlich um Rassismus und Toleranz gegenüber „Andersartigen“, die eugenisch ausgegrenzt werden. Dieses Spiel trägt viele einander widersprechende Züge, die sich alle beschleunigt seit 1918 zu entfalten beginnen. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Europa nur drei demokratische Republiken, danach mehr als ein Dutzend. Der US-Präsident Woodrow Wilson glaubte damals an ein Jahrhundert der liberalen Demokratie und des Kapitalismus, des friedliebenden Nationalstaates und des freien Welthandels. Doch schon wenige Jahre später lagen die meisten demokratischen Verfassungsstaaten am Boden, kam es zu nationalistischen Kämpfen, kehrten viele Regierungen dem freien Welthandel den Rücken. Konservative Traditionalisten kehrten zu vordemokratischen Ordnungen zurück und stützten sich auf Kirche und Monarchie, alten Adel und Großbürgertum. Daneben und dagegen entstanden massenmobilisierende totalitäre Regime – in Russland und Deutschland. Während Lenin die gesamte Gesellschaft umzuwälzen suchte und das Land beschleunigt industrialisierte, ließ Hitlers Deutschland die Sozialstruktur weithin unangetastet, grenzte jedoch Juden, Zigeuner „und politisch Unzuverlässige“ gewaltsam aus. Die liberale Demokratie freilich hielt auch in anderen Staaten dem Ansturm der Weltwirtschaftskrise nicht stand. Der liberale Parlamentarismus war – so sorgfältig und vorbildlich Juristen auch Verfassungen entworfen hatten – außerstande, die sozialen Probleme und die daraus entstandenen Konflikte zu lösen. Durch den systematischen Massenmord an Juden, Zigeunern und „Volksschädlingen“ schied das nazistische Deutschland aus dem Kreis der übrigen europäischen Staaten aus. Dieser Prozess lief aber eine Zeitlang zu der Entwicklung in anderen Ländern parallel. Eugenik als eine Form der sozialen Hygiene wurde auch in den USA, in Schweden und anderswo propagiert. Nur: Nirgends wurden so viele Personen zwangssterilisiert, weil sie angeblich erbkrank waren (man schätzt 200.000), nirgends „unheilbar Kranke“ getötet außer im Deutschen Reich. Mazower druckt den Führerbefehl zur Ermordung von Kranken ab. Trotz seiner extremen Außenseiterrolle gehört aber auch Deutschland in eine gemeineuropäische Entwicklung. Der weit mildere italienische Faschismus erfuhr von Seiten konservativer Europäer wie Winston Churchill neugieriges Wohlwollen. Für kontinentale Völker – so meinte er – sei offenbar das parlamentarische Regierungssystem ungeeignet. Albert Speers Konzeption einer europäischen Wirtschaftsvereinigung (unter großdeutscher Führung) erscheint Mazower durchaus rational. Sie musste freilich am deutschen Rassismus scheitern. Das 20. Jahrhundert war in Europa vor allem auch eine Epoche der erzwungenen Wanderbewegungen. Im großen Stil wurden sie durch die Naziregierung eingeleitet und geplant: Südtiroler müssen um der Freundschaft Hitlers mit Mussolini willen ihre Heimat verlassen. Später sollten sie auf der Krim angesiedelt werden. Die nach dem deutsch-sowjetischen Vertrag aus den baltischen Staaten kommenden Deutschstämmigen wurden im eroberten Polen auf Güter verwiesen, die dem dortigen Adel entrissen worden waren. Weitere Umsiedlungen Deutscher an die Kornkammer der Ukraine scheitern schon an der fehlenden Siedlungsbereitschaft von deutschen Bauernsöhnen und bald auch an der militärischen Niederlage im Osten. Da die Existenz deutscher Minderheiten in der Tschechoslowakei und Polen ein Vorwand für die militärische Intervention des Deutschen Reiches gewesen war, forderten die Regierungen dieser Länder nach der deutschen Niederlage die „Aussiedlung“ dieser Volksgruppe, die dabei großteils unverschuldet die Last deutscher Verbrechen zu tragen hatte. Durch massenhafte Zuwanderung von Deutschen aus den Ostgebieten und aus der späteren DDR entstand in der Bundesrepublik zum ersten Mal ein national völlig homogener deutscher Staat. Die Paradoxie der Entwicklung bestand in der Folge jedoch darin, dass mehr und mehr Arbeiter aus Südeuropa ins Land geholt werden mussten, da die heimischen Arbeitskräfte für den industriellen Aufbau nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr ausreichten. 1964 wurde schon der einmillionste „Gastarbeiter“ feierlich begrüßt und mit einem Motorrad beschenkt. Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der in Deutschland lebenden und arbeitenden Ausländer auf rund sieben Millionen an. Auch wenn es immer wieder zu – oft auch gewaltsamen Konflikten – kam, mussten schließlich sogar konservative Politiker zugeben, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist und dass dieses Land – auf Grund seiner gesunkenen Kinderzahl – dringend eine gewisse Zuwanderung braucht. Ähnlich wie Eric Hobsbawn erscheint auch Mazower die Entwicklung bis etwa 1980 als außerordentlich erfolgreich. Wohlstandsmehrung ging mit zunehmender Akzeptanz der liberalen Demokratie in Deutschland und in anderen kontinentalen Gesellschaften einher. Dann freilich kam es zu krisenhaften Rückschlägen – zum Teil infolge der Erdölpreiserhöhungen –, und in England wie in den USA kam es zu einer Erneuerung des Wirtschaftsliberalismus. Margaret Thatcher präsentierte sich als erfolgreiche Meisterin einer neuen Finanz- und Wirtschaftspolitik. Mazower zeigt, dass ihre Erfolge mehr in ihrer ideologischen Propaganda als in Wirklichkeit bestanden. Auch habe sie übersehen, dass Staaten, wie Österreich und Schweden, ohne neoliberale Wirtschaftspolitik die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen konnten. Ihr „monetaristisches Glaubensbekenntnis“ erscheint dem Verfasser als ebenso einseitig doktrinär wie orthodoxer Marxismus. Im Übrigen gelang es Frau Thatcher weder die Staatsquote (sie fiel von 42,5 auf 41,2 Prozent) noch die Kosten der Sozialpolitik wesentlich zu verringern. Die christlich-sozialen Konservativen auf dem Kontinent seien im Übrigen dem Thatcherismus nicht gefolgt. 1990 hat – mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“, dem der Autor ausführliche Kommentare widmet, zwar nicht die Demokratie, wohl aber der Kapitalismus gesiegt, weil er sich als anpassungsfähiger erwies. Dass auch die liberale Demokratie in Europa und das friedliche Bündnis der europäischen Staaten sich behaupten werden, scheint ihm wahrscheinlich, jedoch nicht gewiss. Gerade der Konflikt auf dem Balkan habe gezeigt, dass den Europäern die politische Entschlusskraft fehlt, ohne amerikanische Initiative tätig zu werden. Immerhin jedoch sei aus lokalen Konflikten kein europäischer Krieg mehr wie 1914 entstehen. Für das Überleben der liberalen Demokratie allerdings sei vor allem eine wirksame nationalstaatliche Sozialpolitik notwendig, die bis jetzt schon dazu beigetragen hat, dass die Massenarbeitslosigkeit ohne schwerwiegende soziale Folgen geblieben ist. Auf eine gemeineuropäische sozialpolitische Initiative scheint Mazower nicht zu hoffen. Die Europäische Union soll in seinen Augen lediglich eine außenpolitische und innereuropäisch handlungsfähige politische Institution werden. Der „dunkle Kontinent“, so hofft Mazower, wird ins helle Licht des demokratischen und freiheitlichen Tages treten, wenn es gelingt, individuelle Freiheit, solidarischen demokratischen Zusammenhalt und friedliche Toleranz miteinander zu verbinden. Mazowers Rückblick auf die schwarzen Schatten der Vergangenheit kann hierzu hilfreich sein. Mark Mazower: „Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert“, Alexander Fest Verlag, 2000, 639 Seiten, 68 Mark
IRING FETSCHER
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Todesurteil wegen Blasphemie in Pakistan: Oberstes Gericht spricht Christin frei - taz.de
Todesurteil wegen Blasphemie in Pakistan: Oberstes Gericht spricht Christin frei Unter Protest religiöser Hardliner hebt das Oberste Gericht das Todesurteil gegen Asia Bibi auf. Sie war 2010 wegen Gotteslästerung für schuldig befunden worden. Polizisten vor dem Obersten Gericht in Islamabad Foto: ap ISLAMABAD ap | Das höchste Gericht Pakistans hat eine wegen Blasphemie zum Tode verurteilte Christin freigesprochen. Vor einem brechend vollen Gerichtssaal in Islamabad ordnete Oberrichter Mian Saqib Nisar am Mittwoch die Freilassung von Asia Bibi an. Sie war aus Sicherheitsgründen bisher an einem geheimen Ort festgehalten worden. Es wird erwartet, dass Bibi das Land verlässt. Kurz nach Aufhebung des Urteils kam es zu Protesten muslimischer Hardliner, Beobachter befürchteten Gewaltexzesse. Die Vorwürfe gegen Bibi nahmen 2009 ihren Anfang, als sie an einem heißen Tag Wasser für sich und andere Feldarbeiterinnen holte. Zwei muslimische Frauen lehnten es ab, aus einem Gefäß zu trinken, das zuvor eine Christin benutzt habe. Tage später warf ein Mob Bibi vor, den Propheten Mohammed beleidigt zu haben. 2010 wurde sie zum Tode verurteilt. Bibis Familie beteuerten ihre Unschuld. In früheren Anhörungen hatte ihr Anwalt Saiful Malook zudem auf Widersprüche in den Aussagen von Zeugen verwiesen. Die zwei muslimischen Klägerinnen bestritten, dass der angeblichen Lästerung ein Streit mit Bibi vorausgegangen sei. Kritiker des Blasphemiegesetzes warnen, dass es für eine Abrechnung bei persönlichen Streitereien oder für Attacken auf Minderheiten genutzt werden könne. Gerade mit Blick auf wiederholte extremistische Anschläge auf Christen in Pakistan in den vergangenen Jahren fand der Fall Bibi international Beachtung. Auch im Land selbst erregte er die Gemüter. 2011 wurde der damalige Gouverneur der Provinz Punjab, Salman Taseer, von einem seiner eigenen Wärter erschossen, weil er Bibi verteidigt und einen Missbrauch des Blasphemiegesetzes beklagt hatte. Der Attentäter Mumtaz Qadri wurde für den Mord gehängt und von Hardlinern als Märtyrer gefeiert. Millionen Menschen besuchen einen ihm zu Ehren nahe Islamabad errichteten Schrein. Schon vor dem Urteil im Fall Bibi rief der als Hardliner bekannte Geistliche Khadim Hussain Rizvi seine Anhänger zu Protesten auf, falls die Christin freigesprochen werden sollte. Kurze Zeit später blockierten Hunderte Islamisten eine wichtige Straße, die die Stadt Rawalpindi mit Islamabad verbindet. In Karachi, der größten Stadt Pakistans sowie in Peshawar im Nordwesten und anderen Orten des Landes gab es ebenfalls Proteste. Rund um Kirchen verschärften Behörden die Sicherheitsvorkehrungen.
taz. die tageszeitung
Unter Protest religiöser Hardliner hebt das Oberste Gericht das Todesurteil gegen Asia Bibi auf. Sie war 2010 wegen Gotteslästerung für schuldig befunden worden.
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Ausbeutung im Baugewerbe: Arbeiter besetzen Kran in Düsseldorf - taz.de
Ausbeutung im Baugewerbe: Arbeiter besetzen Kran in Düsseldorf Auf einer Großbaustelle sind Arbeiter aus Rumänien um ihren Lohn betrogen worden. Deshalb wollten sie sich von einem Kran in den Tod stürzen. Züblin steht drauf, es sind aber noch einige Subunternehmen mit dabei Foto: imago/Sven Simon BOCHUM taz | Im Kampf um ihren Lohn haben rumänische Bauarbeiter in Düsseldorf gedroht, von einem Baukran in den Tod zu springen. Zwei von ihnen kletterten am Freitagmittag auf den 40 Meter hohen Mast, ein weiterer auf den 60 Meter hohen Ausleger des Krans. Am Boden der Großbaustelle mitten in der Innenstadt, die von der Stuttgarter Züblin AG als Generalunternehmer betreut wird, wurden sie von Kollegen unterstützt: „Wir protestieren wegen Geld“, sagte der Arbeiter Mariean Romica dem WDR-Fernsehen, das bei der spektakulären, extrem öffentlichkeitswirksamen Aktion mit einem Team seiner „Lokalzeit aus Düsseldorf“ vor Ort war. Sechs Wochen lang hätten sie mit sechs bis zehn Kollegen jeden Tag gearbeitet, klagte Romica – doch statt des vereinbarten Lohns von insgesamt mindestens 14.000 Euro hätten sie von einem Subunternehmen aus Aachen nur 4.000 Euro erhalten. Die Polizei nahm die Suiziddrohung ernst – die Arbeiter seien verzweifelt und mit ihren Familien auf das Geld angewiesen, so ein Sprecher vor Ort. Die Feuerwehr baute ein meterdickes Sprungkissen auf. Erst am Abend, gegen 20 Uhr, gelang es speziell geschulten Verhandlern der Polizei, die Arbeiter zu einem Ende der Aktion zu bewegen. „Wir haben dafür gesorgt, dass Verantwortliche des Subunternehmens vor Ort waren“, sagte Marcel Fiebig von der Pressestelle der Düsseldorfer Polizei zur taz. In zähen Verhandlungen, an denen auch die Gewerkschaft IG Bau beteiligt war, sind den Arbeitern weitere Lohnzahlungen zugesagt worden. Deren genaue Höhe soll aber offenbar erst in den kommenden Tagen festgelegt werden. Kein Einzelfall Insgesamt sei der Düsseldorfer Fall typisch für die Ausbeutung von Leiharbeitern vor allem aus Osteuropa, so Holger Vermeer von der IG Bau im WDR: „Es gibt eine Sub-Sub-Subunternehmerkette. Irgendwo am Ende der Baustelle dreht irgendjemand den Hahn zu – und die Kollegen stehen ohne Geld da.“ Er kenne Fälle, in denen den Arbeitern nicht einmal genug Geld für Lebensmittel geblieben sei, sagte Vermeer. Möglich wird das durch sogenannte Werkverträge, mit denen Generalunternehmen wie Züblin Teilarbeiten an immer neue Subunternehmen weitervergeben. So tritt auf der Düsseldorfer Großbaustelle an der Ecke Kennedydamm/Roßstraße die Kölner Niederlassung des österreichischen Züblin-Mutterkonzerns Strabag als Betreiberin auf – und für die Kölner soll dann letztendlich das Aachener Subunternehmen die rumänischen Arbeiter beschäftigt haben. Der Vorteil für Unternehmen wie Züblin: Klagen über miese Arbeitsbedingungen, nicht gezahlten Lohn und mangelhafte Sicherheit können sie auf die kaum bekannten Subunternehmen abwälzen. Üblich sind solche Werkverträge auch in der Fleischindustrie, wo Gewerkschafter seit Jahren über die massive Ausbeutung osteuropäischer Arbeiter klagen. Im Baubereich hatte zuletzt der Fall des Einkaufszentrums „Mall of Berlin“ Schlagzeilen gemacht, bei dessen Errichtung ebenfalls Bauarbeiter aus Rumänien um ihren Lohn betrogen wurden. Zuvor hatte sich die für ihre Kreuzfahrtschiffe bekannte Meyer-Werft aus Papenburg in Niedersachsen gegen Vorwürfe wehren müssen, sie sei zumindest indirekt für den Tod von zwei Arbeitern aus Osteuropa mitverantwortlich: Die bei einem Subunternehmen angestellten, über Werkverträge bei Meyer beschäftigten Männer waren in ihrer Unterkunft verbrannt.
Andreas Wyputta
Auf einer Großbaustelle sind Arbeiter aus Rumänien um ihren Lohn betrogen worden. Deshalb wollten sie sich von einem Kran in den Tod stürzen.
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Der Moderne Dandy: Kunst des Müßiggangs - taz.de
Der Moderne Dandy: Kunst des Müßiggangs Mitglieder Mr. Erbil Foto: reuters Dank Charles Baudelaire wissen wir: Die Eleganz des Dandys ist eine geistreiche Angelegenheit. Er kultiviert sein Auftreten und seinen Witz genauso wie seine Kleidung. Dazu gründet seine Eleganz auch immer in einer interessanten, wenn nicht ungewöhnlichen Geschichte. Ahmed Nauzad ist ein solcher Dandy. Er rief vor einem Jahr „Mr. Erbil“ ins Leben, den ersten Gentlemen’s Club im Irak, wie der Name sagt, ist er in der Hauptstadt des kurdischen Autonomiegebiets beheimatet. Der 27-Jährige kehrt im Sommer 2014 aus Ludwigshafen in seine Geburtsstadt zurück, nachdem der IS bis auf 30 Kilometer auf sie vorgerückt war. Er sah es als seine Pflicht an, seiner Familie beizustehen. In Erbil traf er seine alten Freunde Omer Nihad und Goran Pschtiwan, die sein Faible für maßgeschneiderte Anzüge, gepflegtes Aussehen und einen stilisierten Auftritt teilten. Ahmed Nauzad und seine Freunde gehörten unbedingt in Günter Erbes Kulturgeschichte mondäner Lebensentwürfe der Gegenwart: „Der moderne Dandy“. Die grundsätzliche Erörterung der Frage, was den Dandy, dessen klassische Vertreter ja Figuren des 19. Jahrhunderts waren, in heutiger Zeit definiert, macht Erbe in seinen Porträts moderner Dandys konkret. Unter ihnen finden sich der Kunstsammler Harry Graf Kessler, der Dadaist Hugo Ball, der Maler Balthus, aber auch der Journalist Fritz J. Raddatz. Dandy zu sein verlangt Balance. Zu viel vom einen, etwa Engagement, und zu wenig vom anderen, zum Beispiel Stil, und schon entpuppt sich der Dandy als Snob, als Popper oder heute als Hipster. Ungefährdet sind da Andy Warhol, David Bowie und last not least Karl Lagerfeld. Seinen Geliebten Jacques de Bascher, den er mit Yves Saint Laurent teilte, zeichnet Günter Erbe als den wahren Dandy: Schließlich wäre es de Bascher nie in den Sinn gekommen, zu arbeiten. Vor allem aus diesen Grund ist es heute schwer, Dandy zu sein. Warhol, Bowie oder Lagerfeld können kaum als Müßiggänger bezeichnet werden. Viel zu viel Ehrgeiz floss in ihre professionellen Karrieren, statt in ihr pures Sein. Insofern sie sich wie der Dandy des 19. Jahrhunderts zur Marke zu machen verstanden, kommt seine wegweisende Bedeutung bei ihnen freilich in Perfektion zum Tragen. WBG Günter Erbe: „Der moderne Dandy“. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2017, 351 S., 29,99 Euro
taz. die tageszeitung
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Islamisten in Nordafrika: Durchhalten ist alles - taz.de
Islamisten in Nordafrika: Durchhalten ist alles In Libyen und Tunesien versuchen radikal-islamistische Gruppen, Lehren aus dem Sieg der Taliban in Afghanistan zu ziehen. Sie sehen sich im Aufwind. Vorbild für radikale Islamisten in Nordafrika: Triumphierende Taliban am Flughafen von Kabul Foto: Reuters TUNIS taz | Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wird auch in Nordafrika aufmerksam verfolgt. In den rivalisierenden politischen Lagern in Tunesien und Libyen sind die Reaktionen höchst gegensätzlich. Prominente Vertreter der islamistischen Szene Libyens beglückwünschten die Taliban euphorisch zu ihrem Sieg. Sami Saadi, ein Mitbegründer der Libysch-islamischen Kampfgruppe (LIFG), beschrieb den Einmarsch als göttliches Geschenk an die nun in ihre Hauptstadt zurückkehrenden „Helden“. Khaled al-Sharif, nach 2011 Vize-Verteidigungsminister und ebenfalls Mitglied der in den 80er und 90er Jahren gegen Muammar al-Gaddafi kämpfenden LIFG, lobte den erzwungenen Abzug der US-Armee. Al-Sharif war einer der vielen Islamisten aus Libyen, die zu Zeiten der ersten Talibanherrschaft nach Afghanistan gegangen waren. Al-Qaida hatte in vom Gaddafi Regime vernachlässigten Orten wie Derna aktiv um die Opposition geworben und deren religiöse Vertreter in afghanischen Trainingscamps militärisch ausgebildet. Während des Aufstands gegen Gaddafi 2011 kehrten al-Sharif und viele andere nach Libyen zurück und wurden zu Kommandeuren von revolutionären Bürgermilizen, die im Herbst 2011 schließlich Tripolis einnehmen konnten. Zermürbungstaktik der Taliban kopieren? Ein Jahr nach dem Tod Gaddafis organisierten libysche Afghanistan­veteranen die Unterstützung der nach Unabhängigkeit strebenden Tourag im benachbarten Mali. Ab 2014 versuchten radikale Milizen aus Derna, Libyens zweitgrößte Stadt Bengasi einzunehmen. Nach einem dreijährigen erbitterten Häuserkampf gegen die Milizenallianz von Chalifa Haftar mussten sie sich nach Tripolis zurückziehen. In Bengasi hat nun der von Ägypten und Saudi-Arabien unterstützte Feldmarschall Haftar das Sagen. Die Machtübernahme der Taliban erinnert viele in Libyen an die Willkürherrschaft der Milizen in Bengasi und Tripolis. In sozialen Medien wird diskutiert ob die gescheiterten, aber noch immer schwer bewaffneten radikalen Islamisten die Zermürbungstaktik der Taliban kopieren werden. Der politische Analyst Hassan Moraja glaubt, dass vor allem der psychologische Effekt des Machtwechsels in Afghanistan auf den Konflikt in Libyen und den ­Machtkampf in Tunesien enorm groß ist. „Ein rohstoffreiches Land wird nun von einer mäßig ausgerüsteten Bewegung regiert. Die Taliban haben sich wie viele libysche Islamisten als Gegenmodell eines korrupten, vom Westen unterstützten Regierungssystems dargestellt“, so der Libyer. „Die radikalen Gruppen im Maghreb und Sahel scheiterten bisher an den Hightechwaffen der westlichen Spezialtruppen. Ihre Kommunikation auf sozialen Medien zeigt, dass sie nun überzeugt sind, nur lange genug durchhalten müssen, um doch noch zu gewinnen.“ Stille Genugtuung über die Niederlage des Westens In dem Land von der siebenfachen Fläche Deutschlands finden Anhänger des „Islamischen Staats“ (IS), von Ansar al-Scharia und anderer Gruppen leicht Unterschlupf. Allein die türkische Regierung hat mehrere Tausend syrische Rebellen aus Idlib für den Kampf gegen Haftar ins Land geholt. Vor einer Woche versuchte sich ein sudanesischer Extremist an einem Kontrollpunkt von Haftars Armee im südlibyschen Zilla in die Luft zu sprengen. Die Extremisten jeder Couleur sehen ihre Vision eines Islamischen Staates wieder greifbar nah, glauben Experten wie Moraja, auch weil sich in sozialen Medien Libyens und Tunesiens eine stille Genugtuung über die Niederlage des Westens breitgemacht hat. Auch Tunesier spielten bei der Herrschaft von al-Qaida und den Taliban vor 20 Jahren eine gewichtige Rolle. Zwei aus Tunis stammende Journalisten setzten einen komplexen Anschlagsplan auf den damaligen Anführer der Nordallianz, Ahmed Schah Massud, um, den damaligen Hauptgegner der Taliban. Seitdem Präsident Kais Saied vor sechs Wochen die Macht an sich gerissen hat, warnt er immer wieder vor der Gefahr der im Ausland ausgebildeten radikalen Tunesier. In düsterem Ton beschrieb Saied letzte Woche einen von Sicherheitskräften vereitelten Attentatsplan radikaler Gruppen. Auf dem libyschen Militärflugplatz Watia würden 100 Tunesier auf ihren Einsatz warten, so Saied. Libysche Behörden bestreiten die Anwesenheit von ausländischen radikalen Gruppen im Land. Tatsächlich gibt es wie in den 90er Jahren in Afghanistan Dutzende Trainingslager für Islamisten in Libyen. Der Journalist und Radiomoderator Haythem El Mekki warnt, dass die aktuelle politische Spaltung Tunesien wieder zum Ziel von Terrorgruppen machen könnte. „Seit der Machtübernahme der Taliban ist auf sozialen Medien durch die radikalen Gruppen ein Ruck gegangen“, sagt er. „Sie glauben, dass die Zeit auf ihrer Seite ist.“ Der libysche Imam Hadi Ghariani glaubt nicht, dass es noch Verbindungen zwischen Afghanistan und Nordafrika gibt. Er betont einen anderen psychologischen Effekt für die Demokratisierung der Region: „Niemand ist mehr sicher, ob man sich auf seine westlichen Partner langfristig verlassen kann.“
Mirco Keilberth
In Libyen und Tunesien versuchen radikal-islamistische Gruppen, Lehren aus dem Sieg der Taliban in Afghanistan zu ziehen. Sie sehen sich im Aufwind.
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Krabbenfischer fangen nicht nur Krabben - taz.de
Krabbenfischer fangen nicht nur Krabben ■ Die Auswirkungen der Fischerei auf den Garnelenbestand im Watt sind bisher nicht eindeutig geklärt. Doch die Forscher finden vermehrt Anzeichen für eine Überfischung Nach Hochrechnungen benötigt der Muschelbestand acht bis neun Tage, um das Nordseewasser einmal durchzufiltern Nordseegarnelen, wie Krabben zoologisch korrekt heißen, sind eine beliebte Delikatesse und zugleich eine wichtige Nahrungsquelle für zahlreiche Fisch- und Seevogelarten im Wattenmeer, unter anderem für Kabeljau, Wittling, Rotschenkel, Alpenstrandläufer und Seeschwalben. Neben Vögeln und Fischen ist der Mensch der wichtigste „Fraßfeind“ der Nordseekrabben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Industrialisierung der Krabbenfischerei. Mit effektiveren Fanggeräten und größeren, stärker motorisierten Kuttern werden die Garnelenbestände des Wattenmeeres heute intensiv befischt. Technische Innovationen ermöglichten sowohl eine schnellere Verarbeitung an Bord als auch Fangfahrten bei schlechter Witterung und eine Verlängerung der Fangreisen. Während traditionell die Garnelenfischerei von April bis November stattfand, verfolgen heute größere Kutter die Krabben auch bis in ihre Winterquartiere in tieferen Gewässern. Während Fische und Vögel im Wattenmeer jährlich 7.000 bis 8.000 Tonnen Garnelen fressen, beträgt die jährliche Fangmenge der Garnelenfischerei in Deutschland und den Niederlanden rund 20.000 Tonnen im Jahr. Das galt und gilt für viele bis heute als unbedenklich. Bei dieser vermehrungsfreudigen, schnell wachsenden Art halten sie es für ausgeschlossen, dass die Fischerei Schaden anrichtet. Tatsächlich sind die Auswirkungen des zunehmenden Fischereiaufwandes auf den Garnelenbestand im Watt bisher nicht eindeutig belegt. Aber die Ökosystemforscher weisen in ihrem Bericht darauf hin, dass sich die Anzeichen für eine Überfischung mehren: Der Anteil großer Garnelen im Fang nimmt ab, der Anteil Eier tragender Weibchen geht zurück, die mittlere Länge der Eier tragenden Weibchen wird immer kleiner, und die Eizahl pro Weibchen verringert sich. Auch dass die Anlandemenge trotz gesteigerten Fischereiaufwandes – sprich der Industrialisierung der Krabbenfischerei – nahezu gleich geblieben ist, wird als Zeichen einer beginnenden Übernutzung gedeutet. Neben der Bedrohung des Garnelenbestandes hat die Krabbenfischerei weitere Auswirkungen für das Ökosystem Wattenmeer. Denn den Krabbenfischern gehen nicht nur Garnelen in ihre engmaschigen Netze. Das meiste, was sie an Bord holen, ist Beifang: Krabben, die zu klein zum Verkauf sind, junge Schollen, Seezungen und andere Nordseefische und zahllose Bodentiere. Die Ökosystemforscher ermittelten: Bei der Anlandung von 4.278 Tonnen Garnelen von April bis November 1993 betrug die Menge des Beifangs rund 35.000 Tonnen. Die mit gefangenen Tiere gehen über Bord, nur wenige überleben. Auf Grund ihrer Erkenntnisse über die Auswirkungen der Krabbenfischerei und wegen der drohenden Überfischung empfehlen die an der Ökosystemforschung beteiligten Wissenschaftler eine allgemeine Verringerung des fischereilichen Aufwands, das heißt der Zahl der Kutter und des Zeitraumes der Fangfahrten. Sie halten es für sinnvoll, die Winterfischerei auf Garnelen stark einzuschränken oder völlig zu verbieten und den Gesamtgarnelenfang im Wattenmeer zu begrenzen. Auch die intensive Muschelfischerei im Wattenmeer ist umstritten. Der schleswig-holsteinische Landesverband des BUND hält die Novellierung des Nationalparkgesetzes für „halbherzig, inkonsequent und unzureichend“. Ein Kritikpunkt der Umweltschützer: Die intensive Nutzung des Nationalparks durch Muschelkulturen wird nicht reduziert und die Kernzonen des Nationalparks werden nicht von der Muschelfischerei freigehalten. Muschelbänke haben eine besondere Bedeutung für das Wattenmeer. Sie sorgen für klares Wasser. Als Filtrierer holen Miesmuscheln Kleinstlebewesen wie Algen und andere Teilchen aus dem Nordseewasser. Eine Muschel filtert 20 bis 50 Liter Wasser am Tag. So sind Muschelbänke eine Art Klärwerk fürs Watt. Nach Hochrechnungen benötigt der Muschelbestand acht bis neun Tage, um das gesamte Nordseewasser einmal durchzufiltern. Mit Haftfäden, den so genannten Byssusfäden, heften sich Miesmuscheln an Pfählen, Steinen oder den Schalen von Artgenossen fest. Tausende von Muscheln sitzen manchmal auf einem Quadratmeter neben- oder aufeinander. Solche Muschelbänke bieten einer Vielzahl von Organismen Anheftungs- und Unterschlupfmöglichkeiten. Sie sind unter anderem Lebensraum für Seetang, Seepocken, Seeanemonen und Schnecken. Miesmuscheln stellen zudem eine wichtige Nahrungsgrundlage für Seesterne, Fische und Vögel dar. Für viele Vögel im Watt bilden Muscheln die Hauptnahrung. Die Eiderente beispielsweise begibt sich zur Nahrungsaufnahme bevorzugt auf Miesmuschelbänke und nimmt bis zu zwei Kilogramm Muscheln pro Tag auf. Auch wenn Vögel jedes Jahr zwei Drittel des Miesmuschelbestandes wegfressen, so beeinflusst das dennoch nicht die Entwicklung der Miesmuschelbänke, denn die Vögel fressen ausschließlich ausgewachsene Muscheln. Ihr Futter wächst also nach. Konkurrenz bekommen sie aber von den Fischern. Der Muschelkutter macht Tabula rasa mit der produktiven Lebensgemeinschaft. Wenn die Kurre oder Dredge, ein Netz aus Drahtgeflecht, über die Muschelbank gezogen wird, nimmt sie alle Bewohner mit sich. Die Muschelfischer sorgen für Nachschub. Seit den 30er-Jahren legen sie Muschelkulturen an. Im Frühjahr sammeln die Fischer Jungmuscheln und setzen sie als „Saatmuscheln“ vornehmlich auf Flächen, die auch bei Ebbe überflutet sind. Diese Zonen werden sonst von Muschellarven nicht besiedelt. Sie bieten aber gute Bedingungen für ein schnelles Wachstum der Muscheln, denn sie zeichnen sich durch ein ständig verfügbares Nahrungsangebot aus. Auf den höher liegenden Flächen hingegen ist das Nahrungsangebot für die Muscheln unterbrochen, wenn sie bei Ebbe trockenfallen. Nach zweieinhalb Jahren werden die Muschelkulturen abgeerntet – wenn sie so lange überleben. Denn die untergetauchten Muschelkulturen sind ausgesprochen kurzlebig, das haben die ökologischen Untersuchungen gezeigt. Oftmals haben schon nach ein bis zwei Jahren Seesterne, Strandkrabben und Eiderenten fast alle Muscheln gefressen, sodass die Bank aufhört zu existieren. Auch ein kräftiger Sturm kann eine solche Bank völlig auflösen. Ganz im Gegensatz dazu sind die Miesmuschelbänke auf den trockenfallenden Wattenflächen zumeist langlebig. Die Überlebenschancen der Muscheln sind hier größer, weil die Zahl der Fressfeinde geringer ist. Die Bänke bleiben oft Jahrzehnte an denselben Stellen erhalten. Seit es Muschelkulturen gibt, beträgt der Fang 20.000 bis 30.000 Tonnen im Jahr. Es gebe keine Beweise dafür, dass sie den Muschelbestand im Wattenmeer vernichten, betonen die Fischer. Im Gegenteil, durch das Anlegen von Kulturen würden sie den Nachwuchs kultivieren und für die Verbreitung der Muscheln sorgen. Zudem würden Miesmuscheln in manchen Gebieten, zum Beispiel im Wurster Watt, auch ohne Fischerei verschwinden. In anderen Gegenden, beispielsweise im Jadebusen, so lautet die Argumentation der Wattnutzer, würden die Miesmuscheln trotz Befischung zunehmen. Forscher und Umweltschützer halten dagegen. Die Muschelfischerei richte sichtbare Schäden an: Durch die Dredge würden alle Tiere auf den Muschelbänken getötet und wichtiger Lebensraum werde zerstört. Muschelkulturen, in denen alle Muscheln das gleiche Alter haben, seien zudem keine Lebensgemeinschaften. Die Biologen weisen drarauf hin, dass es in Holland kaum noch Wildmuschelbänke gibt. Dort wären darüber hinaus als Folge der intensiven Muschelfischerei 10.000 Eiderenten verhungert. Außerdem würde das Sammeln der Saatmuscheln die Wildbänke beeinträchtigen Aus den Ergebnissen der Ökosystemforschung resultieren Empfehlungen für eine nachhaltige Muschelfischerei im Watt: Demnach sollten künftig keine Muscheln für den Konsum von Wildbänken gefischt werden. Die Gesamtfläche der Kulturen sollte nicht vergrößert werden. So ließen sich der Erhalt des Ökosystems Wattenmeer und der Erhalt der Muschelfischerei miteinander vereinbaren. Vera Stadie
Vera Stadie
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Schusswaffen in den USA: Lobby lädt durch - taz.de
Schusswaffen in den USA: Lobby lädt durch US-Vizepräsident Joe Biden will das Waffenrecht verschärfen, andere Politiker ziehen mit. Dagegen zieht die mächtige Lobby ins Feld. Komm und hol sie dir: Demonstrant gegen schärfere Waffengesetze in Colorado. Bild: reuters WASHINGTON taz | Die Schusswaffenfreunde in den USA haben die Fotos von Hitler und von Stalin wieder aus dem Keller geholt. Mit demselben Zweck wie bereits vor vier Jahren: Zu behaupten, Präsident Barack Obama sei wie die beiden Diktatoren. Damals ging es um die Gesundheitsreform. Dieses Mal um die geplante Verstärkung der Schusswaffenkontrolle. Vizepräsident Joe Biden hat in der zurückliegenden Woche alle möglichen Leute, die etwas zum Thema Schusswaffengewalt zu sagen haben, zum Gespräch geladen: Überlebende von Schießereien, Jäger, Filmemacher und – erst ganz zum Schluss – die mächtige Lobbygruppe National Rifle Association (NRA), die die Ansicht vertritt, eine Schule – und jeder beliebige andere Platz in den USA – sei dann am sichersten, wenn dort die „good guys“ Waffen tragen, um sich gegen die „bad guys“ zu wehren. Biden, der vom Präsidenten mit der Mission gegen Schusswaffengewalt beauftragt worden ist, will schon am kommenden Dienstag einen Plan vorlegen. Unter anderem will er dem Weißen Haus empfehlen, strengere Backgroundchecks für Waffenkäufer einzuführen und den Verkauf von Hochleistungsmagazinen zu reglementieren. Wieder Schüsse an SchuleIn einer Schule in Kalifornien hat ein 16-Jähriger auf einen Gleichaltrigen geschossen und ihn schwer verletzt. Ein Lehrer und ein Aufseher der Union High School in Taft hätten Schlimmeres verhindern können, indem sie den Schützen in ein Gespräch verwickelt hätten, so dass die restliche Klasse den Raum habe verlassen können, sagte Sheriff Donny Youngblood am Donnerstag. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen.Nach Berichten der "Los Angeles Times" und des Senders 23ABC News ereignete sich der Vorfall vormittags gegen 09.00 Uhr (Ortszeit, 18.00 Uhr MEZ) an der Union High School in Taft, rund 160 Kilometer nordwestlich von Los Angeles. Der Angreifer war mit einem Gewehr in einen Klassenraum der Schule gekommen und hatte auf einen Schüler geschossen, der schwer verletzt wurde. Einen zweiten Schüler verfehlte er, wie Youngblood, Sheriff des Bezirks Kern, sagte. (afp) Amokläufer haben mit solchen Magazinen oft mehrere Menschen pro Sekunde erschossen. Auch der Todesschütze, der an der Grundschule Sandy Hook in Newtown 20 Kinder und 6 Erwachsene erschossen hat, benutzte sie. Falls der Kongress nicht bereit ist, einer Verschärfung der Schusswaffenkontrolle zuzustimmen, befürwortet Biden auch ein Vorgehen mithilfe von Vollzugsanordnungen durch den Präsidenten. Dagegen schießt die andere Seite scharf. Sie nennt ein Vorgehen per Vollzugsanordnung, wie es im Übrigen auch die Präsidenten George H. W. Bush und Bill Clinton zur Schusswaffenkontrolle benutzt haben, „autoritär“. Und kontert mit Diktatorenvergleichen. New Yorks Gouverneur mit Anti-Waffen-Gesetz Die Initiative von Biden auf der Bundesebene ist nicht das einzige gegenwärtige Vorgehen gegen Schusswaffen. Im Bundesstaat New York hat der demokratische Gouverneur Andrew Cuomo gerade ein Gesetz vorgelegt, das zum bislang weitestgehenden Verbot von Sturmgewehren und Hochleistungsmagazinen führen würde. „Dieser Wahnsinn muss aufhören“, sagte Cuomo: „Niemand geht mit einem Sturmgewehr auf die Jagd. Niemand braucht zehn Kugeln, um ein Reh zu erschießen.“ Der Gouverneur gilt als einer der potenziellen Anwärter für die demokratische Präsidentschaftskandidatur 2016. Dass sich ein Politiker mit seinen Karriereplänen an das heikle Thema heranwagt, ist selten. Michael Bloomberg, der Bürgermeister von New York, der in seiner Stadt schon lange gegen Schusswaffen aktiv ist, hat ihm dafür gratuliert. Eine andere Initiative kommt von einer Frau, deren eigenes Leben infolge einer Schießerei an einem seidenen Faden gehangen hat. Die ehemalige Kongressabgeordnete Gabby Giffords war am 8. Januar 2011 in Tucson, Arizon, durch einen Kopfdurchschuss verletzt worden. Schusswaffenkontrolle „mit gesundem Menschenverstand“ Sie ist selbst Schusswaffenbesitzerin und verteidigt den zweiten Verfassungszusatz, der den Waffenbesitz seit dem Jahr 1791 zu einem Grundrecht macht. Doch in dieser Woche, zwei Jahre nach dem Attentat, hat Giffords zusammen mit ihrem Mann ein Komitee zur Schusswaffenkontrolle „mit gesundem Menschenverstand“ gegründet. Gleichzeitig bereitet auch kalifornische Senatorin Dianne Feinstein ein Gesetz vor, das sämtliche Sturmwaffen verbieten sollt. Und vereinzelt haben Kongressabgeordnete nach der Schießerei von Newtown sogar von der Möglichkeit gesprochen, bereits im Umlauf befindliche halbautomatische Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Bislang war nur von künftigen Waffengeschäften, nicht aber von bereits legal erworbenen Waffen die Rede. Die Öffentlichkeit, so zeigen Umfragen, ist gespalten. Die Zustimmung zu der normalerweise sehr populären NRA ist gegenwärtig auf 42 Prozent gesunken. Doch die Schusswaffenlobby gibt nicht auf. Seit der Schießerei hat die NRA, ihr größter Lobbyverband, nach eigenen Angaben 100.000 neue Mitglieder geworben. Im selben Zeitrum ist es zu Hamsterkäufen von halbautomatischen Waffen und Munition gekommen und ist die Zahl der Anträge auf Waffenscheine – in den Bundesstaaten, wo diese Formalität überhaupt nötig ist – in die Höhe gegangen. Walmart verweigert das Gespräch Einer der großen Nutznießer der Waffenkäufe ist der größte Einzelhändler der Welt, Walmart, bei dem es sowohl Schusswaffen als auch Munition gibt. Auch mit den Walmartchefs wollte sich Biden diese Woche treffen. Sie sagten unter Verweis auf Terminschwierigkeiten ab. Die NRA lehnt die von Biden und anderen Politikern vorgeschlagenen Verschärfungen ab. Und sagt, er wolle vor allem den zweiten Verfassungsgrundsatz kippen. Statt mehr Schusswaffenkontrolle will die NRA mehr Pistolen in den Händen der „good guys“, damit die sich gegen „bad guys“ wehren können. Die Argumente, die sie in die gegenwärtige Debatte wirft, sind vor allem Ablenkungsmanöver: Unter anderem verlangt die NRA jetzt eine bessere Versorgung von psychisch Kranken (weil viele Todesschützen psychische Probleme haben), sie will ein stärkeres Augenmerk auf Drogen (weil viele Todesschützen Psychopharmaka einnehmen), sie macht gewalttätige Filme verantwortlich und sie bemüht ihren uralten Slogan, dass nicht Waffen töten, sondern die Menschen, die sie benutzen.
Dorothea Hahn
US-Vizepräsident Joe Biden will das Waffenrecht verschärfen, andere Politiker ziehen mit. Dagegen zieht die mächtige Lobby ins Feld.
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Graichen-Affäre im Klimaministerium: Das grüne Eigentor - taz.de
Graichen-Affäre im Klimaministerium: Das grüne Eigentor Es mag den Grünen um die gute Sache gehen. Aber auch wegen zögerlicher Selbstkritik ist die Affäre längst zu einer Gefahr für die Ampel-Koalition geworden. Robert Habeck nach der Sitzung der Aussschüsse für Wirtschaft und Klimaschutz Foto: Kay Nietfeld/dpa Kennen Sie Mario Czaja? Der CDU-Generalsekretär fährt, wenn er nicht gerade genüsslich dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck wegen der Graichen-Affäre ans Schienbein twittert, gern große Geschütze auf für den Bau von Autobahnen. Die A 100, behauptete Czaja kürzlich im Bundestag, werde für weniger Lärm und weniger Abgasemissionen sorgen, wenn sie quer durch Berlin gepflügt sein wird. Czajas Bruder Sebastian, ein aktuell nicht weiter wichtiger FDP-Politiker, der ebenfalls stets mehr Autobahnen fordert, ist mit einer Frau verheiratet, die nach eigenen Angaben Referentin für Länderangelegenheiten ist – bei der Autobahn GmbH. Was die Raserliebhaberei der Czajas mit der Causa Graichen zu tun hat? Nichts. Sie zeigt erst einmal nur, wie nahe sich in der Hauptstadt Ex­per­t:in­nen und Po­li­tiker:in­nen stehen. In jeder Partei. Sie zeigt aber auch, wie politische Kommunikation funktioniert. Allein durch die Thematisierung der familiären Bande entsteht ein, ja, was? Ein Geschmäckle? Selbst wenn es sich hier nur um eine vollkommen harmlose Liebesaffäre zwischen fachlicher Expertise und politischer Agitation handeln sollte, das Odeur des Verwerflichen verzieht sich nicht mehr. Wer so einen Trumpf dem politischen Gegner vor die Nase legt, muss sich nicht wundern, wenn er ihn bei nächster Gelegenheit um die Ohren gehauen bekommt. Dass den Grünen ein solcher Fehler unterlaufen ist im wichtigsten und umkämpftesten Ressort, dem Klimaministerium, ist unverzeihlich. Es geht nicht um Korruption Natürlich kann man einwenden, dass Habecks Staatssekretär Patrick Graichen ein ausgewiesener Experte ist, ebenso wie sein Trauzeuge, an dessen Berufung zum Geschäftsführer der regierungseigenen Deutschen Energie-Agentur Graichen beteiligt war. Und dass die umstrittene Postenvergabe längst korrigiert wurde. Zu Recht dürfen die Grünen betonen, dass es hier nicht um Korruption geht, nicht um Versorgungsposten für politische Amigos, nicht um das Wirtschaften in die eigene Tasche, sondern um die gute Sache: die dringend benötigte Energiewende. Schon klar. Das reicht aber nicht, wenn Union und Bild eine wilde Kampagne anzetteln, um die Zahnpasta wieder in die Tube zu quetschen. Ganz egal, ob die Vorwürfe gegen Graichen und damit gegen Habeck aufgebauscht sind. Sie haben sich auch durch die zögerliche Selbstkritik längst zur größten Gefahr für die Grünen in der Ampel ausgewachsen. Wenn Habeck Glück hat, wird er das Odeur wieder los, indem er mit Graichen seinen besten Mann vor die Tür setzt. Wenn er Pech hat, reicht nicht einmal mehr das. Dann steht Habecks Klimapolitik auf dem Spiel.
Gereon Asmuth
Es mag den Grünen um die gute Sache gehen. Aber auch wegen zögerlicher Selbstkritik ist die Affäre längst zu einer Gefahr für die Ampel-Koalition geworden.
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US-Haushaltsblockade: Obamacare in der heißen Phase - taz.de
US-Haushaltsblockade: Obamacare in der heißen Phase Der Shutdown legt nicht alle Regierungsaktivitäten lahm. Weiten die Republikaner den Stillstand auf die Erhöhung der Schuldengrenze aus, droht Zahlungsunfähigkeit. Ein Tourist vor dem verschlossenen Smithsonian Museum in Washington. Bild: dpa WASHINGTON taz | Wie ein Shutdown anfängt, ist klar: Der Kongress gibt der Regierung kein Geld mehr. Doch niemand weiß, wie sich das Ganze beenden lässt. Es gibt dafür keine Regeln und keine Gesetze. Und nur wenige historische Erfahrungen. Die beiden letzten datieren aus den Jahren 1995 und 1996 – und werden von den jetzigen Kongressabgeordneten je nach Alter unterschiedlich interpretiert. Die Älteren halten an der Version fest, dass die damaligen Blockaden die RepublikanerInnen beinahe ihre Mehrheit im Kongress gekostet hätte und die Karriere des damaligen Sprechers des Repräsentantenhauses und aufsteigenden Stars der RepublikanerInnen, Newt Gingrich, abrupt beendet haben. Die jüngeren, heutigen Abgeordneten dagegen meinen, ihre Partei sei gestärkt aus den Shutdowns hervorgegangen. Die zentrale Rolle bei der Suche nach einem Ausweg aus der Haushaltsblockade kommt ausgerechnet dem Mann zu, der sie hätte verhindern können: dem gegenwärtigen Sprecher des Repräsentantenhauses. Der Republikaner John Boehner hat angekündigt, er werde „in den nächsten Tagen“ eine Kommission einberufen, die über die Differenzen zwischen beiden Seiten beraten soll. Einen konkreten Termin jedoch nannte Boehner nicht. Zudem droht die Kommission eine Fortsetzung des Pingpongspiels zwischen beiden Parteien zu werden. Denn für die demokratische Seite steht weiterhin fest, dass es nichts anderes zu verhandeln gibt als den US-Bundeshaushalt. Wer in die USA reisen will …… kann das weiterhin tun. Bei einem Pressegespräch am Montag sagte der neue US-Botschafter in Deutschland, John B. Emerson: „Unabhängig davon, was geschieht, werden die US-Auslandsvertretungen in Deutschland – also unsere Botschaft und unsere Konsulate – morgen und übermorgen und darüber hinaus offen bleiben und ihrer Arbeit nachgehen. Wir werden für alle wesentlichen Dienstleistungen geöffnet haben. Unsere Konsularabteilungen werden sowohl für deutsche als auch für amerikanische Staatsbürger geöffnet haben. Wenn Sie also einen Termin haben, halten Sie ihn ein. Es wird jemand vor Ort sein, mit dem Sie sprechen können.“ Auch die Flughäfen in den USA werden nicht geschlossen - die nationalen Bediensteten der Flugsicherheit bleiben im Job. (pkt) Das haben sowohl Präsident Obama als auch der demokratische Chef des Senats, Harry Reid, klargemacht. Die republikanischen Kongressabgeordneten hingegen wollen bei dieser Gelegenheit unbedingt auch noch ein paar andere Dinge durchdrücken – vor allem die Aushöhlung von Präsident Obamas Gesundheitsreform. „Wesentliches“ funktioniert weiter Während der Shutdown läuft, gehen einige als „wesentlich“ eingestufte Aktivitäten der Regierung weiter: Die Post wird zugestellt, Sozialversicherungsschecks werden gezahlt und die „Obamacare“ genannte Gesundheitsreform tritt – unbeirrt durch republikanische Anfechtungen – in eine neue Phase. Ab 1. Oktober können die bislang knapp 50 Millionen Nichtversicherten auf einer Webseite der Regierung (www.healthcare.gov) nach der für sie günstigsten Krankenversicherung suchen. Der Präsident hat ihnen gesagt, dass die Versicherung damit so einfach wird „wie eine Reise buchen“. Und ihr Preis „niedriger als ein Monatsabo für ein Handy“. Hinter vorgehaltener Hand unken Abgeordnete beider Parteien, dass sie vor dem kommenden Wochenende kein Ende der Blockade erwarten. Damit rückt die Stilllegung der Bundesverwaltung zeitlich in gefährliche Nähe zur nächsten kontroversen Entscheidung des Kongress: die Erhöhung der Schuldengrenze. Wenn die nicht bis zum 17. Oktober durch ist, werden die USA zahlungsunfähig. Der gegenwärtige Verwaltungsstillstand hat vor allem innenpolitische Auswirkungen. Der Verlust der Bonität hätte international finanzielle Konsequenzen.
Dorothea Hahn
Der Shutdown legt nicht alle Regierungsaktivitäten lahm. Weiten die Republikaner den Stillstand auf die Erhöhung der Schuldengrenze aus, droht Zahlungsunfähigkeit.
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Die Werfer von der kalten Insel - taz.de
Die Werfer von der kalten Insel ■ Handball. Isländisches Spitzenteam bestreitet in Hamburg Freundschaftsspiele . Isländisches Spitzenteam bestreitet in Hamburg Freundschaftsspiele Von der Insel mit dem kalten Namen kommt sie her, Islands Erstligamannschaft Handknattleiksflag Kpavogs, die zur Zeit den Rest ihres Trainingsurlaubes hier in Hamburg verbringt. Außer ihrem täglichen Training in der Uni-Halle werden die Männer aus dem hohen Norden drei Spiele gegen Mannschaften aus Hamburg und Umgebung bestreiten. Heute abend (20 Uhr) ist ihr erster Gegner in der Elmshorner Olympiahalle der EMTV. Morgen spielen sie in der Turnhalle Alter Teichweg (19.30 Uhr) gegen die Mannschaft von SG BU Urania und am Sonntag sind sie dann zur Gast in Geesthacht (20 Uhr), ehe sie am Montag morgen zurück nach Island fliegen. Vorher waren die Werfer aus Island schon eine Woche in der Tschechoslowakei, wo sie außer der Teilnahme an einem internationalem Turnier in Chomutov drei Trainings-Spiele gegen Prags Handball Elite von Slavia-, Sparta- und Dukla-Prag bestritten. Schon seit geraumer Zeit ist Handball die beliebteste Mannschafts-Sportart auf Island, was auch durch die Erfolge der Nationalmannschaft manifestiert wird. Bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984 und in Seoul 1988 waren sie schon dabei und jetzt in Barcelona entging ihnen nur knapp eine Medaille. Sie mußten sich leider mit dem undankbaren vierten Platz zufrieden geben. Für Handball-Liebhaber sollte der Erfolg dieser kleinen Nation die nur 280.000 Einwohner zählt keine Überraschung sein. Viele ihrer Handballer verdienen ihr Brot in Deutschland, Spanien und Frankreich, und Spieler wie Gslason, Arason und Sveinsson die mit ihren Mannschaften TUSEM Essen, Großwallstadt und TBV Lemgo in den 80er Jahren Erfolge feierten sind den meisten gut bekannt. Alle drei sind nun auf die Insel zurückgekehrt um ihre Erfahrungen aus der BRD und Spa nien, als Trainer und Spieler weiterzuleiten. Viele Isländer fiebern der Handball-Weltmeisterschaft, die im Jahre 1995 auf Island stattfinden soll, schon entgegen. 1In der in Hamburg gastierenden Mannschaft von Handknattleiksflag Kpavogs befindet sich die halbe Jugendnationalmannschaft des Landes. Gunnar Gudmundsson
gunnar gudmundsson
■ Handball. Isländisches Spitzenteam bestreitet in Hamburg Freundschaftsspiele
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■ Müllvermeider werden in der Stadt Ulm hart bestraft: Der doppelte Müllberger - taz.de
■ Müllvermeider werden in der Stadt Ulm hart bestraft: Der doppelte Müllberger Ulm (taz) – „Wenn weiterhin Müll vermieden und eine noch größere Menge der Müllverwertung zugeführt wird, wirkt sich dies ungünstig auf die Auslastung der Müllverbrennungsanlage und damit auf die Kostenkalkulation und letztlich auf die Gebühren aus.“ Diese offensichtlich irrsinnigen Worte des ehrwürdigen Landrates Dr. Wolfgang Schürle anläßlich einer Ortschaftsräte-Sitzung der Anrainer der Hausmülldeponie Litzholz bei Ulm zu deren Ausbau in eine Rückstandsdeponie für Schlacke beschreiben jedoch exakt den Kern des bösen Schildbürgerstreiches, den sich die Stadt Ulm gemeinsam mit dem Alb-Donau- Kreis leistete, als sie sich zur Jahreswende 1992/93 mit dem Bau einer MVA mit einer Jahreskapazität von 120.000 Tonnen durchsetzten. Grundlage für die Kapazität des „Müllheizkraftwerks“ war ein Gutachten der Firma Ingenieursozietät Abfall, Professor Tabasaran & Partner – der Volksmund spricht hier mittlerweile vom „Müllfänger von Ulm“ –, das 1987 für das Jahr 2000 ein Restmüllaufkommen von 118.000 Tonnen für Stadt und Kreis „vorhergesagt“ hatte. Obschon das reale Müllaufkommen Ulms allein von 1989 (54.300 Tonnen) bis 1991 (30.200 Tonnen) um immerhin 45 Prozent sank, wurden alternative Konzepte, etwa die der örtlichen Initiative „Das bessere Müllkonzept e.V.“, nicht berücksichtigt. Im Gegenteil: Man fand es schick, sich über die Gegner lustig zu machen. Nun ist die Baugrube nahe der Stadt bereits ausgehoben, da meldet sich mahnend Ulms OB Ivo Gönner (SPD) zu Wort: Der Alb- Donau-Kreis und die Stadt Ulm produzierten leider nur mehr 63.000 Tonnen Abfälle pro Jahr. Wenn aber die Anlage nicht ausgelastet werden könne, drohe „eine Kostenexplosion bei den Müllgebühren“. 1.000 Mark pro Jahr und Haushalt, malt der zerknirschte Stadtvater die düstere mögliche Zukunft aus, wenn, ja „wenn nicht Fremdmüll herbeigeholt“ würde. Die Entwicklungen, die laut Auftraggeber und Betreiber angeblich „unvorhersehbar“ gewesen seien, waren von den örtlichen Verbrennungsgegnern bereits vor Jahren nachgewiesen worden. Schon im Sommer 1992 etwa wiesen sie darauf hin, daß der „derzeit in Ulm und im Alb-Donau-Kreis anfallende Müll von ca. 185.000 Tonnen pro Jahr auf ungefähr 65.000 Tonnen reduziert werden könne“. Was nunmehr geschehen ist. Sicher ist hingegen, daß die Stadt sich maßgeblich selbst an der Reduktion des Müllaufkommens beteiligte, etwa mit der Trennung der Bioabfälle vom Restmüll oder der gesonderten Entsorgung des Verpackungsmülls. So sind für dieses Jahr weitere 10.000 Tonnen Einsparung prognostiziert. Bezeichnend ist nur, daß die Stadt diese Leistung nur widerwillig und auf Nachfrage bekanntgab. Weder Stadt noch Kreis denken ans Umdenken, so scheint es, sondern nur noch ans Verheizen: Daß da noch immer ein Verfahren gegen die Anlage selbst anhängig ist, scheint nicht zu stören. Im Gegenteil: Auch eine Mehrheit des Ulmer Gemeinderates lehnte jüngst eine von der SPD und den Ulmer „Bunten“ beantragte Grundsatzdebatte zum Thema Ulmer Müll ab. Begründung: Dies sei nicht dringlich. Durchaus dringlich hingegen scheint den meisten Gemeinderatsmitgliedern die neuerliche Erhöhung der Müllgebühren zur Jahreswende zu sein. Mit großer Mehrheit wurde dort Anfang Dezember die neue Abfallsatzung beschlossen. Hochinteressantes Detail: Wer am meisten Müll einspart, wird auch am härtesten dafür bestraft. Der von den umweltbewußten UlmerInnen hauptsächlich genutzte 35-Liter-Eimer, der kleinste im Angebot, steigt um 22 Prozent auf 434 Mark, die größeren nur um 14 Prozent. Philippe André
Philippe Andre
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Musik schult - taz.de
Musik schult ■ 12 Konzerte: Die Klangwerkstatt der Musikschule Kreuzberg stellt sich vor „Klangwerkstatt“ – ein Titel, der sitzt. Da sieht man sie geradezu vor sich, die Musiker, stieren Blicks die Noten fixierend, Schwung holend (oder, wenn's Bläser sind: Luft schnappend) und „Vuiiii“ (oder „Buaaa“) einen Ton produzierend. Manche schaffen das bereits mehrere hundert Mal in der Minute, die meisten üben noch daran – das tägliche Brot einer Musikschule. Die Musikschule Kreuzberg hat die „Klangwerkstatt“ bereits vor sechs Jahren eingerichtet, sie hat sich bewährt und veranstaltet nun eine Reihe von Konzerten, in denen Schüler und Lehrer aufspielen. Gaststars wie das „Ensemble United Berlin“ und das „Kammerensemble Neue Musik“ heben das Niveau und setzen zugleich der hoffnungsvollen Jugend die Maßstäbe. Es handelt sich hier kaum um einen klingenden Elternabend, denn die Kreuzberger Musikschule hat es durch Risikobereitschaft und mit Blick auf die Zukunft geschafft, eine Menge kreatives Potential anzuhäufen. Neben talentierten Musikern hat sie sich der Mitarbeit von Komponisten versichert, in der Einsicht, daß Musik eine vitale Qualität bekommen kann, wenn eine lebendige Wechselwirkung von Ausdenken und Erarbeiten zustande kommt. Wenn die Komponisten Peter Ablinger und Helmut Zapf die Ensembles „Zwischentöne“ oder „Ensemble Junge Musik Berlin“ in die Arena führen, haben sie diese nicht nur nach den Regeln des Handwerks einstudiert, sondern auch eine Idee, was Neue Musik alles sein kann, weitergepflanzt. Daß hier keine Exerziertruppe darauf abgerichtet wird, Stücke von toten Komponisten standesgemäß zu exekutieren, zeigt der Umstand, daß die über 40 Komponisten, die in den 12 Konzerten gespielt werden, sich allesamt ihrer Lebendigkeit erfreuen. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, nämlich daß Musik von Lebenden für Lebende gegeben wird, ist endlich einmal Wirklichkeit. Damit zeigt die Stadtteilkultur den staatlichen Musikhochschulen (die sich durch viele Reformen immerhin bis auf 80 Jahre an die Gegenwart herangerobbt haben), welche Funktion Musik hat, wenn man sie ernst nimmt: daß sie das klingende Protokoll der Gegenwart ist. Frank Hilberg Heute 6 Konzerte zwischen 17 und 23 Uhr, morgen 6 Konzerte zwischen 16 und 22 Uhr. Ballhaus Naunynstr. 27
Frank Hilberg
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Prostitution vor Gericht: Kein Job wie jeder andere - taz.de
Prostitution vor Gericht: Kein Job wie jeder andere Das Berliner Sozialgericht gibt einer Klägerin Recht, die gegen das Jobcenter klagte. Weil niemandem Sexarbeit zugemutet werden könne. Arbeit auf dem Straßenstrich – kein Job wie jeder andere Foto: picture alliance/dpa/Boris Roessler BERLIN taz | Die Arbeit als Prostituierte ist grundsätzlich unzumutbar, und der Staat darf diese Arbeit von niemandem verlangen. Das hat das Berliner Sozialgericht nun klargestellt. Es gibt damit einer Klägerin recht, die in Berlin als selbstständige Pros­ti­tuier­te gearbeitet hatte. Sie war gegen das Jobcenter vorgegangen, weil es ihr Leistungen nicht weiter bewilligt hatte. Das Jobcenter hatte den Stopp damit begründet, dass die Klägerin „bewusst und freiwillig“ in die Arbeitslosigkeit gegangen sei. Leistungen könne das Jobcenter aber nur bewilligen, wenn jemand unfreiwillig arbeitslos werde. Die 32-jährige Klägerin war nach Angaben des Gerichts 2014 aus Bulgarien nach Deutschland gekommen und hatte bis 2019 auf dem Berliner Straßenstrich gearbeitet. Wegen ihrer zweiten Schwangerschaft habe sie ihre Tätigkeit „für sich als nicht mehr zumutbar“ empfunden, wie es in der Mitteilung des Gerichts zu dem Fall heißt. Im September 2020 hatte das Jobcenter dann alle Leistungen eingestellt und argumentiert, sie habe ihre Arbeitslosigkeit schließlich selbst verschuldet. Das Gericht sah dies anders: In seinem Urteil von Mitte Juni betont es, dass die Arbeitslosigkeit durchaus unfreiwillig eingetreten sei, denn es „könne objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren“ (S 134 AS 8396/20). Das Gericht verdeutlichte aber auch, dass Prostitution nicht nur unter bestimmten Bedingungen unzumutbar ist. Der Staat könne von niemandem verlangen, diese Arbeit auszuüben Auch generell „sei die willentliche Beendigung“ der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Sexuelle Dienstleistungen zu erbringen, „berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise“, begründete das Gericht seine Entscheidung. Der Staat könne von niemandem verlangen, diese Arbeit auszuüben – auch wenn die betreffende Person diese Arbeit in der Vergangenheit ausgeführt und „zeitweise ertragen habe“. Kern der Urteilsbegründung ist damit das Argument, dass Prostitution eben „kein Job wie jeder andere“ ist. Ist dieses Urteil damit geeignet, ein Sexkaufverbot nach dem sogenannten nordischen Modell zu begründen? Schließlich betonen dessen Be­für­wor­te­r*in­nen ebenfalls, dass Prostitution keine Arbeit im landläufigen Sinn sei. Be­für­wor­te­r*in­nen von selbstbestimmter Prostitution und Sexarbeit hingegen sprechen sich für eine Enttabuisierung aus und wollen ihre Arbeit normalisieren. Doch auch aus dieser Sicht ist Sexarbeit kein Beruf, der mit jedem anderen Beruf vergleichbar ist. Es sei verständlich, wenn sich jemand in einer Schwangerschaft umorientiere. Nicht alle Tätigkeiten in dieser Branche seien in allen Lebensphasen und Lebenslagen auszuüben, heißt es etwa vom Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen. Dahinter, dass das Jobcenter die Leistungen zunächst verweigert hat, könnte auch etwas anderes stecken. Denn es fällt auf, dass besonders EU-Ausländer oft Pro­ble­me haben, ihre Ansprüche durchzusetzen – die sie durchaus haben, wenn sie erwerbstätig waren. Auch hier bräuchte es noch mehr Klarheit.
Uta Schleiermacher
Das Berliner Sozialgericht gibt einer Klägerin Recht, die gegen das Jobcenter klagte. Weil niemandem Sexarbeit zugemutet werden könne.
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Endzeitvision mit schlappem Messianismus - taz.de
Endzeitvision mit schlappem Messianismus ■ Wie sieht ein Prä-Millenniumsfilm im Jahr 2001 aus? „Matrix“ im 3001 Lustig war es schon, damals im Sommer 1999. Faltige Auguren schürten die Millenniums-Panik, während wir nägelkauend auf den großen Crash warteten. Im Kino hatten derweil Weltuntergänge Hochkonjunktur, und was die diversen Kometen übrig ließen, wurde schließlich von Matrix in Grund und Boden digitalisiert. Mit ihrer schmucken Endzeitvision lieferten die Gebrüder Wachowski den Armageddon du jour; ein Paradebeispiel für die Kunst, mit viel Aufwand einfache Antworten zu geben. Und mit dem werbetauglichen y2k-Hype im Rücken wollten alle sehen, wie hier die große virtuelle Verschwörung ins analoge Medium Kino übersetzt wird. Thomas Anderson alias Neo (Keanu Reeves) lebt in einer postindustriellen Metropole am Ende des 20. Jahrhunderts. Das glaubt er zumindest, bis er bei seinen illegalen Datenraubzügen auf den sagen-umwobenen Morpheus (Laurence Fishburne) trifft. Der erklärt Neo die Welt, wie sie wirklich ist: Eine atomare Wüste, in der Menschen in Brutkästen gehalten werden und als Energiespender für eine künstliche Intelligenz dienen. Die Herrschaft der Maschinen wird durch eine dreidimensionale Computersimulation globalen Ausmaßes – die Matrix – gesichert. In dieser fristet die ahnungslose Menschheit ihr vorprogrammiertes Dasein und wartet auf nichts Geringeres als Erlösung. Die kommt, so will es die Prophezeiung, durch Neo, der sich der Widerstandsgruppe um Morpheus und Trinity (Carrie-Anne Moss) anschließt, um als schwerbewaffneter Heiland den Cyber-space zu missionieren. Bar jeden Humors buchstabiert der Film sein überdeterminiertes ABC – Apokalypse, Baudrillard, Christus –, während sich die Protagonisten von einer spektakulären Kampfsequenz zur nächsten morphen. Als messianische Erlösungsgeschichte ohne jegliche Brechung kolportiert Matrix fernöstliche Philosophie, Zeitgeist und eine allzu bekannte Verfallsästhetik, die in grünstichigen Abbruch-Bildern zelebriert wird: das marode global village durch die Becks-Flasche gesehen. So dominiert statt des ständig postulierten Bruchs mit Sehgewohnheiten ein konventioneller Nihilismus-Chic, weshalb die Guerilla im Cyberspace auch schwarzen Designerzwirn trägt, in der harten Realität jedoch in groben Strickwaren vor sich hin menschelt. Wem es aber gelingt, die Hybris des Sichtbarmachens sowie die absurde Ernsthaftigkeit zu ignorieren, der kann das Ganze recht amüsiert zur Kenntnis nehmen. Schließlich ist der Weg von Platons Höhlengleichnis zu Tomb Raider gar nicht so weit, und als anämischer Bruder von Lara Croft taugt Keanu Reeves immerhin als role model für frus-trierte New Media-Knechte: statt mit Milchkaffee den Selbsthass zu ersäufen, einfach mal der Maschine vor den Latz ballern. David Kleingers heute bis Mi, 7.3., 22.30 Uhr + 8. - 14.3., 15.30 Uhr (am 11.3., 15.15 Uhr), 3001
David Kleingers
■ Wie sieht ein Prä-Millenniumsfilm im Jahr 2001 aus? „Matrix“ im 3001
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Sensation Intimität - taz.de
Sensation Intimität Fließende Übergänge zwischen Dokumentation, Observation, Voyeurismus und Denunziation: Die Videoausstellung „Private Affairs“, die Angelika Richter im Kunst Haus Dresden eingerichtet hat Aus dem Einzelschicksal formt sich die Erinnerung an ein weltpolitisches Geschehen von SUSANNE ALTMANN Das Private hat sich ganz knapp unter der Haut verschanzt. Von dieser letzten Bastion sendet es unheimliche, pulsierende Signale an eine Außenwelt, in der das Intime selbstverständlicher Gegenstand von Unterhaltung, aber auch Überwachung geworden ist. In ihrem kurzen Film „When are we there“ inszeniert sich Maria Marshall als reglose Heldin in einem verlassenen Umfeld. Hautnah im Wortsinn sucht die Kamera den Körper ab und findet jene unerklärlichen Zuckungen, die von den Füßen bis hin zur Stirn auf obskure physische und psychische Vorgänge verweisen. Erklärungen für diese beunruhigenden Morphings werden nicht gegeben. Es handelt sich ganz deutlich um „private affairs“ der Protagonistin, und mit diesem Statement beginnt auch die gleichnamige Videoausstellung, die Angelika Richter für das Kunst Haus Dresden zusammengestellt hat. Im Radius von Surveillancekameras und Live-Soaps ist das Private zunehmend zur Floskel und zum Garant für kurzlebige Spektakel geworden. Und wenn sich die Ausstellung betont von „sensationellen Ereignissen oder glamourösen Skandalen“ abgekehrt gibt, so bleibt auch sie Komplizin der allgegenwärtigen Symptomatik von Entblößungen jeglicher Art. Lediglich Maria Marshalls Arbeit thematisiert eine kritische Verweigerung von Auskunft; eigentlich eher untypisch für die Arbeit der Britin, die bislang familiäre Problemzonen untersuchte, zusammen mit ihren beiden jungen Söhnen als Darstellern. Dieses Feld der „family affairs“ bestellen im Rahmen von „Private Affairs“ nun andere KünstlerInnen. Und als einer der üblichen Verdächtigen darf Richard Billingham da nicht fehlen. Die dokumentarische Begegnung mit seiner Familie erfüllt denn auch alle Erwartungen, die seit „Sensation!“ an Billinghams privat-öffentliche Ikonografie gestellt werden dürfen. Mit dem Wiedererkennungswert von alten Bekannten taucht in dem 40-minütigen Streifen „Fishtank“ die desolate Familie des Engländers auf und geht ihren sowohl trostlosen als auch komischen Verrichtungen nach. Der provokative Zauber der Fotoarbeiten, mit denen Billingham einst die Kunstwelt konfrontierte, scheint freilich abgenutzt. Zwar zeigt auch „Fishtank“ in programmatischer Kunstlosigkeit Daddy B. halb delirierend neben dem Klobecken, die schwergewichtige Mum und den drogenabhängigen Bruder. Doch anders als die Fotografien legen die erbarmungslosen Großaufnahmen mitsamt Originalton dann doch den Gedanken an Denunziation nahe. Andererseits mag es mittlerweile gerade die Dokumentation ihres Lebens sein, die die Billinghams am Existieren hält. Zum unmittelbaren Vergleich verführt da Laura Bruces komplexe Videoinstallation „Slow the Gallop“. Auch die Amerikanerin untersucht und exponiert ihr eigenes familiäres Milieu. Allerdings hat Bruce im Gegensatz zu Billingham eine wohl situierte, bürgerliche Herkunft zu bieten. So wird bei ihr die Vorstadtküche oder die spießige Hausbar zur Bühne; spielen Vater, Mutter und Tante Dot dort ihre Parts. Essen, Trinken, Rauchen sind strukturgebende Rituale des sozialen Zusammenhalts und dienen zugleich als Folie für existenziellere Einsichten. Vom Band nämlich ertönt die Stimme der längst verstorbenen Großmutter und plötzlich singt Bruces Vater mit jener Stimme aus dem Jenseits im Duett. Vom oberflächlichen Geplänkel schlägt die Stimmung unversehens in eine beklemmende Metapher von der rasch dahingaloppierenden Lebenszeit um. „Slow the Gallop“ hält dieses Rasen mit filmischen Miniaturen kurz an und bezieht mit fünf simultanen, raumgreifenden Projektionen die Besucher in die Intimität dieser „family affairs“ ein. Eine Familienangelegenheit mit gleichsam historischen Dimensionen visualisiert Angela Melitopoulos mit ihrer Montage „Passing Drama“. Diese experimentelle Dokumentation zeichnet die Biografie von Melitopoulos’ Vater nach, der vor 80 Jahren als griechischer Flüchtling nach Österreich kam. Aus dem Einzelschicksal formt sich die Erinnerung an ein weltpolitisches Geschehen, an die so genannte Kleinasienkrise von 1922. Die Griechin trägt ihr Anliegen mosaikartig, häufig in Schwarzweiß und dabei nur mit sparsamsten Zugeständnissen an ein Narrativ und an Sehgewohnheiten vor. In ähnlich collagierendem Prinzip, mit Überblendungen und ätherischen Farbspielen, legt Matthias Müller seine Elegie „Pensão Globo“ an. Diese kurze Filmerzählung begleitet einen aidsinfizierten Mann auf seiner vielleicht letzten Reise nach Lissabon. Müller schreckt weder vor viel strapazierten Symbolen wie Blut- und Rotweintropfen noch vor klassischen Tadzio-Zitaten zurück. Doch nur so gelingt es, den „Tod in Lissabon“, also die Perspektive des leidenden Individuums überzeugend zu kommunizieren. Entscheidend für Müllers wie auch für Melitopoulos’ Beiträge ist der ernsthaft vorgetragene Wille zur Transzendenz des Privaten, zur Öffnung hin zur Metaebene der „Public Affairs“. Um derlei Universalien scheint sich Wang Jianwei nicht im Geringsten zu scheren. Er lebte für ein Jahr mit chinesischen Bauernfamilien unter höchst ärmlichen Bedingungen und verließ damit die sichere Position des kurzzeitigen Beobachters, um die Situation seiner Protagonisten zur eigenen Privatangelegenheit zu machen. Detailgenau, mit Witz und Unbehagen schildert „Living Elsewhere“ nun den Überlebenskampf am Rande der Großstadt Chengdu. Eine derart interne Perspektive bietet auch Katarzyna Kozyras Filminstallation „Bath House“ an. Mit versteckten Kameras beobachtete die Polin Frauen aller Altersgruppen in einem öffentlichen Badehaus in Budapest. Von kunsthistorischen Referenzen zu Ingres, Degas & Co. einmal abgesehen, provoziert „Bath House“ mit Bildern des ungeschönten Frauenkörpers. Der welkende Leib ist eine sorglich gehütete Privatsache. Genau dafür sensibilisiert Kozyras Reigen der Lebensalter, gewiss. Gleichzeitig aber exponiert die Künstlerin erbarmungslos ebendiese Privatsache und stellt ihre künstlerische Freiheit über das Schamgefühl ihrer – immerhin – anonymen Akteurinnen. Hier ist die eigene Haut und die Verfügung darüber das Allerintimste, und hier erweist sich die Ambivalenz der Ausstellung „Private Affairs“: Denn die fließenden Übergänge zwischen Dokumentation, Observation, Voyeurismus, Denunziation scheinen nur Stilmittel. Bis 14. 4. im Kunst Haus Dresden, www.kunst-haus-dresden.de
SUSANNE ALTMANN
Fließende Übergänge zwischen Dokumentation, Observation, Voyeurismus und Denunziation: Die Videoausstellung „Private Affairs“, die Angelika Richter im Kunst Haus Dresden eingerichtet hat
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Moldavien: „Die Demokratie ist auf der Strecke geblieben“ - taz.de
Moldavien: „Die Demokratie ist auf der Strecke geblieben“ ■ Wladimir Solonar ist Abgeordneter der ukrainischen Minderheit im moldavischen Parlament, Alexej Heistwer hat die moldavische Volksfront mitgegründet und ist Mitglied der antistalinistischen Gruppe „Memorial“, Nikolai Babilunga, Historiker, arbeitet ebenfalls bei Memorial mit. taz: In der Moldau-Republik, so scheint es, schlagen die Völker wieder aufeinander ein. Dabei haben Sie doch erst vor kurzem den Stalinismus abgeschüttelt und wollten die Demokratisierung. Wie kommt das denn? Wladimir Solonar: Im Mai und im Juni dieses Jahres ist die moldauische Volksfront zur führenden politischen Kraft in unserer Republik aufgestiegen und hat die Macht übernommen. Das brachte eine Umwälzung der politischen Landschaft mit sich. Indem die Volksfront die Macht übernommen hat, sind die (rumänischen) Moldavier wieder zur Mehrheit im eigenen Land geworden. Sie haben eine völlig neue offizielle Ideologie entwickelt. Meiner Meinung nach wurde nur der alte Staatsterrorismus durch einen neuen ersetzt. Denn es ist ein radikal nationalistisches System geworden. Premierminister Mircea hat z.B. im 'Drug‘ geäußert, daß es eine Ehre für Nicht-Moldavier sei, in der Republik leben zu können. Stellen Sie sich vor, immerhin sind 35 Prozent der Bevölkerung Minoritäten wie Gagausen, Juden, Russen, Ukrainer und andere. Es ist ein Regime, das mit Gewalt und Einschüchterung die Macht ausübt. Als z.B. der Oberste Sowjet der Republik gebildet wurde, wurden Abgeordnete verprügelt, wenn sie nicht den vorherrschenden Meinungen folgten. Und das passiert immer noch. Ich beschuldige die Führung der Republik, Verbindungen mit Hooligans und Kriminellen zu unterhalten, die gegen politische Opponenten eingesetzt werden. Auch die Zivilbevölkerung wird terrorisiert. Am 14. Mai wurde ein russischer Junge totgeschlagen, nur weil er Russisch auf der Straße sprach. Die Mörder waren festgenommen aber gleich wieder freigelassen worden. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen. Büros von russischen oppositionellen Zeitungen wurden zerstört und eine von ihnen zugemacht. Wieder war niemand schuld. Wie konnte es denn überhaupt zu einer solchen Situation kommen? Alexej Heistwer: Nach dem 19. Parteikongreß Anfang 1988 haben wir verstanden, daß der Prozeß der Perestroika so nicht mehr weiter geht und wir selbst gezwungen sind, zu handeln. In den ersten Monaten waren noch alle demokratischen Gruppen zusammen. Doch schon einige Monate später dominierten die Differenzen zwischen den Nationalitäten. Die rumänischen Nationalisten in der Volksfront machten Front gegen die anderen Nationalitäten. Ich vermute, daß dies auch im Zusammenhang der Politik der Nomenklatura stand, die ihre Privilegien verteidigen wollte. Aber die Moldauische Volksfront hat doch die demokratischen Wahlen gewonnen?! Solonar: So einfach ist das nicht. Die Rumänen in der Moldau-Republik machen 65 Prozent der Bevölkerung aus, aber die Volksfront hat nur ein Drittel aller Stimmen auf sich ziehen können. Ein anderer beträchtlicher Anteil fiel auf die unter neuen Namen auftretenen alten Apparatschicks. Ungefähr ein Drittel der Stimmen konnten die unterschiedlichen Gruppen aus den Minderheiten gewinnen, so die Gagausen und die Gruppe „Einheit“, aber auch die Vertreter des überwiegend russischen „Vereinigten Rats der Arbeiterkollektive“ gehört zu dieser Gruppe. Fortan wurden die Nationalisten der Volksfront von den Apparatschiks unterstützt. Mehrheit ist Mehrheit. Aber konnten Sie ihre Vorstellungen vorbringen und in die Gesetzgebung einbringen? Solonar: Ich bin ein Abgeordneter und es ist fast unmöglich für mich, Probleme im Parlament zu diskutieren. Die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion stimmen nur ab, diskutieren aber nicht. Die offizielle Sprache wurde geändert, statt Russisch wird nun Rumänisch als offizielle Sprache anerkannt. Das ist lediglich eine Umkehrung der vorausgegangenen Verhältnisse. Aus den Betrieben und Verwaltungen werden immer mehr entlassen, die Russisch als Muttersprache haben. Vor zwei Wochen wurden Notstandsbestimmungen für das Gebiet der Gagausen erlassen. Dieses Gesetz war sehr ausführlich auf neun Seiten ausgeführt. Aber im Parlament wurde nur 15 oder 20 Minuten darüber gesprochen. Einige Abgeordnete der Mehrheitsfraktion kamen anschließend zu mir und sagten, sie hätten Angst gehabt, dagegen zu stimmen. Ich habe den Eindruck, sie wurden unter Druck gesetzt. Ich versuchte, gegen diese Prozedur aufzutreten, wurde aber mit der Bemerkung „Halt' die Klappe“ zurechtgewiesen. Nicolai Babalunga: Die Regierung der Moldau-Republik hat die demokratischen Wahlen im Gebiet der Gagausen als eine Bedrohung der Integrität des Staates bezeichnet. Die Gagausen haben die Wahlen durchführen wollen, weil sie keinen anderen Weg sahen, um ihre nationalen Rechte geltend zu machen. Ich unterstütze zwar keinen unabhängigen Gagausen-Staat, der wäre sowieso nicht lebensfähig, aber er ist der einzige Weg, um den nationalistischen Druck in Grenzen zu halten. Wir sind auf dem Weg zu einem Bürgerkrieg. Das stalinistische System wurde in eine nationalistische Herrschaft überführt. Die Demokratie ist auf der Strecke geblieben. Die Bevölkerung fängt an, ihren Feind nicht in dem alten System zu sehen, sondern in anderen Nationalitäten. Es wird zu einem Punkt kommen, daß viele Leute sagen, „genug jetzt, wir wollen Gesetz und Ordnung“. Es wird dann eine Diktatur geben, die von der Gesellschaft als positiv angesehen wird. Es gibt zwei mögliche Lösungen, eine neostalinsitische Diktatur in der ganzen Sowjetunion, oder ein Auseinanderfallen der Sowjetunion in von Diktaturen beherrschte Teile. Interview: Paul Hockenos/ Erich Rathfelder
p. hockenos/e. rathfelder
■ Wladimir Solonar ist Abgeordneter der ukrainischen Minderheit im moldavischen Parlament, Alexej Heistwer hat die moldavische Volksfront mitgegründet und ist Mitglied der antistalinistischen Gruppe „Memorial“, Nikolai Babilunga, Historiker, arbeitet ebenfalls bei Memorial mit.
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Kolumne Berliner Galerien: Wer weiß, wo wir sind? - taz.de
Kolumne Berliner Galerien: Wer weiß, wo wir sind? Kolumnistin Beate Scheder empfiehlt Videorbeiten von D. N. Rodowick und das Project Space Festival. Selda Asal von Apartment Project im Interview. Der DISPLAY Projektraum zeigt am 5. 8. Videoarbeiten. Standbild aus der Videoarbeit „Classified Digits“ von Christine Sun Kim and Thomas Mader, 2016 Foto: Christine Sun Kim and Thomas Mader Vom Sehen und Gesehen-werden handeln die Videoarbeiten von D. N. Rodowick, mit denen die Galerie Campagne Première aufwartet. „The Wanderers“ ist die Gegenüberstellung von zwei Filmklassikern aus den 1950er Jahren: Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“ (1954) und Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958). Rodowick, eigentlich Filmtheoretiker, Kritiker und Kurator, hat aus beiden Filmen alle männlichen Charaktere und so manche Szene herausgeschnitten und sie auf stumm gestellt. Zurück blieben zwei Frauen in Großaufnahme: Ingrid Bergman in der Rolle der Katherine Joyce, wie sie durch Neapel fährt, die Stadt, antike Statuen und den Vesuv bestaunt; Kim Novak als Unternehmergattin Madeleine Elster beziehungsweise Verkäuferin Judy Barton, observiert von Expolizist Scottie Ferguson, wie sie im Wahn durch Kalifornien kurvt. Die eine betrachtet, die andere wird betrachtet. Zeit + OrtBis 30. 9., Di.–Sa., 11–18 Uhr,Chausseestr. 116 Eine dritte Arbeit schaltet noch weiter reduzierte Fassungen fast parallel, in einer vierten sind die Szenen zu einem Video zusammengeschnitten. Immer stärker treten so die Details hervor und die Filme quasi in einen Dialog mit dem prägnanten Motiv des sich durch die Straßen schlängelnden Autos als verbindendes Element. Gemeinsam Leben im Nebel Der Name des ein Jahr andauernden Projekts von Apartment Project hingegen passt zu den undurchsichtigen Verhältnissen unserer Zeit, in der Türkei, aber nicht nur: „Mist“, also Nebel heißt es. Künstler_innen aus Istanbul, Izmir und Mardin wohnen und arbeiten dabei gemeinsam in dem Neuköllner Raum, einer ursprünglich aus Istanbul stammenden Künstlerinitiative, gegründet von Selda Asal. „Wer weiß, wo wir sind?“, lautet die Leitfrage von Mist, der sich die Künstler_innen filmisch, performativ, mit dem Magazin „Sis“ und in Gesprächen und Diskussionen widmen. Apartment Project stellte sich als erster Projektraum beim diesjährigen Project Space Festival vor, mit Arbeiten aus dem ersten Monat von Mist und einer Lecture-Performance von Merve Ünsal zur Macht der Bilder. Das Festival + Der ProjektraumBis 31. 8., Programm: www.projectspacefestival-berlin.comApartment Project: Do.–Fr. 15–19 Uhr, Hertzbergstr. 13 Jeden Tag im August, wenn Galerien klassischerweise Sommerpause machen, ist beim Project Space Festival ein anderer der nichtkommerziellen Räume an der Reihe, die in der Berliner Kunstszene für Vielfalt sorgen. Neu sind in diesem Jahr nicht nur die Kuratoren – Marie-José Ourtilane und Heiko Pfreundt – erstmals werden auch vier überregionale Projekträume vorgestellt, die nomadisch Quartier in Berlin beziehen. Die taz sprach mit Selda Asal von Apartment Project. Welche Ausstellung in Berlin hat dich zuletzt an- oder auch aufgeregt? Und warum? Clemens von Wedemeyers Installation im n.b.k. Ich sah seine Arbeiten zum ersten Mal auf der dOKUMENTA (13). Hier hat er wieder historisches Material aus verschiedenen Perioden mit sozialpolitischen Beobachtungen kombiniert. Ausgangspunkt der Ausstellung ist das Filmmaterial eines Amateurkameramanns aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrkanalinstallation ist auf nichtlineare Weise anhand historischer Referenzen aufgebaut. Zum Beispiel schließt eine Computerspielkonstruktion das ein, was die Kamera nicht zeigt. Welches Konzert oder welchen Klub kannst du empfehlen? Ich interessiere mich für elektronische, Ambient- und experimentelle Musik und verfolge das Programm von Berghain, HKW, Radialsystem und der CTM. Kürzlich war ich bei Klara Lewis im Berghain, eine junge schwedische Musikerin, die puren Sound mit verschiedenen Texturen kombiniert. So erzeugt sie mithilfe sehr einfacher Töne und Akustiken digitale Verzerrungen. Welche Zeitung/welches Buch begleitet dich durch den Alltag? Ein paar türkische Onlinemagazine wie T24 oder Diken, außerdem e-flux journal, BBC Newsund The Guardian. Was ist dein nächstes Projekt? Im Interview: Selda AsalSelda Asal ist in Izmir geboren und hat Musikwissenschaft und Kunst studiert. 1999 gründete sie in Istanbul Apartman Projesi/Apartment Project als eine der ersten unabhängigen Künstlerinitiativen. 2012 zog Apartment Project nach Berlin. Der Neuköllner Projektraum, der sich als Plattform der Kollaboration interdisziplinärer Künstler und Forscher versteht, ist Teil des diesjährigen Project Space Festivals. Asal ist Videokünstlerin und lebt in Berlin. Wir haben gerade die erste Phase des einjährigen Projekts Mist bei Apartment Project beendet. Künstler aus Istanbul, Izmir und Mardin haben einen Monat lang zusammengelebt und -gearbeitet. Mit dem Ziel geringer Sichtbarkeit und hoher Präsenz überdenken die Künstler Positionen, Aktionen und Präsenz als Reaktion auf den sich beschleunigenden trans-geografischen Ausnahmezustand. Im November werden sie sich in der Türkei zu einer weiteren intensiven Arbeitsperiode treffen. Im Mai gipfelt all das in einer Ausstellung in Istanbul. Wir arbeiten parallel an anderen Projekten, die bald angekündigt werden. Welcher Gegenstand/welches Ereignis des Alltags macht dir am meisten Freude? Mein Klavier und meine Kamera. Leider habe ich noch kein Klavier in Berlin. Dafür macht mir mein Fahrrad viel Freude. Text und Interview erscheinen im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
Beate Scheder
Kolumnistin Beate Scheder empfiehlt Videorbeiten von D. N. Rodowick und das Project Space Festival. Selda Asal von Apartment Project im Interview.
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Vom Tacheles über Tallin nach Tokio - taz.de
Vom Tacheles über Tallin nach Tokio »Utopien leben«: Die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren lädt nach Berlin zum interkulturellen Kongreß der Alternativzentren ein  ■ Von Ute Scheub Berlin. Ganz Germanien ist von Zukunftsängsten besetzt, die Utopien sind abgeschafft. Ganz Germanien? Nein. Ein Hort der Unbeugsamen trotzt der Realpolitik und lädt zum Kongreß »Utopien leben« vom 8. bis 11. Oktober im Karlshorster »Come-In« ein. Veranstalter sind neben dem Ostberliner »Förderband e.V.« die »Bundesvereinigung soziokultureller Zentren«, die seit 1979 als bundesweite Interessenvertretung von mittlerweile fast 200 alternativen und selbstverwalteten Zentren vom Nürnberger »KOMM« bis zum Berliner »Tacheles« besteht. Man wolle einen »Kontrapunkt zum großen Jammern und zur Perspektivlosigkeit« setzen, verkündet selbstbewußt Andreas Bomheuer von der Essener Geschäftssteller der »Bundesvereinigung«. Das Programm hört sich durchaus interessant an. Kleiner Auszug: Dr. Dr. Rolf Schwendter aus Kassel — unvergessen sein schallendes »Wir sind noch immer unbefriiiiedigt«, das er bei einem Kongreß Ende der 70er im Rhythmus der Stones auf einen Kochtopf hämmerte — wird seine Gedanken über »Utopieverlust« referieren. Vertreter aus Brüssel, Palermo, Tallin und Warschau diskutieren über die kulturellen Unterschiede in Europa. Der bulgarische Journalist Rossen Milev reflektiert darüber, ob der europäische Regionalismus, auf den sich auch die Alternativbewegung positiv bezieht, die neuen Nationalismen gestärkt hat. Kazuaki Tani aus Tokio, Oleg Tabakov aus Moskau und der Kameruner Benjamin Leunmi beschreiben ihre Wahrnehmung der europäischen Kultur. Aber: Sind das etwa schon die »gelebten Utopien?« Ist das der Hort der Unbeugsamen? Wie freizügig die nunmehr 15 Jahre bestehende Alternativszene mit dem einst so verhaßten System herumschmust, zeigt schon der Kongreßbeginn mit zwei Geleitworten des Berliner Kultursenators (persönlich anwesend) und des Bundesinnenministers (leider verhindert). Aber wir sind ja nicht so, denn wir wissen: Es geht um unser aller Arbeitsplätze. Schon 1986 arbeiteten bundesweit rund 6.000 Menschen in soziokulturellen Zentren, davon allerdings 65 Prozent ehrenamtlich und ganze 5,5 Prozent auf einer festen Stelle. Damals hatten sie pro Jahr sieben Millionen BesucherInnen zu betreuen, inzwischen, glaubt Regina Nickel als Vorständlerin der »Bundesvereinigung«, sind es 12 bis 15 Millionen. Allein in Berlin, schätzt Matthias Büchner vom »Förderband«, säßen an die 6.000 Leute auf ABM-Stellen im Bereich Kultur-, Umwelt- und Sozialarbeit. Noch einmal so viele seien in diesem Umfeld ehrenamtlich tätig. Doch die Projekteszene, gerade im Osten für viele der einzige Hoffnungsschimmer über dem Meer der Arbeitslosigkeit, sei im nächsten Jahr durch die explodierenden Mietpreise und die Kürzung der Sachmittel des Programms »Aufschwung Ost« aufs existentiellste bedroht. Der von »Förderband« vor kurzem mitgegründete »Interessen Verband Kultur« verlangt deshalb in einem Brief an das Abgeordnetenhaus die »mittelfristige Absicherung« von wenigstens 1.500 dieser Stellen und die Schaffung eines »Fonds für Soziokultur«, in den 0,5 Prozent der Mittel aus allen Senatsverwaltungen einfließen sollen. Feste Arbeitsplätze — sind das die Utopien von heute? »Utopien leben«, 8. bis 11.10. im »Come-In«, Rudower Chaussee 16-25, Adlershof. Programm erhältlich bei »Förderband«, Tel. 2818126.
ute scheub
»Utopien leben«: Die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren lädt nach Berlin zum interkulturellen Kongreß der Alternativzentren ein  ■ Von Ute Scheub
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FREIWILLIG: Übungen mit Journalisten - taz.de
FREIWILLIG: Übungen mit Journalisten UNTER FANS Noch haben die Helfer kaum Gelegenheit, Ausländern zu helfen. Die haben sich gut auf die Ukraine vorbereitet An meinem ersten Arbeitstag habe ich nicht einen einzigen ausländischen Gast geholfen. Dabei hätte ich so gerne an der Massenhysterie, „das Image der Ukraine zu verbessern“, teilgenommen. Mein Arbeitsplatz befindet sich neben einer gewöhnlichen Kiewer Verkehrsampel. Ich habe den Eindruck, dass sich die Ausländer sehr sorgfältig auf diesen Besuch vorbereitet haben – in einem Land, über dessen Unkultiviertheit die Medien in Europa so viel berichtet haben. Alle, die ich getroffen und als Ausländer identifiziert habe, haben eigene Stadtpläne, Fahrpläne der öffentlichen Transportmittel sowie einen russischen Sprachführer. Solange auf den Straßen wenig Ausländer zu sehen sind, müssen die Freiwilligen mit einheimischen Journalisten üben. Denen gefällt es, in die Rolle von Ausländern zu schlüpfen und die Englischkenntnisse, Allgemeinbildung sowie die Toleranzschwelle der Helfer zu überprüfen. Wenn ein Journalist einen richtigen Ausländer trifft, werden dessen Foto und die Eindrücke von der Ukraine sofort im Internet veröffentlicht. Nachdem ich das gelesen habe, kann ich mit den Fans schon ganz vertraut sprechen. VIKTORIA BILASCH Die 23-Jährige ist Lingustikstudentin in Kiew und bei der EM als Volunteer tätig
VIKTORIA BILASCH
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Berliner Szene vor dem Frauenkampftag: Notwendiges Räumeschaffen - taz.de
Berliner Szene vor dem Frauenkampftag: Notwendiges Räumeschaffen Feministische Gruppen gibt es viele. Nur sind sie oft homogen. Wie arbeiten Weiße, Schwarze, Queere und Behinderte zusammen? Eine Exkursion. Entweder oder? Identität kennt das nicht Foto: Xuehka BERLIN taz | Es ist kurz vor acht Uhr – früh für Berlin-Neukölln an einem Samstagabend. Bald werden größere und kleinere Gruppen aus der ganzen Stadt die Weserstraße hochziehen. In die Kneipen, kleinen Clubs und Spätis, die sich nebeneinander aufreihen. Das Silverfuture füllt sich langsam. Neben der Bar hängt ein Schild: Ich liebe meine Vagina, Audrey Hepburn trägt auf dem Poster an der pinken Wand einen Bart. Die Klos des Silverfuture sind nicht nach Geschlecht, sondern Funktion getrennt. Eine Berliner Szenekneipe, könnte man sagen. Queer, links. Friederike Benda setzt sich zu den anderen Frauen. Sie hat eben ein Plakat im Klo aufgehängt: „Frauen*kampftag 2017“. Das Logo ist noch das gleiche wie bei der ersten Demo vor drei Jahren. Auch die hat Friederike Benda mitorganisiert. Benda und die anderen fünf Frauen sind auf Kneipentour für das Frauen*kampftag-Bündnis. Sie bestücken die Szenekneipen im Kiez mit Stickern und Plakaten. „Ich frage mich, ob es wirklich möglich ist, 100-prozentig inklusiv zu sein“, sagt Katrin Wagner. Die zweite Runde Getränke steht auf dem Tisch, Wagner und Benda diskutieren über die Zusammensetzung des Bündnisses. „Wir werden immer die ‚weiße Mittelschichtsdemo‘ genannt“, sagt Wagner. Sie kann den Vorwurf nicht verstehen: „Wenn man das so sagt, dann werden alle Nichtweißen in der Grünen Jugend oder bei den Jusos weiß gemacht“. – „Das Bündnis ist weiß dominiert“, entgegnet Benda. „So viel Selbstkritik muss schon sein.“ Die kurdische Frauengruppe Destan etwa rief bisher gemeinsam mit dem Bündnis zur Demo am 8. März auf. In diesem Jahr aber machen sie ihre eigene Demo mit den Frauen von Women in Exile und dem International Women’s Space. In Kreuzberg sollen sich dann alle zur gemeinsamen Abschlusskundgebung treffen. Zumindest am Ende soll nach außen klar sein: Wir sind viele. Streitthema Prostitution Auch nach innen spielt Vielfalt durchaus eine Rolle: Junge Frauen arbeiten mit 70er-Jahre-Feminist_innen zusammen, die ihre Mütter oder Großmütter sein könnten. Das endet immer wieder in Spannungen und Streit. Mal spricht man aneinander vorbei, weil man sich in verschiedenen Diskursen bewegt – mal ist man aber auch fundamental anderer Meinung. Eines der größten Spaltungsthemen ist Prostitution: Die beiden Sexarbeiter_innen im Bündnis müssen sich immer wieder gegen die Prostitutionsgegner_innen behaupten. „Die älteren Frauen im Bündnis fordern oft Haltung ein“, sagt Benda. Wer Erfahrung in Parteiarbeit hat, kann sich oft besser durchsetzen. „Vielleicht“, heißt es irgendwann im Laufe des Kneipenabends, „müssen wir über Barrierefreiheit sprechen, wenn wir Diversität wollen.“ Frauen*tazRechtspopulisten wollen uns einheitlich und schwach: als deutsche, heterosexuelle Frau und Mutter. Wir halten dagegen: Wir sind People of Color, muslimisch, migrantisch. Wir sind hetero, queer, divers. Wir sind viele. Und wir sind stark.Lesen Sie am 8. März 11 Sonderseiten der taz zum Internationalen Frauen*tag. Mit Texten u.a. von und mit: Christa Wichterich, Hengameh Yaghoobifarah, Amina Yousaf, Judy Gummich. Die Zahl politischer Gruppen in Berlin ist groß. Feminist_innen verbünden, beraten, vernetzen sich in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Doch die Gruppen selbst sind sehr homogen: Frauen mit den gleichen oder ähnlichen Erfahrungen und Biografien schließen sich zusammen. Kann es eine gemeinsame diverse Frauenbewegung überhaupt geben? Drei Tage später. Ein Gespräch über das Räumeschaffen: Peimaneh Yaghoobifarah hat nichts mit dem Bündnis zu tun. Auch nicht mit Parteien, zumindest nicht mehr. Als Schülerin in Buchholz war sie mal bei der Linksjugend Solid. Die Gruppe hat sich sonntags getroffen, rumgehangen. Es ging um Marx und Adorno. „Ich habe mich davon ziemlich eingeschüchtert gefühlt“, sagt Yaghoobifarah. „Jemand, der das alles nicht gelesen hat, konnte gar nicht mitreden. Solid und auch Antifa-Kontexte sind oft dominiert von weißen Typen, die keinen Raum schaffen, wo sich alle Leute wohlfühlen.“ Nicht so richtig Platz Auch in der Berliner queeren Szene gibt es für Yaghoobifarah als Person of Color nicht so richtig Platz. Immer wieder erlebten Nichtweiße etwa in queeren Clubs Rassismus. „In weißen Räumen fühle ich mich angestarrt“, sagt Yaghoobifarah. „Meine Abwehrhaltung ist groß, einfach aufgrund meiner Erfahrungen.“ Als mehrfach diskriminierte Person sei es schwierig, unvoreingenommen auf die Leute zuzugehen. Über ihre ältere Schwester Hengameh ist sie auf das CutieBPoC-Festival gestoßen: Eine kleine Community von nichtweißen queeren Personen organisiert verschiedene Veranstaltungen, dazu einmal im Jahr ein großes Festival – nur für PoC. CutieBPoC steht für Queer_Trans*_Inter*_Black_und_People_of_Color. Yaghoobifarah ist mittlerweile Teil der Community, vergangenes Jahr hat sie das Festival mit organisiert. „Wir brauchen solche intersektionalen Räume“, sagt sie. Wer sich einen eigenen Raum schafft, muss sich nicht vor Diskriminierung fürchten. Senami Zodehougan„Die Realität ist gewaltvoll. Immer wieder werden uns unsere Erfahrungen abgesprochen“ „Intersektional“ – das klingt ein bisschen sperrig, ist aber ganz einfach: Es geht um mehrfache Diskriminierung. „Identität kennt kein Entweder-oder“ steht auf den Plakaten im Büro von Senami Zodehougan. Die Psychologin arbeitet bei LesMigraS, einem Projekt der Berliner Lesbenberatung, das queere PoC begleitet. „Egal ob homo, trans*, PoC – es ist hilfreich, Menschen zu suchen, die ähnliche Erfahrungen machen“, sagt Zodehougan. „Wir sind nicht zu sensibel oder zu anspruchsvoll. Die Realität ist gewaltvoll. Immer wieder werden uns unsere Erfahrungen abgesprochen.“ In der Community tritt man aus der Vereinzelung heraus. Man erkennt: Es geht nicht nur mir so. Es gibt ein System, eine Geschichte, die mit meinem Körper zu tun hat. „Die Community ist die Keimzelle für politische Forderungen“, sagt Zodehougan. Deswegen braucht die Bewegung die Arbeit der Communitys. Auch Demos seien als Ort der Vernetzung und der Solidarität enorm wichtig, sagt Zodehougan. Aber: „Weiße Frauenräume machen für mich wenig Sinn.“ Auch von diesen Orten sei viel Gewalt ausgegangen. Vielmehr müsse eine Community ganz aktiv Raum schaffen für mehrfach diskriminierte Personen, damit diese nicht hinten runterfallen. „Weiße feministische Gruppen müssen sich fragen: Warum gibt es bei uns keine oder kaum Menschen mit Rassismuserfahrung“, erklärt Zodehougan. „Warum kommen sie nicht zu uns, oder warum bleiben sie nicht?“ Ein solcher Prozess müsse aus den Gruppen heraus entstehen. „Das wird ihnen niemand abnehmen.“
Amna Franzke
Feministische Gruppen gibt es viele. Nur sind sie oft homogen. Wie arbeiten Weiße, Schwarze, Queere und Behinderte zusammen? Eine Exkursion.
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Begräbnis der Queen: Die Demokratie hat abgedankt - taz.de
Begräbnis der Queen: Die Demokratie hat abgedankt Der Tod Elisabeths II. wäre eine Gelegenheit, endlich den Fortbestand der britischen Monarchie in Frage zu stellen. Doch dafür fehlt noch immer die Mehrheit. Die Staatskrone auf dem Sarg der Queen Foto: Christian Charisius/dpa Nachdem sie begraben ist, reicht es auch mit den Nachrufen und den Verklärungen. Elisabeth II. war kein netter Mensch. Sie war rassistisch, sie war anti-feministisch, und sie wähnte sich geistig über dem Rest der Menschheit. Das hat sie tatsächlich behauptet. Für eine Entschuldigung wegen der Verbrechen der britischen Kolonialpolitik fand sie keine Worte, während sie für das Commonwealth stets salbungsvolle Reden übrig hatte. Doch allzu nah durfte dieses ihr nicht kommen: „Farbige Immigranten und Ausländer“ durften im königlichen Haushalt nicht arbeiten, so stand es in Dokumenten, die voriges Jahr öffentlich wurden. Genauso diskriminierend war die Einstellungspraxis, wenn es um Frauen ging: Die wichtigsten Posten waren allesamt mit Männern besetzt. Eine Anzeige wegen Verletzung der Anti-Diskriminierungsgesetze hatte die Königin allerdings nicht zu befürchten. Sie genoss Immunität gegen mehr als 160 Gesetze. Der Polizei war es verboten, ihre Ländereien zu betreten, sie durfte unter anderem nicht wegen des – durchaus begründeten – Verdachts auf Verletzung von Tierschutz- oder Umweltschutzgesetzen ermitteln. Auch als Mutter spielte sie eine ziemlich jämmerliche Rolle. Ihren Kindern gegenüber hat sie sich nie zu einer Gefühlsregung hinreißen lassen. Nach einer ausgedehnten Commonwealth-Rundreise begrüßte sie zum Beispiel den winzigen Prinzen Charles mit einem kalten Handschlag. Ihr Tod wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die schon lange fällige Debatte über den Fortbestand der britischen Monarchie zu führen. Lediglich Oliver Cromwell hat es im Jahr 1649 geschafft, die Monarchie per Parlamentsbeschluss abzuschaffen. England wurde damals für elf Jahre Republik. Aber die derzeit im Parlament vertretenen Parteien sind sich darin einig, dass die Monarchie unangetastet bleibt. Nach Elisabeths Tod hat fast die gesamte Nation einen kollektiven Weinkrampf bekommen. Kritische Zwi­schen­ru­fe­r:in­nen wurden festgenommen. Es reichte schon die laut geäußerte Frage, wer Charles III. eigentlich gewählt habe, um von der Polizei zu Boden geworfen und festgenommen zu werden. Meinungsfreiheit, die man stets und zu Recht für andere Länder fordert, sieht anders aus. Die Demokratie hat in Großbritannien derzeit abgedankt. Die Monarchie hingegen noch lange nicht.
Ralf Sotscheck
Der Tod Elisabeths II. wäre eine Gelegenheit, endlich den Fortbestand der britischen Monarchie in Frage zu stellen. Doch dafür fehlt noch immer die Mehrheit.
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Frauenbild in Bollywoodfilmen: Mehr Schmuck als Kleider - taz.de
Frauenbild in Bollywoodfilmen: Mehr Schmuck als Kleider Viel nackte Haut und ein naives Pretty-Woman-Schema: Trägt die indische Filmindustrie zur Geringschätzung von Frauen bei? Bollywoods Diven sollen schön und sexy sein. Mehr nicht. Bild: reuters Es sind die farbenfrohen Tanzszenen und die mitreißende Musik, auf die es im indischen Kino ankommt. Da darf schon mal minutenlang über eine stocklangweilige Handlung hinweggetanzt werden. Im Mittelpunkt stehen meist knapp bekleidete Frauen. Doch nun, seit dem brutalen Vergewaltigungsfall in Neu-Delhi vom 16. Dezember 2012, muss sich auch Bollywood fragen lassen, welches Frauenbild es da eigentlich propagandiert. Trägt der indische Film Mitschuld an der Geringschätzung der Frau in Indien? Ganz nach dem westlichen Pretty-Woman-Schema wartet auch die indische Filmheldin sehnsüchtig darauf, dass endlich ihr Prinz erscheint und sie vom Balkon hebt. Das Fatale ist nur: Anders als in Hollywood scheint es in Bollywood immer noch das einzige Konzept zu sein. Wenn sich die Rollenverteilung für Männer und Frauen schon im wahren Leben verschiebt, wünscht man sich offenbar wenigstens im Kino die guten alten Zeiten zurück. Der Prototyp des indischen Leinwandhelden ist deshalb so charmant wie unbesiegbar. Ein Traummann eben. Bollywoods Traumfrauen dagegen geben sich naiv und hilflos. Ihre Unerfahrenheit steht auch für Jungfräulichkeit, denn die gilt nach wie vor als wichtigstes Gut einer Frau. Von wenigen Ausnahmen abgesehen vertreten Bollywoods Frauen durch und durch das schwache Geschlecht. Ständig auf die Hilfe des Filmhelden angewiesen, spielen sie die modernen Heldinnen des Patriarchats. Hüftschwingend den familiären Pflichten nachkommen Ist es das, was sich indische Männer wünschen? Sexy Frauen, die im netten kleinen Nichts hüftschwingend den familiären Pflichten nachkommen? Nein, das wünscht sich der indische Mann nur auf der Kinoleinwand. In der Delhier Zeitung Metrolife sprach kürzlich die Schauspielerin Rakshanda Khan über ihren Einstieg in die Filmbranche. Für ihre Familie sei das nicht leicht gewesen. „Ich habe immer versucht, nicht das Vertrauen meiner Familie zu missbrauchen. Später hat mich meine Familie immer unterstützt und meine Entscheidungen akzeptiert“, sagte sie und gab damit preis, was jeder denkt, aber keiner ausspricht: Niemand möchte die eigene Tochter so auf der Leinwand sehen, wie Bollywood sie zwangsläufig präsentiert. Daheim müssen sich die Schauspielerinnen für ihren Beruf entschuldigen. Was den Familienvater natürlich nicht davon abhält, für seine Bollywood-Ikone zu schwärmen. Reichlich nackte Haut Während es im indischen Film jahrzehntelang verpönt war, sexuelle Handlungen zwischen Mann und Frau mehr als nur anzudeuten, kann man selbst in älteren Bollywoodproduktionen schon reichlich nackte Haut bewundern. Das zeigt eine weitere Scheinheiligkeit: Einerseits erscheint es dem Zuschauer offenbar als Zumutung, einen Kuss der Filmhelden mit ansehen zu müssen. Andererseits ist es vertretbar, dass die Heldin die meiste Zeit mehr Schmuck als Kleidung trägt. Die hauchdünnen Saris, aus entsprechend transparenten Stoffen, wirken am Körper der Bollywoodschönheiten alles andere als keusch. Schauspielerischer Anspruch ist kaum gefragt. Bollywoods Diven sollen schön und sexy sein. Mehr nicht. Das mag überzogen klingen. Längst gibt es auch in Indien moderne Männer und Frauen, die nach neuen Prinzipien leben. Aber sie sind eine Minderheit, eine glückliche Elite, die sich neue Freiheiten erlauben kann. Ein Großteil der Inder und Inderinnen muss indes noch streng nach alten Ritualen leben. Großfamilien geben den Ton an und das Oberhaupt der Familie ist natürlich ein Mann. Nicht selten ist der im Film der Böse. Aber seine Rolle überlebt. Die Frage, ob nun Bollywood Einfluss darauf hat, wie Frauen wahrgenommen werden, beantwortet der Filmemacher Vishal Bharadwaj mit einem „Nein“ und macht es sich reichlich einfach. „Eine Gesellschaft wird nicht von der Filmindustrie gemacht. Stattdessen werden Filme über die Gesellschaft gemacht“, sagt er im Interview mit Metrolife. So billig reden sich viele Bollywood-Akteure aus ihrem Dilemma, egal ob Mann oder Frau. Privat geben sie sich in Interviews fortschrittlich und aufgeklärt. Im Film aber bleibt alles beim Alten.
G. Blume
Viel nackte Haut und ein naives Pretty-Woman-Schema: Trägt die indische Filmindustrie zur Geringschätzung von Frauen bei?
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Rep-Wahlhilfe von harten Neonazis - taz.de
Rep-Wahlhilfe von harten Neonazis Bremer „Aktionsbündnis“ publiziert Wahlaufruf / Szene berät zukünftige Strategie: Kader oder Organisationen / Rechtsextreme Parteien besuchen die schlagende Basis  ■ Von B. Siegler und J. Grabler Die rechtsextreme Szene ergeht sich derzeit in einer Strategiedebatte. Während die einen den sogenannten „nationalen Parteien“ eine klare Absage erteilen, plädiert ein nicht kleiner Teil für eine Unterstützung der „Republikaner“. In Bremen ruft die „radikale nationale Opposition“ unverhohlen zur Wahl der Schönhuber-Partei bei den Bundestagswahlen auf. Kopf des „Aktionsbündnisses Republikaner in den Bundestag“ ist Markus Privenau, Führer der Bremer Neonazi-Szene. Privenau, Mitbegründer der Bremer „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) fungiert als Schriftführer des Blattes der „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene“ (HNG), einer der größten rechtsextremen Organisationen in der Bundesrepublik, wie der Verfassungsschutz meint. Von einem Einzug der „Republikaner“ in den Bundestag versprechen sie sich, auch noch den „einen oder anderen Rechtsabweichler“ ins Parlament zu bringen. „Nur ein einziger (autonomer) ultra-radikal-nationalistischer Abgeordneter wäre für die ,Nationale Opposition‘ ein ähnlicher Vorteil wie der zu den Reps übergewechselte CDU-Abgeordnete Dr. Krause“, heißt es im Bremer Aufruf. Kern der Argumentation des „Aktionsbündnisses“ ist jedoch, daß mit dem Erfolg der Reps auf der rechten Seite des politischen Spektrums ein neuer Freiraum entstehen könnte. Die CDU könnte dort „nicht mehr ... auf Stimmenfang gehen und gleichzeitig die ,bürgerliche Mitte‘ halten“. Um den Traum von einer „Volksfront von rechts“ langfristig wahr werden zu lassen, sollten erst einmal „alle Bedenken“ gegen Politik und Personal der Reps „zurückstehen“. Während Rep-Chef Franz Schönhuber keine Gelegenheit ausläßt, sich lautstark von militanten Rechtsextremisten abzugrenzen, probierten Bremer Neonazis ihre Unterstützung für die Reps bereits praktisch aus. Mitglieder der „Nationalen Bürgerinitiative“, einer Nachfolgeorganisation der verbotenen „Nationalistischen Front“, halfen im niedersächsischen Landtagswahlkampf, Rep- Flugblätter in die Briefkästen von Haushalten zu stecken. Desgleichen klebten Anhänger der verbotenen „Deutschen Alternative“ im brandenburgischen Cottbus Plakate der NPD. Führende Köpfe beider Gruppierungen trafen sich ebenfalls zu Sondierungsgesprächen. Mit seinem aktuellem Aufruf führt Privenau jedoch nur aus, was der Kopf der deutschen Neonazi- Szene, der Hamburger Christian Worch, bereits vorgedacht hatte. Worch hatte bei einem „norddeutschen Kameradschaftstreffen“ vor gut drei Wochen in Bremerhaven die Linie ausgegeben, daß jetzt die Reps unterstützt werden sollten. „Der Aufruf liegt ganz auf der Linie dessen, was in diesen Kreisen diskutiert wird“, bestätigt auch Lothar Jachmann, stellvertretender Chef des Bremer Verfassungsschutzes, gegenüber der taz. Jachmann jedoch verschweigt, daß die Positionen von Worch, Privenau und deren „Kameraden“ in der Szene nicht unumstritten sind. „Gegenwärtig dienen nationale Abgeordnete einzig und allein der Stabilisierung des bestehenden politischen Systems ... Und sind Beruhigungspillen für das Wahlvolk“, heißt es in der Januar-Ausgabe 1994 der Zeitschrift Nation + Europa. Das in Coburg in einer Auflage von 15.000 Exemplaren erscheinende Magazin ist das wohl bedeutendste ideenpolitische Organ des bundesdeutschen Rechtsextremismus. Autor Jürgen Riehl, ein Pseudonym, hinter dem Insider den Hamburger Neonazi-Rechtsanwalt Jürgen Rieger vermuten, rechnet darin mit den Reps, der NPD, der „Deutschen Volksunion“ und der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ ab. Diese zeigten ein „jämmerliches“ und „blamables Bild“. Riehl fordert statt dessen seine Mitstreiter zu einer „inneren Verdichtung“ auf. Dabei denkt er besonders an „eine Organisationsform mit strenger, verbindlicher Organisierung nach innen, jedoch ohne formale von außen her nachvollziehbare Strukturen“. Solche Tendenzen von Kaderstrukturen leugnen die Verfassungsschutzbehörden jedoch seit Jahren.
b. siegler / d j. grabler
Bremer „Aktionsbündnis“ publiziert Wahlaufruf / Szene berät zukünftige Strategie: Kader oder Organisationen / Rechtsextreme Parteien besuchen die schlagende Basis  ■ Von B. Siegler und J. Grabler
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Streik im Nah- und Fernverkehr am Montag: Deutschland aus dem Verkehr ziehen - taz.de
Streik im Nah- und Fernverkehr am Montag: Deutschland aus dem Verkehr ziehen Gewerkschaften wollen am Montag den Nah- und Fernverkehr einen Tag lang weitgehend lahmlegen. Welche Verkehrsmittel sind betroffen? Die Gewerkschaft EVG hat gemeinsam mir der Verdi für Montag zum Streik aufgerufen Foto: Anette Riedl/dpa BERLIN taz | Am kommenden Montag wird der Verkehr in Deutschland an vielen Orten ruhen. Grund ist ein Warnstreik von gleich zwei Gewerkschaften: Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) legt Züge und Busse lahm, die Gewerkschaft Verdi den Nahverkehr in kommunalen Betrieben von sieben Bundesländern. Das teilten beide Gewerkschaft am Donnerstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin mit. Gemeinsame Aktionen mehrerer Gewerkschaften sind ungewöhnlich. In diesem Fall ermöglicht der Terminplan der Tarifverhandlungen den Superstreiktag. „Die Arbeitgeber versuchen uns mit warmen Worten und viel zu niedrigen Angeboten abzuspeisen“, begründet Verdi-Chef Frank Werneke den Arbeitskampf. Die Deutsche Bahn reagierte darauf mit der Ankündigung, den gesamten Fernverkehr am Montag komplett einzustellen. In Berlin werden auch der S-Bahn und Regionalverkehr betroffen sein. Ebenso in Hamburg. Am Flughafen München wird bereits ab Sonntag kein regulärer Passagier- und Frachtverkehr statt. Das teilte die Flughafengesellschaft mit. Auch am Frankfurter Flughafen wird kein regulärer Verkehr möglich sei. Der Ausstand beginnt um 0:00 Uhr in der Nacht von Sonntag auf Montag und endet um Mitternacht. Betroffen ist die gesamte Palette der Verkehrsdienste. Neben Bussen und Bahnen ist vor allem der Luftverkehr stark betroffen. Dort vertritt Verdi einerseits die Beschäftigten von Bund und Kommunen, andererseits örtliche Verhandlungen mit Bodendienstleistern. So werden auch die Beschäftigten der Luftsicherheit die Arbeit niederlegen. Zudem ruht die Arbeit in Teilen der kommunalen Häfen, der Autobahngesellschaft sowie der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Die Folgen sind gravierend. So werden große Schiffe wohl nur eingeschränkt im Hamburger Hafen einlaufen können und Autofahrer vor gesperrten Tunneln stehen. Der öffentliche Nahverkehr wird in den sieben Bundesländern bestreikt, die an den Tarifvertrag für die öffentlichen Dienst der Kommunen angeschlossen sind: Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland Pfalz und Sachsen. Auch Bayern ist betroffen, da dort zurzeit ein Tarifvertrag für den Nahverkehr ausgehandelt wird. Auf Seiten der EVG wird nicht nur bei der Deutschen Bahn zum Streik aufgerufen. Auch bei Privatbahnen wie Transdev, den Osthannoverschen Eisenbahnen, Erixx, Vlexx, Eurobahn und anderen ruht Montag der Verkehr. Auch Kita-Streiks möglich Sowohl bei den Bahnen als auch im öffentlichen Dienst von Bund und den Kommunen sind die Fronten im Tarifkonflikt verhärtet. Verdi und der Beamtenbund fordern für ihre rund 2,5 Millionen Beschäftigten 10,5 Prozent mehr Lohn, wenigstens aber 500 Euro, bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Die Arbeitgeber haben beim letzten Treffen 5 Prozent mehr Lohn in zwei Schritten sowie einen Inflationsausgleich von 2.500 Euro angeboten. Das ist den Gewerkschaften deutlich zu wenig. Der Streik fällt auf den Start der dritten und vorerst letzten Tarifrunde des öffentlichen Dienstes, die von Montag bis Mittwoch in Potsdam stattfindet. Bleiben die Gespräche weiterhin ergebnislos, wird eine Schlichtung eingeleitet, die der frühere Bremer Finanzsenator Hans-Hennig Lühr leiten würde. Weitere Streiks im öffentlichen Dienst, am Ende womöglich sogar ein unbefristeter Ausstand in Kita, Verkehrsunternehmen, Krankenhäusern der Müllabfuhr oder bei Feuerwehren sind durchaus möglich, wenn am Ende keine Einigung erreicht wird. Bei der Deutschen Bahn sieht die Lage etwas anders aus. Hier endete an diesem Donnerstag die erste Runde der Tarifverhandlungen. Die EVG fordert nicht nur von der Bahn mehr Geld, sondern auch von weiteren 50 Bahnunternehmen in jeweils separat geführten Gesprächen. Denn es gibt bei den Bahnen keinen gemeinsamen Arbeitgeberverband. Betroffen von den Tarifverträgen sind rund 180.000 Beschäftigte der Deutschen Bahn und etwa 50.000 Mitarbeiter der privaten Konkurrenten. Maßgeblich dürfte der Abschluss mit dem Branchenführer sein. Die EVG verlangt 12,5 Prozent mehr Lohn bei einem Mindestbetrag von 650 Euro mit einer Laufzeit von zwölf Monaten. Die Deutsche Bahn bietet 5 Prozent in zwei Schritten sowie eine Inflationsausgleichsprämie von 2.500 Euro. Allerdings geht es beiden Seiten noch um weitere Detailfragen, etwa die Festschreibung eines Mindestlohns. Inwieweit es beim ersten Warnstreik bei den Bahnunternehmen bleibt, werden die kommenden Wochen entscheiden. Die Verhandlungen könnten sich bis in den Sommer hinziehen, da die EVG jeweils mit 50 Unternehmen sprechen muss. Der nächste offizielle Gesprächstermin mit der Deutschen Bahn soll erst Ende April stattfinden. Weitere Warnstreiks bis dahin schließt die EVG zwar nicht aus, sie sind aber eher unwahrscheinlich. Die Deutsche Bahn nennt den Streik „grundlos und unnötig“, wie Personalvorstand Martin Seiler kritisiert. Er fordert eine schnelle Rückkehr der Gewerkschaft an den Verhandlungstisch. Der Ausstand werde massive Auswirkungen auf den gesamten Bahnbetrieb in Deutschland haben. Konkret will die Bahn noch über die Folgen und über Kulanzregelungen für Fahrgäste informieren.
Wolfgang Mulke
Gewerkschaften wollen am Montag den Nah- und Fernverkehr einen Tag lang weitgehend lahmlegen. Welche Verkehrsmittel sind betroffen?
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Schockiert am Holzkohlengrill - taz.de
Schockiert am Holzkohlengrill SOMMERSPASS Grillen kann so ungesund sein. Wer ein paar Tipps beachtet, braucht sich das Vergnügen aber nicht vermiesen zu lassen. Von Benzopyren, Kohlenmonoxid und der falschen Verwendung von Brennspiritus Erst im März starben zwei Jugendliche aus Neumünster fast an Kohlenmonoxid VON JONAS NONNENMANN Wer sein Steak liebt, der schockiert es. Damit ist nicht etwa die Seele der Kuh gemeint, sondern das kurze Anbraten bei großer Hitze. Denn, so empfehlen die Experten der Website grillfreunde.de: „Das zarte und saftreiche Innere wird blitzschnell durch eine Kruste isoliert.“ Nach dem Schocken sollte das Feuer allerdings wieder gedrosselt werden–vorausgesetzt, das Schnitzel soll nicht die gleiche Farbe annehmen wie die darunter liegenden Kohlen. Die schwarze Kruste gehört zu den Dingen, die das Grillen zu einem zweifelhaften Vergnügen machen. In ihr verbergen sich Benzopyren und andere gefährliche Kohlenwasserstoffe – Chemikalien, die krebserregend sind und außerdem bitter schmecken. Auf den Spaß zu verzichten, ist jedoch unnötig. Viele Gefahren lassen sich mit etwas Disziplin vermeiden. Wenn die Wurst außen schwarz und innen roh ist, muss der Rost höher gelegt werden. Geht das nicht mehr, helfe das traditionelle Abkühlen mit Bier oder Wasser, sagt Friedrich Liebig vom Hamburger Institut für Hygiene und Umwelt. Neben der schwarzen Kruste seien auch Rauchfahnen „ein Anzeichen dafür, dass Benzopyren produziert wird“, warnt der Gesundheitsexperte. Rauchwolken entstehen, wenn Fett auf die Kohle tropft. Liebig empfiehlt deshalb, Aluschalen zu verwenden, um das ablaufende Fett abzufangen. Kohle sei besser für das Grillen geeignet als Holz. Wer auf letzteres wegen der John Wayne-Atmosphäre nicht verzichten kann, sollte unbedingt unbehandeltes Holz verwenden und auf Spanplatten verzichten. Papier sei wegen des hohen Zellulose-Anteils kein guter Anzünder, findet Liebig. Den Magen verderben könne sich, wer das rohe Fleisch zu lange in der Sonne liegen lasse. Dabei entstehen schon nach kurzer Zeit Krankheitserreger, gerade im Sommer. „Wenn es warm ist, dann kann es sein, dass es nach einer Stunde schon kritisch wird“, warnt Liebig. Ähnliches gelte für Salate und andere Beilagen. Um Erreger abzutöten, sollte das Fleisch gut durchgebraten werden. Gefährlich werden kann auch das Feuer selbst. Denn obwohl die Feuerwehren jedes Jahr davor warnen, kommt es immer wieder zu Verbrennungen und Vergiftungen. „Die größte Gefahr besteht beim Anzünden des Grills“, heißt es bei der Rendsburger Feuerwehr. Wer Spiritus oder andere Brandbeschleuniger in die Glut kippe, riskiere lebensgefährliche Verbrennungen. Vorsicht geboten sei außerdem bei wackeligen Billig-Grills, die allzu schnell umkippten. In diesem Fall raten die Feuerwehrmänner, rutsch-und brandfestes Material unterzulegen. Eine weitere Gefahr wird gemeinhin unterschätzt: die, eine Rauchvergiftung zu erleiden. Erst im März diesen Jahres starben zwei Jugendliche aus Neumünster fast an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Die beiden Teenager hatten in einer Gartenlaube gegrillt, in der es zu wenig Luftaustausch gab. Rezepte und Tipps, wie man vernünftig grillt, finden sich auf der Website grillsportfreunde.de
JONAS NONNENMANN
SOMMERSPASS Grillen kann so ungesund sein. Wer ein paar Tipps beachtet, braucht sich das Vergnügen aber nicht vermiesen zu lassen. Von Benzopyren, Kohlenmonoxid und der falschen Verwendung von Brennspiritus
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Vom richtigen Leben im falschen - taz.de
Vom richtigen Leben im falschen ■ Joshua Sobol, Dramatiker aus Tel Aviv, erarbeitet sein Stück „Ghetto“ am Bremer Theater / Premiere am Donnerstag Er ist klein, drahtig, sachlich, konzentriert, kein Selbstdarsteller, keiner, der „Theater macht“. Joshua Sobol, ein Sabra, 1939 in Tel Aviv geboren, wo er wieder wohnt, war Journalist, Dozent, Dramatiker, künstlerischer Leiter des Stadttheaters in Haifa bis zum scandalon seines „Jerusalem-Syndrom“. Er kennt Europa gut. Vom Philosophiestudium an der Sorbonne kann er Französisch, ebenfalls „some German“, was seine Untertreibung für fließend ist. Mit dem Kollegen vom Weser-Kurier und mir spricht er englisch, darin gehe es genauer. Auf die Frage, was es für ihn als Israeli bedeutet, links zu sein, antwortet er blitzschnell: „Den Frieden über alles stellen“; beim Versuch, zu sagen, was Sozialismus für ihn bedeutet, verhirnt und verheddert er sich, aber wenn er über Theater spricht, dann wird er lebhaft und ganz klar. In Bremen probt er, Autor und Regisseur zugleich, drei Wochen für die Wiederaufnahme von Ghetto, bei dem er schon in Essen Regie geführt hatte. Ein Theaterstück, 1984 uraufgeführt, über das Theater im Ghetto von Wilna, das der Judenrat Jacob Gens 1941 in Übereinstimmung mit dem SS-Offizier Kittel gründet. Das Theater soll Leben retten, wenn auch nur die der Spieler, Zeit gewinnen, Kraft geben, vor dem Hintergrund der Abtransporte, die das Ghetto nicht verhindern kann. Das Ghetto von Wilna war, vor 1941, eine Metropole jüdischer Kultur in Osteuropa. Unter der NS-Herrschaft nach 1941 drängte die Intensität des bedohten Lebens in die Musik, auch in das Theater, das der historische Anstoß zu Sobols Stück wurde. „Der Kampf, der dort geführt wurde, hat etwas zu tun mit der Glut dieses Ortes.“ Das Theater war „ein Dynamo, eine Kraftquelle, weiterzuleben. Vielleicht war es der wirkungsvollste Widerstand überhaupt.“ Sobol hat eine antibrecht'sche hierhin bitte den grauhaarigen Mann Joshua SobolFoto: Landsberg Vorstellung von dem, was Theater soll. Was er suche, — hat er in einem früheren Interview gesagt — das sei das Gegenteil von konzeptioneller Kunst, die den Intellekt und manchmal auch die Phantasie anspreche. „Ich erwarte vom Theater, daß es mich packt, nicht nur im Kopf, nicht nur bei meinen Sinnen und Gefühlen, sondern total.“ Und zu Ghetto: „Ich möchte mit dem Publikum Erfahrungen teilen, die ich gemacht habe, als meine Schutzwälle brachen, als ich das erste Mal die Lieder hörte und die Menschen traf, die alles erlebt hatten, und ihre Geschichten hörte.“ Gehört hat er da, daß die Kreativität den Menschen in der Bedrohung half, ihrem Leben einen menschlichen Sinn zu geben. Sobol hat das mitgenommen in eine Zeit, in der das Theater „hilflos und elend“ ist und kaum mehr weiß, was es überhaupt soll. Sobol will die geläufige Perspektive auf die „Opfer“ umgekehren: Die Theaterspieler im Ghetto haben, so Sobol in Bremen, „a lesson to tell us“. „Das ist kein Platz für Mitleid, sagt er. „es klingt komisch, aber mit Mitleid stellen wir sie nicht auf die gleiche Stufe wie uns selber.“ Das Ritual der Bewältigung bemitleidet die todgeweihten Opfer, verehrt den offenen Widerstand und verurteilt die Judenräte, die wie Jacob Gens mit dem Teufel paktieren, um Leben zu retten. Sobol hat von Überlebenden gehört, daß sie voller Schuldgefühle sind, weil sie überlebt haben, indem sie jemand anderen auslieferten. Die Umkehr der Perspektive, das hat, in Israel wie in der BRD, bei Ghetto-Aufführungen schockiert und Protest ausgelöst. Auch bei unserem Gespräch verteidigt Sobol wieder seinen Jacob Gens. „Gens hat niemals kollaboriert.“ Und Manfred Stolpe, der im Prinzip genauso argumentiert? Gens flieht nicht, sagt Sobol, als er die Gelegenheit bekommt. „Er rechtfertigt sich selber nicht.“ Sobol mag nicht nur kein Konzept-Theater, er mag auch keine Konzept-Regie. In Bremen hat er versucht, nochmal zu öffnen, was in Essen schon fest war, hat die Schauspieler eingeladen, ihre Erfahrung hereinzutragen, hat die Rollen gemodelt nach der Ausstrahlung der neu hinzukommenden Spieler und den Rahmenerzähler verändert. Er soll nun die Ghetto-Geschichte mit dem Hier und Jetzt konfrontieren. Am Donnerstag kann man es im Bremer Theater sehen. Uta Stolle
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„Zwei Bienenstöcke zu Gast“ - taz.de
„Zwei Bienenstöcke zu Gast“ FÜHRUNG Der Dompastor führt durch den Bibelgarten, in dem seit Kurzem auch Bienen leben Henner Flügger■ 53, ist Pastor in der Gemeinde des St. Petri-Doms. taz: Herr Flügger, was ist denn ein „Bibelgarten“? Henner Flügger: Der Bibelgarten befindet sich an der Südseite des Domes. Er beherbergt über 60 verschiedene Pflanzen und Blumen, die ursprünglich in der Mittelmeerregion zuhause sind. Alle werden in der Bibel erwähnt. Sozusagen durch die Blume redet Gott durch sie zu den Menschen. Im Rahmen der Führung werden ihre Geschichten erzählt. Warum halten Sie dort Bienen? Zurzeit haben wir im Bibelgarten zwei Bienenstöcke zu Gast. Bei der Aktion handelt sich um eine Kooperation mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) – mit dem Ziel, Bienen auch im Stadtbereich einen Raum zu geben. Bienen in der Bremer Innenstadt, geht das denn? Das geht schon. Der April und der Mai waren natürlich sehr kalt. Die Natur war dieses Jahr sehr viel später dran. Diese anfängliche Kälte ist auch der Grund, weswegen die Führung mit dem Imker erst ab Juli stattfinden wird. Die zwei Bienenstöcke haben wir allerdings schon. Die Bienen sind nur „zu Gast“. Was passiert danach? Die Hauptsammelzeit der Bienen liegt zwischen Mai und Juli. Dann wird geerntet und der Honig geschlagen und am Ende nimmt der Imker die Bienen wieder mit. Der Honig wird als „Domhonig“ beim Bibelgartenfest am 18. August zum Kauf angeboten. Die Hälfte des Erlöses geht an den BUND, der Rest soll für die Erhaltung und Pflege des Bibelgartens verwandt werden. Der wird seit 15 Jahren ehrenamtlich gepflegt, aber es werden immer wieder neue Pflanzen benötigt. Ist der St. Petri Dom die einzige Gemeinde, die Bienen hält? In der Innenstadt sind wir die Einzigen.  INTERVIEW: MB 17 Uhr, Eingang Bibelgarten. Eine Führung mit dem Imker gibt es am 3. Juli um 17 Uhr
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Und bist Du nicht billig, so kriegst du Gehalt - taz.de
Und bist Du nicht billig, so kriegst du Gehalt ■ Dreiteilige Interviewreihe „Wiedersehen mit der Revolution“ von und unübersehbar mit Daniel Cohn-Bendit. Samstags, Nord III, 20.15 Uhr Die unerträgliche Seichtigkeit des Kleins: Weil er immer noch gesucht werde (“... von beiden Seiten!“), kann H.J. Klein stolz nur als Maske auftreten - was besonders glaubhaft wirkt, weil Klein-Familie und -Gegend im Bild gut zu erkennen sind. Es tritt auf der super- gefährliche Exkiller im passenden Kostüm als „Don Giovanni“. Wer das nicht sah, glaubt es nicht. Er enthüllt in theatralischer Wahrheitsliebe, daß Abu Nidal Linksguerilla und Faschisten gemeinsam trainierte, daß „die Guerilla antisemitisch“ sei, Yehudi Menuhin ganz oben auf ihren Tötungslisten stünde; Don „Carlos“ dagegen wäre ein rechter Elegant, „der sich im Restaurant zu benehmen weiß, nicht so wie wir“, dafür aber dem Besitzer vom Marks & Spencer ganz unelegant ins Maul schoß, nur weil der Jude ist. Dies alles in breitestem häs -sisch. Dann folgt der köstliche Höhepunkt dieser wechselseitigen Vergrößerungsposse (Motto: Wie wir zwei beide einmal die Welt in Atem hielten.)Cohn-Bendit fragt Klein, den Sohn eines Nazi und einer Jüdin: „Wie kommt so'n Frangforder Jung zum Arm der Revolution?“, und da ist die Antwort natürlich „Böse“, Wilfried, denn hätte der Bedeutende Dany nach Gründen gefragt, hätte der „Klein-Klein“ (so nennen sie den heute noch) vielleicht geantwortet, daß er früh die Nase voll hatte davon, für eingebildete Revoluzzer die Autos billig zu sanieren und nicht immer nur klein, sondern auch mal böse sein wollte, und bedeutend. So aber bringt CBs Film „echte“ Originalenthüllungen aus der Terrorszene. Sensationell! Bedeutend! Damit die Fernsehanstalten Dany den Schwätzer wichtig nehmen, präsentiert er Klein, diesen offenkundigen Psychopathen, als Zeitzeugen. Gut, der Apparat will betrogen sein. Aber die Zuschauer? Und sowas war mal mein Medienheld! Im Deutschen Winter nach Schleyer wars, als Schmidt-Böllings Totschweigegebot die Selbstmordziffern der Dreißigjährigen hochpushte, da rief mich ein Wiener Freund an, und berichtete mir Jung-Danies mutige Tat: In einer Talkshow habe er live zum Fall Sch. gesagt, der hätte doch jetzt nur das bekommen, was ihm 1942 beim (gelungenen) Attentat auf Heydrich zugedacht war, wo der SSler, Gleichschalter und Judenjäger in Prag damals nur zufällig nicht mit im Auto saß. Dieser legendäre „Club 2„ -Auftritt passierte in Österreich, hier wäre man für sowas gleich vergittert worden. Darüber sind zehn Jahre ins Land gegangen und es hat sich an den Verhältnissen nichts geändert, außer daß Dany nun selbst filmen darf: Prompt nennt er den Sch. nun einen „glaubwürdigen Demokraten“. Dany zeigt dankenswerterweise das berühmte letzte RAF-Video, sonst nur als Standbild zu sehen, in dem das Schmißgesicht laut Böll u.a. angeblich so mitleiderregend menschlich wirkt - unter der herrschenden Mafia Schrecken zu verbreiten, war nun mal Job der Guerilla. Ansonsten hat dieser Film mit Politik soviel zu tun wie „Bitte Umblättern!“ mit Kultur: Immer unterwegs. Dany in Rio vorm Zuckerhut: „ICH traf Fernando Gabeira 1984 während einer Reise nach Brasilien“, ebenso den Entführer von BRD -Botschafter Holleben, Alfredo Sirkis, der den einzigen brauchbaren Satz der ganzen Sendung sagt: „Damals lohnte sich das Kidnappen noch.“ (49 Befreite immerhin...) Dany malerisch im Herbstgarten: „Klein überraschte MICH, früher hatte er MEIN Auto repariert.“ Dany in Rom: „Valerio Morucci, MEIN Freund“, jetzt sitzt der Rotbrigatist 4x lebenslänglich, und seine schöne Freundin spricht: „Ich fühle mich nicht mehr im Konflikt mit dem Staate“, und dabei bricht von rechts ins Bild, weiß und fern durch die milchigen Glassteine des Knastfensters, Italiens Sonne, die sie nie mehr sehen soll (2 x Lebenslänlich). Dany merkt nichts. Dany im Off:„ICH traf Rudi '67 das erstemal in Berlin, bei einer Demo. Damals war er der Rote Rudi und ICH Dany, der Unbekannte.“ Das wurmt. Bis heute. Dabei ist das ganze auch noch gut gemeint und soll dem Staats- „Dialog mit dem Terrorismus“ aufhelfen, dieser Nachtidee liberaler Untäter mit schlechtem Gewissen (Vollmer'Mehr'CB) oder schlechtem Gedächtnis (Bölling, Baum). Dieses eine wenigstens hätte der Film leisten können: Zeigen, wann und warum Linker „Terror“ sinnvoll ist. Zum Beispiel stoppte der RAF-Anschlag auf den NATO-Computer in Heidelberg 1971/72 für Monate die Bombardierung Vietnams, das war mehr als alle Sit-Ins und Kongresse jemals konkret erreicht haben; das Abfackeln der „Asylanten„-Akten in Berlin 1987 bedeutete für Hunderte neue Chancen und einige Wochen relative Sicherheit. Und hätte die Verschwörung des Wehrmachtsadels gegen Hitler geklappt (übermorgen wieder Feiern, Heulbojen und Kränze) hätte das zwar nicht Freiheit bedeutet, aber Millionen weniger Opfer und wenigstens das Ende der Vergasungen. Dany dagegen fragt sich: „Warum bin ICH nicht Terrorist geworden?“ Wahrscheinlich weil er Angst hatte, in einem Zellenblock am Fensterkreuz erhängt zu enden, oder mit dem eigenen Hirn im Gulasch wie Willi Stoll im China-Restaurant Zum Goldenen Drachen, oder zerschossen zwischen Mülleimern im Hinterhof wie Petra Schelm, falls die noch einer kennt. Oder, oder, oder. Das BKA hat sauber gearbeitet und die '68er haben die Lektion begriffen. Aber man muß keine Theorie daraus machen, einfach Angst gehabt haben genügt. Schade für Dany, berühmt werden konnte man damit nicht, und das ist auch sonst nicht so einfach, wo den Kids von heute bei seinem Namen nur „Dany leicht mit Sahne“ einfällt. Dr. Seltsam
dr.seltsam
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Die Brandstifter kamen aus Lübecks rechter Szene - taz.de
Die Brandstifter kamen aus Lübecks rechter Szene ■ Bundesanwaltschaft hüllt sich in Schweigen Hamburg (dpa/taz) – Nach der Verhaftung der vier mutmaßlichen Brandstifter von Lübeck hüllte sich die Bundesanwaltschaft am Dienstag zu den Hintergründen in Schweigen. Ein Geständnis der jungen Männer wollte ihr Sprecher, Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Förster, weder bestätigen noch dementieren. Die Tatverdächtigen im Alter von 19 bis 24 Jahren waren am Montag wegen des Anschlags auf die Lübecker Synagoge vor rund fünf Wochen verhaftet worden. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand hatten die vier jungen Männer sich am Abend des 24. März „aus Haß gegen Ausländer und Juden“ zu dem Brandanschlag auf die Synagoge entschlossen. Sie werden des gemeinschaftlichen Mordversuchs verdächtigt. Förster erklärte gestern: „Es gibt derzeit keinen Anfangsverdacht für die Tat einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung.“ Der Zentralrat der Juden in Deutschland begrüßte die Verhaftung als eindeutiges Signal, daß die Justiz solche Anschläge nicht mehr als Bagatellen, sondern als Kapitalverbrechen ansehe. Als Folge von Anschlägen herrsche in den jüdischen Gemeinden Verunsicherung, sagte das Direktoriumsmitglied des Zentralrats, Michel Friedman, in Frankfurt am Main. Er fordere „keine politische Justiz, jedoch aber eine wehrhafte“. Franz Schönhuber dagegen will von einem politischen Hintergrund der Tat offenbar nichts wissen. „Gegen Narren ist kein Kraut gewachsen“, sagte er auf Anfrage der taz. Er habe sich „immer wieder von solchen Verrückten und Kriminellen distanziert und ihre gerechte Bestrafung gefordert“. Lübecks Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD) zeigte sich entsetzt: „Es ist das Schlimmste eingetreten: daß offenbar Jugendliche aus Lübeck diese schreckliche Tat begangen haben.“ Tagesthema Seite 3, Kommentar Seite 10
taz. die tageszeitung
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Deutschlands größte Moorlandschaft: Vor der Zerstörung gerettet - taz.de
Deutschlands größte Moorlandschaft: Vor der Zerstörung gerettet Das Murnauer Moos ist eine der wertvollsten Moorlandschaften Mitteleuropas. Naturschützern ist es zu verdanken, dass es dieses Idyll noch gibt. Sibirische Schwertlilie im Murnauer Moos. Bild: imago/blickwinkel MURNAU taz | Unfassbar, was sie dieser Landschaft antun wollten. Einer Landschaft, um deretwillen Rudi Nützel hier Wurzeln geschlagen hat. „Ich liebe das Moos“, sagt er und schaut über die fast baumlose Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckt, wo sich das Wettersteingebirge zur Zugspitze aufschwingt. Dort oben liegt noch Schnee. Doch hier unten in der weiten, flachen, nur von ein paar Kuppen und kleinen Bergrücken, den sogenannten Köcheln, durchzogenen Landschaft, blüht und grünt es, was das Zeug hält. Das Murnauer Moos ist eine der anmutigsten und zugleich wertvollsten Naturlandschaften Deutschlands. Und mit 32 Quadratkilometern sogar die größte zusammenhängende Moor- und Sumpffläche Mitteleuropas. Als „gerettete Landschaft“ findet man das Murnauer Moos seit Kurzem in einem Wanderführer, den der Bund Naturschutz in Bayern (BN) herausgebracht hat. Das Büchlein versammelt „40 Wanderungen zu bayerischen Naturschutzerfolgen“. Neben dem Murnauer Moos stößt man beim Blättern auf das Hafenlortal im Spessart, das in einem Stausee versinken sollte, das Donauried zwischen Dillingen und Donauwörth, das wahlweise als Standort für einen Bombenabwurfplatz, eine Magnetschwebebahn-Testrecke und ein Atomkraftwerk vorgesehen war. Noch nicht dabei: das letzte Stück der frei fließenden Donau zwischen Straubing und Vilshofen. Erst im Februar verzichtete die Bayerische Landesregierung auf die jahrelang von ihr betriebene Kanalisierung auch dieses Flussabschnitts, den die Naturschützer plakativ „bayerischen Amazonas“ tauften. Auch das Isental östlich von München sucht man in dem praktischen Führer vergeblich. Denn hier ist der jahrzehntelange Kampf gegen eine Autobahn jüngst verloren gegangen. Schon fressen sich Bagger durch die malerische Landschaft. Ohne Menschen wie Rudi Nützel, den studierten Forstwirt und Vorsitzenden der BN-Ortsgruppe Murnau, würde es auch das Murnauer Moos wohl nicht mehr geben. Wahrscheinlich würde man auf Acker- oder Weideland blicken, mit Straßen durchzogen, die Köchel abgebaggert und von Steinbrüchen zerfressen. Ein Relikt der Eiszeit Wir treffen Rudi in einem gemütlichen Biergarten gleich neben dem Ramsachkircherl. Die Grundmauern der Kirche gehen zurück auf das 8. Jahrhundert. Damals, sagt Rudi, habe es hier noch ganz anders ausgesehen. Damals sei das Moos, ein großer, in Jahrtausenden verlandeter See, Relikt der letzten Eiszeit, noch mit einem dichten, weglosen Sumpfwald bewachsen gewesen, aus dem nachts das eigentümliche Krächzen des Wachtelkönigs zu hören war. Weil sie sich die Laute nicht erklären konnten, hätten die Menschen gedacht, dort im Sumpf schärfe der Sensenmann sein Handwerkszeug. Im Laufe der Jahrhunderte verloren die Menschen die Angst vor der Einöde. Sie rodeten den Bruchwald, begannen Torf als Brennmaterial zu stechen. Die Menschen hatten sich mit dem kargen Moos arrangiert und nutzten die Gräser als Einstreu für ihre Viehställe – daher die Bezeichnung Streuwiese. Anfang des 20. Jahrhunderts zog es Künstler wie Gabriele Münter und Wassily Kandinsky nach Murnau. Sie malten den Staffelsee und das Murnauer Moos. Wenn es die Naturschützer nicht gegeben hätte, wären ihre Bilder vielleicht die letzten Zeugnisse dieser schönen, urtümlichen Landschaft. Denn ein solch großer, ungenutzter Raum weckt Begehrlichkeiten. Ein Nazi der ersten Stunde 1924 gab es erste Pläne, das Moos großflächig trockenzulegen. In der Nazizeit wollte hier die Süddeutsche Zellstoff AG in großem Maßstab Sisal und Schilf für die Kriegswirtschaft anbauen. Der Naturschützer und Mundartdichter Max Dingler, ein Nazi der ersten Stunde, verhinderte dies und erreichte mit seinen Parteikontakten, dass das Kerngebiet des Murnauer Mooses zumindest vorläufig gesichert wurde. Nicht verhindert wurde damals der Abbau von Glaukonitsandstein, den man in den Köcheln fand. Das Mineral ist ideal als Schotter für Straßen- und Schienenwege. Auch nach dem Krieg hatte man mit dem Moos allerhand vor. 1956 gab es Pläne für eine große Karpfenzucht; 1968 sollten im Zuge des Baus der Autobahn nach Garmisch-Partenkirchen 600.000 Kubikmeter Moorschlamm im Moos verklappt werden. Und immer wieder wurde darüber nachgedacht, das „Brachland“ für Müll- oder Bauschuttdeponien zu nutzen. Streuwiesen gesichert Mit Ausnahme der Autobahn, die dann am östlichen Rand des Mooses gebaut wurde, und eines (mittlerweile wieder geschlossenen ) Segelflugplatzes konnten Natur- und Heimatschützer die zerstörerischen Projekte verhindern. Seit 1980 steht der Kernbereich des Mooses unter Naturschutz. Im Rahmen eines vom Bund finanzierten Naturschutzprojektes wurden auch die Streuwiesen gesichert. Sonst hätten Arten wie etwa der Dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling keine Chance. Das Insekt, eine von 71 Tagfalterarten, die im Moos vorkommen, praktiziert eine exklusive Art der Fortpflanzung. Es legt seine Eier ausschließlich in die Blüten des Großen Wiesenknopfes auf feuchten Streuwiesen. Nach vier Häutungen ähnelt die Raupe einer Larve der Wegameise und verströmt die gleichen Duftstoffe. Das BuchWinfried Berner und Ulrike Rohm-Berner: „Rother Wanderführer. Gerettete Landschaften“. Bergverlag Rother, 2013, München, 192 Seiten, 14,90 Euro Die ahnungslosen Ameisen schleppen sie in ihren Stock. „Dort wird sie mit Vorzugskost ernährt, wie sie sonst nur Ameisenköniginnen bekommen“, erläutert Rudi. Die Larven des Wiesenknopf-Ameisenbläulings überwintern im Stock, verpuppen sich im Frühjahr und suchen nach dem Schlüpfen schnell das Weite, weil ihre Tarnung nicht mehr funktioniert. Jetzt wird sie vielleicht zur kleinen Zwischenmahlzeit für den Wachtelkönig, vor dessen Krächzen sich die Menschen einst so fürchteten.
Georg Etscheit
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trauerspiel in ostwestfalen - taz.de
trauerspiel in ostwestfalen „Wir sind bitter bestraft worden“ Lange hielten die HSV-Amateure in Paderborn das Spiel offen, ehe sie in der Schlussphase einbrachen. Den ostwestfälischen Schlusspunkt setzte mit Patrick Owomoyela ein Spieler, der bis 1998 vor der Haustür des HSV gekickt hatte: in der A-Jugend des TSV Stellingen 88. „Wir haben die Abwehr entblößt und alles oder nichts gespielt und sind bitter bestraft worden“, resümierte Coach Stefan Böger. Auch Holstein Kiel erwischte einen schlechten Start in die Regionalliga-Saison: Die Störche verloren beim KFC Uerdingen 0:2. SC Paderborn 07: Joswig - Dotchev - Krösche (71. Bollmann), Mrugalla - Owomoyela, Glöden, Devoli, Manthey (46. Schmidt), Canale - Gerov, Siebert (ab 46. Dobry). Trainer: Erkenbrecher Hamburger SV: Hillenbrand - Holst, Grote, Dogan - Blaedtke, Schindler, Bröcker (46. Siemers), Weber, S. Rahn (71. Streit) - Zoric (65. Shapourzadeh), Bester. Trainer: Böger. SR: Seemann, Essen - Zuschauer: 2.200 Tore: 1:0 Weber (48., Eigentor), 2:0 Gerov (56.), 2:1 Bester (59.), 3:1 Dobry (61.), 3:2 Shapourzadeh (70.), 4:2 Dobry (74.), 5:2 Gerov (88.), 6:2 Owomoyela (90.) Gelbe Karten: Dotchev, Krösche - Bester, Holst, Grote FOLK
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Privates Schiff „Sarost V“: Flüchtlinge sitzen vor Tunesien fest - taz.de
Privates Schiff „Sarost V“: Flüchtlinge sitzen vor Tunesien fest Am 14. Juli wurde das private Schiff „Sarost V“ mit 40 aus Seenot Geretteten zum Hafen Zarzis geschickt. Doch Tunesien will niemanden an Land lassen. Geflüchtete im Mittelmeer (Archivbild) Foto: dpa Ohne dass die europäische Öffentlichkeit Notiz davon nehmen würde, sitzen weiter 40 aus Seenot gerettete Flüchtlinge auf einem Schiff vor der tunesischen Küste fest. Sie waren am 8. Juli in Libyen in See gestochen, fünf Tage später hatte ihr Boot einen Motorschaden. Der Unfall geschah in internationalen Gewässern, für die Seerettung in dem Gebiet ist Malta zuständig. Nach einer Rettungsaktion am 14. Juli wies die maltesische Leitstelle die „Sarost V“, ein Versorgungsschiff für Ölplattformen, an, die Menschen an Bord zu nehmen. Malta und Italien weigerten sich, sie aufzunehmen, Maltas Rettungsleitstelle schickte die „Sarost V“ zum Hafen von Zarzis, im Süden Tunesiens. Doch auch Tunesien will die Flüchtlinge nicht. Das Schiff liegt seit dem 14. Juli etwa fünf Kilometer vor der Küste. Insgesamt dreimal haben Ärzteteams des tunesischen Gesundheitsministeriums und des tunesischen Roten Halbmonds das Schiff aufgesucht, zum letzten Mal am Mittwoch. Sie verteilten Hygienekits unter den Schiffbrüchigen. Das Essen wird ebenfalls vom tunesischen Roten Halbmond gebracht, auch der Schiffskoch kocht für die Geretteten. „Ein Teil der Menschen hat zwei Jahre Zwangsarbeit in Libyen leisten müssen, danach saßen sie bis zu acht Monaten in Lagern dort“, sagt Olivia Santer von der NGO Alarm Phone. „Sie sind davon traumatisiert, das macht die Lage noch schwieriger.“ Alarm Phone kritisiert vor allem, dass das zuständige Malta das Problem auf Tunesien abgewälzt habe. Zwei Schwangere an Bord Die Menschen an Bord der „Sarost V“ stammen aus Ägypten, Bangladesch, Kamerun, Senegal, Guinea, Elfenbeinküste und Sierra Leone. An Bord sind zwei schwangere Frauen. Auf dem hinteren Deck haben die Flüchtlinge Planen aufgespannt, um etwas Schutz vor der Sonne zu haben, die Temperaturen liegen tagsüber bei 34 Grad. Sie schlafen auf Kartons, vor allem Nachts wird das Deck durch die Wellen nass. Nur der Koch wurde in der Zwischenzeit von der Reederei ausgewechselt. Die übrige Crew musste an Bord bleiben. Ein Crewmitglied sagt: „Es ist wie in einem Gefängnis, und wir haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Wir sind 14 Crewmitglieder und 40 Flüchtlinge, wir sind überhaupt nicht dafür qualifiziert, diese zu versorgen. Was tun wir, wenn eine der Schwangeren Probleme bekommt? Die Geretteten sind sehr müde, und wir sind das auch. So geht es nicht weiter.“ Am Mittwoch wandten sie sich mit Videoclips an die Öffentlichkeit. „Keiner hat genug zu essen, keiner hat genug zu trinken“, sagte einer der Geretteten. Die Crew der „Sarost“ tue alles, was ihr möglich sei, doch die Situation werde schlimmer. „Tunesien will uns nicht, Italien will uns nicht. Wir brauchen internationale Hilfe.“ Doch ob und wann die kommt, ist fraglich. In einer informellen Stellungnahme, die der taz vorliegt, hat das UNHCR erklärt, dass es eine Ausschiffung der Flüchtlinge in Tunesien für vertretbar hält Sowohl die tunesische Regierung als auch das UN-Flüchtlingswerk UNHCR haben sich offi­ziell nicht dazu geäußert. In einer informellen Stellungnahme, die der taz vorliegt, hat das UNHCR erklärt, dass es eine Ausschiffung der Flüchtlinge in Tunesien für vertretbar hält. Ein Teil von ihnen lehnt das ab: Gegenüber der NGO Alarm Phone erklärten sie, dass sie Angst haben, von dort in ihre Länder zurückgeschickt zu werden. Ohnehin ist unklar, ob Tunesiens Regierung dazu überhaupt bereit wäre. Dem Vernehmen nach verhandelt diese über eine sogenannte Relocation-Lösung: Die Flüchtlinge könnten dann in Tunesien an Bord gehen und würden in andere Länder weiterverteilt. So hatten im Juni auch Malta und Spanien Gerettete weiterverteilt, nachdem Italien seine Häfen weitgehend geschlossen hatte. Die „Sarost V“ ist nun der erste Fall, in dem Gerettete aus einer europäischen Rettungszone nach Afrika zurückgeschickt werden.
Christian Jakob
Am 14. Juli wurde das private Schiff „Sarost V“ mit 40 aus Seenot Geretteten zum Hafen Zarzis geschickt. Doch Tunesien will niemanden an Land lassen.
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Woidke will Grenzen kontrollieren - taz.de
Woidke will Grenzen kontrollieren Brandenburg will Schleuserkriminalität bekämpfen. Bund will offene Grenzen Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) pocht auf stationäre Kontrollen an der brandenburgisch-polnischen Grenze. „Wir werden fordern, dass an der polnischen Grenze genau das gemacht wird, was an der bayerisch-österreichischen Grenze schon seit vielen Jahren gang und gäbe ist“, sagte Woidke am Mittwoch der dpa in Potsdam. „Wir wollen eine stärkere Bekämpfung vor allem der Schleuserkriminalität, die in den letzten Tagen und Wochen deutlich zugenommen hat.“ Der SPD-Regierungschef sagte: „Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung genauso wie wir ein großes Interesse daran hat, Schleuserkriminalität, aber auch illegale Migration zu bekämpfen.“ Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) lehnt derzeit stationäre Kontrollen an der Grenze zu Polen und Tschechien ab. Eine solche Maßnahme gehöre zu den allerletzten Reaktionsmöglichkeiten, hieß es aus dem Bundesinnenministerium. (dpa)
taz. die tageszeitung
Brandenburg will Schleuserkriminalität bekämpfen. Bund will offene Grenzen
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Das ist unser Park! - taz.de
Das ist unser Park! Mit einer Parkbesetzung und Baumpflanzungen demonstrieren Politiker und Umweltgruppen für die Erweiterung des Mauerparks, weil die Immobiliengesellschaft Vivico den Parkausbau blockiert VON DIRK HAGEN Bürgerinitiativen, Politiker und Umweltorganisationen haben gestern einem seit Jahren andauernden Immobilienpoker Bäume entgegensetzt: Mit einer sogenannten Landnahme wurde ein Teil der leerstehenden Erweiterungsfläche auf dem Mauerpark vorübergehend „besetzt“ und wurden erste Bäume gepflanzt. Man rief zum „zivilen Ungehorsam“ gegen den Eigentümer, die bundeseigene Immobiliengesellschaft Vivico Real Estate GmbH, auf. Weil die sechs Hektar große Freifläche westlich des Mauerparks im Quartier zwischen Prenzlauer Berg und Wedding schon längst in eine Parknutzung hätte überführt werden sollen, war die Liste der Protestierenden lang: Politiker der Grünen, der SPD und der Linkspartei.PDS aus dem Abgeordnetenhaus sowie Vertreter aus den Bezirken Pankow und Mitte beteiligten sich an der Besetzung. „Ab sofort beginnt die Fertigstellung des Parks“, startete Mitinitiator Heiner Funken vom Bürgerverein Gleimviertel die Pflanzaktion. Andreas Otto (Grüne), Kandidat für das Abgeordnetenhaus, sagte: „Ziel ist, die gesamte Fläche des einst geplanten Mauerparks fertigzustellen.“ Der Fraktionsgeschäftsführer der SPD-Pankow, Klaus Mindrup, warf der Stadträtin von Mitte, Dorothee Dubrau (Grüne), die für die Gespräche mit der Vivico verantwortlich ist, „mangelnde Verhandlungsfähigkeit“ vor. Seit den 1990er-Jahren warten die beiden Bezirke auf die Parkerweiterung. Damals hatte der Hamburger Architekten Gustav Lange ein 14 Hektar großes Parkband geplant. Realisiert wurde die Gesamtidee Mauerpark bisher nur teilweise, da Berlin und die Vivico sich nicht auf einen Kaufpreis der 6 Hektar großen Restfläche einigen konnten. Die Vivico fordert horrende Preise für das Gelände – oder eine Änderung des Flächennutzungsplans. Dieser hatte für den Bereich Mauerpark bisher nur Grünflächen vorgesehen. In einem Vertrag mit der Allianz-Umweltstiftung, die den Ausbau des Parks mit 2,3 Millionen Euro unterstützt, hat sich der Senat verpflichtet, mindestens 10 Hektar Park bis 2010 fertigzustellen. Ansonsten muss das Stiftungsgeld zurückgezahlt werden. Der Senat ist somit in Zugzwang. Da das Land für den Ankauf keine hohe Summe aufwenden will, sollte ein Deal die Rettung bringen: Die Vivico stellt die nötigen 2 Hektar – der 6 – für den Park zur Verfügung und bekommt dafür das Recht auf Wohnungsbau. Ein neuer Vorschlag der Planer sickerte nun zu den Initiativen durch und brachte das Fass zum Überlaufen: Statt Wohnimmobilien wird nun ein Deal mit großflächigem Einzelhandel angestrebt. Ein Baumarkt inklusive Parkplatz stünde dann im Erweiterungsgrün. „Dieser Vorschlag ist noch schlechter als die Idee der Wohnbebauung“, sagt PDS-Abgeordneter Michail Nelken. Er beschäftigt sich seit 15 Jahren mit dem ehemaligen Mauerstreifen. Nelken war bei der „Landnahme“ dabei und forderte die Initiatoren und Bürger auf, Fakten zu schaffen – und mit der Fertigstellung des Parks zu beginnen.
DIRK HAGEN
Mit einer Parkbesetzung und Baumpflanzungen demonstrieren Politiker und Umweltgruppen für die Erweiterung des Mauerparks, weil die Immobiliengesellschaft Vivico den Parkausbau blockiert
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„Putschversuch“ in Botswana: Machtkampf im Musterland - taz.de
„Putschversuch“ in Botswana: Machtkampf im Musterland Wollte Botswanas alte Garde Präsident Masisi stürzen? Oder beseitigt er seine Rivalen? Ein bizarrer Machtkampf ist zu beobachten. Bedrohte Idylle: Botswana hat Afrikas größte Elefantenpopulation Foto: reuters GABORONE/BULAWAYO taz | Botswana gilt als Afrikas Musterland der Stabilität und der guten Regierungsführung. Doch nun erschüttert ein mysteriöser angeblicher Putschversuch den Ruf des vor allem für seine Diamanten und Elefanten bekannten Landes: Simbabwes Sicherheitsbehörden sollen einen Putsch gegen Botswanas Präsident Mokgweetsi Masisi ver­eitelt haben, der aus Südafrika unterstützt worden sei. Verwickelt, so Medien in Bots­wana und Simbabwe, seien Botswanas Ex-Präsident Ian Khama, Ex-Außenministerin Pelonomi Venson-Moitoi und die südafrikanische Geschäftsfrau Bridgette Motsepe Radebe. Ian Khama, Sohn von Staatsgründer Seretse Khama und Präsident von 2008 bis 2018, gilt als enttäuscht über den von ihm selbst zum Nachfolger gekürten Masisi und habe dafür sorgen wollen, dass Botswanas Regierungspartei BDP (Botswana Democratic Party) bei den nächsten Wahlen im Oktober Venson-Moitoi statt Masisi aufstellt. Dafür soll das Venson-Moitoi-Lager Unterstützung in Südafrika gesucht haben – bei einer der schillerndsten Figuren des regierenden ANC (African Natio­nal Congress): Motsepe Radebe, Schwester der Ehefrau des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa und selbst Ehefrau des Energieministers Jeff Radebe, jahrelang die rechte Hand des Ex-Präsidenten Jacob Zuma. Radebe, die auch den Bergbaukonzern Mmakau Mining leitet, soll Venson-Moitoi 5,5 Millionen US-Dollar in bar versprochen haben. Das Geld sollte Stimmenkauf beim BDP-Wahlparteitag ermöglichen. Die Südafrikanerin soll mit dem Geld nach Victoria Falls in Simbabwe geflogen sein, wohin am gleichen Tag aus Botswana Khama und Venson-Moitoi reisten. Doch Simbabwes Geheimdienst CIO setzte die Delegation aus Südafrika fest und schickte sie nach Hause. Wer flog nach Victoria Falls? In der Folge dieses Vorfalls ließ Botswanas Präsident Masisi Panzer vor seinem Amtssitz auffahren, und amtliche Quellen sprachen von einem Putschversuch, von dem man aus Südafrikas Streitkräften erfahren habe. Alle Beteiligten haben das alles dementiert, und Venson-Moitoi sagt, sie sei nicht nach Victoria Falls geflogen – doch das Ergebnis war, dass am vergangenen Freitag der BDP-Wahlparteitag Masisi ohne Gegner zum Spitzenkandidaten kürte. Venson-Moitoi zog ihre Bewerbung zurück und behauptete, die Hotelbuchungen der ihr loyalen Delegierten im Konferenzort Kang seien auf mysteriöse Weise annulliert worden. Geldwäsche für den ANC? Botswanas Behörden ermitteln jetzt, ob der langjährige ANC-Sicherheitschef Paul Langa in den versuchten Geldtransfer verwickelt war. Sie haben die Bankkonten der Sicherheitsfirma Avante Security Services eingefroren, auf denen drei große Überweisungen von Radebes Bergbaufirma eintrafen. Die Gelder gingen an Mitarbeiter von Venson-Moitoi. Paul Langa, unter der Apartheid auf Robben Island interniert und später im ANC aufgestiegen, soll in der Vergangenheit Botswana als Transitland für illegale Parteispenden an den ANC genutzt haben. Ursprung von Masisis Zerwürfnis mit Khama, das Bots­wana seit Monaten in Atem hält, ist ein Streit über Khamas Rente. Doch der Altpräsident sowie andere Kritiker werfen Masisi auch vor, Botswanas guten Ruf aufs Spiel zu setzen: er hat eine Wiederzulassung der Elefantenjagd angeregt und das Land China angenähert. Manche sorgen sich nun, dass mit der 2015 vereinbarten Verlagerung der Handelsaktivitäten der globalen Diamantenfirma De Beers von London nach Gaborone nun auch Geldwäsche nach Botswana zieht. Masisi wiederum hat sich die Freundschaft Simbabwes gesichert, indem er bei einem Besuch in März dem bankrotten Nachbarland Kreditlinien von 94,5 Mil­lio­nen US-Dollar versprach. Präsident Masisi sieht sich im Endeffekt gestärkt, aber Kommentator Moagi Tshwano hält eine Spaltung der BDP, die Bots­wana seit der Unabhängigkeit 1966 regiert und Afrikas älteste Regierungspartei ist, für möglich: „Die Spannungen sind schlimmer als je zuvor. Es wird sogar behauptet, Masisis Leben sei bedroht. Die Regierungs­partei war noch nie so schwach.“
Odirile Toteng
Wollte Botswanas alte Garde Präsident Masisi stürzen? Oder beseitigt er seine Rivalen? Ein bizarrer Machtkampf ist zu beobachten.
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Papa Graf: Vom Saulus zum Paulus - taz.de
Papa Graf: Vom Saulus zum Paulus ■ Ausnahmezustand im Mannheimer Landgericht zu Prozeßbeginn. Peter Graf nimmt seine Tochter Steffanie in Schutz Mannheim (taz) – Beim Landgericht Mannheim finden heute drei Prozesse statt. In Saal 3 steht eine mutmaßliche Trickbetrügerin aus Weinheim in ihrer Berufungsverhandlung vor Gericht, in Saal 2 muß sich ein Mann aus Mosbach wegen versuchten Totschlags und Körperverletzung verantworten. Und dann ist da noch so eine Verhandlung wegen des vergleichsweise banalen Kavaliersdelikts der Steuerhinterziehung in Saal 1. Doch das ist der Prozeß, der für den Ausnahmezustand vor und im Gerichtsgebäude sorgt. Peter Graf, Vater einer sehr erfolgreichen Tennisspielerin, muß seit gestern dafür geradestehen, daß der Staat bisher 19 Millionen Mark weniger Steuern eingenommen hat, als er haben will. Die Diagonale vom Eingang des Gerichtsgebäudes zum Eingang von Saal1 ist fast 50 Meter lang. Vier Meter breit ist der Cordon, den Polizistinnen und Polizisten mit bauchhohen Metallgittern entlang der Diagonale abgesperrt haben. Die Aula ist zweigeteilt. Wenn Zeugen aus den beiden anderen Prozessen kommen und ihr Zeugengeld bei der Gerichtskasse gegenüber abholen wollen, müssen Polizisten jedesmal die Gitter zur Seite schieben, um den Weg freizumachen. Der Saal hat nur 128 Sitzplätze. Das Landgericht hat noch einen Zugang, eine Einfahrt in die Tiefgarage. Um 8.34 Uhr ist Peter Graf in einem unscheinbaren, weißen Golf da hineingefahren worden, danach ging das Metallrollo runter, einige Polizisten schafften es nicht mehr rechtzeitig auf die andere Seite. Ausgetrickst! Nur wenige Fotografen haben das Foto „Papa Graf im Auto auf dem Weg zum Prozeß“ geschafft. Zu Beginn erhebt Graf in einer persönlichen Erklärung schwere Vorwürfe gegen die Finanzverwaltung. Er sei unfair behandelt und massiv getäuscht worden, beschwert er sich. Hätten die Behörden ihn 1991 darüber informiert, daß sie ihn der Steuerhinterziehung verdächtigten, hätte er die Steuererklärungen nachreichen können, und es wäre zu keinem Strafverfahren gekommen. Nachdrücklich stellt sich der 58jährige vor seine Tochter. Sie sei bis zur Durchsuchung des Brühler Familienanwesens im Mai 1995 durch die Steuerfahndung in keiner Weise mit Steuerangelegenheiten befaßt gewesen. Er selbst habe die umfassende Vollmacht über das Vermögen gehabt. „Mir liegt daran, daß diese Hauptverhandlung ein Neuanfang wird. Mehr kann ich für meine Tochter nicht tun“, erklärte Papa Graf mit tränenerstickter Stimme. Graf geht in seiner Erklärung auch auf die von ihm und seinen Beratern in Holland aufgezogene Firma Sunpark ein, die nach Auffassung der Steuerfahnder eine Strohfirma zur Geldwäsche war. Vor die Entscheidung gestellt, zu bleiben oder wie andere Spitzensportler aus Steuergründen ins Ausland zu gehen, sei ihm von „politischer Ebene“ eine verständnisvolle steuerliche Behandlung zugesichert worden. „Man hatte uns versprochen, eine Auswanderung sei nicht nötig“, sagte Graf. Er machte aber keine näheren Angaben über diese „politische Ebene“. „Natürlich ging es bei dem holländischen Modell um Steuerersparnis“, erklärte Graf. Er habe zwar stets Bedenken gegen die Sunpark-Konstruktion gehabt, doch wegen großer persönlicher Probleme eine Lösung immer weiter vor sich hergeschoben. Aber das Problem hätte sich damals lösen lassen, wenn die Finanzbehörden ihn rechtzeitig über ihren Verdacht informiert hätten. Anschließend erklärt auch Grafs Anwalt, Franz Salditt, die Behörden als die wahren Schuldigen. Er sagte: „Die Vermeidung der verfolgten Tat lag von vornherein in der Hand der Behörden.“ Bis auf weiteres will Peter Graf keine Aussage mehr machen. Mannheim hat einen besonderen Stadtplan, weil die Stadt auf dem Reißbrett für den Fürsten entworfen wurde. Es gibt kaum Straßennamen in Mannheim, dafür Blocks. Rund um Block A1, nahe dem Schloß, das heute die Uni ist, ist die Peter-Graf-Schicksalsmeile. In der Klinik Sankt Hedwig, in B1, direkt gegenüber der Rückseite des Landgerichts, wurde vor 27 Jahren Stefanie geboren, das Mädchen, das ihn zu einem gutbezahlten Vater machte. In L1, das seltsamerweise auf der anderen Seite an A1 anschließt, sitzt die Finanzbehörde. Und in A1 direkt ist der Gerichtssaal, in den Peter Graf in nächster Zeit oft gebracht werden wird. Christian Litz/klh
Christian Litz / klh
■ Ausnahmezustand im Mannheimer Landgericht zu Prozeßbeginn. Peter Graf nimmt seine Tochter Steffanie in Schutz
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Weltsozialforum in Tunesien: Am Ende bleibt die Sinnfrage - taz.de
Weltsozialforum in Tunesien: Am Ende bleibt die Sinnfrage Etwa 40.000 Teilnehmer diskutieren Migrationspolitik, Menschenrechte und Klimwandel. Aber auch die Frage, ob sich das Sozialforum erneuern muss. Abschlusskundgebung am Samstag in Tunis. Bild: reuters TUNIS taz | Regen und Sturmböen zerrten an den zahlreichen Zelten auf dem Campus der El Manar-Universität in Tunis – erschwerte Bedinungen für das 12. Weltsozialforum (WSF). Doch die Globalisierungskritiker ließen sich nicht abschrecken. Knapp tausend Veranstaltungen und Workshops wurden angeboten, die meisten waren gut besucht, wenn auch mit vielleicht 40.000 Teilnehmern nur gut die Hälfte der angekündigten Beteiligung erreicht wurde. Wie immer bei dieser Großveranstaltung der weltweiten sozialen Bewegungen und der Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) war einiges chaotisch: Mal gab es keine Übersetzung, mal fanden Referenten und Zuhörer auf dem weitläufigen Uni-Gelände nicht zueinander. Den Abschluss bildete am Samstagnachmittag eine Demonstration im Zentrum der tunesischen Hauptstadt. Offiziell als Solidaritätsmarsch mit Palästina angekündigt, dominierten Tunesien- und Palästina-Fahnen die Spitze des Zuges von rund 10.000 Aktivisten. Themenvielfalt war erst im hinteren Teil der Demonstration zu sehen. Die Diskussionsergebnisse beim Abschlussforum zu bündeln, gelang allerdings kaum. Im Zentrum der Debatten standen Migrationspolitik, ungerechte Handelsstrukturen, Menschenrechte und der Klimawandel. Besonders stark diskutiert wurden regionale Fragen – Flüchtlingsprobleme, der Umgang mit autoritären Regierungen und die Frage, was aus dem Arabischen Frühling geworden ist. Auffällig war die Teilnahme Tausender junger Tunesier, für die das Forum offenbar eine Gelegenheit für intensiven Informationsaustausch war. Im Gegensatz dazu war die internationale Beteiligung geringer, vor allem asiatische Bewegungen waren kaum da und auch Lateinamerika wenig präsent. Antisemitische Propaganda Dennoch stellte sich in Tunis erneut die Frage, inwiefern Regierungen das Forum als Plattform zur Austragung nationaler Konflikte nutzen, denn gestritten wurde auch. Insbesondere einige Gruppen, die offenbar der algerischen Regierung nahestanden, provozierten bei aus ihrer Sicht unliebsamen Veranstaltungen. Frauenveranstaltungen wurden genauso gestört wie Workshops, die etwa Fracking-Projekte im Süden Algeriens kritisierten. Zudem nutzten einige Gruppen die Vielfalt der Stände auf dem Campus für antisemitische Propaganda, so dass Sicherheitskräfte einzelne Stände räumten. Die nationalistischen Provokationen drückten bei vielen Teilnehmern die Stimmung und der Sinn der Weltsozialforen wurde in Frage gestellt. Vielen fehlt es schon seit Jahren an klaren politischen Linien, andere bemängeln, dass die Beliebigkeit der Inhalte dazu führe, dass sich Debatten nur wiederholen. Auch im Internationalen Rat des WSF scheint es Konsens zu sein, dass sich das Weltsozialforum erneuern soll. Einige Mitglieder plädieren für kleinere, thematisch ausgerichtete Foren, andere wollen den Logistikaufwand vermindern und regionale Foren stärken. So unklar wie die Zukunft ist noch der Ort des nächsten WSF. Kanadische Gruppen wollen es 2016 ausrichten, aber auch aus Brasilien ist interessiert.
Andreas Behn
Etwa 40.000 Teilnehmer diskutieren Migrationspolitik, Menschenrechte und Klimwandel. Aber auch die Frage, ob sich das Sozialforum erneuern muss.
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Corona-Regelungen in Niedersachsen: Weiter so trotz Herbst und Winter - taz.de
Corona-Regelungen in Niedersachsen: Weiter so trotz Herbst und Winter Ab Oktober werden bundesweit die Coronaschutzmaßnahmen neu geregelt. Niedersachsen will jedoch nur aktuelle Maßnahmen fortschreiben. Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) auf der Landespressekonferenz im März 2022 Foto: dpa/Ole Spata HAMBURG taz | Ab dem 1. Oktober gelten bundesweit neue Corona-Regelungen. Vergangene Woche hat das neue Infektionsschutzgesetz den Bundesrat passiert. Die Maßnahmen, die zunächst bis zum 7. April 2023 gültig sein werden, verpflichten zum Tragen einer FFP2-Maske im Gesundheitswesen wie Pflegeeinrichtungen oder Kliniken sowie im Fernverkehr. Als vollständig geimpft gelten ab dem 1. Oktober weiterhin jene, die eine dritte Corona-Impfung erhalten haben. Für den Zutritt zu Pflegeheimen wird ein negativer Test verpflichtend. Abhängig vom Infektionsgeschehen können die Länder weitergehende Maßnahmen treffen wie eine Maskenpflicht im ÖPNV – wie derzeit in Mecklenburg-Vorpommern – oder in Innenräumen öffentlicher Gebäude sowie der Gastronomie. Bei Freizeit-, Kultur- und Sportveranstaltungen soll von den Masken befreit sein, wer einen negativen Coronatest vorweisen kann. Am Dienstag stellte Niedersachsen seinen Corona-Fahrplan für den Herbst und Winter vor. Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) geht nicht von einer deutlichen Verschärfung der Corona-Lage aus. Es sei lediglich eine Fortschreibung der aktuellen Maßnahmen, inklusive einer Maskenpflicht im Nahverkehr, vorgesehen. Lockdown ausgeschlossen In kritischen Lagen könnten nach dem Infektionsschutzgesetz weitere Maßnahmen wie eine Maskenpflicht in Außenbereichen oder Personenobergrenzen beschlossen werden. Ein Lockdown oder Ladenschließungen sollen jedoch nicht möglich sein. In Niedersachsen gibt es zwei Szenarien, die weiterführende Maßnahmen veranlassen können: Erreicht die Sieben-Tage-Inzidenz bei der Hospitalisierung den Wert 15 sowie die Intensivbettenauslastung durch Corona-Patient:innen zehn Prozent, sollen die Maskenpflicht für Gastronomie und Veranstaltungen und tagesaktuelle Corona-Tests unabhängig vom Impfstatus eingeführt werden. Das zweite, Behrens zufolge unwahrscheinliche Szenario liege vor, wenn die Landesregierung eine „massive Belastung“ des Gesundheitssystems gegeben sehe: Wenn die Hospitalisierung über 20 steigt und die Intensivbettenauslastung mehr als 15 Prozent beträgt. Trotz der Gefahr neuer, gefährlicherer Virusvarianten ist Behrens zuversichtlich, dass das Gesundheitssystem die steigenden Infektionszahlen gut verkraften wird.
Marco Fründt
Ab Oktober werden bundesweit die Coronaschutzmaßnahmen neu geregelt. Niedersachsen will jedoch nur aktuelle Maßnahmen fortschreiben.
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Leichte Sprache: Das Facebook-Profil erben - taz.de
Leichte Sprache: Das Facebook-Profil erben Was passiert mit dem eigenen Facebook-Profil, wenn man gestorben ist? Ein Gericht hat dazu eine Entscheidung getroffen. Eltern bekommen von Zugang zum Facebook-Profil von ihrer toten Tochter Foto: dpa Hinweis: Hier können Sie den Text herunterladen. Hier können Sie den Original-Text lesen. ──────────────────── Was passiert mit einem Facebook-Profil, wenn der Nutzer gestorben ist? Bisher war es so: Facebook setzt das Profil von Verstorbenen in einen Gedenk-Zustand. Das heißt: Die privaten Facebook-Nachrichten bleiben auch nach dem Tod privat. Niemand kann die Nachrichten sehen. Sichtbar sind nur die Inhalte, die von der verstorbenen Person veröffentlicht wurden. Aber jetzt hat ein Gericht etwas anderes entschieden: Das Facebook-Profil gehört nach dem Tod den Erben. Was sind Erben? Erben sind oft Familien-Mitglieder. Die Erben bekommen alles, was dem Verstorbenen gehört hat. Dazu gehört auch der Facebook-Vertrag. Die Erben bekommen dann Zugang zum Facebook-Profil. Der Fall von einem 15-jährigen Mädchen Anlass für das Gerichts-Urteil war ein aktueller Fall. Bei dem Fall ging es um ein 15-jähriges Mädchen. Sie wurde im Jahr 2012 in Berlin von einer U-Bahn überfahren. Bis heute weiß man nicht genau: War es ein Unfall? Oder wollte sie sich selbst töten? Deshalb will die Mutter von dem Mädchen auf das Facebook-Profil von ihrer Tochter zugreifen. Die Mutter hofft, dort Informationen zu finden. Sie will erfahren, ob sich ihre Tochter selbst töten wollte. Bisher konnte die Mutter nicht auf das Facebook-Profil zugreifen. Facebook hat das Konto in den Gedenk-Zustand gesetzt. Das Gerichts-Urteil ändert das jetzt. Die Mutter bekommt Zugriff auf das gesamte Facebook-Profil von ihrer Tochter. Was hat das Urteil für Folgen? Das Urteil ist ein sogenanntes Grundsatz-Urteil. Was bedeutet das? Bisher gab es keine Regel für Verstorbenen-Profile in sozialen Netzwerken. In Zukunft gilt das Facebook-Urteil zu Verstorbenen-Profilen auch für andere soziale Netzwerke. Das bedeutet: Die Erben bekommen Zugang zu allen Profilen von den Verstorbenen. Hinweis: Über Selbst-Tötung berichten In dem Fall von dem 15-jährigen Mädchen weiß man noch nicht: Wollte sich das Mädchen selbst töten? Eigentlich berichtet die taz nicht darüber, wenn sich jemand selbst getötet hat. Die taz berichtet nicht über Selbst-Tötung, aus Respekt für die Angehörigen. Und damit andere Menschen das nicht nachmachen. Die Regeln für die Presse sagen außerdem: Die Presse soll nur über Selbst-Tötung berichten, wenn es für Öffentlichkeit wichtig ist. Der Fall von dem Mädchen war wichtig für die Öffentlichkeit. Denn jetzt gibt es ein wichtiges Urteil über Facebook-Profile von Verstorbenen. Auch wenn man noch nicht weiß, ob sich das Mädchen selbst getötet hat. Sie wollen sich selber etwas antun? Sprechen Sie mit jemandem darüber! Sie können jederzeit die Telefon-Seelsorge anrufen: Die Telefon-Nummer ist: 0800 111 0 111. Oder auch: 0800 111 0 222. Das Anrufen ist kostenlos. Oder klicken Sie hier, um die Internet-Seite zu besuchen. Original-Text: Christian Rath Text in Leichter Sprache: Juliane Fiegler Prüfung: capito Berlin, Büro für barrierefreie Information Ein Text vom: 27. Juli 2018
taz. die tageszeitung
Was passiert mit dem eigenen Facebook-Profil, wenn man gestorben ist? Ein Gericht hat dazu eine Entscheidung getroffen.
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Kirchenkunst von Schröders Gnaden: Herren der Fliegen und Backsteine - taz.de
Kirchenkunst von Schröders Gnaden: Herren der Fliegen und Backsteine Schon lange möchte Altkanzler Schröder der Marktkirche ein Fenster von Markus Lüpertz stiften. Dagegen klagt der Stiefsohn des Architekten. Produziert wird das Fenster schon, ob es auch eingebaut werden kann, ist fraglich Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa HANNOVER taz | Ein umstrittenes Kunstwerk, eine seltsame Rechtslage und drei Männer mit großem Sendungsbewusstsein: Die Geschichte um das sogenannte Reformationsfenster oder auch „Fliegen-Fenster“ für die Hannoversche Marktkirche hat alle Zutaten für ein großes Drama. Es begann damit, dass der Kirchenvorstand der Marktkirche zum großen Reformationsjubiläum 2017 ein besonderes Zeichen setzen wollte. Es habe da ganz verschiedene Pläne gegeben, sagt Stadtsuperintendent Rainer Möller-Brandes, der allerdings zu dieser Zeit selbst noch nicht im Amt war. Und irgendwann kam dann dieses Angebot, das man schwer ablehnen kann: Altkanzler Gerhard Schröder bot an, ein Kirchenfenster im Wert von 150.000 Euro zu stiften. Sein Malerfreund Markus Lüpertz sollte es gestalten, sich dabei mit dem Leben und Wirken Martin Luthers auseinandersetzen. Den Einbau dieses Fensters versucht der Erbe des Architekten der Kirche nun allerdings mit einer Zivilklage zu verhindern. Lüpertz, muss man wissen, ist ähnlich wie Schröder ein großer Könner von schmissigen Auftritten, was ihn für Medien schwer widerstehlich macht. Er inszeniert sich gern als genialischer Malerfürst und Dandy, blickt auf ein schillerndes Bohèmeleben zurück, ist selbst drolligerweise zum Katholizismus konvertiert. Seine Werke sorgen öfter einmal für Aufregung – in Salzburg wurde seine Mozartskulptur geteert und gefedert, in Augsburg sorgte seine Aphrodite-Plastik für Kontroversen, in Bamberg wurde eine seiner Skulpturen gestürzt und geköpft. Fünf fette Fliegen fordern gewagte Interpretationen heraus Auch sein Entwurf für das Hannoversche Kirchenfenster ist nicht unbedingt geprägt von erbaulicher Gefälligkeit. Große Debatten entzündeten sich vor allem um fünf fette Fliegen, die den großen Reformator in dieser Darstellung umschwirren. Der Künstler möchte sie nach eigenem Bekunden verstanden wissen als Symbol des Bösen und der Vergänglichkeit. Er verweist auf die Legende, nach der Luther der Teufel in Gestalt einer Fliege erschien – was angeblich zum berüchtigten Wurf mit dem Tintenfass führte. In Hannover haben diese fünf Fliegen anscheinend ein ganzes Feuerwerk an Assoziationen losgetreten – jedenfalls wenn man dem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung zur Podiumsdiskussion mit dem Künstler höchstselbst glaubt. Vom Klimawandel-bedingten Insektensterben bis zu den fünf Ehefrauen Schröders reichte das Spektrum der Interpretationen. Nur den Kläger interessieren die Fliegen nicht. Georg Bissen ist der Stiefsohn Dieter Oesterlens – des Architekten, der die zerbombte Marktkirche nach 1945 wieder aufgebaut hatte und als einer der bedeutendsten deutschen Architekten der 50er- bis 70er-Jahre gilt. Das Fenster verändere die Atmosphäre der Kirche, argumentiert der Erbe, der extra angereist ist. Und davor wolle er das Werk seines Stiefvaters schützen. „Schlichtheit und Geschlossenheit“ seien die zentralen Stichworte, welche er immer wieder gebraucht habe. Tatsächlich ist der Innenraum der Kirche geprägt von nacktem roten Backstein, von Putz und Zierrat befreit, sodass die imposante gotische Hallenarchitektur umso stärker wirkt. Rainer Möller-Brandes, Superintendent„Kirche darf und muss sich doch auch verändern, sie ist doch kein Museum“ Allerdings, argumentiert dagegen der Kirchenvorstand, der sich nach langen internen Diskussionen für das Fenster entschieden hat, hat die Kirche ja nicht immer so ausgesehen. Im Laufe ihrer Geschichte – mit dem Bau der jetzigen Kirche wurde 1347 begonnen – ist sie mehrfach umgebaut und umgestaltet worden. „Und Kirche darf und muss sich doch auch verändern, sie ist doch kein Museum“, sagt der Superintendent. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum sie nun ausgerechnet auf dem historischen Stand von 1952 eingefroren werden soll. Es gehört aber zu den Spezialitäten des deutschen Urheberrechtes, dass es ein „Urheberpersönlichkeitsrecht“ gibt, das nicht veräußert und nicht übertragen, dafür aber vererbt werden kann und das erst 70 Jahre nach dem Tod des Künstlers erlischt. Das erläutert der Sprecher des Landgerichtes Hannover, Dominik Thalmann, beim Ortstermin. In diesem Fall führt es nun dazu, dass ein Anwalt, der sonst in Tokyo sitzt, ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat, wenn die Marktkirchengemeinde ihre eigene Kirche umgestalten will. Ob es tatsächlich soweit kommt, wird sich allerdings erst in der mündlichen Verhandlung am 3. November herausstellen. Beim Ortstermin beschränkt sich der Vorsitzende Richter Florian Wildhagen auf die sorgsame Inaugenscheinnahme. Umringt von zahlreichen Journalisten schreiten Richter, Kläger, Beklagte und Anwälte den Mittelgang und die Seitenschiffe ab; geben zu Protokoll, von wo aus das Fenster überhaupt zu sehen wäre, und wo es von Säulen verdeckt wird. An dem großen Aufsteller mit der Darstellung des umstrittenen Fensters gehen sie kommentarlos vorbei.
Nadine Conti
Schon lange möchte Altkanzler Schröder der Marktkirche ein Fenster von Markus Lüpertz stiften. Dagegen klagt der Stiefsohn des Architekten.
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Grünen-Parteitag in Niedersachsen: Sie haben es nötig - taz.de
Grünen-Parteitag in Niedersachsen: Sie haben es nötig Die niedersächsischen Grünen treffen sich zum Parteitag und wählen ihre Liste für die vorgezogene Landtagswahl. Den Namen von Elke Twesten meiden sie. „Die Zeit des Jammerns ist vorbei“: Spitzenkandidatin Anja Piel und Landesvorsitzender Stefan Körner von Niedersachsens Grünen Foto: dpa GÖTTINGEN taz | Auf der Leinwand steht nur „Herzlich Willkommen“. Mehr ist bei der Landesdelegiertenkonferenz der niedersächsischen Grünen in Göttingen noch nicht passiert. Aber die 191 Delegierten in der Stadthalle spenden sich selbst Standing Ovations. Sie pfeifen und jubeln. Sie haben es nötig. Es ist erst wenige Tage her, dass ihre Parteikollegin Elke Twesten zur CDU übergelaufen ist und damit die rot-grüne Landesregierung gestürzt hat. Ihre Austrittserklärung ließ Twesten ihrer ehemaligen Fraktion von einem Boten aus der CDU überbringen – gedruckt auf Briefpapier der Grünen. Das hat gesessen. Aber die Grünen haben sich wieder aufgerappelt. „Jetzt erst recht!“, ruft Landeschef Stefan Körner ins Mikro. Der Spruch ist zum Motto für den Wahlkampf geworden und steht in fetten Buchstaben auf der Leinwand hinter Körner. Er sagt nicht ein einziges Mal in seiner Rede Twestens Namen. Manche Delegierte kürzen sie nur noch mit „E.T.“ ab. „Sie werden hier niemanden finden, der sie vermisst“, sagt ein Grüner. Die Delegierten wählten am Wochenende ihre Landesliste für die nun vorgezogene Wahl am 15. Oktober. Platz eins ist gesetzt. 94 Prozent der Delegiertenstimmen erhält die Frak­tionsvorsitzende Anja Piel. Das ist auch ein Statement. Es gibt in der Partei keine offene Kritik am Umgang der Spitze mit Elke Twesten. „Es kann nicht sein, dass diejenigen, die so etwas so dreckig inszenieren, am Ende die Wahl gewinnen“, sagt Piel und meint damit wohl den CDU-Spitzenkandidaten Bernd Althusmann. Und Umweltminister Stefan Wenzel, Platz zwei, schiebt nach: „Eine Elke macht noch keinen Althusmann.“ Die Grünen wollen „den Rückfall in alte Zeiten verhindern“ – nicht nur zu Kohle- und Atomstrom oder zur Massentierhaltung. „Niedersachsen stand 2013 für die härteste Abschiebepolitik in der ganzen Bundesrepublik“, erinnert Piel. „Stellt euch mal vor, was passiert wäre“, wäre Schwarz-Gelb noch an der Macht gewesen, als 2015 so viele Geflüchtete nach Deutschland kamen. „Das haben wir verhindert“, sagt Piel. Neue Gesichter Die Grünen wollen für die Fortsetzung der rot-grünen Koalition um jede Stimme kämpfen. Erst einmal müssen sie an diesem Wochenende jedoch gegeneinander kämpfen. Eine aktuelle Umfrage des NDR ergab für die Partei 9 Prozent der Stimmen. Damit würden nicht wieder 20 Abgeordnete ins Parlament ziehen, sondern weniger. 2013 hatten die Grünen 13,7 Prozent geholt. Zudem setzt die Partei in Niedersachsen so sehr wie keine andere Partei auf neue Gesichter. Jeder dritte Platz auf der Landesliste steht Bewerbern zu, die bisher nicht im Landtag sitzen – die Neuenquote löst das Rotationsprinzip ab, nach dem Abgeordnete nur für zwei Legislaturperioden antreten dürfen. „Jetzt erst recht“ küren die Grünen zu ihrem Wahlkampfmotto „Jeder Dritte ein Neuer ist ziemlich brutal“, sagt ein grünes Mitglied. „Mit jedem Fünften wäre die Erneuerung auch sichergestellt.“ Wie positiv die Neuenquote sein kann, zeigt sich indes auf Platz drei. Noch vor Landwirtschaftsminister Chris­tian Meyer, Platz vier, landet dort die 24-Jährige Imke Byl. Die Umweltwissenschaftlerin mit den Piercings in der Lippe war elf Jahre alt, als Merkel an die Macht kam. Sie kämpft für die Absenkung des Wahlalters. „Es macht mich fassungslos, dass diejenigen, die die Bildungspolitik am meisten betrifft, am wenigsten mitreden dürfen“, sagt sie und bekommt riesigen Applaus. Genau so kämpferisch stellt sich Fraktionschefin Piel den Wahlkampf vor: „Die Zeit des Jammerns ist vorbei.“ Für Platz 15 kandidiert die Rotenburgerin Birgit Brennecke, die im Mai in ihrer Heimat die Abstimmung über das grüne Direktmandat gewann – gegen Elke Twesten. Es war wohl der Grund für deren Parteiwechsel. Nun aber scheitert Brennecke. Und auch das Direktmandat wird sie wohl nicht holen. Der Wahlkreis Ro­tenburg/Wümme stellt im nächsten Landtag somit, wie von Twesten befürchtet, vo­raus­sichtlich keine Abgeordnete der Grünen.
Andrea Scharpen
Die niedersächsischen Grünen treffen sich zum Parteitag und wählen ihre Liste für die vorgezogene Landtagswahl. Den Namen von Elke Twesten meiden sie.
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Schauspielerin Jane Birkin über Komplexe: „Ich zeigte mich gern nackt“ - taz.de
Schauspielerin Jane Birkin über Komplexe: „Ich zeigte mich gern nackt“ Früher überspielte sie mit auffälliger Kleidung ihre Komplexe, sagt Jane Birkin. Aber auch heute litten viele Frauen unter Selbstzweifeln. „Fürs Fernsehen war ich die wunderschöne Puppe, die Serge Gainsbourgs Songs sang“, sagt Jane Birkin Foto: Angela Weiss/afp taz: Jane Birkin, in Frankreich bleiben wegen der Pandemie nun auch die Geschäfte geschlossen, genau wie die Kinos und Konzerthallen. Wie gehen Sie mit dieser Situation um? Jane Birkin: Ich habe Glück, weil ich gerade Promotion für mein Album „Oh! Pardon tu dormais …“ mache und von morgens bis abends zoome. Jeden Tag spreche ich mit Radio oder Fern­seh­­jour­­na­lis­t:innen. Insofern bin ich in einer komfortableren Situation als diejenigen, die ihre Filmprojekte zurückstellen müssen. Der erste Lockdown war allerdings eine große Herausforderung für mich. Ich war fast nur daheim und empfing keinen Besuch. Einzig für einen Spaziergang mit meiner Bulldogge Dolly habe ich das Haus verlassen. Mit Serge Gainsbourg lebten Sie anders, Sie gingen dauernd aus. Die Sängerin Lio hat Ihren Expartner kürzlich als „Weinstein der Songs“ bezeichnet. Diese Frau hat zwei Dinge verwechselt: Serges Image und die Realität. Sicher neigte er dazu, bei seinen Fernsehauftritten zu provozieren. Er schrieb skandalöse Songs wie „Je t’aime … moi non plus“ und machte mit mir gewagte Fotos. Doch er hat weder mich noch andere zu irgendetwas gezwungen. Ich ließ mich gerne nackt fotografieren. im Interview:Jane BirkinDie britische Musikerin und Schauspielerin wurde am 14. Dezember 1946 als Tochter der Schauspielerin Julie Campbell und des Soldaten David Birkin in London geboren. Sie war mit dem Komponisten John Barry verheiratet und mit dem Musiker Serge Gainsbourg und dem Regisseur Jacques Doillon liiert. Aus diesen Beziehungen stammen ihre Töchter Kate Barry – sie starb 2013 –, Charlotte Gainsbourg und Lou Doillon. Ihren Durchbruch hatte Birkin 1966 in dem Antonioni-Film „Blow Up“. Als Sängerin wurde sie 1969 mit dem Serge-Gainsbourg-Duett „Je t'aime … moi non plus“ berühmt. Mit Gainsbourg arbeitete sie während zwölf Jahren gemeinsam an Musik. Ihr aktuelles Album „Oh! Pardon tu dormais …“ ist gerade bei Barclay/Universal erschienen. Wie stehen Sie zu dem Duett „Lemon Incest“, das Serge Gainsbourg mit Ihrer Tochter Charlotte aufnahm? Serge war ganz bestimmt kein Pädophiler. Er hat Charlotte abgöttisch geliebt und sie mit diesem Lied auf ein Podest gestellt – ohne unzüchtige Hintergedanken. Ich habe Serge stets als einen tadellosen Mann und Vater erlebt. Im Alltag entsprach er überhaupt nicht seinem Krawallmacher-Ruf. Er war eigentlich schüchtern. Den hemmungslosen Typen spielte er bloß in der Öffentlichkeit, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Haben Sie sich jemals gefragt, wie Ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Sie Serge Gainsbourg nie begegnet wären? Rückblickend war es ein Geschenk, dass mich mein Ehemann John Barry verlassen hat. Sonst wäre ich gar nicht aus London rausgekommen. Vermutlich hätte ich mich auf ewig damit begnügt, für John Suppe zu kochen und ihm ein Bad einzulassen. Denn ich wollte ihm lediglich eine gute Ehefrau sein. Bis er mit einer engen Freundin von mir nach Los Angeles ging. Allein aufgrund der Entfernung wusste ich, dass unsere Trennung endgültig war. Was machten Sie dann? Ich zog zunächst zurück zu meinen Eltern. Das konnte natürlich keine Dauerlösung sein, ich musste Geld für mich und meine Tochter Kate verdienen. Also fuhr ich zu einem Casting nach Frankreich und bekam den Job. Bei den Dreharbeiten für den Film „Slogan“ lernte ich schließlich Serge kennen. Er fand mich schön. Das tat mir nach dieser furchtbaren Ehe mit John gut. Plötzlich war ich wieder glücklich. Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass sich aus einer schlimmen Situation durchaus etwas völlig Unerwartetes entwickeln kann. Hätten Sie Ihre Karriere nicht auch in England vorantreiben können? Nein. Weil meine Mutter in meiner Heimat eine angesehene Schauspielerin war, hätte ich mich nicht getraut, ihr nachzueifern. Hinzu kommt, dass mein Vater aus einer bürgerlichen Familie stammte. Von ihr fühlte ich mich beobachtet, das hemmte mich. Für mich war es ein Befreiungsschlag, nach Frankreich zu ziehen. Dort konnte ich alles ausprobieren und Spaß haben. Dennoch sagten Sie oft: „Serge Gainsbourg war das Genie, ich sah einfach gut aus.“ Für die Fernsehsender war ich diese wunderschöne Puppe, die Serge Gainsbourgs Songs sang. Es dauerte Jahre, bis ich mich aus dieser Rolle befreit hatte. Mit fast 40 ließ ich mir die Haare abschneiden, ich verzichtete auf Make-up und gab mein erstes Konzert im Pariser Bataclan. Parallel dazu drehte ich mit Jacques Doillon den Film „Kleines Luder“. Er wollte mich ungeschminkt vor der Kamera sehen. Auch für ihn wollte ich perfekt sein. Ich brauchte wirklich lange, um mich von der Erwartungen anderer zu lösen und ganz ich selbst zu sein. Tun sich junge Frauen heute mit der Selbstverwirklichung leichter? Selbstzweifel sind immer noch weit verbreitet. Genau wie in den Sechzigern. Damals hatten wir stark geschminkte Augen und trugen auffällige Kleidung, um unsere Komplexe zu überspielen. Aber inzwischen fordern Frauen selbstverständlich Gleichberechtigung ein. Sicher hat sich einiges getan. In meiner Generation heiratete man mit 17, 18 und kriegte ein Baby. Heute lassen sich viele Frauen mit der Familienplanung Zeit. Sie werden vielleicht mit 40 schwanger, vorher kümmern sie sich um ihre Karriere. Das liegt gewiss daran, dass viele Scheidungskinder sind und sich finanziell nicht von einem Mann abhängig machen wollen. Was hat #MeToo für Frauen verändert? Sie lassen sich nichts mehr gefallen. In meiner Jugend war es normal, dass ein Mann einer Frau an den Po fasste. Nun wehren sich Frauen dagegen, zum Sexobjekt degradiert zu werden. Manchmal denke ich allerdings, sie sollten einiges etwas leichter nehmen. Wenn mir früher in Italien ein Mann auf der Straße hinterher gepfiffen hat, fand ich das schmeichelhaft. Trotzdem scheinen Sie sich erst jetzt mit Ihrem neuen Album endgültig von Serge Gainsbourg emanzipiert zu haben. Meine Songs sind auf jeden Fall glaubwürdig. Darum war es mir wichtig, in „Cigarettes“ und „Ces murs épais“ über den Verlust meiner Tochter Kate zu sprechen. Ihr Tod war für mich die größte Tragödie meines Lebens. Warum basiert Ihr neues Album auf Ihrem 20 Jahre alten Bühnenstück „Oh! Pardon tu dormais … “? Der Musiker Etienne Daho sah mehrere Aufführungen und wollte meine Texte vertonen. Dabei blieb es aber nicht. Es kamen auch Tagebuchauszüge oder Themen, die mich intensiv beschäftigten, dazu.
Dagmar Leischow
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Finanzinvestor Arques: Die Ausschlachter - taz.de
Finanzinvestor Arques: Die Ausschlachter Wie man Unternehmen filetiert, den Börsenwert künstlich hochtreibt und mit Gewinn aussteigt. Eine Lektion, die für 700 Druckereimitarbeiter das Berufsende bedeutet. Glänzende Geschäfte: "Arques"-Firmenschild in Starnberg. Bild: dpa Der Rost zieht sich 50 Meter lang. Ganz scheckig ist die "Lithoman 3" schon vom braunen Fraß. Eigentlich kann die riesige Maschine 3,2 Millionen Seiten Papier in einer Stunde bedrucken. Doch schon seit zwei Jahren verrottet alles hier in der eingebeulten Wellblechhalle in Köln-Mülheim. Nur das Firmenlogo aus Plastik an der Außenwand glänzt wie neu. Die Geschichte der Kölner Druckerei Bachem und sechs weiterer Druckhäuser erzählt, wie fatal sich der Einstieg sogenannter Finanzinvestoren für Unternehmen gestaltet, in die sie nichts investieren. Wie marode Firmen noch einmal ausgeschlachtet werden - wer als Gewinner dasteht und wer verliert. Im Falle der Arquana International Print & Media AG haben über 700 Drucker ihren Job verloren. Auf der Sonnenseite sieht sich dagegen Peter Löw. Seit vergangenem Dezember hat der Firmenjäger ein neues Revier. Mit seiner Beteiligungsfirma Bluo hat er die Nachrichtenagentur ddp mit dem deutschen Dienst der Associated Press vereinigt. Jetzt bläst er zum Großangriff auf den Platzhirsch dpa. "Wir werden die beste Voll-Agentur in Deutschland sein", sagte er. Vollmundig war er schon bei seiner ersten Beteiligungsfirma Arques Industries in Starnberg. Damals sagte er Arquana eine große Zukunft voraus. Davon will er heute nichts mehr wissen. Zu Arquana möchte er sich nicht äußern. DIE FIRMENArques: 2002 benannte der neue Eigner Peter Löw den ehemaligen hundertjährigen Kurmittelbetrieb "AG Bad Salzschlirf" in "Arques AG" um. Seither saniert das Unternehmen mittelständische Unternehmen. Seit 2007 auch Beteiligung an nicht maroden Firmen: Der IT-Distributor Actebis von der Otto-Gruppe und der Telefonhersteller Gigaset Communications GmbH (ehemals Siemens) kommen ins Portfolio.Arquana: Zwischen 2005 und 2006 erwarb die Beteiligungsfirma Arques Industries sieben Druckereien und fasste sie unter dem Dach der Arquana-Holding zusammen. Mit preiswerten Angeboten versuchten die kriselnden Druckhäuser sich zu behaupten: Im Verhältnis zum Umsatz erhöhte sich laut eines Consulting-Kurzgutachtens die schon sehr hohe Materialquote von 63,5 Prozent im Jahr 2006 zwölf Monate später auf 68,2 Prozent. Arques hatte sieben billig aufgekaufte Druckereien in der 2005 gegründeten Tochter Arquana zusammengefasst. "Wir werden das Unternehmen zu den Top 5 der Rollenoffsetdruckereien und Dienstleister in Europa machen", hatte Vorstand Friedrich-Carl Wachs im Juli 2006 ausgerufen. Kriselnde Firmen sollten von Arquana einer Kur unterzogen, aufgepäppelt und binnen drei bis vier Jahren mit Erfolg verkauft werden. So lautet das Arques-Credo. Doch zuweilen verstirbt der Patient. Zunächst lohnte sich der Kauf der Druckereien für Arques schon allein für die Bilanz. Denn die Firmen samt ihren Anlagen und Immobilien waren laut Geschäftsbericht 2005/2006 mehr wert als der Kaufpreis von insgesamt rund 11 Millionen Euro. Die Differenz verbuchte Arques als Gewinn - das erlauben die Rechnungslegungsregeln, und das hilft dem Börsenkurs. Vordergründig verfolgte Löw mit der Arquana das Ziel, durch größere Einheiten und effizientere Verwaltung in der Druckbranche Marktanteile zu erobern. "Dann kamen Herren in schwarzen Anzügen", erinnert sich Harald Stadler, Betriebsratsvorsitzender bei Bachem, "und sie hielten uns allesamt für dumme Arbeitnehmer. Sie wollten uns zeigen, wie man eine Druckerei saniert." Personalkosten runter Hintergründig, so Stadler, habe Arques vor allem den Kurs der börsennotierten Arquana im Blick gehabt. Die schiere Größe als Ziel verfolgten die Starnberger mit zwei Mitteln. Personalkosten sollten runter und Umsätze rauf. "Es wurde gedruckt. Koste, was es wolle", sagt Stadler. Arquana machte Billigangebote weit unter denen der Konkurrenz. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag sollten die Maschinen laufen. Und sie liefen. Arques investierte allerdings nach Angaben des Konzernbetriebsrates kaum. Allein durch eigene Kapitalerhöhungen am Börsenmarkt sollte Arquana Kraft kriegen. Zusammengelegt sahen die maroden Firmen besser aus, als es ihnen ging. Ihr Börsenwert sollte steigen, bis Arques sich wieder von ihnen trennen konnte. Im Februar 2006 notierte die Arquana-Aktie bei der Frankfurter Börse bei 34 Euro und hielt sich bis Jahresende bei 25 Euro; in den Vorjahren hatte sie meist zwischen 10 und 20 Euro gependelt. Doch das Alltagsgeschäft machte den Druckern ebenso zu schaffen wie Managementfehler: "Die Aufträge wurden zwischen den Druckereien hin und her geschoben", erinnert sich Thomas Künkele, Betriebsratschef der Colordruck GmbH in Pforzheim. "Ob dies einen wirtschaftlichen Sinn ergab, spielte keine Rolle." Bei der Planung der Aufträge, sagt Stadler, habe die Zentrale oft nicht die Gegebenheiten vor Ort gekannt, wie zum Beispiel Papierdisposition, Arbeitszeiten oder Maschinenschäden. Wurde so ein Auftrag für Köln geplant, musste er in Pforzheim ausgeführt werden: mehr Zeit- und Geldaufwand waren die Folge. Eine Konzeption oder einen Masterplan für die Unternehmensentwicklung gab es nicht. Das Management machte sich an den Verkauf von Maschinen und Gelände. 2006 erzielte Arquana mit Leasinggeschäften allein bei Bachem und der Druckerei Johler 13,1 Millionen Euro. Doch das Geld wurde in die Deckung der laufenden Arquana-Kosten gesteckt. Damit verloren die Druckereien für Arques an Wert. In Starnberg machte man sich daran, einen Exit-Plan zu entwerfen. Wenn internationale Finanzinvestoren als Heuschrecken verschrien sind, dann sind Restrukturierer die Totengräber: Gern erwerben Unternehmen wie Arques, Aurelius AG oder Bavaria Industriekapital AG Firmen zum negativen Kaufpreis, oft von Konzernen, die ihre kriselnden Töchter per Mitgift loswerden. Eine Art Mitgift hatten auch die Arquana-Druckhäuser: ihre Immobilien und Maschinenparks. Ende 2006 begann Arques daher mit dem Ausstieg. Man reduziere den Anteil auf unter 50 Prozent, um dem Unternehmen "eine größere Eigenständigkeit" zu ermöglichen, hieß es in einer Mitteilung von Arques. "Der Arquana-Konzern hat sich … zu einem namhaften europäischen Player … entwickelt", lobten die Starnberger. Einen guten Zeitpunkt für seinen Ausstieg erwischte Peter Löw. In zwei Schüben verkaufte er Ende Januar und Ende Februar 2007 all seine Anteile an Arques und zog sich laut Medienberichten mit etwa 80 Millionen Euro vorerst ins Privatleben zurück. Schließlich verabschiedeten sich auch die übrigen Arques-Manager. Ende August veräußerte Arques 29,9 Prozent ihrer Anteile an Arquana an einen "internationalen Investor", wie es in einer Pressemitteilung hieß. Gemeint war die Printec Investments Ltd. mit Sitz in Birmingham, Großbritannien. "Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart." Von Printec als neuem Hauptinvestor hörte man in den folgenden Monaten nicht viel. Mitte Dezember trennte sich Arques von den restlichen 19,8 Prozent an Arquana. Am 18. Dezember dann verkaufte auch Printec sein gesamtes Depot. Zwischen dem 17. und dem 20. Dezember fiel der Kurs der Arquana-Aktie um 65 Prozent. Anfang Januar 2008 stellte Arquana Antrag auf Insolvenz. Printec hatte ihr den Todesstoß versetzt - dabei liegen die Unternehmensziele dieser fragwürdigen Firma im Dunklen; aber ihr Hintermann führt in die Münchener Szene jener Beteiligungsgesellschaften zurück, in der Arquana entstanden ist. Nur wenige Tage vor dem Erwerb der Arquana-Anteile war Printec gegründet worden. Die britische Datenbank "Check Sure" weist als Gründungsdatum den 18. August 2007 aus. Alle Anteile von Printec gehören laut "Check Sure" einer WS Consult GmbH in München. Die gleiche Telefonnummer besitzt die Unternehmensberatung Schaal & Partner in München. Ein Anruf dort wird schnell abgeschmettert. Auch weitere Kontaktversuche scheitern. Doch die britische Datenbank bietet Aufschluss. Als Direktoren von Printec nennt sie Arndt Greifenhofer. Der wiederum hatte sich einen Namen gemacht, als er im ersten Halbjahr 2006 der Firma Investunity AG vorstand. Diese investiert eigenen Angaben zufolge "in Unternehmen in Turnaround-Situationen oder unterbewertete Assets mit hohem verdecktem Substanzwert". Dieses Engagement bewältigte Arndt Greifenhofer laut Geschäftsbericht 2006 ohne einen einzigen Mitarbeiter. Allerdings residiert Investunity im Münchener Bavariaring 11 - unter einem Dach mit der Kapitalbeteiligungsfirma Aurelius. Deren Chef Dirk Markus stand 2006 dem Aufsichtsrat von Investunity vor - und hatte 2002 gemeinsam mit Peter Löw Arques gegründet. Beide hatten vorher bei McKinsey gearbeitet. 2004 ist Dirk Markus bei Arques ausgeschieden. Arndt Greifenhofer arbeitet für Aurelius auch an anderer Stelle. Mitarbeiter der Londoner Firma Sit Up Ltd., eines Homeshopping-Spezialisten im Besitz von Aurelius, verweisen nach München. Bei Sit Up wird Greifenhofer als Direktor geführt. Doch mit ihm sprechen darf man nicht. Dennoch bestätigt die Beteiligungsfirma, dass Greifenhofer für sie als Direktor bei Sit Up arbeite, "aber nicht operativ". Die Druckereien der Arquana standen schließlich vor dem Aus, sie wurden abgewickelt - lediglich eine, die Johler Druck in Neumünster, hat überlebt. Nur ein wirklicher Finanzinvestor hätte ihnen vielleicht helfen können - Arques aber schielte stattdessen auf den lukrativen Exit. Heraus kam ein frühzeitiger Exitus. Die Restrukturierer versuchten sich an einer Branche, die sie nicht kannten. Den Scherbenhaufen versuchten sie mit Hilfe einer Briefkastenfirma zu verbergen. Ganz erledigt ist die Affäre Arquana indes nicht. Die Salzburger Staatsanwaltschaft ermittelt im Zusammenhang des Konkurses der Arquana-Druckerei Sochor wegen des Verdachts auf grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen und auf Betrug. Bleibt noch die ominöse Printec. Die Firma verwischt gerade ihre Spuren. Zum 31. Juli 2010 hat sie sich aufgelöst.
Jan Rübel
Wie man Unternehmen filetiert, den Börsenwert künstlich hochtreibt und mit Gewinn aussteigt. Eine Lektion, die für 700 Druckereimitarbeiter das Berufsende bedeutet.
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