title
stringlengths
8
1.02k
content
stringlengths
7
306k
author
stringlengths
0
255
description
stringlengths
0
2.72k
keywords
sequencelengths
3
26
opinion
bool
2 classes
date_published_time_at
unknown
date_modified_at
unknown
__index_level_0__
int64
1.04k
1.1M
Situation für Schulkinder in Berlin: Das Schlimmste ist das Achselzucken - taz.de
Situation für Schulkinder in Berlin: Das Schlimmste ist das Achselzucken Unser Autor verzweifelt über eine seit 30 Jahren nicht gebaute Schule in Berlin. Zum ersten Mal versteht er, dass manche nicht mehr wählen wollen. In Berlin ist die Anzahl der Schulen, die nicht gebaut oder nicht saniert werden, sehr hoch Foto: Imago Jeden Morgen fahre ich auf dem Weg in die taz-Redaktion an einer Baustelle vorbei. Und jeden Morgen schaue ich, ob auf der Baustelle etwas passiert ist. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das Bauschild ist umgekippt. Oder es steht. Sonst bewegt sich auf der Baustelle nichts. Auf dem Schild steht: Berliner Schulbauoffensive. Seit Anfang der Neunziger Jahre soll auf der großen Brache eine Grundschule gebaut werden. Kinder, die damals geboren wurden, sind mittlerweile erwachsen, am Sonntag dürfen sie in Berlin wählen. In die geplante Grundschule konnten sie jedoch nicht gehen. Und ihre Kinder? Vielleicht. Grundschulkinder, die in der Nähe dieser Baustelle leben, müssen ihre Ranzen weiterhin drei Kilometer zur Schule schleppen, mitten in Berlin. „Kurze Beine – kurze Wege“, das ist das selbsternannte Ziel der Schulpolitik. Kurze Beine, lange Gesichter, das trifft es besser. Weil auf der Baustelle nichts passiert, bin ich mal in die Berliner Archive hinabgestiegen, es wird jetzt sehr lokalzeitungshaft, Achtung: 1992 wird der Bau einer Grundschule beschlossen, auch eine Kita wird geplant. 1997 wird der Schulbau wieder abgesagt. Denn die Schülerzahlen sinken. Und das arme Berlin muss sparen. Es wird nur noch gehofft 15 Jahre später steigen die Schülerzahlen, 60.000 Schulplätze werden benötigt. Nun will man auf der Brache wieder eine Grundschule bauen. Aber: Auf dem vorgesehenen Grundstück wird nun Wein angebaut, ungenießbarer Berliner Weißwein. Die Grundschule muss deshalb auf der daneben liegenden Brache neu geplant werden. 2016 wird die Berliner Schulbauoffensive mit großem Tamtam vorgestellt. Zunächst heißt es, die neue Schule soll 2022 fertiggestellt werden, dann 2023. Mittlerweile wird nur noch gehofft, auf 2025. Die zuständige Senatorin will sich nicht mehr festlegen. Im Bezirksparlament wird im Oktober die zuständige Stadträtin gefragt: Warum geht es mit dem Bau nicht los? Die Mittel seien nicht freigegeben, antwortet sie. Wenige Tage später teilt ihr Sprecher mit, es habe ein „Informationsdefizit“ gegeben. Die Mittel seien freigegeben, der Bau könne losgehen. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Denken Sie sich anstelle jeder Jahreszahl drei Schulklassen, die jeden Morgen an der Brache vorbei zu einer weit entfernten, völlig überfüllten Schule stiefeln. Verzögerter Schulbau für hunderte Kinder Das Schlimmste an dieser Lokalposse ist nicht der verzögerte Schulbau für hunderte Kinder, die sich weiter mehrere Jahre durch lebensgefährlichen Verkehr zur Schule trauen müssen. Es ist das Achselzucken, mit dem man es hinnimmt. Starke Gefühle, Wut und Enttäuschung würden ja bedeuten, dass irgendwer überrascht ist. Und eine Grundschule ist kein Flughafen, who cares? Dieses Achselzucken verbindet die Geschichte von der Grundschule mit dem Flughafen und der verpatzten Wahl, die nun wiederholt werden muss. Man muss es so groß sagen: In Berlin sind selbst die Grundvoraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft – freie und gleiche Wahlen, funktionierende öffentliche Schulen für Alle – nicht mehr erfüllt. Dafür, dass das eine Zäsur ist, ist es ziemlich still. Vor Kurzem ist etwas Verrücktes passiert: Ich habe einen Bagger gesehen, der Bagger ist sogar gefahren. Der erste Spatenstich sei für Anfang 2023 geplant, hieß es im Herbst. Bald ist Frühling, Pflanzen wachsen am Bauzaun hoch, aber einen Spaten habe ich immer noch nicht gesehen. Am Sonntag werde ich an dem Bauschild vorbei zu einer anderen Schule gehen, eine, die gerade noch steht, um dort zu wählen. Aber ich kann zum ersten Mal verstehen, dass viele andere einfach zuhause bleiben.
Kersten Augustin
Unser Autor verzweifelt über eine seit 30 Jahren nicht gebaute Schule in Berlin. Zum ersten Mal versteht er, dass manche nicht mehr wählen wollen.
[ "Bauen", "Berlin", "wochentaz", "Schule", "Kolumne Materie", "Kolumnen", "Gesellschaft", "Serie", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
9,989
Nach Kritik an Helsinki-Treffen: Trump will sich versprochen haben - taz.de
Nach Kritik an Helsinki-Treffen: Trump will sich versprochen haben Nach seinem Treffen mit Putin hatte Trump den Aussagen seiner Geheimdienste widersprochen. Nun sagte er, er habe genau das Gegenteil gemeint. Alles nur ein Versprecher, sagt US-Präsident Trump Foto: reuters WASHINGTON AFP | Nach der parteiübergreifenden Kritik in den USA an seinem Auftritt mit Russlands Staatschef Wladimir Putin in Helsinki hat sich US-Präsident Donald Trump um Schadensbegrenzung bemüht. Bei einer Erklärung im Weißen Haus am Dienstag schob er seine Aussage vom Vortag auf einen vermeintlichen Versprecher, zugleich bekannte er sich zu den eigenen Geheimdiensten. Er akzeptiere deren Erkenntnisse, wonach Russland hinter den Hackerangriffen während des US-Wahlkampfs 2016 steckte. Trump fügte jedoch hinzu: „Es könnten auch andere Leute gewesen sein“. Trump hatte bei seinem Gipfel mit Putin am Montag in Helsinki ein klares Bekenntnis zu den Befunden seiner eigenen Geheimdienste zu den russischen Cyberattacken vermieden. Vielmehr attackierte er die US-Bundespolizei und die frühere US-Regierung und machte zugleich deutlich, dass er Putins Ausführungen für überzeugend halte: Der Kreml-Chef sei in seinem Dementi „extrem stark und kraftvoll“ gewesen, lobte Trump. Selbst Unterstützer Trumps aus dem Lager der Republikaner warfen dem Präsident daraufhin einen würdelosen Kotau gegenüber dem russischen Staatschef vor. Trump sagte daraufhin am Dienstag, er habe sich bei seiner Pressekonferenz mit Putin lediglich versprochen. Er habe den Satz sagen wollen: „Ich sehe keine Grund (…), warum es nicht Russland sein sollte“, das hinter den Hackerangriffen steckte. Das „nicht“ habe er versehentlich weggelassen. Seine umständliche Erläuterung des angeblichen Versprechers wiederholte Trump mehrmals. Der Chef der oppositionellen Demokraten im Senat, Chuck Schumer, sagte, Trump versuche sich nun herauszureden. Seine Erklärung komme „24 Stunden zu spät“. Trump: keine Auswirkung auf den Wahlausgang In seiner Erklärung im Weißen Haus bekundete Trump am Dienstag zwar nachdrücklich sein „volles Vertrauen (…) in unsere großartigen Geheimdienstbehörden“, fügte aber mit Blick auf die Cyberattacken hinzu: „Es könnten auch andere Leute gewesen sein“. Damit wollte er offenbar andeuten, dass neben Russland noch weitere Akteure hinter den Hackerangriffen im Wahlkampf stecken könnten. Wer dies gewesen sein könnte, sagte er allerdings nicht. Trump beharrte überdies darauf, dass „Russlands Aktionen überhaupt keine Auswirkungen auf den Ausgang der Wahl hatten“. Er versicherte zudem erneut, dass es keinerlei Absprachen mit Russland gegeben habe. In den USA untersucht Sonderermittler Robert Mueller die mutmaßlichen Einmischungen Moskaus in den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 und mögliche diesbezügliche Absprachen mit dem Trump-Team. Vergangene Woche hatte die US-Justiz zwölf Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes unter Anklage gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, für Hackerangriffe unter anderem gegen das direkte Umfeld der Trump-Rivalin Hillary Clinton verantwortlich zu sein. Das Weiße Haus veröffentlichte am Dienstag Angaben dazu, wie die USA sich „gegen Russlands bösartige Aktivitäten verteidigten“. Auch Trump sagte am Dienstag im Weißen Haus, die US-Regierung tue alles, was in ihrer Macht stehe, um eine erneute russische Intervention bei den Kongresswahlen im November zu verhindern. Republikaner Ryan hält Einmischung für belegt Kurz darauf zeigte sich Trump dagegen bei Twitter wieder angriffslustig: „Das Treffen von Präsident Putin und mir war ein großer Erfolg, nur nicht in den Fake-News-Medien!“, twitterte der republikanische US-Präsident. Der Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, der Republikaner Paul Ryan, sagte bei einer Pressekonferenz in Washington am Dienstag: „Wladimir Putin teilt nicht unsere Interessen, Wladimir Putin teilt nicht unsere Werte.“ Russland habe sich in die US-Wahl 2016 eingemischt, das sei nach einem Jahr Ermittlungsarbeit „wirklich klar“.
taz. die tageszeitung
Nach seinem Treffen mit Putin hatte Trump den Aussagen seiner Geheimdienste widersprochen. Nun sagte er, er habe genau das Gegenteil gemeint.
[ "Donald Trump", "Wladimir Putin", "Republikaner", "USA unter Donald Trump", "Amerika", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,001
Roman über kindliche Influencer: Big Mother is Filming You - taz.de
Roman über kindliche Influencer: Big Mother is Filming You Eine sechsjährige Influencerin verschwindet. Delphine de Vigans Roman „Die Kinder sind Könige“ erzählt von Ausbeutung in sozialen Medien. In Delphine de Vigans Roman stellen junge Influencer ihr Glück via Youtube-Abo zur Schau Foto: Katja Kircher/plainpicture Ein Mädchen spielt mit Nachbarskindern in der Tiefgarage einer exklusiven Pariser Wohnanlage Versteck. Und verschwindet. Ein Unglück oder die Tat eines Pädophilen? Die Mutter geht bei der Vernehmung gleich von einer Erpressung aus: „Wir sind berühmt, müssen Sie wissen. Die Kinder und ich. Sehr berühmt … Ich bin sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt.“ Keiner der Beamten hat je etwas von dieser Mélanie Diore gehört – eine Verrückte? Keineswegs: Mélanie betreibt einen lukrativen Familienkanal auf Youtube, mit Millionen von Abonnenten. In den Hauptrollen ihre sechsjährige Tochter Kimmy und ihr achtjähriger Sohn Sammy. Delphine de Vigans neuer Roman „Die Kinder sind Könige“ erzählt von einer perfekt ausgeleuchteten, erschreckenden Familienidylle, in der die Wohnung nahtlos in ein Filmstudio übergeht. Und an deren zur Schau gestelltem Glück jeder via Abo teilhaben darf. Weshalb zum Beispiel beim Besuch im Schuhgeschäft die „lieben“ Follower entscheiden dürfen, welche Sneaker für Kimmy gekauft werden. In anderen Videos müssen die Kinder scheinbar verzückt immer neue Überraschungspakete auspacken oder Markenwaren mit No-Name-Produkten vergleichen. Die Kinderzimmer ähneln Spielzeuggeschäften, mit Bergen ungeöffneter Geschenkesets. Also ein durchaus ungewöhnlicher Fall für die Polizei. Dass aber im Roman gleich mehrfach betont wird, wie sehr die Welt der Kinderkanäle die „Vorstellungskraft“ der erfahrenen Ermittler übersteigt, wirkt doch etwas unglaubwürdig, zumal halb Frankreich das Leben der Diores zu verfolgen scheint. „Die meisten Leute mögen uns“, lässt die Autorin ihre Hauptfigur der Polizei erklären. „Das sagen sie uns oder sie ­schreiben es, sie fahren Hunderte von Kilometern, um uns zu sehen … Einfach verrückt, diese ganze Liebe, die wir empfangen. Sie können sich das nicht vorstellen. Aber neuerdings gibt es Gerüchte, Verleumdungen, und jetzt sind uns manche Leute böse. Sie wünschen uns Schlechtes. Weil sie neidisch sind …“ Tatsächlich kommt bald schon der Brief des Entführers, der Mélanie dazu nötigt, ein makabres Unboxing-Video zu veröffentlichen. Das BuchDelphine de Vigan: „Die Kinder sind Könige“. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont, Köln 2022, 320 Seiten, 23 Euro Gescriptete Inszenierung Was macht es mit Kindern, die als Prinz und Prinzessin voller Bewunderer (und Hater) in einer Welt des entfesselten Konsumismus leben und in der das Familienleben vom Moment des Aufstehens an eine gescriptete Inszenierung ist? Nur sensible Zuschauer wie die Ermittlerin Clara Roussel, die sich mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen durch das Archiv des Kanals arbeitet, erkennen, welchem Druck Kimmy und Sammy ausgesetzt sind. Dass die Sechsjährige auf den letzten Clips bevorzugt Kapuzenpullis trägt und sich mit dem Rücken zur Kamera setzt, ist ebenso bezeichnend wie ihr trotzig festgehaltenes Lieblingsspielzeug, ein zerschlissenes Stoffkamel, das ihre Mutter nur verächtlich „Schmuseschmutz“ nennt. In einem der von Clara gesichteten Clips findet Mélanie ihre Tochter einmal sogar allein im Aufnahmestudio; schluchzend und voller Schuldgefühle will das Mädchen seinen Fans gerade „für immer Adieu“ sagen. Prompt wendet sich Mélanie zur Kamera an ihre „Lieben“, die Follower, und kommentiert spöttisch: „Da seht ihr es, wir sind knapp davongekommen. Kimmy wollte einfach von der Bühne abtreten.“ Um Missbrauch und fatale Abhängigkeiten ging es schon in früheren Romanen von Delphine de Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“ (2011) erzählt von einer Frau, die als Mädchen von ihrer Mutter in eine Modelkarriere gedrängt wird; in „Loyalitäten“ (2018) wird ein Zwölfjähriger wegen des Ehekriegs seiner Eltern zum Alkoholiker. Virulentes Thema Mit ihrem neuen Roman hat die französische Autorin ein Thema aufgegriffen, das zwar nicht nur, aber gerade auch in ihrem Heimatland virulent ist. Erst 2020 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, dass Influencer-Kindern das „Recht auf Vergessen“ zusichert. Geschickt benutzt Delphine de Vigan dabei den Krimiplot als Transmissionsriemen zur Anprangerung gesellschaftlicher und medialer Entwicklungen. Zu Recht verortet sie zu Romanbeginn den historischen Wendepunkt, den „Übergang vom Sehen“ zum „Gesehen-, Erkannt- und Bewundertwerden-Wollen“, im Jahr 2001 mit der ersten Staffel der französischen „Big Brother“-Ausgabe „Loft“. Denn mit der Einführung des Reality-TV konnte plötzlich jeder berühmt werden. Gerade für die Protagonistin Mélanie Diore wird dieses Motiv zentral. An ihrem in Rückblenden geschilderten Lebenslauf macht die Autorin exemplarisch die mediale Entwicklung sichtbar: von einer eher desaströsen Teilnahme an einer Dating-Sendung („26 Jahre. JUNGFRAU“, notiert die Casterin begeistert) über Mélanies Faszination für Facebook, später Youtube („eine großzügige, wunderbare, allen zugängliche Welt“), um der Leere und Einsamkeit ihres Hausfrauen- und Mutterdaseins zu entgehen, bis zur lebensverändernden Geschäftsidee, der Entdeckung der ersten Kinderkanäle aus den USA. Illusionen und Selbstlügen So wie der Roman geschickt mit Elementen aus Kriminal-, Medien- und Gesellschaftsroman spielt, so zieht die Autorin auch stilistisch verschiedene Register. Routiniert wechselt sie zum Beispiel vom Protokoll- oder Berichtston zur bedrückenden Sezierung der Innensicht ihrer Figuren mit all ihren Illusionen und Selbstlügen. „Furchtbar gern“ ließen sich ihre Kinder filmen, glaubt die Mutter trotz ihrer Verzweiflung über Kimmys Verschwinden, überhaupt sei ihr Kanal „ein Geschenk, das Glanz in ihr gemeinsames Leben gebracht hatte“. De Vigans engagierter Roman ist, keine Frage, spannend zu lesen, leidet aber daran, seinen Le­se­r:in­nen kein eigenes Urteil zuzutrauen. Ein Ärgernis ist auch die allzu küchenpsychologische Motivierung der beiden Protagonistinnen. Hier Mélanie, die von ihrer Mutter nie ein anerkennendes Wort erfährt und daher lebenslang nach Bestätigung lechzt, dort ihre Gegenfigur: die empathische Polizistin Clara, die aufgrund ihrer Herkunft aus einem linksliberalen Elternhaus mit der Digitalisierung fremdelt und als nerdige Einzelgängerin ein wandelndes Klischee ist. Überhaupt dienen gerade Claras Recherchen allzu offenkundig dazu, eine in Sachen Social Media als gänzlich ahnungslos vorgestellte Leserschaft etwa über die Unterschiede von „Pranks“ und „Challenges“ aufzuklären. Was macht es mit Kindern, die als Mini-Influencer in einer Traumwelt aufwachsen? Der Roman verrät es im Schlusskapitel, einem Blick in die Zukunft des Jahres 2031: Die volljährig gewordene Kimmy verklagt ihre Mutter, ihr paranoid gewordener Bruder traut sich nicht mehr, seine Wohnung zu verlassen. Und ein Psychiater diagnostiziert bei vielen Jugendlichen ein „Truman-Syndrom“: Wie die Filmfigur sind sie davon überzeugt, „dass sie ständig gefilmt werden und dass jede Minute ihres Lebens irgendwo wiedergegeben wird: in einer virtuellen Reality-TV-Sendung, auf einer Social-Media-Plattform oder in den Tiefen des Darknets …“ Das darf, angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der heutige Jugendliche selbst Videos von sich posten, bezweifelt werden.
Oliver Pfohlmann
Eine sechsjährige Influencerin verschwindet. Delphine de Vigans Roman „Die Kinder sind Könige“ erzählt von Ausbeutung in sozialen Medien.
[ "Französische Literatur", "Literatur", "Roman", "Soziale Medien", "Influencer", "Kinder", "GNS", "Buch", "Kultur", "Feed", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,018
VERRÜCKTE? VOLLPFOSTEN? NEIN, NUR TORHÜTER: Trapps tragisches Trappeln - taz.de
VERRÜCKTE? VOLLPFOSTEN? NEIN, NUR TORHÜTER: Trapps tragisches Trappeln Die rätselhafte Welt des SportsACHIM BOGDAHN Torwart ist der vielleicht schwierigste Beruf nach Papst, zyprischem Notenbankchef und Katja Riemanns Interviewer. Ständig fliegen einem die Bälle um die Ohren, schon der leiseste Fehler wird öffentlich seziert und einen blöden Spruch gibt’s noch obendrauf – vom ZDF-Intellektuellen Olli Kahn („Das einzige Tier bei uns zu Hause bin ich“). Nun gut, der war auch mal Torwart. Manuel Neuer zum Beispiel; erst verursachte er im Länderspiel das peinliche Gegentor gegen Kasachstan, quasi fußballerisch das Aserbaidschan des südlichen Ural. Und dann kassierte er zwar in 26 Ligaspielen nur 11 Gegentore, aber ausgerechnet gegen den unterirdischen Hamburger SV gleich zwei! Aber was soll da sein Gegenüber sagen, René Adler bekam im gleichen Spiel neun Gegentore. Hauptsache gesund. Bei Werder Bremen sind dagegen kürzlich die beiden Ersatztorhüter im Training ineinander geknallt, Richard Strebinger musste mit einer Risswunde am Kopf blutend vom Platz, sein Kollege Raphael Wolf zog sich einen Kreuzbandriss zu. Da hat sich St. Paulis Torwart Philipp Tschauner besser gehalten. Er sprang im Training aus Versehen seinem Coach Michael Frontzeck mit den Knien in die Brust, Frontzeck landete mit drei gebrochenen Rippen und angerissener Lunge im Krankenhaus, Tschauner dagegen hat gerade sogar in letzter Sekunde per Kopfball den Ausgleich gegen Paderborn erzielt. „Da darf er mir gerne wieder eine Rippe brechen“, sagte Trainer Frontzek. (Aber bitte keinen Hattrick!) Kevin Trapp, der Torwart von Eintracht Frankfurt hat dagegen Pause. Er hat bei einem Werbedreh der deutschen U-21-Nationalelf mitwirken dürfen. Dabei mussten die Spieler durch eine spiegelglatte Halle rennen und zwar mit Stollenschuhen, damit es spektakulär aussieht und schön laut trappelt. Trapp rutschte aus, brach sich die Hand und der Werbesport könnte in ungeschnittener Form garantiert der neue „Gangnam Style“ auf YouTube werden. Und dann ist da ja noch der ehemalige Nationaltorwart Tim Wiese. Der Sympathieträger mit dem Tattoo seiner nackten Ehefrau Grit und der Rambo-Gedächtnisfrisur hat sich bei seinem Arbeitgeber TSG Hoffenheim unbeliebt gemacht, weil er sich intensiv in die Untiefen des badischen Karnevals eingearbeitet hat. Als Sträfling verkleidet war er zusammen mit seinem Kumpel, der als Neandertaler ging, mit anderen Partygästen auf der Herrentoilette so in Streit geraten, dass die Polizei kommen musste. Die anschließende mehrwöchige Suspendierung bei Hoffenheim wurde nun aufgehoben und „Sträfling“ Wiese begnadigt. Gut für die Sport-Bild. Die hatte nämlich unverdrossen einen Preis für Leser ausgelobt, bestehend aus einer Trainingsstunde mit Wiese. Was sollte das sein? Pub Crawl? Weinverkostung? Tai Chi? Vielleicht könnten alle diese Herren in Sachen Nervenstärke noch etwas vom dänischen Profi Kim Christensen (FC Kopenhagen) lernen. Vor drei Jahren machte der Torhüter damals noch beim IFK Göteborg Schlagzeilen: Er wurde dabei ertappt, als er sein Tor einfach verkleinerte. Beim Auswärtsspiel in Örebrö wurde Christensen auf frischer Tat dabei erwischt, wie er kurz vor Spielbeginn die beiden Torpfosten verrückte, indem er diese mit dem Fuß um einige Zentimeter nach innen schob. Der Übeltäter gestand später, dass er den Trick auch schon in der ersten schwedischen Liga angewandt hatte. „Ich habe den Tipp vor ein paar Jahren von einem Freund bekommen. In manchen Stadien sind die Torstangen nicht fest im Rasen verankert. Also habe ich das seither von Zeit zu Zeit gemacht. Es ist nicht mein Fehler, wenn die Pfosten nicht verankert sind“, sagte er. Apropos Vollpfosten: Der bekennende Rechtsextreme Paolo Di Canio ist zwar kein Torhüter, aber jetzt vom abstiegsbedrohten englischen Premier League Club FC Sunderland als Trainer verpflichtet worden. Der Italiener hat während seiner aktiven Zeit mit Hitlergruß gejubelt und verehrt ganz offen den italienischen Diktator Mussolini. Di Canio hat mal gesagt: „Ich bin Faschist, aber kein Rassist.“ Das ist dasselbe wie: „Ich bin ein totaler Volltrottel, aber kein Idiot.“
ACHIM BOGDAHN
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,036
Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse - taz.de
Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse SZENE WEST Sunshine trifft Karl Lagerfeld, die Genialen Dilletanten treiben Unfug im piefigen Westberlin. In „Subkultur Westberlin 1979–1989“ erzählt Wolfgang Müller, was im Exil, im Risiko und im Anderen Ufer los war und was es zu bedeuten hat. Ein Auszug Subkultur Westberlin■ „Subkultur Westberlin 1979–1989“ ist in der Fundus-Reihe von Philo Fine Arts erschienen und kostet 24 Euro. Auf 600 Seiten arrangiert Wolfgang Müller Anekdoten aus dem alten Westberlin zu einem Sittengemälde der Mauerstadt/West, wo Punk und Kunst, queere Kultur und Politaktivismus fließend ineinander übergehen. Müller lässt Akteure zu Wort kommen, erzählt die Geschichte der Tödlichen Doris und analysiert die Strategien der Genialen Dilletanten. Ein künftiges Standardwerk, schon heute unverzichtbar. (gut) VON WOLFGANG MÜLLER Im Sommer 1977 eröffnet das Funkhouse am Kurfürstendamm. Westberlin – Funky Town? Ein kapitaler Flop. Das Lokal läuft schlecht. Der Inhaber erkennt die Zeichen der Zeit. Eine kleine Buchstabenauswechslung hat große Folgen: Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse. Und dieses Punkhouse entwickelt sich nun zum ersten Treffpunkt einer gerade erst im Entstehen begriffenen Westberliner Punkszene. Etwa zweihundert in allen Bezirken lebende Punks und eine kleine Szene sogenannter Fashion-Punks existieren in der Halbstadt. Zu den ersten Kellnern, die ab 1978 im Punkhouse arbeiten, zählt Mark Eins. Im Jahr zuvor hat er noch mit einem Frachter die Meere erkundet. In seiner Geburtsstadt Flensburg hat er die experimentelle Elektronikband DIN A Testbild gegründet. In Westberlin lernt er Gudrun Gut kennen. Diese hat zufällig zur gleichen Zeit in einem Keller der Friedenauer Sponholzstraße eine Frauenband namens DIN A4 gegründet. „Wir taten uns zusammen, ließen die Zahl 4 weg und nannten uns DIN A Testbild.“ Nach Auftritten im Kreuzberger SO36 und im Düsseldorfer Ratinger Hof trennen sich ihre Wege. Mark Eins: „Gudrun wollte lieber was mit anderen Frauen machen.“ Zuvor organisiert Gudrun Gut ein Konzert mit Blixa Bargeld in der Diskothek Moon – er hat sich gerade von seinen langen, grün gefärbten Haaren getrennt, die an den proto-queeren Orten wie Anderes Ufer oder Tali-Kino den großen Einfluss des Glam-Rock bezeugten. Das Moon-Konzert findet am 1. April 1980 statt und gilt als offizielles Gründungsdatum der Einstürzenden Neubauten. Weitere Beteiligte sind Beate Bartel und Andrew Unruh. Kurz darauf formiert Gudrun Gut mit Bettina Köster und Beate Bartel die Band Mania D, in der freejazzige Elemente auf New Wave treffen. Mania D ist die Vorläuferband der aus Musikerinnen bestehenden Gruppe Malaria! – zu deren Name das Ausrufezeichen gehört. Musiker Thomas Voburka, der Kellner aus dem Kreuzberger Exil, zählt zu den häufigen Besuchern des Punkhouse: „Die Jungpunks waren alles Gymnasiasten aus gutem Hause – zumindest die, die man in der Öffentlichkeit sah. Die Jungs haben sich im Kant-Kino mit gestandenen AC/DC-Altrockern ‚geprügelt‘ – was ziemlich komisch aussah. In Kreuzberg gab es damals gar keine Punks. Zumindest waren sie nicht zu sehen. Kreuzberg befand sich damals in der Hand von Spontis und Polit-Anarchos rund um das Georg-von-Rauch-Haus. Es gab auch noch keine Punkkneipen, nur so wirklich gruselige Alt-68er-Spelunken wie das Max und Moritz in der Oranienstraße und die Rote Harfe am Heinrichplatz.“ Im Tagebuch der Prä-Punkerin Betti Moser, die heute in England lebt, findet sich der Eintrag: „2. September 1978 Schließung des Punkhouse.“ Sieben Monate später, am 21. April 1979, eröffnet das Shizzo, das zweite Punklokal Westberlins überhaupt – im Stadtteil Steglitz. Tatsächlich strömen in die winzige Kneipe sofort alle über die ganze Stadthälfte verstreut lebenden Punks. Das Shizzo wird nun einige Monate lang das einzige Westberliner Punklokal sein. Der Kaffee wird hier in langstieligen gläsernen Eisbechern serviert. Meist sind sie leicht angesprungen, ernste Verletzungsgefahr droht. Die Einrichtung besteht aus fleißig zusammengetragenem Sperrmüll und liebevoll, aber doch recht fragil Selbstgezimmertem. Zu den ersten Gästen des Shizzo zählt Dagmar Stenschke, in der Szene bekannt unter dem Namen „Sunshine“. Hektisch und wild wirbelt sie im Lokal herum. Über ihren dünnen Beinen trägt sie schwarze Strumpfhosen mit großen Löchern und einen kurzen Minirock aus schwarzem Leder. In ihrem Haar blinken glitzernde Fundstücke, die sie dort eingeflochten hat. Sunshine schlenkert mit ihren dünnen Armen. Unzählige glitzernde und grellfarbene Armringe geben klackernde, metallische Geräusche von sich. Einige Punks mutmaßen, sie sei „auf einem LSD-Trip“ hängen geblieben. Sunshine selbst erzählt, sie sei über ein Jahr lang gegen ihren Willen in der Kieler Psychiatrie festgehalten worden. Schnell wird deutlich, dass sie ihre Umgebung genau registriert. Die Anwesenheit der immer allein Auftauchenden gilt als Qualitätsprädikat jedes neu eröffneten Clubs, jeder neuen Kneipe oder Diskothek. Wie aus dem Nichts erscheint Sunshine zu den jeweiligen Eröffnungen. Das bedeutet: Das Lokal ist richtig gut, angenehm, hat irgendetwas Spezielles. Das Shizzo schließt nach wenigen Monaten. War es das Gewerbeamt oder die Gesundheitsbehörde, die Ärger machte? Die Karawane zieht weiter, Richtung Chaos. Lagerfeld trifft Sunshine Selbst der Modedesigner Karl Lagerfeld lernt Sunshine kennen. Von einer Zusammenarbeit zwischen beiden zu sprechen wäre sicher übertrieben, aber es kommt durchaus zu einem konstruktiven Zusammenwirken. Als Lagerfeld eine Fotoserie mit Claudia Schiffer und Zazie de Paris im Kumpelnest 3000 plant und nach dem Mietpreis des Lokals fragt, wehrt Inhaber Mark Ernestus zunächst ab. Er vermiete sein Lokal grundsätzlich nicht, egal welcher Preis auch immer dafür geboten werde. Natürlich sei es kein Problem, wenn Karl Lagerfeld dort trotzdem arbeiten wolle. Der Modeschöpfer sagt zu, bittet Mark Ernestus jedoch eindringlich darum, die Presse nicht über das geplante Fotoshooting zu informieren. Es würde sonst überlaufen von Presseleuten und Neugierigen, seine Arbeit würde gestört. Das Versprechen gilt, nur die Abend- und Nachtschicht des Lokals, Gunter Trube, Käthe Kruse und Wolfgang Müller, sind eingeweiht. Am vereinbarten Tag hält um 19 Uhr ein großes Cateringauto vor dem Lokal. Karl Lagerfeld betritt mit seiner Entourage das Lokal, in dem rund zwanzig völlig überraschte Zufallsgäste sitzen. Freundlich geht er auf jeden Einzelnen zu, schüttelt ihm oder ihr die Hand und fragt, ob wohl Lust bestehe, an seinem Fotoshooting teilzunehmen. Präpariert im Drag-Queen-Outfit, erwartet Barmann Gunter Trube den Modestar. Karl Lagerfeld fragt Gunter, ob er eventuell Lust habe, sich als Solist am Fotoshooting zu beteiligen. Gunter Trube antwortet in Gebärdensprache (DGS), er habe nichts verstanden. Lagerfeld fragt den neben Gunter sitzenden Wolfgang Müller, welche Sprache Gunter Trube spreche, und bittet um eine Übersetzung. Für die Zufallsgäste hat er schwarze Masken mitgebracht. Auf diese Weise neutralisiert Lagerfeld das Publikum und bindet es in sein Konzept ein. Einzig Sunshine ignoriert das Geschehen. Wie immer sitzt sie auf dem durchgewetzten Sessel allein in der Mitte des Lokals, unmaskiert. Neben ihr, am Boden, steht die Zwei-Liter-Rotweinflasche, die sie mitgebracht hat. Deutlich vernehmbar zischt sie in Richtung Lagerfeld: „Geh doch wieder nach Paris!“, kichert anschließend und schlenkert ihre goldreifbehängten Arme in die Höhe. Lagerfelds Assistentinnen zucken nervös zusammen, er selbst instruiert ungerührt seine Models. Claudia Schiffer stellt sich breitbeinig mit dem Rücken zum Tresen, die Maskenträger positionieren sich rechts und links von ihr. Nach zwei Stunden kommt es zwischen Sunshine und Karl Lagerfeld zur Kooperation: „Dürfte ich wohl um ein Glas von Ihrem Rotwein bitten?“, fragt der Modezar. Sunshine weist mit dem Arm in Richtung Flasche: „Jaja, nimm, lang zu!“ Lagerfeld bittet den Barmann um ein leeres Weinglas, füllt es mit Sunshines Rotwein. Dann stellt der Modeschöpfer das gefüllte Glas auf den kleinen Tresen zur Küche. Dahinter lanciert er eines seiner Models – einen bildhübschen Franzosen. Während der folgenden Aufnahmen starrt der an dem Fusel nippende Adonis etwas irritiert in Richtung Sunshine. Sie schaut interessiert zurück. Entspannt auf dem Sofa sitzend, beobachtet sie die Szenerie, kichert und wirkt sehr zufrieden mit der Situation. Selbst ein schnorrender Modezar und sein bezaubernder Adonis finden einen Platz in Sunshines großem Kosmos. Blocksberg Hinter den S-Bahn-Brücken, an der Grenze zwischen Kreuzberg und Schöneberg, liegt der Blocksberg. Der Blocksberg ist eine alternative Lesbenkneipe. Ausschließlich Frauen ist der Zutritt gestattet. Zu den Gästen zählt auch die Schauspielerin Tabea Blumenschein. Durch Ulrike Ottingers Film „Bildnis einer Trinkerin“ (D 1977) wird sie zum Star des glamourösen Spektrums der Westberliner Lesbenszene. Im Interview mit der Zeitschrift Filmkritik lästert Tabea Blumenschein: Diese alternativen Lesben, mit den lila Latzhosen und Kurzhaarfrisuren, gingen ihr fürchterlich auf den Senkel. Immer müsse sie denen erklären, dass sie sich nicht deshalb schminke oder schön anziehe, um Männern zu gefallen. Sie ziehe sich doch deshalb keine Jutesäcke oder lila Latzhosen an, um den Männern zu missfallen, wie Alice Schwarzer. Sie sei schließlich an Frauen interessiert. Deshalb mache sie sich für andere Frauen oder für sich selbst schön, nicht aber für Männer hässlich. Um 1981 steigen einige Betreiberinnen aus dem Blocksberg-Kollektiv aus, von der alten Crew bleiben nur Monika Geiser und die Krankenpflegerin und Saxofonistin Stefanie. Ihnen schließt sich bald Artur Dorsch an. Sie benennen den Blocksberg um in Risiko. Zu den ersten Gästen zählen die Crew von Teufelsberg, eine Super-8-Filmgruppe, Jörg Buttgereit und die Szene um Die Tödliche Doris. Risiko Was für ein kindischer Name: „Risiko“. Perfekt geeignet für eine öde ZDF-Quizshow am frühen Nachmittag. Und dennoch, die Atmosphäre in diesem Lokal ist einzigartig. Sogar am Nachmittag hat das Risiko geöffnet. Irgendwann bieten die Punkerinnen sogar Essen an: Kartoffelsalat mit Würstchen. Die Gäste müssen zunächst vorne am Tresen bezahlen, dann einen selbst gestalteten Bon im Hinterzimmer entgegennehmen, diesen vorne wieder abstempeln lassen und auf das karge Mahl warten. Die Anregung zu dieser umständlichen Prozedur entstamme, so der Kartoffelsalatkoch, der DDR-Gastronomie. Immerhin darf laut gelacht werden. Im Risiko musizieren die Einstürzenden Neubauten und Die Tödliche Doris erstmals gemeinsam: Im Hinterzimmer des Lokals führen sie die Wassermusik auf: Flundern, Heringe und Makrelen fliegen durch die Luft, Wasser aus Badewannen schwappt auf den Boden, das Publikum kreischt entsetzt. Drei algenumkränzte Nixen steigen mit ihren Schollen-BHs auf eine Leiter. In einer großen Emaillewanne, die er vom Sperrmüll beschafft hat, verrenkt sich der gefesselte Andrew Unruh. Rotwein und Wasser spritzen hoch. Aufrecht durch das nasse, übelriechende Chaos schreitet der spindeldürre Blixa Bargeld in einem zusammengetackerten und mit Büroheftklammern verstärkten Gummianzug. Über seinem Bauch spannt sich eine Art Binde aus Gummi. Daran befinden sich zwei dicke Metallringe, von denen Lederriemen ausgehen. In einer raffinierten Schamabschnürung laufen diese zwischen seinen Schenkeln zusammen und vereinen sich dort. Einige Frauen finden das Kostüm extrem erotisierend, andere nehmen das glatte Gegenteil wahr – eine Art Keuschheitsgürtel. Bitte nicht berühren! Hin und wieder flüstert Blixa ausgewählten Gästen Losungen ins Ohr. Die nach neun Monaten Gefängnis aus der DDR in den Westen entlassene Dresdnerin Dagmar Dimitroff ruft zur Revolte auf, derweil Wolfgang Müller seinen nackten Körper in einer gelben Plastikwanne kühlt. Sie stammt aus seiner gänzlich badlosen Wohnung mit Kohleheizung.
WOLFGANG MÜLLER
SZENE WEST Sunshine trifft Karl Lagerfeld, die Genialen Dilletanten treiben Unfug im piefigen Westberlin. In „Subkultur Westberlin 1979–1989“ erzählt Wolfgang Müller, was im Exil, im Risiko und im Anderen Ufer los war und was es zu bedeuten hat. Ein Auszug
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,080
Heimat, süße Heimat - taz.de
Heimat, süße Heimat HONIG Lokal produzierte Imkerhonige schmecken köstlich. Sie sind im konventionellen Lebensmittelhandel kaum zu finden – aber im Internet Ran an die Honigtöpfe!■ Den Heilehaus-Honig gibt es in der Waldemarstraße 36 im Heilehaus-Café, Montag bis Donnerstag ab 13 Uhr. Berliner Honig und Imkeradressen gibt es unter: www.berlinerhonig.de. Deutsche Imkerhonige und -adressen findet man bei: www.heimathonig.de. Beide Projekte suchen auch noch nach weiteren Imkern, mit denen sie kooperieren können.■ Garten- und Balkonbesitzer, die den Berliner Bienen etwas Gutes tun wollen, können sich beim Deutschen Imkerbund über bienenfreundliche Bepflanzung informieren: www.deutscherimkerbund.de/phpwcms_ftp/blumenkasten.pdf (PDF, 50 KB)■ Schwärme retten: Besonders im Frühsommer neigen Bienenvölker zum Schwärmen. Wenn Sie einen solchen Schwarm entdecken, rufen Sie einen Imker an. Etwa das Schwarmtelefon von Clemens Harder: (01 57) 73 42 38 47.■ Selber imkern: Die meisten Imkervereine tun viel für den Imkernachwuchs. Man kann etwa für eine Saison zum „Imker auf Probe“ werden. Man erhält ein Bienenvolk und bekommt einen erfahrenen Imker zur Seite gestellt. Informationen erfragen Sie am besten beim Imkerverein in Ihrer Nähe. Die Berliner Vereine finden Sie hier: www.imkerverband-berlin.de (sm) VON SIBYLLE MÜHLKE Auf dem Kreuzberger Dach stehen drei große Kästen in der Sonne. Tritt man näher, hört man es summen, ein leichter Wachsgeruch liegt in der Luft – es sind Bienenstöcke. Sabine Wagner ist Stadtimkerin, seit fünf Jahren hält sie Bienenvölker oben auf dem „Heilehaus“ in der Waldemarstraße. Bienen in der Großstadt? Das ist weniger exotisch, als es scheint. In Berlin wird fleißig geimkert – auf Dächern, in Parks, auf Brachflächen und sogar am Rand von Friedhöfen. 560 Berliner Imker zählt der Deutsche Imkerbund, dazu kommen noch die Individualisten ohne Vereinsmitgliedschaft. Den Bienen geht es gut in Berlin. Pestizide gibt es hier nicht. Manche Imker bringen ihre Völker sogar eigens zur Lindenblüte von weither nach Berlin. Schließlich gibt es hier rund 40 Lindenarten. Der Honig vom Großstadtimker schmeckt köstlich und ganz anders als die süße Ware aus dem Supermarktregal. Denn die konventionellen Lebensmittelhersteller wollen Produkte mit immer gleichem Geschmack und Aussehen erzeugen und mischen Honige verschiedener Herkunft einfach zusammen. Beim Imker jedoch kommt Trachtenhonig ins Glas, also das, was die Bienen saisonal in den Stock gebracht haben. Und die Blütenvielfalt, die in Berlin auf engstem Raum zu finden ist, spiegelt sich in den komplexen Aromen des Honigs wider. Bei Sabine Wagner ist die erste Honigernte des Jahres gerade vorbei. Auf dem Dachboden des Heilehauses stapeln sich Gläser mit hellem, mildem Akazienhonig. Wohin damit? „Wir verkaufen unseren Honig unten im Café und haben keine Probleme, ihn loszuwerden“, sagt sie. Andernorts ist das schwieriger – für Imker und Honigliebhaber. Schließlich hat nicht jeder einen Imker in der Nachbarschaft, um sich mit hochwertigem Honig einzudecken. Und im konventionellen Lebensmittelhandel gibt es selten deutschen Honig und erst recht keinen Honig aus Berlin. Im Durchschnitt haben Berliner Imker fünf Bienenvölker, die rund 150 bis 200 Gläser Honig im Jahr produzieren. Das ist zu wenig, um mit einer Lebensmittelhandelskette zu kooperieren. Vertriebsstrukturen für kleinere Imker? Märkte oder ein Schild am Gartenzaun. Schon mancher Imker hat Imkerhut und Smoker entnervt an den Nagel gehängt, weil es so schwierig ist, den Honig zu akzeptablen Preisen loszuschlagen. Das kann sich jetzt ändern. Die Berlinerin Annette Müller ist Honigenthusiastin. Und sie vermisste Möglichkeiten, an lokal produzierten Honig heranzukommen. Deshalb gründete sie Ende letzten Jahres „Berliner Honig“ als Vertriebsgemeinschaft und Label für Honig aus Berlin. Via Internet bringt sie Honigproduzenten und Honigliebhaber zusammen: Man kann den Berliner Honig online bestellen oder nachschlagen, wo es Verkaufsstellen in der Nachbarschaft gibt. Intensiv im Geschmack Über 560 Imker gibt es in Berlin. Den Bienen geht es gut: Es gibt keine Pestizide Die Vorteile für die Imker: Bei „Berliner Honig“ wird fair gehandelt, sie erhalten vernünftige Preise. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt Heike Helfenstein aus dem bayerischen Oberhaching. Auf ihrer „Heimathonig“-Website kann man Imkerhonige aus ganz Deutschland – nach Region und Qualität sortiert – bestellen und Imkeradressen suchen. „Heimathonig“ sieht sich vor allem als Marketingplattform für Imker und soll später einmal kostenpflichtig werden. Das Konzept scheint zu funktionieren, die Vertriebslücke zwischen Imkern und Honigfans schließt sich: Einige der „Berliner Honig“-Imker haben sich gerade zusätzliche Bienenvölker angeschafft, weil sie wissen, dass sie den Honig jetzt gut verkaufen; „Heimathonig“ hat in kurzer Zeit etwa 100 Imker gewinnen können. Und auch die Käufer profitieren – von der guten Honigqualität. „Lokal produzierter Honig ist ganz frisch, der schmeckt unglaublich intensiv“, sagt Annette Müller. Auch Imkerin und Heilpraktikerin Sabine Wagner weiß Gutes über lokale Honige zu sagen: „Wenn man täglich einen Löffel Honig aus der Nachbarschaft isst, kann das gegen Allergien helfen.“ Regional produzierter Honig ist noch in anderer Hinsicht den konventionellen Honigmixen überlegen: Er ist weniger belastet. Häufig ist Honig aus „Nicht-EG-Ländern“ Teil der Supermarktmischungen. Das kann bedeuten, dass Honige aus Südamerika oder Kanada dabei sind, die nicht selten Gen-Tech-Pollen enthalten oder dass die Bienen mit Antibiotika behandelt wurden. Und schließlich ist lokaler Honig aktive Heimatpflege. Wer Honig aus der Nachbarschaft isst, sorgt dafür, dass es dort weiterhin – und vielleicht bald sogar mehr – Bienen gibt.
SIBYLLE MÜHLKE
HONIG Lokal produzierte Imkerhonige schmecken köstlich. Sie sind im konventionellen Lebensmittelhandel kaum zu finden – aber im Internet
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,081
Tipp: Klaus Wolschner über das große Liederfest „Bremen so frei“ am 1. Juni: Ein zutiefst bremisches Liederfest - taz.de
Tipp: Klaus Wolschner über das große Liederfest „Bremen so frei“ am 1. Juni: Ein zutiefst bremisches Liederfest Die Begründung für den Termin ist historisch fraglich, aber das Wetter schön Bremen so frei“ lautet das Motto des großen Liederfestes auf dem Bremer Marktplatz. Es ist noch ein bisschen hin, aber Grundschulkinder üben bereits ihre elf Lieder, die dort gemeinsam mit allen sangesfreudigen Erwachsenen unter Leitung von Susanne Gläss (Uni Bremen) erklingen sollen. Die Gebrüder Nicolas und David Jehn aus Worpswede haben sie komponiert nach Texten der Bremerin Imke Burma. Eine tief bremische Geschichte also. Die Lieder handeln von der Bremer Düne, dem Rathaus und den Pfeffersäcken. Die Noten gibt es im Internet unter www.bremen-so-frei.de und wer sie unter fachkundiger Anleitung von Susanne Gläss üben möchte, kann das sonntags tun (14., 21. und 28. Mai zwischen 14 und 17 Uhr im Chor-Hörsaal des GW1). Die Idee zu dem Event, das eine Tradition begründen und einen Mythos pflegen könnte, stammt von dem ehemaligen Bau-Staatsrat Eberhard Kulenkampff, der dieses Jahr 90 wird. Der 1. Juni wurde sicher in erster Linie gewählt, weil das Wetter da schöner sein dürfte. Dass der in diesem Jahr auf einen Donnerstag fällt, macht die Sache für die Schulklassen praktischer. „70 Jahre besteht das Land Bremen seit der Neugründung nach dem zweiten Weltkrieg“, schreibt hingegen die Initiative. Und da Mythen für das Selbstverständnis der Menschen eine große Rolle spielen, darf man bei ihrer Begründung nicht allzu kritisch sein. In dem Tagebuch des 1947 amtierenden (zweiten) Bürgermeisters Theodor Spitta findet man unter dem 1. Juni allerdings schlicht: nichts. Das Wetter war aber offenbar schön. Zur „Amerikanischen Enklave“ war Bremen schon im Januar geworden. Die Landesverfassung, datiert auch von 1947, wurde im Oktober beschlossen. Also warum der 1. Juni? Auch das ist eine Idee Kulenkampffs, der aber nicht an 1947 dachte, sondern an 1646. Zum 371. Mal jährt sich also, dass Bremen damals den Titel „Reichsunabhängige Stadt“ verliehen bekam. Das hatte aber mit „bremen-so-frei“ nichts zu tun, es war ein diplomatischer Schachzug gegen die Schweden, mit rund 100.000 Talern teuer erkauft – der Kaiser brauchte das Geld. Im „Frieden von Habenhausen“ verzichtete Bremen 1666 wieder auf diesen schönen Titel, die Schweden nahmen die symbolische Geste dankbar zum Vorwand und zogen ab. Aber das sind alte Geschichten, die das Singe-Fest nicht bremsen können. Da geht es um ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Angesprochen ist, „wer hier lebt, wer was lernen will über Bremens Geschichte, wessen Herz für Bremen schlägt“ und „wer gern schöne Lieder singt!“. Konzert: 1. Juni, 10 Uhr,Bremer Marktplatz
Klaus Wolschner
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,091
„Dägä?“ – „Dägä!“ - taz.de
„Dägä?“ – „Dägä!“ Der finnische Sprachanalytiker, Dünnbiertrinker und Musiker M. A. Numminen singt, wovon man nicht sprechen kann Seine Stimme ist eine Zumutung. So darf man eigentlich nur klingen, wenn man in der Muppets Show mitspielt. Aber Mauri Anteri Numminen ist die Inkarnation des Skurrilen, und in Finnland kennt jedes Kind den inzwischen 60-Jährigen, weil er der Star einer populären Kinderserie war. Auf seinen über 40 Tonträgern singt er nicht nur in seiner Muttersprache, sondern auch Englisch, Schwedisch, Lateinisch und vor allem Deutsch. Diese Sprache war ihm schon als Student im Helsinki der Sechzigerjahre wichtig, schließlich ist sie die von Marx und Marcuse. Aber auch Ludwig Wittgenstein hinterließ bei dem Studenten der Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften einen bleibenden Eindruck, hat er doch dessen „Tractatus logico-philosophicus“ vertont. Eins dieser sechs Stücke kommt mit einem Satz aus, dem Schlusssatz Wittgensteins: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Singen jedoch ist erlaubt. Wenn man Numminens lallendes Kieksen überhaupt Singen nennen kann. Immerhin scheint der Mann mit dem zerknautschten Gesicht zu wissen, was er tut. Er selbst bezeichnet seine Musik als „neorustikalen Jazz“. Das ist provinzielle Musik, versetzt mit ein paar Exotismen. Einige Tonfolgen sind bei Wagner geklaut. Und trotzdem ist das avantgardistisch, jedenfalls war es das in den Sechzigern. Doch M.A.N. experimentiert auch in den Sphären von Rock und Punk bis Techno. Letzterer wird bei ihm sprachanalytisch behandelt: „Tech no, Tech yes, Tech perhaps“. Zu Finnland gehört natürlich unweigerlich der Tango, der laut Aki Kaurismäki eigentlich eine Erfindung dieses Landes ist. Finnischer Tango hat allerdings wenig mit dem aus Argentinien zu tun und ist eher ein Konglomerat aus russischer Schmalzromantik und deutscher Marschmusik, zu der man auch weniger tanzt als geht. Seine literarische Liebeserklärung hat Numminen in dem im letzten Jahr auf Deutsch erschienenen Roman „Tango ist meine Leidenschaft“ formuliert, in einer Geschichte, die genauso sonderbar wie seine Musik ist und ebenso auf einer theoretischen Basis fußt. Das unterscheidet ihn auch von Künstlern wie Helge Schneider, mit dem er ansonsten viel gemeinsam hat. Numminens Werk ist philosophisch fundiert und unverkennbar finnisch. Hinter all dem Blödsinn liegt immer ein Hauch melancholischer Nachdenklichkeit, für die man offenbar massive Mengen an Alkohol benötigt. In seiner Heimat ist Numminen auch als „Dünnbierexperte“ bekannt. „Wir Finnen sind ein Mollvolk“, hat er mal gesagt. Seine Lieder lassen sich schwer in Worte fassen. Man muss sie schon fühlen. Oder zumindest hören wie das Stück „Gebärde für drei Rülpser“, das in die Reihe „Die Stimme des Menschen in der modernen Musik“ gehört. Was da zu hören ist, verspricht schon der Titel. Numminen singt ein Lied über die Mundbürste, philosophiert über die Freiheit oder sagt einfach nur Dägä. Dägä ist seine Version von Underground. Jetzt gibt es eine facettenreiche Kompilation, erschienen bei dem Münchner Label Trikont, das sich auf dem Gebiet seltsamer Musiken schon unzählige Male verdient gemacht hat. „Dägä Dägä. Finnwelten“ ist ein Meilenstein. Es ist, wie man es von Trikont gewohnt ist, mit einem umfangreichen Booklet ausgestattet, das unter anderem auch Anmerkungen zu den einzelnen Liedern enthält, „geschrieben von Numminen selbst, als ob er jemand anderes wäre“. THILO BOCK M. A. Numminen: „Dägä Dägä. Finnwelten“. (Trikont US - 0286/ Indigo)
THILO BOCK
Der finnische Sprachanalytiker, Dünnbiertrinker und Musiker M. A. Numminen singt, wovon man nicht sprechen kann
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,096
Unruhen im Norden Kosovos: Von der Schutzmacht verlassen - taz.de
Unruhen im Norden Kosovos: Von der Schutzmacht verlassen Die Proteste der Serben im Norden Kosovos gehen weiter. Die USA kritisieren Kosovos Regierung und verhängen sogar Sanktionen. Hat bisher die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung: Kosovos Premier Albin Kurti Foto: Isa Haziri/VX images/imago SPLIT taz | Schon mittags versammelten sich mehrere Hundert serbische Demonstranten vor dem Bürgermeisteramt der Stadt Zvečan im Norden Kosovos. Wie an den Tagen zuvor wurde von Seiten der Kosovopolizei und der internationalen KFOR-Truppen auch am Mittwoch mit weiteren Aktionen militanter Serben gerechnet. Die Demonstranten stellten eine mehr als 200 Meter lange serbische Flagge zur Schau, die sich vom Verwaltungsgebäude bis zum zentralen Platz der Stadt erstreckte. KFOR-Soldaten bildeten einen Ring um das Gebäude und riegelten den Umkreis zusätzlich mit einem Metallzaun und Stacheldraht ab. Drei Fahrzeuge der kosovarischen Polizei waren weiterhin vor dem Gebäude zu sehen. Doch die gewaltbereiten Demonstrierenden, die am Montag noch ganz offen T-Shirts mit dem Z, dem Zeichen der russischen Angreifer in der Ukraine trugen, wollen weitermachen, bis die Kosovopolizei abgezogen wird. Sie wollen keinesfalls zulassen, dass die trotz des serbischen Wahlboykotts in dieser Region von Nichtserben gewählten Bürgermeister ihre Tätigkeit aufnehmen können. Die Bürgermeister hatte der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti in der vergangenen Woche formell eingesetzt. Die Kosovoregierung will bislang auch nicht von ihrem Kurs abrücken und riskiert jetzt sogar einen Krach mit ihrer Hauptschutzmacht, den USA. Denn die Vereinigten Staaten haben jetzt offenbar den Kurs gewechselt und sogar eine erste Sanktion gegen das Kosovo verhängt. Das Kosovo werde von dem gemeinsamen Manöver namens Defender 23 ausgeschlossen, an dem bis Juni 20 Länder teilnehmen, teilte der US-Botschafter in Prishtina, Jeffrey Hovenier, am Dienstag mit. „Die Maßnahmen der kosovarischen Regierung (…) haben diese Krisenatmosphäre im Norden geschaffen.“ Ministerpräsident Albin Kurti aber ist bisher standhaft geblieben, obwohl er jetzt ein großes Risiko eingeht. Denn vor allem aus dem Lager der früheren UCK, der Befreiungsarmee der 90er Jahre, tönen kritische Stimmen, man dürfe die USA nicht vergraulen und müsse allen Forderungen aus Washington entgegenkommen. Ärger über den Schwenk der USA und Teilen der EU Doch der bei vielen Diplomaten als „linker Sozialdemokrat“ angefeindete Kurti kann sich bisher der Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der an sich prowestlichen jungen Kosovaren, gewiss sein. Die jungen Serben im Kosovo dagegen sympathisieren offen mit Russlands Putin. Mit dem Schwenk der USA und Teilen der EU werden die prowestlichen Kräfte im Kosovo vor den Kopf gestoßen. Aber die Forderung der USA und der EU, Kosovo solle der Bildung eines serbischen Gemeindeverbandes zustimmen, wird von Kurtis Anhängern genauso wenig hingenommen wie von Kurti selbst. Sie sehen nicht ein, dass die schon jetzt mit vielen Sonderrechten ausgestatteten serbischen Gemeinden einen Staat im Staate bilden sollen. Die von den US-Botschaftern der Region und dem Sondergesandten Gabriel Escobar jetzt verfolgte Strategie, dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić entgegenzukommen, stößt auch einigen deutschen Kosovo-Kennern auf. So erklärte der CDU-Abgeordnete Michael Brand, die USA und die EU sollten sich nicht mit den autokratischen Putin-Anhängern verständigen, sondern die prowestlichen demokratischen Kräfte auf dem Balkan stärken.
Erich Rathfelder
Die Proteste der Serben im Norden Kosovos gehen weiter. Die USA kritisieren Kosovos Regierung und verhängen sogar Sanktionen.
[ "serbische Minderheit im Kosovo", "Kosovo", "Serbien", "Aleksandar Vucic", "Europa", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,108
„Wir leben in Käfigen“ - taz.de
„Wir leben in Käfigen“ Als palästinensischer BBC-Korrespondent im Westjordanland lebt er mit der täglichen Gefahr, erschossen zu werden: Der Journalist Aref Hijjawi über Gewissenskonflikte, Medien zwischen den Fronten und die Kontakte zu israelischen Kollegen Dreißig Journalisten sind seit Beginn der aktuellen Unruhen in Nahost Ende September durch Schüsse der israelischen Armee verletzt worden – allein 21 davon waren palästinensische Pressevertreter, wie die Organisation Reporter ohne Grenzen berichtet. Der palästinensische Journalist Aref Hijjawi lebt in Ramallah im Westjordanland und arbeitet als Korrespondent für das arabische Programm der britischen BBC. Die taz sprach mit Hijjawi in Köln, wo er sich derzeit auf Einladung der Böll-Stiftung aufhält. taz: Wie ist die Situation der palästinensischen Presse zur Zeit? Kann sie frei und unabhängig berichten? Aref Hijjawi: Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Abriegelung der palästinensischen Gebiete durch Israel ist es für Journalisten extrem schwer, über die Ereignisse zu berichten. Wir leben in Käfigen. Manche Kollegen müssen von einem Ort zum anderen zu Fuß gehen und manchmal bergiges Gelände überwinden. Vor dem Ausbruch der Intifada (dem palästinensischen Aufstand, d. Red.) brauchte ich mit dem Auto 50 Minuten für die Strecke zwischen Nablus und Ramallah (etwa 60 Kilometer, d. Red.). Jetzt brauche ich mehr als drei Stunden. Diese Bedingungen erschweren die Arbeit der Journalisten. Ist die Sicherheit Ihrer Kollegen garantiert? Journalisten, besonders Kameraleute, sind im Visier der israelischen Soldaten. Sie werden vorsätzlich angegriffen. Wir haben den Tod eines Kollegen zu beklagen. Viele Journalisten wurden bisher verletzt. Der Kameramann des Fernsehsenders Asch-schark in Ramallah wurde während der Ausübung seines Berufes bisher sechzehnmal verletzt. Mit eigenen Augen konnte ich die Narben an seinem Körper sehen. Die Akkreditierung der Journalisten, die wie ich für die ausländische Presse arbeiten, wurde seit Beginn der Intifada von der israelischen Armee zurückgezogen. Wir haben keine Pressekarten mehr, um uns frei zu bewegen oder um nicht tätlich angegriffen oder beleidigt zu werden. Der Ausgang des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern wird unter anderem an den Bildschirmen entschieden. Ist die israelische und die palästinensische Berichterstattung eine Fortsetzung der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln? Das ist nicht meine Vorstellung von der Arbeit eines Journalisten. Viele Kollegen sind wie ich der Ansicht, dass der Journalismus ein Beruf wie jeder andere ist. Wir müssen über alle Ereignisse berichten, auch wenn ein Palästinenser eine rechtswidrige und von der internationalen Gemeinschaft abgelehnte Tat verübt. Das ist meine persönliche Meinung. Aber es gibt eine palästinensische Kampfpresse, die Massen mobilisiert und sich als Teil des Kampfes versteht. Ich glaube nicht an diese Art der Presse. Und ich praktiziere sie nicht. Kann unter den Bedingungen der Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern die Presse objektiv und unparteiisch berichten? Das ist sehr schwierig, besonders für die einheimischen Journalisten. Für mich ist es einfach, unparteiisch zu arbeiten, da ich für einen ausländischen Sender berichte, der um Objektivität und Differenziertheit bemüht ist. Ich kann meine Gefühle beiseite lassen. Aber wenn man sich in einem Kriegszustand befindet, in dem es Unterdrücker und Unterdrückte gibt, muss man ein adäquates Bild reflektieren. Das bringt mich in Schwierigkeit, vor allem wenn ich über die Leiden des palästinensischen Volkes berichten muss, ohne das Prinzip der Ausgewogenheit in der Berichterstattung zu verletzen. Manchmal muss ich die Redaktion der BBC überzeugen, dass ich unparteiisch bleibe, auch wenn ich über ein bombardiertes Dorf, die Zerstörung von Häusern durch israelische Panzer oder über Übergriffe von Siedlern auf Palästinenser berichte. Behindert die palästinensische Autonomiebehörde die Arbeit von Journalisten? In den Anfangsjahren der palästinensischen Autonomie gab es Fälle der Behinderung von Journalisten, die registriert wurden. Die Autonomiebehörde konnte weder die Rolle der Presse verstehen noch mit ihr koexistieren. Die Lage hat sich jetzt verbessert, allerdings nicht grundsätzlich. Seit Beginn der Intifada geht die Kritik an die Autonomiebehörde zurück. Gibt es noch Verbindungen zwischen palästinensischen und israelischen Journalisten? Die ohnehin schwachen Verbindungen zwischen der palästinensischen und israelischen Presse sind sehr selten geworden. Seit September gibt es eine Polarisierung auf beiden Seiten. Die israelische Presse, die der westlichen Presse hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit ähnlich war, leidet unter einem Rechtsruck. Sie verbreitet hauptsächlich Klischees. Sie ist eine Presse der Dritten Welt geworden. Die palästinensische Presse war und ist eine Presse der Dritten Welt. Sie ist parteiisch und will die andere Seite nicht wahrnehmen. Das ist sehr schlecht. Vor zwei Monaten gab es aufgrund einer Initiative des palästinensischen Informationsministers Jassir Abd Rabo ein Treffen mit zehn israelischen Journalisten in Ramallah. Die Gespräche waren freundschaftlich und ernst. Ich würde mir mehr solche Begegnungen wünschen. Aber die Ereignisse erschweren das. Ist der Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israelis noch zu retten? Das Zögern aller israelischen Regierungen, die Autonomiebehörde zu zerschlagen, zeigt, dass für die Israelis die Existenz der palästinensischen Autonomieorgane besser als ihr Verschwinden ist. Ich sage deshalb, der Friedensprozess ist noch nicht am Ende. INTERVIEW: ABDEL MOTTALEB EL HUSSEINI
ABDEL MOTTALEB EL HUSSEINI
Als palästinensischer BBC-Korrespondent im Westjordanland lebt er mit der täglichen Gefahr, erschossen zu werden: Der Journalist Aref Hijjawi über Gewissenskonflikte, Medien zwischen den Fronten und die Kontakte zu israelischen Kollegen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,138
Nahverkehr: S-Bahn genauso Schrott wie der ICE - taz.de
Nahverkehr: S-Bahn genauso Schrott wie der ICE Auch die Berliner S-Bahnen müssen nun auf drohenden Achsbruch überprüft werden. Auf den Linien S2 und S8 fahren bereits kürzere Züge. Auch für die Achsen der S-Bahn schaut's traurig aus... Bild: AP Dass die ICEs nur noch selten fahren, weiß der Bahn-Kunde inzwischen. Dass auch die langsamere S-Bahn auf wackeligen Achsen rumpelt, mussten Berliner Fahrgäste am Mittwoch erfahren. Weil die S-Bahn die Haltbarkeit ihrer Fahrzeuge überpüfen muss, fahren auf einigen Linien seit Mittwoch kürzere Züge. Am 6. Juli war ein ICE in Köln nach einem Achsbruch entgleist. Da bei der neusten S-Bahn-Reihe 481 ein ähnliches Material wie bei den ICEs verwendet werde, könne man "Schäden bisher nicht ausschließen", so ein S-Bahn-Sprecher: "Sicherheit ist die oberste Priorität". Deswegen werden nun alle Triebzüge der Baureihe überprüft und die Prüfintervalle von 120.000 auf 60.000 Kilometer verringert. Betroffen sind "bis auf weiteres" die Linie S2 zwischen Bernau und Blankenfelde, die mit sechs statt acht Wagen verkehrt, und die Linie S8 von Hohen Neuendorf nach Grünau. Dort rollen nur vier Wagen pro Zug. Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB e.V. hält die Zustände bei der S-Bahn für "mehr als skandalös". Natürlich gehe Sicherheit vor. Empört ist er aber über das kurzsichtige Vorgehen der Bahn-Tochter. "Die S-Bahn hat noch bis vor einigen Wochen Fahrzeuge verschrotten lassen. Deswegen gibt es jetzt keine Ersatzzüge mehr", sagt Wieseke. Dabei seien Züge der älteren Baureihen 480 und 485 wohl noch einsatzfähig gewesen. Der S-Bahn-Sprecher dementiert: "Die letzten Züge sind 2006 verschrottet worden, um nicht mehr erhältliche Ersatzteile für andere Wagen zu gewinnen". Es gebe also noch alte Züge, diese seien aber nicht einsatzbereit. Laut Wieseke ist die geringe Zuganzahl aber schon länger ein Problem: "Die Züge der Ringbahn fahren schon seit Monaten nur mit sechs statt acht Wagen", klagt er. Während die S-Bahn das für ausreichend befindet, beschreibt Wieseke die Situation als "dramatisch": Es komme zu hoffnungslosen Überfüllungen und Beschwerden der Kunden. Die FDP forderte den Senat auf, die Landeszuschüssse analog zu den S-Bahn-Zügen zu kürzen. Das aber stehe nicht zur Debatte, erklärte Manuela Damianakis, Sprecherin der zuständigen Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Denn nur die Zahl der Züge sei mit der S-Bahn vertraglich vereinbart, nicht aber deren Länge. Allerdings gebe es noch einen anderen Hebel für Zuschusskürzungen. Denn auch die Kundenzufriedenheit sei festgeschrieben. Deswegen wünsche sich auch der Senat den Einsatz von Ersatzzügen.
Janine Lamann
Auch die Berliner S-Bahnen müssen nun auf drohenden Achsbruch überprüft werden. Auf den Linien S2 und S8 fahren bereits kürzere Züge.
[ "Berlin", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,177
Ein dumpfes Brummen, ein fernes Beben - taz.de
Ein dumpfes Brummen, ein fernes Beben THEATER Rimini Protokoll dokumentiert in seinem neuen Stück „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“ die Arbeit von Wertstoffsammlern in Istanbul und ihre schrecklichen Albträume. In Essen gastierte die Produktion, die dann nach Holland weiterzieht Sie sind abhängig von den schwankenden Weltmarktkursen für Eisen, Aluminium oder Papier VON ALEXANDER HAAS Die Aufführungen des Regie-Kollektivs Rimini Protokoll sind oft eine Wohltat, nicht nur für Kritiker: Die Wohltat, normale Leute als Akteure auf der Bühne zu erleben und kein Als-ob von Schauspielern; die Wohltat eines Stoffes aus dem Alltag, der hier um Klassen realitätsorientierter bearbeitet wird als noch im härtesten Regietheater; die Wohltat, unverstellte Stimmen und Sprechweisen von „Experten des Alltags“ zu hören, die Rimini-Protokoll statt Schauspielern einsetzt. In diesem Fall sind es Stimmen in türkischer Sprache, die deutsch übertitelt wurden bei der Aufführung auf Pact Zollverein in Essen. Zu Beginn von „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“, einem Beitrag der Gruppe zur Kulturhauptstadt Ruhr.2010 und eine Koproduktion mit der Kulturhauptstadt Istanbul, erzählt Bayram Renklihava, Wertstoffsammler in Istanbul, mit ruhiger und dunkler Stimme einen Traum. Es ist ein schrecklicher Traum, alle seine Kinder sterben an einem Virus, und er ist es, der sie in Säcken in eine Müllkippe werfen soll. Später folgt ein weiterer Traum, erzählt vom Mitspieler Abdullah Dagacar, nach dem das Stück benannt ist. Leise spricht er, in dieser für viele im Saal fremden Sprache. Es wirkt wie ein gleichmäßig trocken-rollendes Gesäusel, die fremde Zunge bekommt eine eigene ästhetische Qualität. Wieder ist es ein schrecklicher Traum, der von einem unergründlichen, hellen Licht erzählt. Apo, so nennen seine Mitspieler Herrn Dagacar, beschließt den Traum mit zwei Gebeten aus dem Koran. Drei Erzähler aus anatolischen Dörfern Passagen wie diese machen deutlich, dass die vier Protagonisten des Stücks, die ein türkischer Karagöz-Spieler begleitet, aus einer anderen Welt als der unseren stammen. Drei von ihnen kommen aus anatolischen Dörfern, einer aus der Stadt Mersin. Die Aufführung berichtet von ihrer Tätigkeit als Wertstoffsammler in Istanbul, ihrer Herkunft, ihren Wünschen, kurz: von ihrem Leben. Die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel haben sie angesprochen und gefragt, ob sie in einem Theaterstück über sich und ihren Beruf mitmachen wollten. Auch der Prozess, der mit dieser Frage begann und bis zur Istanbuler Premiere im Oktober und der in Essen am vergangenen Freitagabend andauerte, ist Gegenstand des Abends. Die Performer berichten von den Skrupeln der Regisseure, mit dem Stück in das Leben der Sammler einzugreifen. Welche Folgen hätte das für deren Leben? Was für eine Geste wäre das? Und sie erzählen, dass sie zwar mitmachen wollten, aber nicht immer daran glaubten, dass es wirklich dazu kommen würde. Die Zuschauer sehen die fünf Experten auf der großen leeren Bühne von Pact Zollverein in Essen, ihre großen Handwagen aus Eisen, auf denen sie in riesigen weißen Plastiksäcken den Müll der Stadtbewohner und Geschäfte sammeln, ihn sortieren und verkaufen. Normalerweise stinkt dieser Müll, sondert ungesunde Gase ab. Aber die vier wollten den Müll und ihre Wohndepots nicht auf der Bühne haben. „Wir wollten mit unserer Kultur und unseren Bräuchen auf der Bühne stehen“, sagt einer. Von denen ist an diesem Abend viel zu sehen und zu hören. In den Träumen, in Spielen, die sie in ihren Dörfern machen, und die sie auf der Bühne wiederholen. Doch gerade dieses Kulturgut macht das widersprüchliche, entbehrungsreiche Leben der Müllsammler nur noch deutlicher. Wenn sie in der Stadt ihre Arbeit verrichten, aus einem ökonomischen Zwang heraus, dann treten Herkunft und Kultur in den Hintergrund. Sie konkurrieren mit den Vertragsfirmen der Stadtverwaltung, müssen Arbeitsuniform tragen, weil sie vor den Touristen dann offizieller aussehen, sie sind abhängig von den schwankenden Weltmarktkursen der Materialien, die sie verkaufen, Eisen, Aluminium oder Papier. Die Regisseure brechen die Erzählungen ihrer Protagonisten geschickt auf, wechseln sie mit anderen Darstellungsformen und Themen ab, die aber immer einen Bezug zu der Erzählung über die Müllsammler haben. Der Karagöz-Spieler Hasan Hüseyin Karabag ist in das Bühnengeschehen integriert mit seinem lustigen Schattentheater, das unserem Kasperltheater gleicht. Er baut die anderen vier Experten als Figuren in sein Spiel ein und macht sich über ihre Geschichten lustig. Die wirkungsvolle Soundebene blendet seismografische Geräusche von türkischen Erdbebenstationen ein, ein dumpfes Brummen, das den Zuschauer in die Geschichten hineinzieht und sie zugleich als risikobehaftet ausweist. Einige Sammler erzählen von Beben, die sie erlebt haben. Am Ende steht ein komplexes und anrührendes dokumentarisches Erzähl-Bild über ein Stück Realität, das nur wenigen seiner westlichen Betrachter dort, wo Rimini-Protokoll mit dem Stück auftreten, vorher bekannt gewesen sein dürfte. Ein dramaturgisch wohl komponierter Abend, aufklärerisch ohne Zeigefinger, unprätentiös, humorvoll. ■ „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“ läuft am 3. und 4. 12. in Rotterdam, am 6. und 7. 12. 2010 in Utrecht
ALEXANDER HAAS
THEATER Rimini Protokoll dokumentiert in seinem neuen Stück „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“ die Arbeit von Wertstoffsammlern in Istanbul und ihre schrecklichen Albträume. In Essen gastierte die Produktion, die dann nach Holland weiterzieht
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,233
Bückeball: Kölner zu stark für die Uhlenhorster - taz.de
Bückeball: Kölner zu stark für die Uhlenhorster Die Herren des Uhlenhorster Hockey Clubs haben den ersten Feldhockey-Meistertitel in ihrer Vereinsgeschichte verpasst. Im Finale unterlag das Team Rot-Weiss Köln - trotz 2:0-Führung. Kein Durchkommen: Kölns Verteidiger Philipp Zeller (l.) attackiert UHC-Angreifer Florian Fuchs. Bild: imago Keine Revanche in Düsseldorf: Die Herren des Uhlenhorster Hockey Clubs (UHC) haben das Finale um die Deutsche Feldhockey-Meisterschaft gegen Rot-Weiss Köln 2:4 (2:1) verloren. Jonas Fürste und Marco Miltkau hatten die Uhlen in Führung gebracht, doch die Kölner konnten das Spiel durch Constantin Axer, Fabian Bauwens-Adenauer, Marcel Meurer und Christopher Zeller drehen. Der UHC verpasste dadurch den ersten Herren-Feldtitel der über 100-jährigen Vereinsgeschichte. Bereits im vergangenen Jahr standen sich die beiden Teams im Finale gegenüber, auch damals hatte der Kölner Club triumphiert. Während der UHC also national nur die zweite Kraft bleibt, gilt der Club zumindest in Hamburg als erste Adresse. Deutlich wurde das im diesjährigen Viertelfinale, als die Uhlen den "Club an der Alster" 6:1 und 4:0 besiegten. "Wir sind klar die Nummer eins in Hamburg", sagt UHC-Trainer Martin Schultze. Das war nicht immer so: In den vergangenen Jahren war Alster die bestimmende Kraft in der Hansestadt, 2008 und 2007 feierte der Club Meisterschaften. Dieser Titel fehlt dem UHC nach dem verlorenen Finale nun auch weiterhin, auf internationaler Bühne hingegen konnten die Uhlen große Erfolge feiern: In der 2008 neu eingeführten Euro Hockey League triumphierte das Team bereits zweimal, zuletzt vor knapp einem Monat. Auch im dritten Finale standen die Uhlen, doch dort unterlagen sie dem niederländischen Top-Club HC Bloomendaal. National ist der Club aus Hamburg jedoch im Herrenbereich bis auf die Hallen-Titel von 2002 und 1964 ein unbeschriebenes Blatt. Der UHC setzt seit vielen Jahren auf den eigenen Nachwuchs, hat eine der größten Jugendabteilungen Deutschlands. "Das ist die Arbeit von Kais al Saadi, unserem Jugendleiter, der schon ewig für den Nachwuchsbereich verantwortlich ist", weiß Schultze die Lorbeeren weiterzugeben. Spieler wie Angreifer Florian Fuchs, 18 Jahre alt und Abwehrspieler Tom Mieling, 19, sind mittlerweile tragende Säulen in der Mannschaft. "Wir ziehen sie seit einigen Jahren konsequent in den Herrenbereich hoch. Davon profitieren wir jetzt", sagt Schultze. Das Jugendkonzept des UHC ist zwar offensichtlich erfolgreich, erntet aber nicht nur Lob. Die kleineren Clubs im Hamburg und Umgebung leiden darunter, dass viele der Jugendspieler die Vereine verlassen um sich dem UHC anzuschließen. Den eigenen Leistungsteams fehlt dieser Nachwuchs dann natürlich. "Das ist der Gang der Dinge. Wenn man in den Jugendabteilungen erfolgreich ist, dann hat man diese Zugänge", sagt Schultze. Andererseits sieht er Spieler, die mit 13 Jahren zum UHC gekommen sind, "als Eigengewächse" an. "Dann haben sie ja schon immerhin sechs Jahre in unseren Jugendmannschaften durchlaufen", so der Coach. Eine ganz andere Strategie verfolgt hingegen Rot-Weiss Köln. Nach Jahren in der zweiten Liga waren einige Clubmitglieder der Ansicht, dass der Verein, der zwischen 1972 und 1974 den deutschen Hockeysport dominierte, endlich wieder an die nationale Spitze gehöre. Dafür entwickelten die Rot-Weissen ein vielfach gerühmtes Ausbildungskonzept, mit dem sie zahlreiche Nationalspieler zu dem Club lockten. Die Spieler werden dort auf ihrem beruflichen Werdegang unterstützt. Dadurch konnten mit Christopher Zeller, Philipp Zeller, Timo und Benjamin Wess, sowie Max Weinhold und Tibor Weißenborn einige der besten deutschen Hockeyspieler gewonnen werden. "Wenn man keine eigene Jugend hat, dann bleibt einem nichts anderes übrig. Es ist aber ein durchaus legitimer Weg. Es bereichert den Konkurrenzkampf in der Bundesliga", bewertet Schultze das Konzept, das auch aufzugehen scheint: Rot-Weiss holte im vergangenen Jahr als Aufsteiger sowohl den Hallen- als auch den Feldtitel - und konnte die Meisterschaft nun verteidigen. Dem UHC bleibt nur die Gewissheit, wenigstens in Hamburg die Nummer eins zu sein.
Benjamin Knaack
Die Herren des Uhlenhorster Hockey Clubs haben den ersten Feldhockey-Meistertitel in ihrer Vereinsgeschichte verpasst. Im Finale unterlag das Team Rot-Weiss Köln - trotz 2:0-Führung.
[ "Nord", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,340
Русский язык во время войны: Когда язык позорит - taz.de
Русский язык во время войны: Когда язык позорит Украинский ресторан в Варшаве. Четверо друзей разговаривают друг с другом на русском язык. Но возможно ли это еще? Говорить по-русски за границей может быть проблематично Foto: imago/Ralph Peters На днях я был в Варшаве, навестить подругу из Беларуси. Вместе с ее друзьями мы пошли в украинский ресторан мореподуктов, который недавно там открылся. Нас было четверо, мы давно не видились… В общем, мы говорили друг с другом много, громко и по-русски. Мы всегда так делаем. Krieg und Frieden – ein TagebuchDie taz glaubt an das Recht auf Information. Damit möglichst viele Menschen von den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine lesen können, veröffentlich sie die Texte der Kolumne „Krieg und Frieden“ auch auf Russisch. Hier finden sie die Kolumne auf Deutsch. Меню было на украинском. Мои друзья, обращались к девушке, принимавшей наш заказ, по-польски. Она тоже отвечала по-польски, но было слышно, что она украинка. Я молчал. Когда девушка отошла, разговор перестал клеится. Я огляделся вокруг. Повсюду висели постеры в поддержку Украины, была слышна украинская речь. Наш стол, с которого только что раздавались смех и русская речь, как будто бы случайно сюда попал. Впервые в жизни, я почувствовал себя виноватым из-за того, что я говорил по-русски. Мне хотелось перед всеми оправдываться. Подходить по-очереди к каждому столу, и говорить, что я не плохой человек. Ведь я пришел сюда из Грузии, в их пространство, и заговорил на языке, который им и их предкам навязывали десятилетиями. А сегодня на этом языке призывают их убивать. Когда я говорил по-русски с украинскими беженцами в Грузии, я чувствовал себя иначе. Наверное потому, что тогда я выполнял свою работу. Я приходил к ним рассказать их историю, а не развлекатся. Пока я молча ел мидии, мне в голову пришел еще один вопрос: А почувствовал бы я стыд, еслиб русский был моим родным языком? И вообще, как бы я себя вел, если бы Грузия напала на соседнюю страну? Изучая последние полгода российскую миграцию я пришел к выводу, что большинство россиян не понимают тех негативных эмоций, которые чувствуют грузины по отношению к ним. В их голове не укладывается, почему их речь может злить грузин, или еще хуже – напоминать о том, насколько они беззащитны. taz по-русскиЗдесь вы можете подписаться на нас в Telegram, это бесплатно. Но есть и маленькие проблески осознанности. Например, некоторые россияне сперва по-грузински спрашивают у грузин, на каком языке им комфортней говорить, “по-русски, или по-английски?“. Для того, чтобы снизить уровень социальной тревожности, я встал и закал пиво по-украински, а “дякую“ выговорил особенно четко, чтобы все слышали, что я несколько месяцев занимался украинским. Когда мы вышли из ресторана, оказалось, что моимх друзей беспокоили те же мысли. Это довольно грустно. Война в Украине не только убила и покалечила сотни тысяч человек, а миллионы лишила домов, она на многие десятелетия отравила русский язык. У моей 86-летней бабушки немецкий язык до сих пор ассоциируется с солдатскими сапогами. Скорее всего, в будущем, грузинские, украинские и беларусские бабушки будут испытывать те же чувтсва по отношению к русскому.
Sandro Gvindadze
Украинский ресторан в Варшаве. Четверо друзей разговаривают друг с другом на русском язык. Но возможно ли это еще?
[ "taz на русском языке", "Война и мир – дневник", "Europa", "Politik", "Serie", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,342
Neues Album von Australiern Luluc: Im Traumschiff durch Abgründe - taz.de
Neues Album von Australiern Luluc: Im Traumschiff durch Abgründe Stärke durch Stille: „Dreamboat“, das neue Album des australischen Elektronikfolkduos Luluc, erzeugt ein bisschen Fernweh im Lockdown. Luluc: Steve Hassett und Zoë Randell am Piano Foto: Charlotte de Mezamat Als Luluc anfingen, an ihrem neuen Album zu arbeiten, war die Welt noch eine andere, unbeschwertere. Trotzdem ist „Dreamboat“ ein Werk geworden, dessen elektronischer Folksound die durch die Coronapandemie noch verstärkte Melancholie exzellent einfängt. Hierzulande wird das australische Duo immer noch als Geheimtipp gehandelt – zu Unrecht! Allerorten ist von Reisebeschränkungen und Quarantäne zu lesen, die Musik auf „Dreamboat“ ist noch unterwegs auf Reisen zwischen New York, Melbourne und Berlin entstanden. Jetzt, wo es nur noch darum geht, wie strikt der „Lockdown“ ausfällt, wirkt dieses Herumstromern wie ein wahnwitziges Relikt aus einer fremden Zeit. Zoë Randell und Steve Hassett sorgen auch an anderer Stelle für Kon­traste: Ihre Musik spiegelt nichts von der pulsierenden Urbanität wider, in deren Schatten sie kreiert wurde. Stattdessen schaffen Luluc Spannung und Dynamik durch Zurückhaltung und bedeutungsvolle Stille, ihre Musik hat bukolische Elemente. Seit ihrem Debütalbum „Dear Hamlyn“ (2008) verlassen sie sich auf ein überschaubares Instrumentarium: Randells kristalliner und gleichzeitig nonchalant beiläufiger Gesang, Hassetts sparsames Gitarrenspiel und seine unprätentiöse Produktion. Neues Kapitel der Geschichte „Dreamboat“ ändert diese Aufgabenteilung nicht grundsätzlich, schlägt aber ein neues Kapitel der Bandgeschichte auf: Luluc haben sich vom US-Kultlabel Sub Pop, bei dem ihre Alben bisher veröffentlicht wurden, verabschiedet und nehmen nun in Eigenregie vermehrt elektronische Impulse auf. Auch Aaron Dessner, Gründungsmitglied der US-Band The National und bisher Toningenieur für Luluc, ist dieses Mal nur noch bei zwei Songs eingebunden. Weitestgehend autonom agieren Randell und Hassett und das tut ihnen hörbar gut. LulucLuluc: „Dreamboat“ (Sun Chaser/Cargo) Entrückt klangen Luluc bisher schon, die zehn neuen Songs auf „Dreamboat“ klingen jedoch, als seien sie in einem somnambulen Zustand komponiert worden. Randell hängt ihren Beobachtungen hinterher, betrachtet Sommerregen, Spinnen, die Unterschlupf suchen, und erzählt von Orten, an denen die unbarmherzige Sonne keine Uhrzeit kennt. Vielleicht ein Hinweis auf die zunehmende Dramatik des Klimawandels in Australien. Wobei Luluc nie in romantisch-kitschige Gefilde abdriften, gerade die luftigen Folkpoparrangements helfen Randell und Hassett dabei, mit „Dreamboat“ auch seelische Abgründe zu ergründen. Manchmal werden Anklänge an den sensibel-versponnenen Jazzfolk einer Joni Mitchell hörbar, hinter deren poetischen Texten auch immer mehr steckt, als die wohlklingende Oberfläche vermuten lässt. Lob von Iggy Dass Randell und Hassett seit dem Start in Melbourne 2008 bereits des öfteren von Iggy Pop gelobt wurden, mit der US-Folksängerin Lucinda Williams zusammen auf Tour gingen, verwundert nicht. „Passerby“, das 2014 veröffentlichte zweite Album, avancierte zum Lieblingsalbum von The-National-Frontmann Matt Berninger. Trotz aller Vorschusslorbeeren, in Europa sind Luluc bisher noch nicht richtig angekommen. Lange dürfte das aber nicht mehr auf sich warten lassen. Den Minimalismus seiner Anfangszeit hat das Duo nun hinter sich gelassen und sein musikalisches Repertoire sinnvoll erweitert. Mit jedem neuen Album hat es um sein geradliniges Songwriting mehr und mehr herumexperimentiert. Chorgesänge werden von fragmentarischen Gitarrenhooks zerschnitten, brummende Synthesizer bratzen zwischen die fragilen Lyrics. Eine sanfte Andeutung sehnt bei „Emerald City“ den Schlaf als Erlösung von der eigenen Überforderung herbei. Emerald City In „Gentle Seed“ wird die Frage nach dem Reiz grenzenloser Freiheit und dem gleichzeitigen Schrecken des freien Falls aufgeworfen und Bilanz gezogen: Welche Träume haben Luluc eigentlich verwirklicht, welche mussten sie aufgeben? Es sind die kleinen, banalen Alltagskonflikte, die die meisten Menschen in ihrem Innenleben oftmals für sich allein ausfechten, dank Luluc bekommen sie nun einen Soundtrack. Ein Soundtrack, der möglicherweise gerade jetzt für die winterliche Isolation aufgrund der heftiger werdenden Pandemie genau das Richtige ist.
Silvia Silko
Stärke durch Stille: „Dreamboat“, das neue Album des australischen Elektronikfolkduos Luluc, erzeugt ein bisschen Fernweh im Lockdown.
[ "Australien", "Melbourne", "Pop", "Iggy Iop", "Musik", "Kultur", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,426
Flanieren durch Berlin: Die Überstunden des Nervensystems - taz.de
Flanieren durch Berlin: Die Überstunden des Nervensystems Ist das, was auf dem Bildschirm passiert, die Welt? Oder bildet die Welt nur das ab, was auf dem Bildschirm passiert? Ein psychogeografischer Essay. Social Distancing haben wir durch digitale Netzwerke längst perfektioniert Foto: Reuters Meine Welt ist 13 Zentimeter lang und 7 Zentimeter breit. Ich browse durch die Feeds. Sprache ist nur eine endlose Kette aus Befehlen. Ich lausche der Partitur der Wohnung: Echos von Stimmen, Autos, die kommen und gehen wie Meeresbrandung, und Vögel wie Synthesizer. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich klicke durch die Anerkennung der Anerkennung der anderen. Ist das Ich nur ein Experiment, das auf einen Bildschirm starrt? Ist das, was auf dem Bildschirm passiert, die Welt? Oder bildet die Welt nur das ab, was auf dem Bildschirm passiert? Wenn ich auf den Straßen Berlins spaziere, scheint sich die Welt nicht groß von der digitalen zu unterscheiden, nur dass weniger Müll rumliegt. Ich bin wie eine Figur in einem J.-G.-Ballard-Roman, deren Leben nur im Inneren stattfindet. Ich begegne Menschen, ohne ihnen zu begegnen, nehme sie wahr wie sie vielleicht mich, aber nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen. Alle Körper sind eine potenzielle Gefahr. So geht Biopolitik. Innen und außen ist akribisch getrennt, aber beides fühlt sich an wie das jeweilige Gegenteil. Drinnen sollst du den ganzen Tag lang als kleiner blinkender Punkt auf der digitalen Landkarte herumirren und so viele Daten wie möglich hinterlassen. Draußen merkst du, dass diese Landkarte überall sein könnte. Berlin ist zu einem Dorf geschrumpft, in dem nichts los ist außer ein paar Baustellen. Wo ist hier die Gegenwart? An der Supermarktkasse werde ich von Frustrierten als Schwuchtel „beschimpft“, weil ich mich angeblich vorgedrängelt habe, und im Park bedrängen mich Gitarrenakkorde, die pastorale Idyllen heraufbeschwören, als sei 1979. Wo ist hier die Gegenwart? Wie bekomme ich diese Stadt und ihre Verheißungen zurück? Den Schauer der Entfremdung beim Flanieren, die unrealistischen Versprechungen der Kunst, die Breakbeats und Reese-Bässe im Club, die meine Wahrnehmung angenehm verzerren und neu justieren? Fast alle chauvinistischen Rundumschläge, die über die Pandemie zu lesen sind, bemühen die Metapher, sie wirke wie ein Brennglas. Doch hat sie nicht vielmehr den schönen Instagram-Filter zwischen Ich und Wirklichkeit gelöscht, sodass jetzt alles klar zu sehen ist? Es gab nie eine märchenhafte Welt, in der Gefühle oder der Wind in den Bäumen noch echt wären. Schwarze und People of Color mussten immer schon mit dem Schlimmsten rechnen, wenn sie Blaulicht erblicken. Sexarbeiter*innen, Pflegedienste, Senior*innen, Migrant*innen, Kulturarbeiter*innen, Künstler*innen und, ja, auch Kinder waren schon immer ziemlich unfrei. Und ich als weißer Mann wurde zwar nicht ständig diskriminiert, beleidigt oder bedroht, aber verbringe schon seit Jahren den größten Teil des Tages vor dem Bildschirm. Ich habe Social Distancing perfektioniert, ohne es so zu nennen, während das System von meinem prekären Dasein profitiert, weil vereinzelte Wesen keine Gruppen mit physisch präsenten Körpern bilden, sondern höchstens Netzwerke, die keine Gewerkschaften haben. Und hatte mein Nervensystem nicht schon seit Jahren täglich zu viele Überstunden gemacht? Gruppen ohne Körper sind immerhin noch Netzwerke Frage ich mich, als ich zu Hause ankomme. Erst mal durchatmen, meinen Bruder anrufen, „Buzz Lightyear“ von Lady Likez oder „Tender is the Touch of White Liberal Complicity“ von Kepla & DeForrest Brown hören oder so. Gruppen ohne Körper sind immerhin noch Netzwerke. Ihre Welten sind zwar klein (13 Zentimeter lang, 7 Zentimeter breit), lassen sich aber erweitern. Vor kurzem las ich, dass es kaum mehr eine Stadt mit Brachflächen gebe, die ja immer auch symbolische Inseln für Unverfügbarkeit sind. Selbst in Berlin darf keine Fläche ungenutzt bleiben. Wäre es nicht ein Anfang, solche Orte jetzt im Digitalen zu errichten, um sich die Produktionsmittel der Subjektivität zurückzuerobern? Eine S-Bahn schleicht sich in mein Sichtfeld und klingt wie eine langsame, zurückgespulte Melodie von Boards Of Canada. Vielleicht sagt sie: Mach es so wie ich, bleib immer in Bewegung, schau dir alles an, aber mach dich mit nichts gemein, schlag keine Wurzeln, glaub an nichts, das fest ist: Sei unverfügbar!
Philipp Rhensius
Ist das, was auf dem Bildschirm passiert, die Welt? Oder bildet die Welt nur das ab, was auf dem Bildschirm passiert? Ein psychogeografischer Essay.
[ "Digital Natives", "Social Media", "Stadtleben", "Essay", "Gesellschaftskritik", "Donna Haraway", "Kolumne Berlin viral", "Kolumnen", "Gesellschaft", "Serie", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,459
Geheime Vorbereitungen für Karneval: Die Freiheit der Narren - taz.de
Geheime Vorbereitungen für Karneval: Die Freiheit der Narren In Düsseldorf hauen die Jecken besonders gerne drauf. Auch nach dem Anschlag auf „Carlie Hebdo“? Vorab gibt es keine Infos über die Karnevalswagen. „Humor ist die humanste Form der Kritik“, sagt der Düsseldorfer Chefwagenbauer Jacques Tilly. Bild: dpa DÜSSELDORF taz | Die Halle wirkt wie eine Filmkulisse vor Drehbeginn: Dicht an dicht steht ein Karnevalswagen neben dem anderen. An einigen arbeiten Leute, malen Motive oder klatschen nasses Papier auf Maschendraht. Auf vielen Wagen sind Figuren in Folien eingehüllt, ein paar Narrenkappen und Harlekins sind zu erkennen. Bis zum Rosenmontagszug in einer Woche dürfen höchstens die Auftraggeber einen Blick auf die Wagen werfen. In einem ehemaligen Straßenbahndepot im Düsseldorfer Stadtteil Bilk bauen Jacques Tilly und sein 15-köpfiges Team jedes Jahr Dutzende von Karnevalswagen. Immerhin empfängt Tilly hier Besucher – wenn auch mit der Mahnung, bloß über keine Details zu berichten. In die Werkstatt nebenan dagegen darf außer den Wagenbauern niemand. An diesem Ort entstehen die berühmten Mottowagen für den Düsseldorfer Rosenmontagszug – jene ätzenden politischen und oft religionskritischen Wagen, die immer wieder für Empörung sorgen und deren Bilder es bis auf die Titelseiten der internationalen Presse bringen. Die Karnevalswagenhalle ist eine Charlie Hebdo in 3D. Jacques Tilly entwirft die Mottowagen. Der 51-Jährige ist ein großer Mann mit kurzen dunklen Haaren, angenehmer Stimme und festem Händedruck. In seinem roten Arbeitsoverall läuft er durch die Halle und packt selbst mit an. Tilly versteht sich als Humorist und als Humanist. Er passt so gar nicht in die mitunter sexistische und rassistische Welt des rheinischen Karnevals. Er ist ein Intellektueller, der hart an seinen Entwürfen arbeitet, damit die Botschaft auch ankommt. „Zugphilosoph“ hat ihn der Spiegel einmal genannt. Er selbst will seine Motive nicht überfrachten. „Das soll in erster Linie Unterhaltung sein“, sagt er bescheiden. Doch anders als seine Kollegen in Köln oder Mainz sucht er nicht die milde, seichte Satire, sondern beißt fest zu. Weltpolitik, Kulturkampf, christliche Kirchen, fundamentalistische Muslime – Tilly fürchtet sich vor nichts. Aktuell und auf Anhieb erkennbar müssen die Themen sein. Aber 3-D-Satiriker Tilly zieht für sich klare Grenzen. „Wir spotten nicht über Opfer“, sagt er mit Nachdruck. Er hält sich an Täter und Mächtige. Die will er nicht schonen. Ob die Anschläge islamistischer Terroristen in Paris Thema beim Rosenmontagszug sein werden, verrät Tilly nicht. Die Mottowagen bleiben geheim, dabei bleibt es. In Köln ist das anders. Zum ersten Mal haben sie dort in diesem Jahr sogar online über einen Wagen abstimmen lassen. Ein ziemlich harmlos daherkommendes Charlie-Hebdo-Motiv hat gewonnen, aber das Festkomitee ist schnell eingeknickt. Es gab diffuse Sicherheitsbedenken. Der Wagen wird nicht fahren. Jacques Tilly sagt, die Ereignisse in Paris hätten ihn tief schockiert. Wenn er in Frankreich Urlaub mache, auf einem Campingplatz bei Bordeaux, kaufe er immer die „Charlie Hebdo“. „Es geht um den Identitätskern unseres Selbstverständnisses“, sagt er. Ob die Anschläge ihm Angst gemacht haben? Er lässt es sich nicht anmerken. An seiner Arbeit ändern will er jedenfalls nichts. Ein mächtiger Putinkopf Zwischen zwei Wagen in der Halle steht ein mächtiger Putinkopf, hergestellt in der typischen Düsseldorfer Leichtbauweise. Nach Tillys Entwürfen gestalten die Wagenbauer die Figuren und Motive aus Maschendraht, danach werden sie mit nassfestem Blumenpapier „kaschiert“, wie sie das Verkleiden nennen. Das Papier lag vorher in einem Gemisch aus Knochenleim und Kreidewasser. Das ist wasserfest. Tapetenkleister würde sich bei Regen auflösen. Noch ist nicht klar, ob Putin in diesem Jahr zum Einsatz kommt. Tilly will so aktuell wie möglich sein. Im vergangenen Jahr kamen die Edathy-Affäre und der ADAC-Skandal kurz vor Rosenmontag – und tauchten im Zug auf. 2012 trat der damalige Bundespräsident Christian Wulff an einem Freitag vor Rosenmontag zurück, er bekam noch einen Wagen. Mogelverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg verabschiedete sich an einem Dienstag vor Rosenmontag. Am Altweiber-Donnerstag hatte Tilly einen Entwurf – aber die Zeit hatte eine Karikatur mit der gleichen Idee. Tilly ließ sich etwas Neues einfallen. Für den Wagen mit dem Schriftzug „Angela Merkels 11. September“ musste er viel Schelte einstecken. „Humor ist die humanste Form der Kritik“, sagt Tilly. Seinen ersten Wagen baute er 1983. Mit dem Wagenbau finanzierte er sein Studium, Kommunikationsdesign an der Gesamthochschule Essen. Damals machte er unter anderem ein Praktikum bei Coordt von Mannstein, der lange Wahlkämpfe für die CDU organisierte. Doch als er mit dem Studium fertig war, wollte Tilly nicht in eine Agentur. Ein Hauch von Iran Die Düsseldorfer Wagenbauer bekamen die Halle in Bilk, der Rosenmontagszug einen neuen Zugleiter. „Die Ausgangslage war perfekt“, sagt Tilly. So machte er aus dem Karnevalsbau einen Beruf. Außerhalb der Saison bauen seine Leute und er Großplastiken für Firmen. „Wir sind keine Künstler“, betont Tilly. „Kunst ist nicht weisungsgebunden.“ Ganz so einfach ist das bei Karnevalisten nicht. Bis zur Jahrtausendwende war bekannt, wie die Mottowagen des Düsseldorfer Rosenmontagszugs aussehen würden. Das weckte Begehrlichkeiten. 1996 wollte Tilly das Kruzifix-Urteil gegen den Kreuzzwang in Schulen kommentieren. An Kreuze genagelte verkleidete Narren, über denen „Helau“ statt „INRI“ stand, sollten durch Düsseldorf fahren. Die katholische Kirche tobte. Schließlich fuhr der Wagen mit verhüllten Narren und dem Schild „ersatzlos gestrichen“. „Da war ein Hauch von Iran zu spüren“, sagt Tilly. Im Jahr 2000 sorgte die abgewählte Düsseldorfer Oberbürgermeisterin Marlies Smeets für einen solchen Ärger, dass die Karnevalisten auf den Motivwagen mit ihr verzichten und beschlossen, künftig ihre Wagen im Geheimen zu bauen. Tilly hatte SPD-Frau Smeets auf einer Totenbahre liegend zeigen wollen, mit einem Messer im Bauch. Jetzt entscheiden nur Tilly, der Zug- und Wagenbauleiter, sowie Geschäftsführer und Präsident des Comitees Düsseldorfer Carneval über die Entwürfe. Anders als in Köln werden in Düsseldorf die Wagen nicht von kirchlichen Würdenträgern gesegnet. „Ich habe abgetrieben“ Jetzt zetern die Kritiker nur noch im Nachhinein, und zwar durchaus lautstark. Etwa 2005 gegen jenen Mottowagen, der den Kölner Erzbischof Joachim Meisner zeigt, wie er eine Frau auf einem Scheiterhaufen anzündet, die bekennt: „Ich habe abgetrieben“. Die Darstellung des mittlerweile pensionierten Papstes Benedikt XVI., der einen Pakt mit dem Pius-Bruder und Holocaust-Leugner Richard Williamson schließt, ließ 2009 Meisner sogar persönlich gegen die Düsseldorfer wüten. Auch der Zentralrat der Muslime hat sich schon bei Tilly beschwert. 2007 fand die Organisation den Mottowagen über islamistische Selbstmordattentäter empörend. Zu sehen waren zwei Figuren mit Turban und Sprengstoffgürtel, die eine Pistole und ein Schwert in den erhobenen Händen hielten. „Klischee“ steht auf einem Schild vor der ersten Figur, „Wirklichkeit“ vor der zweiten. Auch der Kampf um die Mohammed-Karikaturen war Thema beim Düsseldorfer Rosenmontagszug: 2010 biss ein Narr einem Mann mit Turban und blutigem Schwert in der Hand in den Po. „Wer zuletzt lacht …“ stand auf dem Wagen, an dem eine Dänemarkfahne steckte. Keine Erfindung der Christen „Karneval ist weltanschaulich neutral“, sagt Tilly. Er schlägt den ganz großen Bogen von der Antike über das Mittelalter bis ins Heute, um davon zu überzeugen, dass Menschen immer schon das Bedürfnis hatten, sich wenigstens für eine Zeit von Repression zu befreien, Rollen zu tauschen und zu feiern. Karneval, das ist ihm wichtig, sei keine christliche Erfindung. Tilly ist Agnostiker. Er sitzt im Beirat der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung. „Religionen beeinträchtigen vielfach das Selbstbestimmungsrecht“, sagt er. Der Pressesprecher des Comitees Düsseldorfer Carneval kommt auf einen Sprung zu Tilly in die Halle. Hans-Peter Suchand hat eine Narrenkappe auf dem Kopf und einen Schal mit Karnevalsmotiven um den Hals gebunden. Auch er darf nicht in die Werkstatt mit den Mottowagen. Suchard hat gerade einer Lokalzeitung ein Interview gegeben. Wie immer in diesen Tagen ging es um Religionskritik nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo. „Und was hast du gesagt?“, will Tilly wissen. „Na, was wir immer sagen“, antwortet Suchand. „Gott und der Prophet sind tabu, aber Bodenpersonal geht immer.“
Anja Krüger
In Düsseldorf hauen die Jecken besonders gerne drauf. Auch nach dem Anschlag auf „Carlie Hebdo“? Vorab gibt es keine Infos über die Karnevalswagen.
[ "Charlie Hebdo", "Düsseldorf", "Karneval", "Alltag", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,467
Erdbeerverkauf in Berlin: Süße Früchte, saure Preise - taz.de
Erdbeerverkauf in Berlin: Süße Früchte, saure Preise Erdbeeren sind ein Luxusgut, daran sollten wir uns gewöhnen. Warum tun sich manche Anbieter wie Karls Erdbeeren so schwer mit dieser Einsicht? Man kann sie förmlich riechen: Die Königin unter den Früchten Foto: Alina Grünky/dpa Meine Hoffnung war, dass es die Kunden nicht merken“, entschuldigt sich der freundliche Mann hinterm Tresen des Verkaufsstandes von Karls Erdbeeren am nördlichen Stadtrand Berlins. Vor zwei Wochen gab es hier Kilokörbe für 8,90 das Stück, letzte Woche kosteten 750 Gramm 7,90 Euro – und jetzt das Pfund 5,45. Mathe ist nicht jederfraus Sache, aber die Rechnung ist in diesem Fall nicht so schwer. Der Kilopreis hat sich von 8,90 Euro auf 10,50 und 10,90 erhöht – und statt das einfach ordentlich zu begründen, werden die Kunden rotzfrech an der Nase herumgeführt. „Warum kaufst du auch diesen Nippes“, fragt eine Kollegin. „Niemand zwingt dich, da zu kaufen“, fügt ein anderer an. Spätestens seit der kritischen Berichterstattung der taz über die miesen Arbeitsbedingungen bei Karls unter dem Titel „Erdbeer-Nazis“ ist es in dieser Redaktion nicht en vogue, bei diesem Anbieter zu kaufen. Darauf kann die Antwort nur lauten: „Das Private ist politisch.“ Wer Kinder hat, weiß, dass viele von diesen drei Kilo Erdbeeren pro Woche als Grundrecht begreifen. Und: Zumindest am strukturschwachen Stadtrand gibt es wenige schmackhafte Alternativen. Am späten Nachmittag sind die Bio-Erdbeeren überall aus, die zurzeit übrigens meist sogar um die 13,50 das Kilo kosten. Für deutsche Erdbeeren legt man im Supermarkt zwar ungefähr dasselbe wie bei Karls auf den Tisch, diese werden aber oft nicht wie bei Karls am Verkaufsmorgen geerntet, sind also in den allermeisten Fällen nicht so süß und so zart – und man hat wegen der faulen Früchtchen weiter unten viel mehr Verschnitt. Anders aufziehen Bleibt für Berufstätige, die vormittags nicht einkaufen können, oft nur Dürre-Obst aus Südspanien. Aus dem berühmten und nun von Trockenheit bedrohten Doñana-Nationalpark pumpen hunderte Agrarbetriebe illegal Wasser, und das soll nun auch noch von der Regierung erlaubt werden. „Ich würde das auch anders aufziehen“, sagt der freundliche Verkäufer deshalb noch. Man könnte den Preisanstieg sehr leicht vernünftig rechtfertigen: Wechsel der Sorte, ausbleibender Regen, steigende Lohnkosten. Selbst der brennende Erlebnishof in Elstal am Dienstag wäre als Begründung besser als einfach kleinere Schalen. Bleibt also nur, den Kindern künftig Aprikosen anzudrehen oder auf Selbstanbau umzusteigen. Die Pflanzzeit für Erdbeeren ist bis Mitte Juni, Pflanzen für einen Euro das Stück oder ein paar Cent mehr gibt’s manchmal immer noch beim Gärtner oder im Baumarkt, zur Not auch online. Und wer weder Garten noch Balkon hat, der kann sich auch Blumenampeln mit Erdbeerpflanzen kaufen und ins Fenster hängen. Die sind zwar teurer. Dafür sind es oft Monatserdbeeren, die bis in den Herbst hinein tragen.
Susanne Messmer
Erdbeeren sind ein Luxusgut, daran sollten wir uns gewöhnen. Warum tun sich manche Anbieter wie Karls Erdbeeren so schwer mit dieser Einsicht?
[ "Erdbeeren", "Wassermangel", "Klimawandel", "Berlin", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,468
press-schlag: Unfassbar: Cottbus schießt ein Tor - taz.de
press-schlag: Unfassbar: Cottbus schießt ein Tor Fußballexperten sind erfahrungsresistent. Für sie ist die Saison bereits entschieden In der 13. Minute des fünften Spieltags der 46. Bundesligasaison geschah im Stadion der Freundschaft zu Cottbus das absolut Unfassbare: Es fiel ein Tor. Für Gastgeber Energie. Nicht dass die Mannschaft danach gewonnen hätte. Aber es war das erste Cottbusser Tor der Saison. Wahnsinn, denn es schien allgemein beschlossene Sache, dass Energie Cottbus nie wieder ein Tor schießen würde. Jedenfalls nicht in der ersten Liga. So kann man sich irren. Fußballfans und -fachleute irren sich gern. Sie neigen nicht zur Vernunft. Nicht dazu, Erfahrungen im Kopf zu behalten. Sie neigen dazu, leidenschaftlich vom Jetzt auf alles zu schließen. Gerade erst hat die Liga richtig Schwung, da steht fest: Cottbus steigt ab. Außerdem: Bielefeld. Weil: Die einen sind gerade Letzter, die anderen Vorletzter. Und ganz oben? Bayern. Wer sonst? Gut möglich, dass Bayern seine siebte Meisterschaft seit 2000 erringt, auch sehr gut vorstellbar, dass Lausitzer und Ostwestfalen lange in den unteren Tabellenregionen stecken, gar einer oder beide in die Zweitklassigkeit entlassen werden. Aber entschieden ist das noch nicht. Und, Überraschung: Bielefeld hat beim fünften Versuch sein erstes Spiel gewonnen. Bielefeld ist jetzt nicht mehr Vorletzter. Neue Abstiegsfavoriten werden gesucht. Es ist kein Spiel entschieden, wenn nach 15 Minuten das erste Tor fällt. Es ist keine Saison entschieden, wenn man nach fünf Spieltagen die Punkte zählt. Es soll ja sogar Spiele geben, in denen gar nicht der gewinnt, der das erste Tor macht. Und Spielzeiten, in denen einer, der nach sieben Spieltagen nur zwei Punkte hat und am 12. Spieltag zum ersten Mal gewinnt, nicht absteigt. Wer will, kann sich das in Cottbus erklären lassen. Es bleibt ein unerschütterliches Phänomen, dass selbst langjährige Fußballjunkies mit sehr, sehr, sehr viel Erfahrung sich immer wieder selbst austricksen, indem sie so tun, als gebe es keine Restspielzeit. Und keine Restsaison. Als gebe es nie die Möglichkeit zur Wende. Aber es ist nicht der Weisheit letzter Schluss, den Anfang auch gleich für das Ende zu nehmen. Es war auch – sowieso schon wegen der mageren Transferbilanz, aber erst recht nach der Famagusta-Blamage – beschlossene Sache, dass mit Werder diese Saison gar nicht zu rechnen sei. Und klar war, dass Bayern mit einem Sieg über Bremen Tabellenführer würde. Allerdings nicht, weil sie gerade so brillant sind, eher aus Gewohnheit. Sonderstatus gewissermaßen. Tja. Sagen wir mal so: Aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Ribery steht vor der Tür. Klinsmanns Taktiktrainer hat bestimmt noch innovativere Defensivvarianten in petto. Aber sagen wir auch: Fußball ist große Klasse. Alle werden ständig überrascht. Keiner lernt daraus. Zum Glück. KATRIN WEBER-KLÜVER
KATRIN WEBER-KLÜVER
Fußballexperten sind erfahrungsresistent. Für sie ist die Saison bereits entschieden
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,535
Nyege Nyege im Festsaal Kreuzberg: Vom Nil an die Spree - taz.de
Nyege Nyege im Festsaal Kreuzberg: Vom Nil an die Spree Rasant, punkig, experimentell: Das Afropollination-Projekt begann in Uganda und bringt jetzt Mu­si­ke­r:in­nen aus Afrika und Deutschland nach Berlin. Binghi und Astan KA beim Proben auf der MS Stubnitz Foto: Ian Wainaina BERLIN taz | Wer im vergangenen September aus dem fernen Berlin zu Nyege Nyege an den Ufern des Nils nach Uganda gereist war, dachte vorab, das legendäre Festival sei so etwas wie die Fusion Afrikas. Das erwies sich zumindest als nicht ganz richtig, zu (kulturell) unterschiedlich sind beide Veranstaltungen, Nyege Nyege ist etwa auch auf die Unterstützung von Sponsoren angewiesen. Afropollination, Kampala Aber musikalisch war das Festival an den Itanda Falls in Uganda zweifellos eine Offenbarung, was die elektronische Undergroundszene Afrikas betrifft. Dazu trugen auch die Gäste des „Afropollination“-Projekts nicht unerheblich bei; ein Projekt der Berliner Agentur Piranha Arts und Nyege Nyege aus Kampala, das Künst­le­r:in­nen verschiedener Disziplinen, vor allem Pro­du­zen­t:in­nen und Musiker:innen, aus Afrika und Deutschland zusammenbrachte – darunter Astan KA. Die 30-jährige, seit zehn Jahren in Berlin lebende franco-malische Sängerin und Performerin sagt, sie möge auch Afropop, aber ihre Identität sei durch Afropunk geprägt, der experimenteller sei, „edgier“. In der Villa des Nyege Nyege Tapes-Labels in Ugandas Hauptstadt Kampala – bis vor Kurzem war sie noch ein sicherer Ort für die queere Szene der Stadt – waren die Afropollination-Mitwirkenden für ihre Residencies untergebracht. Das war der Grundstein für eine Vielzahl von Kooperationen, die im Januar auf der „MS Stubnitz“ in Hamburg fortgesetzt wurden – und obwohl es da ziemlich kühl war, schwärmen alle vom Aufenthalt in der Hansestadt (was auch der Gastfreundschaft von Felix Stockmar, dem Betreiber des Musikschiffs, geschuldet ist). Schlusspunkt in Kreuzberg Afropollination, MS Stubnitz Nach Konzerten in Dortmund (ausgerichtet von Cosmo/WDR) und auf der MS Stubnitz steht jetzt der feierliche Abschluss von Afropollination an – ein Wochenende im Festsaal Kreuzberg direkt neben der Spree, wo alle Beteiligten endlich einem größeren Publikum vorführen können, was sie im Laufe der Monate erarbeitet haben. Auch Astan KA freut sich schon darauf. Sie ist wohl eine der am besten geeigneten Personen, um zu beschreiben, worum es bei dem Austauschprojekt geht: um gegenseitige Befruchtung, Begegnung auf Augenhöhe. AfropollinationFestsaal Kreuzberg, Am Flutgraben 2, 12435 Berlin – Indoor & Outdoor, Sa. 17. 6. (21 Uhr) & So. 18. 6. (16 Uhr). Am So. gibt es zur Einstimmung zwei Tanzworkshops. Astan KAs Vater kommt aus einem kleinen Dorf im Elsass und ist Christ, ihre Mutter eine Muslima aus Mali. Das Leben zwischen den Welten empfindet Astan als eine Bereicherung und nennt sich ein „Kind der Versöhnung“. Während sie in Berlin viele traumatisierte Afrodeutsche getroffen habe, die ihre Wurzeln verleugnen, ermöglichten es ihr die Eltern, beide Seiten ihrer Herkunft als gleichberechtigt anzuerkennen. Sie sagt, dass sie privilegiert aufgewachsen sei – davon will Astan KA der Heimat ihrer Mutter etwas zurückgeben. „Ich denke, Afrika braucht die Diaspora.“ Bei Afropollination wurde ihr die ruandische Singer/Songwriterin Binghi als Partnerin zugeteilt – ein „perfect match“ sei das gewesen, sagt Astan KA. Sie nennt ihre Musik spaßeshalber „Gangsta Jazz“. Und der sei genauso „futuristic“ wie „anchestral“. Auch Astans Partner Exocé ist als Performer und Tänzer an Afropollination beteiligt. Freuen kann man sich im Festsaal Kreuzberg ebenfalls auf den Heavy-Bass-Sound von Chrisman, der inzwischen die Nyege Nyege-Studios leitet, und auf DJ Mp3, der den neusten Gqom aus Durban am Indischen Ozean im Gepäck hat. Zwar ist der luftige Ampiano-House in Südafrika die Musik der Stunde, doch der düstere Gqom ist es allemal wert, international mehr Beachtung zu finden. Der Sound der Armenviertel Die vielleicht heißeste Musik kommt aus Tansania: Singeli, der Sound der Armenviertel Daressalams. Vom traditionellen Taarab beeinflusste, auf Suaheli gesungene Songs (wenn sie überhaupt Vocals haben), die trashige Synthie-Loops und Soukous-Samples auf ungeahnte Geschwindigkeiten treiben – Beats mit über 200 bpm sind hier ebenso die Regel wie eine Cyberpunk-Ästhetik, bei der viele MCs Namen von Antivirus-Software tragen. Singeli sei die „womöglich räudigste, lauteste und schnellste aller afrikanischen Dancehall-Varianten“, schreibt der Journalist Jonathan Fischer. Nach Berlin kommen mit Sisso und Maiko zwei Pioniere des Genres. Sisso hatte 2017 mit seinem bei Nyege Nyege Tapes als Kassette veröffentlichten Album „Sounds of Sisso“ den Singeli erstmals über Tansania hinaus ins Gespräch gebracht. Ein Highlight dürfte auch der Auftritt von DJ Diaki (Mali) und Jay Mitta (Tansania) werden. Schon zu Jahresanfang haben sie beim CTM-Festival zusammen mit der Wahlberliner Produzentin Zoë Mc Pherson das Berghain gerockt. Zu Beginn gab es da zwar einen Moment der Überraschung, bis das Publikum begriff, dass es den rasanten digitalisierten Balafon-Kaskaden von Diaki im Mix mit dem ähnlich schnellen Singeli von Jay Mitta und der elektronischen Unterfütterung durch Zoë nur angemessen begegnen kann, indem mensch seinen Körper in Bewegung versetzt, sich schüttelt und bis zum letzten Trommelschlag nicht mehr damit aufhört. Wer am Samstag und Sonntag in den Festsaal Kreuzberg kommt, sollte darauf vorbereitet sein. Es werde „insane“ werden, frohlockt Astan KA. Wer das verpasst, ist selber schuld.
Ole Schulz
Rasant, punkig, experimentell: Das Afropollination-Projekt begann in Uganda und bringt jetzt Mu­si­ke­r:in­nen aus Afrika und Deutschland nach Berlin.
[ "Afrikanische Musik", "Ostafrika", "Festsaal Kreuzberg", "Berlin", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,538
auch das noch - taz.de
auch das noch: Geschlechterkampf: CDU-Schattenministerpräsident Jürgen Rüttgers wird für seine Forderung, das „Beauftragten-Unwesen“ in der Landespolitik abzuschaffen, heftig kritisiert. „Ohne Gleichstellungsbeauftragte wären wir heute bei der Bekämpfung der häuslichen Gewalt, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Ganztagsbetreuung längst nicht so weit“, erklärte Frauenministerin Birgit Fischer (SPD). Rüttgers hatte angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs alle Gleichstellungseinrichtungen auf den Prüfstand zu stellen.Steuerstreit: Die neue Steuerschätzung hat nach Einschätzung von Finanzminister Jochen Dieckmann (SPD) keine Auswirkungen auf den laufenden Landeshaushalt. Nach einer überschlägigen Rechnung müsse er bei den Steuereinnahmen keine Korrekturen vornehmen. Die allgemeine Vorhersage der Steuerschätzer sei zwar nicht erfreulich, „die Entwicklung bei den Steuereinnahmen in NRW zeichnet aber ein deutlich positiveres Bild.“ Die CDU rechnet dagegen mit Mindereinnahmen in Höhe von 750 Millionen Euro. dpa/JAS
JAS
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,551
Patentexperte über Zwangslizenzen bei Impfungen: „Erwartungen sind derzeit zu hoch“ - taz.de
Patentexperte über Zwangslizenzen bei Impfungen: „Erwartungen sind derzeit zu hoch“ Zwangslizenzen bei Impfstoffen könnten nur bedingt eine Lösung sein, sagt Patentexperte Paul Fehlner. Bei neuen Technologien würden sich die Unternehmen sperren. Impfstoffherstellung bei IDT Biologika in Dessau-Roßlau Foto: Hendrik Schmidt/dpa taz: Herr Fehlner, Sie arbeiten seit Jahrzehnten in der Phar­ma­branche. Waren Sie überrascht, wie schnell ein Covid-Impfstoff verfügbar wurde? Paul Fehlner: Ich war unglaublich überrascht. Besonders, dass die mRNA-Technologie als erste ins Ziel kam, auf deren Basis es noch kein zugelassenes Produkt gab. Nun wird es wichtig sein, schnell zu impfen, aber die Vakzine sind derzeit noch knapp. Würde es helfen, die Unternehmen zu zwingen, anderen Herstellern Lizenzen zur Impfstoffherstellung zu geben? Egal, ob Zwangslizenz oder freiwillige Lizenz, das Problem ist die Zeit. Die Arzneimittelbehörden prüfen bei neuen Herstellern ganz genau, ob sie die Richtlinien zur Qualitätssicherung der Produktionsabläufe einhalten. Es dauert nicht Wochen, sondern Monate oder noch länger, um sich da als Hersteller zu qualifizieren. Dazu kommt, dass man auf die Kooperation der Unternehmen angewiesen ist, die einen Impfstoff oder eine Therapie entwickelt haben. Sonst muss ein Lizenznehmer von Grund auf neu lernen, wie das Produkt am besten hergestellt wird. Bei einer Zwangslizenzierung ihrer Technologien könnten also Unternehmen neuen Herstellern Steine in den Weg legen? Ich würde es anders ausdrücken: Es könnte auch eine Art passiven Widerstand geben. Also Unternehmen, die einfach nicht freiwillig ihr internes Know-how für die Herstellung der Impfstoffe hergeben wollen. im Interview:Paul FehlnerFoto: Axcellaleitete 2008 bis 2017 die Abteilung für geistiges Eigentum beim Pharmaunternehmen Novartis, heute arbeitet er in gleicher Position beim US-Biotech-Unternehmen Axcella und berät die WHO. Man hätte also viel früher mit Verhandlungen darüber beginnen müssen, ob andere Impfstoffhersteller Lizenzen bekommen? Es ist schwer, das jetzt noch zu bewerten. Pfizer hat riesige Herstellungskapazitäten und Moderna auch und sie haben auch hart daran gearbeitet, mit Partnern zu produzieren. Ganz ehrlich, die stellen schon verblüffend viel Impfstoff her für ein Produkt, das eben erst zugelassen wurde. Es ist einfach nicht realistisch, sofort eine Milliarde Impfdosen parat zu haben. Stellen Sie sich mal vor, die hätten in noch mehr Produktionsanlagen investiert, bevor klar war, ob die Impfstoffe überhaupt wirken. Es wäre eine Kapazität gewesen, dezidiert für mRNA-Impfstoffe. Und dann wäre nur der Impfstoff von AstraZeneca wirksam gewesen, der ganz anders produziert wird. Das wusste vorher ja niemand. Wahrscheinlich sind die Erwartungen derzeit zu hoch: Viele denken, jetzt, wo die Vakzine zugelassen sind, muss es doch gleich Milliarden Impfdosen geben. Aber könnte man denn die Kapazitäten in der zweiten Hälfte 2021 erhöhen, wenn jetzt andere Hersteller Lizenzen für die Impfstoffproduktion bekommen? Ich glaube schon, ja. Es gäbe weltweit genug Produktionskapazitäten. Mit Technologietransfers könnten bis Mitte oder Ende 2021 mehr Produktionsstätten einsatzbereit sein. Wir haben ja bereits gesehen, dass indische Generika-Hersteller das Covid-Mittel Remdesivir in Lizenz produzieren. Aber mRNA-Impfstoffe sind deutlich komplizierter herzustellen. Da können sie kaum einen Technologietransfer erzwingen, zumal die USA und die EU das nicht zulassen. Wir haben bei Covid schon gesehen, dass Unternehmen bereit sind, zu kooperieren. Das wollen wir nicht verspielen. Wir arbeiten mit der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sation deshalb mit Anreizen für spezifische Lizenzen. Weil viele Unternehmen fürchten, dass ihre Konkurrenten die von ihnen entwickelte Covid-Technologien später in anderen Produkten verwenden. Wir reden derzeit darüber, Menschen zu retten und Volkswirtschaften vor dem Kollaps zu bewahren. Kann man sich da solche Debatten erlauben? Das stimmt. Aber aus Sicht der Unternehmen sind sie selbst derzeit enorm kooperativ im Vergleich zum normalen Modus. Sicherlich hätten Regierungen und philanthropische Investoren da mehr fordern können, speziell da, wo mit öffentlichen Geldern die Risiken bei der Impfstoffentwicklung übernommen worden sind. Werden wir 2021 sehen, dass Industrieländer ihre Bevölkerungen impfen und Entwicklungsländer kaum? Das wird sich leider nicht vermeiden lassen. Es ist für Poli­ti­ke­r*innen in den Industrieländern kaum denkbar, ihrer Bevölkerung zu sagen: Ihr müsst mit dem Impfen warten, bis wir alles global verteilt haben. Das ist einfach ein Dilemma.
Ingo Arzt
Zwangslizenzen bei Impfstoffen könnten nur bedingt eine Lösung sein, sagt Patentexperte Paul Fehlner. Bei neuen Technologien würden sich die Unternehmen sperren.
[ "Covid-19", "Impfstoff", "Patent", "Zwangslizenz", "Coronavirus", "Ökonomie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,576
Über dem Ende der Fahnenstange - taz.de
Über dem Ende der Fahnenstange HAUSBESUCH Martje Saljé wacht über Münster. Als Türmerin der Lambertikirche VON TOBIAS ROMBERG (TEXT) UND ROMAN MENSING (FOTOS) Münster, über den Dächern arbeitet Martje Saljé (34) im höchsten Büro der Stadt. Draußen: Die Friedensstadt in voller Pracht. Der Prinzipalmarkt liegt uns zu Füßen. Mit all den Giebelhäusern, aufgezogen wie Perlen an zwei Ketten, eins davon das Rathaus, Ort des Westfälischen Friedens, verewigt in Geschichtsbüchern. Kopfsteinpflaster, über das Studenten mit alten Fahrrädern, Leezen genannt, scheppern. Martje Saljé, 34 Jahre alt, Türmerin der Stadt, in der katholischen Marktkirche Sankt Lamberti über Münster thronend, sieht alles. „Mit jeder Stufe, die ich beim Aufstieg nehme, entferne ich mich von dieser turbulenten und doch unsicheren Welt. Das hat etwas Meditatives, Befreiendes“, sagt Martje. Drin: 300 Stufen, inklusive der zwei, die unten zum Türmereingang führen, bis zum Arbeitsplatz von Martje. Auf dem Weg geht es vorbei am Ende der Fahnenstange, an den Wiedertäufer-Käfigen und der Rats- und Brandglocke, die nur noch bei der Oberbürgermeisterwahl geläutet wird. Das Zimmer, 75 Meter über der Stadt, 24 Meter unter der Turmspitze, ist eng, Studentenzimmergröße. Schreibtisch, Bürostuhl, ein Tisch, Stühle, Bücherregal. An einer Wand Fotos von anderen Türmern, einige hat Martje besucht, und ein Foto von zwei Katzen: Tinkabell und Cocomau Miez de la Katz, Martjes Mitbewohner („Obwohl ich eigentlich ein Hundetyp bin“). Feuerwehr: Martje kommt heute etwas kurzatmig im Büro an. Eine Allergie macht ihr zu schaffen. Sie ruft als Erstes die Feuerwehr an: „Ja moinsen, die Türmerin. Ich bin eben auf meinem Posten angelangt.“ Fröhlich, freundlich, laut. „Ich bin das Auge der Feuerwehr“, sagt sie. Sie hat von da oben schon Brände erkannt und gemeldet. Kommt aber nicht allzu oft vor. Türmerin: Das Amt des Türmers ist für Münster urkundlich erstmals 1383 erwähnt. Er warnt vor Brand und Feind („Im Mittelalter gehörte der Türmer so wie der Henker zu den unehrlichen Broterwerben“). Und heute? Martje hat sich in Münster gegen 40 Männer und 6 Frauen durchgesetzt, die auch nach ganz oben wollten. Öffentlicher Dienst, unbefristet, halbe Stelle, Nacht- und Wochenendzuschläge. Geld: Martje hat eine genehmigte Nebenbeschäftigung bei der Sparda-Bank („Etwas ganz anderes, was mit Computern“). Als Türmerin wird man nicht reich. „Wenn man bescheiden lebt, dann kommt man hin.“ Martje: Martje holt das Kupferhorn, ihr Arbeitswerkzeug, gefertigt 1950. Der Job als Türmerin sei ihre Berufung, entdeckt nach einem abenteuerlichen Vorleben. „Alles ist von Gott gewollt“, sagt die Protestantin. Sie wird in Bremen geboren, lebt als Kind viele Jahre in Norwegen, eine Zeit lang in Kanada. Der Vater war Professor für Film- und Theaterwissenschaften. Martje studiert in Oldenburg Geschichte und Musik, arbeitet in Museen und Archiven, auf einem Mittelaltermarkt, als Lehrerin, reist als Musikerin umher. Jetzt ist sie Türmerin. Die erste Frau mit dieser Aufgabe. „Der Turm schwankt bei Sturm“, sagt sie. Der erste Ton: Martjes erster Arbeitstag war der 1. Januar 2014. Den allerersten Ton versemmelt sie. „Ich spiele so viele Instrumente, da hat es die Stadt Münster wohl beim Bewerbungsgespräch nicht interessiert, ob ich auch Horn spiele.“ Ihr Vorgänger gibt ihr Nachhilfe. Seitdem tutet – „so nennt man das“ – sie jeden Tag, außer dienstags, halbstündlich zwischen 21 und 24 Uhr, in drei Richtungen, laut wie ein Schiffshorn. Früher tutete der Türmer von 22 bis 6 Uhr. Martje tritt aus ihrem Büro auf den schmalen Balkon, der um den Turm führt. Sie tutet, lange Signale, zur vollen Stunde für jeden Glockenschlag einmal, halbstündlich weniger. Die Botschaft: „Es ist alles in Ordnung. Es brennt nicht im näheren Umkreis, es stehen auch keine Feinde vor den imaginären Stadtmauern.“ Früher überlebenswichtig. Heute Stadtmarketing. Einsamkeit: Es gibt turbulentere Jobs. Man denkt an Prinzessinnen, die auf Türmen gefangen gehalten werden. Abgeschnitten von der Außenwelt. Rapunzel-Style. Martje liebt die Ruhe. Rampenlicht: Martje ist nicht abgeschnitten von der Welt. Sie hat hier oben einen Computer mit Internet. Sie bloggt zwischen den Tuteinheiten, für sich und für das Stadtmarketing. Sie hat eine Facebook-Seite und Fans. Vielleicht auch Verehrer, die ab und zu unten stehen und winken, wenn sie tutet. Bei einem Radiosender sind nach einem Interview mit ihr auch schon Liebesbriefe eingegangen. Die Medien reißen sich um sie. Die BBC war schon da. Bald kommt ein Journalist aus Mumbai. „Single-Frau wird Türmerin in Münster“, schrieb die Bild in den Wochen vor ihrem Dienstantritt. „Solche privaten Sachen will ich eigentlich nicht“, sagt Martje. Kaum Auskünfte zum Privatleben. Dafür Geschichten von Turmmitbewohnern, beispielsweise von Hildegardis, der Kreuzspinne, und Falco, dem Falken, der hier oben eine Familie gründete. Was fühlt Martje im Büro? Der Turm ist das Kontrastprogramm, sagt Martje. Losgelöst von der Hektik des Alltags. Klare Gedanken in luftiger Höhe. Angst hat sie nie. Sie war auch beim großen Unwetter Ende Juli 2014 auf ihrem Posten. Unter ihr soff die Stadt ab. Oben zerschmetterten Blitze Fenster des Büros. Martje blieb. Erst als die Chefin anrief, stieg Martje hinab. Seitdem gibt es eine neue Dienstanweisung. Bei Unwetterwarnung mit der Warnstufe Rot darf Martje nicht hinauf. Musik: Manchmal spielt Martje im Turm Gitarre. Die spielt sie seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie hat auch Bass und Kontrabass gelernt. Und Flöte. Und Cello. Und Renaissance-Laute. Und Schiffer-Klavier („Musik ist etwas Wunderbares“). Manchmal spielt sie als Türmerin bei Benefizkonzerten. Das bringt der Job mit sich. So wie gelegentliche Vorträge in Kindergärten und Schulen. Was macht Martje glücklich? Musik. Zahlenmystik. Die Aufgabe als Türmerin, mit dem Ziel, „Geschichtsbewusstsein“ zu schaffen. Und der Blick über „die schönste Stadt der Welt“. Wie finden Sie Merkel? „Was soll ich dazu sagen?“, fragt Martje und erbittet sich Bedenkzeit. „Ich darf mich als Türmerin der Stadt Münster wegen des Neutralitätsgebots nicht politisch äußern. Ich verfolge aber mit großer Aufmerksamkeit, was in der Welt, in Europa und in Deutschland passiert.“ ■ Sie möchten auch einmal besucht werden? Schreiben Sie eine Mail an: hausbesuch@taz.de
TOBIAS ROMBERG
HAUSBESUCH Martje Saljé wacht über Münster. Als Türmerin der Lambertikirche
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,627
Richter im NSU-Prozess: Manfred Götzl, der Unbeirrte - taz.de
Richter im NSU-Prozess: Manfred Götzl, der Unbeirrte Der Richter Manfred Götzl hat den NSU-Prozess über fünf Jahre zusammengehalten. Am Mittwoch wird nun das Urteil fallen. Steht am Ende einer Herkulesaufgabe: Manfred Götzl Foto: dpa MÜNCHEN taz | Ein letztes Mal. Ein letztes Mal wird Manfred Götzl am Mittwoch in den Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts treten und den NSU-Prozess eröffnen. Mit seinem dreifachen „Guten Morgen“, für jede Prozesspartei einen, die Angeklagten, die Ankläger, die Nebenkläger. Wie schon 437 Mal zuvor. Diesmal aber wird Götzl danach die Worte aussprechen, auf die viele schon so lange warten: Mit welcher Strafe antwortet der Rechtsstaat auf die jahrelange Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds? Für wie lange wandert die Hauptangeklagte, Beate Zschäpe, hinter Gitter? Für Manfred Götzl geht damit eine Herkulesaufgabe zuende. Denn der 64-Jährige allein war es, der diesen Prozess seit Mai 2013 zusammenhalten musste. Ein Prozess, der in einer ganz eigenen Dimension spielte. Mit einer Anklage über eine monströse Terrorserie mit zehn Morden, zwei Anschlägen und 15 Raubüberfällen. Mit fünf Angeklagten, 14 Verteidigern, 60 Opferanwälten. Und am Ende ganzen fünf Jahren Verhandlung. Götzl trug bei all dem das größte Risiko: Entweder er verkündet am Ende ein historisches Urteil – oder alles platzt. Nun wird der Mittwoch, der Urteilstag, Götzls großer Auftritt. Dabei startete der Prozess für den Franken, einen zweifachen Vater, mit einem Debakel. Bei der Presseakkreditierung kam kein einziges ausländisches Medium zum Zuge – trotz neun migrantischer Mordopfer. Das Bundesverfassungsgericht verordnete eine neue Akkreditierung, der Prozessauftakt musste verschoben werden. Und Götzl, dem der Ruf des Peniblen vorauseilte, stand düpiert da. Dann aber machte Götzl sofort klar, wer das Sagen im Saal A101 hat: er, und nur er. „Unterbrechen Sie mich nicht!“, raunzte der Richter Anwälte an, mit Zornesröte im Gesicht. Auch bei Zeugen konnte er laut werden: „Späße können Sie sich sparen!“ Seine Befragungen aber exerzierte Götzl penibel, machte Notizen, blätterte in den Akten, hakte nach – über Stunden konnte das so gehen. Seine vier Mitrichter ließ Götzl dabei allenfalls Aktenpassagen vorlesen. Sonst sprach nur er, arbeitete Detail um Detail der Anklage ab. Und zeigte sich zäh: Keinen einzigen Prozesstag meldete sich Götzl krank. Ihm eilt der Ruf voraus, auf Härte zu setzen Ab Jahr zwei des Prozesses aber wurde Götzl ruhiger, vorsichtiger. Nun musste er das Verfahren tatsächlich vorm Platzen retten. Beate Zschäpe hatte sich von ihren drei Pflichtverteidigern losgesagt, auch das Anwältetrio wollten hinschmeißen. Es wäre das Ende des Prozesses gewesen. Götzl aber beließ die Verteidiger im Mandat – und gewährte Zschäpe noch einen vierten: den Münchner Mathias Grasel. Das Verfahren lief weiter. Mehr noch: Im Dezember 2015 brach Zschäpe auch ihr jahrelanges Schweigen. Die Morde seien alleiniges Werk ihrer Untergrundkumpanen, ließ sie ihren Anwalt erklären. Götzl hakte auch hier nach, stellte dutzende Fragen. Zschäpe antwortete nur schriftlich, nach wochenlangen Beratungen mit Grasel – Götzl ließ es zu. Weil er, wo immer er die Chance sieht, der Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen, diese ergreift. Auch zuletzt fuhr Götzl weiter auf Sicherheit. Schon im Frühjahr 2017 wollte er die Beweisaufnahme im Prozess schließen. Dann aber ließ er immer neue Beweisanträge zu, sogar zuletzt noch, kurz vor den Schlussworten der Angeklagten. Selbst als die Verteidiger ihn mit Befangenheitsanträgen überzogen, gewährte Götzl ihnen viel Zeit, um diese auszuformulieren. Sollte er innerlich gebrodelt haben: Äußerlich wahrte Götz nun stoische Contenance. Seine Devise offenbar: Nur keinen Fehler machen, die eine Revision anfüttern könnten. Eine Neuauflage des Prozesses, es wäre ein Fiasko. Und für Götzl auch eine persönliche Kränkung: Bisher wurde nur eines seiner Urteile gekippt. Wie aber wird Götzl Zschäpe verurteilen? Der Richter ließ es sich im Prozess nicht direkt anmerken. Bei den Plädoyers ihrer Verteidiger fertigte er nur ungerührt seine Notizen, auch bei den persönlichen Schlussworten Zschäpes vergangene Woche. Aber: Götzl eilt der Ruf der Härte voraus. So verurteilte er etwa 2009 den Wehrmachtsoffizier Josef Scheungraber für die Ermordung von 14 Zivilisten in Italien 1944 zu lebenslanger Haft. Zweifel an der Anklage ließ er nicht erkennen Und im NSU-Prozess ließ Götzl zumindest nicht erkennen, dass er an der Anklage zweifeln würde. Die sieht Zschäpe als gleichwertige Mittäterin an allen NSU-Terrortaten – obwohl sie an keinem Tatortort gesehen wurde. Die Bundesanwaltschaft pokerte damit durchaus hoch und setzte auf Indizien. Götzl hätte das vor Prozesseröffnung runterstutzen können. Aber er ließ die Anklage genau so zu. Am Mittwoch nun – fünf Jahre später – wird Götzl offenlegen, was er selbst von Zschäpes Beitrag zum NSU-Terror hält. Die Angeklagte sollte sich nicht zu viel erhoffen.
Konrad Litschko
Der Richter Manfred Götzl hat den NSU-Prozess über fünf Jahre zusammengehalten. Am Mittwoch wird nun das Urteil fallen.
[ "NSU-Serie", "NSU-Prozess", "NSU-Morde", "Manfred Götzl", "Beate Zschäpe", "Rechter Terror", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,635
„Gespenster der Vergangenheit tauchen wieder auf“ - taz.de
„Gespenster der Vergangenheit tauchen wieder auf“ ■ Erste Pressereaktionen im Ausland auf den Ausgang der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus / DDR: „Neofaschisten im Senat“ Italien: „Insel der Toleranz“ am Ende / Frankreich: Schönhuber als Zwillingsbruder von Le Pen / Schweiz:„Ein Denkzettel für Diepgen“ Berlin (dpa/ap/taz) - Mit dem „makabren“ Wahlerfolg der „Republikaner“ bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus hat die DDR die Mauer erneut gerechtfertigt. Das FDJ-Organ 'Junge Welt‘ schrieb am Montag, „die Bedeutung des Wortes 'antifaschistischer Schutzwall‘ für unsere Staatsgrenze zu Westberlin ist also keineswegs antiquiert oder gar überholt, wie das einige im Westen stets aufs neue wiederholen, sondern aus gegebenem Anlaß bitter aktuell.“ Unter der Überschrift „Nährboden brauner Saat“ schrieb die in Ost -Berlin erscheinende Tageszeitung, die Frage, wer jetzt in Westberlin regieren werde, sei „zweitrangig“ angesichts einer „bestürzenden Tatsache“: „Die Neofaschisten sind im Senat.“ Die 'Junge Welt‘ schrieb weiter, es herrsche Betroffenheit bei allen demokratischen Kräften in West-Berlin, „die sich in den vergangenen Wochen bereits gegen den Unflat der Republikaner zur Wehr gesetzt haben und dafür die Knüppel der Westberliner Polizei zu spüren bekamen; und eine andere Art der Betroffenheit, die nur als verlogen gelten kann, bei den bisher Regierenden, die diese Knüppel dirigierten.“ Den „Republikanern“ sei „durch eine soziale Kahlschlagpolitik des CDU/FDP-Senats in erheblichem Maße der Boden bereitet worden“. Derart ungläubig standen Italiens Medien am Sonntag abend vor dem Ergebnis der Berlin-Wahl, daß sie zunächst keinerlei Kommentar zustande brachten. Später haben sie sich dann wohl gefaßt - doch man merkt ihren Artikeln an, daß sie speziell wegen des Siegs der „Republikaner“ schwer in Informationsnot waren. Bemerkenswert bei allen Berlin-Berichten ist der Umstand, daß die Artikel durchweg just neben den Anklagen der Amerikaner gegen die deutschen Chemiehilfen für Libyen, die Atomhilfen für Pakistan oder zumindest neben die Auseinandersetzung um die neue Nachrüstung gesetzt wurden: Schönhuber als sichtbarer Ausdruck deutscher Bösartigkeit in aller Welt. Der liberale 'Corriere della sera‘ schreibt: „Spektakulär sind gestern die Rechtsextremisten anläßlich der Wahlen in West-Berlin in die politische Szene Westdeutschlands eingerückt.“ Die Industrie (und Fiat)-nahe 'Stampa sera‘ meint: „Die Folge dieses völlig unvorhergesehenen Ausgangs ist die totale Paralyse der Politik - es gibt keine Mehrheit mehr.“ Schließlich noch 'L'Unita‘: „Franz Schönhuber hat gestern im Fernsehen sein 'Programm‘ vorgestellt, das in vielem dem von Le Pen in Frankreich ähnelt - und man hat verstanden, daß nun auch in dieser Insel der Toleranz, die West-Berlin trotz der vielen bösen Vorgänge immer war, die Gespenster der Vergangenheit wieder auftauchen.“ In Tel Aviv äußert sich Abraham Haas, Holocaust -Überlebender aus Osteuropa und jetzt Mitglied des Sekretariats der Weltorganisation jüdischer Antinazi -Kämpfer, Partisanen und Holocaust-Übelebender, in einer ersten Stellungnahme zum Berliner Wahlresultat: „Für mich kamen die Erfolge der neonazistischen 'Republikaner‘ nicht überraschend. Rechtsextreme finden es nicht mehr nötig, bei den etablierten Koalitionsparteien Unterschlupf zu finden. In verschiedenen westeuropäischen Ländern erlebt die rechtsradikale Bewegung eine Wiederauferstehung, und eine Rechtsbewegung im allgemeinen ist im Gange. In der Bundesrepublik und Berlin hat man nicht wirklich mit der Nazi-Vergangenheit aufgeräumt, und in breiten Kreisen der Rechten will man auch von der Judenvernichtung nichts wissen. Die Rechtsextremen haben wieder 'Endlösungen‘: diesmal sind es die Ausländer. Auch in Israel gibt es 'Transfer'-Forderungen im rechtsradikalen Lager: hier sollen die Palästinenser in Nachbarländer 'befördert‘ werden. Die rechtsradikale Gefahr besteht überall und muß überall bekämpft werden, bevor sie wieder eine 'Machtübernahme‘ inszenieren kann. Das bedenkliche Erstarken der Neonazis gerade in Berlin sollte allen eine ernste Warnung sein.“ Am Montag war in Paris nur schwer festzustellen, ob die wenigen, zurückhaltenden Reaktionen in Frankreich auf die Berliner Wahlereignisse eher dem Desinteresse oder einer besonderen Vorsicht entsprangen. Desinteresse vielleicht deshalb, weil man sich auf französischer Seite in den letzten Jahren an rechtsradikale Wahlerfolge gewöhnte, besondere Vorsicht aber auch, weil sich Voraussagen und Analysen über die Zukunft von Jean-Marie Le Pen, dem Führer der französischen Rechtsradikalen, und seiner Partei, der „Front National“, in diesem Jahrzehnt regelmäßig als falsch bewiesen. Meistens unterschätzte man Le Pen. So wollten am Montag morgen weder die Sozialistische Partei noch die „Front National“ zum Berliner Wahlergebnis Stellung nehmen und baten um etwas Geduld. Auch Radio und Fernsehen bemerkten erst spät, daß sich in Berlin etwas Außergewöhnliches getan hatte. Im französischen Staatsender „France-Inter“ versuchte man alsbald Erklärungen zu finden: Berlin sei doch eine sehr außergewöhnliche Stadt, die „im täglichen Frontal-Schock mit dem Osten leben müsse“, überlegte Chefkommentator Michel Barthelemy. Wie in Frankreich auch noch zu Gorbatschows Zeiten üblich, suchte Barthelemy den Teufel im Osten. Präziser indes argumentiert die Pariser Abendzeitung 'Le Monde‘, die als bisher erste französische Tageszeitung ausführlicher zum Wahlergebnis Stellung bezieht. Franz Schönhuber wird hier als „Zwillingsbruder Jean-Marie Le Pens“ vorgestellt, der dessen rassistische und xenophobe Ideen nun auch auf der anderen Seite des Rheins gewinnbringend verkaufen will. 'Le Monde‘ verwarnt auch das eigene Land : „Die Alliierten müssen nun die Konsequenzen davon überdenken, daß sie erstmalig in Berlin einer rechtsextremen, chauvinistischen und xenophoben Kraft die Teilnahme an einer Wahl erlaubten.“ Die 'Neue Zürcher Zeitung‘ schreibt über den „Denkzettel für Diepgen“: „Bei den Regierungsparteien wollte man bis zuletzt nicht wahrhaben, wie sehr die xenophoben Reflexe in der Stadt in letzter Zeit gewachsen waren und wie leicht diese sich mit der weit verbreiteten Unzufriedenheit über die Opfer, welche beispielsweise die Gesundheitspolitik von vielen verlangt, verbinden ließen.“ Die 'Basler Zeitung‘ spricht von dem „Schock von Berlin“ und meint: „Aber in Berlin hat nicht nur die überdurchschnittlich hohe Zahl ausländischer Bewohner das Regierungsbündnis von CDU und FDP zerschlagen. Es war auch massive Unzufriedenheit mit der Bonner Regierungspolitik... Dies ... könnte dann auch der erste Schritt auf jener Treppe von nahezu zehn Kommunal- und Landtagswahlen bis zur Bundestagswahl im Dezember 1990 sein, an deren letzter Stufe die Bundeskoalitionspartner CDU/CSU und FDP voneinander Abschied nehmen müssen: wie gestern in Berlin.“ rai/M.B./Wollin/eka
rai/m.b./wollin/eka
■ Erste Pressereaktionen im Ausland auf den Ausgang der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus / DDR: „Neofaschisten im Senat“ Italien: „Insel der Toleranz“ am Ende / Frankreich: Schönhuber als Zwillingsbruder von Le Pen / Schweiz:„Ein Denkzettel für Diepgen“
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,640
Ankündigung von Erdogan: Kriegsschiffe begleiten Hilfslieferungen - taz.de
Ankündigung von Erdogan: Kriegsschiffe begleiten Hilfslieferungen Der Ton wird schärfer: Ministerpräsident Erdogan will türkische Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen mit Kriegsschiffen absichern. Israel bezeichnet das Vorhaben als "schlimm". Es ist ihm ernst: Recep Tayyip Erdogan legt im Streit mit Israel nach. Bild: reuters ANKARA/JERUSALEM afp/dpa | Im Streit mit Israel um die Gaza-Hilfsflotte hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Ton weiter verschärft. Künftig würden türkische Hilfslieferungen in das Palästinensergebiet unter den Schutz von Kriegsschiffen gestellt, sagte er am Donnerstag dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira. "Wir haben humanitäre Hilfe, die dorthin geschickt werden soll. Und unsere humanitäre Hilfe wird nicht mehr angegriffen, wie es bei der "Mavi Marmara" geschehen ist", erklärte Erdogan mit Blick auf einen israelischen Militäreinsatz gegen das türkische Gaza-Hilfsschiff "Mavi Marmara", bei dem im vergangenen Jahr neun türkische Aktivisten getötet worden waren. Niemand habe das Recht, Schiffe in internationalen Gewässern anzugreifen. Die Türkei werde die internationalen Gewässer genau beobachten und habe außerdem Schritte unternommen habe, um eine einseitige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen im östlichen Mittelmeer durch Israel zu unterbinden, sagte der türkische Regierungschef weiter, ohne jedoch Einzelheiten zu nennen. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel sind seit dem Einsatz auf der "Mavi Marmara" am 31. Mai 2010 schwer belastet. Israel hatte den Verlust von Menschenleben zwar bedauert, die von Ankara geforderte förmliche Entschuldigung aber abgelehnt. Als Begründung wurde angeführt, dass die israelischen Elitesoldaten beim Entern des Schiffes zur Selbstverteidigung Gewalt hätten anwenden müssen. Für zusätzliche Spannungen hatte in der vergangenen Woche das Bekanntwerden eines UN-Berichts gesorgt, in dem Israel zwar "exzessive" und "unverhältnismäßige" Gewaltanwendung bei dem Einsatz auf der "Mavi Marmara" vorgeworfen, die Seeblockade des Gazastreifens und ihre notfalls auch gewaltsame Durchsetzung generell aber als rechtens dargestellt wird. Die Türkei hatte daraufhin am vergangenen Freitag den israelischen Botschafter ausgewiesen und alle Militärabkommen mit Israel auf Eis gelegt. "Schweigen und abwarten" In einer ersten Reaktion hat Israel die Ankündigung Erdogans, Hilfsschiffen für den Gazastreifen künftig Geleitschutz durch die Marine zu geben, als "schlimm" bezeichnet. "Diese Äußerungen sind schlimm und schwierig, aber wir wollen den Streit nicht zusätzlich anheizen", sagte Geheimdienstminister Dan Meridor am Freitag dem israelischen Armeeradio. "Es ist besser, zu schweigen und abzuwarten, wir haben kein Interesse daran, die Situation durch (verbale) Angriffe zu verschärfen." Zugleich sagte der Geheimdienstminister, die Türkei würde Völkerrecht verletzen, sollte sie versuchen, die israelische Seeblockade zu durchbrechen. Schließlich habe ein UN-Bericht die Blockade als legitim anerkannt. Ein ranghoher israelischer Regierungsvertreter, der nicht namentlich genannt werden wollte, sagte der Nachrichtenagentur afp, eine solche Maßnahme seitens der Türkei würde "eine sehr schwere Provokation" bedeuten. "Es ist angesichts der Verpflichtungen der Türkei gegenüber der NATO sehr schwer vorstellbar, dass die Türkei so weit gehen würde", fügte er hinzu.
taz. die tageszeitung
Der Ton wird schärfer: Ministerpräsident Erdogan will türkische Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen mit Kriegsschiffen absichern. Israel bezeichnet das Vorhaben als "schlimm".
[ "Nahost", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,710
Kenias Einmarsch in Somalia: Buschkrieg stößt auf Widerstand - taz.de
Kenias Einmarsch in Somalia: Buschkrieg stößt auf Widerstand Kenia hat inzwischen mehrere Städte erobert. Doch die Islamisten versprechen einen starken Gegenangriff. Frankreich bestätigt inzwischen den Tod einer verschleppten Geisel. Kommen gerade nur schwer voran: Kenias Soldaten. Bild: dapd MOGADISCHU/NAIROBI rtr/dpa | Kenianische Truppen rücken weiter in Somalia vor. Nach Angaben eines Militärsprechers haben die Einheiten seit Beginn der Operation am Wochenende bereits 73 Rebellen der islamistischen Shabaab-Miliz im Süden Somalias getötet. Der somalische General Yusuf Hussein Dumaa nannte die Einnahme des wichtigsten südsomalischen Hafens Kismayo als Ziel der Intervention. "Wir sind entschlossen, Shabaab aus Kismayo und dann aus ganz Somalia zu verjagen", sagte er gegenüber Reuters. "Wir hoffen, dass es keine Woche dauern wird, die Region Lower Juba und insbesondere Kismayo einzunehmen." Berichten zufolge verlangsamt schwerer Regen den Vormarsch der Kenianer. Die Shabaab-Milizen bestätigten, dass Kenia die Städte Taabto, Qoqani und Elwaq besetzt habe. Als nächstes wird eine Schlacht um die Stadt Ahmadow erwartet. Ein Shabaab-Sprecher warnte, man werde "unsere Städte zurückholen". Die französische Regierung bestätigte derweil den Tod einer am 1. Oktober aus Kenia entführten und mit einem Schnellboot Richtung Somalia verschleppten französischen Urlauberin. Die zuckerkranke 66-jährige Marie Dedieu sei tot; Medikamente hätten sie nicht rechtzeitig erreicht, erklärte Frankreichs Außenminister Alain Juppé in Paris. Er sprach von einem "Akt der Barbarei". Seit September befindet sich außerdem eine britische Touristin in der Hand somalischer Entführer. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die letzte Woche zwei spanische Mitarbeiterinnen im kenianischen Flüchtlingscamp Dadaab an somalische Entführer verloren hatte, distanzierte sich von der Militäraktion. "Wir sind zutiefst besorgt über das Schicksal unserer beiden Kolleginnen. Wir bemühen uns intensiv um ihre rasche Freilassung und sichere Rückkehr", sagte José Antonio Bastos, Präsident der spanischen MSF-Sektion. "Jeglicher Einsatz von Gewalt könnte das gefährden."
taz. die tageszeitung
Kenia hat inzwischen mehrere Städte erobert. Doch die Islamisten versprechen einen starken Gegenangriff. Frankreich bestätigt inzwischen den Tod einer verschleppten Geisel.
[ "Afrika", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,801
Ein Guide ist immer dabei - taz.de
Ein Guide ist immer dabei Der Wüstenstaat Libyen setzt auf Schmusekurs mit dem Westen, auf Tourismus, Kultur- und Wüstenreisen. Doch die Öffnung nach innen scheint inszeniert: Eine Reise entlang der libyschen Küste zur Antike in Sabratha, Leptis Magna und Tripolis Ihnen fehlt noch der Sinn für die Gastronomie“, meint der marokkanische Restaurantbesitzer VON RENATE FISSELER-SKANDRANI Frühstück gegen sieben in einem Straßenrestaurant bei Sabratha, etwa 80 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt. Auf dem Tisch stehen Butter-, Marmelade und Käseportionen, alles importiert aus Tunesien. Ob das Ei, das ich nicht esse, libyscher Herkunft ist? Der Kellner ist bemüht und zuvorkommend. Er ist Tunesier. Dass zahlreiche Marokkaner, Tunesier und Ägypter im Restaurantgewerbe tätig sind, als Kellner und als Restaurantbetreiber, ist in Libyen nicht zu übersehen. „Ihnen fehlt noch der Sinn für die Gastronomie“, meint schmunzelnd der marokkanische Besitzer eines Restaurants. Sechs Millionen Einwohner hat Libyen, darunter mehr als eine Million Arbeitsmigranten. Ich fahre mit einem tunesischen Reiseveranstalter eine Woche durch Libyen. Ein Libyer ist unser Begleiter, zwei weitere Männer steigen in den Bus. Die beiden sind Tourismuspolizisten. Sie werden während der einwöchigen Reise mitfahren und nichts anderes tun, als bei wiederholten Polizeikontrollen Kopien der Liste mit den Namen und Passnummern der Reiseteilnehmer aus dem Fenster zu reichen. Sie haben aber auch ein wachsames Auge auf uns. Ihr Guide revolutionaire ist überall. Auf großflächigen Plakaten, links oben die Zahl 36 – mit erhobenem Kinn, ein braunes Tuch in der Art der Beduinen um das Haupt geschlungen – seinen sonnenbebrillten Blick über sein Volk hinweg auf das verheißene Ziel gerichtet. 36 Jahre Gaddafi-Revolution gilt es in der „Dschamahirija“ (Herrschaft der Massen) zu feiern. Mit Slogans wie „Die Revolution ist die Quelle der Entwicklung“ – „Muammar Gaddafi, wir leben durch ihn, wir sterben ohne ihn“ . In unserem Hotel in Tripolis ist zu lesen: „Die Öffnung ist das Morgenrot der Unabhängigkeit“. Seit Libyen dem Terrorismus verbal entsagt hat und nicht mehr zu Bushs Schurkenstaaten zählt, geben sich beim Erdölriesen europäische und amerikanische Geschäftsleute die Klinke in die Hand. 2003 hat Gaddafi eine neue Phase der Entwicklung, ein liberales Wirtschaftsprogramm angekündigt. Es soll privatisiert, internationale Investoren sollen angelockt, die Produktivität soll gesteigert, sogar der Eigenhausbau durch fast zinslose Kredite gefördert werden. „Das Haus demjenigen, der es bewohnt“, verkündet ein Slogan im ländlichen Djebel Nafusa. Doch politische Öffnung im Inneren der „Dschamahirija“, Meinungs- und Pressefreiheit, Pluralismus? Davon ist nichts zu spüren. Wer an Gaddafis Machtanspruch kratzt, verschwindet im Gefängnis. Von einer Revision der Schulprogramme, der islamischen Erziehung, ist gleichwohl seit kurzem die Rede: Auf die Unterweisung im Dschihad als Mittel zur Verteidigung des muslimischen Glaubens soll verzichtet werden. Auch das Trachten nach der arabischen Einheit soll im Lande des selbst ernannten Champions des Panarabismus kein Unterrichtsthema mehr sein. Vor der archäologischen Stätte am Meer stehen zwei Reisebusse; Italiener, die das Gros der ausländischen Besucher in Libyen stellen. Sabratha ist wie Oea (Tripolis) und Leptis Magna ursprünglich eine phönizische Stadtgründung aus dem 8. Jh. v. Chr. und gehörte seit etwa 50 v. Chr. zum Römischen Reich. Als bedeutendes Handelszentrum in dem damals fruchtbaren Gebiet unterhielt die Hafenstadt sogar im Hafen von Rom ein eigenes Handelskontor. Den Römern machten die Vandalen (5. Jh.) in der untergehenden Provinz Africa Proconsularis den Garaus, denen wiederum die Byzantiner (6. Jh.), welche ihrerseits dem Ansturm durch arabische Reiter im 7. Jh. weichen mussten. Die waren an Sabratha nur mäßig interessiert, kürten Oea zur Hauptstadt. Die Ausgrabung der antiken Stätten Sabratha und Leptis Magna in den 1920er- und 1930er-Jahren ist das Werk italienischer Archäologen; offensichtlich aus kolonialpolitischem Interesse wurden vor allem die Bauten aus der Römerzeit freigelegt. Als bedeutende Hinterlassenschaft gilt das Theater, das 5.000 Menschen Platz bot. Ich laufe gern durch antike Stätten, Jahrtausende zusammengedrängt, Flair von Vergänglichkeit und Dauer, Sein und Schein. Da schrumpft die aufgeregte Gegenwart um etliches zusammen. Jedenfalls für einen Augenblick. Unser Guide touristique, nennen wir ihn Khaled, ist Französischlehrer in einer nahen Hotelfachschule. Er spricht mit sanfter Stimme, während er beim Rundgang locker durch die Jahrtausende direkt bis ins Heute springt. Toleranz müsse die Beziehungen zwischen Völkern und Religionen bestimmen. Es gäbe wirklich keinerlei Grund, sich zu bekriegen und schon gar nicht, sich von irgendwelchen Präsidenten wie Bush missbrauchen zu lassen. Was im Irak und Palästina geschehe, sei Unrecht. Jedes Mal entschuldigt er sich fast verlegen für sein Abschweifen. Am Ende der Führung fordert er uns auf, Fragen über die Lage der libyschen Frau zu stellen, um uns gleich darauf zu erklären, wie gut diese nach libyschem Recht geschützt sei. Polygamie komme vor, wenn sie Probleme wie Kinderlosigkeit, Krankheit und Witwenschaft lösen helfe, sei also zum Besten der Frauen. Polygamie aus anderen Gründen widerspreche dem Islam, zeuge von falschem Verständnis der Religion. Bei der Frage, ob er denn seine eigenen Töchter gern in polygamer Ehe sähe, zögert der Mann einen winzigen Moment, dann sagt er: „Wenn meine Tochter das will, bin auch ich einverstanden.“ Am nächsten Tag steht das berühmte Leptis Magna auf dem Programm. Gleichfalls eine punische Stadtgründung, wo unter römischer Herrschaft noch bis zum Ende des 1. Jahrhunderts das punische Verwaltungssystem funktionierte, lateinische und punische Sprache nebeneinander existierten. Gefördert von seinem berühmten Sohn, dem römischen Kaiser Septimus Severus (193–211), erlebte Leptis mit bis zu 100.000 Einwohnern höchsten Wohlstand. Wovon die archäologische Stätte mit säulenflankierter Prachtstraße, dem Theater mit Blick aufs Meer, riesigen Thermen, dem severischen Forum mit angegliederter Basilika und dem Triumphbogen zu Ehren des Kaisers beredtes Zeugnis ablegt. Seit Ende des 3. Jh. ging es bergab, wozu schwere Erdbeben im 4. Jh. und der Vandaleneinbruch das Ihre beitrugen. Von den Arabern nicht überbaut, liegt das Ruinengelände metertief im Boden und ist erst zu einem Teil freigelegt. Zahllose Säulenschäfte, Mauerbrocken, Kapitelle liegen in der Wandelhalle des severischen Forums herum. Verrostete Gleise, von den Italienern einst verlegt, um schwere Ruinenbrocken zu transportieren, lugen jetzt nutzlos aus dem Grünflaum hervor. „Wir bekommen nicht genügend archäologische Unterstützung aus anderen Ländern“, beklagt sich unser heutiger Führer, der sich Soliman le Magnifique nennt, und schwärmt von der Arbeit der Italiener. Im Telegrammstil spult er das Erlernte ab. „Als die Menschen noch verschiedene Götter hatten, ging alles gut“, erklärt er bei einem der zahllosen Tempel, „die Probleme haben angefangen, seit es nur einen einzigen Gott gibt. Warum, weiß ich nicht …“ Auch Soliman kommt irgendwann auf das Frauenthema und ich werde hellhörig. Alles nur Inszenierung? Das zu propagierende Libyenbild gar Teil der Führung? Das Land setzt neuerdings auf Tourismus, Kultur- und Wüstentourismus, wo es schließlich einiges zu bieten hat. Aus dem römischen Oea wurde im 7. Jh. unter den Arabern Tripolis. „Tri-Polis“ meinte zuerst die drei Städte Leptis Magna, Oea und Sabratha und stand auch bei der Namensgebung der Region Tripolitanien Pate. Die antike Stadt wurde überbaut. Lediglich in der Nähe des Fischereihafens liegt am Rande der Altstadt der aus hellen Marmorquadern errichtete Marc-Aurel-Bogen aus dem 2. Jh. Die Medina mit zahlreichen Moscheen und den Souks, wo auch Kunstgewerbe aus Ägypten und Tunesien feilgeboten wird, schmiegt sich im rechten Winkel bis in Meeresnähe. In manch einer Altstadtgasse hängen Baugerüste an Häusern mit kritischer Bausubstanz, hie und da hat der Abrissbagger tiefe Löcher geschlagen. Die wuchtigen Mauern der Zitadelle, der früheren Wehranlage, grenzen an den bis spät abends belebten Grünen Platz, der jetzt Märtyrerplatz heißt. Er liegt zwischen der arabischen Altstadt und der angrenzenden Neustadt mit dem ehemals italienischen Kolonialviertel. Das libysche Nationalmuseum ist in der Zitadelle untergebracht. 1988 neu eröffnet, gewährt es auf vier Etagen einen guten Einblick in Geschichte und Kultur von der Prähistorie bis in die Gegenwart. Um die zahlreichen Exponate aus der römischen Periode, Statuen und feine Mosaiken in bestem Zustand, drängen sich bereits früh morgens französische, italienische, deutsche, japanische Besuchergruppen. Der erste Blick allerdings, schon in der Eingangshalle, gilt Gaddafis Porträt in kupfernem Flachrelief und einem ganz unerwartet hier geparkten VW-Käfer in hellem Blau. Es ist das erste Auto des großen Guide, das, mit dem alles begann …
RENATE FISSELER-SKANDRANI
Der Wüstenstaat Libyen setzt auf Schmusekurs mit dem Westen, auf Tourismus, Kultur- und Wüstenreisen. Doch die Öffnung nach innen scheint inszeniert: Eine Reise entlang der libyschen Küste zur Antike in Sabratha, Leptis Magna und Tripolis
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,821
WWF entdeckt Gesetzentwurf: Amnestie für Raubbau - taz.de
WWF entdeckt Gesetzentwurf: Amnestie für Raubbau Andalusien ist ein Paradies für illegale Erdbeerplantagen. Statt einzugreifen, bastelt die Regionalregierung lieber an der Legalisierung. Illegaler Erdbeeranbau raubt dem Natursschutzgebiet das Wasser Foto: Onlyfabrizio/imago Die spanische Sektion des World Wide Fund For Nature (WWF) schlägt Alarm. Der Umweltschutzorganisation fiel ein Entwurf für ein regionales Amnestiegesetz für illegale Plantagen im südspanischen Nationalpark und Unesco-Weltnaturerbe „Coto de Doñana“ in die Hände. Die konservative andalusische Minderheitsregierung aus Partido Popular (PP) und den rechtsliberalen Ciudadanos, die dank der parlamentarischen Unterstützung der rechtsextremen Partei VOX regiert, plant, eine Fläche von 1.460 Hektar illegaler Pflanzen unter Folienzelten in der Gegend von Doñana zu legalisieren. Das sind etwa 85 Prozent der über 1.600 Hektar illegalen Anbauflächen rund um eines der wichtigsten Feuchtgebiete Europas in der südspanischen Provinz Huelva. Meist werden dort Erdbeeren angebaut. Die nicht genehmigten Flächen werden mit rund 1.000 illegal geschlagenen Brunnen bewässert. Legale und illegale Anbauflächen für Beeren aller Art rund um den Nationalpark beanspruchen insgesamt etwa 11.000 Hektar. Die Folgen der intensiven Landwirtschaft für das Feuchtgebiet am Unterlauf des Flusses Guadiana, das Zugvögeln als Station zwischen Nordeuropa und Afrika dient, sind nicht zu übersehen. Der Anbau von Beeren senkt den Grundwasserspiegel. Den Lagunen fehlt Wasser, manche trocknen im Sommer völlig aus. Kleine Bäche führen schon lange kein Wasser mehr. Erst vor knapp sieben Monaten, im Juni 2021, verurteilte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg das Land Spanien wegen „übermäßiger Entnahme von Grundwasser“. Geklagt hatte auch hier der WWF. Die Untätigkeit der regionalen Verwaltung gegen illegalen Anbau und illegale Brunnen würde die Biodiversität gefährden. Vielfalt kommt vor Anstatt nach dem Urteil endlich umfassende Maßnahmen in die Wege zu leiten, die Doñana zu schützen, arbeitete die andalusische Regierung den fraglichen Gesetzentwurf aus, der illegale Anbauflächen legalisieren soll. Er führt ausgerechnet den Namen „Verbesserung des Managements von Bewässerungsgebieten im Landkreis Huelva“. In der Begründung für das Gesetz ist von einem „regelrechten Motor der Beschäftigung für die Region“ die Rede, wenn es um die Plantagen geht. Auch das Wort „Vielfalt“ kommt vor, jedoch nicht im Zusammenhang mit schützenswerter Tierwelt, sondern mit der Vielzahl der Beeren, die „eine große Speisekammer Europas“ darstellen würden. Die Beeren aus Huelva landen im Winter vor allem auf den Tischen der Nord- und Mitteleuropäer. Für Juanjo Carmona, Sprecher von WWF, ist die geplante Amnestie „nicht nur eine Verspottung der spanischen Gesellschaft und internationaler Organisationen, sondern auch einer der größten ökologischen Angriffe einer Verwaltung in der Geschichte dieses Schutzgebiets“.
Reiner Wandler
Andalusien ist ein Paradies für illegale Erdbeerplantagen. Statt einzugreifen, bastelt die Regionalregierung lieber an der Legalisierung.
[ "Andalusien", "Erdbeeren", "illegal", "GNS", "Ökonomie", "Öko", "Feed", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,825
Die Euphorie der Finanzwelt - taz.de
Die Euphorie der Finanzwelt Schriften zu Zeitschriften: Die „Neue Rundschau“ beschäftigt sich mit den Umtrieben des jüngsten Börsenkapitalismus. Ganz ohne kritische Theorie, aber auch ohne Beschreibung der Börse als Roman von RENÉ AGUIGAH Eine der erstaunlichsten Eigenheiten von Fernsehsendern wie ntv sind die Börsenkurse, die dort immer durchs Bild laufen. Weiße Buchstaben auf blauem Grund, die von Siemens und Telekom, von Dax und Dow Jones handeln. „Rollbalken“ heißt der Streifen im Jargon der Fernsehmacher, weil er rollt und rollt und rollt, völlig egal, ob in den oberen sieben Achteln des Bildes gerade ein amerikanischer Präsident grinst oder afrikanische Kinder hungern. Es gibt nur eine Sorte Bilder, die das Endlosband unterbricht: Werbespots. ntv zeigt seinen Zuschauern also, grob gesagt, entweder Börsendaten oder Werbung – und klärt sie auf diese Weise darüber auf, wer das Programm des Nachrichtensenders regiert, nämlich die Wirtschaft. Es muss eine Zeit gegeben haben, in der man glaubte, dass die Wirtschaft weit mehr bestimme als nur eine Fernsehstation. Marxisten und Liberale waren sich in diesem Punkt einig, beide hielten die Ökonomie für den Motor der Gesellschaft. Und beide erklären die Wirklichkeit längst nicht mehr, behauptet Jürgen Kaube in der Neuen Rundschau, deren gerade erschienene Ausgabe sich mit den sonderbaren Umtrieben des jüngeren Börsenkapitalismus beschäftigt. Kaubes Beitrag eröffnet das Heft, und so liest man gleich zu Anfang, was die Zeitschrift nicht will: weder die „Beratungsliteratur“ der Wirtschaftswissenschaften noch eine „kritische Theorie“ alten Typs reproduzieren. Denn in Wahrheit, so Kaube, wissen alle, dass man vor dem Kapitalismus „weder davonlaufen noch die lange Frist überleben kann, bis alles gut und effizient geworden sein wird“. Die Souveränität, mit der der Essay auf zwölf Druckseiten zwei alteuropäische Theorietraditionen wegwischt, ist natürlich alles andere als bescheiden. Aber Kaube ist, geschult an Niklas Luhmann, zu sehr Ironiker, als dass er dabei mit heroischer Geste auftreten könnte; er will doch bloß das moderne Wirtschaften neu beschreiben. Dazu hangelt er sich an den „Zumutungen“ des Kapitalismus entlang. Eine davon bestehe darin, dass gerade durch die Börse jene Rationalität außer Kraft gesetzt werde, die die Wirtschaftstheorie den Märkten so gerne unterstelle. Das Börsenparkett bevölkert kein transparenter Homo oeconomicus, vielmehr, so referiert Kaube neuere Forschungen, beruhe das „Vertrauen in die unbegrenzte Fähigkeit des Finanzmarktes, immer neue Höhen zu nehmen (...), auf einem Gemisch aus Zufallsbeobachtungen, Vergnügen an euphorischen Zuständen und Gemeinplätzen“. Die Spekulation des Jahres 2000 kommt also ohne Fantasie nicht aus, und so mündet diese Börsenbeschreibung in der Pointe, dass die Wirklichkeit in Frankfurt oder New York möglicherweise spannender sei als Literatur, die den Stoff der Finanzwelt verarbeite. William Gaddis' Wirtschaftssatire „JR“ wäre so ein Buch. Der Titelheld ist ein elfjähriger Junge, der an der Wall Street zum Finanzgiganten aufsteigt. Naiv und brutal, wie er ist, verkörpert er den amerikanischen Unternehmergeist, anonym, wie er bleiben muss, nimmt er die namenlosen Käufer der Telekom-Aktie vorweg. Paul Ingendaay zeigt, wie in dieser „avantgardistischen Version des roman fleuve“ die Fluten der Wörter, der Informationen, des Geldes ineinander verschwimmen. Er interpretiert leidenschaftlich, so sehr, dass er die Grenzen der Interpretation zu spüren meint: Das „Bezwingende“ des Buches lasse sich gar nicht schildern, diesem „ästhetischen Totalerlebnis“ müsse sich der Leser selbst aussetzen. Der Vermutung, die Börsenliteratur verblasse vor dem Börsenleben, widerspricht Ingendaay schon deshalb, weil er an die prophetische Kraft eines Schriftstellers glaubt. Gaddis habe, als er „JR“ 1975 veröffentlichte, „fast alles vorher gewusst, auch über uns, für die der Börsenkapitalismus inzwischen ohne Gegner dasteht“, schreibt er. Ganz unironisch. „Späte Halbschlafimpressionen“ kommen ohne solche Bedeutungsschwere aus; so hat Joachim Kalka seine Gedanken über monetäre Motive in Film und Literatur genannt. Ihm sind etwa die „Metaphernschwärme“ der Anlageberater und Wirtschaftsjournalisten aufgefallen. Sie ließen eine verschüttet geglaubte, kindliche Welt wieder aufleben: die Schatzsuche. Auch Ingendaay erkennt im jüngsten Börsenfieber die „Infantilisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge“, aber Kalka sinniert an dieser Stelle nicht über erwachsene Totalerlebnisse, sondern über Bücher aus Kindertagen: Märchen und Stevensons „Schatzinsel“. Schade, dass die Streifzüge, die diese literarische Zeitschrift durch die blühenden Börsenlandschaften unternimmt, eine Frage nicht berühren: Was für einen Text schreibt die Börse eigentlich selbst? Diese Frage hat Alexander Kluge vor einiger Zeit dem Kulturwissenschaftler Joseph Vogl gestellt – nicht im Medium der Literatur, sondern in einer seiner Fernsehsendungen (die man wohl als das größte anzunehmende Gegenteil von ntv charakterisieren könnte). Im Hintergrund die Soundkulisse der Broker, versuchten sich Vogl und Kluge an einer Beschreibung der Börse als Roman: als ein System, das – wenn auch denkbar wenig romaneske – Ereignisse nach bestimmten Regeln verkettet. Kluge taucht auch in der Neuen Rundschau auf, und zwar in der Rolle des Befragten. Leider streift das Gespräch sein Denken über den Kapitalismus nur am Rande. Es geht um andere Facetten seiner monumentalen „Chronik der Gefühle“ – ein schönes Gespräch, überhaupt ein schönes Heft. Aber eine Poetologie der Börse bliebe noch zu schreiben. „Neue Rundschau: Geld und Spiele“, Heft 1/2001, 112. Jg., hrsg. von Martin Bauer, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 174 S., 16 DM
RENÉ AGUIGAH
Schriften zu Zeitschriften: Die „Neue Rundschau“ beschäftigt sich mit den Umtrieben des jüngsten Börsenkapitalismus. Ganz ohne kritische Theorie, aber auch ohne Beschreibung der Börse als Roman
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,912
Wasserverbrauch in Rheinland-Pfalz: Viel Grundwasser für Konzerne - taz.de
Wasserverbrauch in Rheinland-Pfalz: Viel Grundwasser für Konzerne Allein in Rheinland-Pfalz fördern Chemie- und Stahlindustrie sowie Getränkehersteller Milliarden Liter Wasser. Manche Stadtwerke bangen um Quellen. Das größete Chemiewerk der Welt: Der Firmensitz der BASF in Ludwigshafen am Rhein Foto: Jochen Eckel/imago BERLIN taz | Welch gigantische Mengen Grundwasser einzelne Unternehmen verbrauchen, zeigen jetzt Zahlen aus Rheinland-Pfalz: Am meisten entnimmt dort die BASF, Deutschlands größter Chemiekonzern, wie der Südwestrundfunk (SWR) am Donnerstag berichtete. Das Unternehmen fördere nach den letzten verfügbaren Zahlen 22 Millionen Kubikmeter Grundwasser im Jahr, so der Sender unter Berufung auf die zuständigen Behörden, die erstmals die Unternehmen mit den größten Mengen genannt hätten. Der Verbrauch entspricht ungefähr 8 Prozent dessen, was Stadtwerke vor allem fürs Trinkwasser entnehmen. Der Konzern benötigt das Wasser nach eigenen Angaben für seine Produktion. Grundwasser wird aber immer knapper. In den vergangenen rund 20 Jahren bildete sich laut SWR in Rheinland-Pfalz wegen geringerer Niederschläge und mehr Trockenheit infolge des Klimawandels weniger Grundwasser als früher. Dabei wird aus der Ressource das meiste Trinkwasser gewonnen. Auf Platz zwei der gewerblichen Grundwasser-Entnehmer in Rheinland-Pfalz steht dem Bericht zufolge der Verpackungsstahlhersteller ThyssenKrupp Rasselstein mit 10 Millionen Kubikmetern. Es folgen weitere Chemieunternehmen sowie ein Kalkhersteller und auf Platz 7 die Mitteldeutsche Erfrischungsgetränke MEG. Sie verbraucht nach den Angaben 2 Millionen Kubikmeter und produziert Mineralwasser für die Discounterkette Lidl. Auch andere Getränkehersteller finden sich auf der Liste. Teilweise stehen sie in der Kritik von Anwohnern oder Wasserwerken, die um ihre Quellen fürchten. 20 Prozent des Grundwassers für die Industrie Rund 70 Prozent des Grundwassers in Rheinland-Pfalz fließt laut Statistik in die öffentliche Versorgung. 20 Prozent nutzen Industrie und große Unternehmen. 10 Prozent verbraucht die Landwirtschaft, woran es aber Zweifel gibt, weil viele Bauern laut SWR ihren Verbrauch nicht mit Wasseruhren messen. Denn bisher müssen sie nichts für das Wasser bezahlen. Das solle sich aber nach dem Willen der Landesregierung ab dem kommenden Jahr ändern. Sie wolle aber nicht den Preis von 6 Cent pro Kubikmeter erhöhen – anders als Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen.
Jost Maurin
Allein in Rheinland-Pfalz fördern Chemie- und Stahlindustrie sowie Getränkehersteller Milliarden Liter Wasser. Manche Stadtwerke bangen um Quellen.
[ "Grundwasser", "Mineralwasser", "Wasser", "Landwirtschaft", "BASF", "Wassermangel", "Ökologie", "Öko", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,914
Das Ende des Pessimismus - taz.de
Das Ende des Pessimismus ■ Nach den Deutschen Meisterschaften der Turnerinnen sind die Hoffnungen auf eine Olympia-Qualifikation gewachsen/ Anke Schönfelder vom SC Berlin als neuer Silberstreif Bergisch-Gladbach (taz) — Anke Schönfelder, die überragende Turnerin bei den Deutschen Meisterschaften in Bergisch-Gladbach, konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Noch vor einem halben Jahr, als die 15jährige beim Weltpokalfinale in Brüssel an den Start ging, hieß es abschätzig, daß sie „lediglich“ konsequent ihre Übungen abspule. Jetzt präsentierte sich die kleine, dünne Turnerin mit dem hellblonden, kurzgeschorenen Haar als die am stabilsten turnende Athletin im DTB-Kader. Im Achtkampf übernahm sie vom ersten Gerät an die Spitze und mußte diese Position zu keinem Zeitpunkt mehr aufgeben und auch in den Einzelfinalen war Anke Schönfelder neben Gerit Dathe vom TSC Berlin dominierend, gewann am Balken und holte sich den zweiten Platz in der Bodenübung. Dabei wollte sie „eigentlich nur sicher durchkommen“, stattdessen gab es den großen Sprung nach vorn, obwohl sich das Training seit dem Weltcup gar nicht so geändert hat. Anke Schönfelder schloß sich nämlich nicht den Scharen der Konsumflüchtigen an, sondern blieb in Berlin. Dort hatte sie sich schon in alten DDR-Zeiten das Recht abgetrotzt, zu Hause wohnen zu dürfen. „Die wollten doch, daß ich weiterturne, also mußten sie nachgeben.“ Geändert hat sich allerdings der Stil des Trainings. „Wir können unsere Ideen jetzt mit einbringen“, erzählt die neue Meisterin, aktive Beteiligung am Trainingsgeschehen — das sei neu. Die Turnerinnen vom SC Berlin können selbst Elemente vorschlagen und mitentscheiden, wie sie diese turnen wollen. Der Trainingsaufwand hat sich dagegen wenig geändert. Neben Turnen und Schule bleibt nicht mehr viel Zeit. „Mal lesen oder Musik hören“, sagt Anke Schönfelder, vielmehr sei nicht drin. Schon werden die nächsthöheren Ziele gesteckt. Bis zu den Weltmeisterschaften im September in Indianapolis soll die Barrenübung mit einem zusätzlichen Flugteil bestückt werden, und aus dem gehockten Sprung über das Pferd soll ein gebückter werden. Zufrieden zeigte sich auch Bundestrainer Wolfgang Bohner. „Mit 77 Punkten können wir uns auch international wieder vorstellen“, freute er sich. Auch wenn jede Turnerin noch an mindestens einem der Geräte Schwächen zeigte, könne der Pessimismus abgelegt werden. Doch einfach wird die Qualifikation für die Olympischen Spielen 1992 keineswegs, denn um in Barcelona dabeisein zu dürfen, muß bei den Weltmeisterschaften wenigstens Rang zwölf belegt werden. Zwar ist die DTB-Riege seit der Annexion der DDR durch die Turnerinnen „von drüben“ gestärkt, aber das Niveau der Kunstturnerinnen aus Ost und West hat sich weitgehend angeglichen und der schlechte 18. Platz der letzen Weltmeisterschaften muß erst einmal wettgemacht werden. Intern solle es keine Probleme mehr geben mit dem Zusammenschluß der beiden Länder. Doch zumindest statistisch wird noch in den Kategorien BRD und DDR gedacht. Ob in der Meister-, Schüler- oder Jugendklasse, nach dem Bekanntwerden der Noten huscht so mancher Heimtrainer hinter die Bühne, um auf dem Taschenrechner oder manuell die Plazierung zu errechnen, die es „ohne die DDR“ gegeben hätte. Damit sind reale Ängste verbunden. „Bei uns im Westen fahren die immer noch auf den Ossi-Trainer ab“, fürchtet da einer um seinen Arbeitsplatz. „Wenn ich meine Turnerin nur auf den 20. Platz bringe, können die mich schnell absägen, auch wenn wir ohne die DDR einen guten zehnten Rang erreicht hätten.“ Die Ost-Trainer könnten auch nichts anders machen als ihre Kollegen im Westen. Die Turnerinnen der DDR hätten bloß eine besserer Grundausbildung genossen. Und schon rechnet er weiter: das Niveau in der ehemaligen DDR sinkt, die Ausgangsbedingungen werden gleich. Vielleicht ist der Schützling aus seinem Trainingszentrum ja nur vorübergehend auf Platz 20 abgeschoben. Thomas Schreyer Achtkampf: 1. Anke Schönfelder (SC Berlin) 77,200 Punkte; 2. Jana Günther 75,750; 3. Andrea Drissler 75,650 (beide Bergisch-Gladbach) Gerätefinale, Sprung: 1. Gerit Dathe (TSC Berlin) 9,700 Punkte; 2. Edina Kormany (TG Heilbronn) 9,600; 3. Gabi Weller (TSF Heuchelheim) 9,500 Barren: 1. Peggy Wünsche (KTZ Bergisch- Gladbach) 9,700; 2. Andrea Drissler (KTZ Bergisch-Gladbach) 9,625 und Nina Wardelmann (SV Niederwörresbach) 9,625 Balken: 1. Anke Schönfelder (SC Berlin) 9,775 Punkte, 2. Andrea Drissler (KTZ Bergisch- Gladbach) 9,650, 3. Cordula Würschig (VfL Kirchheim)9,575 Boden: 1. Gerit Dathe (TSC Berlin) 9,725, 2. Anke Schönfelder (SC Berlin) 9,600, 3. Annette Potempa (TV Wattenscheid) 9,475
thomas schreyer
■ Nach den Deutschen Meisterschaften der Turnerinnen sind die Hoffnungen auf eine Olympia-Qualifikation gewachsen/ Anke Schönfelder vom SC Berlin als neuer Silberstreif
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,982
Baustelle des Humboldt Forums in Berlin: Zu Besuch beim Schlossgespenst - taz.de
Baustelle des Humboldt Forums in Berlin: Zu Besuch beim Schlossgespenst Die Mauern des Humboldt Forums stehen. Kommt einem drinnen das Gruseln? Beim Besuch erfährt man, dass Ungenauigkeiten der Handwerker erwünscht sind. Kahl, kalt: So sieht's aus im Innern des Retroschlosses Foto: dpa Es macht plitsch und platsch, plitsch und platsch. Dann wieder plitsch, platsch, plitsch, platsch. Christian Hansen führt eine Besuchergruppe durch die Schlossbaustelle in Mitte, besser gesagt: durch eine große Pfütze. Plitsch und platsch, plitsch und platsch. Die dicken Sicherheitsschuhe werden nass, manches Hosenbein wird hochgekrempelt, Zehenspitzenakrobatik kommt zum Einsatz. Jetzt bloß keinen Spritzer Dreck abbekommen. Dann ist der kleine See innerhalb der künftigen Schlossgemäuer durchquert – und damit die einzige Stelle, an der Gefahr droht, sich schmutzig zu machen. Seit Ostersonntag stehen die noch unfertigen Tore des Berliner Stadtschlosses – auch Humboldt Forum genannt – für Besucher offen: Die weltweit wohl sauberste Baustelle kann wieder besichtigt werden. In weniger als zwei Jahren soll der umstrittene Koloss, weitgehend finanziert durch Bundesgelder, fertig sein: Am 14. September 2019, gleichzeitig dem 250. Geburtstag von Namensgeber Alexander von Humboldt, wollen die Planer um Architekt Francesco Stella alle Arbeiten abgeschlossen haben – „am größten Kulturbauvorhaben zu Beginns des 21. Jahrhunderts“, wie die Schloss-Stiftung vollmundig erklärt. Bei der Eröffnung setzt man freilich lieber auf einen fließenden Prozess als auf ein fixes Datum, erklärt Schlossführer Christian Hansen seiner Besuchergruppe. Und fügt verschmitzt hinzu: „Man weiß ja: Berlin und seine Großbauprojekte …“ Ein Desaster à la BER scheint auf der Schlossbaustelle indes unwahrscheinlich. Sehr aufgeräumt, fast schon klinisch rein sieht der Ort aus, an dem unter der Woche gemauert und gesägt wird, wo „Ziegel händisch verputzt werden“. So will man erreichen, dass eine möglichst authentische Rekonstruktion des 1950 von der DDR-Führung gesprengten Originals entsteht, erklärt Hansen – absichtliche handwerkliche Ungenauigkeiten, die beim Verputzen von Ziegeln ohne Hilfsmittel nun mal vorkämen, inbegriffen. Hansen, der mit viel Liebe zum Detail aufwartet, führt durch den großen Eingangsbereich, den Schlüter-Raum und die Nord-Süd-Passage, die der Öffentlichkeit später Tag und Nacht zur Verfügung stehen soll. Er lässt einen Blick auf die „via triumphalis“ werfen, die Brücke an der früheren „Cöllner Seite“, wo sich die Monarchen bejubeln ließen. Auch Dom und Altes Museum bekommen die Besucher beim Blick in die Umgebung zu Gesicht. Die 90-minütige Führung ist ein kurzweiliger Trip. Das Schloss selbst wirkt indes etwas kahl, was auch an den kühlen Temperaturen innerhalb der Gemäuer liegt. Vom künftigen Glanz sieht man noch wenig, graue Betonmassen dominieren. Erst ab Juni werden 1.000 Facharbeiter für den Innenausbau sorgen, der eine zeitgenössische Nutzung ermöglichen soll. Immer sonntags darf man den Fortschritt beobachten – und sich dabei in Zehenspitzenakrobatik üben.
David Joram
Die Mauern des Humboldt Forums stehen. Kommt einem drinnen das Gruseln? Beim Besuch erfährt man, dass Ungenauigkeiten der Handwerker erwünscht sind.
[ "Humboldt Forum", "Stadtschloss", "Baustelle", "Berlin", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
10,988
■ Japan: Sozialdemokraten neu - taz.de
■ Japan: Sozialdemokraten neu Tokio (dpa) – Die Sozialdemokratische Partei Japans hat wenige Monate vor dem 50. Jahrestag ihrer Gründung auf einem Sonderparteitag am Samstag in Tokio den Weg für eine Neukonstituierung festgelegt. Als Termin wurde die Zeit nach den Wahlen zum japanischen Oberhaus im Juli in Aussicht genommen.
taz. die tageszeitung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,003
Bundesrat zu sicheren Herkunftsländern: Blutige Nase für die Regierung - taz.de
Bundesrat zu sicheren Herkunftsländern: Blutige Nase für die Regierung Auf Antrag Thüringens stimmt der Bundesrat am Freitag nicht wie geplant über „sichere Herkunftsstaaten“ ab. Wie es weitergeht, ist unklar. Keine Einwände: Zu Beginn der Bundesrats-Sitzung wurde die Abstimmung von der Tagesordnung gestrichen Foto: dpa BERLIN taz | Die Bundesländer haben am Freitag das Gesetz über die sicheren Herkunftsstaaten im Bundesrat von der Tagesordnung genommen. Das rot-rot-grün regierte Thüringen stellte zu Sitzungsbeginn den Antrag, das Thema zu streichen. Aus den anderen 15 Bundesländern gab es keine Einwände dagegen. Der Deutschen Presse-Agentur hatte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zuvor gesagt: „Wir möchten das Angebot unterbreiten, über Asylverfahrensfragen und Statusrechte, die mit diesen Fragen verbunden sind, noch einmal gründlich in Gespräche einzutreten.“ Das vom Bundestag am 18. Januar verabschiedete Gesetz sah vor, Georgien, sowie die Maghrebstaaten Algerien, Tunesien und Marokko als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Das hätte Asylverfahren beschleunigt, weil dadurch von vornherein angenommen würde, dass in den betreffenden Staaten weder politische Verfolgungen noch Folter stattfinden. Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern würden zügiger bearbeitet und in der Regel als unbegründet abgelehnt. Die grün mitregierten Länder, mit Ausnahme Baden-Württembergs, hatten angekündigt sich zu enthalten. Die Länder, in denen die Linke mitregiert, hätten ebenfalls nicht mit „ja“ gestimmt. Insofern hätte die nötige Mehrheit von 35 Stimmen gefehlt, um das Gesetz zu verabschieden. Ein ähnliches Gesetz war bereits 2017 im Bundesrat gescheitert. Die Länder hatten in der Nacht zuvor noch darum gefeilscht, wer den Antrag auf Streichung stellt. Schließlich ergriff Thüringen die Initiative. Der Thüringer Staatssekretär Malte Krückels sagte der taz, wenn das Gesetz wiederum abgelehnt worden wäre, wäre es voraussichtlich im Vermittlungsausschuss gelandet. „Doch worüber hätte man dort verhandeln sollen. Man könnte Marokko ja nicht als halbes sicheres Herkunftsland anerkennen.“ Thema solle auf EU-Ebene behandelt werden Das bedeutet: Über das Gesetz selbst sind die Meinungen ausgetauscht. Auch in anderen Bundesländern gibt es wenig Neigung, erneut allein über sichere Herkunftsstaaten zu debattieren. Aus Baden-Württemberg heißt es, das Thema der sicheren Herkunftsstaaten müsse eigentlich auf der europäischen Ebene behandelt werden. Sinnvoller sei es, über Asylverfahren zu reden. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hatte im November Bereitschaft signalisiert, einem Gesetz über sichere Herkunftsstaaten zuzustimmen, wenn im Gegenzug hier lebende Geflüchtete besser integriert werden. Er forderte eine Altfallregelung und einen Spurwechsel, der abgelehnten Asylbewerbern in Job oder Ausbildung erlaubt, in Deutschland zu bleiben. Wie es nun weitergeht ist unklar. Theoretisch könnte die Bundesregierung das Thema sichere Herkunftsstaaten erneut auf die Tagesordnung setzen. Und sich vermutlich wieder eine blutige Nase holen.
Anna Lehmann
Auf Antrag Thüringens stimmt der Bundesrat am Freitag nicht wie geplant über „sichere Herkunftsstaaten“ ab. Wie es weitergeht, ist unklar.
[ "sichere Herkunftsländer", "Bundesrat", "Bodo Ramelow", "Maghreb", "Thüringen", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,075
Sprachstreit im Parlament: Kurdisch sorgt für Eklat - taz.de
Sprachstreit im Parlament: Kurdisch sorgt für Eklat Staatsanwälte ermitteln gegen den Chef der kurdischen DTP, Ahmet Türk - weil er mit seiner Fraktion Kurdisch sprach. Doch am Wochenende hatte das auch Premier Erdogan getan. Bekommt keinen Ärger fürs Kurdisch sprechen: Premier Erdogan. Bild: reuters "Warum darf nur Herr Erdogan Kurdisch reden und nicht die Kurden", empörte sich Ahmet Türk, Vorsitzender der kurdischen DTP. Zuvor war es im Parlament zu einem Eklat gekommen, nachdem Türk begonnen hatte, eine Rede in seiner Muttersprache zu halten. Erstmals nachdem die kurdische Politikerin Leyla Zana bei ihrer Vereidigung als Abgeordnete 1991 versucht hatte, im Parlament in Ankara ein paar Sätze auf Kurdisch zu sagen und dafür später mit fast zehn Jahren Gefängnis bezahlte, machte am Dienstagnachmittag wieder ein kurdischer Politiker einen Anlauf, seine Sprache auch im obersten Haus der Politik zu verwenden, In einer Rede vor seiner Fraktion legte der Partei- und Fraktionschef der DTP nach einigen einleitenden Worten sein türkisches Redemanuskript zur Seite und wechselte in seine Muttersprache. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis das Parlamentsfernsehen sich daraufhin bei Ahmet Türk ausklinkte. Parlamentspräsident Köksal Toptan von der regierenden AKP begründete das damit, dass nach der Verfassung im Parlament eine andere Sprache als Türkisch nicht erlaubt ist. Türk verwies dagegen auf den Kanal 6 des Staatsfernsehens TRT, der seit Anfang des Jahres in Kurdisch sendet. "Wenn ein staatliches Fernsehprogramm in Kurdisch sendet und Ministerpräsident Erdogan bei seinen Wahlauftritten im Südosten des Landes kurdische Sätze sagt, warum dürfen wir nicht Kurdisch reden?" Tatsächlich hat sich mit der Einrichtung des staatlichen kurdischen Fernsehkanals einiges geändert. Der Sender wird von den Kurden im Südosten der Türkei begeistert genutzt. Daraus ergibt sich aber für jeden Kurden die Frage, warum die Sprache bei anderen Gelegenheiten verboten bleiben soll. Das gilt vor allem im Wahlkampf für die Kommunalwahlen im März. Laut Parteiengesetz ist es streng verboten, bei politischen Veranstaltungen eine andere Sprache als Türkisch zu verwenden. Trotzdem wollte Premier Erdogan, dass sein Auftritt am letzten Sonntag in Diyarbakir von Ka- nal 6 auch auf Kurdisch übertragen wird. Das wurde dann zwar doch nicht gemacht, Erdogan gab aber einige einstudierte kurdische Sätze zum Besten, um sich beim Wahlvolk beliebt zu machen. Darauf bezog sich Ahmet Türk, als er meinte: "Kurdisch ist erlaubt für den Staat, aber verboten für die Kurden", das könne nicht sein. Mit dieser Position ist er nun auch innerhalb der türkischen Gesellschaft nicht mehr allein. Cengiz Candar, einer der bekanntesten türkischen Kolumnisten, schrieb am Mittwoch in Radikal: "Kurde Ahmet Türk, das hast du sehr gut gemacht." Selbst ein Sprecher der nationalistischen MHP sagte, wenn der Ministerpräsident und das Staatsfernsehen Kurdisch sprechen, benutzt natürlich auch Ahmet Türk Kurdisch. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft in Ankara eine Untersuchung gegen Türk eingeleitet, weil nach Artikel 81 des Parteiengesetzes politische Parteien nur Türkisch benutzen dürfen.
Jürgen Gottschlich
Staatsanwälte ermitteln gegen den Chef der kurdischen DTP, Ahmet Türk - weil er mit seiner Fraktion Kurdisch sprach. Doch am Wochenende hatte das auch Premier Erdogan getan.
[ "Europa", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,092
Untersuchung zum Ethiopian-Absturz: Besatzung befolgte Boeing-Vorgaben - taz.de
Untersuchung zum Ethiopian-Absturz: Besatzung befolgte Boeing-Vorgaben Boeings Software könnte für die Abstürze in Äthiopien und Indonesien verantwortlich sein. Die Ethiopian-Piloten haben sich wohl an das Notfallprotokoll gehalten. Äthiopische Polizisten vor Teilen des am 10. März abgestürzten Flugzeugs Foto: reuters ADDIS ABEBA ap | Die Piloten der im März abgestürzten Boeing 737 Max der Ethiopian Airlines haben sich nach einem vorläufigen Untersuchungsbericht vor dem Unglück an das vom Flugzeugbauer vorgegebene Notfallprotokoll gehalten, aber die Maschine trotzdem nicht unter Kontrolle bringen können. Das teilte die äthiopische Verkehrsministerin Dagmawit Moges am Donnerstag in Addis Abeba mit. Das Flugzeug war am 10. März abgestürzt, alle 157 Insassen kamen ums Leben. In den Tagen danach wurden weltweit Startverbote für alle Maschinen des gleichen Bautyps verhängt. Im Oktober war in Indonesien ebenfalls eine Boeing 737 Max abgestürzt, auch dabei kamen alle Insassen – 189 – ums Leben. Es wird vermutet, dass ein Automatiksystem in der Boeing 737 Max für beide Unglücke verantwortlich sein könnte, weil die Maschinen ungewöhnlich beschleunigten und dann in steilem Sinkflug abstürzten. Die Steuerungssoftware von Boeing soll eigentlich verhindern, dass die Nase der Boeing 737 Max nach oben gedrückt wird. Doch in manchen Fällen kann die Nase auch zu weit nach unten gedrückt werden. In einem solchen Fall ist es nach Angaben des Flugzeugbauers aber möglich, die Kontrolle über die Maschine wiederzuerlangen, wenn die Automatik abgestellt wird. Wie Daten aus dem Flugschreiber nahelegten, tat die Besatzung der Ethiopian-Airlines-Maschine das auch und folgte somit dem Notfallprotokoll. Weil das aber nichts nutzte und das Flugzeug weiter sank, stellten die Piloten anschließend das System wieder an, wie aus Ermittlerkreisen verlautete. Boeing empfiehlt, nach einer Stabilisierung des Flugzeugs durch Abschaltung der Automatik den Rest des Fluges manuell weiterzufliegen. In dem Untersuchungsbericht wird empfohlen, das Steuerungssystem zu prüfen, bevor die Maschinen des Typs wieder für Flüge freigegeben werden. Boeing äußerte sich zunächst nicht dazu. Der US-Flugzeugbauer hat bereits Änderungen an seiner Software vorgenommen. Die neue Version muss aber erst noch von den internationalen Luftfahrtbehörden geprüft werden.
taz. die tageszeitung
Boeings Software könnte für die Abstürze in Äthiopien und Indonesien verantwortlich sein. Die Ethiopian-Piloten haben sich wohl an das Notfallprotokoll gehalten.
[ "Flugzeug", "Flugzeugabsturz", "Fluggesellschaften", "Äthiopien", "Boeing", "Verkehr", "Öko", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,179
Verfassungsschutzbericht Brandenburg: Warnung vor rechten Gewalttätern - taz.de
Verfassungsschutzbericht Brandenburg: Warnung vor rechten Gewalttätern Die rechtsextreme Szene in Brandenburg ist stark gewachsen, die Zahl der Gewalttaten gestiegen. Vor allem im Süden ist die rechte Szene präsent. Brandenburg wird seinem alten Ruf als Neonazihochburg wieder gerecht Foto: dpa Nach den G20-Ausschreitungen hat sich in den Medien eine Gleichmacherei eingeschlichen, was linke, rechte und islamistische Gewalt angeht. Das war in dieser Woche nach der Vorstellung des Berliner Verfassungsschutzberichts so und wiederholte sich am Freitag nach der Präsentation der Brandenburger Ausgabe. „Politische Extremisten haben in Brandenburg in allen Lagern im vergangenen Jahr deutlichen Zuwachs bekommen“, beginnt etwa die Agentur dpa ihre Meldung. So formuliert sich Angst, nach Hamburg als Rechtfertiger linksextremistischer Strukturen zu gelten. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis des Brandenburger Verfassungsschutzberichts offenbart eine andere Realität: Auf 68 Seiten werden dort Rechtsextremisten und sogenannte Reichsbürger behandelt, auf 10 Seiten Linksextremismus, auf 8 islamistischer Extremismus. So viel zum Thema Gleichmacherei. Brandenburg ist vielmehr auf dem besten Wege, seinem alten – zwischenzeitlich verblichenen – Ruf als Nazihochburg wieder gerecht zu werden. Laut Verfassungsschutzchef Carlo Weber werden 2016 insgesamt 1.390 Rechtsextremisten gezählt: eine Zunahme um 160 im Vergleich zum Vorjahr. Seit 2000 war die Zahl der Rechtsextremisten in Brandenburg nicht mehr so hoch. Die Zahl der rechten Gewalttaten stieg – nach dieser offiziellen Zählung – auf den höchsten Stand seit 1993 (!): Insgesamt 167 Fälle sind bekannt geworden. Und noch eine letzte Zahl: Im Vergleich zum Jahr 2011, in dem mit 36 Gewaltstraftaten die niedrigste Zahl in der Geschichte Brandenburgs verzeichnet wurde, bedeutet dies eine Verfünffachung. In nur fünf Jahren. Stellten den Bericht am Freitag vor: Innenminister Schröter (SPD, l.) und Verfassungsschutzchef Weber Foto: dpa Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) warnt denn auch explizit vor Neonazis im Süden Brandenburgs, vor allem rund um Cottbus: „Die dortige Szene ist hochgradig gewaltorientiert. Sie bündelt Neonationalsozialisten, Rocker, Angehörige des Bewachungsgewerbes, Kampfsportler, Hassmusiker sowie Hooligans.“ Agitation gegen Flüchtlinge Der Verfassungsschutz begründet die Zunahme und Radikalisierung der rechten Szene mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen: „Die Agitation gegen Flüchtlinge war 2016 der programmatische Dreh- und Angelpunkt der extremen Rechten.“ Zum Abschluss ein Blick in die andere Richtung: 500 Linksextreme zählt Brandenburgs Verfassungsschutz, 10 mehr als 2015. Ist das ein „deutlicher“ Zuwachs?
Bert Schulz
Die rechtsextreme Szene in Brandenburg ist stark gewachsen, die Zahl der Gewalttaten gestiegen. Vor allem im Süden ist die rechte Szene präsent.
[ "Verfassungsschutz", "Rechte Szene", "Gewalt", "Brandenburg", "Berlin", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,228
Klinsmann-Abgang bei Hertha BSC: Der nächste Erlöser wird gesucht - taz.de
Klinsmann-Abgang bei Hertha BSC: Der nächste Erlöser wird gesucht Nach den überraschenden Rücktritt von Jürgen Klinsmann als Hertha-Trainer bleiben Fragen. Woran lag es? Und wer könnte nun kommen? Lächelt jetzt nicht mehr für Hertha: Jürgen Klinsmann Foto: dpa Am Gesundbrunnen landet ein Hubschrauber, aus dem ein gut gelaunter Jürgen Klinsmann in hellblauem Poloshirt steigt. Er trägt eine Sonnenbrille, damit er den grauen Betonblock rund um die Stelle, die einst Plumpe genannt wurde, nicht in seiner ganzen Schroffheit ertragen muss. Das einstige Stadion an der Grenze zum Wedding war die erste Spielstätte Hertha BSCs und, mit Unterbrechung, Heimat bis zum Umzug ins Olympiastadion. Eine Delegation des Vereins zeigt dem 55-Jährigen das Areal, das heute nicht mal mehr im Ansatz an die glorreichen Zeiten erinnert. Aus dem „Bierbrunnen“ gegenüber starren sie verständnislos. Das ist so nie passiert, und so wird es auch nie passieren – das ist seit Dienstag klar. Am Dienstag hat Jürgen Klinsmann nach nur 76 Tagen den Posten des Cheftrainers bei Hertha BSC aufgegeben. Auf dem eigenen Facebook-Kanal verkündete er seine Entscheidung, bevor sich der Verein dazu äußern konnte. Der Klub reagierte deutlich: Seit Donnerstag ist bekannt, dass Klinsmann seinen Sitz im Aufsichtsrat ebenfalls verliert und somit keine Verbindungen mehr zum Verein bleiben. Ende November, zu Kliensmanns Amtsantritt, hatten sie im Zuge der Liebeschwüre an Stadt und Verein noch keine Idee, wie kurz dieses Abenteuer würde. Dabei hat es Ideen und Umstrukturierungen gehagelt, die so fantastisch klangen, als hätte man sie im Labor entwickelt. Kommuniziert wurde in nebulösem Marketingsprech. Und wären Investor Lars Windhorst („der Lars“) und der neue Cheftrainer selbst nicht so euphorisch dahergekommen, hätte man damals schon ahnen können, dass Berlin für eine 180-Grad-Drehung nicht den Nährboden gibt. Nicht als Stadt, nicht als Verein. Hertha ist für eine 180-Grad-Wende schlicht der völlig falsche Verein Vor wenigen Jahren war es Fans schon einmal unangenehm aufgestoßen, als man eine Werbeagentur beauftragte, das Image der Hertha zu modernisieren. Als „ältestes Start-up Berlins“ bewarb man fortan die alte Dame. Fans und Verein versöhnten sich mit dem dankbaren Slogan: In Berlin kannst du alles sein. Dass dies nur bedingt auf Vereins- und Arbeitsstruktur von Hertha BSC zutrifft, hat Jürgen Klinsmann recht früh spüren müssen. Die großen Ideen waren zu weit weg von Team, zu weit weg von der bodenständigen Hauptstadt, die ihre eigenen Gesetze schreibt. Vielleicht hat Berlin Klinsmann schlicht nicht verdient Eine letzte Runde über den Gendarmenmarkt, dann fliegt Jürgen Klinsmann wieder in den weichen Schoß Kaliforniens. Zu Frau und Heim. Vielleicht hat Berlin diesen Mann schlicht nicht verdient. Doch im „Bierbrunnen“ weint niemand dem 55-Jährigen hinterher. Hier spricht man von früher, nicht von der Zukunft. An den mit Vereinsbildern tapezierten Wänden des Lokals malt sich die Geschichte der Hertha rund durch die Räumlichkeiten. Auf einem dieser Bilder ist Niko Kovač abgebildet, Berliner und ehemaliger Hertha-Spieler. Im Wedding geboren, spielte er noch zu Zweitligazeiten für die Berliner und trainierte zuletzt erfolgreich Bayern München. Am Gesundbrunnen wäre man erfreut über seine Rückkehr.
Jenni Wulfhekel
Nach den überraschenden Rücktritt von Jürgen Klinsmann als Hertha-Trainer bleiben Fragen. Woran lag es? Und wer könnte nun kommen?
[ "Jürgen Klinsmann", "Fußball-Bundesliga", "Bundesliga", "Trainerwechsel", "Hertha BSC Berlin", "Berlin", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,230
Kommentar Porno-Domain-Endung: Willkommen im Pornoland - taz.de
Kommentar Porno-Domain-Endung: Willkommen im Pornoland Geht es nach der Internetbehörde Icann, haben Porno-Seiten im Netz künftig die Endung .xxx. Im Zensurland Saudi-Arabien frohlockt man schon. Pornoseiten bekommen einen digitalen Sperrbezirk – nämlich den neuen Top-Level-Domain-Bereich .xxx. Das bedeutet: Im Netz werden sich bald auch porn.xxx-Seiten finden - mit Porno-Inhalten, nur diese dürfen die neue Endung nutzen. Schon vor einiger Zeit hat die zuständige Internetbehörde Icann grünes Licht für die neue Seitenendung .xxx gegeben. Jetzt hat sie einen Vertrag mit der US-Firma Registrar ICM Registry unterzeichnet. Bei Beate Uhse hält man die neue Endung "grundsätzlich für sinnvoll". Das überrascht nicht – denn ähnlich wie die Tabakindustrie legt auch die Pornobranche Wert darauf, dass ihre Produkte nur für Erwachsene bestimmt sind. Ein Ersatz für bisherige Domains sei .xxx aber nicht, so die Unternehmenssprecherin. Das bedeutet: Man erwartet bei Beate Uhse, dass es auch weiterhin Pornos auf Domains mit anderen Endungen geben wird. Bei der Icann selbst war man gespalten: Bei der Abstimmung im Vorstand gab es vier Enthaltungen und zwei Neinstimmen. Das IT-Portal Heise zitierte Icann-Vorstand Georg Sadowski mit dem Satz, "die Schaffung von .xxx wäre der erste Akt des Vorstands, der direkt zum Einsatz von Filtern ermutigt". In Saudi-Arabien frohlockt man, kündigte an, den Gesamtbereich .xxx zu blocken - hierzulande regt sich kaum jemand auf. Eltern können zwar künftig auf den Rechnern ihrer Kinder die Domain .xxx pauschal ausschließen. Damit lässt sich aber nicht ausschließen, dass Kinder weiter Pornos zu Gesicht bekommen – auch in Zukunft wird es sie unter anderen Topleveldomains geben. Darum ist die neue Maßnahme nicht mehr als ein Feigenblatt für den Jugendschutz. Eltern können ihre Aufsichtspflicht nicht an Netzfilter delegieren – und das ist auch richtig so. Die neue Top-Level-Domain .xxx ändert nichts daran, dass es nötig ist, die Kleinen bei ihren ersten Schritten im Netz zu begleiten. Wenn dabei mal nackte Haut oder wüstes Gerammel aufblitzt, können Kinder und Eltern den Browser ja schnell zumachen. Die meisten wissen ihre Reife schon richtig einzuschätzen – iih, eklig, Sex!
Julia Seeliger
Geht es nach der Internetbehörde Icann, haben Porno-Seiten im Netz künftig die Endung .xxx. Im Zensurland Saudi-Arabien frohlockt man schon.
[ "Debatte", "Gesellschaft", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,255
orte des wissens: Was Versicherer wissen wollen - taz.de
orte des wissens: Was Versicherer wissen wollen Das Goslar-Institut lässt Big Data erforschen. Nicht zuletzt, um den Autokonzernen die Infos über Fahrende zu entringen Mehr als Neugier strukturieren Interessen unsere Erkenntnisse und unser Wissen. Zum Beispiel Geschäftsinteressen. Das Goslar-Institut (GI) macht keinen Hehl daraus, selbst eine Ini­tiative des Versicherungskonzerns Huk-Coburg zu sein. Vor 15 Jahren hat der die „Studiengesellschaft für verbrauchergerechtes Versichern“ in Braunschweig als gemeinnützigen Verein ins Register eintragen lassen, die das GI nun trägt. Weder Verein noch Institut haben eigene Räumlichkeiten. Sie führen also ein eher virtuelles Dasein. Sie materialisieren sich aber in Publikationen. Und ganz leibhaftig in den Raum tritt das unter ihrer Signatur gesammelte und erzeugte Wissen als Podiumsdiskussion im Rahmen des Verkehrsgerichtstags. Diese periodische Veranstaltung nennt sich „Goslar Diskurs“. Denn das GI hat all sein Tun und Trachten „propädeutischen Fragen des Versicherungswesens“ gewidmet. Dass die Selbstdarstellung etwas gestelzt akademisch klingt, soll vermutlich so: Man versteht sich weder als ausgelagerte Forschungsabteilung des Konzerns noch will man als Deluxe-PR-Stelle wahrgenommen werden. Selbst die Pressemitteilungen heißen hier nicht Pressemitteilungen, sondern „Recherche-Tipps“, wie der Gründer der Studiengesellschaft, Kommunikationsmanager Klaus Kocks, betont: Es werden Kurzmitteilungen mit einem Erklärtext und einer Vorauswahl an seriösen, durchaus auch kontroversen Quellen zu versicherungswirtschaftlich relevanten Themen online gestellt, um bei Jour­na­lis­t*in­nen und Publikum das Interesse zu wecken, das der Konzern schon hat. Für die wissenschaftlichen Studien, die das Goslar-Institut herausgibt, erteile man nach Ausschreibung „Aufträge an die renommierten versicherungswissenschaftlichen Institute“ so Kocks. „Das geht nach dem Prinzip der öffentlichen Vergabe“, also in einem verrechtlichten, transparenten Verfahren. Entsprechend unabhängig seien die For­sche­r*in­nen auch. Das erfordert auch eine gewisse Weite der Aufgabenstellung – was am besten dort gelingt, wo das Interesse der Versicherungslobby und der Ver­brau­che­r*in­nen konvergieren. Anfangs hat das nicht so gut geklappt: So war 2009 beim ersten „Goslar Diskurs“ suggestiv gefragt worden, ob „Hinterhof oder High-End“ den besseren KfZ-Mechaniker-Service garantiert. Klar, ein zu kumpeliges Verhältnis zwischen Werkstatt und Kunden betrachten Versicherer mit Argwohn. Aber im Interesse der Verbraucher liegt es nicht, das Prinzip der freien Autoschrauberwahl einzuschränken. Wirklich interessant hingegen sind die seit 2013 durch zahlreiche Untersuchungen zutage geförderten Einsichten und Prognosen über die Auswirkungen von Big Data auf alle Bereiche des Alltags – allen voran die Mobiliät. „Ein moderner PKW sammelt permanent Vitaldaten des Fahrers“, so Kocks. „Bis zu unseren Studien haben die Autokonzerne diese Daten als ihr Eigentum betrachtet.“ Diese Selbstverständlichkeit hat die vom GI beauftragte Forschung infrage gestellt, die Nutzen und Potenziale von Big Data als erheblich einstuft. Zum Beispiel weil Autos so viel sicherer werden, dass das Geschäftsmodell der Branche wegbricht: „Eine Neuausrichtung ist für die Versicherer daher unumgänglich“, bilanziert die große 2020 als Buch erschienene Studie „Die Big-Data-Debatte“. „Ein moderner PKW sammelt permanent Vitaldaten des Fahrers“Klaus Kocks, Professor für Unternehmenskommunikation, Goslar-Institut Die Versicherer teilen also mit ihrer Kundschaft ein dringendes Interesse an Datenschutz. Es geht darum, Fahrdaten dem monopolisierenden Zugriff der Autohersteller zu entwinden. Dafür liefert allein die Person Elon Musk schon Argumente genug. Umgekehrt kann erst, wer die Kontrolle über die eigene digitale Reifenspur hat, sie auch selbst dem Markt zur Verfügung stellen. Und nur dann haben die Versicherer die Chance, sich mit Big Data neu zu erfinden. Die GI-Forschung legt ihnen nahe, die Rolle eines Mobilitätsdatenwächters anzupeilen. Benno Schirrmeister
Benno Schirrmeister
Das Goslar-Institut lässt Big Data erforschen. Nicht zuletzt, um den Autokonzernen die Infos über Fahrende zu entringen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,300
Bericht über tote Journalisten 2013: Mindestens 70 Reporter getötet - taz.de
Bericht über tote Journalisten 2013: Mindestens 70 Reporter getötet Allein 29 Reporter starben beim Bürgerkrieg in Syrien. Aber auch in Ägypten und im Irak sind mehrere Reporter während ihrer Recherchen umgekommen. In Syrien getötet: Die US-amerikanische Journalistin Marie Colvin (bereits 2012) und der französische Fotograf Remi Ochlik. Bild: ap NEW YORK ap | Im Jahr 2013 sind weltweit mindestens 70 Reporter bei ihren Recherchen ums Leben gekommen. Das geht aus einem Bericht des New Yorker Komitees zum Schutz von Journalisten hervor. Demnach starben 29 Reporter bei der Berichterstattung über den Bürgerkrieg in Syrien. Bei viele von ihnen handelte es sich um syrische Bürger, die die Gefechte in ihren Heimatstädten dokumentierten. Andere waren Vertreter von Medien, die entweder der Regierung oder der Opposition nahestanden. Unter den Opfern in Syrien waren auch Korrespondenten aus dem Ausland, darunter ein Reporter des Senders Al-Dschasira, Mohammed Al-Mesalma, der von einem Scharfschützen erschossen wurde. Nach Angaben des Komitees kamen sechs Journalisten in Ägypten zu Tode. Die Hälfte von ihnen seien bei der Berichterstattung über das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Anhänger von Ex-Präsident Mohammed Mursi am 14. August getötet worden, hieß es. Im Irak starben zehn. „Der Nahe Osten ist zu einem tödlichen Schlachtfeld für Journalisten geworden“, sagte der stellvertretende Verbandsdirektor Robert Mahoney. „Die internationale Gemeinschaft muss alle Regierungen und bewaffnete Gruppen dazu drängen, den zivilen Status von Reportern zu respektieren und die Mörder von Journalisten zu verfolgen“.
taz. die tageszeitung
Allein 29 Reporter starben beim Bürgerkrieg in Syrien. Aber auch in Ägypten und im Irak sind mehrere Reporter während ihrer Recherchen umgekommen.
[ "Journalist", "Reporter", "Krieg", "Bürgerkrieg", "Syrien", "Irak", "Medien", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,351
Podcast „Bundestalk“: Wie gefährlich ist die AfD? - taz.de
Podcast „Bundestalk“: Wie gefährlich ist die AfD? Die AfD hat Rückenwind: Ihre Chefin wird zum Postergirl, die Umfragewerte sind gut und dann gewinnt sie auch noch zwei Wahlen. Stefan Reinecke, Sabine am Orde, Daniel Schulz und Gareth Joswig diskutieren den Aufstieg der AfD Foto: Montage: taz BERLIN taz | Die AfD kommt zurzeit aus dem Jubeln nicht mehr heraus. In Umfragen steht sie so gut da wie lange nicht. In Thüringen stellt sie erstmals einen Landrat, in Sachsen-Anhalt einen Bürgermeister. Und ihre Wirkung geht weiter über sie hinaus. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Die Partei ist längst nicht mehr der Außenseiter, zu dem sie sich gerne macht. Ihre Wähler:innen, das zeigen Studien immer wieder, sind längst keine Pro­test­wäh­le­r:in­nen mehr. Es sind Menschen, die die Positionen der AfD teilen. Trotzdem: Ob Nazi-Vergleiche nutzen, um die Rechten zu bekämpfen, ist fraglich. Denn nicht nur in Deutschland triumphieren die Rechten. Die AfD profitiert auch von der Normalisierung rechter Positionen in Europa. Was bedeutet das – für die Gegenden, in denen die AfD nun regiert? Was bedeutet es für das Standing der Gesamtpartei? Und was ist eine kluge Gegenstrategie von Parteien, Zivilgesellschaft und den Medien? Darüber spricht Stefan Reinecke in einer neuen Folge „Bundestalk“ mit den taz-Kolleg:innen Gareth Joswig, Daniel Schulz und Sabine am Orde. „Bundestalk“ – Der politische Podcast der taz erscheint jede Woche auf taz.de, Spotify, Deezer und Apple Podcasts.
Sabine am Orde
Die AfD hat Rückenwind: Ihre Chefin wird zum Postergirl, die Umfragewerte sind gut und dann gewinnt sie auch noch zwei Wahlen.
[ "Rechtsextremismus", "AfD", "Podcasts", "Gesellschaft", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,362
Statt Ausstellungen: Gib mir Raum - taz.de
Statt Ausstellungen: Gib mir Raum Wie improvisieren im Corona-Sommer? Der Projektraum Very stellt seine Räumlichkeiten für Micro-Residencies Künstler*innen zur Verfügung. Emma Waltraud Howes nutzt den „Luxus des Raums“ während der Probe mit Justin Kennedy Foto: Christian Mang Die Badstraße ist nicht die Schlossallee. Bei „Monopoly“ bringt sie ihren Besitzer*innen wenig ein, ist dafür aber zum Schnäppchenpreis zu haben. Eher günstig ist auch all das, was es auf der echten Badstraße im Wedding – von der das Brettspiel den Namen tatsächlich hat – so zu erwerben gibt: in den Dönerläden, den arabischen Supermärkten, den Frühstückslokalen, den Klamottengeschäften, in den Spätis und Callshops, vor denen sich zu allen Tageszeiten Menschen – umbraust vom Verkehr – aneinander vorbeischieben. Leicht könnte es passieren, dass man an der Hausnummer 66 achtlos vorbeigeht, abgelenkt durch all das, was auf den Gehsteigen und drum herum so die Sinne ablenkt. Dabei ist das, was sich dort im Hinterhof verbirgt, auf andere Art und Weise genauso speziell wie die Badstraße an sich. Bemerkenswert ist der Projektraum Very schon rein äußerlich: Fast wie eine Bühne mutet er von weitem an, mit seiner offenen Front und dem schwarzen Boden. Früher war dort einmal eine Kutscherwerkstatt untergebracht, die Arbeitsgrube, von der aus an den Fuhrwerken geschraubt wurde, gibt es noch, wird jetzt freilich anders, quasi als unterirdische Vitrine genutzt. Lange Jahre dienten die Räumlichkeiten dem Künstler Dirk Bell als Studio. Ganz aufgeben wollte er sie auch nicht, als er aus der Stadt zog, und tat sich stattdessen mit fünf anderen Künstler*innen und Kurator*innen zusammen, mit Silva Agostini, Mariechen Danz, Sarah Schönfeld, Nils Petersen und Anna Zett. Die sechs betreiben den Raum seitdem gemeinsam als Versuchsfeld für Ausstellungen, Performances, Lesungen, Workshops und andere Veranstaltungen, die Menschen zusammenbringt – oder wie jetzt im Covid-Sommer für sogenannte Micro-Residencies, temporäre Arbeitsräume für befreundete Künstler*innen. „Im April, während des Lockdown, haben wir uns gefragt, was wir mit dem Raum tun sollten“, erzählt Petersen. „Ausstellungen kamen nicht mehr infrage, stattdessen wollten wir uns auf kleinere, persönliche Projekte konzentrieren.“ Schon länger hätten sie die Idee für die Micro-Residencies gehabt, auf einmal schien der richtige Zeitpunkt gekommen, was auch politisch zu verstehen ist: Wichtiger denn je erscheint es, sich in der Krise gegenseitig zu unterstützen, zum Beispiel mit Räumen, die bekanntlich schon seit Längerem für Künstler*innen kaum zu bekommen oder zu bezahlen sind. Übersetzerin von Bewegung und Form Nach Lilly Pfalzer und Magdalena Mitterhofer ist Anfang August Emma Waltraud Howes für drei Wochen eingezogen, nutzt den Raum, „den Luxus des Raums“, wie sie es nennt, dabei auch gemeinsam mit anderen, mit denen sie zusammenarbeitet. Künstlerisch ist Howes in verschiedenen Medien unterwegs, setzt sich dabei aber stets mit körperlichen Zuständen, mit Gesten, bezeichnet sich selbst als Übersetzerin von Bewegung und Form. Sie fertigt Skulpturen an, arbeitet aber auch performativ. Mit Justin Kennedy feilt sie momentan an der Choreografie für eine Sci-Fi-Langzeit-Oper, die die beiden gemeinsam mit Balz Isler bei der kommenden Berlin Biennale im Oktober aufführen werden. Die Website von Very ist verwaist, Veranstaltungen werden auf Social-Media-Kanälen angekündigt, vor allem durch Mundpropaganda. Sie wollten immer natürlich wachsen, nicht unbedingt ein Riesenpublikum anlocken, heißt es, was ja aktuell sowieso eine gute Idee ist. Einerseits ist Very genau der richtige Raum für diese merkwürdige Zeit, auch allein wegen seiner Architektur – wie eine Garage, ist man dort bei offenem Tor gleichzeitig im Freien und doch vor Regen geschützt –, andererseits aber auch gerade nicht: Wie in vielen Projekträumen gibt es keine regulären Öffnungszeiten, ging es eigentlich immer um Begegnungen, direkt und analog. Gewissermaßen sind die Micro-Residencies davon eine logische Fortführung, bei der die Begegnungen eben in kleinerem Kreis stattfinden. Für Howes jedenfalls kam das Angebot zur richtigen Zeit. Kurz zuvor erst hatte sie ihr Studio verloren und musste es in ihr Wohnzimmer verlegen. Gleichzeitig stehen ihr arbeitsintensive Wochen bevor. Morgens arbeitet sie im Rahmen einer weiteren Residency in einer Glaswerkstatt in der Nähe, an Requisiten für die Oper. Nachmittags experimentiert sie mit Kennedy – unter den neugierigen Blicken der Weddinger Nachbarschaft. Bald werden, ebenfalls im Rahmen der Berlin Biennale, auch Workshops mit Jugendlichen aus Jugendzentren im Wedding dazukommen. Und ganz aktuell konzipiert sie noch eine weitere Arbeit, die offiziell auch für Publikum gedacht ist: Bei der Finissage der Ausstellung „Blinde Winkel“ im Kunstverein am Rosa-Luxemburg-Platz am Samstagabend ab 20 Uhr, wird Howes in Kooperation mit dem Duo CargoCult vom Fenster in Richtung Torstraße performen – für die Nachbarschaft, aber auch alle, die gezielt kommen wollen.
Beate Scheder
Wie improvisieren im Corona-Sommer? Der Projektraum Very stellt seine Räumlichkeiten für Micro-Residencies Künstler*innen zur Verfügung.
[ "Kunst Berlin", "Berlin-Wedding", "Künstler", "Coronavirus", "Künste", "Kultur", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,400
Nicht der Mann ist das Problem - taz.de
Nicht der Mann ist das Problem BSE ist nicht allein ein Problem des Landwirtschaftsministers, dessen Haus aber wohl der falsche Ort für den Schutz des Verbrauchers aus Berlin JENS KÖNIGund MAIKE RADEMAKER Alle haben es gewusst. Einer soll es büßen. Zumindest, wenn es nach Focus geht. Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) soll Recherchen des Magazins zufolge schon im April mit einem BSE-Fall gerechnet haben. Experten aus Bundesinstituten hätten damals bei einem Gespräch im Landwirtschaftsministerium geraten, Vorbereitungen für den ersten Fall von BSE zu treffen. Trotzdem habe der Minister in der Öffentlichkeit immer wieder gesagt, dass Deutschland BSE-frei sei. Sprich, es gebe keine deutschen BSE-Rinder. Wohlgemerkt „deutsche“, denn mindestens ein ausländisches BSE-Rind hat ja längst in Deutschland gelebt. „Cindy“ war britisch und verendete 1997 in Höxter. Also konnte Funke im Juni dieses Jahres noch fröhlich behaupten „deutsches Rindfleisch ist sicher“, ebenso im August im Chor mit dem Bauernverband, und zuletzt am 20. November. Erst im April soll Funke vom deutschen Wahn gewusst haben? Funke hat es wissen und damit rechnen müssen, als er sein Amt übernahm, als Cindy hier zu Lande verendete, als in der Schweiz, Irland, Portugal, Frankreich, England wahnsinnige Rinder entdeckt wurden. Und andere Länder längst reagiert hatten: Schweden führte, als nur der Hauch eines Verdachts aufkam – da war von Creutzfeldt-Jacob noch gar nicht die Rede –, 1987 ein Fütterungsverbot von Tiermehl ein. Die USA verboten ein Jahr später den Import britischer Rinder. Spätestens da hätte deutschen Politikern klar sein müssen, dass es keine Insel im BSE-Europa geben kann. Dabei haben nicht nur ausländische Experten vor BSE auf deutschen Wiesen gewarnt, auch in Deutschland selbst wurden genug Stimmen laut: 1993 warnte die Tierärztin Margit Herbst vor torkelnden Rindern: Die Tiere wurden geschlachtet und verarbeitet, die Veterinärin entlassen. Zu dem Zeitpunkt hatte die Schweiz längst umfassend reagiert. Dort hatte die Veterinärbehörde 1990 den ersten BSE-Fall entdeckt – und zwar nicht aus Zufall, sondern weil sie intensiv danach gesucht hat. Sieben Jahre später schüttelten Experten wieder den Kopf über die deutsche Ignoranz. In der Bundesrepublik seien, sagte der Schweizer Experte Marc Vandevelde schon 1997 der taz, viel zu wenig Verdachtsfälle untersucht worden. Für Funke ist der Vorwurf von Focus „absoluter Unsinn“ und eine „völlig falsche Interpretation eines Protokolls“. Warum also Konsequenzen ziehen? Dass der Bundeslandwirtschaftsminister die BSE-Krise verschlafen hat, weiß in Deutschland inzwischen doch jeder, selbst diejenigen, die nicht wissen, dass der Minister Karl-Heinz Funke heißt. So reichte die Enthüllung gestern nicht einmal mehr aus, dass in Berlin irgendein ernst zu nehmender Politiker den Rücktritt des Landwirtschaftsministers forderte. Lediglich ein CDU-Bundestagsabgeordneter, ein grüner Landtagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen und eine angebliche Verbraucherschutzexpertin der FDP, die wahrscheinlich selbst in ihrer eigenen Partei unbekannt ist, griffen Funke für seine Vertuschungen und sein Herumgeeiere beim Thema BSE an. Wahrlich nichts, wovor sich der Landwirtschaftsminister und erst recht nicht der Bundeskanzler fürchten müssten. Dass Gerhard Schröder weiter an Funke festhält, kann wirklich niemanden überraschen. Warum, so wird sich der Kanzler fragen, sollte er gerade jetzt einen Minister entlassen, den er schon seit Wochen gegen schwere Vorwürfe aus allen Richtungen verteidigt? Und was ändert ein Protokoll an der grundsätzlichen Kritik, dass Funke ein Lobbyist der Agrarindustrie ist? Schröder kann und will sich nicht von seinem Landwirtschaftsminister trennen, der ihm schon zu seiner Zeit als Ministerpräsident in Hannover treue Dienst leistete. Der Kanzler hat in den vergangenen Wochen mit Reinhard Klimmt (Verkehr) und Michael Naumann (Kultur) schon zwei Minister verloren. Eine weitere Kabinettsumbildung würde aus dem Problem Minister ein Problem Schröder werden lassen. Zudem würde eine Entlassung Funkes wohl auch Gesundheitsministerin Andrea Fischer mitreißen. Den Sozialdemokraten Funke zu opfern, die angeschlagene Grüne Fischer aber im Amt zu belassen – das wäre gegen den Widerstand der SPD-Bundestagsfraktion nicht durchzusetzen. Der Kanzler hält aber auch aus einem prinzipiellen Grund an Funke fest. Schröder hat in den vergangenen Tagen eingeräumt, dass die jahrelangen Warnungen vor BSE alle ignoriert hätten, und mit „alle“ meint der Kanzler Politiker, Produzenten, Verbraucher. Für dieses Versagen der Gesellschaft insgesamt möchte Schröder, ohne dass er das ausdrücklich sagt, nicht einen einzelnen Minister verantwortlich machen. Also redet Schröder lieber über den Schutz der Verbraucherinteressen. Wer aber für diesen Schutz eintreten soll, darüber redet der Kanzler nicht. Das Landwirtschaftsministerium kann es ja wohl nicht sein.
JENS KÖNIG / MAIKE RADEMAKER
BSE ist nicht allein ein Problem des Landwirtschaftsministers, dessen Haus aber wohl der falsche Ort für den Schutz des Verbrauchers
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,406
TAMIL NADU EXPRESS - taz.de
TAMIL NADU EXPRESS ■ 36 Stunden ist die Eisenbahn von Madras nach Delhi unterwegs 36 Stunden ist die Eisenbahn von Madras nach Delhi unterwegs VONWALTERKELLER Bahnsteig Nr. 1 der „Central Station“, einem der beiden Bahnhöfe der südindischen Metropole Madras. Der „Tamil Nadu Express“ wird gerade bereit gestellt. Er soll mehrere tausend Fahrgäste innerhalb der nächsten 36 Stunden nach Delhi bringen. Es ist eine der längsten Fahrten, die ein Reisender in Indien mit der Bahn unternehmen kann. Fast 3.000 Kilometer. Der Bahnsteig gleicht einem Taubenschlag. Die Fahrgäste suchen ihre Sitz- und Schlafplätze in den vierzig Waggons, die ihnen ein Computer zugewiesen hat. Hinzu gesellen sich die vielen Freunde und Verwandten, die ihre Lieben verabschieden wollen. Und dann natürlich die unzähligen „Porter“, in rote Jacken gekleidete Träger, die die teilweise überdimensionalen Gepäckstücke der Fahrgäste für einige Rupien in das vorgebuchte Abteil schleppen. Verkäufer versuchen lautstark per Bauchladen, Schubkarre oder einem fahrbaren Stand, all das an den Fahrgast zu bringen, was die lange Reise versüßt, verschönt oder verkürzt. Getränke, Eßbares oder Zeitungen und Zeitschriften, von denen es in Indien mehr als 20.000 in über dreißig verschiedenen Sprachen gibt. Pünktlich um 21 Uhr setzt sich der lange Zug in Bewegung. Nach nur zwei Stopps erreicht der „Tamil Nadu Express“ am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr einen kleinen Ort im Bundesstaat Andhra Pradesh. Auf dem Bahnsteig bieten Verkäufer Frühstück für die Fahrgäste an: Doosais, die so aussehen wie dünne Crêpes, und Pooris, in Öl gebackene Mehltaschen. Aber auch im Zug ist während der gesamten Fahrt für das leibliche Wohl der Fahrgäste gesorgt. Ich bekomme Kaffee und Omelett durch das Bahnpersonal quasi am Bett serviert, einer Pritsche direkt unter der Decke des Waggons. Tagsüber dient sie als Gepäckablage. Nach einer halben Stunde Aufenthalt geht die Fahrt weiter über Nagpur im Bundesstaat Maharashtra. Bhopal, die Hauptstadt des flächenmäßig größten indischen Bundesstaates, Madhya Pradesh, erreicht der Zug nach weiteren 15 Stunden gegen 22.30 Uhr. Mit 443.000 Quadratkilometern ist MP, wie der Staat kurz genannt wird, etwa eineinhalbmal so groß wie das „neue“ Deutschland. Oberflächlich betrachtet, gleicht der Bahnhof in Bhopal denen anderer indischer Großstädte. Hier gibt es allerdings noch mehr Bettler als anderswo. Viele sind blind. Sie sitzen auf den Bahnsteigen oder lassen sich von einem Familienangehörigen führen. Einen Arm halten sie ausgestreckt, um Geld zu erbitten. „Viele sind Opfer dieser schrecklichen Katastrophe“, erzählt mir ein Fahrgast, mit dem ich mich schon zuvor im Zug unterhalten hatte. Mit der schrecklichen Katastrophe sind jene Ereignisse des 3. Dezember 1984 gemeint, die die Welt bereits wieder vergessen hat. Damals starben etwa 3.500 Menschen einen qualvollen Tod. 400.000 wurden verletzt, weil Giftgas im Werk des amerikanischen Unternehmens „Union Carbide“ ausgetreten war. Andere, die überlebt haben, klagen über Atemwegserkrankungen, Bewußtlosigkeit oder Magen-Darm- Störungen. Im Gebiet von Bhopal kommt es seit dem Unglück vermehrt zu Frühgeburten und vorgeburtlichen Wachstumsstörungen. Die Geschichte der Tragödie von Bhopal ist die Geschichte vieler Ablenkungs- und Vernebelungsmanöver seitens der „Union Carbide“, eine Geschichte von Lug und Trug. Die Gerichtsverfahren laufen weiter, der Großteil der Opfer von Bhopal wird weiter auf Gerechtigkeit warten müssen. Umgerechnet drei Milliarden Mark Tourismuseinnahmen Eine weitere Nacht auf der Schlafpritsche steht mir bevor — viel Zeit, um nachzudenken. Zum Beispiel über den Tourismus, dessen Förderung seit einigen Jahren im Rahmen der indischen Wirtschaftsplanung an vorderster Stelle steht. 1,3 Millionen ausländische Touristen — davon etwa 90.000 Deutsche — haben dem Land 1989 umgerechnet fast drei Milliarden Mark eingebracht. Aber in einigen Touristenzentren protestieren Einheimische bereits gegen die hohen, teilweise unkontrollierten Wachstumsraten der letzten Jahre mit den vielen negativen Begleiterscheinungen. Immer deutlicher werden die harten Gegensätze der Gesellschaft: im Überfluß lebende Inder auf der einen und die Millionen von Armen und Dahinvegetierenden auf der anderen Seite. Ganze Familien leben in den großen Bahnhofshallen, schlafen auf Bahnsteigen oder auf der Straße. Die Armen werden von den meisten Reichen verachtet, die in Indien die wirtschaftlich, technologisch und militärisch aufstrebende südasiatische Supermacht sehen, die Atomkraftwerke und Mittelstreckenraketen baut. Es sind solche Gegensätze, die zu Spannungen im Land führen. Viele Jugendliche versuchen durch Drogenkonsum die Widersprüche in der Gesellschaft zu vergessen. Alkoholismus und Gewalt in den Familien sind die Resultate einer ausweglosen Situation. Der riesige „Schmelztiegel“ der Kulturen, der Indien für viele Besucher so interessant macht, wird immer explosiver. Tumulte brechen bei der geringsten Provokation aus. Es kommt immer häufiger zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den vielen Volks- oder Religionsgemeinschaften. So etwa während der vergangenen Monate, als es zu den schlimmsten Gewalttaten zwischen Hindus und Moslems seit 1947 kam. Die wochenlangen Ausschreitungen um eine Moschee in Ayodhya im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, andere innenpolitische Wirren und die anhaltenden Unruhen im Bundesstaat Kaschmir, bisher auf dem Pflichtprogramm aller Indientouristen, haben das Image Indiens im Ausland rapide sinken lassen. Der Golfkrieg hat den indischen Touristenplanern nun endgültig einen Streich durch ihre optimistische Rechnung gemacht. Jetzt bleiben die potentiellen Besucher fern, viele Reisen wurden storniert, die Hotels stehen leer. Das „Visit India Year 1991“, das Indien endgültig einen prominenten Platz auf der Tourismuskarte einbringen sollte, erweist sich bereits zu Beginn als ein Flop. Schon jetzt steht fest, daß im „Jahr des Tourismus“ weit weniger Ausländer kommen werden als in den Jahren zuvor. „Wir erleben derzeit die schlimmste Periode seit zehn Jahren“, wird in der Tourismusindustrie geklagt. Angestrebt wurden bis Mitte der neunziger Jahre zwei Millionen ausländische Touristen. Jetzt will man versuchen, die sinkenden Einnahmen aus dem Geschäft mit den Ausländern zumindest teilweise mit den jährlich fünfzig Millionen einheimischen Touristen und Pilgern zu kompensieren, die sich Urlaub im eigenen Land leisten können oder alljährlich zu den über das gesamte Land verteilten heiligen Tempelstätten reisen. Die verlangsamte Fahrt des „Tamil Nadu Express“ kündigt die baldige Ankunft in Neu-Delhi an. Noch wirkt alles ländlich. Auf den brachliegenden Feldern hocken im Abstand von wenigen Metern ungeniert Männer nebeneinander, die ihre morgendliche Notdurft verrichten. Die letzten Kilometer vor der Hauptstadt der indischen Union sind von großen Fabriken bestimmt, in deren unmittelbarer Nähe verslumte Gebiete liegen. Dort rekrutieren die Industriebetriebe ihre ArbeiterInnen. Aus riesigen Schornsteinen quillt dicker, schwarzer Rauch in den trüben Himmel. Delhi ist die Stadt Indiens mit der stärksten Luftverschmutzung. Und dazu trägt nicht nur die Industrie bei. Einen gehörigen Anteil hat auch der immer stärker wachsende Verkehr. Über eine Million Privatfahrzeuge, schwarze Rauchwolken ausstoßende Busse und Lastwagen sowie unzählige Motorrikschas bahnen sich ihren Weg durch die permanent verstopften Straßen der Hauptstadt. 5.000 Busse befördern allein in Delhi täglich sechs Millionen Menschen. Die Luftverschmutzung erreicht in vielen Gebieten Höhen, die 300 Prozent über den erlaubten Grenzwerten liegen. Und dazu zählt auch die Umgebung des Hauptbahnhofs von Neu- Delhi, in dem der Zug soeben zum Stehen gekommen ist. 36 Stunden Fahrzeit liegen hinter uns. Wir hatten auf dieser fast 3.000 Kilometer langen Strecke zwei Stunden Verspätung.
walter keller
■ 36 Stunden ist die Eisenbahn von Madras nach Delhi unterwegs
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,425
Anwältin für Frauenrechte gibt auf - taz.de
Anwältin für Frauenrechte gibt auf Wegen einer „akuten Bedrohungssituation“ hat die namhafte Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateș ihre Zulassung zurückgegeben. „Es gibt Sicherheitsprobleme“, bestätigen Kolleginnen, die ebenfalls Migrantinnen verteidigen VON A. LEHMANN, H. OESTREICH UND C. SCHMITT Sie hat gekämpft, argumentiert und gestritten. Für das Recht jeder Frau, ihren Ehemann und ihre Lebensform selbst zu wählen. Seyran Ateș ist eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen des Landes. Die Strafrechtlerin hat vor allem Migrantinnen vor Gericht vertreten. Jetzt aber ist die renommierte türkischstämmige Anwältin keine Anwältin mehr. Ateș gab ihre Zulassung zurück. Ihre Kanzlei hat sie aufgelöst. Auch ihren Mitgliedsausweis bei Terre des Femmes gab sie zum großen Erstaunen der Organisation zurück. Ateș wollte sich gestern auf Anfrage der taz nicht äußern. Auf ihrer Homepage begründet sie den Rückzug mit einer „akuten Bedrohungssituation“, die ihr „wieder mal allzu deutlich vor Augen geführt“ habe, „wie gefährlich die Arbeit als Rechtsanwältin war und wie wenig ich als Einzelperson geschützt war und bin“. Etwas genauer erklärte sie die Hintergründe ihrer Entscheidung am Donnerstagabend, als sie Gast bei einer Podiumsdiskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung zu „Herausforderungen der Integration“ war. „Ich wurde bei Scheidungsverfahren mehrfach tätlich angegriffen“, sagte sie. Im Sommer sei sie zusammengeschlagen worden. Auch danach hätte die Gewalt nicht aufgehört. Es ist nicht das erste Mal, dass Ateș um ihr Leben fürchten musste. Bereits 1984 überlebte sie schwer verletzt ein Attentat. In den vergangenen Jahren wurde Ateș immer wieder angefeindet. Auf ihrer Homepage spricht sie von einer „Bedrohung durch die Verfahrensgegner“ ihrer Klientinnen. Ateș will die Abgabe ihrer Zulassung aber nur als Teilrückzug verstanden wissen. Sie wolle „nicht mehr am Einzelfall“ arbeiten, aber weiterhin politisch aktiv sein und Vorträge halten. Ateș ist eine der zentralen Figuren, denen es zu verdanken ist, dass die schwierige Situation vieler Migrantinnen heute überhaupt stärker im öffentlichen Bewusstsein präsent ist. Seit Jahren bezieht sie Position zu Zwangsheirat und Ehrenmord. Sie kämpft gegen das Tragen von Kopftüchern und gegen Politiker, die die Unterdrückung von Frauen als vermeintlicher Teil einer anderen Kultur hinnehmen. Ihre Aussagen haben auch deshalb Autorität, weil sie als Anwältin tagtäglich mit den Nöten ihrer Klientinnen konfrontiert ist – sie kennt die Lebenswelt derer, über die sie spricht. So meint sie, derzeit im Migrantenmilieu eine Zunahme der Gewalt wahrzunehmen. Dies werde jedoch kaum thematisiert: „Es gibt große Angst, offen darüber zu sprechen, die auch mit der Angst vor Stigmatisierung zu tun hat“, sagte sie auf dem Podium der Adenauer-Stiftung. Sie habe das Gefühl, ihre Meinung nicht offen sagen zu können: „Wer kritisiert, wird gleich als Islamfeind betrachtet.“ Mit dem Islam habe das aber wenig zu tun, auch andere Religionen seien wenig frauenfreundlich. Eher seien soziale Frustrationen die Ursache. „Die Männer verlieren ihre Rolle als Ernährer, und sie müssen erleben, dass Frauen besser und erfolgreicher schon in der Schule sind. Die letzte Bastion der Männlichkeit ist Gewalt.“ Dass nun gerade diese energische Vorkämpferin für Frauenrechte ihre Anwaltstätigkeit aufgibt, wirft nicht nur viele Fragen auf. Es lässt auch erahnen, dass abseits des Einzelfalls ein grundsätzliches Problem besteht. Kann eine Rechtsanwältin in Deutschland nicht Rechtsanwältin sein, ohne um ihr Leben zu fürchten? Stimmt Ateș’ Wahrnehmung, sie sei als Einzelperson nicht genügend geschützt? „Es gibt Sicherheitsprobleme“, bestätigt die Anwältin Regina Kalthegener, die ebenfalls an Prozessen über Ehrverbrechen beteiligt ist. „Die Bedrohungssituation bei patriarchalen Familienproblematiken wird nicht immer richtig realisiert. Auch die Beratungsstellen sind wenig geschützt.“ Kalthegener sieht hier Handlungsbedarf: „Konzepte für eine Zusammenarbeit zwischen Beratungen und Polizei gibt es bisher nicht überall.“ meinung und diskussion SEITE 11
A. LEHMANN / H. OESTREICH / C. SCHMITT
Wegen einer „akuten Bedrohungssituation“ hat die namhafte Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateș ihre Zulassung zurückgegeben. „Es gibt Sicherheitsprobleme“, bestätigen Kolleginnen, die ebenfalls Migrantinnen verteidigen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,431
Auf dem Friedhof der Geschichte - taz.de
Auf dem Friedhof der Geschichte Im Jahre 1966 ermordete Demetrios Tsafendas den damaligen Premierminister von Südafrika: Henk van Woerden erzählt in seinem biografischen Buch „Der Bastard“ die Geschichte des Attentäters – und zeichnet dabei die Psychopathologie eines ganzen Landes nach. Handelte Tsafendas in Notwehr? Tsafendas will als Kosmopolit leben, bleibt jedoch ein mittelloser Emigrant von KARSTEN KREDEL Moderne Gesellschaften sind besessen von der Idee der Zugehörigkeit. Der Einzelne wird erst in der Gemeinschaft sichtbar. Er ist nichts ohne seinen Pass. Demetrios Tsafendas besaß im Laufe seines eigenartigen und tragischen Lebens ausschließlich provisorische Pässe, und viel häufiger stand sein Name auf Listen unerwünschter Personen. Am 6. September 1966 betrat er den Plenarsaal des Parlamentsgebäudes in Kapstadt, zog ein Messer aus seiner Jacke und stach wütend auf Hendrik Verwoerd, den südafrikanischen Premierminister, ein. Verwoerd, Vorsitzender der Nasionale Party und brillantester Ideologe der Apartheid, war sofort tot. Sein Mörder war dem Anschein nach ein armer Irrer, der auf Anweisung eines eingebildeten Bandwurms handelte. Er entging der Verurteilung, wurde weggesperrt und vergessen. Damals, rekapituliert der niederländische Autor Henk van Woerden, der die Geschichte des Attentäters in einer aufregenden und berührenden biografischen Reportage zusammensetzt, war die Sache beruhigend klar. „Nicht das Land war krank, sondern der unglückselige Grieche“: Alle waren sich einig, dass die Tat kein politisches Motiv hatte. Nelson Mandela nannte Tsafendas später einen „obskuren weißen Parlamentsboten“. Doch Tsafendas war weder Grieche, noch war er weiß. Er wurde 1918 im damaligen Portugiesisch-Ostafrika als Sohn eines griechischen Emigranten und seines mosambikanischen Hausmädchens geboren – seine Mutter, die nach kurzer Zeit weggeschickt wurde, lernte er nie kennen. Sein Vater brachte ihn zur Großmutter nach Alexandrien, wo er im „gemischten kulturellen Klima des östlichen Mittelmeers“ die sechs glücklichsten Jahre seines Lebens verbrachte, die einzigen, in denen seine gemischte Abstammung kein Problem darstellte. Für den langen Rest seines Lebens bleibt Tsafendas heimatlos. Schon mit zwölf Jahren spricht er fünf Sprachen, aber keine richtig. Er ist ein in sich gekehrter Junge mit krausem Haar und hellbrauner Haut. Bald nach seiner Rückkehr aus Alexandrien ins mosambikanische Elternhaus schieben ihn Vater und Stiefmutter in ein Internat ab. Als seine Familie nach Südafrika umsiedelt, erhält der 17-Jährige keine Einreiseerlaubnis und bleibt allein zurück. Im Jahr darauf geht er illegal über die Grenze, schlägt sich eine Weile durch, wird festgenommen und ausgewiesen – ein Vorgang, der ihn auf eine verzweifelte, zwanghafte Odyssee um die halbe Welt treibt. Tsafendas will als Kosmopolit leben, doch anstatt überall willkommen zu sein, ist er es nirgendwo – ein mittelloser Emigrant und ein Bastard, der nirgendwo herkommt und genau dorthin zurückgeschickt wird. Ein paar Mal kann er durch bürokratische Lücken schlüpfen, doch meistens verfährt man mit ihm, wie man das auch heute noch tut: Verhaftung, Abschiebung, Aktennotiz. Zwanzig Jahre schlägt er sich als Unperson durch die Länder Nordamerikas, Europas und des Nahen Ostens; von fast allen lernt er nur Hafenstädte, Gefängnisse und psychiatrische Anstalten kennen. Die Diagnose lautete mal auf Schizophrenie, mal auf „mischbildartige Psychose“. Währenddessen bleibt Südafrika der Ort seiner Sehnsucht. Ein ums andere Mal beantragt Tsafendas ein Visum, immer vergeblich. Heimweh plagt ihn – doch warum ausgerechnet Südafrika? Er nennt seine Familie als Grund, doch mehr als diese bewegt den innerlich tief verletzten Vagabunden der Drang, seine Seele zu beruhigen. Südafrika ist ein Land voller rassisch Illegitimer, die den Mix aus Engländern, Afrikaandern, Indern, europäischen Emigranten verschiedenster Herkunft und der Vielzahl von afrikanischen Völkern reflektieren und zugleich verschmelzen. Er hat es der Schludrigkeit eines Beamten zu verdanken, dass sich sein Wunsch schließlich erfüllt. Im November 1963 kann er in das Land einreisen, das er sich als Heimat auserkoren hat. Es hat sich inzwischen zur weißen Nation erklärt. An der Macht ist Hendrik Verwoerd, ein niederländischer Emigrant, dessen kollektive Identität sich aus mythologisierten Erinnerungen an den blutigen „Groot Trek“ durch Zululand im 19. Jahrhundert und die im „heroischen Freiheitskampf“ des Burenkrieges erlittene Erniedrigung speist – aus Überlegenheitsgefühl gegenüber der schwarzen Bevölkerung und Hass auf die englischen Südafrikaner. Verwoerd ist ein fanatischer Anhänger der Rassentheorien, deren biologistischer Kulturpessimismus seit dem frühen 19. Jahrhundert Hochkonjunktur hat: Vermischung bedeutet Schande und Tod, rassische Reinheit ist heilig. Er vollendet eine Politik, die mit den ersten Gesetzen zur rassischen Segregation im Jahre 1910 begann und nach dem Wahlsieg seiner Partei 1948 zur Staatsdoktrin wurde. Tsafendas, der komische Kauz, agitiert mit zwanghafter Energie gegen die Verbote, wann immer ihm jemand zuhört: „Die Nasionale Party, die werde es wohl nicht mehr lange geben, prophezeit er, und die so genannten Immoralitätsgesetze, die Liebe zwischen Schwarzen und Weißen verbieten, seien selbst unmoralisch.“ Es ist, als begehre sein riesiger Leib – der unstatthafte Körper des Bastards – gegen die Bösartigkeit der Apartheid auf, als wüte seine Seele gegen den ihr auferlegten Selbsthass. Der sanfte und taktlose Mensch, der nirgends ein Zuhause fand, war auch ein Exilant von sich selbst. Im August 1965, als die Behörden mit Anträgen überschüttet werden, rassische Identitäten vorteilhaft zu begradigen, gibt er seinen „weißen“ Pass ab und lässt sich als „Coloured“, als Mischling, registrieren. Ein Jahr darauf tötet er seinen größten Feind: die Notwehr eines unheilbar Beleidigten. Das Buch, das Henk van Woerden über Tsafendas geschrieben hat, ist eine persönliche Reise in die Vergangenheit und in eine unbekannte Gegenwart. Persönlich deshalb, weil er 1956 als Neunjähriger mit seiner Familie nach Südafrika zog – ein holländischer Emigrant wie Verwoerd ein paar Jahrzehnte zuvor. Als junger Erwachsener flüchtete er vor dem Elend der unverdienten Bevorzugung nach Europa. 1989, kurz bevor Präsident de Klerk der Apartheid abschwor, kehrte er zum ersten Mal zurück. In den folgenden Jahren unternahm er mehrere Reisen in das „neue Südafrika“, auf denen er sich in das Land und seine Archive vertiefte, um aus der sich langsam ordnenden Geschichte des unglücklichen Pilgers und dem Chaos der Gegenwart ein Bild zu gewinnen. Als Teenager sah van Woerden seine schwarzen Nachbarn verschwinden. Vier Millionen Südafrikaner wurden insgesamt aus den gemischten Vierteln der Städte in die Homelands vertrieben. Plötzlich war er „weiß“, und seine Mutter sprach vom „schrecklichen Los der Grenzfälle“. Das Südafrika der Neunzigerjahre hat sich eine Therapie der nationalen Neuerfindung auferlegt, doch als er dorthin zurückkehrt, findet er eine weiterhin – doch mehr denn je durch Besitz – geteilte Gesellschaft bewaffneter Bürger vor, die „Karikatur eines Landes, meines Landes – ein Sauhaufen, verseucht, versteinert, erstarrt“. Er findet eine traumatisch verfestigte Kultur der Gewalt und des Geheimnisses, ähnlich der des amerikanischen Südens nach dem Bürgerkrieg. Aber auch, in individuellen Lebensentwürfen, Hoffnung auf Gesundung. Van Woerden stellt Fragen: Wie neu ist, was er sieht und hört? Woher kommt die allgegenwärtige Brutalität? Was ließ – zu einer anderen Zeit, am selben Ort – einen harmlosen Sonderling wie Tsafendas zum Mörder werden? Dessen Geschichte, die mit Erinnerungen des Autors und Berichten aus der Gegenwart zu einer behutsam tastenden und bewusst subjektiven Geschichtserzählung verschränkt ist, wird hier erstmals rekonstruiert. Tsafendas, dessen Tat nie für den Widerstand instrumentalisiert wurde, bleibt auch in der Post-Apartheid-Ära obskur – der Bastard war zu radikal eigensinnig, um zum Symbol zu taugen. 1998 erhält Henk van Woerden endlich die Möglichkeit, ihn in seiner Klinik zu besuchen. Er trifft einen „charmanten Quatschkopf“, einen „Überlebenden der Havarie der südafrikanischen Geschichte“, der auf immer von ihr verstört bleibt. Vor mehr als dreißig Jahren hatte er seinen Zuhörern die Vision einer Regenbogennation unterbreitet; jetzt, da der Gedanke längst zur nationalen Orthodoxie geworden ist, bleibt er ein Ausgesperrter, „einer der wenigen, die immer noch nicht heimgekehrt sind“. Während sein Land aus der Erzählung der Vergangenheit, unter dem Banner von „Wahrheit und Versöhnung“, eine neue Identität zu gewinnen sucht, zieht er Episoden aus einem Meer von Erinnerungen und hält immer nur lose Enden in der Hand – er kann sie zu keiner Geschichte seiner selbst vereinigen. Einmal noch, als er 1999 im Alter von 81 Jahren stirbt, erinnert man sich am Kap einen Moment lang an ihn, bevor er endgültig verschwindet: in einem unmarkierten Armengrab. Henk van Woerden: „Der Bastard“. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Berlin Verlag, Berlin 2002. 251 Seiten, 18 €
KARSTEN KREDEL
Im Jahre 1966 ermordete Demetrios Tsafendas den damaligen Premierminister von Südafrika: Henk van Woerden erzählt in seinem biografischen Buch „Der Bastard“ die Geschichte des Attentäters – und zeichnet dabei die Psychopathologie eines ganzen Landes nach. Handelte Tsafendas in Notwehr?
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,474
Basketball-Profiliga in den USA: Spielabsage wegen Transfeindlichkeit - taz.de
Basketball-Profiliga in den USA: Spielabsage wegen Transfeindlichkeit Das All-Star-Game 2017 wird nicht in Charlotte, North Carolina, stattfinden. Transgender werden dort bei der Benutzung öffentlicher Toiletten benachteiligt. Im Februar fand ein Spiel in Toronto, Kanada statt. Dort sind die Verhältnisse transfreundlicher Foto: ap CHARLOTTE dpa | Wegen eines neuen „Toiletten-Gesetzes“ wird das All-Star-Game der Nordamerikanischen Basketball-Profiliga 2017 nicht in Charlotte stattfinden wie die NBA mitteilte. Ein neuer Austragungsort steht noch nicht fest. Nach Medienberichten in den USA sind nun New York, Chicago und New Orleans im Gespräch. Im US-Bundesstaat North Carolina macht das kürzlich verabschiedete Gesetz Kommunen eigenständige Anti-Diskriminierungsmaßnahmen unmöglich und zwingt Transgender, öffentliche Toiletten nach ihrem auf der Geburtsurkunde festgelegten Geschlecht zu benutzen. Es hatte im ganzen Land für politische Debatten gesorgt. Die NBA verweist darauf, dass „dieser Liga zugrundeliegende Prinzipien Vielfältigkeit und gesellschaftliche Eingliederung sind. An dem Ort, wo wir uns entscheiden, das All-Star-Game zu feiern, sollten diese Werte geehrt werden“, sagte der NBA-Bevollmächtigte Adam Silver. Ausgerechnet der frühere Basketball-Superstar Michael Jordan wollte als Manager und Mehrheitseigentümer der Charlotte Hornets das Event in seine Stadt holen. Er äußerte Verständnis für die Entscheidung, sei aber dennoch „enttäuscht“.
taz. die tageszeitung
Das All-Star-Game 2017 wird nicht in Charlotte, North Carolina, stattfinden. Transgender werden dort bei der Benutzung öffentlicher Toiletten benachteiligt.
[ "USA", "Transgender", "Basketball", "NBA", "LGBTQIA-Community", "Sport", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,479
Watschen kassieren oder Pfründe verteidigen - taz.de
Watschen kassieren oder Pfründe verteidigen ■ Geldmangel und Dreiviertel-Lehrer: Anna Ammonn, Vorsitzende der GEW und GAL-Sprecher Peter Schaar streiten über rot-grüne Bildungspolitik taz: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) grollt, die GAL freut sich über die Koalitionsvereinbarungen zum Thema Schule. Wie kommt's? Anna Ammonn: Die rot-grünen Beschlüsse im Bildungsbereich sind hochgradig enttäuschend. Es gibt zwar gestalterische Ansätze, die ich begrüße, etwa den muttersprachlichen Unterricht oder die Produktionsschule. Auch die sechsjährige Grundschule ist ein interessantes Projekt, wenn ein gutes Konzept entwickelt wird. Aber zugleich hat die GAL mitverabredet, daß es zu weiteren drastischen Einschnitten im Bildungsbereich kommen wird. Ab 1999 rechnet die GEW sogar mit Stellenstreichungen bei den Lehrern. Peter Schaar: Klar ist, daß wir angesichts der Haushaltsknappheit vor dem Zwang stehen, sparsam mit den Finanzmitteln umzugehen. Deshalb haben wir uns ja gerade bemüht, wichtige Bereiche wie die Bildung besser zu stellen als andere. Und das ist uns auch gelungen. Mal abgesehen von mehr Schulautonomie: Im nächsten Schuljahr werden Hamburgs Schulen einen unverändert hohen Personalhaushalt haben. Allerdings war es nicht möglich, diese starke Privilegierung für die gesamte Legislaturperiode festzuschreiben. Ammonn: In diesem Zusammenhang von Privilegien zu sprechen, ist der GAL nicht würdig. Die Schulen waren auch in den vergangenen Jahren an der Sparquote beteiligt, und das bei wachsenden Schülerzahlen. Kein Mensch denkt doch bei Euch mehr daran, die Schule zu entlasten. Es wird weiter zu einer Arbeitsverdichtung kommen, zu größeren Klassen, zu Mehrarbeit. Uns da standespolitische Argumente vorzuwerfen, ist ein Unding. So was könnte eine Gewerkschaft ja nur unter Verlust ihrer Selbstachtung hinnehmen. Das werden wir so nicht mitmachen! Da entsteht leicht der Eindruck, die GEW verteidigt nur ihre Pfründe und ignoriert die Finanzkrise. Ammonn: Die Haushaltslage ist uns durchaus bewußt. Enttäuschend ist doch die grüne Bewertung der Verhandlungsergebnisse. Es kann doch kein Erfolg sein, wenn bei 13.500 zusätzlichen Schülern in den nächsten vier Jahren keine einzige Lehrerstelle neu geschaffen wird. Wenn sogar noch Stellen abgebaut werden. Das Signal, das in Hamburg von Rot-Grün ausgeht, ist doch beschämend – zumal es auch ein Signal für eine bundespolitische Wende sein sollte. Ich weiß nicht, wo die grünen Prozentpunkte für einen Wechsel in Bonn herkommen sollen, wenn man diese Beschlüsse auch noch als Erfolg darstellt! Schaar: Sicher kann man mit den schulpolitischen Ergebnissen nicht völlig zufrieden sein. Aber die Schule ist immer noch besser gestellt als andere Bereiche. Wir stehen nunmal vor der Entscheidung, entweder in anderen Bereichen noch schärfer zu sparen oder mehr Tafelsilber zu verscherbeln. Die Frage ist: Wollen wir eine Politik, die auch noch die letzten 25 Prozent der HEW-Aktien verkauft? Ammonn: Wenn es da keine anderen Signale auf grüner Ebene gibt, müssen wir uns nach anderen Bündnispartnern umgucken, selbst der Bundespräsident hat ja mehr Visionen hinsichtlich der Bildungspolitik. Sie dagegen, Herr Schaar, forderten die GEW erst unlängst auf, sich an der Realität zu orientieren und nicht ständig altbekannte Positionen wiederzukäuen. Aber die Realität an Hamburgs Schulen ist Ausgrenzung, ist Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Und auch der hohe Krankenstand unter älteren Kollegen, das Burn-out-Syndrom sind Realität. Damit wird sich die GEW nie und nimmer abfinden. Unsere Aufgabe ist es, die Realitäten zu verändern. Die sechsjährige Grundschule bietet dafür ja Ansätze. Ammonn: Zunächst fand ich die Idee sehr gut. Aber wenn es kostenneutral laufen soll, dann kann das nicht gehen. Schaar: Für die GEW ist wohl nur gut, was etwas kostet. Ammonn: Wenn die Grundschule einfach nur um zwei Jahre verlängert wird, kann das nicht funktionieren! Das bedarf differenzierter Konzeptionen. Schaar: Aber das muß ja nicht unbedingt mehr kosten. Auch die fünften und sechsten Klassen an Gesamtschulen verursachen Kosten. Die fallen dann eben entsprechend an den Grundschulen an. Ich bin ein Absolvent der sechsjährigen Grundschule in Berlin und einer ihrer Verfechter. Denn bei vielen Kindern ist in der vierten Klasse einfach noch nicht klar, welche weitere Schullaufbahn sie einschlagen wollen. Zurück zum Koalitionsvertrag. Junge Lehrer werden künftig nur noch als 3/4-Pauker eingestellt. Ammonn: Das ist auch ein Teil dieser Demotivationspolitik. Der ganze Erwartungsdruck von Eltern und Kollegen liegt auf den jungen Lehrern. Und dann stehen sie mit circa 2.200 Mark monatlich da, müssen ihr Bafög abzahlen, wollen eine Familie gründen. Und das nach einer langen qualifizierten Ausbildung. Schaar: Natürlich darf die Last der Arbeitslosigkeit nicht vollends auf die Neueingestellten abgewälzt werden. Aber es gibt 5.000 arbeitslose Lehrer in Hamburg. Wir müssen die vorhandene Arbeit aufteilen. Idealerweise sollten Lehrer mit vollen Stellen ihre Arbeitszeit reduzieren und auf Einkommen verzichten. Bei einem Oberstudienrat mit 6.500 Mark Nettoverdienst in der Endstufenbesoldung von A 13 müßte das doch gehen. Leider sind dazu aber viele nicht bereit. Trotzdem ist es vertretbar, diejenigen, die nachrücken, zunächst auf 3/4-Basis einzustellen. Wo sie als Angestellte weniger verdienen als Beamte. Schaar: Natürlich. Aber deshalb alle zu Beamten zu machen, wäre doch kurzsichtig. Ammonn: Ich finde es katastrophal, daß den Grünen mittlerweile Sätze über die Lippen kommen wie „die Last der Arbeitslosigkeit nicht vollends auf die Neueingestellten abwälzen“. Da fehlt doch eine grundsätzliche Aussage, daß die Arbeitslosigkeit durch die ungerechte Verteilung in diesem Land hervorgerufen wird. Diese Aussage hört man bei der GAL gar nicht mehr. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit braucht es mehr als die Frage: Sollen die Alten oder lieber die Jungen die Lasten tragen? An Hamburgs Schulen haben wir im Moment ein Zweiklassenrecht unter den Lehrern. Das ist eine unhaltbare Situation. Schaar: Ist die GEW denn für die Verbeamtung? Das möchte ich wirklich mal wissen. Ammonn: Solange der Staat dieses Konstrukt vorsieht, kann es keine zwei Klassen in den Lehrerkollegien geben. Schaar: Da haben wir Dissens. Wir sind der Auffassung, daß Lehrer auch in Zukunft als Angestellte beschäftigt werden sollen. Ammonn: Eine Möglichkeit, Stellen zu schaffen, wäre das Alters-Teilzeitmodell, das wir entwickelt haben. Aber das wird im Koalitionsvertrag mit keiner Silbe erwähnt. Schaar: Ein Modell, das natürlich wieder mehr kosten soll. Ammonn: Natürlich, es gibt kein Altersteilzeitmodell, das nichts kostet. So etwas rechnet sich nur, wenn man den gesamten Kontext betrachtet: Der Arbeitsmarkt wird entlastet, die Krankenquote bei Älteren wird geringer... Schaar: Es ist derzeit einfach nicht vertretbar, über Altersteilzeit nachzudenken ohne einen finanziellen Ausgleich. Realpolitik pur. Die GAL hat also mit Einblick in die städtischen Kontoauszüge eine ganz neue Sichtweise dafür entwickelt, was möglich und was nötig ist. Schaar: So ist es. Je realistischer die Möglichkeit war, die Verantwortung für diese Stadt mitzutragen, desto stärker traten die Finanzen ins Blickfeld. Ammonn: Und deshalb gibt es mit den Grünen keinerlei neue Beschäftigungsmöglichkeiten im Bildungsbereich. Schaar Doch. Ammonn: Nur durch Umverteilung und 3/4-Stellen. Und das, obwohl die Aufgaben wachsen, obwohl die Schülerzahlen wachsen. Ich kann mich nicht damit trösten, daß es jetzt pro Jahr eine Ganztagsschule mehr gibt und ein Schulversuch zur sechsjährigen Grundschule womöglich in acht Jahren zu ersten Ergebnissen führt. Das löst nicht die Probleme. Von dieser rot-grünen Regierung in Hamburg gehen keine Signale aus. Schaar: Wir haben doch diese Probleme nicht nur bei der Bildung. Wir haben sie im Gesundheits-, im Sozialwesen, überall.Vielleicht kann eine Gewerkschaft das einfach ignorieren, wir können das nicht. Im Prinzip geht es jetzt darum, einen Mangel zu verwalten. Das ist so. Trotzdem gibt es auch bei der schlechten Haushaltslage Gestaltungsspielräume. Und die gilt es zu nutzen. Moderation: Karin Flothmann, Judith Weber
K.Flothmann/ J.Weber
■ Geldmangel und Dreiviertel-Lehrer: Anna Ammonn, Vorsitzende der GEW und GAL-Sprecher Peter Schaar streiten über rot-grüne Bildungspolitik
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,525
Lost in Haft: Zeitung für die Vergessenen - taz.de
Lost in Haft: Zeitung für die Vergessenen Der Kieler Andy Sell saß 14 Monate in chinesischen Gefängnissen, weil die deutsche Botschaft nicht half. Jetzt weist er mit einer Internetzeitung auf ähnliche Fälle hin. Eingeknastet: Nach einer Verkettung von Zufällen saß der Kieler Andy Sell 14 Monate in China ein. Foto: dpa KIEL taz | Dass ihr Sohn in China im Knast saß, erfuhr das Ehepaar Sell per Telefon. Eine Nummer mit 030 vorne, für Berlin. „Bist du drangegangen?“, fragt Regina Sell ihren Mann. „Oder ich?“ Harald Sell hebt die Schultern: Viele Details aus dieser Zeit haben sich eingebrannt, andere sind wie ausgelöscht. 14 Monate lang lebten die Sells, die Eltern in Kiel, der Sohn in Peking, im Ausnahmezustand, wie eingefroren in einem ewig währenden Autounfall. Jetzt sitzen alle drei im Wohnzimmer, die Eltern nebeneinander auf dem Sofa, Andreas Sell, genannt Andy, auf dem Stuhl gegenüber, ein Bein untergeschlagen. Er spricht lebhaft, voller nervöser Energie. Seit August 2010 ist der 37-Jährige wieder in Deutschland, aber noch immer krankgeschrieben nach seiner Leidenszeit im Gefängnis. Im Lauf des Gesprächs wachsen rund um seine Augen braune Stressflecken, bis er aussieht wie ein spiegelverkehrter Panda. „Es strengt ihn immer noch an“, sagt seine Mutter. „Ich will nicht von mir reden, das ist gar nicht das Thema“, sagt der Sohn. Sie machen jetzt Zeitung, alle drei: berichten vom Kieler Wohnzimmer über deutsche Gefangene in aller Welt. „Lost in Haft“ heißt ihre Internetseite, und sie ist ein seltsames Sammelsurium: Neben Schicksalen von Menschen, die an exotischen Orten einsitzen, stehen Tipps aus der Gefängnisküche. Zeitweise nehmen lokale Ereignisse breiten Raum ein, so beschäftigte sich die Internetzeitung mit der angeblichen Bevorzugung „krimineller Flüchtlinge“ durch die Kieler Polizei. Und dann ist da noch „Denn’s Ecke“, auf der „unser Computer-Nerd“ Computerspiele und Crowdfunding-Projekte vorstellt, garniert mit Youtube-Schnipseln. Für diese Rubrik ist ein Kumpel von Andy zuständig, der die Seite auch technisch betreut. „Er hatte Lust dazu, also macht er das“, erklärt Andy Sell, der Chefredakteur. Da er selbst krankgeschrieben und noch nicht richtig belastbar ist, arbeitet er etwa drei Stunden am Tag für seine Zeitung. Mittelfristig soll daraus eine volle Stelle werden. Das heißt: Die Seite müsste genug Geld einbringen, damit nicht nur die Unkosten gedeckt werden, sondern auch noch Lohn übrig bleibt. An dem Versuch, mit Nachrichten im Internet Geld zu verdienen, sind schon ganz andere gescheitert, aber Familie Sell ist optimistisch: „Wir sind schon mit Werbekunden im Gespräch“, sagt Verlegerin Regina Sell. Im Hauptberuf arbeitet die 61-jährige Buchhalterin bei der Bundeskasse in Kiel, zuständig für die Bewilligung der Wohnungsbauprämien. Ihr Mann war beim Zoll und im Personalrat aktiv, inzwischen ist er 73 und in Rente. Andy Sell hat in China Sprachen studiert; journalistische oder verlegerische Erfahrung hat bislang keiner von ihnen. Über ihrer Seite steht „Die Presse-Revoluzzer!“ Vor dem Wohnzimmerfenster der Presse-Revoluzzer fahren Schiffe vorbei, Regine und Harald Sell wohnen unweit der Kieler Förde. Ein gewaltiger Fernseher thront vor der Couchecke, vor der Glasfront stehen zwei Liegesessel: „Hier halten wir unsere Redaktionssitzungen ab“, sagt Andy Sell. „Klappt gut.“ Das eigentliche Büro liegt nebenan, ein Raum mit Kiefernholzregalen, auf denen Nippes neben den Akten steht. Aber eigentlich, sagt Andy Sell, habe er das meiste bei sich, im Rechner und im Kopf: „Wenn ich nachts nicht schlafen kann, lese ich Akten.“ Er kann oft nachts nicht schlafen. Die Chinesen wussten nicht, was sie mit dem Gefangenen tun sollten, und schickten ihn in die U-Haft Sein Weg ins Gefängnis begann mit einer Kleinigkeit: „Ich bin sogar selbst zur Polizei“, berichtet er. Es hatte eine Unstimmigkeit in einer Kneipe gegeben, Andy und seine Freunde wollten sich beschweren. Auf dem Revier musste sie ihre Pässe vorzeigen, dabei stellte sich heraus, dass Andy Sells Visum abgelaufen war und der Student sich illegal im Land aufhielt. Die Polizisten schickten ihn ins Abschiebegefängnis; der Beginn eines geradezu kafkaesken Szenarios. Anfangs wollten die Chinesen nur eine kurze Bestätigung, dass Sell, Andreas, gebürtig in Kiel, deutscher Staatsbürger sei. Er wäre mit einer Strafgebühr nach Deutschland abgeschoben worden, hätte vielleicht eine Zeit lang nicht wieder einreisen dürfen – Kinderkram. Aber die Botschaft gab die gewünschte Bestätigung nicht. Das geschah wohl nicht aus Boshaftigkeit oder wegen eines echten Problems, sondern aufgrund einer Reihe von Zufällen, die sich zu einem grotesken Gemenge auftürmten. Die erste Mitarbeiterin, erzählen Sells, ging in Urlaub, bevor sie Auskunft erteilte. Auf dem Schreibtisch der nächsten zuständigen Kollegin landete die Akte weit unten im Stapel. Danach musste ein Besuch Angela Merkels vorbereitet werden und dann stand Weihnachten vor der Tür. Aus Tagen wurden Wochen und Monate. Genau so sei es gewesen, sagt Andy Sell, es stehe alles in seiner Akte, die er einsehen konnte und die er immer wieder liest. Die Chinesen wussten nicht, was sie mit diesem Gefangenen im Vakuum anstellen sollten, sie schickten Andy Sell vom Abschiebeknast in die Untersuchungshaft. Schließlich übernahm die Staatssicherheit, inzwischen überzeugt, dass der junge Mann ein Spion sein müsse. Überhaupt: „Andy“ – ist das ein deutscher Name? Andy Sell sitzt im Wohnzimmer seiner Eltern und fährt sich mit der Hand durchs blonde Haar. Die braunen Stressflecken um die Augen sind nun schon deutlich zu erkennen. Er will von sich nicht reden und tut es doch. Wenn die Frau von der Botschaft kam, „war das immer ein Auftritt“: Sie fuhr im großen Wagen vor, klapperte herein, „hoch wichtig mit Einstecktuch am Kostüm“, beschreibt sie Andy Sell. „Ich dagegen hatte nicht mal eine Decke.“ Er habe um etwas Geld gebeten, damit er sich eine Decke und Essen kaufen konnte – „im Knast in China musst du entweder zahlen oder arbeiten“. Alle Ausländer seien bestens ausgestattet gewesen, „nur die Deutschen nicht“, sagt Andy Sell. Auch in seinem Fall habe die Botschaftsangestellte nur knapp gesagt: „Wir verauslagen nichts“ und rauschte wieder ab. Heute lacht der 37-Jährige über den Irrwitz der Szene, damals fand er es zum Heulen: „Ich stand da in meinen dreckigen Klamotten und war verzweifelt.“ Nach der 14-monatigen Haft – irgendwann löste sich der Knoten und man schob den Studenten ab – schrieb die Familie ans Auswärtige Amt. Es war, sagt Regine Sell, ein eher ratloses als zorniges Schreiben: „Wir als Eltern hatten uns so hilflos gefühlt.“ Es war der Versuch von Privatleuten, die in etwas Schreckliches hineingeraten waren, sich mit ihrem Staat auszutauschen. Der Staat reagierte, ebenfalls schriftlich: „Sofern Ihr Sohn behauptet, er habe sich während seiner Haftzeit beschwert, bestreiten wir das.“ Der bürokratische Ton und die Abwehrhaltung dieses Briefs hat die Sells verletzt, in einer Zeit, in der sie ohnehin dünnhäutig waren – Andy Sell durch das, was er im Pekinger Gefängnis gesehen und am eigenen Leib erlebt hatte, seine Eltern durch 14 Monate voller Angst um den Sohn. Sie klagten gegen das Auswärtige Amt, brachten vieles vor und wurden dennoch abgewiesen: „Das war ein Schauprozess“, sagt Harald Sell. Die Familie hat das Vertrauen in den Rechtsstaat ziemlich verloren, das wird deutlich. Mit ihrer Internetzeitung könnten sie dafür sorgen, dass andere Deutsche in Auslandshaft nicht vergessen würden, sagt Regine Sell. „Wir wollen niemanden reinwaschen, aber jeder soll einen fairen Prozess bekommen“, erklärt Andy Sell. Er hat sich eingelesen, studiert die Gesetze, fordert Akteneinsicht. Und wenn die Behörden nicht reagieren, wird geklagt – am liebsten gegen das Auswärtige Amt. Aber auch die Staatsanwaltschaft in Kiel erhielt ein Schreiben. Und in eigener Sache strebt Andy Sell erneut eine Klage an. Über seinen Fall schreibt der Lost-In-Haft-Chefredakteur in der dritten Person, über „den Deutschen S“. Frage an die Sells: Ist das eigentlich Journalismus? Andy Sell nennt seinen Stil „Recherchejournalismus“. Aber: Die Texte sind in der Regel einseitig, aus Sicht der Betroffenen geschrieben, die andere Seite kommt meist nicht zu Wort. Doch die Texte erfüllen den Zweck, an die Schicksale von Menschen zu erinnern, die sonst vergessen werden: Der Deutsche, der in China als Mörder verurteilt und hingerichtet wurde. Der Deutsche, der auf Manila in Haft sitzt, obwohl ein Gericht die Beweise gegen ihn für nichtig erklärte. „Die Leute nehmen mich als Journalisten ernst“, berichtet Andy Sell. Vor allem diejenigen, die in einem ausländischen Knast gelandet sind, greifen nach dem Strohhalm: „Mehr und mehr Deutsche melden sich bei uns und bitten um Hilfe.“ Ein Hilferuf kam von einer spanischen Ferieninsel. Im Frühjahr will „Lost in Haft vor Ort auf Mallorca recherchieren“ – vielleicht kann Andy Sell nebenbei ein bisschen Sonne tanken.
Esther Geißlinger
Der Kieler Andy Sell saß 14 Monate in chinesischen Gefängnissen, weil die deutsche Botschaft nicht half. Jetzt weist er mit einer Internetzeitung auf ähnliche Fälle hin.
[ "Gefängnis", "Repression", "China", "Kiel", "Nord", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,613
■ Aserbaidschan: Rubel rollt wieder - taz.de
■ Aserbaidschan: Rubel rollt wieder Moskau/Baku (dpa) - Aserbaidschan hat gestern überraschend die geplante Abschaffung des Rubels gestoppt. Regierungschef Husseinow unterzeichnete am Dienstag eine entsprechende Verordnung. Eigentlich sollte von Mittwoch an der Manat alleiniges Zahlungsmittel sein.
taz. die tageszeitung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,616
Mexikanische Erleuchtungen - taz.de
Mexikanische Erleuchtungen Auf Einladung des Goethe-Instituts beschworen deutsche Star-DJs in Mexiko zehn Tage lang den „Technogeist“.Die Szene dort ist zwar noch mikroskopisch klein, doch mit dem Love-Parade-Import erlebte sie ihr Coming-out Von ANNE HUFFSCHMID Die Entfernung fördert die Ehrfurcht. Eine „totale Ehre“ sei es, hier spielen zu dürfen, sagt Acid Maria. Bäuchlings liegt sie auf dem Hotelbett und schlenkert mit den Beinen. Aus dem offenen Fenster dringen Beats und Bässe hinein, im Halbdunkel ist eine hüpfende Menschenschar erkennbar. Grelle Lichtblitze zucken, daneben ragt die golden beleuchtete Kathedrale stumm und malerisch in die Nacht. Dort habe sie, erzählt die junge Münchnerin, schon bei ihrer Ankunft der Schutzheiligen des Landes, der Jungfrau von Guadalupe, eine Kerze gespendet. „Irgendwie bricht einem hier die ganze Coolness weg.“ Mexikanische Erleuchtungen. Hier, das ist mitten im Herzen von Mexiko, dem Zócalo, einem riesenhaften Platz im Zentrum der Altstadt. Wo sonst protestierende Bauern ihre Zelte aufschlagen, postaztekische Tanzgruppen tagaus, tagein mit Muscheln rasseln, arbeitslose Klempner und Bauarbeiter ihre Dienste feilbieten oder die Mariachis aufspielen, bollern heute harte elektronische Rhythmen über den Platz. „Technogeist“ lautete der Titel eines zehntägigen deutsch-mexikanischen Techno-Marathons, zu dem das Goethe-Institut neun prominente DJ's aus dem fernen Deutschland eingeflogen hatte, von Stars wie Marusha („die deutsche Madonna“), Westbam oder dem Paradenvater Dr. Motte bis zu eher introvertierten Künstlern wie dem Computer-Komponisten Porter Ricks. Vertreten waren die Münchner mit DJ Hell und eben Acid Maria, die umgehend zur Favoritin der Mexikaner wurde, die Frankfurter Fraktion mit Heiko und Yannick sowie der Jung-Berliner DJ Disko. Neben drei Raves, bei denen die Deutschen zusammen mit einem knappen Dutzend mexikanischer Kollegen nächtelang auflegten, wurde auch tagsüber am „interkulturellen Austausch“ gearbeitet, so der Veranstalter-Jargon, bei Podiumsdiskusisonen und Workshops. In mehrstündigen Crash-Kursen erläuterten Disko und seine Landsleute mit Hilfe von Schautafeln, Mixern und Plattentellern liebevoll das kleine Einmaleins des Viervierteltakts und der Paradenlogistik, die Tricks und Tücken des Sampelns und Remixens, die Grundzüge der DJ-Profession und der Gründung unabhängiger Labels – Entwicklungshilfe, um auch Mexiko auf den Stand einer „Raving Society“ zu bringen. Doch die Veranstaltung bot auch für die angereisten Techno-Botschafter manchen Lerneffekt. Für viele war es neu, dass Mexiko jenseits von Salsa, Merengue und Mariachi eine selbstbewusste, wenn auch noch mikroskopisch kleine Elektronikszene zu bieten hat. Die ersten Techno-Importe fanden, Anfang der Neunziger, als Mitbringsel jetsettender Oberschichtskids zunächst nur in exklusiven Clubs Verbreitung. Öffentliche Raves waren lange als Stätten potenzieller Drogen- und Sexexzesse tabuisiert; erst Gastauftritte ausländischer Star-DJ's verschafften der Szene einen halbwegs legalen Status. Das Treffen mit den Alemanes dient den Mexikanern daher nicht zuletzt dazu, „die Membran des Undergrounds zu durchbrechen“, so DJ Klang, gelernter Toningenieur und Veteran des mexikanischen Elektronik-Sounds. Auch Arturo Saucedo, mexikanischer Ko-Organisator vom „Technogeist“, hofft auf die Weiterentwicklung der Szene. Elektronische Experimentierfreudigkeit wertet er als „Aufbegehren“, von „kulturellem Guerillakrieg“ spricht gar der Musikkolumnist Pacho. In den noch immer extrem geregelten Tanz-, Musik- und Alltagsritualen des modernen Mexiko scheint Techno, zumindest in seiner experimentellen Variante, tatsächlich widerständige Energien zu bergen. Das finden auch die Mitglieder des Techno-Kollektivs „Parador Análogo“, das sich jeden Donnerstag in „La Perla“, einem schmuddeligen Cabaret im Stadtzentrum, trifft. Von der Decke hängen Fischernetze, Pappfrüchte und alte Schallplatten, die Wände sind mit Flyern gepflastert. In einer leicht erhöhten Ecke legen die jungen Männer – weibliche DJ's sind auch in Mexiko eher rar – vor einer silbrigen Riesenmuschel ihre Scheiben auf. DJ Colcha grinst herausfordernd: „Es geht bei unserer Musik um Liebe“, meint der junge Mann im Rollkragenpullover, „und wenn Liebe ernst genommen wird, dann ist das revolutionär.“ Hier ist das Wort von der Liebesparade noch ein Versprechen auf die Zukunft. Tatsächlich ein wenig revolutionär klingen jedenfalls schon die ersten Versuche, in der globalen Techno-Community eigene, unterscheidbare Soundkonturen zu gewinnen. Während verschiedene Gruppen schon länger mit der Fusion prähispanischer und synthetischer Musikelemente experimentieren, wurde in Tijuana, dem Grenzland zu den USA, vor wenigen Monaten eine neue Strömung geboren: der Nortec, die elektronische Verfremdung von Rhythmen aus der Volksmusik des Nordens, dem norteño, oder der swingenden Cumbia. „Wir wollten nicht länger wie alle anderen klingen“, erklärt DJ Bostich die Annäherung. Pepe Mogt alias DJ Fussible, der zeit seines Musikerlebens mit elektronischen Sounds experimentiert, führt in einem der Workshops vor, wie sein Sound-Recycling funktioniert: Elektronisch manipulierte Trompeten und Klarinetten, Pauken und Percussion werden mit Breakbeats oder Elementen des Minimal-Techno am Mischpult zu einem neuen, „multikulturellen“ Track gemixt. DJ Hell ist so begeistert, dass er eines der Nortec-Stücke ins Programm seines Independent-Labels aufnehmen will. Ob so etwas nicht auch mit deutscher Volksmusik denkbar sei? Heftiges Kopfschütteln. „So was soll man nicht mal denken“, so der Münchner streng, „bayrische Blaskapellen musste ich früher immer beim Mittagstisch hören.“ Außerdem, argumentiert Hell, sei die populäre Volksmusik in Mexiko, im Unterschied zum strammen deutschen Sound, von in sich gebrochenen Rhythmen geprägt, ergo mixfähiger. Im Sommer wollen die DJs Bostich und Fussible bei der Love Parade erstmals einen mexikanischen LKW bestücken. Der Berliner Mega-Rave ist bei Fans und Machern in Mexiko noch immer ein Mythos: kaum einer, der nicht gerne mal dabei wäre. Kaum einer aber auch wird sich das leisten können: für einen Lautsprecherwagen müssen, ohne alle Reisekosten, „mindestens“ 30.000 Märker kalkuliert werden, rechnet Dr. Motte vor. Billiger kommt da das Selbermachen. Am Samstagnachmittag liegt feiner Nieselregen in der Luft, der goldene Unabhängigkeitsengel (der, welch passendes Bild, der Berliner Siegessäule täuschend ähnlich sieht) ist grau umwölkt. Zu seinen Füßen setzen sich die vier Lastwagen, umringt von hunderten herausgeputzten Techno-Kids, träge in Bewegung, über den Prachtboulevard Richtung Stadtzentrum. Wie eine Welle schwillt der Zug Meter für Meter an, und bald verschmelzen alle zu einer tänzelnden Masse. Von irgendwoher reihen sich ein Dutzend Stelzentänzer ein, die an die Spitze der Parade staksen. Am Straßenrand gibt es freundliche Befremdung über das ungewohnte Stampfen. Die Musikanlage sei zwar „miserabel“, berichtet Yannick, aber sonst findet er alles „richtig geil“. Durch enge Gassen ergießt sich die Menge schließlich auf den Zocálo. Es regnet inzwischen in Strömen, was aber niemanden zu kümmern scheint. Bis zum Morgengrauen geht keiner nach Hause. „Alle benahmen sich wie Kinder mit einem neuen Spielzeug“, steht am nächsten Tag in einer mexikanischen Zeitung. Natürlich teilen nicht alle diese Begeisterung. Projektleiter Dietmar Geisendorf, der letztes Jahr schon die Einstürzenden Neubauten ins Land geholt hatte, bleibt gelassen: „Wir wollten keine Sekunde lang irgendwen provozieren.“ Paradoxerweise mutet das, was in Mexiko gar nicht als politische Demonstration, wie in Berlin, sondern nur als „kultureller Umzug“ angemeldet war, dort weit subversiver an. Endlich aus den Clubs und Kellern nach außen zu dringen, die Straße zum Klangkörper und Resonanzboden zu machen, das gleicht im autoritären Mexiko durchaus einer Art Coming-out. „Die Leute feiern hier einfach sich selbst“, sagt der Frankfurter Heiko und fühlt sich an frühere, bessere Zeiten erinnert. „Bei denen brennt das Feuer noch lichterloh.“ Es klingt fast ein wenig wehmütig.
ANNE HUFFSCHMID
Auf Einladung des Goethe-Instituts beschworen deutsche Star-DJs in Mexiko zehn Tage lang den „Technogeist“.Die Szene dort ist zwar noch mikroskopisch klein, doch mit dem Love-Parade-Import erlebte sie ihr Coming-out
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,656
Ex-Finanzminister Griechenlands: Der Minister und sein Plan B - taz.de
Ex-Finanzminister Griechenlands: Der Minister und sein Plan B Gianis Varoufakis ist nicht mehr im Amt, doch er steht noch immer im Rampenlicht. Er wollte keinen Grexit, aber die Medien sind gut im Fabulieren. Er wollte nie einen Grexit vorantreiben – unterstellt bekommt er es aber gerne. Foto: dpa BERLIN taz | Wenn die internationalen Gläubiger sich in Athen heute wieder zu Kredit-Verhandlungen mit der griechischen Regierung treffen, werden sie Gianis Varoufakis wohl nicht begegnen. Seit drei Wochen ist er nur noch ein einfacher Abgeordneter. Ein Medienereignis ist der 54-jährige Wirtschaftswissenschaftler allerdings auch nach dem Rücktritt als Finanzminister geblieben. Seine „Radical Chic“-Aura lässt deutsche Wochenmagazine um die Wette hetzen, wer schneller die große Homestory aus seinem Penthouse mit Blick auf die Akropolis bekommt. Gleichzeitig fabulieren Tageszeitungen über einen „Staatsstreich“, den Varoufakis angeblich vorbereitet haben soll. Hintergrund der jüngsten Berichte über den vermeintlichen „Drachmen-Putsch“ ist eine Telefonkonferenz von Varoufakis mit internationalen Hedgefonds-Mitarbeitern am 16. Juli. Die konservative griechische Tageszeitung Kathimerini hat einen ihr zugespielten Mitschnitt veröffentlicht. In dem Gespräch erläutert Varoufakis, dass ihm der heutige Premier Alexis Tsipras vor dem Syriza-Wahlsieg im Januar grünes Licht gegeben habe, an einem „Plan B“ zu arbeiten – und zwar für den Fall der Fälle, dass die Europäische Zentralbank (EZB) den griechischen Banken den Saft abdreht. Sein kleines fünfköpfiges Team im Finanzministerium habe an einem parallelen Zahlungssystem gefeilt, teilte Varoufakis den Hedgefondsmanagern mit. Dafür habe er sich klandestin mittels eines befreundeten amerikanischen IT-Professor Zugang zum System der obersten Steuerbehörde Griechenlands beschafft, weil die unter der Kontrolle der Gläubiger-Institutionen stand. Die Umstellung vom Euro auf die Drachme sollte, falls nötig, „über Nacht mit einem Knopfdruck“ erfolgen. Das hätte „uns eine Atempause nach der durch die EZB verursachten Bankschließung verschafft“. Neues TauziehenWie geht‘s weiter? Ab heute verhandeln Vertreter von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds mit der Regierung über das „3. Hilfspaket“ – rund 50 Milliarden Euro.Gibt‘s einen Zeitplan? Athen muss am 20. 8. knapp 3,2 Milliarden Euro an die EZB zurückzahlen, im September noch 1,5 Milliarden Euro an den IWF. (dpa) Ausdrücklich kein Grexit Laut Kathimerini wurde die Konferenz mit dem Wissen von Varoufakis mitgeschnitten. Der hat inzwischen die Authentizität bestätigt. Dass er einem geheimen Grexit-Plan gearbeitet habe, wies er allerdings vehement zurück. Tatsächlich lässt sich eine solche Interpretation nur schwer aufrechterhalten. In dem Gespräch betonte Varoufakis eindringlich, dass die Regierung kein Mandat der Bevölkerung gehabt habe, aus dem Euro auszutreten. Das sei vielmehr die Linie des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble, der „auf Teufel komm raus“ nach wie vor einen Grexit wolle – wegen der disziplinierenden Wirkung auf andere Eurozonen-Staaten wie Frankreich. Der Auftrag für die griechische Regierung habe darin bestanden, mit der Eurogruppe hartnäckig um eine tragfähige Vereinbarung zu ringen. Auch wenn es jetzt erst Wellen schlägt: Dass Varoufakis einen „Plan B“ in der Tasche hatte, ist eigentlich keine Neuigkeit. Bereits im ersten Interview nach seinem Rücktritt, das am 13. Juli in der britischen Wochenzeitung New Statesman erschien, hatte er das Geheimnis gelüftet – und auch verraten, was aus seinen Planspielen geworden ist. Um die Bevölkerung auf eine solche Notfallplanung vorzubereiten, „müsste eine Entscheidung der Regierungsspitze getroffen werden – und diese wurde nie getroffen“. Denn Tsipras und eine Mehrheit des engsten Syriza-Regierungskreises waren dagegen: „Von sechs Leuten waren wir eine Minderheit von zwei.“ Für Putschgerüchte geben die Äußerungen von Varoufakis wenig her. Dass sie trotzdem mit solcher Vehemenz in den Medien zu lesen sind, liegt an einer anderen Begebenheit, mit der Proeuropäer Varoufakis allerdings gar nichts zu tun hat: einem Treffen der „Linken Plattform“ von Syriza am 14. Juli. „Wahnsinnige“ entlassen Einen Tag, nachdem Tsipras mit ernüchterndem Ergebnis von dem Sondergipfel der Euro-Staats- und Regierungschefs zurückgekehrt war, traf sich der linke Parteiflügel im Drei-Sterne-Hotel Oscar in Athen zur Krisensitzung. Angeführt von dem damals noch amtierenden Energieminister Panagiotis Lafazanis schworen sich die Versammelten ein, sich dem EU-Diktat nicht beugen zu wollen. Jetzt käme nur noch ein „linker“ Grexit infrage, fanden sie. Was wenig überraschend ist, denn den propagiert der EU-Gegner Lafazanis schon seit Jahren. Doch Mehrheiten konnte das Mitglied des Zentralkomitees mit seinem Kurs innerhalb von Syriza bisher nicht gewinnen. Von den 149 Syriza-Abgeordneten werden weniger als 30 der Plattform zugerechnet. Zu den Überlegungen, die auf dem Treffen angestellt wurden, soll auch gehört haben, die griechische Notenbank unter stattliche Kontrolle zu stellen und deren Gouverneur Giannis Stournaras zu verhaften. Als Tsipras davon erfuhr, soll laut Handelsblatt nur gesagt haben: „Wir haben uns mit Wahnsinnigen eingelassen.“ Lafazanis dementiert, dass es solche Planspiele gegeben hat. Die Vorwürfe seien eine Mischung aus „Lügen, Fantasie, Angstmache, Spekulation und Antikommunismus“. Wenige Tage nach dem Treffen der „Linken Plattform“ und nachdem ihre Mitglieder im Parlament das erste Reformpaket abgelehnt hatten, wurden Lafazanis & Co. von Tsipras ihrer Ämter in der griechischen Regierung enthoben.
Pascal Beucker
Gianis Varoufakis ist nicht mehr im Amt, doch er steht noch immer im Rampenlicht. Er wollte keinen Grexit, aber die Medien sind gut im Fabulieren.
[ "Yanis Varoufakis", "Grexit", "Griechenland", "Krise in Griechenland", "Ökonomie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,715
Neue Musik aus Berlin: Grooven mit Erich Fromm - taz.de
Neue Musik aus Berlin: Grooven mit Erich Fromm Das „Glücklichsein als Maske“: Der nigerianische Musiker Wayne Snow verbindet auf „Figurine“ gekonnt Soul, Jazz, Afropop und elektronische Musik. Glücklichsein als Spiel zum Verlieren?: Wayne Snow spielt frei nach den Gedanken von Erich Fromm Foto: Wayne Snow Es ist eigentlich ein mittelschweres Wunder, dass Wayne Snow noch nicht auf sämtlichen Hype-Listen auftaucht, wenn es um Musik aus Berlin geht. Vor acht Jahren kam der ursprünglich aus Nigeria stammende Musiker aus Frankreich nach Deutschland, er arbeitete u. a. bereits mit dem Produzenten Max Graef zusammen und sang bei dem Elektro-/Jazz-/Fusion-Projekt Moe Fabrik. tazplanDer taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz. Das AlbumWayne Snow: „Figurine“ (Roche Musique) | waynesnow.bandcamp.com/album/figurine; Wayne Snow live am 8. Dezember im Gretchen Kürzlich erschien sein zweites Soloalbum „Figurine“, und was Snow darauf insbesondere mit seiner Stimme veranstaltet (etwa in „Figurine“ oder „Faceless“) und an kompositorischen Skills aufbietet, ist beeindruckend. Er selbst nennt die großen Künst­le­r:in­nen mit nigerianischem Background – den Afrobeat von Fela Kuti, Afropop und Jùjú von King Sunny Adé sowie den soften Soul/R’n'B von Sade – als Einflüsse. Das Album dürfte aber auch Fans von Stevie Wonder, D’Angelo oder Prince zusagen. Manche Stücke auf „Figurine“ driften ins Jazzige ab („FOM“), andere mögen es funky und lassen das Tanzbein zucken („Nina“), wieder andere kommen ruhig und balladesk daher („Number One“), wohingegen das Titelstück mit einer schön vor sich hin brummenden elektronischen Grundlage überzeugt. Überraschen mag auf den ersten Blick, dass Snow sich auf dem Album mit Erich Fromms Konzept des „Glücklichseins als Maske“ aus den 60ern und 70ern auseinandersetzt. Doch hört man im Song „Figurine“ die Verse („I don’t wanna play this game/ I don’t wanna lose again“), wird klar, dass diese Theorie durchaus noch immer seine Gültigkeit hat – oder sogar mehr als je zuvor.
Jens Uthoff
Das „Glücklichsein als Maske“: Der nigerianische Musiker Wayne Snow verbindet auf „Figurine“ gekonnt Soul, Jazz, Afropop und elektronische Musik.
[ "Jazz", "Funk", "taz Plan", "Berlin", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,731
Nebenkläger im NSU-Prozess: Nicht nur passive Zuschauer - taz.de
Nebenkläger im NSU-Prozess: Nicht nur passive Zuschauer 77 Überlebende der NSU-Anschläge und Opferangehörige nehmen am Prozess teil. Noch nie gab es in einem Staatsschutzprozess so viele Nebenkläger. Adile Şimşek, Witwe des ersten Opfers, Enver Şimşek, am Morgen des ersten Verhandlungstages in München. Bild: reuters BERLIN taz | Semiya Simsek, Tochter des ersten NSU-Opfers, hat schon klargemacht, dass sie im Prozess gegen Beate Zschäpe eine aktive Rolle spielen will. Sie werde „nicht nur eine passive Zuschauerin“ sein, sagte sie vor wenigen Wochen in Berlin. Sie hat viele Fragen, vor allem aber diese eine: Warum mein Vater? Simsek ist eine von 77 Nebenklägern, die in München mit ihren insgesamt 53 Anwälten an dem Verfahren teilnehmen werden. Neben den Angehörigen der zehn Mordopfer werden auch Überlebende der beiden Bombenanschläge des NSU in Köln unter ihnen sein. Das gab es in einem Staatsschutzprozess in diesem Ausmaß noch nie. Um allen Teilnehmern auf dem Parkett Platz zu bieten, musste der Gerichtssaal umgebaut werden, Presse und andere Zuschauer kommen auf eine Empore. Mit einer Reform des Opferschutzgesetzes wurden vor vier Jahren die Rechte von Nebenklägern nochmals erweitert. Sie und ihre Anwälte können jederzeit Erklärungen abgeben, Beweisanträge stellen, Zeugen und Angeklagte befragen und am Ende des Prozesses auch plädieren. Einige von ihnen werden dabei sicher auch die politischen Dimensionen dieses Prozesses thematisieren: das jahrelange Versagen der Polizei, die Rolle der Geheimdienste und der V-Leute in der Neonaziszene. Gamze Kubasik, Tochter des achten NSU-Opfers, fragte jüngst in einem Interview: „Welche Rolle spielt der Verfassungsschutz? Wieso wurden Akten geschreddert? Und wieso haben diese ganzen Ermittlungsfehler für niemanden Konsequenzen?“ Versagen der staatlichen Stellen „Meinen Mandanten geht es nicht um die Höchststrafe, sondern um Aufklärung“, sagt auch die Rechtsanwältin Edith Lunnebach. Sie vertritt einen Deutschiraner und dessen Tochter, die bei einem Anschlag des NSU in einem Geschäft in Köln 2001 schwer verletzt wurde. Allein dass der Verdacht aufgekommen sei, staatliche Stellen könnten Neonazis gedeckt haben, ist für Lunnebach eine „Katastrophe“. Doch beim Münchner Oberlandesgericht schien man schon im Vorfeld die Erwartungen der Betroffenen herunterdimmen zu wollen. Gerichtspräsident Karl Huber teilte Mitte März mit, dass er es natürlich respektiere, wenn die Nebenkläger ihre Rechte wahrnehmen. „Die Herausforderung für das Verfahren ist aber die Vielzahl der Nebenkläger“, so Huber. „Ich gehe davon aus, dass der Gesetzgeber dies so nicht bedacht hat.“ Auch der Hoffnung, das Staatsversagen könnte im Prozess mit aufgearbeitet werden, verpasste Gerichtspräsident Huber einen Dämpfer. „Das Gericht ist kein weiterer Untersuchungsausschuss“, teilte er mit, „sondern es hat ein Verfahren durchzuführen, dessen gesetzliches, vorrangiges Ziel die Frage der individuellen Strafbarkeit der Angeklagten, von deren Schuld oder Teilschuld ist“. Dabei war das Wort „vorrangig“ dick unterstrichen.
Wolf Schmidt
77 Überlebende der NSU-Anschläge und Opferangehörige nehmen am Prozess teil. Noch nie gab es in einem Staatsschutzprozess so viele Nebenkläger.
[ "NSU-Prozess", "Nebenkläger", "Rechter Terror", "Rechtsextremismus", "Zschäpe", "Rechter Terror", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,756
In dem Blatt kommt kein Blatt vor den Mund - taz.de
In dem Blatt kommt kein Blatt vor den Mund Gegen Machtmissbrauch und Behördenwillkür: Die „hiz“ hat sich als Sprachrohr für Hamburger Initiativen gegründet Nachwuchs für die Hamburger Zeitungslandschaft: Am Freitag der vergangenen Woche erschien die erste Ausgabe der Hamburger Initiativenzeitung (hiz) mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren. Hervorgegangen ist das neue Blatt aus der Walddörfer Umweltzeitung (WUZ). Es will Bürgerinnen und Bürgern Gehör verschaffen und Initiativen ermöglichen, ihre Ideen und Anliegen über einzelne Stadtteile hinaus in der ganzen Hansestadt bekannt zu machen. „Die Menschen im Hamburger Osten sollen erfahren, wie sich eine Initiative südlich der Elbe gegen Behördenwillkür gewehrt hat“, erklärt Herausgeber Ralf Flechner das Konzept der Zeitung. „Der Machtmissbrauch im Hamburger Norden soll sich in den westlichen Stadtteilen nicht wiederholen können.“ Initiativen, Verbände und Vereine aus dem sozialen, kulturellen und (umwelt-) politischen Bereich können die hiz als Forum nutzen. In der ersten Ausgabe geht es unter anderem um die Proteste von Hamburger Umweltverbänden in der Stadtentwicklungsbehörde (taz berichtete), die Überdeckelung der A 7 nördlich des Elbtunnels oder das Volksbegehren von „UnserWasserHamburg“ (UWH) gegen die Privatisierung der Wasserwerke. Aktive Bürger selbst liefern der zweimonatlich erscheinenden Zeitung ihre Beiträge, Termine und Positionen und können sich dafür nach deren Erscheinen ihre Exemplare zum Verteilen in Depots in der Stadt abholen. Die hiz soll kostenlos verbreitet werden, um ein breites Spektrum an Menschen zu erreichen. Das Blatt wirbt mit dem Slogan „Unabhängig, überparteilich, von unten“, ist aber selbst von Anzeigen abhängig. Mit diesem Widerspruch sind die Macher selbst nicht ganz glücklich. Was eine Zeitung, die nur alle zwei Monate herauskommt, an Aktualität nicht leisten kann, soll ein Internetauftritt übernehmen: Unter www.initiativenzeitung.org finden sich ab sofort neueste Nachrichten über bürgerliches Engagement.Anna Nieweler
Anna Nieweler
Gegen Machtmissbrauch und Behördenwillkür: Die „hiz“ hat sich als Sprachrohr für Hamburger Initiativen gegründet
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,791
Ein Jahr nach der Attacke aufs Kapitol: Mär vom gestohlenen Land - taz.de
Ein Jahr nach der Attacke aufs Kapitol: Mär vom gestohlenen Land Die Attacke auf das Kapitol war Ausdruck einer Verbitterung. Noch immer wirken die, die sich ihr Land zurückholen wollen, als disruptive Kraft. Boston am 5. Januar 2022: der junge Mann wünscht sich eine Wiederwahl von Donald Trump Foto: Keiko Hiromi/imago Vor einem Jahr neigte sich das Delirium der Trump-Präsidentschaft, jene große Blamage der amerikanischen Nation, ihrem Ende zu. Zuvor hatten wir quälende Wochen durchlebt, in denen Trumps Helfershelfer immer neue ebenso absurde wie aussichtslose Klagen gegen die Wahlergebnisse anstrengten. Darunter Rudy Giuliani, der zwischen einem Porno-Buchladen und einem Gartencenter eine Pressekonferenz abhielt, bei der ihm schwarze Haarfärbetinktur das Gesicht herablief. Mir fiel es lange schwer, die vier Jahre von Trumps Herrschaft per Massenkundgebung ernst zu nehmen. Am 6. Januar schalteten die TV-Stationen nach Trumps Rede zum Kapitol um, zu dem Hunderte seiner Anhänger strömten. Ich ging davon aus, dass die Dinge aus dem Ruder laufen würden – doch am Ende würden sie alle von der Polizei vertrieben werden. Verblüfft verfolgte ich dann, wie die Menge die Polizisten überwältigte und mit Knüppeln auf sie eindrosch, Metallbarrieren und kugelsichere Glastüren durchbrach und durch die Gänge im Kapitol zog, Akten durchwühlte und Jagd auf Kongressmitglieder machte, die im Labyrinth von Zimmern und Tunneln sichere Orte suchten. Ein einsamer Reporter hockte verborgen in einem Winkel und konnte hinterher alles berichten. 700 Teilnehmer wurden für ihre Beteiligung an dem Angriff angeklagt. Nicht alle gehörten extremistischen Gruppen wie den Proud Boys an oder waren Anhänger von QAnon. Es waren auch normale Bürger:innen, Armeeveteranen, Geschäftsleute, die überzeugt waren, dass man Donald Trump den Wahlsieg gestohlen hatte. Als ob es wahr würde, wenn man es immer wieder behauptet. Trotz der fünf Todesopfer am 6. Januar weigern sich die Republikaner, zur Aufklärung der Frage beizutragen, ob Trump bewusst die heiligen Regeln des Kongresses brechen wollte, um an der Macht festzuhalten. Dies ist der Punkt, an dem die aktuellen Entwicklungen in meinen Augen eine echte Gefahr bilden: „Es ist so, weil ich es sage“ ist eine Fortsetzung des Autoritarismus, mit dem Trump sein Amt geführt hat und den die Republikaner zu ihrem Programm gemacht haben. Teil­neh­me­r:in­nen an der Attacke auf das Kapitol zeigen in Interviews keine Reue. Ihre Aktionen waren Ausdruck ihrer Verbitterung darüber, dass man sie übersehe. Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass ihr Land sich in eine falsche Richtung bewege, mit zu offenen Grenzen, mit einer Gesellschaft, in der Hautfarben und Gender fließend sind, in der angebliche Traditionen und Werte bedroht sind, die doch nur sie für wichtig galten. Sie unterstellen den linken Kräften, alles zu kontrollieren. Der Republikaner Peter Meijer, der einen Kongressdistrikt in Michigan vertritt, sieht bei ihnen „Aufstandsneid“ als Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Proteste. Mir sind in unserer Hauptstadt Landsleute begegnet, die für eine Demo angereist waren und mit ihren Flaggen für Gott und Vaterland in der U-Bahn unterwegs waren. Sie kamen sich fühlbar höchst fremd in dieser Umgebung vor und wagten nicht einmal, den freien Sitz neben mir in Anspruch zu nehmen. Sie taten mir fast leid. Sie sind zum Jahrestag des Angriffs auf das Kapitol nicht zurückgekehrt, aber sie bleiben überall im Land eine disruptive Kraft, sammeln Anhänger und strömen zu Treffen von Schulbeiräten und Stadtverwaltungen, schimpfen auf Lehrpläne und Maskengebote und schüren den Zorn nicht nur auf eine gestohlene Wahl, sondern auf jene, die ihnen ihr Land weggenommen haben, das sie sich nun zurückholen wollen. Aus dem Englischen Stefan Schaaf
Brenda Wilson
Die Attacke auf das Kapitol war Ausdruck einer Verbitterung. Noch immer wirken die, die sich ihr Land zurückholen wollen, als disruptive Kraft.
[ "Donald Trump", "Kolumne Fernsicht", "Kolumnen", "Gesellschaft", "Serie", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,792
IOC-Chef hilft World Games - taz.de
IOC-Chef hilft World Games DUISBURG taz ■ Jacques Rogge, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), wirbt in einem Schreiben an die Nationalen Olympischen Komitees für die World Games 2005 in Duisburg. „Die World Games spielen eine bedeutsame Rolle im Netzwerk der Olympischen Bewegung, in der sie eine unschätzbare Gelegenheit für Aktive aus nicht-olympischen Sportarten sind, ihr eigenes Multi-Sport-Event als Mitglieder ihrer National-Mannschaften zu zelebrieren“, schreibt der IOC-Chef etwas umständlich. Der weiteren Entwicklung der World Games sehe er „zuversichtlich“ entgegen, sagte Rogge und ermutigte alle NOKs dieses „wichtige Ereignis“ zu unterstützen. Die World Games finden vom 14. bis 24. Juli 2005 in Duisburg sowie in den Partnerstädten Bottrop, Oberhausen und Mülheim statt. Zu dem Sportereignis werden nach Angaben der Organisatoren über 500.000 Besucher erwartet. Mit dem Motto „Deutschland kann‘s. Duisburg zeigt‘s!“ soll in den nächsten Monaten Werbung für die Weltspiele der nicht-olympischen Sportarten wie Kegeln, Snooker, Body-Buildung, Korfball und Tauziehen gemacht werden. TEI
TEI
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
11,909
■ Ernst Nolte plädiert in der FAZ für eine Rechtspartei: Feldherr der Rechtsfront - taz.de
■ Ernst Nolte plädiert in der FAZ für eine Rechtspartei: Feldherr der Rechtsfront What's right? lautete die Frage, auf die das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Wochen hinweg eine richtungweisende Antwort erwartete – allein die Zielvorgabe fiel diffus aus, auch die Wiederbelebung der Nation taugte bislang nicht, die intellektuellen Bemühungen zu focussieren. Die neokonservative Debatte dümpelt orientierungslos vor sich hin. Dem wollte am Wochenende, gleichfalls in der FAZ, der Historiker Ernst Nolte Abhilfe schaffen. Der Doyen der Neuen Rechten gab in geradezu verblüffend pragmatischer Weise dem eigenen Lager Halt und Richtung. Dem deutschen Parteiensystem, so lautet die Quintessenz seines kurzen Aufsatzes, fehle es an einer „radikalen und demokratischen Rechtspartei“. Nun mag diese Diagnose auf den ersten Blick selbst Konservative irritieren, gelang es den christdemokratischen Parteien doch gerade noch mal, was schon keiner mehr vermutet hatte: den rechten Rand wieder einzubinden. Nolte, Meister der interpretatorischen Rechtfertigung dessen, was sich die extreme Rechte nicht zu sagen traut, begründet denn sein Anliegen auch nicht mit einem starken rechtsradikalen Wählerpotential, das nach parlamentarischer Vertretung verlange. Ihn treibt, was die radikale Rechte schon immer zur Rechtfertigung ihrer Existenz und ihrer Aktionen ins Feld führte: das Erstarken der Linken. Im vorliegenden Fall ist es der Aufstieg der PDS, der angeblich das demokratische System Deutschlands in eine Schieflage bringe und dafür sorge, daß es „weder vollständig noch unvollständig, sondern ein Zwitter“ sei. Es ist seit der Weimarer Republik schlechte Übung der radikalen Rechten, die Kritik am demokratischen System in der Metaphorik der physischen Abnormitäten zu fassen, um solchermaßen die Gesundung des politischen (oder Volks-)Körpers als eigenes Anliegen sinnfällig zu machen. Im vorliegenden Fall hält sich Nolte gar nicht bei der durchaus debattenwürdigen Frage auf, inwieweit die PDS tatsächlich eine linke Partei ist oder ob es sich bei ihr etwa um eine temporäre Erscheinung handelt. Ihn treibt allein die Sorge, daß mit ihrer Existenz sich die Mitte verschieben könnte. Diese Mitte ist in Noltes Politikbild ein statischer Kern, die träge Masse des Systems. An ihre augenblicklichen Repräsentanten in der CDU richtet sich sein Appell. Daß sie nur „eine wahre Mitte“ sei, wenn sie auch ernstzunehmende Gegner zur Rechten habe. An dem Aufsatz ist weniger die oberlehrerhafte und krude Begründung interessant als vielmehr die Handlungslogik, die freigesetzt wird. Warum sollte in diesem System der kommunizierenden Röhren, welches bei Nolte das Parteiensystem darstellt, den Part der rechten Druckkraft nicht auch die extreme oder gar die militante Rechte als ernstzunehmender Gegner der Mitte einnehmen? Daß beide bereit und in der Lage sind, haben doch die rassistischen Attacken im Kontext der Asyldebatte im vergangenen Jahr erwiesen. Es ist nicht die, im übrigen nicht neue Existenz der PDS im parlamentarischen System, die Nolte aufheulen läßt, sondern ihre seit Magdeburg insinuierte Beteiligung an der Exekutive. Deshalb schäumt die FAZ. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, läßt sie den Historiker das Arsenal rechter Drohgebärden öffnen. Gleichermaßen Warnung an die Sozialdemokraten wie Appell an die eigenen Reihen, die Stellung in den Gräben zu beziehen. Daß solchermaßen rechtsradikale Kräfte hoffähig werden, wird nicht billigend in Kauf genommen, sondern gefordert und medial gefördert. Die Tatsache, daß der Aufsatz erneut belegt, wie sehr die Rechte konzeptionell allenfalls als Reflex auf die Linke agiert, ja, daß sie die Linksfrontstellungen bezieht, die letztere schon vor Jahrzehnten verlassen hat, mithin uneingestanden ihre strategische Abhängigkeit offenbart, belegt wieder einmal die Schwäche der Rechten. Das ist aber dennoch kein Trost. Dieter Rulff
dieter rulff
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,058
Das Montagsinterview„Später waren sie alle tot“ - taz.de
Das Montagsinterview„Später waren sie alle tot“ Irma Sperling wurde 1944 unter ärztlicher Aufsicht ermordet, weil sie als geistig behindert galt. Ihre Schwester erzähltERINNERN ODER VERGESSEN Antje Kosemund hat mehr als 20 Jahre lang Informationen über das Schicksal ihrer Schwester Irma Sperling gesammelt, die als geistig behindertes Kind aus den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg nach Wien deportiert wurde Antje Kosemund, 81ist seit mehr als 20 Jahren im Landesvorstand Hamburg des Bundes der Antifaschisten und engagiert sich in der Anti-AKW-Bewegung.■ Als Zeitzeugin besucht sie Schulen und Jugendorganisationen und setzt sich für ein würdiges Erinnern an die Opfer der Euthanasie in der NS-Zeit ein.■ Nach ihrer Schwester Irma Sperling ist 1986 in Hamburg eine Straße benannt worden: der Irma-Sperling-Weg. INTERVIEW TINA STADLMAYER UND HEDWIG GAFGA taz: Frau Kosemund, Ihre Schwester Irma wurde dreimal begraben. Wie kam es dazu? Antje Kosemund: Ihr Körper wurde 1944 in einem Massengrab in Wien verscharrt, nach dem sie in der berüchtigten „Kinderfachabteilung ‚Am Spiegelgrund‘“ in Wien ermordet worden war. Ihr Gehirn, das für medizinische Versuche präpariert wurde, ist 1996 in Hamburg begraben worden. Und im Herbst 2002 wurde in einem Institut in Wien eine weitere Gehirnscheibe von ihr gefunden. Dieser sterbliche Überrest wurden 2002 in Wien beigesetzt. Ihre Nachforschungen über das Schicksal Ihrer Schwester haben mehr als 20 Jahre gedauert. Ich wollte wissen, was mit ihr und den anderen Kindern geschehen ist. Wie kann es angehen, dass Ärzte sich so prostituieren, dass sie Tausende Menschen ermorden? Als ich dann erfahren musste, dass die Wahrheit über die Morde auch nach dem Krieg noch verschleiert wurde, bin ich zornig geworden. Nach dem Krieg hat niemand nach den Euthanasie-Opfern gefragt. Wo sind die geblieben? Das wurden jahrzehntelang verschwiegen. Sie sind wieder als unwertes Leben behandelt worden. Für mich ist dieses Umgehen mit der Geschichte wie eine zweite Verfolgung. Wie haben Sie herausbekommen, dass Ihre Schwester ermordet wurde? 1983 habe ich mit meinem Vater die alten Dokumente durchgesehen und entdeckt, dass die Sterbeurkunde erst 1945 ausgestellt worden war, ein Jahr nach ihrem Tod. Das kam mir seltsam vor. Als politisch aktiver Mensch wusste ich, dass die Nazis psychisch kranke und behinderte Menschen ermordet haben. Ich schrieb an die Alsterdorfer Anstalten, wo meine Schwester in der Psychiatrie war, bevor sie 1943 mit 227 anderen Frauen und Mädchen nach Wien abtransportiert wurde. Und ich schrieb an das Psychiatrische Krankenhaus Wien, weil ich die Krankenakten sehen wollte. Wie waren die Reaktionen? Der Direktor des Krankenhauses in Wien, Eberhardt Gabriel, behauptete, es gäbe keine Krankenakten meiner Schwester und das Grab sei aufgelassen worden. Nichts davon stimmte. Wusste die Leitung der Alsterdorfer Anstalten, als die Deportation stattfand, was mit Ihrer Schwester geschehen würde? Selbstverständlich. Der damalige Anstaltsleiter Pastor Siegfried Lensch war SA-Mann, trat in der Anstalt auch in Uniform auf und hielt Fahnenappelle ab. Er wurde nach dem Krieg Pastor in Othmarschen und ist dort bis zu seiner Pensionierung geblieben. Wie haben Sie herausgefunden, dass das Gehirn Ihrer toten Schwester in Wien aufbewahrt worden ist? 1994 erfuhr ich durch einen Bericht im Fernsehen, dass sich im Psychiatrischen Krankenhaus „Baumgartner Höhe“ in Wien im Keller der Pathologie ein so genannter Gedenkraum befindet. Dort lagerten 600 bis 700 Gläser mit den sterblichen Überresten von Euthanasie-Opfern, und die Stadt plante diesen Gedenkraum zu einem Museum umzuwidmen. Ich war so entsetzt. Der Direktor der Klinik bestätigte später meine böse Ahnung, dass sich in einem der Gläser auch das Gehirn meiner Schwester befand. Wie haben Sie erreicht, dass die sterblichen Überreste Ihrer Schwester in Hamburg begraben wurden? Ich habe Einspruch gegen das Vorhaben erhoben, die Präparate öffentlich auszustellen. Ich habe Briefe geschrieben, an die österreichische Gesundheitsministerin, an den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten: Das sind sterbliche Überreste von Nazi-Opfern. Es ist unmöglich, sie den voyeuristischen Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen. Ich verlangte, dass die sterblichen Überreste meiner Schwester und der anderen Opfer aus Hamburg überführt werden, damit sie in ihrer Heimatstadt beerdigt werden können. Nach längerem Hin und Her sind tatsächlich zehn Urnen in Hamburg angekommen, die haben wir dann am 8. Mai 1996 auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt. Wissen Sie, wie Irma ermordet wurde? In der ersten Eintragung in der Krankenakte heißt es: Ein freundliches Kind, hüpft von Stühlchen zu Stühlchen und freut sich darüber. Und dann merkt man von Vierteljahr zu Vierteljahr, wie dieses Kind reduziert wird, bis sie schweigt. In Wien hat sie in den ersten acht Wochen zwölf Kilo an Gewicht verloren. Dann wurde sie mit 13 anderen Mädchen aus den Alsterdorfer Anstalten in die berüchtigte Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“ verlegt, das war die Mordstelle. Dreieinhalb Monate später waren sie alle tot. Die Ärzte haben mit ihnen Menschenversuche gemacht, zum Beispiel Tuberkelzellen gespritzt, um irgendwelche Therapien auszuprobieren. Die Kinder waren vom Hunger geschwächt und wurden durch die ständige Gabe des Medikaments Luminal vergiftet. Der Leiter der Kinderfachabteilung, Doktor Heinrich Gross, hat übrigens nach dem Krieg an den Gehirnpräparaten seiner Opfer weiter geforscht und damit seine Karriere aufgebaut. Wann sind die Krankenakten Ihrer Schwester aufgetaucht? Die hab ich erst 2002 gekriegt, fast 20 Jahre nachdem ich sie angefordert hatte. Da hatten sie auch aufgrund unserer Initiative aus Hamburg die Institute durchsucht. In einem Institut, das für den Mörder Gross extra eingerichtet worden war, hat man auf dem Dachboden einen verschlossenen Schrank gefunden. Da waren Akten von ermordeten Patienten drin, vermutlich von denjenigen, nach denen von Familienangehörigen geforscht worden war. Was für ein Kind war Irma? „In der ersten Eintragung in der Krankenakte heißt es: Ein freundliches Kind, hüpft von Stühlchen zu Stühlchen. Und dann merkt man, wie dieses Kind reduziert wird, bis sie schweigt“ Ich kann mich daran erinnern, dass sie von meiner zweitältesten Schwester viel auf dem Arm getragen wurde. Meine Mutter konnte sich nicht so sehr um sie kümmern, weil sie schon wieder zwei Babies bekommen hatte und ständig krank war. Irma war sehr hübsch. Mit großen braunen Augen und dunklen Haaren. Wenn wir gesungen haben, dann hat sie immer im Bett gesessen, den Takt geschlagen und gestrahlt. Aber sie hat lange nicht geredet. Die psychiatrischen Gutachten aus der Zeit sind ja nicht ernst zu nehmen. „Idiotisch“ heißt es da über sie. Ich nehme an, dass sie ein autistisches Kind war. Warum haben Ihre Eltern Irma in eine Anstalt gegeben? Aus der Krankenakte habe ich erfahren, dass uns eine Nachbarin bei der Familienfürsorge denunziert hat. Sie hat gemeldet, dass es bei uns ein behindertes Kind gibt. Inzwischen war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet worden. Im Dezember 1933, kurz vor ihrem 4. Geburtstag, ist Irma dann nach Alsterdorf gekommen. Wie lebte Ihre Familie? Wir haben in Barmbek gewohnt. Meine Mutter hat uns Opernarien vorgesungen und sie hat uns immer gute Jugendbücher aus der Bücherhalle ausgeliehen. Mein Vater war Angestellter. Im Mai 1933 wurde er von der Staatspolizei abgeholt, weil er dem Antifaschistischen Kampfbund angehörte. Als er aus der Haft entlassen wurde, war er arbeitslos. Und das mit neun Kindern. Wir waren richtig arm, aber wir waren eine Familie, die auch gegenüber so genannten Autoritäten den Mund aufmachte. Haben sie Kontakt zu anderen Angehörigen von Euthanasie-Opfern? Wir treffen uns seit 1996 jedes Jahr auf dem Gelände der Alsterdorfer Anstalten. Da gibt es dann einen Gottesdienst und eine Kranzniederlegung am Gedenkstein für die aus Hamburg deportierten Euthanasie-Opfer. Es kommen aber nicht viele Angehörige, denn das Thema ist immer noch ein Tabu. Man spricht nicht darüber, dass es in der eigenen Familie einen Menschen mit einer psychischen Erkrankung gegeben hat.
TINA STADLMAYER / HEDWIG GAFGA
Irma Sperling wurde 1944 unter ärztlicher Aufsicht ermordet, weil sie als geistig behindert galt. Ihre Schwester erzähltERINNERN ODER VERGESSEN Antje Kosemund hat mehr als 20 Jahre lang Informationen über das Schicksal ihrer Schwester Irma Sperling gesammelt, die als geistig behindertes Kind aus den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg nach Wien deportiert wurde
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,125
Literaturfestival in Berlin: Sex und Weißraum - taz.de
Literaturfestival in Berlin: Sex und Weißraum Katherine Angel schreibt über weibliches Begehren, über Ficken und Geficktwerdenwollen und junge Katzen. Eine Lesung in Berlin. Katze, ungebändigt. Bild: dpa Lesen macht schön: Was für ein bekloppter Spruch. Wenn man ins Haus der Berliner Festspiele kommt, gibt es links im Foyer einen Bücherstand, und dort eine Kasse, und an der Kasse klebt der Spruch. Eine Frau im Trenchcoat fragt die Verkäuferin nach einem Buch. „Leider nein“, sagt die Verkäuferin, „wir haben hier immer nur Bücher von Autoren, die jeweils an dem Tag auch lesen.“ Direkt vor mir liegt ein Buch von Antoine de Saint-Exupéry. Etwas weiter liegt ein Buch mit dem Titel „Schöne Frauen lesen“, dahinter ein Plakat: „Buchbox – die schönsten Lesungen“. Und da vorne liegt das Buch, für das ich hergekommen bin: Katherine Angel, „Ungebändigt. Über das Begehren, für das es keine Worte gibt“, Tropen-Verlag. Eine Frau mit Hut nimmt das Buch in die Hand, blättert, streicht übers Cover und sagt: „Ein schönes Buch.“ Heute ist alles schön. Ich hole mir meine Eintrittskarte. Auf der Presseliste ist mein Name mit pinkem Textmarker angestrichen. Auch schön? Bei der Lesung sind die meisten Leute im Publikum ungefähr 50 plus. Das ist interessant, die Autorin ist viel jünger. Als Publikumshaarfarbe dominiert nachgefärbtes Mittelblond mit grauen Strähnen. „In der folgenden Veranstaltung sind als Handyklingelton nur Stöhngeräusche erlaubt“, sagt der Mann auf der Bühne, bevor er die Autorin, Moderatorin und Sprecherin vorstellt. Und uns „einen erregenden Abend“ wünscht. Oh Mann. Geh weg. Schäbiger Porno Katherine Angel liest auf Englisch, Schauspielerin Regina Gisbertz liest dann andere Auszüge auf Deutsch. Es geht um Sex am Morgen, am Abend, ohne Fesseln, mit Fesseln. Um den Unterschied zwischen gutem Porno und „misogynem, zwanghaftem, schäbigem Porno“, bei dem man sich leer fühlt – und trotzdem feucht wird. Wieso? Und wenn eine Frau sich sexuell mit einer jungen Katze identifiziert, ist das okay? Wenn sie sieht, wie ein Mann die Katze hochhebt, wenn sie sagt: „Ich fühle mich wie Lottie“, und: „Du könntest mich im Genick packen.“ – Gut? Nicht gut? Ist das unfeministisch? Die Autorin beschreibt einen Streit mit ihrem Partner. Dann: Versöhnungssex, er spritzt auf sie. „Ich liebe das. Die jähe feuchte Kühle auf mir.“ Und dann: „Dummchen. Kollaborateurin.“ Katherine Angel hat in Cambridge promoviert und forscht in London zu dem, was man „weibliche Sexualstörungen“ nennt. Darum geht es, auf nichtakademische Art, auch in „Ungebändigt“. Was, wenn eine Frau sich als Feministin sieht und sich beim Sex dem Mann unterwerfen will? Ist das falsch, irgendwie? Ist es besser, wenn sie beim Sex oben ist? Wenn sie seinen Penis nicht bewundert? Reicht es, wenn sie sich wohlfühlt? Kann Begehren gut oder schlecht sein, und: Wer darf das bewerten? Angels Buch hat viele sehr weiße Seiten. Manchmal steht auf einer Seite nur: „Fick mich. Ja, fick mich!“, oder „Ich bin so verfickt hungrig!“ Immer wieder zitiert sie Virginia Woolf, Foucault, Susan Sontag. Dazwischen der Satz: „Ich will meine eigenen Worte“ – vielleicht der wichtigste Satz im ganzen Buch. Eigenes Begehren, eigene Widersprüche, eigene Worte. „Es gibt keine Regeln. Kein Schuh passt allen.“ Später, bei Bier und Wasser mit der Übersetzerin Gertraude Krueger, die auch Monty Python übersetzt hat, der Verlagsfrau und Laura Méritt lacht Katherine Angel viel. Noch später schreibt sie auf Twitter, dass sie nicht nach London zurück will, sondern in Berlin bleiben. Das wär schön.
Margarete Stokowski
Katherine Angel schreibt über weibliches Begehren, über Ficken und Geficktwerdenwollen und junge Katzen. Eine Lesung in Berlin.
[ "Literatur", "Literaturfestival", "Sex", "Feminismus", "Buch", "Kultur", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,194
Manipulierte Fotos: Fukushima made by Photoshop - taz.de
Manipulierte Fotos: Fukushima made by Photoshop Der Atomkonzern Tepco hat Bilder von Reaktor vier manipuliert. Eine Internetredaktion entdeckte den retuschierten Reaktorzugang. Ein ordentlicher Grafiker hätte das aber besser hinbekommen. Bild: Tepco BERLIN taz | Ein offensichtlich manipuliertes Foto der Aufräumarbeiten am havarierten japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daichi sorgt für Unruhe im Internet. Das Bild steht auf der Homepage des AKW-Betreibers Tepco und zeigt eine Szene bei den Bauarbeiten am Reaktor vier. Deutlich ist zu sehen, dass das Foto an einer Stelle nachträglich bearbeitet worden ist. Am späten Dienstagnachmittag lässt der japanische Atomkonzern den brisanten Teil des Bildes ganz verschwinden. Die Bilder auf der Tepco-Homepage zeigen Ausschnitte aus den Aufräum- und Abrissarbeiten, die auf dem Gelände von Fukushima Daichi stattfinden. Langfristig sollen alle vier Reaktoren abgebaut und entsorgt werden. An der Westseite des Reaktorgebäudes, die vom Meer abgewandt liegt, befand sich früher ein Zugang zum Reaktorraum. Dieser Tunnel aus Beton wurde in den letzten Monaten abgerissen. Seine Öffnung in den Reaktorraum ist nun durch eine grobe Nachbearbeitung unkenntlich gemacht worden. Ob das Foto neben einem Schutthaufen Arbeiter oder Maschinen oder etwas anderes zeigt, ist nicht erkennbar. Der offensichtlich retuschierte Part. Bild: Tepco Die Manipulation des Bildes wurde von der englischsprachigen, aufgrund der Atomkatastrophe in Japan gegründeten Internetredaktion enenews entdeckt und ins Netz gestellt. In den Kommentaren wird Tepco ob der offensichtlich schlampigen Manipulation des Bildes mit Spott überschüttet: „Können die denn gar nichts richtig machen?“ In den Kommentaren finden sich zahlreiche Verweise auf frühere Abrissphasen. Das neue, von Tepco beschnittene Bild auf der Homepage. Bild: Tepco Am späten Dienstagnachmittag (MEZ) wurde dem japanischen Atomkonzern die schlampige Bildbearbeitung anscheinend unangenehm: Das Foto wurde aber nicht etwa gelöscht, sondern die empfindliche Stelle einfach weggeschnitten. Die absurde Erklärung zur Entstehungsgeschichte des Bildes lieferte Tempo gleich mit: „We had fabricated a part of the photo in terms of physical protection. We replaced the photo of which the fabrication may be taken inappropriate.“ Damit räumt man zumindest die mehr als peinliche Manipulation ein, bleibt aber schlichtweg unverständlich oder bestenfalls vage in der Definition. Die elementare Frage was (Menschen, der Reaktor, gar Tepco selbst) geschützt werden muss, – vor allem aber warum – bleibt unbeantwortet. Der Reaktor vier, an dem das Foto entstand, war zum Zeitpunkt des Unfalls nicht in Betrieb, sondern für Wartungsarbeiten stillgelegt. Er geriet deshalb nach Erdbeben und Tsunami am 11. März 2011 auch nicht außer Kontrolle. Allerdings befanden sich im Obergeschoss hochradiaoktive Brennstäbe, die bei einem Einsturz des Gebäudes die Anlage hochgradig verstrahlt hätten. Update: Tepco änderte die Begründung der Manipulation des Fotos in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (MEZ) erneut. Nun erkärt der Atomkonzern: „We replaced the photo for physical protection of nuclear materials.“ Aufgrund dieser selbst im Englischen unklaren Erklärung, bleibt die Frage, was Tepco eigentlich sagen möchte, nach wie vor unbeantwortet. Man habe also das Bild ersetzt, um radioaktives Material zu schützen? Oder vor radioaktivem Material?
B. Pötter
Der Atomkonzern Tepco hat Bilder von Reaktor vier manipuliert. Eine Internetredaktion entdeckte den retuschierten Reaktorzugang.
[ "Ökologie", "Öko", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,196
Aufstand der Sinti vor 40 Jahren: Die fortgesetzte Verfolgung - taz.de
Aufstand der Sinti vor 40 Jahren: Die fortgesetzte Verfolgung Der Hungerstreik von zwölf Sinti vor 40 Jahren gilt als Initialzündung für die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma. Vier Hamburger waren dabei. Zusammenhalt und politisches Bewusstsein: Der Protest der Roma und Sinti in Dachau Foto: Günter Zint HAMBURG taz | Der Karfreitag 1980 fällt auf den 4. April. In der Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau sind zwölf Sinti in den Hungerstreik getreten, darunter die KZ-Überlebenden Franz Wirbel, Jakob Bamberger und Hans Braun. Ihre Forderungen: Aufarbeitung des NS-Völkermords an den Sinti und Roma; Aufklärung über den Verbleib der NS-„Zigeunerakten“ und Beendigung der fortgesetzten Sondererfassung von Sinti und Roma durch Justiz- und Polizei. Aus ganz Deutschland reisen Familien und Unterstützergruppen an, in Pkws und Wohnwagen. In Hamburg setzen sich die Musiker und Aktivisten Tornado Rosenberg und Rudko Kawczyns­ki, der Journalist und Moderator Henning Venske sowie der Fotograf Günter Zint ins Auto und fahren die Nacht durch. „Als wir ankamen, umkreisten Nazis in ihren Autos das ehemalige KZ“, erinnert sich Venske heute. „Sie riefen Drohungen und warfen auch mit Steinen. In die Gedenkstätte ließ uns die Leitung am Anfang nicht rein.“ Es war die Zeit von Gruppierungen wie Michael Kühnens Aktionsfront Nationaler Sozialisten und der Wehrsportgruppe Hoffmann. Knapp ein halbes Jahr später kam es zu dem Attentat auf dem Münchner Oktoberfest. „Wir wollten auf das Gelände fahren und eine kleine Ausstellung aufbauen“, sagt Günter Zint. „Aber der Polizeichef untersagte das mit den Worten: ‚Sie stören die Ruhe der Toten.‘ Darauf fragte entweder Tornado oder Rudko: ‚Wessen Tote ruhen hier‘?“ Als die Gruppe dann doch auf dem Gelände war, las Zint im Gästebuch den Satz: „Dass die die hier noch sitzen ist der Beweis, dass Hitler nicht gründlich genug gearbeitet hat.“ Völkermord weitgehend verschwiegen Bis Anfang der 1980er-Jahre wurde der Völkermord an den Sinti und Roma weitgehend verschwiegen. In Polizei, Justiz und Gesundheitswesen lebten rassistische Denkmuster fort. Die Münchener „Landfahrerzentrale“ führte bis 1972 die von den Nazis geführten Listen weiter und erfasste die vormals als „Zigeuner“ eingestuften Personen nun mit Bildern und Fingerabdrücken als Landfahrer. Ähnliche Einrichtungen zur systematischen Kriminalisierung gab es in Hamburg und Nordrhein-Westfalen. „Es ging beim Hungerstreik um die Akten der ‚Zigeunerzentrale‘ im Reichssicherheitshauptamt, die nach dem Krieg in die Landfahrerzentrale nach Bayern überführt wurden und nach deren Auflösung angeblich vernichtet oder verschwunden waren“, sagt Kawczynski, heute Vorsitzender der Roma-und-Cinti-Union (RCU). „Das waren sie nicht, wie sich herausgestellt hat, sondern sie lagen in anderen Polizeidienststellen und verhinderten die Wiedergutmachungen. Das war der erste Zipfel des Rassismus, den wir ergriffen.“ Die Bürgerrechtsbewegung steckte noch in den Kinderschuhen – auch in Hamburg. Die ersten Schritte zur Emanzipation fanden im kulturellen Raum statt, im Musikclub „Onkel Pö“ in Eppendorf. „Wir haben mit Udo Lindenberg, Otto, Gottfried Böttger und vielen anderen gespielt“, sagt Tornado Rosenberg, der damals mit der Band seines Bruders Wolkly auftrat, den Swing Gypsy Rose. Zusammen mit Kawczynski war Rosenberg 1979 zu einer Aktion nach Bergen-Belsen gefahren. „Ich hatte damals schon angefangen, satirische Lieder zu machen und habe dann ‚Lustig ist das Zigeunerleben‘ umgedichtet“. Die zweite Strophe geht so: ‚Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria ho, der Staat braucht uns keine Rechte zu geben, faria faria ho. In Auschwitz waren die Duschen gar lustig und fein, da kriegte man Seife und durfte hinein, faria faria ho.‘“ Die Begegnung ist die Geburtsstunde des Duo Z, mit dem Rosenberg und Kawczyns­ki dann zwei Jahrzehnte politische Lieder sangen. „Das war für Sinti neu, die kannte man bis dahin nur mit Swing oder der sogenannten ‚Zigeunermusik‘“, sagt Rosenberg. Von Anfang an dabei war auch Henning Venske, der mit den Kindern der Familie Rosenberg zu der Zeit zwei Livesendungen im NDR-Kinderfunk machte, „die eine ziemliche Sensation waren“, wie er heute sagt. „Für die Sinti und ihre Vergangenheit hat sich damals niemand interessiert.“ Venske schrieb mit dem Duo an den Texten für die LP „Ganz anderes“ mit Titeln wie „Kind im Ghetto“ und „Im Ordnungsamt“ und verhalf ihnen zu Auftritten im Audimax und im Rundfunk. „Die Leute standen auf den Stühlen. Obwohl sie bei unseren Texten nie wussten, ob sie klatschen sollten oder nicht“, sagt Rosenberg. Günter Zint war als fotografischer Chronist der politischen Bewegungen der Zeit oft dabei. Am Rande des Zusammenbruchs Als in Dachau der Hungerstreik begann, war für die vier klar, dorthin zu fahren. „Ich habe die Stimmung als sehr bedrückend wahrgenommen“, sagt Venske. „Man spürte die Feindseligkeit und die Ablehnung, die den Sinti entgegenschlug. Ich habe versucht, ihnen die Situation etwas zu erleichtern.“ Als die öffentliche Aufmerksamkeit nachließ, fuhren sie wieder nach Hamburg, wo sie zur Unterstützung die erste große Demo der Sinti und Roma organisierten. „Das war sehr beeindruckend“, sagt Kawczynski. In Dachau waren die Hungerstreikenden am Rand des körperlichen Zusammenbruchs, wollten aber durchhalten. Erst nach einer Woche kam es im bayerischen Innenministerium durch die Vermittlung der evangelischen Kirche zu den entscheidenden Verhandlungen, die auf Seiten der Streikenden von Romani Rose geführt wurden, dem heutigen Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Die bayerische Regierung räumte ein, dass Vorurteile und Diskriminierungen abgebaut werden müssten. Zu einer politischen Verurteilung der Tätigkeit der bayerischen „Landfahrerzentrale“ konnte sich die Landesregierung nicht durchringen. Zum Abschluss des Hungerstreiks empfingen die Bürgerrechtler am 12. April 1980 Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) in Dachau. Er sagte ihnen Unterstützung zu und bezeichnete die Protestaktion als einen „ganz wichtigen Anstoß“. Münchner Akten in Hamburg Ein mittelbarer Erfolg des Hungerstreiks ist, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) 1982 erstmals für die Bundesregierung den Völkermord an den Sinti und Roma aus Gründen der sogenannten „Rasse“ in völkerrechtlich verbindlicher Weise anerkannte. „Später haben wir herausgefunden, dass viele der Akten aus München in Hamburg bei der Polizei gelandet sind“, sagt Tornado Rosenberg. „Sie haben die Listen genauso weitergeführt und ‚Zigeuner‘ weiter als Kriminelle geführt.“ Bis in die 1980er-Jahre war Hamburg durch die Weiterführung der Akten nach Ansicht von Kawczynski das „Epizentrum der rassistischen Verfolgung in Deutschland“. Nach der Auflösung der berüchtigte Polizeidienststelle 633 landeten die Akten im Staatsarchiv. Um an diese heranzukommen, initiierten die Hamburger Sinti und Roma dann selbst einen Hungerstreik in Neuengamme. „Der Hungerstreik in Dachau war die Initialzündung der Bürgerrechtsbewegung“, sagt Kawczynski. „Nach innen hat es das Selbstbewusstsein, das politische Bewusstsein und den Zusammenhalt wesentlich gestärkt. Heute haben wir in Deutschland die stärkste Bewegung in ganz Europa und es passt kein Blatt Papier zwischen die einzelnen Gruppen.“
Ralf Lorenzen
Der Hungerstreik von zwölf Sinti vor 40 Jahren gilt als Initialzündung für die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma. Vier Hamburger waren dabei.
[ "Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti", "Zentralrat Deutscher Sinti und Roma", "Sinti", "Sinti und Roma", "Völkermord", "Nord", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,201
TISCHTENNIS: Finale in Sicht - taz.de
TISCHTENNIS: Finale in Sicht Am Freitag könnten die Berliner Damen ins Champions-League-Finale einziehen - trotzdem tut sich der Sport schwer damit, Aufmerksamkeit zu bekommen Mit Ausnahme von Weltklassespieler Timo Boll tun sich Tischtennis im Allgemeinen und der ttc berlin eastside im Besonderen trotz Champions-League-Spielen schwer, Aufmerksamkeit zu bekommen. Bild: DPA Das Topspiel der Tischtennis-Bundesliga am Sonntag wird vor nur rund 200 ZuschauerInnen in der Sporthalle am Anton-Saefkow-Platz in Lichtenberg ausgetragen. Sie sind gekommen, um die Frauen vom ttc berlin eastside zu sehen, die Tabellendritten. Angereist aus dem Saarland ist als Gegner der Tabellenzweite TTSV Saarlouis-Fraulautern. Der ttc will heute mit einem Sieg die Chance wahren, deutscher Vizemeister zu werden. Doch es ist nur eines von zwei ttc-Topspielen innerhalb einer Woche: Am morgigen Freitag kommen die Ungarinnen von Budaörsi SC nach Berlin. Da geht es dann nicht um die Bundesliga, sondern um die Champions League, in der die besten Teams Europas gegeneinander antreten. Gegen Budaörsi kann der ttc den Sprung ins Finale des internationalen Wettbewerbs schaffen. Und die Chancen stehen gut: Das Halbfinal-Hinspiel gewannen die Berlinerinnen 3:1. Silber bei der EM in Danzig An diesem Sonntag, dem Tag der Generalprobe für das Champions-League-Spiel, sind die BesucherInnen in Lichtenberg aber erst einmal zur Bundesliga-Partie gekommen. Für Berlin spielen die Stammspielerinnen: Georgina Pota, Petra Lovas, Polina Mikhaylova und die deutsche Tischtennisspielerin des Jahres 2011, Irene Ivancan. Erst im Herbst holte sie Silber bei der Europameisterschaft in Danzig. Für ttc-Managerin Tanja Krämer ist die 28-Jährige ein Gewinn für den Verein: "Durch Irene haben wir auf jeden Fall Aufmerksamkeit gewonnen." Die Spielerinnen gehen an die zwei Tische, um mit den Doppelpaarungen zu beginnen. Neun Mannschaften spielen in der Bundesliga. Pro Spiel werden erst zwei Doppel und dann höchstens acht Einzel gespielt, sechs Punkte braucht ein Team, um zu gewinnen. Auf der Tribüne steht Rainer Hoffmann. "Ich habe die Mannschaft in der Kombination noch nie gesehen", sagt er. Hoffmann ist Schiedsrichter des Deutschen Tischtennis-Bundes, heute aber nur zum Zuschauen hier und extra aus Nordrhein-Westfalen angereist. Der ttc kann auf seine Unterstützung zählen: Als das Spiel beginnt, legt er den Finger auf die Lippen und schaut konzentriert zu. Nach einer halben Stunde steht es 1:1 - ein Doppel haben die Berlinerinnen gewonnen, eines verloren. "Letztendlich kommen Leute, die über Mundpropaganda von uns gehört haben - oder Tischtennisspieler", erklärt Managerin Krämer die Zusammensetzung des Publikums. Fast alle haben hier einen Bezug zum Sport, viele spielen selbst in einem Verein. Am Freitag erwartet Krämer 150 Fans zur Champions League - dann im Freizeitforum Marzahn. Für 8 Euro kann man dabei sein. "Wir möchten Marzahn-Hellersdorf durch sportlichen Erfolg repräsentieren", sagt Krämer. Das sportliche Ziel für die kommenden Jahre sei, nach mehreren Vizemeister-Titeln endlich Deutscher Meister zu werden. "Dafür fehlen uns aber 50.000 Euro", sagt die Managerin: "Um eine Nummer eins zu haben, die kein Spiel verliert." Das Jahresgehalt von Profispielerinnen variiere, so Krämer, es liege in der Regel zwischen 15.000 und 40.000 Euro. Der ttc habe insgesamt einen Gesamthaushalt von jährlich 150.000 Euro zur Verfügung. Der ttc ist Aushängeschild Für Christian Nohl, Geschäftsführer des Berliner Tischtennis-Verbands, ist der ttc berlin eastside ein Aushängeschild. Dennoch sei es für Tischtennis-Vereine natürlich schwierig, auch medial wahrgenommen zu werden. "Immerhin sind die Mitgliederzahlen in Berliner Vereinen konstant", sagt Nohl. Rund 6.500 SpielerInnen gibt es momentan - kein Vergleich zu den 116.000 FußballerInnen in der Hauptstadt. Und dennoch ist Berlin in gut einer Woche Ausrichter eines weiteren großen Tischtennis-Events: Vom 2. bis 4. März 2012 kämpfen Deutschlands TopspielerInnen um Timo Boll und Irene Ivancan im Velodrom um die Deutsche Tischtennis-Meisterschaft im Einzel und Doppel. Beim Bundesliga-Spiel zwischen dem ttc und den Saarländerinnen beobachtet Verbandsgeschäftsführer Nohl als Oberschiedsrichter die Partie. Ivancan spielt inzwischen gegen Li Fen, die derzeit beste Spielerin der Bundesliga. Nach einem starken ersten Satz verliert Ivancan dann doch noch 1:3. Auch ihre drei Teamkolleginnen verlieren ihre Einzelpaarungen - Zwischenstand ist 1:5. Damit ist für den Berliner Club höchstens noch ein Unentschieden möglich. Als sich dann jedoch auch noch Georgina Pota gegen Li Fen geschlagen geben muss, ist das Spiel nach zweieinhalb Stunden endgültig mit 1:6 verloren - und damit wohl auch die Hoffnungen auf den Meister- oder Vizemeistertitel in dieser Saison. Zu groß ist nun der Abstand in der Tabelle auf Saarlouis-Fraulautern - die jedoch könnten es nun vielleicht sogar noch einmal mit dem Tabellenführer FSV Kroppach aufnehmen. Es wäre ein großer Erfolg "Ich weiß nicht, woran es heute gelegen hat", sagt Ivancan nach dem Spiel. Nun sei es doppelt so wichtig, am Freitag in das Champions-League-Finale einzuziehen: "Ich würde mich unglaublich darüber freuen, diesen Erfolg mit der Mannschaft feiern zu können." Nach dem 3:1-Hinspiel-Sieg gegen Budaörsi reicht es dem Team, zwei Einzel zu gewinnen; auch eine 2:3-Niederlage würde also den Finaleinzug bedeuten. Es wäre der größte Erfolg der Vereinsgeschichte, sagt Managerin Krämer: "Wir wollen auf jeden Fall unsere weiße Weste behalten und ungeschlagen ins Finale einziehen."
Christian Wyrembek
Am Freitag könnten die Berliner Damen ins Champions-League-Finale einziehen - trotzdem tut sich der Sport schwer damit, Aufmerksamkeit zu bekommen
[ "Berlin", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,280
Spielerinnenproteste zur Fußball-WM: Aufstand gegen das System - taz.de
Spielerinnenproteste zur Fußball-WM: Aufstand gegen das System Profis in Frankreich, Spanien und Kanada streiken gegen ihren Verband – mit unterschiedlichem Erfolg. Etliche Spielerinnen bleiben der WM fern. Schluss jetzt! Frankreichs Abwehrchefin lässt sich nicht mehr alles gefallen Foto: dpa BERLIN taz | Es soll also endlich einmal gute Laune herrschen im französischen Team. Es gibt einen neuen Trainer. Der heißt Hervé Renard und ist bis dato im Männerfußball unterwegs gewesen. Er war bis März Trainer der Auswahl Saudi-Arabiens. Berühmt wurde seine Kabinenansprache beim Sieg seiner Saudis gegen den späteren Weltmeister Argentinien. Er wird als Stimmungskanone geschätzt. Gleich zum ersten Lehrgang unter seiner Regie erlaubte er Amel Majri ihre neun Monate alte Tochter mitzubringen. Frankreich habe in dieser Hinsicht Nachholbedarf, meinte er damals und erntete jede Menge Lob. Es war ein langer Weg, der zu solchen Gesten geführt hat. Renards Vorgängerin Corinne Diacre stand eher für einen ungesunden Druck, mit dem sie die Spielerinnen führte. Die konnten ihre freie Zeit nicht verbringen, wie sie wollten, wurden ständig überwacht und gemaßregelt. Ex-Nationaltorhüterin Sarah Bouhaddi berichtete von Tränen, die in den Zimmern vergossen wurden. Eine verdiente Mittelfeldspielerin wurde aus persönlichen Gründen aus dem Kader des Nationalteams entfernt, was sie in einem 14 Sekunden kurzen Telefonat erfahren hat. Die längst zur Legende gewordene Innenverteidigerin Wendy Renard berichtet in ihrer Autobiografie davon, dass sie von der Trainerin zeitweise nicht mal gegrüßt wurde. Und so hat sich niemand gewundert, dass ­Renard mit zwei weiteren Spitzenkräften des Teams, Marie-Antoinette Katoto und Kadidiatou Diani, Anfang des Jahres ihren Rücktritt aus der Nationalelf erklärt hat. Sie mahnten Änderungen im System an, unter dem auch ihre psychische Gesundheit leiden würde. Erzwungener Trainerinnenwechsel Am Ende haben sie sich durchgesetzt. Diacre ist nicht mehr Trainerin. Wendy Renard ist zurück im Kreis der Nationalelf, genauso wie Diani. Katoto fehlt zwar, das liegt aber an einer langwierigen Bänderverletzung. Die Spielerinnen können sich ermächtigt fühlen. Unterstützung in ihrem Kampf haben sie von Beginn an von Megan Rapinoe bekommen, der Weltmeisterin aus den USA, für die Fußball auch immer Aktivismus ist. Auch Ada Hegerberg, 2018 zur Weltfußballerin gewählt, unterstützte die Französinnen. Sie selbst hatte einst auch ihre Karriere im Nationalteam auf Eis gelegt, um gegen die frauenfußballverachtenden Strukturen in ihrem Verband zu protestieren. Weit weniger erfolgreich verläuft der Kampf spanischer Fußballerinnen gegen das System, das Auswahltrainer Jorge Vilda installiert hat. Der strebt die totale Kontrolle über seine Spielerinnen an, führt Taschenkontrollen durch und schaut bis spät in der Nacht, was die Profis in ihren Zimmern machen. Im vergangenen September sind gleich 15 Nationalspielerinnen zurückgetreten, 13 von ihnen hatten drei Monate zuvor noch bei der EM in England gespielt. Spaniens frauenfeindliche Fußballwerte Doch der Verband blieb in diesem Fall hart. Kein Wunder. Für den Frauenfußball in Spanien ist ein gewisser Angel Vilda verantwortlich, der Vater des Nationaltrainers. Der Verband sah „die Werte des Fußballs“ durch die Spielerinnen mit Füßen getreten. Wer zurückwolle ins Nationalteam, müsse sich entschuldigen. Drei der Protestierenden, Aitana Bonmati und Mariona Caldentey sowie Ona Batlle, scheinen das getan zu haben. Andere werden bei der WM fehlen – unter anderem die beim FC Barcelona so überragende Abwehrchefin Mapi León. Ob das hochbegabte spanische Team, das von der nach einer Kreuzbandverletzung genesenen Weltfußballerin Alexia Putellas angeführt wird, unter solchen Umständen weit kommen wird, ist reichlich ungewiss. Vielleicht ist es ja eine Art Trotz, der die Auswahl antreibt. Mit einer solchen Haltung geht die kanadische Auswahl ins Turnier. Die kämpft seit Jahren nicht nur um gleiche Bezahlung wie die Männer, sondern auch um ein angemessenes Umfeld für das Nationalteam. Zu einem Vorbereitungsturnier in den USA ist das Team „unter Protest“ angetreten und letztlich nur deshalb, weil die Spielerinnen ohne das Geld von der Nationalelf schlicht nicht leben können. Nun steht ihr Verband auch noch vor der Pleite, weil er sich einem Investor ausgeliefert hat, der alle Einnahmen kassiert. Der Verband hat angekündigt, sich keine weiteren Auftritte des Nationalteams mehr leisten zu können. So wird jedes Spiel der Olympiasiegerinnen um die 40-jährige Kapitänin Christine Sinclair bei dieser WM zum Schauplatz eines Existenzkampfs.
Andreas Rüttenauer
Profis in Frankreich, Spanien und Kanada streiken gegen ihren Verband – mit unterschiedlichem Erfolg. Etliche Spielerinnen bleiben der WM fern.
[ "Frauenfußball", "Fußballweltmeisterschaft", "Weltmeisterschaft", "Protest", "Streik", "Frauen-Fußball-WM 2023", "Sport", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,330
Mobilfunkgigant in China - taz.de
Mobilfunkgigant in China BERLIN taz ■ Mit 104,5 Millionen Kunden ist China Mobile jetzt der weltweit größte Mobilfunkanbieter. Damit überholt der Mobilfunkriese den britischen Vodafone-Konzern mit 103,8 Millionen Handykunden. Der Konzern machte laut eigenen Angaben im ersten Halbjahr 2002 einen Gewinn von 1,8 Milliarden US-Dollar – mehr als im gesamten Vorjahr. Seit dem Eintritt Chinas in die WTO im letzten Jahr hat die Regierung die schrittweise Deregulierung des Telefonmarktes angekündigt. So soll in absehbarer Zeit die staatliche China Telecom in zwei Gesellschaften aufgeteilt werden. Sie sollen dann, gemeinsam mit China Mobile und dessen Verfolger China Unicom, um den heimischen Markt kämpfen. Trotz der Wachstumsraten haben die Aktien der chinesischen Mobilfunkkonzerne im letzten Jahr über ein Drittel an Wert verloren. NIE
NIE
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,344
■ Arte povera aus Gelsenkirchen: Literatur auf dem Haken - taz.de
■ Arte povera aus Gelsenkirchen: Literatur auf dem Haken Wer als Autor in der ärmsten Stadt Nordrhein-Westfalens lebt, dem drängt sich irgendwann unweigerlich die Erkenntnis auf: Literatur ist für'n Arsch. So ging es dem Gelsenkirchener Jürgen Schimanek, und aus der Not machte er sogleich eine Tugend. „24 Abwischblätter mit Geschichten vom guten Ton“ hat er jüngst vorgelegt – kunterbunte Notizen tief aus dem Herzen der Ruhrprovinz, stilecht auf ein wüstes Zettelsammelsurium gedruckt. Das Ganze hat auch noch einen Haken, hübsch häßlich aus Draht zurechtgedreht und -gebogen (er gemahnt an eine dorische Säule), so daß die Prosasammlung verbraucherfreundlich an jeder Klowand befestigt werden kann. Noch heute soll sich übrigens diese Art von Zettelwirtschaft, bei der man nachhaltige Erfahrungen mit der Druckerschwärze macht, auf so manchem stillen Ruhr-Pott erhalten haben. Schimaneks aktuelles Opus – für das stimmige Design zeichnet der Düsseldorfer Peter Hölscher verantwortlich – setzt eine lange Serie ähnlich handfester und heimatverbundener Poesieobjekte würdig fort. Da gab es schon Liebesgedichte auf Schmirgelpapier oder in der schlagwetterfesten Butterbrotdose, Chefarztverse auf original Urinbeutel und Europa-Flickenlyrik an plattem Lkw-Schlauch (s. taz vom 8.12.94). Einem Gelsenkirchener Museumsleiter wurde eine Huldigung in Sülz-Surrogat zuteil, dem Generalintendanten des Musiktheaters ein Treuegedicht auf Zaunpfahl, und auch Bremsbacken, Staubsaugerbeutel und sogenannte Arschleder (aus dem Bergbau) dienten Schimaneks frohen Botschaften schon als Träger. In seiner neuen, schief und krumm aufgespießten Loseblattsammlung gibt sich der Autor, den Zeiten entsprechend, diesmal betont prosaisch. Bei 17 Prozent Arbeitslosigkeit ist guter Reim teuer. In wackeliger Schreibmaschinenschrift werden da Leserbriefe nachempfunden („Neuerdings schließt man sogar die Toiletten auf den Friedhöfen ab. Sonntag nachmittag wollte ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern auf dem Friedhof von Bolmke- Hullen dringend ...“), seltsame Behördengänge protokolliert („Und warum darf ich meinen Jungen nicht Jerome nennen?“) und verquere Dialoge beim Arzt, Fahrradhändler oder in der chinesischen Imbißbude eingefangen („Ich kuck' ja nicht auf Ihr Schoppsu, ich kuck' nur auf Ihren Mund“). Der Hausmeister des neuen SPD- Landtagsabgeordneten gibt Besuchern nützliche Bekleidungstips, damit „Se bei Diethelm gleich 'n Stein im Brett“ haben, das Martinsgansessen „bei unserer Clubkameradin Rosi“ läuft saumäßig aus dem Ruder, und im Schwimmbadspind hockt unverhofft der Bademeister und jagt Kakerlaken – die Gesundheitsdezernentin zahlt 50 Pfennig pro Stück. Kenner beachten unbedingt auch die Rückseiten dieser Abwischfetzen. Hier lassen die so getreulich besungenen Emscherländer Alltagsniederungen noch einmal grüßen. Fragmentarisch taucht Reklame für „Robot-Soft“-Handwaschpaste und „Spickermanns Leckereien“ auf, wir halten Lohnabrechnungsformulare, Reiseangebote oder Geschäftspapiere von „Heinrich Nowak, Steuerberater“ in Händen, ja, selbst eine Literaturliste zum Thema „Kunst und Umwelt“ und aktuelle Gelsenkirchener Kulturtermine haben sich an den spitzen Haken verirrt. Verschiedene Leute in der Stadt sollen schon sehr, sehr beleidigt sein. Um alles in Ruhe studieren zu können, hänge man am besten das Titelblatt vor die Tür und schließe ab: „Besetzt!“ Olaf Cless „Besetzt!“ ist derzeit noch zum Subskriptionspreis von 60 DM zu haben: Fegefeuer Press, Küppersbuschstr. 27, 45833 Gelsenkirchen. Tel.: 0209/49 84 69; Fax: 0211/70 65 95
Olaf Cless
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,368
Grüne reagieren auf Piraten in NRW: „Wir sind doch nicht ignorant“ - taz.de
Grüne reagieren auf Piraten in NRW: „Wir sind doch nicht ignorant“ Im Angesicht der Piraten: Vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen fordert die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann eine ökologisch-industrielle Revolution. Die Grünen nehmen die Herausforderung der Piraten im NRW-Wahlkampf an. Bild: reuters Frau Löhrmann, tragen Sie eigentlich aus Gründen der Corporate Identity stets einen grünen Blazer oder weil sie ihn wirklich schön finden? Sylvia Löhrmann: Beides. Ich mag die grüne Farbe wirklich, sie hat etwas Beruhigendes. Ich habe aber auch vieles in Blau. Doch wenn man schon in einer so tollen Partei ist, kann man das auch äußerlich zum Ausdruck bringen. Ihre Partei finden inzwischen nicht mehr so viele toll. Nach der jüngsten Umfrage stehen die Grünen in NRW nur noch bei 11 Prozent, vor einem Jahr waren es noch bis zu 24 Prozent. Was haben Sie falsch gemacht? Als die Umfragen für uns besonders hoch waren, gehörte ich zu jenen, die gesagt haben: Leute, bleibt auf dem Teppich. Auch jetzt lasse ich mich nicht von den Demoskopen verrückt machen. Entscheidend ist, was am 13. Mai nach 18 Uhr ausgezählt wird. Bereuen Sie es denn nicht schon, Neuwahlen provoziert zu haben? Wir haben nichts provoziert und nichts inszeniert. Man darf mit Neuwahlen nicht spielen. Das ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit. Der Maßstab für Grüne und SPD war einzig und allein: Bleibt die rot-grüne Minderheitsregierung handlungsfähig? Das war nach der Ablehnung unseres Haushalts in der zweiten Lesung nicht mehr gegeben. Es ist an der Zockerei der FDP gescheitert. im Interview:Sylvia LöhrmannFoto: reutersist ein nordrhein-westfälisches Heimatgewächs: 1957 in Essen geboren, arbeitete sie seit 1984 als Lehrerin für Englisch und Deutsch in Solingen und trat 1985 bei den Grünen ein. Die Mühen des politischen Alltags erlebte sie in den achtziger Jahren als grünes Ratsmitglied von Solingen. 1995 wurde sie als Abgeordnete in den Düsseldorfer Landtag gewählt. Im November 2009 stellte ihre Partei sie erstmals als nordrhein-westfälische Spitzenkandidatin auf. Seit Juli 2010 war sie Ministerin für Schule und Weiterbildung und Vizeministerpräsidentin in der rot-grünen Minderheitsregierung, die im März dieses Jahres platzte. Ihre schwächelnden Umfrageergebnisse liegen im Bundestrend. Wie zufrieden sind Sie sie eigentlich mit Ihrem Berliner Spitzenpersonal? Ich bin froh darüber, dass wir in Berlin mehrere authentische und glaubwürdige Führungspersönlichkeiten haben, die für unterschiedliche Zielgruppen und Themenfelder stehen – von gelungener Integration über Verbraucherschutz bis hin zu Finanz- und Europakompetenz. Wen wünschen Sie sich als Spitzenkandidatin oder -kandidaten? Ich wünsche mir ein Duo. Sie meinen also Sebastian Nerz und Marina Weisband? Die Piraten rangieren ja inzwischen vor Ihrer Partei. Wohl kaum. Die Umfrageschwankungen zeigen doch nur, dass sich niemand einbilden kann, Wählerinnen und Wähler für immer gepachtet zu haben. Selbstverständlich ist die Piratenpartei für uns eine Herausforderung. Auch wenn es vornehmlich ihre Anmutung ist, die im Moment den Zuspruch auszumachen scheint, und weniger die Frage der inhaltlichen Konsistenz ihres Programms, setzen wir uns sachlich mit ihnen auseinander. Haben Sie sich mal das Programm der Piraten angeschaut? Wir sind doch nicht ignorant. Deshalb hat mich auch die Aussage des FDP-Spitzenkandidaten Christian Lindner schon verwundert, dass er die Piratenpartei nicht ernst nehmen würde. Gerade er sollte sie ernster nehmen, weil nicht unwesentliche Teile von Zuschreibungen, die bei der FDP mal verortet waren, auf die Piratenpartei zutreffen. Es ist kein Zufall, dass Manche aus der Piratenpartei sich selbst als „die neue FDP“ bezeichnen. Manche erinnern die Piraten eher an die frühen Grünen. Vielleicht oberflächlich betrachtet und meinetwegen auch in Bezug auf ihren basisdemokratischen Anspruch. Aber damit können wir selbstbewusst umgehen: Wer hat denn die Basisdemokratie erfunden? Zeigt der Erfolg der Piraten nicht ein großes Bedürfnis nach mehr Basisdemokratie? Das Prinzip, wir machen Betroffene zu Beteiligten, gab es schon vor der Piratenpartei. Wir haben mit der rot-grünen Minderheitsregierung mehr direkte Demokratie in Nordrhein-Westfalen durchgesetzt: von der Erleichterung von Bürgerbegehren bis zu der Schaffung der Möglichkeit, dass Bürgerinnen und Bürger selbst die Abwahl von Bürgermeistern einleiten können. Schmerzt es Sie nicht, dass die Grünen inzwischen auch in NRW hinter den Piraten liegen? Die entscheidende Frage ist doch: Will man einer Regierung, die gute Arbeit geleistet hat, jetzt eine klare Mehrheit geben, damit sie ihre Arbeit fortsetzen kann? Oder riskiert man aus einem diffusen Gefühl heraus, es „denen da oben“ mal zeigen zu wollen, am Ende bei einer großen Koalition zu landen? Darum geht es am 13. Mai. Hat man den Grünen in ihrer Gründungszeit nicht auch entgegengehalten: Lieber weiter das kleinere Übel SPD wählen, denn wer Grün wählt, wählt Franz Josef Strauß? Also bei allem Respekt: Die Grünen hatten schon 1980 ein Konzept für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft – und dieses Konzept ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Piratenpartei sagt hier mal dies und dort mal jenes. Ökologische, feministische und soziale Fragen beantworten sie gänzlich unterkomplex. Und was die Finanzen angeht, halte ich es mit meinem Kollegen Reiner Priggen: Gegenüber der Piratenpartei ist die Linkspartei ein Sparschwein. Da sah das inhaltliche Angebot der Grünen bei aller Heterogenität meiner Partei immer anders aus. Im Übrigen tritt die Piratenpartei, wie auch die FDP, mit einer Männercrew an. Bei uns stehen die Frauen in der ersten Reihe – und zwar schon immer. Auch auf diesen Unterschied lege ich Wert! Rechnen Sie weiter fest damit, dass Sie auch der nächsten Landesregierung angehören? Unser Ziel ist das natürlich. Die Bilanz der rot-grünen Minderheitsregierung ist gut. Wir haben in den vergangenen zwanzig Monaten vieles erreicht: von der Abschaffung der Studiengebühren über Windkrafterlass und kommunalem Rettungsschirm bis zum Schulkonsens. Gleichwohl gibt es Unwägbarkeiten: Es könnten nur drei, aber auch sechs Fraktionen im kommenden Parlament sein. Dann könnte es schwierig werden. Wenn es keine klare Mehrheit für Rot-Grün gibt, droht die große Koalition. Das wäre dann die wahrscheinlichste Variante. Das muss den Wählerinnen und Wählern klar sein. Könnten Sie dann nicht immer noch eine Ampel machen? Wenn meine Oma Räder hätte, wäre sie ein Fahrrad. Lindner behauptet, die FDP habe sich runderneuert. Doch das ist eine Mogelpackung. Es sind alles die gleichen Gestalten, und die FDP hat sich auch inhaltlich nicht verändert. Im Bundestag hat Herr Lindner alles immer mitbeschlossen, was für NRW schädlich ist, ausnahmslos. Insofern ist er ein typischer FDP-Apparatschik. Wenn Herr Lindner etwas kann, dann den Mist, den FDP in Land und Bund angerichtet hat, schönzureden. Dieser Mann hat keine Substanz und sollte in Nordrhein-Westfalen keine Verantwortung tragen. Sehen Sie es eigentlich als Anerkennung ihrer Arbeit in der Landesregierung, dass Ex-SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement jetzt Wahlkampf für die FDP macht? Das macht es noch mal einen Tick herausfordernder, weil Wolfgang Clement für die alte antiökologische Beton-SPD steht. Insofern ist es gut, dass Herr Clement mit seiner Unterstützung der FDP deutlich macht, wie viel altes Denken bei der FDP verwurzelt ist. Wir brauchen eine ökologisch-industrielle Revolution – die Grünen sind dafür die Antriebsfeder. Wir stehen für eine neue grüne Industriepolitik und nicht die alte von Clement & Co. Bei aller demonstrativen Harmonie zwischen Frau Kraft und Ihnen: Es gibt doch auch handfeste Differenzen zwischen SPD und Grünen. Wir haben keine Fundamentalkonflikte mehr, sondern eine Gesamtlinie, die ähnlich ist. Aber natürlich gibt es Unterschiede, die liegen besonders im Bereich der Energie- und im Bereich der Mobilitätspolitik. Bisher sind uns jedoch immer Verständigungen gelungen. Das wird auch weiter so sein. Eine Differenz ist der Umgang mit der Urananreicherungsanlage in Gronau, die immerhin jedes zehnte AKW weltweit mit Brennelementen beliefert. Wann steigt Rot-Grün endlich aus der Atomenergie aus? Die Urananreicherungsanlage ist ein Problem, keine Frage. Unsere Wähler können sich darauf verlassen, dass das für uns ein wichtiges Thema ist, bei dem wir umsetzen wollen, was möglich ist. Aber ich kann kein Versprechen in die Welt setzen, dass wir Gronau morgen stilllegen. Dazu fehlen der Landespolitik die Möglichkeiten. Aber wir haben die Anlage mit eingebracht in die Gespräche über den Ausstieg aus der Atomenergie. Diese Frage kommt auch bei Koalitionsverhandlungen natürlich wieder auf den Tisch. Ein Problem ist allerdings auch der etwas zögerliche Bundesminister, der für die Atomaufsicht zuständig ist. Um das mal vorsichtig zu formulieren. Herr Röttgen redet zwar manchmal grün, aber er handelt nicht grün. Zwei Attribute passen genau auf ihn: Wankelmut und Unglaubwürdigkeit. Das klingt nach enttäuschter Liebe. Sie galten mal als Anhängerin von Schwarz-Grün. Quatsch, ich verstehe die Grünen als eine eigenständige politische Kraft, die sich nicht über die Nähe oder Distanz zu irgendwem definiert. Aber es ist doch klar: Die Zusammenarbeit mit der SPD hat sich bewährt. Das führt uns zu einer klaren Wahlaussage: Wenn Rot-Grün geht, dann machen wir das – mit hoffentlich starken Grünen. Punkt. Alles andere steht doch überhaupt nicht zur Debatte. Ich habe persönlich nichts gegen Herrn Röttgen, wie ich auch persönlich nichts gegen Herrn Lindner, Frau Schwabedissen oder Herrn Paul habe. Aber ich finde, das Land ist mit einer Regierung aus Grünen und SPD in guten Händen.
P. Beucker
Im Angesicht der Piraten: Vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen fordert die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann eine ökologisch-industrielle Revolution.
[ "Deutschland", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,417
Nach den Anschlägen von Boston: „Jemand weiß, wer das getan hat“ - taz.de
Nach den Anschlägen von Boston: „Jemand weiß, wer das getan hat“ Das FBI fahndet nach den Tätern von Boston, Reste von schwarzen Nylon-Taschen und von Schnellkochtöpfen sind die heißesten Spuren. Die drei Toten wurden inzwischen identifiziert. Was vom Anschlag übrig blieb: Fotos der Spurensicherung in Boston. Bild: reuters BOSTON afp | Nach dem Bombenanschlag auf den Marathon von Boston mit drei Toten haben die Ermittler noch keinen Hinweis auf die Täter. Niemand habe sich zu der Tat bekannt, die Ermittlungen gingen in alle Richtungen, teilte die Bundespolizei FBI am Dienstag mit. „Die Bandbreite der Verdächtigen und der Motive bleibt groß“, sagte der leitende FBI-Agent Rick DesLauriers. Demnach wurden aber erste Spuren gesichert. Im FBI-Labor in Quantico im US-Bundesstaat Virginia würden Metallteile untersucht sowie Reste von schwarzen Nylon-Taschen und von Schnellkochtöpfen. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Bomben aus Schnellkochtöpfen gebaut wurden, die in den Taschen versteckt wurden. Offenbar wurden die Sprengsätze mit zahlreichen Metallteilen wie Nägeln gespickt, um möglichst großen Schaden anzurichten. Ärzte berichteten, dass vielen Verwundeten „kleine metallische Fragmente“ wie Nägel und Kugeln herausoperiert worden seien. Mehreren Patienten hätten die Beine amputiert werden müssen. Die Bundespolizei FBI und die Polizei von Boston baten die Bevölkerung um Mithilfe. Aufnahmen, die unmittelbar vor und unmittelbar nach den Explosionen gemacht worden seien, seien besonders wichtig für die Ermittlungen, sagte der örtliche Polizeichef Ed Davis. DesLauriers rief Mitarbeiter von Restaurants und Geschäften in der Nähe des Anschlagsortes auf, Bilder von Überwachungskameras zur Verfügung zu stellen. „Jemand weiß, wer das getan hat“, sagte er. „Die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit wird eine entscheidende Rolle bei den Ermittlungen spielen.“ Mehr als 2.000 Hinweise Bis Dienstagmittag gingen nach Angaben der Ermittler mehr als 2.000 Hinweise aus der Bevölkerung ein. Laut DesLauriers wurden bereits viele Stunden Filmmaterial und zahlreiche Fotos gesichtet und analysiert. Ein 1.000-köpfiges Team ermittle rund um die Uhr. Zwei Explosionen hatten am Montag den Zielbereich des traditionsreichen Marathonlaufs in Boston erschüttert. Drei Menschen wurden nach Polizeiangaben getötet und 176 weitere verletzt. 17 Verletzte befanden sich am Dienstag in einem „kritischen Zustand“. Unter den Toten ist auch der achtjährige Martin Richard, der seinen Vater an der Ziellinie anfeuern wollte. Seine Schwester verlor bei dem Anschlag ein Bein, die Mutter erlitt Kopfverletzungen. Bei einem weiteren Opfer handelt es sich um die 29-jährige Restaurantangestellte Krystle Campbell. Chinese unter den Opfern Zudem wurde ein chinesischer Staatsbürger getötet, wie die Nachrichtenagentur Xinhua unter Berufung auf das chinesische Konsulat in New York meldete. Die Universität von Boston hatte zuvor mitgeteilt, einer ihrer Studenten sei unter den Todesopfern. Der Name des dritten Opfers wurde zunächst nicht genannt. Am Dienstagabend versammelten sich mehr als 1.000 Menschen, vor allem Angehörige und Freunde, in einem Park nahe Martin Richards Haus zu einer Kerzenwache mit Gebeten. Auch an anderen Orten in Boston kamen Menschen zu Gedenkveranstaltungen mit Gesang, Gebeten und Kranzniederlegungen zusammen. US-Präsident Barack Obama will am Donnerstag in Boston bei einem interkonfessionellen Gottesdienst für die Opfer des Anschlags eine Rede halten, wie das Weiße Haus mitteilte. Unterdessen wurde bekannt, dass an einen US-Senator ein Brief mit dem Gift Rizin adressiert wurde. Unklar war, ob es einen Zusammenhang mit dem Anschlag von Boston gab.
taz. die tageszeitung
Das FBI fahndet nach den Tätern von Boston, Reste von schwarzen Nylon-Taschen und von Schnellkochtöpfen sind die heißesten Spuren. Die drei Toten wurden inzwischen identifiziert.
[ "Boston", "FBI", "Bombenanschlag", "Amerika", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,418
Die Kulturhauptstadt im fernen Osten: Zurück ins heimische Kosice - taz.de
Die Kulturhauptstadt im fernen Osten: Zurück ins heimische Kosice Zusammen mit Marseille ist Kosice europäische Kulturhauptstadt 2013. In der Altstadt ist noch immer das Flair der ehemaligen K-u.-k-Monarchie zu spüren. In der alten Synagoge von Kosice präsentiert Viktor Sefcik seine Kunstwerke. Bild: imago/ecomedia/Robert Fishman Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik liegt im alten jüdischen Viertel gleich neben der „stinkenden Katze“ schräg gegenüber der Synagoge. In dem jüdischen Gotteshaus stellt Viktor Sefcik seine Werke aus. Sefcik hat in New York gelebt, in Italien und an ein paar anderen Orten, aber schließlich ist er doch zurückgekommen ins heimische Kosice. „Die Hauptstraße“ habe er am meisten vermisst, sagt er leise nach einigem Überlegen. Der 50-Jährige mit dem grau gewordenen Bart und der Halbglatze schlägt sich als freier Maler durchs Leben – bescheiden zwar, aber er findet doch immer wieder Käufer für seine leuchtend bunten Bilder. Sefciks rebellische Zeit lag vor der „Wende“ 1989. Damals protestierte er gegen die realsozialistische Diktatur, die das Land nach dem „Prager Frühling“ fest im Griff hatte. Mit einigen alten Künstlerfreunden hat er den Verein C + S Art gegründet. Ihr Ziel: Kunst, Kultur und die Wiedervereinigung mit Tschechien. Früher, sagt Sefcik, sei es für die Kunst besser gewesen. Bis 1918 war das damals habsburgische Kaschau eine reiche Bürger- und Handelsstadt am Nordrand des großen ungarischen Königreichs. Nach dem Ersten Weltkrieg verteilten dann die Siegermächte den größten Teil Ungarns an die neuen Nachbarländer. Transsylvanien wurde rumänisch, weite Teile des Südens fielen an Jugoslawien, und der Norden mit seinem Zentrum Kosice gehörte von nun an zur Tschechoslowakei. Lange hat es gedauert, bis die österreichisch-ungarische Bürgerstadt dort heimisch wurde. Noch heute ist Ungarisch neben Slowakisch Alltagssprache in Kosice. Kosice-InfoAuskunft: Slowakische Zentrale für Tourismus, Zimmerstraße 27, 10969 Berlin, (030) 25 94 26 40, www.slovakia.travel, Kosice Touristinfo: www.visitkosice.eu, Infos zur Kulturhauptstadt 2013: www.kosice2013.sk.Anreise: Von und nach Prag fährt je ein Nachtzug mit Liege- und Schlafwagen. Am Tag fahren EC- und IC-Züge nach Prag (8 Stunden) und Wien (6 Stunden). Von Wien, München, Berlin und Prag verkehren Linienbusse nach Kosice, www.touring.de.Übernachten: Im Internet findet sich ein Unterkunftsverzeichnis (auf Englisch) unter www.visitkosice.eu/en/accommodation.Sehen und Erleben: Die Hlavna Ulica ist Osteuropas längste Flaniermeile, mit vielen Cafés, Restaurants und Läden, barocker und etwas Jugendstilarchitektur. In seinen Romanen wie den „Bekenntnissen eines Bürgers“ beschreibt der 1900 im damaligen Kaschau geborene Schriftsteller Sándor Márai, wie die gut situierten Familien der Stadt Slowaken nur als Bauern oder Dienstboten erlebten. In den besseren Kreisen sprach man Deutsch oder Ungarisch, orientierte sich nach Budapest und Wien. Zu spüren ist das Flair der untergegangenen K-u.-k-Monarchie entlang der Hauptstraße mit ihrem großen, reich verzierten Opernhaus, der östlichsten katholischen Kathedrale Europas, dem klassizistischen Bischofssitz, einigen Jugendstilbauten und den alten Kaffeehäusern. Über die gut einen Kilometer lange Hauptstraße Hlavna Ulica zogen einst Pferde die städtische Straßenbahn. Ein Ring aus Plattenbauten Der real existierende Sozialismus hat um die komplett erhaltene Kosicer Altstadt einen dicken Ring aus Plattenbauten gelegt. Die Prager Planer verordneten der Stadt im fernen Osten - nahe der Grenze zum großen Bruder Sowjetunion - ein gigantisches Stahlwerk. Kosice musste möglichst schnell Wohnraum für die Arbeiter und ihre Familien schaffen. So entstanden in wenigen Jahren Plattenbauten für 50.000 Menschen. Inzwischen gelten die renovierten Betonkästen als beliebte Wohnquartiere. Einzig das Viertel Luník IX verrottet zunehmend. Einst siedelten Stadt und Zentralregierung hier Roma, Polizisten und Mitarbeiter der Staatssicherheit an. Inzwischen wohnen in den verfallenden Betonklötzen fast nur noch Roma. Arm ud ausgegrenzt „Die Stadt hat sich 20 Jahre lang um nichts gekümmert“, kritisiert Blanka Berkyova, eine der wenigen Roma, die sich aus dem Teufelskreis von Armut, Ausgrenzung und fehlender Bildung befreit hat. Für die Kulturhauptstadt leitet die 37-jährige Landschaftsarchitektin das Projekt „SPOTs“ für Bürgerbeteiligung und Stadtteilentwicklung. In den Umbau von sechs alten Heizkraftwerken zu Stadtteilzentren haben Stadt und EU mehr als eine halbe Million Euro investiert. Nachbarn kommen zu Sportturnieren, Kuchenbackwettbewerben, Theater- und Malworkshops. Lokale Künstler bemalen gemeinsam mit Anwohnern graue Fassaden und bestücken Kunstausstellungen in den Stadtteilzentren mit ihren Werken. Anfangs hatten Berkyova und ihre Mitstreiter alle Mühe, die Anwohner für die Stadtteilkultur zu gewinnen. Doch inzwischen sind die Veranstaltungen gut besucht. Die Europäische Kulturhauptstadt will mit Projekten wie SPOTs in Kosice auch wirtschaftlich neue Perspektiven schaffen. Junge, kreative Unternehmen sollen die alten Industriearbeitsplätze ersetzen. Aus einer ehemaligen Kaserne entsteht ein Kulturpark, aus dem verfallenden Hallenbad eine Kunsthalle. Das Ruhrgebiet als Vorbild Bürgermeister Richard Rasi nennt in einem Interview das Ruhrgebiet als Vorbild: „Wir wollen eine Umgebung schaffen, die die Zusammenarbeit junger, kreativer Köpfe fördert.“ Bisher ziehen die meisten Absolventen der drei Universitäten weg. Sie hoffen in der Hauptstadt Bratislava, in Wien oder noch weiter im Westen auf besser bezahlte Jobs. Heute seien die Zeiten „schlecht für die Kunst“, klagt Maler Viktor Sefcik. Melancholisch dreinblickend nippt er an seinem Kaffee. Viele Künstler und andere Kreative sitzen gern im „Smelly Cat“, der „stinkenden Katze“ unter Schwarzweißfotos aus New York und Paris auf alten Sofas und Ohrensesseln. Die jüdische Gemeinde hat seinem Verein C + S Art ihre alte Synagoge für Ausstellungen überlassen. Freitagabend und Samstag bleibt die Ausstellung geschlossen. Zumindest manchmal schafft es der Rabbiner, der extra aus Budapest angereist kommt, die für einen Gottesdienst nötigen zehn jüdischen Männer aufzutreiben. Ehemals ein jüdisches Zentrum Bis 1944 war Kosice ein Zentrum jüdischen Lebens in der Region. Von den rund 12.000 Kaschauer Juden, die die Nazis mit ungarischer und slowakischer Hilfe in die Konzentrationslager deportiert und ermordet haben, kamen nach 1945 gerade einmal 200 zurück. Heute zählt die Gemeinde nur noch ein paar Dutzend Mitglieder. Die Stadt, sagt Sefcik, interessiere sich kaum für die Synagoge und für den Künstlerverein. Aus dem Etat der Kulturhauptstadt bekomme er zumindest für sechs Ausstellungen jeweils 1.000 Euro - wenig im Vergleich zu den 60.000, die die staatliche Galerie jedes Jahr erhalte. Für 2013 bekommen Künstler aus verschiedenen Ländern Gastateliers in der zu Kulturräumen umgebauten ehemaligen Tabakfabrik. Das Geld, verspricht Kosices stellvertretende Bürgermeisterin Renata Lenártvá, „wird auf jeden Fall wieder hereinkommen.“ 2010 zählte die Stadt 260.000 Übernachtungen. Dieses Jahr sollen mindestens ein Viertel dazukommen.
Robert B. Fishman
Zusammen mit Marseille ist Kosice europäische Kulturhauptstadt 2013. In der Altstadt ist noch immer das Flair der ehemaligen K-u.-k-Monarchie zu spüren.
[ "Slowakei", "Kulturhauptstadt", "Kosice", "Roma", "Reiseland Slowakei", "Reise", "Gesellschaft", "Reiseland", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,545
Warnstreik bei der Bahn angekündigt: Management gönnt sich Boni - taz.de
Warnstreik bei der Bahn angekündigt: Management gönnt sich Boni Mit einem erneuten Ausstand eskaliert der Tarifstreit bei der Bahn. Scheitern die Gespräche erneut, ist auch ein unbefristeter Arbeitskampf denkbar. Die Mitglieder der Gewerkschaft EVG demonstrierten Ende März für höhere Löhne Foto: Christoph Hardt/imago BERLIN taz | Der wichtigste Streitpunkt klingt banal. Die Deutsche Bahn bietet den über 2.000 Beschäftigten der untersten Lohngruppen den Mindestlohn tabellenwirksam an und obendrauf bis zu 10 Prozent, also zusammen 13,20 Euro pro Stunde. Das wäre schon ein Fortschritt. Denn bisher steht in der für prozentuale Anhebungen maßgeblichen Tabelle noch ein Lohn unterhalb der Mindestlinie, die nur durch eine Zulage erreicht wird. Damit sei die Hauptforderung der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) für den Beginn richtiger Verhandlungen erfüllt, so das Unternehmen. Das sieht EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch ganz anders. „Das ist ein trojanisches Pferd“, sagt er und verweist auf eine kleine Einschränkung des Bahnangebots. Danach soll sich die Bezahlung der Sicherheits- oder Reinigungsleute am jeweiligen Branchentarif orientieren. „Hier würde eine Deckelung von maximal 13 Euro stattfinden“, wettert Loroch. Bahnvorstand Martin Seiler widerspricht und rechnet beim aktuellen Angebot einen Stundenlohn von 13,20 Euro aus. Würde sich die EVG mit ihrer Forderung von 650 Euro Mindestbetrag oder 12 Prozent mehr durchsetzen, kämen die Geringverdiener jedoch auf über 16 Euro. Deshalb der angekündigte Warnstreik. Während unten um vergleichsweise geringe Beträge gerungen wird, zeigt sich die Bahn beim Management und bei außertariflich Beschäftigten großzügiger. Wie die Süddeutsche Zeitung und der NDR berichten, können sich Tausende Beschäftigte über teils fünfstellige Boni freuen. Möglich macht dies ein nicht ganz einleuchtendes System von Kennziffern, an denen sich die Sonderzahlungen orien­tie­ren. Dem Bericht zufolge sorgen die schlechten Leistungen der Bahn hinsichtlich ihrer Pünktlichkeit und der Kundenzufriedenheit nicht für deutliche Abzüge. Das wird durch hohe Erfolgsquoten zum Beispiel bei der Mitarbeiterzufriedenheit oder dem Frauenanteil in Spitzenpositionen weitgehend ausgeglichen. Einen dreistelligen Millionenbetrag gibt die Bahn dafür aus. Das konnte sie ohne die Politik so gestalten. Zum Leidwesen der Verkehrspolitiker müssen diese Verträge nun auch bis zu deren Ablauf erfüllt werden. Von Sonntag 22 Uhr bis Dienstag 24 Uhr Weiter unten im Konzern wird um jeden Prozentpunkt mehr gerungen. Deshalb gibt es nun den dritten Warnstreik in dieser Tarifrunde. Bahnreisende müssen sich in der anstehenden Feiertagswoche auf Hindernisse einstellen. Von Sonntagabend, 22 Uhr, bis zum Dienstagabend, 24 Uhr, ruft die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) alle Beschäftigten flächendeckend zu einem Warnstreik auf. Auch am Mittwoch vor dem Himmelfahrtstag könnten Nachwirkungen des Arbeitskampfs spürbar sein, etwa durch Verspätungen oder Zugausfälle. „Die Geduld unserer Beschäftigten ist zu Ende“, begründet EVG-Tarifvorständin Cosima Ingenschay den 50-stündigen Ausstand. Sie rechne mit einer hohen Beteiligung am Arbeitskampf. „Dieser irrsinnige Streik ist völlig grundlos und restlos überzogen“, kritisiert Seiler. Millionen Reisende kämen nicht da hin, wo sie hin wollten. Das käme einem Vollstreik ohne Urabstimmung gleich. Die Deutsche Bahn geht von massiven Einschränkungen im Schienenverkehr aus und kündigt Kulanzregelungen für die Fahrgäste an. Tickets für Fahrten zwischen dem 16. und 18. Mai können ab sofort genutzt werden. Auch gelten die üblichen Fahrgastrechte weiter, die bei Verspätungen eine Teilerstattung des Fahrpreises vorsehen. Für die Deutsche Bahn wirds teuer Es ist bereits der dritte und mit Abstand längste Ausstand in der laufenden Tarifrunde. Die Fronten zwischen Arbeitgebern und EVG sind überwiegend verhärtet. Insgesamt verhandelt die Gewerkschaft parallel Lohnerhöhungen mit 50 Bahnunternehmen. Nur wenige haben aus Sicht der EVG ausreichende Angebote für Verhandlungen vorgelegt. Dort soll auch nicht gestreikt werden. Zu diesen kleinen Bahnen gehört etwa die Eurobahn, die Nahverkehr in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen betreibt. Allerdings dürften auch die Züge der nicht bestreikten Bahnen stillstehen, weil die Gewerkschaft das Netz lahmlegen will. Teuer wird der Streik vor allem für die Deutsche Bahn als größtem Branchenunternehmen. Auch die Güterbahnen befürchten große Einbußen. Deren Verband fordert Vereinbarungen mit der EVG, die einen Betrieb des Güterverkehrs ermöglichen. Die Streikfolgen dürften europaweit spürbar sein, denn sechs von zehn europäischen Frachtkorridoren führen durch Deutschland. Die Deutsche Bahn wirft der EVG vor, dass sie gar nicht ernsthaft verhandeln wolle. Vielmehr gehe es um die Durchsetzung eines Tarifdiktats im Machtkampf zwischen den Bahngewerkschaften. Hier kommt die Lokfüh­rergewerkschaft GDL ins Spiel. Sie will Anfang Juni ihre Forderungen bekannt geben. Der nächste Verhandlungstermin zwischen EVG und Bahn ist für den 23. Mai vorgesehen. Scheitern die Gespräche erneut, ist auch eine Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf denkbar.
Wolfgang Mulke
Mit einem erneuten Ausstand eskaliert der Tarifstreit bei der Bahn. Scheitern die Gespräche erneut, ist auch ein unbefristeter Arbeitskampf denkbar.
[ "Deutsche Bahn", "EVG", "Bahn", "Boni", "Verkehr", "Öko", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,579
Ein Stopp im südlichen Rhonetal: Kräutergarten der Provence - taz.de
Ein Stopp im südlichen Rhonetal: Kräutergarten der Provence An La Garde-Adhémar fahren die meisten vorbei – zum Glück für die wenigen, die anhalten. Es ist eines der schönsten Dörfer Frankreichs. Der Kräutergarten von La Garde-Adhémar Foto: Wikipedia/Vikingenergy (CC BY-SA 3.0) Wer durch das südliche Rhonetal fährt, egal ob mit der Bahn oder mit dem Auto, der erhascht vielleicht einen Blick auf das exponierte Bergdorf über dem linken Ufer des hier bereits recht breiten Flusses. Keck und dominiert von einer stattlichen Kirche, sitzt das mittelalterliche Ensemble auf dem oberen Ende eines steil abfallenden Kamms. Der Name weist die ursprüngliche Funktion des Ortes aus: La Garde-Adhémar, der Wachposten der Familie Adhémar. Dieses Adelsgeschlecht gab auch dem nahen Montélimar seinen Namen, der Hügel der Adhémars, bekannt als Nougatstadt. An La Garde-Adhémar reisen oder vielmehr rasen die allermeisten Touristen vorbei, ohne haltzumachen. Zum Glück für die paar wenigen, die den steilen Weg hoch zu dem Adlernest nehmen. Die mächtige Außenmauer wirkt abweisend, wie es sich für ein Wehrdorf gehört. Bis ins 19. Jahrhundert hatte man nur durch zwei Pforten Zutritt, die Port d’Amont im Norden und die Porte de la Fontaine im Südosten. Letztere ist gleich neben dem einzigen Brunnen, der außerhalb der Mauer liegt und wo sich die Bewohner mit frischem Wasser versorgten. Ist man aber erst einmal im Inneren der rund angelegten Siedlung angekommen, fühlt man sich nicht nur geborgen, sondern auch der Welt enthoben. Bis auf ein paar grellbunte Sonnenschirme vor dem Lokal Absinth scheint sich hier seit dem Mittelalter nicht viel verändert zu haben. Auffällig ist der achteckige Glockenturm der romanischen Kirche St. Michel, der im 14 Jahrhundert aufgestockt wurde. Wie bei vielen Kirchen der Provence befinden sich in der Nordwand keine Fensteröffnungen wegen des Mistrals, der oft eisig ist und nicht selten Sturmstärke erreicht. Seltsam ist der kleine Nymphen­altar im Eingangsbereich. Direkt vor der Apsis steht man nun auf der westlichen, senkrecht abfallenden und sich mit dem Fels verbindenden Mauer. Von der Brüstung aus sieht man hinab auf weitläufige Terrassen, die an den Fuß der Mauer grenzen und auf denen sich großflächig bunt blühende Ornamente mit streng grafischen Mustern ausbreiten. Es ist der „Jardin des Herbes“, der Garten der Kräuter, den die Gemeinde 1990 hier anlegen ließ. Ein duftendes Pflanzenmosaik „Jardin ouvert – entrée libre“ steht auf dem Blechschild an dem zierlichen Eisentor, Garten geöffnet – Eintritt frei. Das Gatter klemmt zwar, gibt aber nach einigem Rütteln dann doch den Weg frei. Über grob gehauene Stufen geht es hinab zu dem duftenden Pflanzenmosaik, das zusammengefügt ist aus unzähligen, mit niedrigen Buchshecken akribisch eingefassten Beeten. Zwischen allen Segmenten erlauben winzige Wege den direkten Zugang zu den sorgfältig mit Namensschildchen versehenen Blumen und Kräutern wie Lavendel, Thymian und Salbei – von dem zählt man hier zwanzig verschiedenen Sorten! Insgesamt sind es über vierhundert Heilpflanzen und Küchenkräuter, die im Jardin des ­Herbes entdeckt werden wollen. Die erste Terrasse ist eine Art Ur-Apotheke. Hier versammelt Da­nielle Acucci, die Gestalterin der Anlage, die medizinischen Pflanzen und präsentiert sie in rautenförmigen und dazwischen dreieckigen Beeten. All die Heilpflanzen sind nach ihrer Wirkweise angeordnet, wie eine übersichtliche Tafel informiert. So simpel wie genial ist hierbei der code couleur, der die einzelnen Bereiche aufschlüsselt: Die verschiedenen Farben der Schildchen symbolisieren jeweils Organe. Es gibt also eine Gruppe, die den Atemwegen guttut, eine andere dient der Stärkung der Nerven, für Leben und Galle gibt es eine Abteilung, ebenso für Herz und Kreislauf und eine für Magen und Darm. Entwurmungspflanzen können auch studiert werden. Rosenlauben ranken hinten an der Mauer zum Berg, vorne geht es wieder steil bergab zu weiteren, sicher uralten Terrassen, teils aufgelassen, teils mit Weinstöcken bepflanzt, teils anderweitig landwirtschaftlich genutzt. Zwischen den beiden Hauptebenen des Gartens, der sich im Sommer sehr aufheizen kann, bietet ein mit Bäumen und Büschen bestandener Übergang erholsamen Schatten. Frische spenden an diesem lauschigen Plätzchen zudem die sanft plätschernden Rinnsale, die zuerst die an der Felswand wachsenden Moose benetzen, bevor sie in ein steinernes Becken fallen, in dem ein paar Wasserpflanzen gedeihen. In den kleinen Einbuchtungen des Felsens über dem kühlenden Brunnen verschlafen Tauben die brütende Mittagshitze. Der KräutergartenLe Jardin des Herbes, 26700 La Garde-­Adhémar, täglich geöffnet, Führungen organisiert das Tourismusbüro von La Garde-Adhémar, www.la-garde-adhemar-ot.org, Tel. +33-4 75 04 40 10 Weitere Stufen führen auf die zweite, tiefer liegende Terrasse. Hier ist das Prunkstück des Gartens. Eine asymmetrisch platzierte Rosette, wiederum zusammengefügt aus akkurat mit Buchs eingefassten Beeten, erstreckt sich strahlenförmig über die ganze Ebene. In den Karrees wachsen kräftig blühende Pflanzen, die kontrastreich aufeinander abgestimmt sind. Beinwell ist dabei, Schafgarbe und Heiligenkraut. Kein Mensch außer uns ist da. Nur eine Katze rekelt sich zwischen Blumenpracht und Grün. Ein Atomkraftwerk in Sichtweite Weit unten im Tal fließt die von Montélimar herkommende Rhone, daneben ihr parallel verlaufender Kanal. Das Wasser beider glitzert herauf. Ein TGV, ein französischer Hochgeschwindigkeitszug, zischt auf seiner direkt neben dem Kanal verlaufenden Trasse vorbei. Wie Spielzeuge schieben sich zahllose Lastwagen auf der ebenfalls pa­ral­lel verlaufenden Autobahn vorwärts. Gegenüber, auf der anderen Seite des Tals, erheben sich die Berge der Ardèche. Nicht zu übersehen sind allerdings auch die Kühltürme der nahen Nuklearanlage Tricastin, einer der größten der Welt. La Garde-Adhémar, das auf einem Kalkplateau erbaut ist, genießt die offizielle Auszeichnung, zu den schönsten Dörfern Frankreichs gezählt zu werden. Es gehört zum südlichsten, bereits provenzalischen Teil des Departements Drôme. Nicht erst seit der Adhémar-Dynastie war dieser Platz von strategischer Bedeutung. Bereits für die Römer war das Rhonetal, insbesondere die fast kerzengerade Nord-Süd-Achse ab Lyon eine immens wichtige Route. Überreste der bis nach Marseille führenden Via Agrippa kann man noch am Fuß des Hügels unterhalb von La Garde finden. Bergabwärts in Richtung Osten, etwa anderthalb Kilometer entfernt, kommt man in das Val des Nymphes, ins Tal der Nymphen. Zwischen trockenen KalkhügeIn stößt man auf eine Aue mit saftigen Wiesen und Obstbäumen. Um die Quelle, die hier entspringt, bestand zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert eine bedeutende Siedlung, wie man archäologisch nachweisen konnte. Man vermutet, dass das Dorf im Tal damals wegen eines Sarazenen-Einfalls aufgegeben wurde und seine Bewohner auf den steinigen Bergrücken flohen. Von den insgesamt vier sehr kleinen Kirchlein ist Notre-Dame erhalten. Den Nymphenaltar, der oben in St. Michel von La Garde-Adhémar aufbewahrt wird, hat man in der Nähe der Quelle gefunden.
Gudrun Mangold
An La Garde-Adhémar fahren die meisten vorbei – zum Glück für die wenigen, die anhalten. Es ist eines der schönsten Dörfer Frankreichs.
[ "Frankreich", "Kräutergarten", "Reise", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,588
Transparency-Chefin über Finnland: „Ich bevorzuge eine Streitkultur“ - taz.de
Transparency-Chefin über Finnland: „Ich bevorzuge eine Streitkultur“ Anna-Maija Mertens ist Geschäftsführerin von Transparency Deutschland und Finnin. Was für nationale Eigenheiten gibt es da in puncto Korruption? Anna-Maija Mertens Foto: Amelie Losier taz: Anna-Maija Mertens, Sie haben in Deutschland studiert und von 2010 bis 2014 das Finnland-Institut in Berlin geleitet. Heute sind Sie Geschäftsführerin von Transparency International Deutschland. Warum wechselten Sie von der eher nationalstaatlich orientierten Kulturarbeit zu einer supranational tätigen Antikorruptions-NGO? Anna-Maija Mertens: Auch die Arbeit des Finnland-Instituts habe ich nicht als rein nationale Angelegenheit begriffen. Eher als einen Dialog zwischen deutschsprachigen und finnischen Kulturen. Es gibt siebzehn Finnland-Institute weltweit und die stehen ebenfalls in einem internationalen Austausch. Das Finnland-Institut wird wie das deutsche Goethe-Institut staatlich finanziert? Ja, aber dazwischen gibt es eine von der Politik unabhängige Stiftung, die die Eigenständigkeit der Arbeit garantiert. Wie würden Sie die Tätigkeit von Transparency Deutschland kurz umreißen? Unsere Hauptaufgabe ist der Kampf gegen Korruption. Wir versuchen vorrangig, strukturelle Veränderungen voranzutreiben, weniger eigene investigative Untersuchungen. Wir wollen Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen, Bedingungen fördern, die die Korruption verhindern oder eindämmen. Und dass sie dort, wo sie existiert, bestraft wird. Quasi die Arbeit einer Lobbyorganisation? Richtig. Wir begreifen uns als überparteilich und stehen im Austausch mit Institutionen und Behörden. Derzeit begleiten wir beispielsweise das Vorhaben des deutschen Wirtschaftsministeriums, ein zentrales Register zu erstellen. Es erfasst Firmen, die im Zusammenhang mit Korruption negativ auffielen. Damit künftig an diese keine öffentlichen Aufträge mehr ergehen. im Interview:Anna-Maija MertensZur Person: Geboren 1975 in Helsinki. Seit 2014 Geschäftsführerin von Transparency International Deutschalnd. Davor ab 2010 Direktorin des Finnland-Instituts in Berlin. Studierte Politikwissenschaften in Münster. Live als Moderatorin: Beim Mittsommerfest „Finnland 100“ in der Berliner Botschaft Finnlands am 23. Juni (unter anderem mit Sigmar Gabriel und Ministerpräsident Julna Sipilä). Von 20 bis 24 Uhr ist die Veranstaltung mit finnischem Tango Teil der Fȇte de la Musique, und der Eintritt ist frei. Eine Bundesdatei gab es dazu bislang nicht? Nein. Dabei ist Korruption gerade überregional und international ein großer Faktor, überall, wo viel Geld und Macht zusammenkommen. Bei uns im Verein arbeiten fast nur ehrenamtliche Mitarbeiter. Deutschlandweit haben wir 34 regionale oder thematische Gruppen. Unsere Experten beschäftigen sich damit, etwa Vorschläge zur Bekämpfung von Korruption in Wissenschaft, Politik, Medien oder im Gesundheitswesen zu erstellen. Sie veröffentlichen auch jährlich ein Länderranking, einen Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) nach Staaten? Ja, wobei mein russischer Kollege mir einmal zu Recht sagte: Anna-Maija, ihr seid unfair. Als Russen sind wir bei diesem CPI-Ranking immer ganz schlecht und ihr Deutschen und Finnen ganz gut. Aber ohne das internationale kriminelle Netzwerk in euren Staaten wären unsere russischen Korrupten niemals so erfolgreich. Eure Banken empfangen deren Geld mit Kusshand und fragen nicht, woher die ihr Vermögen haben. Finnland und die Bundesrepublik sind nach dem Korrup­tions­index eher Musterschüler? Deutschland stagniert auf dem relativ guten Platz 10, Finnland ist derzeit Drittbester. Aber der Länderkorruptionsindex bewirkt auch etwas in Staaten wie Russland. Auch wenn mein russischer Kollege völlig recht hat: In der globalisierten Ökonomie müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit Kriminelle ihr Geld nicht in Staaten anlegen oder waschen, die wie Finnland oder Deutschland als sauber gelten. Ab 1. Juli tritt in Deutschland ein Gesetz in Kraft, nach dem Vermögen aus dem Ausland ihre rechtmäßige Herkunft nachweisen müssen. Bislang musste man handfeste Beweise haben, bevor das Geld konfisziert werden konnte, auch wenn konkrete Hinweise für den kriminellen Ursprung des Geldes vorlagen. Sie leben seit 1995 in Deutschland, also über die Hälfte Ihres Lebens. Wie sehr unterscheiden sich finnische und deutsche Gesellschaft bei Themen wie Gerechtigkeit oder Offenheit? Finnland ist eine sehr starke Konsensgesellschaft. Man versucht alle einzubeziehen, streitet nicht so gern. Das hat Vorteile. Aber auch Nachteile. Es gibt zu wenig Debatte. Konsensziele werden oft vorverhandelt. Ich bevorzuge eine Streitkultur wie in Deutschland. Über die manche auch klagen, sie sei zu direkt und konfrontativ? Ich finde es gut, wenn man gegensätzliche Argumente ins Spiel bringt, durch „Streit“ zu neuer Erkenntnis gelangt. Auch von der Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Geschichte könnten die Finnen eine Menge lernen. Umgekehrt mag ich an Finnland die größere Chancengleichheit, den offeneren Zugang zu Kultur und gleicher Bildung für alle. Das in Deutschland um sich greifende Privatschulmodell ist nicht gegeben? Die ersten kommen langsam. Aber noch garantiert der Staat eine im Idealfall gleich hohe Qualität für alle. Wir sind von der Fläche genauso groß wie Deutschland, haben aber nur 5,3 Millionen Einwohner. Die Philosophie in Finnland heißt: Wir brauchen jeden. Der Staat achtet darauf, dass alle an die modernen Informations- und Kommunikationskanäle angeschlossen sind. Auch in den entlegenen Ecken des Landes. Gleichzeitig werden weiterhin Bibliotheken gebaut, Zeitungen, Bücher in Räumen mit Computern, Internet und Cafe. Und in puncto Korruption, sehen Sie da prägnante Unterschiede zwischen Deutschland und Finnland? Auch wieder in der Offenheit. In Finnland ist zum Beispiel einsehbar, wer in welcher Höhe Steuern zahlt. Es gibt kein Steuergeheimnis. Man kann wissen, was der Nachbar verdient. Das könnte die Ehrlichkeit im Umgang mit finanziellen Dingen befördern. Ebenso die Transparenz bei öffentlichen Ausgaben: Wer weiß, dass seine Steuern vernünftig verwendet werden, ist eher bereit zu zahlen. Wenn man hier Geheimnisse pflegt, bleibt am Ende immer die Frage: Wer kontrolliert eigentlich den Kontrolleur. Auf der anderen Seite sind die Schwächen von Finnland die des kleinen Landes: Da jeder jeden kennt, entsteht Vetternwirtschaft, die die Transparenz wiederum nicht wirklich fördert. Und da es so wenige Menschen sind, gibt es aus meiner Sicht generell zu wenig Sensibilität für Interessenkonflikte. Finnland existiert als selbstständiger Staat an der nordöstlichen Peripherie Europas erst seit 1917. Von Geografie und Natur nicht begünstigt, eingeklemmt zwischen Schweden und Russland blickt es dennoch auf eine relative Erfolgsgeschichte – zumindest seit 1945 – zurück. Woran liegt das? Vielleicht, weil man immer aktiv bleiben musste. Auch politisch. Wir teilen mit Russland eine 1.300 Kilometer lange Grenze. Gerade über Russland gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Viele aus meiner Generation finden die frühere Politik Kekkonens gegenüber der Sowjetdiktatur nach 1945 fürchterlich. Kleinheit und Konsensgesellschaft verhinderten in Finnland lange die offene Aus­ein­andersetzung mit dem Bürgerkrieg von 1918 oder mit dem Verhalten gegenüber Nazideutschland und der Sowjetunion. Liest man das Buch „Finnlands Geschichte“ des Historikers Henrik Meinander, so glaubt man, einen gewissen Opportunismus zu erkennen: Die Duldung der staatlichen Eigenständigkeit wurde durch Kritiklosigkeit gegenüber Moskau und guten Geschäften Finnlands mit Moskau erkauft. Wobei die Älteren dann gern entgegnen: Was hätten wir denn tun sollen? Finnland wäre Sowjetsatellit geworden. Pragmatisch zu handeln, ist eine Sache. Aber Gründe für Kompromisse zu verschweigen, eine andere. Mein Großvater mütterlicherseits hat bei den Roten gekämpft, mein Großvater väterlicherseits bei den Weißen. Das ist in vielen finnischen Familien so. Und bis vor Kurzem wurde darüber zumeist geschwiegen. Auch in meiner Familie. Wie kann man miteinander verheiratet sein, ohne solch große Themen anzusprechen? Wenn das Thema auf Russland kam, haben sie miteinander geflüstert. Wie würden Sie das heutige Verhältnis Finnlands zu Russland charakterisieren? Finnland hat sich eindeutig positiv zu den EU-Sanktionen gegen Russland verhalten, auch wenn die Wirtschaft dadurch Verluste hatte. Heute gibt es eine starke Verankerung Richtung Europäische Union. Doch eine Mitgliedschaft in der Nato würde das Land emotional überfordern, in zwei gleich große Lager von Gegnern und Befürwortern spalten. In Finnland gibt es ein ultra-nationalistisches Phänomen, die „Wahren Finnen“. In der direkten Übersetzung heißen sie eigentlich „Basis Finnen“. Das klingt etwas anders als „Wahre Finnen“. Sie sind Populisten, aber nicht alle rechtsradikal. Sie greifen aktuelle Stimmungen auf, ob sie nun mehr von links oder rechts kommen, ist ihnen egal. Hauptsache, es passt in ihr Vorurteilsschema. Die „Basis Finnen“ in der Koa­lition mit Ministerpräsident Juha Sipilä haben sich gerade gespalten. Ist ihr Stern am Sinken? Konstruktiv mitregieren zu müssen, ist für Extremisten immer riskant. Aber es war dennoch ein Fehler von Sipilä, ihnen die Tür zur Koalition aufzumachen. Die „Basis Finnen“ sind offen für rechtsradikale Parolen. Zur Selbstverteidigung muss es für Demokratien aber eine „rote Linie“ geben. Die traditionellen Parteien haben zudem der Rhetorik der „Basis Finnen“ den Weg bereitet, indem sie sich laufend selbst von der EU distanziert und Brüssel die Schuld für Dinge zugeschoben haben, für die die EU-Kommission nichts kann. Wir leben in einer globalisierten Welt. Die Politik muss den Menschen erklären, dass dies eine Interaktion mit sich bringt: Die Welt kommt auch zu uns. Und das birgt vor allem auch Chancen. Eine Frage in Zeiten des zunehmenden Lichts: Welche Rolle spielt Mittsommer, der diese Woche bevorstehende längste Tag des Jahres, im Leben einer langjährigen Auslandsfinnin wie Ihnen? Das Mittsommerfest ist eine hochemotionale Angelegenheit. Egal wie kritisch ich die finnische Gesellschaft sehe, Mittsommer weckt Heimatgefühle in mir. Wie sieht ein klassisches Mittsommerfest in Finnland aus? Man ist auf keinen Fall in der Stadt, die Städte sind leer. Die Touristen stehen an diesem Tag in Helsinki und fragen sich: Wo sind denn all die Finnen hin? Nun, die sind auf dem Land, mit ihren Familien, in ihren Mökkis am See, in ihren häufig ganz einfachen Hütten in der Natur und so weit wie möglich weg von anderen. Finnen lieben die Ruhe. Dann sind sie dort, heizen die Sauna an, machen ein Feuer, grillen Würste, machen Witze über sich selbst, lachen und trinken. Und springen in den See.
Andreas Fanizadeh
Anna-Maija Mertens ist Geschäftsführerin von Transparency Deutschland und Finnin. Was für nationale Eigenheiten gibt es da in puncto Korruption?
[ "Transparency International", "Finnland", "Lesestück Interview", "Alltag", "Gesellschaft", "Lesestück", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,599
■ Indonesien: 200 Tote bei Erdbeben - taz.de
■ Indonesien: 200 Tote bei Erdbeben Jakarta/Taipeh/Tokio (AFP) – Bei dem schweren Erdbeben vor der indonesischen Insel Java sind am Freitag 201 Menschen getötet und weitere 423 verletzt worden. Auch Taiwan und Japan wurden von einem Beben erschüttert.
taz. die tageszeitung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,662
Türkisch-armenische Kurzgeschichte: Das Wiegenlied - taz.de
Türkisch-armenische Kurzgeschichte: Das Wiegenlied Arev bricht das 100-jährige Schweigen über Armenien – während einer Castingshow im türkischen Fernsehen. Eine Kurzgeschichte. So laut sie konnte, rief sie: „Armenisch!“ - Ein paar Leute vor den Bildschirmen hielten den Atem an. Bild: ap „Gott, zeige mir dein Angesicht“, flehte sie und hob die Augen. Ihr Blick stieß gegen die Stahlkonstruktion an der Studiodecke, sie sah einen Haufen Kabel. Selbst wenn Gott eines Tages sein Angesicht zeigen sollte, dies war offensichtlich nicht der Moment. Es ging unglaublich hektisch zu. Mit Stapeln von Papieren im Arm eilten junge Frauen auf hohen Absätzen hierhin und dorthin. Junge Männer mit Funkgeräten erteilten Anweisungen. Überall verliefen Kabel. Arev senkte den Blick. Auf dem Boden erblickte sie eine Ameise. Arev. Das war der Name, den ihr die Großmutter ins Ohr geflüstert hatte. Arev bedeutete Sonne: Günes. Geheimnis Gaye BoraliogluDie Schriftstellerin lebt in Istanbul. Zuletzt erschien der Roman „Der hinkende Rhythmus" (binooki Verlag). Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück, die sich kürzlich im türkischen TV ereignete. - Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. „Sprich zu niemandem davon“, hatte die Großmutter gesagt. „Das ist unser Geheimnis. Die Leute sollen dich als Günes kennen.“ Seither bewahrte sie den Namen Arev im Herzen. Dachte sie daran, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Gleich würde man sie rufen. Ein Zauberkünstler stand auf der Bühne. Er trieb Nägel in sein Fleisch. Nagel um Nagel versenkte er in seiner Hand. „Autsch!“, rief der erste Juror. „Entsetzlich!“ Die Zuschauer im Studio stießen vor Verblüffung spitze Schreie aus. Unruhig rutschten sie auf ihren Plätzen hin und her. Selbst die Studiomitarbeiter ließen Arbeit Arbeit sein und wandten die Blicke dem Mann auf der Bühne zu. Jetzt zeigte der Magier die mit Nägeln übersäte Hand vor. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. Das Fernsehen übertrug die Szene ins ganze Land. Vor den Bildschirmen hielten die Leute den Atem an. Jubel Als der Zauberkünstler sich die Aufmerksamkeit aller gesichert hatte, schloss er bedächtig die rechte Hand zur Faust. Was musste er für Schmerzen leiden! Die Leute kreischten. Die Bildschirme zeigten die nagelgespickte Faust in Großaufnahme. Der Mann lächelte noch immer. Elegant zog er mit der linken Hand ein rotes Satin-Tüchlein aus der Tasche, legte es über die vernagelte Faust, riss es aber schon in der nächsten Sekunde wieder herunter. Die Nägel waren in eine weiße Taube verwandelt. Aufgeregt sprangen die Zuschauer auf. „Super!“, jubelte die zweite Jurorin und ließ ihr Haar schwingen. „Fantastisch!“ „Bravo!“, rief Juror Nummer drei. „Unglaubliche Nummer!“ Die Taube drehte eine Runde durch den Saal und landete auf der Schulter des Zauberkünstlers. Mit großer Geste verbeugten sich beide. Das Publikum im Studio applaudierte begeistert. Die Jury schritt zur Abstimmung. Die Spannung stieg. Dreimal ja. Dem Künstler hüpfte das Herz vor Freude. Nun war sicher, dass er im Finale dabei sein würde. Er sprang von der Bühne, umarmte seine Mutter, die ihn in den Kulissen erwartete, und weinte wie ein Kind. Der Zauber war gebrochen! Nicht weinen „Du darfst nicht weinen“, hatte die Großmutter zu Arev gesagt, als sie noch klein war. „Wir haben unser Leben lang genug geweint. Unsere Tränen sind versiegt. Selbst bei der Beerdigung deines Großvaters habe ich nicht eine Träne vergossen. Wenn du eines Tages weinst, dann soll es um der Liebe willen sein. Weine nur um den, den du liebst, mein Schatz.“ So sprach sie und setzte dann die alten Lippen zum Kuss auf Arevs Augen. Ihr Leben lang hatte Arev nach einer Liebe gesucht, um deretwillen sich zu weinen gelohnt hätte. Vergebens. Vielleicht hätte sie lieben können, wenn sie ihren Namen vergaß. Das im Herzen gehütete Geheimnis war stärker als alle Möglichkeiten der Liebe. Arev brachte ihr Leben damit zu, im Dunkeln nach ihrem Weg zu tasten. Ein Hund bellte. Applaus brandete auf. Ein seltsames Paar tanzte da gerade auf der Bühne: Ein Mann und ein Hund. Sie tanzten Tango. Lang, lang … Wiegeschritt … rück seit… beugen … wieder von vorn, drei Schritt vor … Wie hübsch! Mit seinem Hut und der auf Falte gebügelten Hose wirkte der Mann wie ein spanischer Tänzer. Der Hund steckte in einem Flamenco-Kostüm mit Stufenröckchen. Tanz Eine neue Melodie erklang, der Mann zog mit Schwung dem Hund das Kostüm vom Leib. Den Hut auf dem eigenen Kopf rückte er vor wie Michael Jackson. Sie tanzten zu „Billie Jean“. Der Mann legte den Moonwalk hin, der Hund tänzelte rückwärts. Im selben Rhythmus drehten sie die Köpfe nach links und rechts. Da schleuderte der Mann den Hut von sich. Nun ertönte eine orientalische Melodie. Sie führten einen Bauchtanz vor. Die Musik verstummte. Verbeugung. Applaus … Der Mann stellte den Hund vor: Das ist Lady. Der erste Juror überschüttete Lady und ihr Herrchen mit Lob. Man fragte nach der Rasse des Hundes. Arev stellte sich vor, man richte diese Frage an sie. Juror Nummer drei fand die Vorstellung „unbefriedigend“. Kaum hatte er das verkündet, fing das Publikum zu murren an. Die Abstimmung lief. Der erste Juror sagte ja, der dritte nein. Das Urteil der zweiten Jurorin ließ auf sich warten. Die Musik wurde lauter, die Spannung stieg. Und … da kam das zweite Ja. Jaaa!!! Großer Applaus. Lady stand im Finale. Vielleicht würde sie sich als das größte Talent der Türkei erweisen. Fantastisch! Ein Hund! So sollte es sein! Bauchschmerzen Arev hatte Bauchschmerzen. Ein sonderbares Ziehen stieg ihr vom Magen zum Herzen auf. Sie hätte gern einen Schluck Wasser getrunken, war aber außerstande, aufzustehen. Sie schluckte. Auf den Fernsehbildschirmen wirkte das Studio riesig, nie hätte sie gedacht, dass es so klein war. Die Luft war stickig hier. Die Hitze der Scheinwerfer, der Atem von ein paar hundert Menschen, der Schweiß der hektischen Mitarbeiter machten das Atmen schwer. Plötzlich fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Das wäre ein Skandal. Die Programmmacher liebten so etwas, und die Zuschauer auch. Wieder und wieder würde über die Bildschirme flimmern, wie die Kandidatin in Ohnmacht fiel. Die anderen Kandidaten wirkten munter. Ein Jongleur warf unablässig bunte Bälle in die Luft und fing sie wieder auf. Ein blutjunger Kandidat, dem man Schnurrbart und starke Brauen ins Gesicht gemalt hatte, beobachtete ihn voller Bewunderung. Fuchtig zog die Mutter den Sohn beiseite und ließ ihn herunterbeten, was er auswendig gelernt hatte. Eine Sängerin gab ungelenke Töne von sich, vorgeblich, um die Stimme aufzuwecken. Gedächtnis Auf einmal strich Arev ein Schwall frischer Luft durchs Gesicht. Jemand hatte die Tür geöffnet. Sie warf einen Blick nach draußen. Ein Baum stand da, eine Akazie. Wie gern wäre sie durch die Tür gegangen. Hinaus und auf und davon … Einfach verschwinden! Sie konnte nicht hinaus, sie vergrub sich wieder in sich selbst. Ist das Gedächtnis imstande, die Grenzen des Körpers zu überwinden? Wie gibt man uneingestandene Wahrheiten weiter? Wie schwer lastet die Bürde uralter Geheimnisse auf den Schultern eines Menschen? Bleiben Sündentaten über hundert Jahre hinweg lebendig? Wer zahlt den Preis dafür? Günes! Günes Demirci. Arev begriff, dass sie an der Reihe war. Ein junges Mädchen trat mit Schminkutensilien zu ihr und puderte ihr hektisch das Gesicht. Dann ordnete sie ihr das Haar. Sie sah sie an, ohne ihr in die Augen zu schauen. Dann war sie schon wieder weg. Ein junger Mann legte ihr kurz die Hand auf die Schulter: „Du bist dran. Keine Panik, du kriegst das schon hin.“ Scheinwerferlicht Der Moment freundlicher Anteilnahme tat Arev gut. Wahrscheinlich munterte der Mitarbeiter alle mit denselben Worten auf, dennoch hatten seine Worte Arev Mut gemacht. Sie stand auf und ging Richtung Bühne. Wie immer tastete sie im Dunkeln nach ihrem Weg. In der Mitte der Bühne blieb sie stehen. Die Scheinwerfer blendeten sie. Stimmen drangen an ihr Ohr, doch Arev war nicht aufnahmefähig, sie verstand die Wörter nicht. Unwirkliche Stille herrschte im Studio. Ein Ende dieser Stille reichte einhundert Jahre zurück. Das Lied Arev hatte ein Lied vorbereitet. Sie wollte singen, ganz ohne Instrumentalbegleitung, nur mit der Stimme, die ihr aus dem Herzen kam. Sie versuchte sich des Textes zu entsinnen, sich die Melodie ins Gedächtnis zu rufen … Nichts. Nur Dunkel! Da hörte sie ein Wispern aus dem Dunkeln, eine zarte, süße Stimme … Bar bar genem, bar genem Gaban gidrem shar genem Es yavruyis arevun Chift khochi khurban genem Arev kam das Wiegenlied über die Lippen, das ihr die Großmutter ins Ohr gesummt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Als das Wiegenlied verklang, öffnete sie die Augen. Sie war wieder ein kleines Mädchen. Die Juroren, das Publikum im Studio, die Zuschauer vor den Bildschirmen zu Hause, alle staunten. Der erste Juror meinte: „Hm, interessant, welche Sprache war das?“ „Klingt nach einer Balkansprache“, überlegte die zweite Jurorin laut, „vielleicht Mazedonisch?“ Und die Sprache Juror Nummer drei erteilte ihr eine Abfuhr: „Unsinn!“, sagte er. „Das ist Hebräisch. Stammst du aus Israel oder so?“ „Nein“, sagte Arev. „Ich bin hier geboren. In der Türkei.“ „Dann verrat uns doch einmal, welche Sprache das war“, drängte der erste Juror. „Schweig still!“, flüsterte die Großmutter in Arevs Ohr. „Um Gottes willen, sag kein Wort, dreh dich um und geh, sofort!“ Zum ersten Mal hörte Arev nicht auf diese Stimme. So laut sie konnte, rief sie: „Armenisch!“ Die Juroren waren pikiert, versuchten das aber zu überspielen. Ein paar Leute vor den Bildschirmen hielten den Atem an. „Wie war noch dein Name?“, fragte der erste Juror nach, leicht verstimmt. „Günes“, wisperte die Großmutter. „Du heißt Günes. Sag allen, dass du Günes heißt.“ Sie aber antwortete: „Arev!“ A-r-e-v … Mit jedem Buchstaben verzogen sich die Wolken ein Stückchen weiter. Plötzlich glaubte sie das Angesicht Gottes zu erblicken. Sie lächelte. Genau wie der Zauberkünstler verbeugte sie sich mit übertriebener Geste vor der Jury, vor dem Publikum und vor den Zuschauern zu Hause. Ohne auf die Abstimmung zu warten, lief sie durch die Tür, die zur Akazie hinausführte, und war auf und davon.
Gaye Boralioglu
Arev bricht das 100-jährige Schweigen über Armenien – während einer Castingshow im türkischen Fernsehen. Eine Kurzgeschichte.
[ "Armenien", "Literatur", "Türkei", "Buch", "Kultur", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,685
Geschäft ist Geschäft - taz.de
Geschäft ist Geschäft AUS MOGADISCHUJOCHEN STAHNKE Abdullahi Nur al-Nuurie handelt mit Waffen. Er sitzt in seinem kleinen Kiosk auf dem Bakara-Markt von Mogadischu und freut sich. Die Preise für automatische Gewehre sind innerhalb der letzten zwei Monate um 25 Prozent gestiegen, sagt al-Nuurie. Die angespannte Atmosphäre auf dem Markt scheint ihm keine Angst zu machen. Gelegentlich knallt ein Schuss: Käufer testen ihre Ware. Doch solange auf den ersten kein zweiter folgt, geht hier alles seinen normalen Gang. Der Bakara-Markt gilt als der größte offene Waffenmarkt Afrikas. Er besteht aus zwei Straßenzügen, gesäumt von Bretterbuden, Wellblechverschlägen und rudimentären Betonhäuschen, flankiert von wild wuchernden Kakteen, in denen sich Abfall verfangen hat. Der heruntergekommene Eindruck täuscht. Ganz offen werden hier Kleinwaffen aller Art feilgeboten, wie Obst liegt in offenen Kisten die dazugehörige Munition aus. Auch das deutsche G 3-Sturmgewehr ist im Angebot. Trotzdem: „Die paar Waffen hier sind doch nur Show“, sagt al-Nuurie und deutet auf seine Gewehre, Bazookas und Pistolen, die er locker und ungeschützt in seinem grob gezimmerten Unterstand lehnen hat. Schweres Gerät nämlich halten die Waffenhändler versteckt – so ein Marschflugkörper könnte dem einträglichen Geschäft schnell ein Ende bereiten. Von der unvermeidlichen Kalaschnikow AK-47 über äthiopische Panzerfäuste bis hin zu schweren Flugabwehrgeschützen ist hier nahezu jeder Artikel binnen vierundzwanzig Stunden lieferbar. „Ich verkaufe Waffen einfach an jeden, der welche verlangt“ – das ist al-Nuuries Lebensversicherung. Dreißig Jahre alt und im Bürgerkrieg groß geworden, hat er ein sicheres Auskommen in der Kriegsökonomie Somalias gefunden. „Die Mullahs“ seien augenblicklich seine besten Kunden, erzählt Kriegsgewinnler al-Nuurie. Der wachsende Einfluss radikaler Islamisten im einst kosmopolitischen Mogadischu ist nicht zu übersehen: Es gibt kaum noch unverschleierte Frauen auf der Straße, Restaurants bleiben während des Fastenmonats Ramadan geschlossen. Einzig islamische Scharia-Gerichte bieten so etwas wie Rechtssicherheit, auch wenn sie gnadenlosen Gesetzen folgen. Islamische Milizen betreiben Checkpoints und verlangen einen geringeren Wegzoll als die Posten der übrigen Warlords. Erst kürzlich haben die Scharia-Milizen die Projektoren der altehrwürdigen Bollywood-Kinos von Mogadischu zerstört, anschließend plünderten sie die Filmbibliothek Somalias und verschleppten sechs ihrer Mitarbeiter. „Bitte teilt der Welt mit, dass wir hier kurz vor einer Machtübernahme der Taliban stehen“, fleht uns ein somalischer Journalist an, der sein Büro schon geräumt und seine Fotoausrüstung versteckt hat. Der Scheich lächelt Einen charismatischen Führer haben die somalischen Islamisten: Scheich Hassan Dahir Aweys heißt der Mann, nach dem die US-Regierung wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrornetzwerk al-Qaida fahndet. Verantwortlich gemacht werden Scheich Hassan und seine Kampfgruppe „al-Ittihad al-Islamia“ für den Bombenanschlag auf ein Hotel im kenianischen Mombasa mit 13 Toten im November 2002 sowie für den versuchten Abschuss einer israelischen Boeing dort wenige Minuten später. Scheich Hassan zu treffen gestaltet sich schwierig. Per Mobiltelefon wird man kreuz und quer durch den Süden Mogadischus geleitet, eine Fehlinformation jagt die nächste. Plötzlich bremst der Fahrer abrupt auf der Staubpiste neben einer unscheinbaren Häuserzeile. Jugendliche Kalaschnikowträger winken uns in eine kleine Moschee, von außen kaum als solche zu erkennen. Dort, auf einer schäbigen Matratze in der Ecke, sitzt Scheich Hassan. Er lächelt bescheiden, blickt jedoch nicht auf. Die Beine übereinander geschlagen, blättert er versonnen im Koran. Neben ihm steht ein mittelschweres Maschinengewehr. Es ist die einzig sichtbare Waffe in dem Gotteshaus, doch es wimmelt nur so von seinen sehr jugendlichen und wachsamen Jüngern. Er höre jetzt wieder öfter die Spähflugzeuge der Amerikaner, erklärt der Scheich dem Besucher. Aber der Mann mit dem prägnanten roten Bart wirkt fröhlich und aufgeräumt, von Angst keine Spur. Scheich Hassan hat große Pläne: Er strebt ein Kalifat über ganz Somalia an. Eine demokratische Regierung lehnt er per se als unislamisch ab. Und er will Krieg. Seine Kampfgruppe al-Ittihad, sagt der Scheich, sei erst kürzlich in der von ihm gegründeten Partei „Somali Salvation and Unity Council“ aufgegangen. „Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Waffen“, erklärt er selbstbewusst. Der Erzfeind des Islamisten Hassan ist die international anerkannte Übergangsregierung von Somalia unter Präsident Abdullahi Yusuf. Sie wurde vor einem Jahr auf einer Friedenskonferenz in Kenia gebildet und wird vor allem von Äthiopien unterstützt und mit Waffen in erschreckend großer Zahl versorgt. „Äthiopien ist für Ostafrika das, was Israel im Nahen Osten ist“, doziert Scheich Hassan und lässt dabei keinen Zweifel daran, dass er beide Länder für Pestbeulen hält. Die Clans streiten In der Tat scheint Äthiopien in Somalia vor allem eine destabilisierende Politik zu verfolgen. Zankapfel ist seit je die äthiopische Ogaden-Region, die hauptsächlich von Somalis bewohnt wird und wo Guerillatruppen seit vierzig Jahren für den Anschluss an Somalia kämpfen. Scheich Hassan und große Teile der somalischen Opposition unterstützen die Rebellen im Ogaden. Laut UN-Experten wird der Scheich dabei von Eritrea versorgt, das damit seinen Erzfeind Äthiopien schwächen will. Der Rumpfstaat Somalia ist der Spielball der Regionalmächte Äthiopien, Jemen und Eritrea. Mogadischu galt einst als Perle Afrikas, davon zeugt auch der atemberaubend schöne Naturhafen aus Korallenstein. Doch eine Mischung aus Warlords, autonomen Mordbanden, militanten Islamisten und ausländischen Geheimdiensten macht aus der Stadt eine Gefahr für die gesamte Region. Hätten die Bretterverschläge der vielen Waffenkioske in Mogadischu Türen – die Kunden würden sich die Klinke in die Hand geben. Somalia steht vor seinem nächsten großen Krieg. Die Übergangsregierung unter Abdullahi Yusuf integriert zwar weitgehend alle Clans und Warlords, ist aber selbst tief gespalten. Sie ist bereits der 14. Versuch seit dem Zerfall des somalischen Zentralstaates vor 14 Jahren, eine Regierung für Somalia zu bilden. Doch auch diesmal stehen ihre Chancen schlecht. Präsident Yusuf und seine Anhänger vom großen Darod-Clan haben ihr Hauptquartier in Jowhar bezogen, einer kleinen Stadt neunzig Kilometer nördlich von Mogadischu. In der Stadt selbst sitzt die innere Opposition, vor allem Angehörige des Hawiye-Clans. Hinzu kommt: Die mit 42 Ministerien und 91 Kabinettsmitgliedern völlig überdimensionierte Übergangsregierung liest sich wie ein Who’s who der Kriegsverbrecher. Sicherheitsminister zum Beispiel ist Qanyare Afrah, der wohl mächtigste Warlord in und um Mogadischu. Seinen Reichtum verdankt er dem von ihm kontrollierten Flughafen Dayniile. Wiewohl nicht viel mehr als eine Sandpiste, wirft Dayniile täglich bis zu 10.000 US-Dollar Profit an Lande- und Sicherheitsgebühren ab. Denn den internationalen Flughafen Mogadischu fliegt niemand mehr an, er kann von fast jedem beliebigen Ort in der Stadt aus unter Feuer genommen werden. Somit landen auch UN-Maschinen in Dayniile – und zahlen. Für einen einzigen Tagessatz hat Qanyare an einem Märztag fünfzig AK-47-Sturmgewehre auf dem Bakara-Markt gekauft. Eigentlich steht Somalia ja unter UN-Waffenembargo. Aber niemand hält sich daran. In die Waffentransaktionen seien „auch 10 Minister sowie der Präsident der Übergangsregierung selbst verwickelt“, lautet das Fazit der UN-Experten, die das Embargo überwachen sollen, in ihrem jüngsten Bericht. Der Warlord kassiert Einer der wenigen regierungstreuen Warlords in Mogadischu ist Hussein Farah Aidid, stellvertretender Premierminister der Übergangsregierung. Sein Ruhm leitet sich hauptsächlich daraus her, dass sein Vater, ein erfahrener Rebellenführer, 1992 die US-Armee aus Mogadischu verjagt hat. Deshalb wohnt Sohn Aidid heute im ehemaligen Präsidentenpalast. Doch präsidiale Atmosphäre will sich trotz üppiger Plüschsessel im großen Empfangsraum nicht einstellen. Denn die „Villa Somalia“ ist eine zerschossene Ruine, in der nicht einmal die Treppen von Trümmern und Abfall geräumt sind. Ausgebildet in den USA und Veteran der US-Marines, gibt sich Aidid weltgewandt und souverän. Natürlich befürworte er einen Umzug der Übergangsregierung nach Mogadischu, erklärt er dem Besucher. Für ihre Sicherheit könne er persönlich garantieren. Hat er denn nicht von Scheich Hassan und seinen Islamkriegern gehört? Aidid beugt sich vor, die leuchtend blaue Krawatte wölbt sich über dem massigen Bauch: „Scheich Hassan kann gerne Scharia-Gerichte aufbauen. Aber er kann nicht in die Politik gehen. Das verbietet der Koran.“ Der Mann im karierten Maßanzug mit den kurzen Ärmeln scheint dabei auszublenden, dass er selbst nur noch etwa zwei Straßenzüge um die Villa Somalia herum kontrolliert. Genau wie die riesige Villa ist auch der Name Aidid nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Für ein paar Checkpoints reicht es noch. Gerade genug, um Geschäfte zu machen. Frieden will hier niemand, der auch nur eine Hand voll Milizen besitzt. Waffenhändler al-Nuurie erwartet den Krieg „sehr bald“. Beobachter sagen einen Angriff durch Scheich Yusuf zuerst auf die strategisch wichtige Stadt Baidoa voraus, danach den Vorstoß auf Mogadischu. Die Warlords dort werden sich zum Häuserkampf vereinen. Nuurie beunruhigt das nicht. Geschossen wird auf jeden Fall, Geschäft ist Geschäft.
JOCHEN STAHNKE
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,764
Die Wahrheit: Merkel, quo vadis ante portas? - taz.de
Die Wahrheit: Merkel, quo vadis ante portas? Kramp-Karrenbauer gibt auf. Und ein alter Leitartikler der Wahrheit kehrt zurück. Meinhard Rohr zur Lage der Nation im Spiegel seines Wissens. Fegt gern als Putzfrau über die Bühnen der Politik: AKK Foto: dpa Von 2001 bis 2007 kommentierte der große alte Mann des Leitartikels, Meinhard Rohr, für die Wahrheit das politische Weltgeschehen. Dann verabschiedeten wir ihn in den Ruhestand. Er ging in den Himalaja und wurde Buddhist. Aber sensationelle Ereignisse wie der Rückzug der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer verlangen nach einem erfahrenen, gewieften und cleveren Kommentator. Deshalb hat die Wahrheit im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte Meinhard Rohr zurückgeholt. Der Macher, Mahner und Maniac im Schatten der Macht kehrt zurück an Bord. Liebe Wahrheit-Leser, bitte schnallen Sie sich an. Nie, niemals und zu keiner Zeit durchlebte die Nation schwerere Zeiten. Da sind die Linken, die Rechten und die in der politischen Mitte abgeriebenen Parteien, die das Land in der Zwingschraube der Demokratie zerquetschen. Jetzt hat eines der hohen Tiere Konsequenzen gezogen und will den Augiasstall in Berlin verlassen. Die Reinigungskosten aber bleiben wie immer beim kleinen Mann, der sich verwundert die Augen reibt angesichts der Schamlosigkeit auf dem Olymp der Parteienlandschaft. Wie sagte schon der erfahrene Weimaraner Goethe: „Wem die Küche zu heiß ist, soll die Toilette meiden.“ Annegret Kramp-Karrenbauer, die zu Recht nur in gekürzter Form allerorten auftrat, hat das mit ihrem Kampfnamen AKK gravierte Ruder in den Strom der Zeit geworfen. Und nun? Quo vadis? Darüber müssen wir Steuerzahler uns keine Sorgen machen. Die kleine Saarländerin wird nicht als Putzfrau enden, als die sie im Karneval gern über die Bühne fegt. Sie wird den Schröders, Gabriels und Adenauers folgen, die sich mit goldenem Handschlag ihren Ruhestand versilberten. Aber was kommt nach ihr?, fragen sich die Kisters, Jessens und Augsteins dieser Medienwelt in ihren durchkomponierten, ausgeklügelten und bedachten Leitartikeln. Als wir noch 68er waren und ich leider zu den Linken gehörten, wusste ich die Antwort sofort. Und ich kann es auch heute allen, die wie ich den Karren am Ende des Tunnels aus dem Dreck des Lichts ziehen wollen, leise zuraunen: Jetzt kommt Merkel! Die Kanzlerin steht ante portas! Maroder, müder und matter Laden Die eigentlich auf dem Rückzug in den Weinberg befindliche Bundeskanzlerin wird, muss und kann als Einzige den maroden, müden und matten Laden CDU übernehmen. Sie wird sich so sicher wie das hundertprozentige Amen in der Kirche wieder hinter der Theke der Christdemokraten den weißen Kittel überstülpen und wie ein rundliches Schneeflöckchen unbefleckt ihre Klientel bedienen. Das hat sie von Putin, Orbán und Trump gelernt. Männern, Autokraten und Führern, die ihr stets einen schlaffen, aber hysterischen Händedruck vorwarfen und die sie nun als eiserne Kanzlerin einhegen, umgarnen und eindämmen will wie den Diadochen Merz, der ihr und ihrer Partei im Frühling blüht. Nicht viele Journalisten, Autoren und Redakteure sind mutig. Besonders die Linke, zu denen ich vor langer, langer Zeit einmal in den siebziger Jahren gehörte, hat es verlernt, Flagge zu zeigen, das Schild herauszuhängen und sich zu positionieren. Ich allerdings wage die einzige breitbrüstige Frage zu stellen: Wer sieht die Merkel, hört die Merzen? Längst ist die als „Mutti“ dauergeschmähte Chefin wieder die Siegerin im Ring, in den so mancher seinen harten Hut umsonst geworfen hat. Längst sind die Fragen verstummt, ob die Kanzlerin die Richtige im falschen Lager ist. Längst hat Merkel gelernt und wird bald, demnächst und zügig eine putineske Rochade durchführen, um für alle Ewigkeit im Amt zu bleiben. Der Ersatzzwerg Laschet, der durch die Köpfe mancher verwegener Feinde Merkels weht, ist kein Arminius, kein Cherusker, kein römischer Feldherr, der den Rubikon austrinkt, er ist nur ein kleiner Nordrhein-Westfale am Zipfel der Macht, bedeckt vom feuchten Mantel der Geschichte. So wie ich in meiner großen Zeit der Einzige war, der mit dem simplen Stilmittel der rhetorischen Trias alles dreimal, dreimal, dreimal sagte, um Gehör zu finden, gehört zu werden und ein Ohr am Zahn der Zeit zu haben, so wird Angela Merkel die Einzige sein, die den Everest der Verwirrungen erklimmen und ein Machtwort sprechen wird. Wie sagte einst ihr großer Verwandter, der Philosoph Max Merkel? „Was zählt, ist auf dem Gipfel.“ In diesem Sinn, Ziel und Zweck, wünsche ich Ihnen wirkmächtige politische Tage. Liebe Wahrheit-Leser, denken Sie einmal darüber nach. Die Wahrheit auf taz.de
Meinhard Rohr
Kramp-Karrenbauer gibt auf. Und ein alter Leitartikler der Wahrheit kehrt zurück. Meinhard Rohr zur Lage der Nation im Spiegel seines Wissens.
[ "AKK", "CDU-Parteivorsitzende", "CDU", "Wahrheit", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,765
Die Wahrheit: Lupenreine Gedanken im Kopf - taz.de
Die Wahrheit: Lupenreine Gedanken im Kopf Die Hitparade der zehn absolut tollsten Fernsehsätze während der soeben beendeten megaolympischen Spiele in Tokio. Gigantische olympische Mikrofone luden zum genauen Hinhören ein Foto: reuters Unermesslich die Menge an irisierenden, die Sprache in unbekannte Höhen hinaufballernden Formulierungen, die uns in den vergangenen vierzehn Tagen während der Olympischen Spiele entzückt und beglückt haben. Seite um Seite haben wir mitschreibend mit ihnen gefüllt. Wie da eine Wahl, eine Auswahl treffen? Am Ende können nur zehn gewinnen. Greifen wir deshalb mit verbundenen Augen in den Lostopf hinein. Mit der Startnummer 10 – am besten zu sprechen wie dazumal Dieter Thomas Heck in der ZettDeeEff-Hitparade: Béla Réthy (ZDF)! „Wann blüht die Kirschblüte in Japan?“ Ein nach Immanuel Kant lupenreines analytisches Urteil – allerdings in Frageform. Er hätte während der Eröffnungsfeier von der Expertin neben ihm auch in Erfahrung zu bringen versuchen können, ob die japanischen Junggesellen alle unverheiratet seien. Platz zehn: vollauf berechtigt. Mit der Startnummer 9: Hockeyexperte Philipp Crone (ZDF)! „Du musst bei Olympia halt einfach die Spiele gewinnen.“ Dagegen ist wenig zu sagen – außer, dass das genauso für ein Murmelkorbballturnier in Wattenscheid-Süd gilt. Trotzdem zweifellos: ein sauberer Platz neun. Mit der Startnummer 8: Speerwurfexpertin Christina Obergföll (Eurosport)! „Es gibt halt bei Olympischen Spielen immer Überraschungen.“ Ei der Daus! Keine Frage: Platz acht. Unbewusstes auf Sand Mit der Startnummer 7: Beachvolleyballexperte Julius Brink (ARD)! „Sie lassen sich nicht anstecken von dieser unterschwelligen olympischen Atmosphäre.“ Die deutschen Schmetterkünstler Clemens Wickler und Julius Thole ließen sich auf dem Sand vom Unbewussten ihren bewusst forschen Auftritt nicht verderben – zumindest zunächst. Verstehen wir zwar selber nicht, aber da beißt die Maus kein Netz durch: Platz sieben. Mit der Startnummer 6: Katrin Müller-Hohenstein (ZDF)! „Man hat ja Gedanken im Kopf, man muss ja irgendwas denken.“ Ja, das ist die Last, die der Mensch zu tragen hat. In einem der Myriaden von denkwürdig bedeutungsprallen Interviews im Studio am Gestade des Pazifiks warf KMH dieselbe jedoch lächelnd ab. Hurra! Platz sechs! Mit der Startnummer 5: Gert Herrmann (ZDF)! „Das wird ein enges Höschen.“ Im Zweiten Deutschen Fernsehen, bekannt als ZDF: zärtliche Dämlichkeit fabuliert – werden sogar beim Dressurreiten die Zügel gelockert. Vorbildlich emanzipatorisch! Haltungsplatz fünf! Mit der Startnummer 4: Eike Papsdorf (ZDF)! „Sehr ästhetisch schön, was sie hier zeigt.“ Ein für die hochmoderne Sportjournalistik exemplarischer und daher vorbildlicher weißer Schimmel. Die Pleonasmen purzeln mittlerweile wie Kita-Kinder durchs Leibesübungsfernsehen, und dieser hier – beim Kunstspringen – ist einfach so ästhetisch schön, dass wir hingerissen begeistert sind. Daher glasklar einwandfrei Platz vier! Kracher der Logik Mit der Startnummer 3: Ralf Scholt (WDR)! „Der Regen ist wieder trocken.“ An diesem Knaller, ja Knüller, ja Kracher hätten sich sämtliche Logiker der Philosophiegeschichte von Aristoteles bis Bertrand Russell die bestens gepflegten Zähne ausgebissen. Wer da nicht die bronzene Ananas verleiht, hat noch alle Tassen im Küchenschrank, und solche Kreaturen haben im zeitgenössischen Rumpelkopffernsehen nichts verloren. Null Einwand: Platz drei! Mit der Startnummer 2: Matthias Stach (Eurosport)! „Es kann noch den Zusammenschluss geben, und dann ham wir das, was am Ende rauskommt.“ Äh, hm. Wer erhebt Einspruch gegen den Eurosport-Kommentator beim 10-Kilometer-Freiwasserschwimmen? Keine Challenge? Eben. Samuel Beckett wäre neidisch gewesen. Nie war der Silberrang verdienter! Uuuuuund – mit der Startnummer 1: Frank Grundhever (SR)! „Dimitrij Ovtcharov, erlös uns!“ Glückselig sei der Saarländische Rundfunk, der den Giganten Grundhever in seinen Reihen weiß! Grundhever! Gesungen sei der Name Grundhever! Erlös uns, Grundhever! Von den Olympischen Spielen in Tokio! Von den Molesten der Welt! Grundhever! Grundhever! Tusch! Feuerwerk! Kanonenschläge! Halleluja! Und jetzt alle husch ab ins nacholympische Bettchen. Die Wahrheit auf taz.de
Jürgen Roth
Die Hitparade der zehn absolut tollsten Fernsehsätze während der soeben beendeten megaolympischen Spiele in Tokio.
[ "Olympische Spiele", "Fernsehen", "Sprache", "Wahrheit", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,850
Kosten von Stuttgart 21: „Frühestens 2016 oder 2017“ - taz.de
Kosten von Stuttgart 21: „Frühestens 2016 oder 2017“ Wer soll das bezahlen? Die Bahn droht in der Debatte über die Kostenexplosion von Stuttgart 21 mit einer Klage gegen die Projektpartner. Aber das kann dauern. Will reden und klagen und reden: Rüdiger Grube. Bild: dpa STUTTGART dpa | Im Streit über die Übernahme von Mehrkosten beim Projekt Stuttgart 21 kann die Bahn nach Einschätzung von Konzernchef Rüdiger Grube erst in drei bis vier Jahren klagen. Sollte es tatsächlich hart auf hart kommen, könnten die Voraussetzungen für eine Klage „frühestens 2016 oder 2017“ erreicht sein, sagte er der Zeitung Sonntag Aktuell. Grube betonte: „Ich will keine härtere Gangart einschlagen und will keinen Streit, aber ich kann als Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft auch nichts verschenken.“ Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte jüngst erklärt: „In der Sache sehen wir einer Klage außerordentlich gelassen entgegen.“ Die grün-rote Landesregierung und die Stadt Stuttgart verweigern jegliche Beteiligung über die ursprünglich im Finanzierungsvertrag festgehaltenen Summen hinaus. Das sind 930 Millionen Euro beziehungsweise 292 Millionen Euro. Grube setzt aber auf Konsens: „Wir reichen allen Projektpartnern in Baden-Württemberg bewusst die Hand für eine bessere Zusammenarbeit“, sagte er. „Auch den Bürgern, die uns bisher kritisch begleitet haben, reichen wir die Hand.“ Nachdem der Bahn-Aufsichtsrat am Dienstag der Ausweitung des Finanzrahmens um 2 Milliarden auf 6,5 Milliarden Euro zugestimmt und so den Weiterbau ermöglicht hatte, sei die „Phase der Unsicherheit“ vorbei, sagte Grube. „Da wurde nichts, gar nichts schöngerechnet.“ Keine Empfehlungen für Wahlkämpfe Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) fordert einen „vertrauensbildenden Bahngipfel“ zu Stuttgart 21. „Wir halten es für dringend erforderlich, dass alle Projektbeteiligten endlich mit dem öffentlichen Streiten aufhören und stattdessen den konstruktiven Dialog suchen“, sagte EVG-Chef Alexander Kirchner am Samstag. Für Bund, Bahn, Baden-Württemberg und Stadt Stuttgart gelte: „Jeder muss sich ein Stück bewegen und seiner Verantwortung gerecht werden.“ Auch der Bund müsse seien Anteil an der Finanzierung erhöhen, sagte der Vizevorsitzende des Bahn-Aufsichtsrats Kirchner. Laut Spiegel rechnet die Bahn nicht mit dem Erfolg einer Klage gegen die Stadt Stuttgart. Im Umfeld des Konzerns heiße es, auf juristischem Wege lasse sich bestenfalls eine höhere Beteiligung des Landes Baden-Württemberg an dem Neubau erreichen. Zudem solle das Eisenbahn-Bundesamt mehr Personal bereitstellen, schreibt das Magazin. Das könnten die Regierungschefs der Länder bei der Ministerpräsidentenkonferenz in dieser Woche auf Antrag Baden-Württembergs beschließen. Das Bundesamt habe aber schon jetzt Probleme, Mitarbeiter für Stuttgart 21 zu begeistern. Indirekt warnte Grube davor, Stuttgart 21 zum Thema im Bundestagswahlkampf zu machen. „Ich habe den Parteien keine Empfehlungen für ihre Wahlkämpfe zu geben“, sagte er. Unnötige Verzögerungen verteuerten aber das Projekt. „Jeder Tag, an dem auf der Baustelle nichts passiert, kostet Geld. Das kann doch kein politisches Ziel sein.“
taz. die tageszeitung
Wer soll das bezahlen? Die Bahn droht in der Debatte über die Kostenexplosion von Stuttgart 21 mit einer Klage gegen die Projektpartner. Aber das kann dauern.
[ "Bahn", "Grube", "Kretschmann", "Stuttgart 21", "Ökologie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,893
Breitschultrige Frauen in Männerrollen - taz.de
Breitschultrige Frauen in Männerrollen Zur Feminale in Köln kommen Filmemacherinnen aus der ganzen Welt. In mehr als 100 Filmen aller Längen und Genres werden Weiblichkeitsmythen unterlaufen ebenso wie Klischees von Männlichkeit – eine Übersicht Das Residenz Kino und das Filmhaus in Köln werden wieder brodeln: Die Frauen kommen. Regisseurinnen, Kamerafrauen, Filmemacherinnen. Vom 6. bis 10. Oktober ist Feminale, die größte internationale Werkschau weiblichen Filmschaffens in Deutschland. Von 750 eingereichten Werken aller Längen und Genres aus 54 Ländern wurden mehr als 100 Filme und Videos zur Präsentation auserkoren. Das beste abendfüllende Erstlingswerk wird belohnt mit dem Feminale-Debütpreis, gestiftet von der Stadtsparkasse Köln. Favorit ist unter anderen „Main Hoon Na“ von Farah Khan – übrigens der erste Film aus Bollywood, dem indischen Hollywood, von einer Regisseurin. Der Film ist voll mit Action, Stunts, Romantik und Humor, obwohl es um fundamentalistische Terroristen geht. Bei der Feminale wird er zum ersten Mal hierzulande gezeigt. Für die Quer Blick-Filme kommen viele Cineastinnen extra nach Köln. Denn in diesem Programmblock sind aktuelle Produktionen zu entdecken, die lesbisches Begehren zeigen, Weiblichkeitsmythen unterlaufen ebenso wie Klischees von Männlichkeit. Frauenkörper schießen Tore, hieven Gewichte, reiten Rodeo, sehen aus wie Männer oder sind ganz zum Männerkörper mutiert. In Kurz- oder Langform, witzig, lakonisch, poetisch, persiflierend oder experimentell. Zum Beispiel Bonanza unter Wasser: In „Trick Saddle“ schweben Cowboyhüte in einem Bassin. Dann tauchen langmähnige Synchronschwimmerinnen unter die Wasseroberfläche, gehüllt in Cowboy-Kleider verteilen sie Kinnhaken, schießen um sich. „The Undergrad“ lässt den US-Klassiker „Die Reifeprüfung“ mit Dustin Hoffmann in einem neuen Licht erstrahlen: In dem Remake sind alle Männerrollen von breitschultrigen Frauen mit Bärtchen, Krawatten und Sakkos besetzt. Aber es geht auch andersrum: „DEBS“ ist eine rasante James-Bond-Parodie, deren Macho-Part von vier schlagkräftigen Twens in Karoröckchen ausgefüllt wird. Die feindliche Agentin liegt am Ende nicht nur küssend auf einer von ihnen, die Bluse liegt auch daneben. Ein Bond hätte das niemals so charmant hinbekommen. Die meisten neuen Produktionen mit lesbischen, gender-überschreitenden Bildern kommen aus den USA nach Köln. Daneben gibt es Israels erstes Frauenfußballteam, eine indische LKW-Fahrerin, akzeptiert wie ein Mann in „Manjuben Truck Driver“, sowie eine Britin, die in ihre iranische Heimat fährt und ihre Liebe zu Frauen der Mutter erklärt. Darüber hinaus gibt es fünf Pionierinnen hinter der Kamera zu entdecken, die ethnografischen Filme in Afrika, Asien, Südamerika oder in der Südsee gedreht haben: Margaret Mead, Zora Neale Hurston und Jean Lydall zum Beispiel. Ein besonderes Highlight erwartet die Feminale-BesucherInnen beim Special Groupies. In sieben Filmen begleitet von Vorträgen geht es um die von Feministinnen stets verachteten Groupies. Highlight wird die Performance der amerikanischen Groupie-Künstlerin Cynthia Plaster Caster sein. Das neugegründete Frauen-Dokumentarfilm-Netzwerk wird sich am Freitag vorstellen. Britta Wandaogo ist eine der Gründerinnen und zeigt Ausschnitte aus ihrem in Burkina Faso gedrehten Film. CORNELIA GÜRTLER
CORNELIA GÜRTLER
Zur Feminale in Köln kommen Filmemacherinnen aus der ganzen Welt. In mehr als 100 Filmen aller Längen und Genres werden Weiblichkeitsmythen unterlaufen ebenso wie Klischees von Männlichkeit – eine Übersicht
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,920
Opposition in der Türkei: Kampf für Gerechtigkeit geht weiter - taz.de
Opposition in der Türkei: Kampf für Gerechtigkeit geht weiter Ein Oppositionskongress gerät zu einem Bekenntnis für die westliche Moderne. Erdoğan lässt sich als Erbe der Eroberer von Byzanz feiern. Kundgebung der Opposition am Sonntag im westtürkischen Canakkale Foto: afp BERLIN taz | Mit einem Großkongress unter freiem Himmel, an dem mehr als 10.000 Menschen teilnehmen, hat der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu am Wochenende seinen Kampf für Gerechtigkeit fortgesetzt. Der Kongress begann am Samstag und dauert bis Dienstag. Er soll die Themen des Gerechtigkeitsmarsches vom Juli dieses Jahres wiederaufnehmen, als Kılıçdaroğlu zur Unterstützung der politischen Gefangenen in der Türkei von Ankara nach Istanbul marschiert war. Der Kongress findet an einem symbolisch hoch aufgeladenen Ort auf der Gallipoli-Halbinsel an den Dardanellen statt. Dort verhinderte das türkische Heer unter dem Kommando des späteren Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk im Ersten Weltkrieg eine Invasion der Alliierten. Heute erinnert eine große Gedenkstätte an die Opfer des Krieges. Ohne diesen Sieg hätte es die Türkische Republik 1923 so nicht gegeben. Mit der Wahl des Ortes macht Kılıçdaroğlu klar, dass er die Werte der säkularen, aufgeklärten und nach Westen orientierten Republik verteidigen will und sich in der Nachfolge von Atatürk sieht. Ganz anders dagegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Als am Samstag der Kongress eröffnet wurde, nahm er zur selben Zeit ganz im Osten, am anderen Ende des Landes, eine Siegesfeier ab, die ebenso symbolisch wie der Kongress an den Dardanellen war. In der Nähe der heutigen Stadt Mus hatten die Seldschuken, ein Turkvolk aus Zentralasien, 1071 eine entscheidende Schlacht gegen das Byzantinische Reich gewonnen und damit den Weg zur türkischen Besiedlung von Anatolien freigemacht. So wie Kılıçdaroğlu sich in der Tradition von Atatürk und der westlichen Moderne sieht, stellte sich Erdoğan in die Tradition des seldschukischen Sultans Alp Arslan, der seine Truppen zum Sieg gegen den Kaiser Romanos IV. Diogenes führte. Erdoğan ließ sich bei seiner Rede von Männern in seldschukischen Fantasieuniformen flankieren und behauptete, so wie Alp Arslan siegreich gegen die Byzantiner war, habe er siegreich die Putschisten vom 15. Juli geschlagen und damit seinen Gründungsmythos für die neue Türkei geschaffen. Mehr als 700 Sprecher Gegen diese neue Türkei stemmen sich die Teilnehmer des Kongresses an den Dardanellen. Es gibt in dieser neuen Türkei „weder Recht noch Gerechtigkeit“, sagte Kılıçdaroğlu in seiner Eröffnungsrede. „Es ist unsere Aufgabe, sich gegen den Tyrannen vor die Unschuldigen zu stellen“, beschrieb er das politische Ziel der Bewegung für Gerechtigkeit. Kılıçdaroğlu sieht nicht nur seine Partei, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, in der Pflicht, sondern machte den Kongress wie schon seinen „Marsch für Gerechtigkeit“ zu einem überparteilichen Ereignis der gesamten Opposition. Mehr als 700 Sprecher aus verschiedenen politischen Lagern werden bis Dienstag in acht Panels über die Justiz, die Bildungssituation, die Medien, die eingeschränkte Religionsfreiheit für alle Nicht-Sunniten und die Einschränkungen der Lebensformen sprechen. Erdoğan wird nervös „Wir wollen keinen Streit“, sagte Kılıçdaroğlu, aber die gegenwärtige Tyrannei sei nicht hinnehmbar. „Die Gefängnisse sind überfüllt, ständig werden Bürger per Dekret aus ihrem Job geworfen, ohne dagegen klagen zu können. Die Justiz muss wieder unabhängig werden.“ Mit seinem Kampf für Gerechtigkeit hat der Oppositionsführer einen Nerv in der Gesellschaft getroffen. Sein Gerechtigkeitsmarsch wurde zu einer Massenveranstaltung, und auch jetzt kann Erdoğan die Nachrichten über den Kongress nicht unterdrücken. Er wird nervös und griff Kılıçdaroğlu in den letzten Wochen mehrfach an. Einmal drohte er ihm sogar mit einer Festnahme und einem Verfahren, was die Popularität von Kilicdaroglu jedoch erhöhte.
Jürgen Gottschlich
Ein Oppositionskongress gerät zu einem Bekenntnis für die westliche Moderne. Erdoğan lässt sich als Erbe der Eroberer von Byzanz feiern.
[ "CHP", "Opposition in der Türkei", "Recep Tayyip Erdoğan", "Türkei", "Europa", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,938
Die Wahrheit: Stehe nicht zur Verfügung - taz.de
Die Wahrheit: Stehe nicht zur Verfügung Viele Leute drängt es in immer neue Ämter. Aber warum nicht einfach Nein sagen? Endlich will mal jemand keine Verantwortung übernehmen. Wie mehrere gewöhnlich gut unterrichtete Medien berichten, wird Corinna Stegemann auch in diesem Jahr wieder nicht für irgendeine Art von Amt zur Verfügung stehen. Als Grund nannte sie wie jedes Jahr: „Ihr könnt mich alle mal, ich hab Geld wie Mist! Das Einzige, was mich noch hervorlocken könnte, wäre eine Neuauflage von ‚Barbapapa‘, dargestellt durch F. Murray Abraham.“ Experten vermuten, dass Stegemann sich schon vor vielen Jahren mit dem grassierenden Keine-Lust-Virus angesteckt hat. Aus Stegemanns privatem Umfeld verlautete allerdings, dass vor achtzehn Jahren eine riesengroße Spinne an der Decke über ihrem Bett saß und dass sie seither nie wieder eine Tür oder ein Fenster geöffnet hat. Ähnlich wie Marlene Dietrich (oder war es Greta Garbo?) hat sich la Stegemann in einem geheimen Hotelzimmer in Bukarest verschanzt und schießt mit einer Bazooka auf jeden Paparazzo, der es wagt, ihr auch nur auf 1.000 Meter nahezukommen. Vorsicht ist also geboten. Die Gewerkschaft der Spinnentiere hat jetzt eine Demonstration gegen die Diskriminierung von Spinnentieren organisiert. Deren Sprecherin Thekla Maxima betont im Interview mit dem Spiegel: „Sagt nicht: ‚O pfui – eine Spinne!‘ Warum auch? Weil wir acht Beine haben? Wen stört es? Ihr Menschen habt zwei Beine und zwei Arme. Wen stört es? Wir sind doch gar nicht so! Wenn man uns aus einer Höhe von dreißig Zentimetern auf den Boden schmeißt, dann können wir uns theoretisch eines unserer acht Beine brechen, obwohl wir keine Knochen haben. Kein Mensch, der einen Vertreter unserer Art angewidert bei Nieselregen und Kälte aus dem dritten Stock geworfen hat, rennt hinterher, um zu gucken, ob wir es heil überstanden haben. Was die Stegemann da gerade durchzieht, ist gegen jede Vernunft!“ Dennoch gibt es auch andere Stimmen. Zum Beispiel die von Corinna Stegemann, die über ihren Anwalt mitteilen lässt: „Sollte noch eine einzige Spinnendemo an meinem geheimen Hotelzimmer in Bukarest vorbeiziehen, dann …“ Der Bundespräsident wollte sich gestern nicht zu der brisanten Thematik äußern. Es schien, als starre er unentwegt seine Socken an, ungeachtet der vielbeinigen Reporter, die seine Füße belagerten. Der mittlerweile tausendjährige Joschka Fischer war für einen Kommentar nicht zu erreichen, weil er irgendwo im Kaukasus zusammen mit dem verstorbenen Frank Sinatra unter einem Gemälde Sauerbraten isst und nicht die geringste Lust hat, wieder auf dem diplomatischen Parkett auszurutschen. Einzig Angela Merkel war bereit, den merkwürdigen Rückzug der Stegemann zu kommentieren: „Gute Idee, das mach ich auch. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können, ich kleines Trottellienchen.“ Vielleicht sieht man schon bald die beiden vertrottelten Rückzieher in einem gemeinsamen Garten in Bukarest Kräuter säen. Die Wahrheit auf taz.de
Corinna Stegemann
Viele Leute drängt es in immer neue Ämter. Aber warum nicht einfach Nein sagen? Endlich will mal jemand keine Verantwortung übernehmen.
[ "Verantwortung", "Wahrheit", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,972
dvd: Müllabfuhr und Triebabfuhr - taz.de
dvd: Müllabfuhr und Triebabfuhr João Pedro Rodrigues' großartig perverses Filmdebüt "O Fantasma" erzählt von Sex zwischen Müllbergen, Mensch und Hund und einem Latexkostüm. Bild: salzgeber Auf erratischen Bahnen zwischen Müllabfuhr und Triebabfuhr bewegen sich "O Fantasma", das Filmdebüt des Portugiesen João Pedro Rodrigues, und dessen Held Sérgio (Ricardo Meneses). Das erste Bild des Films zeigt einen unruhigen Hund mit schwarzem Fell in einem dunklen Gang. In der nächsten Einstellung sieht man, als wäre der Hund Mensch geworden, einen Mann in schwarzem Ganzkörperlatex beim schwulen A-Tergo-Sex: O Fantomas! Nicht um einen Hund, der Mensch, sondern um einen Menschen, der Hund wird, geht es jedoch in "O Fantasma". Der Film hat keinen Plot. Er hat ein Gesetz, und das ist sehr einfach: Wo Ich ist, muss Es werden, und zwar restlos. Zu sehen sind Passanten, Passionen, Passagen der Nacht - doggie style. Ob Utopie oder Dystopie eines triebgesteuerten Lebens, ist kaum zu sagen. Sérgio, der Müllmann, entdeckt das Leben als Hund und bespringt schamlos die Welt. Er wühlt im Abfall, sucht, schnüffelt, findet und genießt, wortlos fast, abgetragene Lust. Die gebrauchte Badehose, die Motorradhandschuhe, den Latexanzug. Das Hexeneinmaleins der Instantanfetischisierungen: Alles meins, aus Müll mach Lust, bell mir die Hunde-Konjugation: Ich besorg es dir, du besorgst es mir, wir besorgen es uns. (Nicht zu vergessen die Wonnen der masturbatorischen Duschseilstrangulation. Dont try this at home!) Nächtliche Traum- und Alptraumszenarien. Sérgio gelangt von einem verlassenen Landweg ganz unvermittelt an den Rand einer Autobahn. In einem abgestellten Wagen ein gefesselter und geprügelter Polizist. Sérgio holt ihm umstandslos einen runter, die Spermareste leckt er sich von der Hand. Später - aber zwischen später und gleich gibt es im Monoversum von "O Fantasma" wenig Unterschied - begegnen sie sich wieder. Sérgio auf einem Motorrad, das er leckt, küsst und streichelt. Drohend und lockend nähert sich, von hinten natürlich, der Polizist. Er ist nicht allein, er wird Sérgio - gleich oder später - Handschellen anlegen; dann kniet Sérgio vor seinem Hosenschlitz, er geht ihm an die Wäsche, er lässt von ihm ab. Dann ist da Fatima (Beatriz Torcato), die Müllfrau, die es mit dem Vorgesetzten der beiden, Virgilio (Eurico Vieira), treibt. Einander begehren (womöglich), miteinander balgen (definitiv) aber auch Fatima und Sérgio. Sie kriechen, sie wälzen sich auf dem Boden. Im Hintergrund bellen unablässig die Hunde. Und vor allem ist da der Mann, den Sérgio voyeuristisch begehrt. Er stellt ihm nach, er bezieht einen Beobachtungsposten im Baum vor dem Fenster. Er bricht ein und bepinkelt das Bett. Später knebelt er ihn, fesselt er ihn, wirft ihn aus dem Fenster (es ist nur der erste Stock) und lässt unvermittelt von ihm ab. Sérgio ist einer, den die Lust überkommt, der eine Beute macht und im nächsten Moment die Lust wieder verliert. Vom Hund ohne Fell wird Sérgio zuletzt zum Phantom im Latexgewand. Er hat den Stadtraum verlassen, er springt, schleicht, frisst, schläft und kauert jetzt als pures Es im Superheldenkostüm nur noch zwischen Maschinen und Müll. Wir erhaschen einen letzten Blick aus dem Maschinenraum. Sérgio - der in Wahrheit längst keinen Namen mehr trägt - stiehlt sich aus dem Rahmen, den eine Tür noch gibt, einfach davon und ward nicht mehr gesehen. Über dem Abspann eine triumphal finstere Variation von Suicides "Dream Baby Dream", eingespielt vom Triumvirat Alan Vega, Alex Chilton und Ben Vaughn. "O Fantasma" lief - kaum zu glauben - vor sieben Jahren im Wettbewerb von Venedig. In deutsche Kinos gelangte er nie. Nun hat sich die "Edition Salzgeber" ein Herz gefasst und das erstaunliche Werk auf DVD zugänglich gemacht. Als Bonus gibt es einen englischen Audiokommentar des Regisseurs, der, akustisch und sprachlich oft unverständlich, zum Glück nichts erhellt.
Ekkehard Knörer
João Pedro Rodrigues' großartig perverses Filmdebüt "O Fantasma" erzählt von Sex zwischen Müllbergen, Mensch und Hund und einem Latexkostüm.
[ "Film", "Kultur", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
12,982
Wahlen in Nigeria: Noch liegt die Opposition vorne - taz.de
Wahlen in Nigeria: Noch liegt die Opposition vorne Präsident Goodluck Jonathan verliert mehrere Großstädte im Südwesten – kann aber weiterhin hoffen. Seiner Partei PDP wird Betrug vorgeworfen. Ging in Port Harcourt alles mit rechten Dingen zu? Diese Frauen glauben das nicht. Bild: reuters BERLIN taz | In Nigeria hat Oppositionsführer Muhammadu Buhari in den ersten Teilergebnissen der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom Samstag und Sonntag einen deutlichen Vorsprung erzielt. Nach Veröffentlichung der Ergebnisse von 313 der 774 Distrikte Nigerias lag Buhari am frühen Montag nachmittag bei rund 65 Prozent der Stimmen. Diese Führung ist seit Beginn der Verkündung von Teilergebnissen am Sonntag abend konstant. Das offizielle Wahlergebnis will die Wahlkommission INEC noch am Montag bekanntgeben. Sie rief Journalisten bereits mittags zur Pressekonferenz in ihre Zentrale in der Hauptstadt Abuja. Derweil warnt sie vor der unautorisierten Veröffentlichung von Teilergebnissen durch die Medien. Dies kümmert Nigerias Zeitungen jedoch nicht, und viele von ihnen bringen auf ihren Livetickern ständig neue Teilergebnisse aus einzelnen Distrikten oder gar Wahllokalen. Von INEC wurden ebenfalls schon die Zahlen von mehreren fertig ausgezählten Bundesstaaten verkündet. Demzufolge hat Buhari nicht nur in seinen traditionellen Hochburgen im Norden abgeräumt – in seinem Heimatstaat Katsina kam er auf über 90 Prozent, ebenso in den bisher vorliegenden Ergebnissen des bevölkerungsreichsten nördlichen Bundesstaates Kano. Er hat es auch erstmals geschafft, die größte nigerianische Stadt Lagos im äußersten Südwesten des Landes sowie andere südwestliche Städte wie Ibadan und Abeokuta zu erobern. Präsident Goodluck Jonathan, der bei den letzten Wahlen 2011 noch die Mehrheit im Südwesten erzielt hatte, konnte dort diesmal nur die eher ländlichen Gebiete halten. Während die Teilergebnisse aus dem Südwesten Montag früh bereits fast vollständig veröffentlicht waren, lagen aus Jonathans traditionellen Hochburgen im Niger-Flussdelta („Süd-Süd“ in der nigerianischen Geografie) und im Südosten des Landes erst sehr wenige Ergebnisse vor. Buharis Vorsprung dürfte daher noch deutlich schrumpfen, wenn er überhaupt bis zum Ende hält. Auf eine mögliche Umkehr der Wahlergebnisse reagiert Buharis Oppositionsbündnis APC (All Progressives Congress) bereits mit Betrugsvorwürfen gegen Jonathans bisherige Regierungspartei PDP (People's Democratic Congress). Der APC verlangte die Annullierung des Urnengangs im Bundesstaat Akwa Ibom im Niger-Flussdelta, in dem die veröffentlichten Ergebnisse Jonathan rund 500.000 Stimmen und Buhari lediglich rund 30.000 geben. Akwa Ibom ist der einzige Bundesstaat aus diesem Landesteil, aus dem es überhaupt schon Zahlen gibt. Stress in den Delta-Provinzen Besonders groß ist die Spannung im größten Bundesstaat des Niger-Flussdeltas, Rivers, dessen Hauptstadt die Ölmetropole Port Harcourt ist. Der bisherige PDP-Provinzgouverneur Rotimi Amaechi ist mittlerweile APC-Wahlkampfleiter, was die politische Landschaft hier besonders kompliziert macht. Da Amaechi genau weiß, mit welchen zweifelhaften Methoden bisher die PDP in den Delta-Provinzen die Wahlen für sich entschied, kann er diese jetzt auch besonders glaubwürdig anprangern. Er verlangte schon am Samstag eine komplette Neudurchführung der Wahlen in Rivers und rief APC-Anhänger zum Boykott auf, da die Wahl eine Farce sei. Die vorgeschriebenen Vordrucke, auf denen in jedem Wahllokal die jeweiligen Ergebnisse eingetragen werden müssen, seien gar nicht erst an die Wahllokale ausgeliefert worden, behauptete APC-Gouverneurskandidat Dakuku Peterside. Regierungstreue Mitarbeiter der Wahlkommission würden sie stattdessen gemeinsam mit PDP-Aktivisten zuhause ausfüllen. Somit habe keine reguläre Wahl stattgefunden. Die Wahlkommission INEC widersprach und sagte, in Rivers sei sehr wohl gewählt worden. Am Montag gingen in Port Harcourt Tausende von Demonstranten für eine Annullierung dieser Wahl auf die Straße. Spannungen gab es am Montag auch in den Bundesstaaten Taraba (Osten) und Bauchi (Norden). In Bauchi verhängten die Behörden über mehrere Bezirke den Ausnahmezustand in Reaktion auf Angriffe der Islamistenarmee Boko Haram, was Demonstranten an manchen Orten aber nicht daran hinderte, die Nacht vor den Wahllokalen zu verbringen.
Dominic Johnson
Präsident Goodluck Jonathan verliert mehrere Großstädte im Südwesten – kann aber weiterhin hoffen. Seiner Partei PDP wird Betrug vorgeworfen.
[ "Parlamentswahl", "Präsidentschaftswahl", "Muhammadu Buhari", "Goodluck Jonathan", "Nigeria", "Afrika", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,022
136.000 Versicherte und 300 Mitarbeiter: Krankenkasse droht die Pleite - taz.de
136.000 Versicherte und 300 Mitarbeiter: Krankenkasse droht die Pleite Die niedersächsische Krankenkasse BKK24 steht vor der Zahlungsunfähigkeit, eine Insolvenz könnte folgen. Keine Sorgen, sagt die Kasse. Rezept gegen Medizin: Müssen sich Versicherte der BKK24 hier Sorgen machen? Foto: Arno Burgi/dpa HAMBURG taz | „Länger besser leben“, lautet der Werbespruch der niedersächsische Krankenkasse BKK24. Unklar scheint im Moment, ob die Krankenkasse dieses Motto auch für sich selbst einlösen kann: Sie steht mit ihren rund 136.000 Versicherten vor einer möglichen Insolvenz. Der gesetzliche Versicherer mit seiner Zentrale in Obernkirchen (Kreis Schaumburg) hat ein offenbar mehrere Millionen Euro großes Loch in seinen Finanzen, das es eigentlich nicht geben dürfte. Ein sogenannter „Einmaleffekt“ soll laut Geschäftsführer Jörg Nielaczny an der Notlage Schuld sein. Worum genau es sich dabei handeln soll, darüber schweigt sich die BKK24 aus. Einerseits verlangt die Kasse vergleichsweise niedrige Zusatzbeiträge, was für die finanziellen Probleme verantwortlich sein könnte. Andererseits berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland allerdings auch von „Unstimmigkeiten im Rechnungswesen“. Am Montag hatte die Schaumburger Zeitung berichtet, dass bereits ein Insolvenzantrag eingereicht worden sei. Das dementierte die BKK24 zwar zunächst, bestätigte allerdings die finanzielle Schieflage und die Befürchtung, dass der Versicherer vor der Zahlungsunfähigkeit stehe. „Die BKK24 hat beim zuständigen Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) vorsorglich einen möglichen Liquiditätsengpass angezeigt“, sagt Nielaczny. Das BAS hat die Aufsicht über bundesweit tätige Krankenkassen und überprüft derzeit die finanzielle Situation der BKK24. Das Bundesamt wäre auch zuständig, im nächsten Schritt die Insolvenz zu beschließen. Millionenschweres Loch in der Kasse Geschäftsführer Nielaczny gibt sich demonstrativ gelassen: „Die BKK24 ist im Tagesgeschäft und strukturell gesund“, sagt er. Sorgen müssten sich weder Mit­ar­bei­te­r:in­nen noch die Versicherten machen. Welche Summe genau fehlt, will die BKK24 nicht verraten. Nach Recherchen der Schaumburger Zeitung sollen es mehr als 8,5 Millionen Euro sein. Zahlungsunfähige KassenIst eine Krankenkasse zahlungsunfähig, sind zwei Optionen gesetzlich geregelt: Entweder ordnet die staatliche Aufsichtsbehörde die Schließung der Krankenkasse an oder es wird ein juristisches Insolvenz­verfahren eröffnet.In beiden Fällen bleiben alle Ansprüche der Versicherten zunächst bestehen. Bei einer Schließung müssen sie sich allerdings eine neue Krankenkasse suchen.Die Auswahl ist jedoch in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zurückgegangen. Gab es im Jahr 2000 bundesweit noch 420 Krankenkassen, sind es nach aktuellem Stand nur noch 103.Gesetzliche Krankenkassen sind im Gegensatz zu privaten unabhängig von Alter, Gesundheitszustand oder Vorerkrankungen zur Aufnahme neuer Mitglieder gesetzlich verpflichtet. Unmittelbar selbst lösen kann und darf die Kasse das nicht: Es ist Krankenkassen grundsätzlich verboten, ohne ausdrückliche Erlaubnis Kredite am Kapitalmarkt aufzunehmen. In den vergangenen Jahrzehnten kam es nur sehr selten vor, dass Krankenkassen in finanzielle Schieflagen gerieten. Zuletzt mussten zwei kleinere Kassen Anfang des vergangenen Jahrzehnts Insolvenz anmelden. Sollte an den berichteten Unstimmigkeiten im Rechnungswesen etwas dran sein, stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit. Die beiden gegenwärtigen Geschäftsführer – Nielaczny teilt sich die Aufgabe mit Tobias Mittmann – hatten ihre Posten vor nicht einmal einen Monat übernommen. Nun mussten sie als eine der ersten Handlungen im neuen Job die finanziellen Schwierigkeiten bekanntgeben. Der vorherige Geschäftsführer hatte 31 Jahre lang den Posten inne. Und in dieser Zeit hatte die BKK24 einen rasanten Wachstumskurs hingelegt. Ursprünglich war die mittlerweile fast 140 Jahre alte BKK24 eine kleine Betriebskrankenkasse der Obernkirchener Glasfabrik Heye. Im Zuge der in der Gesundheitsreform 1996 beschlossenen Wahlfreiheit für Versicherte – aber auch durch Fusionen mit anderen Krankenkassen – wuchs die BKK24 im vergangenen Vierteljahrhundert jedoch massiv von knapp 4.000 Mitgliedern auf heute rund 136.000 an. Erst 2017 schluckte die BKK24 die Mainzer BKK Advita mit 37.000 Versicherten. Durch die Fusion wuchs der jährliche Umsatz auf rund 440 Millionen. Knapp 300 Menschen, vor allem in der Zentrale in Obernkirchen, arbeiten für die BKK24. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums ändere eine Pleite der Krankenkasse zunächst nichts am Versicherungsschutz der Mitglieder: „Auch bei Schließung einer Krankenkasse durch die Aufsichtsbehörde oder bei einem Insolvenzverfahren ist der Versicherungsschutz für die Mitglieder gesichert.“ Neue Leistungsansprüche können Mitglieder dann nicht mehr stellen, die laufenden würden dann von einer neuen Krankenkasse übernommen. Doch so weit soll es laut Nielaczny nicht kommen. Die Beschäftigten müssten keine Angst haben, ihre Jobs zu verlieren, betont Nielaczny. Und für die Kundschaft gebe es derzeit ohnehin kein Grund zur Sorge: „Alle Versicherten sind abgesichert. Alles wird normal bearbeitet.“ Ganz raus sind sie damit allerdings nicht: Um das Finanzloch zu stopfen, müssen nämlich die Versicherten selbst einspringen. Zwar wolle man Zusatzleistungen nicht kürzen, um die Ausgaben zu senken, allerdings hat die BKK24 bereits angekündigt, den Zusatzbeitrag ihrer Mitglieder für einige Monate zu erhöhen, um die drohende Pleite abzuwenden. So könnte das Loch durch die Versicherten geschlossen werden – sofern diese nach der Ankündigung nicht in großen Massen ihre Mitgliedschaft kündigen.
André Zuschlag
Die niedersächsische Krankenkasse BKK24 steht vor der Zahlungsunfähigkeit, eine Insolvenz könnte folgen. Keine Sorgen, sagt die Kasse.
[ "Krankenkassen", "Niedersachsen", "Gesundheitsversorgung", "Insolvenz", "Gesundheitsministerium", "Nord", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,147
Protest nach Suizid eines Abgeschobenen: Ein Sarg vor dem Innenministerium - taz.de
Protest nach Suizid eines Abgeschobenen: Ein Sarg vor dem Innenministerium Jamal Nasser M. nahm sich in Afghanistan das Leben, nachdem er abgeschoben wurde. AktivistInnen protestierten vor Seehofers Ministerium. Mahnwache mit einem symbolischen Sarg und Geburtstagskuchen vor dem Innenministerium in Berlin Foto: dpa BERLIN taz | Rund 70 Menschen kamen Donnerstagabend vor dem Innenministerium in Berlin zu einer Mahnwache für den abgeschobenen Asylbewerber Jamal Nasser M. zusammen. Der Afghane war am Dienstag in Kabul nach einem Suizid tot aufgefunden worden. Eine Woche zuvor war er aus Deutschland mit 68 weiteren Afghanen abgeschoben worden. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte sich am Tag vor dem Bekanntwerden des Suizids erfreut über die ungewöhnlich hohe Zahl der Abgeschobenen gezeigt: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden.“ AktivistInnen trugen deshalb am Donnerstag einen schwarzen Sarg vor das Bundesinnenministerium und stellten Grablichter auf. Zudem platzierten sie einen Kuchen mit der Aufschrift „Happy Birthday“ auf dem Sarg und präsentierten zwei symbolische Geschenkpakete mit den Aufschriften „R.I.P. Jamal Nasser M.“ und „Glückwunsch Horst“. „Nach der Meldung über den Suizid des abgelehnten Asylbewerbers habe ich mich hilflos gefühlt. In einer Impulshandlung habe ich die Mahnwache angemeldet“, erzählt Raphael Thelen der taz. Thelen ist Journalist und hatte deshalb Zweifel, ob dieser Schritt richtig ist. „Zuerst aber bin ich Mensch.“ Während der Mahnwache will er selbst nicht auftreten, ruft nur zu einer Schweigeminute auf. „Keine Parolen, keine Reden“, steht in seiner Veranstaltungsankündigung. „Gleichgültigkeit der Gesellschaft“ Einer, der reden will, ist Ferdinand Dürr. Er ist Mitgründer der deutsch-syrischen Initiative Adopt a Revolution, die zivilgesellschaftliche Arbeit in Syrien unterstützt. „Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland“, ruft er. Und: „Wir sind entsetzt, dass jemand Innenminister sein kann, der so für eine absolute Verschärfung eintritt.“ Seehofers Politik führe dazu, dass der Rechtspopulismus in den Parlamenten eher stärker als schwächer werde. Auch das Bündnis Seebrücke und der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband (Die Linke.SDS) beteiligten sich an der Protestaktion. „Wir kritisieren die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, wenn Menschen sterben“, sagt die SDS-Aktivistin Rhonda Koch zur taz. „Abschiebung kann Mord bedeuten. Der Fall von Jamal Nasser M. zeigt, dass das nicht nur eine linksradikale Parole ist.“ Jamal Nasser M. kam aus der nordafghanischen Provinz Balkh und war 23 Jahre alt. Er hatte acht Jahre lang in Deutschland gelebt, war also als Minderjähriger angekommen. Verantwortlich für seine Abschiebung ist die rot-grün regierte Hansestadt Hamburg, wo der Afghane seinen Asylantrag gestellt und gelebt hatte. Dort war er unter anderem wegen Diebstahls und Körperverletzung verurteilt worden. Berichterstattung über SuizidNormalerweise berichten wir nicht über Suizide. Dies gibt der Pressekodex vor. Dort heißt es: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Ausnahmen sind zu rechtfertigen, wenn es sich um Vorfälle der Zeitgeschichte oder von erhöhtem öffentlichen Interesse handelt.Zudem meiden wir Berichte über Selbsttötungen, da hierdurch die Nachahmerquote steigen könnte.Sollten Sie von Suizidgedanken betroffen sein, so wenden Sie sich bitte an professionelle Helferinnen und Helfer. Diese finden Sie jederzeit bei der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder auch unter www.telefonseelsorge.de. Warum M. für den Abschiebeflug am 3. Juli ausgewählt wurde, müsse man die Hamburger Behörden fragen, sagte Seehofer während der EU-Innenministerkonferenz in Innsbruck. „Die Bundesländer führen uns diese Personen zu, und wir unterstützen die Bundesländer bei diesen Abschiebungen.“ Der Suizid sei „zutiefst bedauerlich, und wir sollten damit auch sachlich und rücksichtsvoll umgehen“. Demonstrationen für legale Fluchtwege Das Bündnis Seebrücke will auch in der nächsten Woche seinen Protest gegen die aktuelle europäische Flüchtlingspolitik auf die Straßen tragen. In ganz Deutschland wird es über 15 Demonstrationen für legale Fluchtmöglichkeiten nach Europa geben. „Wir wollen offene Grenzen, ein solidarisches Europa und ein sofortiges Wiedereinsetzen der Seenotrettung“, sagt Bündnissprecherin Liza Pflaum zur taz. Die Demonstrationen werden dabei nicht zentral gesteuert, sondern von Einzelpersonen und Gruppen aus den jeweiligen Städten organisiert. „Wir sind total überwältigt, wie sich die neu gegründete Bewegung fortsetzt, an allen möglichen Orten sprießen Aktionen aus dem Boden“, so Pflaum weiter. Es sei wichtig, dass von überall deutlich gemacht werde, dass die jetzige Flüchtlingspolitik nicht unterstützenswert sei.
Frederik Schindler
Jamal Nasser M. nahm sich in Afghanistan das Leben, nachdem er abgeschoben wurde. AktivistInnen protestierten vor Seehofers Ministerium.
[ "Flüchtling", "Abschiebung", "Suizid", "Flucht", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,321
Hochwasser in Ukraine: Hier geblieben - taz.de
Freiwillige versuchen An­woh­ne­r:in­nen zu evakuieren. Oft können sie nur Trinkwasser bringen Foto: Oleksandr Klymenko/reuters Hochwasser in Ukraine:Hier geblieben Die ukrainische Stadt Cherson steht halb unter Wasser. Vor allem Arme und Ältere wollen ihre Häuser nicht verlassen. Wer es wagt, muss mit Beschuss rechnen. Ein Artikel von Daniel SchulzMaksim NakonechnyiKristina Lizogub 12.6.2023, 19:04  Uhr Während auf der Straße neben seinem Laden noch knöchelhoch das Wasser steht, schippt Oleksii Gesin eine braungraue Masse aus durchnässter Erde und aufgeweichten Verpackungen durch die Tür seines Geschäfts nach draußen. Der starke Regen spült einen Teil der Masse fort, das andere, tritt er, treten andere vor dem Eingang fest. Drinnen gibt es noch mehr von diesem feucht und muffig riechenden Schlamm, umgekippte Kühlschränke und Regale formen kantige Inseln im dunklen Watt. Dazwischen Gläser, dreckige Reistüten, rote Säcke aus Plastik. „Ich mache so schnell wie möglich wieder auf“, sagt Oleksii Gesin. 60 Jahre ist er alt und er hat den Laden hier seit 1997. „Hier wohnen vor allem Menschen mit wenig Geld“, sagt er. „Die brauchen Zugang zu Lebensmitteln.“ Fünf Tage ist es an diesem Sonntag in Cherson her, dass der Damm des 1956 in der Sowjetunion gestauten Kachowkasees in der Ukraine gebrochen ist. 230 Kilometer war der See lang, 900 Kilometer Küstenlinie, 18,2 Milliarden Kubikmeter Wasser, die den Dnipro und seine Nebenflüsse so sehr anschwellen ließen, dass das Wasser in Gesins Lebensmittelladen schon am späten Nachmittag des 6. Juni bis zur Türklinke stand; 5 Meter 29 wird einen Tag später der Höchstsstand gemessen, 3 Meter 60 sind es am Sonntag noch. Knapp achtzig Siedlungen sollen laut Angaben des ukrainischen Innenministeriums überflutet sein, vierzehn davon im vom Russland besetzten Gebiet am linken Ufer des Dnipro. Auch in der knapp 100 Kilometer nordwestlich von Cherson gelegenen Stadt Mykolaiw steht Wasser in den Straßen, bei Odessa treiben abgelöste Dächer von Häusern im Schwarzen Meer. Besonders hart getroffen Das Gesundheitsministerium warnt wegen des verschmutzten Wassers vor Krankheiten wie Cholera. Bislang seien knapp 2.700 Menschen aus dem Gebiet Cherson evakuiert worden, meldet das Innenministerium in Kyjiw, etwa 1.000 aus dem Gebiet Mykolajiw. Aber auch wenn andere Gebiete ebenfalls betroffen sind, für die Menschen in Cherson ist die Flut ein besonders harter Schlag. Die Stadt wurde nur wenige Tage nach der Invasion im Februar 2022 von Soldaten der Russländischen Förderation eingenommen und besetzt, viele hier fragen immer noch, was die ukrainische Regierung falsch gemacht hat, dass das so schnell passieren konnte. Erst im November vergangenen Jahres eroberten ukrainische Truppen die Stadt zurück. Oleksii Gesin, Ladenbesitzer„Hier wohnen vor allem Menschen mit wenig Geld. Die brauchen Zugang zu Lebensmitteln“ Und jetzt, rund ein halbes Jahr später, erleben die Einwohner die Zerstörung des Kachowka­damms. Kontrolliert wurde er von Russlands Soldaten, für die Menschen in Cherson, mit denen wir sprechen, steht daher fest, dass Putins Armee dafür verantwortlich ist. Weitermachen, die Menschen brauchen schließlich Lebensmittel: Oleksii räumt seinen Laden auf Foto: Genya Savilov/afp/getty images Oleksii Gesin bekommt Besuch, ein alter Freund läuft an seinem Geschäft vorbei, bleibt vor den gesplitterten Schaufenstern stehen. Wolodymyr ist 63 Jahre alt, möchte seinen Nachnamen nicht verraten. Er zeigt eine Soldatenplakette, die er um den Hals trägt, er hat in Afghanistan für die Sowjetunion gekämpft. Er will nicht wiedererkannt werden von Menschen in Russland, von den Geheimdiensten dort, sagt er. Die Angst vor Russland ist bei manchen groß, seitdem Putins Armee hier geherrscht hat. Dumpfe Schläge von großen Kalibern Wolodymyr wohnt gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite hinter der Apotheke und ist einer der wenigen, die an diesem Sonntag überhaupt unterwegs sind. Cherson wirkt leer, man kann minutenlang laufen, ohne einem Menschen zu begegnen. Wolodymyr bewegt die Lippen kaum beim Sprechen, er sagt, die Gegend hier werde regelmäßig mit Artillerie beschossen. Von der anderen Seite des Flusses, die Russland besetzt hält. Immer wieder werden an diesem Tag dumpfe Schläge zu hören sein vom Abfeuern und Einschlagen großkalibriger Geschosse. „Ich habe Milch gefunden, die ist noch gut“, ruft Oleksii nach draußen. Sein Freund nickt. Warum geht Wolodymyr nicht, wenn es hier ohnehin schon so gefährlich ist? Dazu noch das Wasser. „Wohin soll ich gehen?“, fragt er, „meine Kinder sind in Deutschland und der Schweiz, hier ist mein Zuhause.“ 70 Prozent seiner Kun­d:in­nen seien geflohen, erzählt Oleksii Gesin später am Abend am Telefon, kurz nachdem er sein Geschäft geschlossen hat. Wer nicht gegangen ist, wer immer noch bei ihm einkauft, das sind die Alten, die wenig Mobilen und die Menschen, die keine Arbeit hätten. Wolodymyr kann inzwischen wieder ohne Gummistiefel zu seinem Haus gehen. Aber selbst in den Gegenden Chersons, in denen die Häuser nur noch mit Booten zu erreichen sind, weil der Dnipro ein oder mehr Stockwerke geflutet hat, wollen manche Menschen nicht gehen. „Das Wasser bleibt noch zwei Wochen“ Donnerstagabend, es ist kurz nach acht. Um neun Uhr beginnt offiziell die Sperrstunde, aber in den Tagen kurz nach der Flut achten die Behörden und das Militär nicht so streng auf Regeln, das Retten von Menschen hat Priorität. Drei junge Männer aus Cherson fahren mit einem Motorboot zwischen Wohnblöcken umher, suchen nach Menschen und Tieren. Die drei sind freiwillige Helfer. Ihr Kahn ist alt und lässt sich schwer steuern, immer wieder verhakelt sich der Rumpf in den Ästen von Bäumen. In einem Wohnblock, dessen erster Stock unter Wasser steht, sehen sie eine ältere Frau und einen älteren Mann auf einem der Balkone sitzen. Auf dem Beton vor den beiden brennt ein kleines Feuer. Mykhailo, 72, Rentner„Je weniger eine Person hat, desto weniger ernst nimmt sie so eine Warnung. Für uns ist das Leben nicht so viel wert wie für reiche Menschen in Deutschland“ „Sollen wir euch aufs Trockene bringen?“, fragt einer der freiwilligen Helfer im Boot. Unterwasserstadt: Cherson am 10. Juni. Auf der anderen Flussseite: die russisch besetzten Gebiete Foto: ap „Nein“, sagt die Frau. „Jungs und Mädels“, sagt der Helfer, „das Wasser bleibt hier noch für zwei Wochen.“ „Das Wasser im ersten Stock ist schon etwas niedriger“, sagt die Frau. Sie fragt die Männer, ob sie ihre Taschenlampen mitnehmen könnten, um sie aufzuladen und dann wieder zurückzubringen, vielleicht noch ein oder zwei Powerbanks. Die Männer im Boot versuchen mehrfach, die beiden zu überreden, bald kommt noch eine dritte Frau dazu, auch sie will nicht mit. Am Sonntag wollten sie in die Kirche, sagt eine der Frauen irgendwann, da würden sie noch mal überlegen. Manche drohen mit Suizid Kurze Zeit später trägt sich eine ähnliche Szene mit einer älteren Frau in rosa Bademantel zu, die auf einem Balkon im zweiten Stock steht. Die drei Männer bitten sie mitzukommen, sie sagt, sie müsse hier für ihre Katzen da sein und ihre Hunde. „Die nehmen wir mit“, bieten die Freiwilligen an. Aber die Frau im rosa Bademantel möchte noch immer nicht. Die drei Männer versuchen es dann noch mit einem Scherz – „das wird wie in einem Sanatorium für Sie, dreimal am Tag essen und Medikamente“ – dann mit Dringlichkeit – Russlands Soldaten schießen auf Rettungskräfte, „gestern sind zwei von uns gestorben, wir können nicht jeden Tag hier rausfahren“. Die Frau antwortet nur noch leise, aber sie kommt nicht mit. Freiwillige, Sol­da­t:in­nen und Po­li­zis­t:in­nen machen diese Erfahrungen nicht nur in Cherson. Selbst in sehr gefährlichen Orten wie dem von russländischer Artillerie fast vollständig vernichteten Bachmut oder im nur wenige Kilometer nordwestlich von Donezk gelegenen Awdijiwka wollen gerade die Alten und die Menschen, die wenig haben, ihre Häuser oft nicht verlassen. Manche drohen damit, sich zu töten oder erweiterten Suizid inklusive ihrer Enkel zu begehen. Solche Menschen bringt die Polizei mit Zwang aus ihren Wohnungen weg. Die Be­woh­ne­r:in­nen von Cherson, die sich haben evakuieren lassen, leben jetzt in Krankenhäusern oder Schulen. Ein vierstöckiges graues Gebäude umgeben von anderen ebenso grauen Gebäuden, eine Berufsfachschule für technische Berufe, jedenfalls früher, vor der Februarinvasion Russlands im vergangenen Jahr. Genauere Details sollen nicht genannt, Fotos nicht gemacht werden, auch nicht im Inneren. Soldaten aus Russland könnten die Häuser wiedererkennen, aus der Zeit der Besetzung, das fürchten die, die hier arbeiten und die, die hier wohnen. Rettungskraft„Gestern sind zwei von uns gestorben, wir können nicht jeden Tag hier rausfahren“ Das Leben hat sich noch nicht wieder eingepegelt Die, die hier an diesem Sonntag wohnen, das sind Liudmilla, Tetyana, Mykhailo, Serhii, Larysa und wahrscheinlich ein paar Hundert andere Menschen, so genau kann die Zahl niemand sagen. Sie alle haben vorher auf der Korabelinsel gelebt, auf der Schiffsinsel, einem Stadtteil, der tatsächlich auf einer Insel liegt und zwar zwischen dem rechten Ufer, das die ukrainische Armee hält, und dem besetzten linken. Auf diesen vier Etagen treffen sie nun ihre Nach­ba­r:in­nen. Viele wohnen hier zu dritt, sie haben ihre Katzen und Hunde dabei. Oder die von Menschen, die sie kennen. Serhii beispielsweise, der sich vor der Invasion um die Parks der Stadt gekümmert hat, lebt mit Mandarinka hier, einer Mischlingshündin, der man vor allem den Schäferhund ansieht, der eines ihrer Elternteile gewesen sein muss. Sie gehört Serhiis Nachbarn, die aus Cherson geflohen sind. Drinnen in der ersten Etage verteilen Helferinnen Lebensmittel, Wasser, Unterwäsche. Schlangen bilden sich, Stimmen schwirren durcheinander. Es ist nach 12 Uhr, bald gibt es Mittagessen in einem Raum mit langen Tischen, auf denen grüne, mit Erdbeeren und anderem Obst bedruckte Plastiktischdecken liegen. Draußen regnet es in Strömen. Regelmäßig drängen sich Evakuierte von der Schiffsinsel unter dem kleinen Dach vor dem Eingang zusammen und rauchen. Unsere Freizeit hier hat sich noch nicht eingepegelt, sagen sie, unser ganzes Leben nicht. Also rauchen, ein bisschen mit verschränkten Armen frieren, 17 Grad sind es heute, Wasser von oben, Wind von der Seite, das ist arktisch im Vergleich zur Hitze der vergangenen Tage. Viele wollten es nicht glauben Seitdem die Stadt nicht mehr von Russland besetzt ist, baut Serhii für die Stadtverwaltung Keller zu Bunkern aus. Er bekommt sein Gehalt noch gezahlt, auch wenn es nicht viel ist, wie er sagt. Liudmilla, die auch für die Stadt arbeitet und nach Artillerieeinschlägen den Schutt wegräumt, sagt, bei ihr sei das nicht der Fall, sie bekäme nichts. Serhii und Liudmilla kennen sich, scherzen miteinander. So wie sie die Schiffsinsel beschreiben, muss es der schönste Ort der Welt gewesen sein, oder jedenfalls in Cherson. Grün, sauber, ordentlich. „Selbst als wir bombardiert wurden, war es der sauberste Bezirk in Cherson“, sagt Liudmilla. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten, mit denen wir reden, sagen, sie wollten aus ihren Häusern nicht weg, viele haben bis zuletzt gewartet, als das Wasser schon da war. „Der Präsident hat letztes Jahr sogar davor gewarnt, dass Russland den Staudamm sprengen könnte“, sagt Larysa, eine 38 Jahre alte Schiffslackiererin. „Aber ich habe es bis zum Schluss nicht geglaubt.“ Sie ist eine der vielen Ukra­iner:in­nen, die auch an den Krieg nicht geglaubt haben, sagt sie, nicht daran, dass Russland wirklich die ganze Ukraine angreift, Cherson so schnell erobert und ja, auch nicht daran, dass Russland den Staudamm zerstört. Tetyana Voikova, 42, ist sogar aus Cherson geflohen, noch während der Besetzung. Junge Männer aus Russland haben sie mehrere Tage in einem Keller festgehalten, zur Befragung. Geheimdienst, Armee, sie weiß es nicht, „die haben sich nicht vorgestellt“. Die Männer haben sie zu ihrem Sohn befragt, der bei der ukrainischen Armee ist. Wer wenig hat, will es nicht glauben Als sie frei war, ist sie raus aus Cherson, ist immer wieder umgezogen, ein paar Tage hier, eine Weile dort. Das ruhelose Leben ist nichts für sie, sagt sie und tritt in ihrem grauen Rock von einem blau gefrorenen Bein aufs andere. „Ich wollte nur noch nach Hause.“ Hat sie dann auch gemacht, ist endlich zurückgekehrt auf die Korabelinsel. Zwei Wochen später kam die Flut. Auch Tetyana hat lange gewartet, bis sie sich evakuieren ließ. Sie sagt: „Ich wollte vor allem meine Katze da rausholen.“ Auch hier sieht es so aus, als würden jene mit wenig Mitteln und wenig Alternativen, woanders wirklich sesshaft zu werden, an ihrem Zuhause besonders hängen. Rentner:innen, Menschen mit niedrigem Einkommen, Menschen ohne Arbeit. Tetyana hat mal als Verkäuferin gearbeitet, seit einiger Zeit gibt es keinen Job mehr für sie. 3.470 Hrywnya Unterstützung habe ihr der Staat einmalig gezahlt, sagt sie. Das sind nicht einmal 100 Euro. „Je weniger eine Person hat, desto weniger ernst nimmt man so eine Warnung“, sagt Mykhailo, ein 72-jähriger Rentner im Flauschpullover. „Für uns ist das Leben nicht so viel wert wie für reiche Menschen in Deutschland.“ Neben der Berufsschule steht ein weißer Transporter mit der Aufschrift „Patrouillenkaplan“. In der Ukraine gibt es bei der sogenannten Patrouillenpolizei wie bei der Armee Kaplane, die einerseits die Po­li­zis­t:in­nen seelsorgerisch betreuen, anderseits von diesen aber auch bei Geiselnahmen, häuslicher Gewalt und in anderen Fällen gerufen werden, wenn die Polizei Verhandler braucht. Auch für Gespräche mit Menschen, die ihre Häuser nicht verlassen wollen zum Beispiel. Auf dem Wasser ist man völlig schutzlos Die Männer trinken einen Kaffee in dem Raum, in dem die evakuierten Be­woh­ne­r:in­nen der Korabelinsel zu Mittag essen. Dann fahren sie los in ein Dorf, Wasser und Essen zu den Be­woh­ne­r:in­nen bringen. Mitkommen dürfen wir nicht. Der Regen habe die unvorhersehbaren Strömungen in den überschwemmten Gebieten noch verstärkt, sagen sie. Und während das ukrainische Militär in den ersten Tagen der Flut Jour­na­lis­t:in­nen und Do­ku­men­tar­fil­me­r:in­nen fast gar nichts verboten hat, sind die Bedingungen, unter denen man Evakuierungen oder Ähnliches filmen darf, inzwischen sehr streng. Das hat durchaus Gründe. Von der linken Seite des Dnipro, die Russland besetzt hält, schießt immer wieder Artillerie herüber. In der Stadt kann man noch versuchen, sich in einen Graben zu werfen oder unter eine Treppe zu hechten, wenn man ein Pfeifen hört oder einen nahen Einschlag. Aber auf dem Wasser ist man völlig schutzlos. Am Sonntagnachmittag versuchen ukrainische Po­li­zis­t:in­nen und Sol­da­t:in­nen, Menschen vom russisch besetzten linken Ufer zu evakuieren. Sowohl sie als auch die Menschen, die evakuiert werden wollen, werden beschossen. Oleksii Gesin, der Besitzer des Lebensmittelladens, erzählt uns abends am Telefon, wie die Menschen neben seinem Laden aus den Booten geholt und in Krankenwagen getragen wurden. Die geflutete Straße neben seinem Laden ist einer der Einstiegspunkte für die Retter:innen, die sich noch aufs Wasser wagen, beziehungsweise diejenigen, die das Militär noch durchlässt. Für drei Menschen endet diese Rettungsaktion tödlich.
Daniel Schulz
Die ukrainische Stadt Cherson steht halb unter Wasser. Vor allem Arme und Ältere wollen ihre Häuser nicht verlassen. Wer es wagt, muss mit Beschuss rechnen.
[ "Kachowka-Staudamm", "Russische Armee", "Krieg in der Ukraine", "Reportage und Recherche", "Gesellschaft", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,347
IRAK: DAS BRITISCHE MILITÄR ZERSTÖRT DEN VERTRAUENSPROZESS: Die Besatzer zeigen ihre Macht - taz.de
IRAK: DAS BRITISCHE MILITÄR ZERSTÖRT DEN VERTRAUENSPROZESS: Die Besatzer zeigen ihre Macht Die gefährliche Entwicklung zwischen Polizeikräften und Militär im Süden Iraks signalisiert zwei neue Konflikte. Erstens spielt sich diese Auseinandersetzung im bis vor kurzem vergleichsweise ruhigen Gebiet der Schiiten ab. Hier galten die britischen Soldaten seit dem Beginn der Invasion als Bürger in Uniform, die aktive Deeskalation betrieben. Dieses Verhältnis ist nun zerstört. Zweitens ist es nicht mehr ein Konflikt zwischen den so genannten Aufständischen beziehungsweise terroristischen Gruppierungen und der Besatzungsmacht, sondern zwischen irakischen Polizisten und dem ausländischen Militär. Viele Iraker halten ihre Beschäftigung bei der Polizei geheim, weil sie Angst haben, als Kollaborateure gebrandmarkt zu werden. Hunderte haben ihr Leben bei Anschlägen vor den Rekrutierungsbüros der Sicherheitskräfte verloren. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen der rudimentären irakischen Polizei und den Besatzungsarmeen von Misstrauen geprägt. Allzu häufig schüren die britischen und US-amerikanischen Vorgesetzten vor ihren Soldaten die Dolchstoßlegende, im Zweifelsfall würde die irakische Polizei ihnen in den Rücken fallen. Die Ausschreitungen zwischen Polizei und Militär verwundern daher kaum. Sie sind vielmehr strukturell angelegt. Dass der britische Kommandeur in Basra, John Lorimer, erklärt, er würde wieder so handeln, unterstreicht das Problem. Der Irak braucht eine klare politische Strategie, um einen Rechtsstaat aufzubauen. Dazu gehört auch die Respektierung der Exekutive, das heißt der Polizei sowie der Strafverfolgungsbehörden. Das Informationschaos auf britischer Seite macht nicht den Eindruck, als wäre hier der Rechtsweg eingehalten worden. Selbst der Verweis auf den Kampf mit ungleichen Mitteln rechtfertigt nicht, rechtsstaatliche Regeln außer Kraft zu setzen. Im Gegenteil, nur ihre konsequente Anwendung birgt eine Chance, dass sich die Lage im Irak beruhigt und eine tragfähige Kooperation zwischen Besatzern und Besetzten entsteht. SONJA HEGASY Die Autorin ist Mitglied der Institutsleitung des Zentrums Moderner Orient, Berlin
SONJA HEGASY
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,351
Panini-Werbekampagne in Schulen: Die Angst vorm Aufkleberjunkietum - taz.de
Panini-Werbekampagne in Schulen: Die Angst vorm Aufkleberjunkietum Panini verteilt sein WM-Album an Schulen. Eigentlich ist das unerlaubte Werbung – und auch ein Köder für die Kinder, viele teure Sticker zu sammeln. Die Produktion der Sammelbilder läuft im italienischen Modena auf Hochtouren. Bild: dpa Das Schöne am Fußball ist, dass Menschen die eine oder andere Fünf mal gerade sein lassen. Das dachten sich wohl Brandenburgs und Niedersachsens Bildungsministerien, als sie Anfang der Woche erklärten, es sei irgendwie doch mal okay, die Schüler ausschlafen zu lassen – und sie den Schulen freistellten, während der Weltmeisterschaft in Brasilien den Unterricht wegen der Zeitumstellung später beginnen zu lassen. Ähnliches dachte sich offenbar auch der Panini Verlag, als er die neue Verkaufsstrategie gezielt auf Schulen ausrichtete – und die Sammelalben zur WM an Grundschulen verteilen ließ. An einer Grundschule in Bremerhaven beglückte eine Lehrerin ihre Erstklässler mit den Stickeralben. Zum Missfallen einiger Eltern, die sich in einem Brief beschwerten: Die Schule hätte die Kinder „angefixt“, zu „Stickersammeljunkies“ zu werden. Der Bremerhavener Schuldezernent Michael Frost (Grüne) spricht von einer „perfiden Strategie des Panini Verlags“. Die Schulleiter der Bremerhavener Grundschulen hätten angegeben, dass die Schulen offenbar flächendeckend mit den Panini-Alben beliefert wurden, ohne vorher gefragt worden zu seien. Mit dem Ergebnis, dass sie in einigen Fällen „durchgerutscht“ und versehentlich verteilt worden seien. Wie an Schulen mit Werbung umgegangen werden soll, ist Ländersache. Im Unterschied zum Schulsponsoring ist unerwünschte Werbung grundsätzlich nicht erlaubt, wenn sie nicht schulischen Zwecken dient. Wo das eine aufhört und das andere anfängt, ist umstritten. Für die Bremerhavener Schuldezernenten ist bei den Panini-Heften aber rechtlich klar: „Auf keinen Fall dürfen solche Werbemittel, die rein wirtschaftliche Zwecke verfolgen, an Schüler ausgehändigt werden.“ Wie genau die Sammelhefte in die Hände der Kinder kamen, ist unklar. Panini bestreitet, die Schulen unaufgefordert zu beliefern. „Nur nach Genehmigung des jeweiligen Schulleiters werden die Hefte verschickt“, sagt Birgit Barner, Marketingmanagerin bei Panini. Sollte eine Schule die Hefte versehentlich bekommen haben, bestehe ja noch die Möglichkeit, sie nicht zu verteilen. Die „Kernzielgruppe“ Barner räumt ein, dass sich die bisher umfangreichste Marketingkampagne, die der Konzern für die bevorstehende WM angekündigt hat, vor allem an Sechs- bis Zwölfjährige richtet. Die seien eben die „Kernzielgruppe“, sagt sie. Um möglichst nah an die Schüler heranzukommen, setzt der Konzern darauf, kostenlos Stickeralben an Grund- und Hauptschulen zu verteilen. Die mit zwei Euro vergleichsweise billigen Hefte dienen als Anreiz, viel teurer als die Hefte sind die Sticker. Eine Tüte mit fünf Aufklebern kostet 60 Cent. Insgesamt benötigt man 640 Sticker, um das Heft vollzukriegen. Die Idee, die Alben direkt an die Kinder zu geben, sei, laut Panini-Frau Barner, von Lehrern an das Unternehmen herangetragen worden. Denn so ein Album biete ja auch für den Unterricht „ein enormes Potenzial“. Man könne damit Zahlen lernen, sagt sie, oder die Flaggen. Außerdem befördere es den Mannschaftsgeist und die Tauschkultur. Werbeagentur beauftragt Um die Verbreitung der Hefte zu organisieren, hat Panini die Hamburger Schulmarketingagentur dsa beauftragt. Die hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „wirtschaftlichen Interessen der werbetreibenden Unternehmen mit dem pädagogischen Bildungsauftrag in Einklang zu bringen“. Dass Schulen sehr unterschiedlich mit der Werbung umgehen, weiß André Mücke von der dsa-Geschäftsführung. In den meisten Fällen werde aber auf die Entscheidungshoheit der jeweiligen Schulleitungen verwiesen. Es gebe Schulen, die diesen Maßnahmen sehr offen gegenüberstehen, andere seien dagegen sehr kritisch eingestellt. Auf das Panini-Fieber will das Bremerhavener Schulamt jedenfalls nicht einstimmen. Hier werde der Vorfall nun zum Anlass genommen, die Schulen noch einmal „nachdrücklich auf die Verwaltungsvorschriften hinzuweisen, damit künftig keine Kinder für wirtschaftliche Interessen missbraucht werden“, betont Frost. Die Sammelalben mussten die Erstklässler Anfang der Woche auch wieder zurückgeben.
Lena Kaiser
Panini verteilt sein WM-Album an Schulen. Eigentlich ist das unerlaubte Werbung – und auch ein Köder für die Kinder, viele teure Sticker zu sammeln.
[ "WM 2014", "Panini", "Sticker", "Werbung", "Schulen", "Fußball-WM 2014", "Alltag", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,379
Fifa hebt Sperre für Beckenbauer auf: Zurück in der Familie - taz.de
Fifa hebt Sperre für Beckenbauer auf: Zurück in der Familie Sehr erzürnt und enttäuscht war Franz Beckenbauer über die 90-Tage-Sperre des Fußball-Weltverbandes. Nun haben sich aber alle wieder lieb. Franz Beckenbauer bei einer Rede auf dem Fifa-Kongress 2011. Bild: dpa MÜNCHEN/RIO DE JANEIRO dpa | Franz Beckenbauer ist nach zwei Wochen wieder in die große Fußball-Familie aufgenommen worden. Zur WM nach Brasilien will der „Kaiser“ aber auch nach dem letztlich raschen Ende seiner provisorischen 90-Tage-Sperre nicht reisen. Noch vor einer Bestätigung durch den Fußball-Weltverband FIFA verkündete das Beckenbauer-Management am Freitag das Ende des intensiv diskutierten Kaiser-Banns. Der Ehrenpräsident des FC Bayern München war am 13. Juni von der Fifa-Ethikkommission für 90 Tage von allen Fußball-Aktivitäten ausgeschlossen worden, weil er Fragen des Ermittlungsgremiums unter der Leitung des Ex-FBI-Direktors Michael Garcia zu WM-Vergaben an Russland 2018 und Katar 2022 nicht beantwortet hatte. Als Mitglied des Fifa-Exekutivkomitees war Beckenbauer an der skandalumwitterten Doppel-Abstimmung im Dezember 2010 beteiligt gewesen. Die ausstehenden Antworten auf den umfangreichen Fragenkatalog hatte Beckenbauer wenige Tage nach Verhängung der Sperre nachträglich per Fax und E-Mail gegeben. Unmittelbar erfolgte die Aufhebung der Sperre aber nicht. Die Fifa-Ethikhüter mussten zunächst die Vollständigkeit prüfen und gaben nun offenbar ihr Okay. Um die geplante Reise Beckenbauers zum WM-Halbfinale am 8. und 9. Juli hatte es nach der Sperre Verwirrung gegeben. Zunächst verkündete der 68-Jährige über seinen Medienpartner Bild, er wolle nicht mehr an den Zuckerhut reisen, dann kam später das Dementi und nun wieder ein Rückzieher. Aus dem Beckenbauer-Umfeld war zu hören, dass der Ehrenpräsident sehr erzürnt und enttäuscht über die Sperre und den Umgang der Fifa mit ihm war. Das Management betonte am Freitag nochmals die Sicht des Beckenbauer-Lagers. Man gehe „nach wie vor davon aus, dass die provisorische Sperre ungerechtfertigt war, weil er nach unserer Auffassung nicht zur Aussage gegenüber der Fifa verpflichtet war“. Das sahen die Fifa-Ermittler komplett anders. Alle an der Abstimmung beteiligten damaligen 22 Exekutivkomiteemitglieder außer Beckenbauer machten ihre Aussage den Regularien entsprechend, hieß es von der Fifa. Zu hoch für den Kaiser Die Beckenbauer-Berater räumten ein, dass es „aus heutiger Sicht im Sinne der Sache besser gewesen“ wäre, wenn Beckenbauer früher auf die Fifa -Fragen geantwortet hätte. „Ich habe die Angelegenheit unterschätzt“, wurde Beckenbauer zitiert. Dies habe vor allem daran gelegen, „dass mir solche umfangreichen administrativen Dinge für gewöhnlich von meinem Management abgenommen werden, das ich in diesem Fall aber nur in eingeschränktem Umfang einbeziehen durfte“. In einer ersten Reaktion hatte Beckenbauer gesagt, dass er das Juristen-Englisch nicht verstanden habe. Das wurde in Fifa-Kreisen mit Unverständnis aufgenommen. Garcia betonte, dass allen Befragten Dolmetscher zur Verfügung gestellt worden seien. Zudem ist der polyglotte Beckenbauer im Fifa-Zirkel als Weltmann bekannt, der problemlos auf Englisch parlieren kann. Im deutschen Fußball hatte die Sperre gegen die Beckenbauer für eine kollektive Unterstützungskampagne gesorgt. Bayern-Präsident Karl Hopfner, DOSB-Präsident Alfons Hörmann und auch DFB-Präsident Wolfgang Niersbach hatten sich für ein schnelles Ende der Beckenbauer-Sperre ausgesprochen. „Die Ethikkommission der Fifa ermittelt seit mehr als zwei Jahren, und am zweiten Tag der laufenden WM verkünden sie plötzlich die Sperre für einen Mann, der aufgrund seiner Verdienste für den Fußball weltweit höchstes Ansehen genießt“, sagte Niersbach der Süddeutschen Zeitung. Mit den von der Sunday Times geäußerte Vorwürfen zu Beckenbauers Reisen ins WM-Gastgeberland Katar in den Jahren 2009 und 2011 hatte die Sperre nichts zu tun. Diese Angelegenheit ist auch noch nicht vom Tisch. Garcia hatte beim Fifa-Kongress am 11. Juni in São Paulo betont, dass er die Quellen der britischen Zeitung in seine Ermittlungen aufnehmen werde. Jeden Verdacht der Vermischung von geschäftlichen Beziehungen mit seinem Fifa-Amt hatte Beckenbauer immer energisch zurückgewiesen. Als Nebeneffekt der Fifa-Sperre war über die Bild-Zeitung bekannt geworden, dass der Kaiser offenbar für Russland 2018 gestimmt hatte und für das Turnier 2022 zunächst den Verlierern Australien und dann der ebenfalls gescheiterten Bewerbung der USA seine Stimme gab – und nicht Katar. Beckenbauer selbst hatte immer auf das Wahlgeheimnis verwiesen.
taz. die tageszeitung
Sehr erzürnt und enttäuscht war Franz Beckenbauer über die 90-Tage-Sperre des Fußball-Weltverbandes. Nun haben sich aber alle wieder lieb.
[ "WM 2014", "Fifa", "Franz Beckenbauer", "Mixed Zone", "Fußball-WM 2014", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,418
Steigende Heizkosten: Der nächste Winter erhitzt Rot-Rot - taz.de
Steigende Heizkosten: Der nächste Winter erhitzt Rot-Rot Gas wird für Einkommensschwache zu teuer, sagt die Linkspartei und fordert eine Erhöhung der Heizkostenpauschale. Das lehnt Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) ab und empfiehlt stattdessen dicke Pullover, um Energie zu sparen. Ökologisch sinnvoll, sozialpolitisch umstritten: Wintermode in zeiten steigender Energiepreise Bild: AP Draußen ist es 32 Grad heiß, und die rot-rote Koalition kocht. Es geht um die Frage, wer diesen Winter für die stetig steigenden Heizkosten von Hartz-IV-Empfängern aufkommen soll. Die Linkspartei will die Wohnkostenpauschale erhöhen. Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hält das für unnötig und heizt die Debatte mit der Bemerkung an, um Heizkosten zu sparen, könne man auch dicke Pullover tragen. Bereits zu Jahresbeginn hatte die Gasag ihre Preise um durchschnittlich 7,5 Prozent erhöht. Ein Preissprung um bis zu 14 weitere Prozent hat Berlins größter Gaslieferant für September angekündigt. Eine typische Kleinfamilie muss dann bis zu 150 Euro im Jahr mehr für Gas zahlen. Bei Hartz-IV-Empfängern wird die Warmmiete zwar von den Sozialbehörden übernommen, allerdings nur bis zu einen Höchstsatz, der von den Kommunen festgelegt wird. "Da die letzten beiden Winter sehr mild waren, haben die Sätze für die Warmmiete bei den meisten Hartz-IV-Empfängern gerade so ausgereicht", sagte Anja Wollny, die Sprecherin von Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke). "Wir rechnen damit, dass viele Zuwendungsempfänger diesen Winter über dem Richtwert liegen werden." Knake-Werner fordere deswegen, die Höchstsätze noch im Herbst anzuheben. Benjamin Hoff (Linke), Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Verbraucherschutz, plädiert zudem für Sozialtarife bei den Energieversorgern. Eine Überlegung sei es, jedem Bürger ein Grundkontor an Energie zur Verfügung zu stellen. Wird dieser überschritten, könnten die Preise exponentiell ansteigen. So würden Vielverbraucher die Sparsamen subventionieren. Die andere Möglichkeit wären verbilligte Tarife für Einkommensschwache. Der Finanzsenator weist beide Forderungen des Koalitionspartners zurück. "Nach unseren Berechnungen sind auch die für dieses Jahr zu erwartenden Heizkosten mit der Wohnkostenpauschale abgedeckt", sagte Sarrazin am Dienstag. Es könne sein, dass sich das in ein, zwei oder drei Jahren ändere. Dann müsse man weitersehen. Auch die Einführung eines staatlich subventionierten Sozialtarifes für Einkommensschwache lehnt Sarrazin ab. Das einzig richtige Mittel gegen steigende Kosten sei Energiesparen, betonte er am Dienstag. In einem am gleichen Tag veröffentlichten Zeitungsinterview hatte Sarrazin erklärt: "Wenn die Energiekosten so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernüftig leben können." Dies löste einen Proteststurm aus. "Arrogant und zynisch" nannte der amtierende Landesvorsitzende der Linkspartei, Wolfgang Albers, die jüngste These des Senators. Bei solchen Zimmertemperaturen werde "die Grenze zur Gesundheitsgefährdung überschritten", so der Vizedirektor des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten. "Das ist menschenverachtend und nicht mehr hinnehmbar", ergänzte Amelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand. Und Michael Schäfer, energiepolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, meinte: "Sarrazin versucht davon abzulenken, dass tausende von öffentlichen Gebäuden schlecht gedämmt sind und Energie verschleudern." Die Gasag selbst will keine Sozialtarife anbieten. "Das ist Aufgabe der Politik und nicht der Wirtschaft", sagte Gasag-Sprecherin Regine Buczek. Im letzten Jahr sperrte das Unternehmen in 4.700 Haushalten wegen offener Rechnungen das Gas. Stromlieferant Vattenfall kappte sogar 23.000-mal die Leitungen. Die Diskrepanz erklärt sich aus der Sozialpolitik. Denn die Stromrechnung müssen Hartz-IV-Empfängern vom Regelsatz begleichen. Die Heizkosten zahlt im Zweifelsfall die Kommune.
Franka Nagel
Gas wird für Einkommensschwache zu teuer, sagt die Linkspartei und fordert eine Erhöhung der Heizkostenpauschale. Das lehnt Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) ab und empfiehlt stattdessen dicke Pullover, um Energie zu sparen.
[ "Berlin", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,495
Wegen Unterstützung der Mafia: Vertrauter von Berlusconi verurteilt - taz.de
Wegen Unterstützung der Mafia: Vertrauter von Berlusconi verurteilt Bis 1992 knüpfte Berlusconis rechte Hand, Marcello Dell'Utri, die Verbindungen zur Unterwelt. Jetzt wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt. Muss sieben Jahre für seine Mafia-Kontakte büßen: Marcello dell'Utri. Bild: dpa ROM taz | Marcello Dell'Utri, einer der engsten Vertrauten Silvio Berlusconis, wurde am Dienstag wegen Unterstützung der Mafia zu sieben Jahren Haft verurteilt - doch das Berlusconi-Lager zeigt sich zufrieden mit dem Urteil. Denn das Gericht in Palermo stellte fest, Dell'Utri sei nur bis 1992 Mittelsmann der Cosa Nostra in Mailand und insbesondere im Unternehmen Silvio Berlusconis gewesen. Dell'Utri hatte sich um Schutzgeldzahlungen Berlusconis an die Mafia gekümmert, hatte aber auch dafür gesorgt, dass ein hoher Mafia-Boss zwei Jahre lang auf Berlusconis Anwesen arbeitete, angeblich als Stallknecht. Außerdem spielte Dell'Utri nach Aussagen von Kronzeugen eine Schlüsselrolle bei der Schleusung von Mafia-Millionen in den Norden, angeblich auch in die Berlusconi-Unternehmen. Einige Kronzeugen hatten Dell'Utri jedoch auch eine Mittlerrolle in den Jahren ab 1993 zugewiesen: In jenen Jahren verübte Cosa Nostra blutige Anschläge, um das unter den Korruptionsskandalen wankende politische System weiter zu erschüttern. Dell'Utri soll die Bosse davon überzeugt haben, dass die von Berlusconi seit 1993 aufgebaute Partei Forza Italia ihr idealer Partner sei, und mit den Clans einen regelrechten Pakt geschlossen haben. Doch das Gericht mochte nicht so weit gehen, sich dieser Sicht anzuschließen. Noch liegt die ausführliche Urteilsbegründung nicht vor, doch mit einer Trennlinie, die im Jahr 1992 gezogen wurde, lässt das Gericht den Schatten der Mafia-Kontakte zwar auf die Unternehmen Berlusconis, nicht aber auf sein politisches Wirken fallen. Es darf als sicher gelten, dass sowohl der Verurteilte als auch die Staatsanwaltschaft vor dem Kassationsgericht in Rom in Berufung gehen werden.
Michael Braun
Bis 1992 knüpfte Berlusconis rechte Hand, Marcello Dell'Utri, die Verbindungen zur Unterwelt. Jetzt wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt.
[ "Europa", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,560
Rot-grün-rote Verhandlungen in Hessen: Hauptsache, vor die Kameras treten - taz.de
Rot-grün-rote Verhandlungen in Hessen: Hauptsache, vor die Kameras treten Die Landesfinanzen sind eins der größten Hindernisse einer möglichen rot-grün-roten Koalition in Hessen. Also sondiert jeder weiter mit jedem. Tarek Al-Wazir (Grüne, l.) und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD, r.), sind sich räumlich schon mal nah. Aber wo ist die Linke? Bild: dpa FRANKFURT taz | Symbolisch hat Rot-Grün-Rot in der entscheidenden Phase der Sondierungsgespräche in Hessen aufgeholt: Nach der vierten und abschließenden Gesprächsrunde am Donnerstagabend, in der es vor allem um das Thema Finanzen ging, sind die Chefs der drei Parteien das erste Mal gemeinsam vor die Presse getreten. Viel Neues hatten sie jedoch nicht zu berichten. Es sind in diesen Tagen der vielen Sondierungen dann auch eher die kleinen Gesten, die darauf hindeuten, welche Konstellation im Rennen um eine neue hessische Regierung gerade vorn liegt. Denn „ergebnisoffen“ und „in guter Atmosphäre“ wird in Hessen auch zwischen CDU und Grünen sowie CDU und SPD verhandelt. Gemeinsame Auftritte hatte CDU-Chef Volker Bouffier bereits mit dem Grünen Tarek Al-Wazir sowie mit SPD-Mann Thorsten Schäfer-Gümbel. Nun standen also auch die einstigen rot-grünen „Wunschpartner“ gemeinsam vor den Kameras – zusammen mit Ulrich Wilken und Janine Wissler von der Linkspartei. Die teilweise großen Schnittmengen bei den Themen soziale Gerechtigkeit, Bürgerrechte, Energiewende und Wohnungspolitik waren bereits ausgemacht. Anders sieht es beim Frankfurter Flughafen und den umstrittenen Landesfinanzen aus. Schäfer-Gümbel machte bei diesem Thema einen „erheblichen Dissens“ zwischen Rot-Grün und der Linkspartei aus. Dafür sind vor allem die schlechten Landesfinanzen verantwortlich. Während SPD und Grüne im Sinne der Schuldenbremse vor allem durch Personalabbau sparen wollen, um so das jährliche Defizit von 1,5 Milliarden Euro zu reduzieren, will die Linke eher neue Stellen schaffen. Wissler spricht zwar von „insgesamt sehr vielen Übereinstimmungen“, doch ohne neues Geld vom Bund, das die SPD in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene mit der CDU erstreiten müsste, gilt eine Einigung als schwierig. In Berlin sitzen sich unter anderem ausgerechnet Bouffier und Schäfer-Gümbel am Verhandlungstisch gegenüber. Streitthema Frankfurter Flughafen Hindernisse in der Koalitionsbildung gibt es allerdings nicht nur für Rot-Grün-Rot. Einem schwarz-grünen Bündnis stehen neben dem großen Streitthema Frankfurter Flughafen auch die bestehenden ideologischen Differenzen im Weg. Und im Falle einer großen Koalition wäre die SPD nur Juniorpartner, was besonders Schäfer-Gümbel nicht schmecken dürfte. Außerdem gibt es Differenzen bezüglich der Themen Bildung und Arbeitsmarkt. Bei ihrem dritten Sondierungstreffen am Mittwochabend haben die beiden Parteien zudem über die Haushaltslage gesprochen. Während die CDU, die in ihren zurückliegenden 15 Regierungsjahren etwa die Hälfte der über 40 Milliarden Euro Schulden des Landes Hessen anhäufte, nun vor allem auf das Sparen setzt, will die SPD in Soziales und Bildung investieren. Trotz dieser Differenzen gab es neben einem ersten gemeinsamen Auftritt vor den Kameras noch ein weiteres Signal der Annäherung zwischen CDU und SPD: Demonstrativ gut gelaunt bezeichneten Bouffier und Schäfer-Gümbel so machen Streit der letzten Jahre als „Missverständnisse“. Es wurde zudem ein vierter und letzter Sondierungstermin für den 18. November vereinbart. Wenn sich auch Grüne und CDU, Vorreiter in Sachen gemeinsamer Auftritt, am kommenden Dienstag das vierte Mal treffen, dann stimmt die Arithmetik auch in diesem Punkt: Alle möglichen neuen Partner haben dann vier Mal miteinander sondiert. Da es in Hessen bisher weder Rot-Grün-Rot noch Schwarz-Grün gab, ebenso wenig wie eine große Koalition unter CDU-Führung, würde jedes neue Bündnis somit Neuland betreten. Eine Entscheidung, wer am Ende mit wem eine Koalition aufnehmen wird, soll Ende November fallen. Dann beginnen erst die richtigen Verhandlungen.
Timo Reuter
Die Landesfinanzen sind eins der größten Hindernisse einer möglichen rot-grün-roten Koalition in Hessen. Also sondiert jeder weiter mit jedem.
[ "Hessen-Wahl", "Sondierungsgespräche", "SPD", "Linke", "Grüne", "CDU", "Deutschland", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,587
Die Zeit, als Zürich brannte - taz.de
Die Zeit, als Zürich brannte „Wo-Wo-Wonige“: Thomas Stahel beschreibt die Geschichte der Züricher Häuserkämpfe Zürich war einst eine Hochburg des Häuserkampfes. Noch 1991, als sich der Traum der Berliner Autonomen von selbstbestimmten, staatsfreien Räumen längst in der Schlacht um die Mainzer Straße aufgelöst hatte, geschah auf dem Wohlgroth-Areal, einer ehemaligen Gaszählerfabrik im Zürcher Kreis 5, die größte in der Schweiz jemals erfolgte Besetzung. Über ihre zweijährige Dauer hinweg besaß sie eine beachtliche Ausstrahlung auf die linke Szene selbst jenseits der Landesgrenzen. Im Unterschied zu manch anderen Orten urbaner Revolten am Ende des 20. Jahrhunderts gab es in Zürich stets auch so etwas wie eine Engführung zwischen militanten Aktionen und der analytischen Betrachtung der Krise des Städtischen. Im Kampf um Platz für die aufkeimende jugendliche Gegenkultur professionalisierten sich in den Siebzigerjahren nicht wenige Aktivisten zu regelrechten Stadtforschern. Mit Zürich als ihrem Fallbeispiel stellten sie das Dogma der räumlichen Trennung von Wohnen, Freizeit und Arbeiten in Frage, da es das patriarchalische Geschlechterverhältnis zementierte und für einen umweltbelastenden Anstieg des Automobilverkehrs sorgte. Teilnehmer an den gewalttätigen Protesten von 1980/81 gegen das anhaltend verschnarchte bis reaktionäre Klima in Zürich wiederum charakterisierten die daraufhin erfolgte kulturelle Öffnung als nachholende Modernisierung im Umbau der Stadt zu einem Knotenpunkt der globalisierten Ökonomie. Diese Linie setzt der Historiker Thomas Stahel fort. Im Zuge der Wohlgroth-Besetzung selbst zum Aktivisten geworden, wirkte er in den vergangenen Jahren in mehreren Initiativen mit, die Interventionen im städtischen Raum mit der wissenschaftlichen Betrachtung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen kurzzuschließen versuchte. Nun hat er in seinem Buch „Wo-Wo-Wonige“, das aus einer Promotion entstanden ist, die Geschichte der stadt- und wohnpolitischen Bewegungen Zürichs seit 1968 aufgeschrieben. Mit Hilfe einer eindrucksvollen Zusammenstellung von rund 250 Fotos sowie Reproduktionen von Plakaten, Flyern und Karikaturen aus dem Innenleben der Bewegungen gelingt es Stahel, vor allem auch die Ereignisse der Siebzigerjahre anschaulich zu machen: Proteste gegen Kahlschlag, die Arbeit der von marxistischen Kadern geprägten Quartiersgruppen, Kommunegründungen und erste Hausbesetzungen, bei denen sich Klassenkämpfer und Spontis gegenseitig beharkten. In dieser Phase, so Stahel, nehmen die stadt- und wohnungspolitischen Bewegungen einen stark emanzipatorisch-revolutionären Charakter an, während sie über ihren gesamten Verlauf in der Grundhaltung letztlich doch als defensiv bezeichnet werden können. Mieterhöhungen und Luxusrenovierungen mussten abgewehrt, Häuser vor der Spekulation gerettet und die soziale und funktionale Durchmischung der zentrumsnahen Gründerzeitviertel beschützt werden. Kurz: Es wurde sich gegen die an das wirtschaftliche Wachstum der Stadt gekoppelte Verknappung preiswerten Wohnraums, wie sie in Zürich herrschte, gewehrt. In Zürich kollidierten dabei die sich wandelnden Interessen einer jungen und einkommensschwachen Bevölkerung besonders heftig mit dem Expansionsdrang des boomenden Finanz- und Dienstleistungssektors. Die im Jahrzehnt zuvor eingeführten Aktionsformen kamen so zur vollen Blüte. Hausbesetzungen waren nur die offensivste Mobilisierungsstrategie der Bewegungen. Stahel beschreibt ebenso ausführlich die Arbeit von Mietergruppen und -initiativen, die Praxis des Auszugsboykotts und die Welle von Demonstrationen gegen die Wohnungsnot am Ende der Achtzigerjahre, so genannte Aufläufe gegen Speckis. Versuche der Bewegungen, über das Mittel der direkten Demokratie Einfluss zu nehmen, hatten nur begrenzten Erfolg. Jahrelang herrschte in Zürich ein politisches Patt hinsichtlich stadt- und wohnpolitischer Fragen. Im Zusammenspiel mit der linken Opposition im bürgerlich dominierten Gemeinderat gelang es zwar, in Volksabstimmungen auf kommunaler Ebene die schlimmsten baulichen Monstrositäten zu verhindern. Doch die konservative Mehrheit im Kanton kippte andererseits städtische Gesetze, die einen zu radikalen Mieterschutz vorsahen, oder Planungsvorgaben, die sie als zu investorenfeindlich erachtete. Insgesamt aber, so der Autor, mangelte es den noch so vielgestaltigen Auftritten der Bewegungen in Zürich an langfristigen planerischen Utopien. Dafür sorgte neben der polizeilichen Repression auch eine hedonistisch geprägte Abneigung gegen jede Art von Institutionalisierung. Immerhin stammt aus ihren Reihen die auch im bundesdeutschen Alternativmilieu der Achtzigerjahre diskutierte Idee der autarken Siedlungsform namens bolo'bolo von Szeneautor p.m. Bestehende Stadtstrukturen sollten in kleinere kommunale Einheiten mit basisdemokratischer Verwaltung, Selbstversorgung sowie direktem Waren- und Dienstleistungstausch mit ihren ländlichen Pendants geteilt werden. Nachdem verschiedene Protagonisten der Bewegungen schließlich den Weg vom Besetzer zum Häuser kaufenden oder gar bauenden Genossenschaftler angetreten hatten, fand diese Idee einen schwachen Nachhall in Form von Gemeinschaftsküchen, Konsumdepots und Solardächern der innerstädtischen Wohnprojekte, in denen gegenwärtig zwischen 50 und 240 Personen leben. Gerne wird behauptet, dass sozialen Bewegungen der Totenschein ausgestellt werden kann, wenn sie erst einmal in den Blick der Forschung geraten sind. Allerdings ist in vielen deutschen Großstädten der stadt- und wohnpolitische Aktivismus von unten längst erlahmt, ohne dass sich dort jemals aufgemacht wurde, die lokalen Bedingungen und Ausprägungen dieses Aktivismus wissenschaftlich abzuklopfen. In Zürich dagegen sind immer noch Häuser besetzt, obwohl Stahel feststellt, dass sie von den Betreibern zumeist auf ihre Funktion als Anlaufstelle im blühenden und selbst vom US-Reiseführer „Lonely Planet“ angepriesenen Zürcher Nachtleben reduziert werden. „Downtown Switzerland“ hat heute den Ruf, eine der europäischen Städte mit der höchsten Lebensqualität zu sein. Dazu haben nicht zuletzt die stadt- und wohnpolitischen Bewegungen beigetragen. Doch die Früchte ihrer Kämpfe sind gefährdet. Die Stadtregierung ist seit Jahren fest in sozialdemokratischer Hand, befindet sich aber auf striktem Wachstumskurs. Stahels Erinnerung an historische Bewegungsmomente kann Hilfestellung leisten, neue Widerstände zu schärfen. OLIVER POHLISCH Thomas Stahel: „Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968“. Paranoia city Verlag, Zürich 2007, 462 Seiten, 30 Euro
OLIVER POHLISCH
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,692
Syrien-Konferenz in Brüssel: Viel Geld, noch mehr Not - taz.de
Syrien-Konferenz in Brüssel: Viel Geld, noch mehr Not Im 13. Jahr des Syrienkonflikts leiden die Menschen mehr denn je. In Brüssel hat die internationale Gemeinschaft Hilfen in Milliardenhöhe zugesagt. Zu Hause im Zelt: Viele syrische Kinder kennen nichts anderes – Bar Elias, Libanon BERLIN taz | Es war ein Gänsehautmoment auf der von Zahlen, Fakten und internationalem NGO-Sprech dominierten Syrienkonferenz, zu der die EU am Mittwoch und Donnerstag geladen hatte. Amany Qaddour von der Hilfsorganisation Syria Relief & Development ergriff vor vollem Saal das Wort, um von der syrischen Nothelferin Heba zu erzählen. Seit dem Erdbeben im Februar quäle Heba die Frage, warum sie nicht mit all den anderen einfach gestorben sei. Qaddour brach die Stimme, sie kämpfte mit den Tränen, bevor sie noch sagte: „Die unter uns, die dazu noch in der Lage sind, sollten ihre Bemühungen fortsetzen und helfen.“ Ansonsten ging es am Donnerstag vor allem um Geld: Deutschland sagte insgesamt rund 1 Milliarde Euro zu – zur „Bewältigung der Flüchtlingskrise in Syrien und der Region“, wie es hieß. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bestätigte die Zusage der EU über 1,5 Milliarden Euro für 2023 und sagte weitere 560 Millionen Euro für 2024 zu. Insgesamt kamen Zusagen in Höhe von umgerechnet 5,6 Milliarden Euro zusammen. Hinzu kommen Kreditzusagen in Höhe von weiteren vier Milliarden Euro. Obwohl sich innerhalb Sy­riens politisch seit Jahren nicht mehr viel verändert, bleibt die Krise akut: im Land selbst wie auch in den Nachbarländern, in denen mehrere Millionen Geflüchtete Zuflucht gesucht haben. Relativ wenige Sy­re­r*in­nen sind bislang in ihr Heimatland zurückgekehrt, offenbar erscheint den meisten die Lage zu unsicher. Im Land selbst sind unterdessen zwei von drei Menschen auf Hilfe angewiesen. Fadi al-Dairi von der Organisation Hand in Hand for Aid & Development berichtete am Mittwoch von Familien, die sein Team aus Zelten in „würdige Unterkünfte“ umgesiedelt habe, was im Fachsprech für robuste Gebäude steht, die ein Mindestmaß an Sicherheit und Privatsphäre bieten. „Als Erstes fassten die Kinder die Wände an“, erzählte al-Dairi. „Sie wurden in Zelten geboren und wuchsen in Zelten auf, für sie war das eine völlig neue Erfahrung.“ Seit 2011 wurden in Syrien insgesamt 13 Millionen Menschen vertrieben. Rund die Hälfte von ihnen flüchtete ins Ausland. Damit liegt Syrien weiter an erster Stelle der Herkunftsländer von Geflüchteten weltweit. Von den Binnenflüchtlingen haben sich viele im Nordwesten Syriens gesammelt, der weiter von Aufständischen kontrolliert wird. In dem Gebiet leben rund 4,5 Millionen Menschen; laut UNO sind fast alle auf Hilfe angewiesen. Je­de*r Zweite lebt in einem Lager. Aber auch in anderen Landesteilen herrschen multiple Krisen: von Strom- und Wasserknappheit über Cholera bis zu einer Wirtschaftskrise. „Der Bedarf an Hilfe ist auf dem Höchststand in Syrien und den benachbarten Aufnahmeländern“, schreibt die Hilfsorganisation World Vision in einem Bericht. „Unterdessen gehen die Mittel für die Syrienkrise Jahr für Jahr zurück, während eine politische Lösung für den anhaltenden Krieg unwahrscheinlich bleibt.“ Mangelnde Nachhaltigkeit der Syrienhilfe Al-Dairi betonte, dass die internationale Gemeinschaft der Tatsache Rechnung tragen müsse, dass es sich in Syrien um einen dauerhaften Konflikt handele. Nicht Nothilfe allein, sondern die Stärkung lokaler Strukturen müsse im Mittelpunkt stehen sowie die Befähigung der Menschen, mit den Krisen umzugehen. „Wir haben gegenüber den lokalen Gemeinschaften versagt, indem wir immer mehr Hilfe, mehr Lebensmittelkörbe, mehr Hygienesets geliefert haben“, sagte al-Dairi. „Was wir hätten tun sollen, ist die Stärkung der lokalen Gemeinschaft und die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten.“ Damit sprach al-Dairi ein Thema an, das immer wieder aufkam am Mittwoch, an dem in Brüssel nicht Politiker*innen, sondern syrische Zivilgesellschafts- und Hilfsorganisationen das Sagen hatten – die mangelnde Nachhaltigkeit der humanitären Hilfe. Auch Qaddour forderte in einer Zusammenfassung der Diskussionen: Statt reine Überlebensmaßnahmen zu ergreifen, müsse im 13. Jahr des Konflikts endlich dazu übergegangen werden, den Menschen zu helfen, wieder eine Art normales Leben aufzunehmen. In der humanitären Hilfe zählen beispielsweise die Wiederherstellung von Wasserinfrastruktur oder die Unterstützung der lokalen Landwirtschaft zu solchen nachhaltigen Maßnahmen, also frühe Wiederaufbauhilfe. Hinter dieser Diskussion steht die großpolitische Debatte über einen Wiederaufbau Syriens und die negativen Auswirkungen internationaler Sank­tio­nen gegen das Regime von Baschar al-Assad. Die Sanktionen erschweren es beispielsweise lokalen Organisationen, die internationale Hilfen bekommen, mit Regierungsbehörden zusammenzuarbeiten. Hintergrund der Sanktionen ist, dass Staaten keinen Beitrag zu einem Wiederaufbau leisten wollen, der letztendlich dem Assad-Regime zugutekommen würde. Hilfsorganisationen fordern langfristige Zusagen Obwohl Assad rund zwei Drittel Syriens zurückerobert hat, ist eine politische Lösung des Konflikts nicht in Sicht. Deshalb betonten etliche Vertreter von Hilfsorganisationen, dass es vor allem Zusagen für langfristige Hilfe von den Geberländern brauche. „Wir können nicht ein Kind ein Jahr lang ausbilden und dann sagen, dass wir kein Geld für das nächste Jahr haben“, so Adele Khodr von Unicef. Die Hilfen, die am Donnerstag zugesagt wurden, fließen an Organisationen in Syrien sowie in benachbarten Aufnahmeländern. Auch den Gesellschaften in der Türkei, Libanon und Jordanien zu helfen, sei essenziell, betonten mehrere Sprecher*in­nen. Sie berichteten von Konkurrenz zwischen Sy­re­r*in­nen und Einheimischen und einer zunehmenden Abneigung gegen Geflüchtete. Der türkische Botschafter forderte am Donnerstag, Geflüchtete darin zu unterstützen, freiwillig zurückzukehren. Aus dem Libanon wurden dieses Jahr laut Menschenrechtsorganisationen mehrere hundert syrische Geflüchtete deportiert.
Jannis Hagmann
Im 13. Jahr des Syrienkonflikts leiden die Menschen mehr denn je. In Brüssel hat die internationale Gemeinschaft Hilfen in Milliardenhöhe zugesagt.
[ "Syrien", "Europäische Union", "Humanitäre Hilfe", "Syrienkrieg", "Nahost", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,696
Ja, mir san mit‘m Radl da - taz.de
Ja, mir san mit‘m Radl da Bausenator Eckhoff radelt in der Neustadt und hört sich Klagen der Rad-Lobbyisten an bremen taz ■ Der Bau-Senator gibt sich leger: In Jeans, T-Shirt und sportlicher Windjacke thront Jens Eckhoff (CDU) auf dem Sattel seines schnittigen City-Bikes. Mittags in Huchting gestartet, ist er am Ende der zehnten Etappe seiner Radtour durch Bremens Stadtteile in der Neustadt angelangt. Jetzt noch schnell eine Straße eingeweiht, ein paar Kilometer mit den Drahtesel-Lobbyisten vom ADFC geradelt und dann gibt es eine Erfrischung beim „Bürgerstammtisch“ der lokalen Parteifreunde. Bei der offiziellen Übergabe der neu gestalteten Hohentorsheerstraße kritisieren die Fahrrad-Experten vom ADFC, dass Radfahrer hier zukünftig auf schmalen Radwegen statt auf der Straße fahren müssen. „Die Leute fühlen sich auf Radwegen sicher, aber an Kreuzungen gibt es regelmäßig Unfälle“, sagte ADFC-Landesgeschäftsführer Klaus Peter Land. An anderer Stelle erläutert er, warum Bremen bei der Absenkung von Radwegen auf Fahrbahnniveau nicht auf dem jüngsten Stand ist. Der Senator hört geduldig zu und weist sogleich einen Mitarbeiter an, das Problem zu notieren. Zuvor hatte der ADFC-Mann Land Eckhoff auch einmal gelobt. Die extra markierte Linksabbiegerspur für Radfahrer an der Kreuzung Westerstraße/Langemarckstraße sein ein gelungenes Beispiel für radfreundlichen Straßenbau. Umfangreiche Konsequenzen erhoffen sich die ADFC-Leute von der Tour mit Eckhoff nicht. Aber: „Steter Tropfen höhlt den Stein“, so eine der RadfreundInnnen. Schließlich erledigten die Bremer immerhin 20 Prozent all ihrer Wege mit dem Rad, nur 50 Prozent hätten überhaupt das Auto als Alternative: „Das muss sich auch in der Verkehrspolitik widerspiegeln“, findet sie. ado
ado
Bausenator Eckhoff radelt in der Neustadt und hört sich Klagen der Rad-Lobbyisten an
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,712
Anwältin für Frauenrechte gibt auf - taz.de
Anwältin für Frauenrechte gibt auf Wegen einer „akuten Bedrohungssituation“ hat die namhafte Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateș ihre Zulassung zurückgegeben. „Es gibt Sicherheitsprobleme“, bestätigen Kolleginnen, die ebenfalls Migrantinnen verteidigen VON A. LEHMANN, H. OESTREICH UND C. SCHMITT Sie hat gekämpft, argumentiert und gestritten. Für das Recht jeder Frau, ihren Ehemann und ihre Lebensform selbst zu wählen. Seyran Ateș ist eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen des Landes. Die Strafrechtlerin hat vor allem Migrantinnen vor Gericht vertreten. Jetzt aber ist die renommierte türkischstämmige Anwältin keine Anwältin mehr. Ateș gab ihre Zulassung zurück. Ihre Kanzlei hat sie aufgelöst. Auch ihren Mitgliedsausweis bei Terre des Femmes gab sie zum großen Erstaunen der Organisation zurück. Ateș wollte sich gestern auf Anfrage der taz nicht äußern. Auf ihrer Homepage begründet sie den Rückzug mit einer „akuten Bedrohungssituation“, die ihr „wieder mal allzu deutlich vor Augen geführt“ habe, „wie gefährlich die Arbeit als Rechtsanwältin war und wie wenig ich als Einzelperson geschützt war und bin“. Etwas genauer erklärte sie die Hintergründe ihrer Entscheidung am Donnerstagabend, als sie Gast bei einer Podiumsdiskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung zu „Herausforderungen der Integration“ war. „Ich wurde bei Scheidungsverfahren mehrfach tätlich angegriffen“, sagte sie. Im Sommer sei sie zusammengeschlagen worden. Auch danach hätte die Gewalt nicht aufgehört. Es ist nicht das erste Mal, dass Ateș um ihr Leben fürchten musste. Bereits 1984 überlebte sie schwer verletzt ein Attentat. In den vergangenen Jahren wurde Ateș immer wieder angefeindet. Auf ihrer Homepage spricht sie von einer „Bedrohung durch die Verfahrensgegner“ ihrer Klientinnen. Ateș will die Abgabe ihrer Zulassung aber nur als Teilrückzug verstanden wissen. Sie wolle „nicht mehr am Einzelfall“ arbeiten, aber weiterhin politisch aktiv sein und Vorträge halten. Ateș ist eine der zentralen Figuren, denen es zu verdanken ist, dass die schwierige Situation vieler Migrantinnen heute überhaupt stärker im öffentlichen Bewusstsein präsent ist. Seit Jahren bezieht sie Position zu Zwangsheirat und Ehrenmord. Sie kämpft gegen das Tragen von Kopftüchern und gegen Politiker, die die Unterdrückung von Frauen als vermeintlicher Teil einer anderen Kultur hinnehmen. Ihre Aussagen haben auch deshalb Autorität, weil sie als Anwältin tagtäglich mit den Nöten ihrer Klientinnen konfrontiert ist – sie kennt die Lebenswelt derer, über die sie spricht. So meint sie, derzeit im Migrantenmilieu eine Zunahme der Gewalt wahrzunehmen. Dies werde jedoch kaum thematisiert: „Es gibt große Angst, offen darüber zu sprechen, die auch mit der Angst vor Stigmatisierung zu tun hat“, sagte sie auf dem Podium der Adenauer-Stiftung. Sie habe das Gefühl, ihre Meinung nicht offen sagen zu können: „Wer kritisiert, wird gleich als Islamfeind betrachtet.“ Mit dem Islam habe das aber wenig zu tun, auch andere Religionen seien wenig frauenfreundlich. Eher seien soziale Frustrationen die Ursache. „Die Männer verlieren ihre Rolle als Ernährer, und sie müssen erleben, dass Frauen besser und erfolgreicher schon in der Schule sind. Die letzte Bastion der Männlichkeit ist Gewalt.“ Dass nun gerade diese energische Vorkämpferin für Frauenrechte ihre Anwaltstätigkeit aufgibt, wirft nicht nur viele Fragen auf. Es lässt auch erahnen, dass abseits des Einzelfalls ein grundsätzliches Problem besteht. Kann eine Rechtsanwältin in Deutschland nicht Rechtsanwältin sein, ohne um ihr Leben zu fürchten? Stimmt Ateș’ Wahrnehmung, sie sei als Einzelperson nicht genügend geschützt? „Es gibt Sicherheitsprobleme“, bestätigt die Anwältin Regina Kalthegener, die ebenfalls an Prozessen über Ehrverbrechen beteiligt ist. „Die Bedrohungssituation bei patriarchalen Familienproblematiken wird nicht immer richtig realisiert. Auch die Beratungsstellen sind wenig geschützt.“ Kalthegener sieht hier Handlungsbedarf: „Konzepte für eine Zusammenarbeit zwischen Beratungen und Polizei gibt es bisher nicht überall.“ meinung und diskussion SEITE 11
A. LEHMANN / H. OESTREICH / C. SCHMITT
Wegen einer „akuten Bedrohungssituation“ hat die namhafte Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateș ihre Zulassung zurückgegeben. „Es gibt Sicherheitsprobleme“, bestätigen Kolleginnen, die ebenfalls Migrantinnen verteidigen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,778
Kriegsgefahr am Golf: Saudi-Arabien reagiert scharf - taz.de
Kriegsgefahr am Golf: Saudi-Arabien reagiert scharf Die Regierung in Riad bricht die diplomatischen Beziehungen mit dem Iran ab. Zudem stellt sie den Flugverkehr ein und kappt den Handel. Demonstrantin in Bahrain mit dem Portrait des exekutierten schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr. Foto: AP BERLIN taz | Die Regierung von Saudi-Arabien hat die diplomatischen Beziehungen zum Iran abgebrochen und damit auf die Erstürmung der saudischen Botschaft in Teheran und des Konsulats in Maschhad reagiert. Riad zog sein Botschaftspersonal aus Teheran ab und forderte die iranischen Diplomaten auf, binnen 48 Stunden das saudische Königreich zu verlassen. Am Montag kappte Saudi-Arabien auch alle Handelsbeziehungen mit dem Iran, wie Außenminister Adel al-Dschubeir mitteilte. Der Flugverkehr zwischen beiden Ländern wurde eingestellt, saudische Bürger dürfen nicht mehr in den Iran reisen. Die Regierung des Iran hatte die Hinrichtung des prominenten schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr und 46 weiterer in Saudi-Arabien am Wochenende scharf verurteilt. Revolutionsführer Ali Chamenei hatte die Saudis vor der „Rache Gottes gewarnt. „Das ungerechtfertigt vergossene Blut dieses Märtyrers wird rasche Konsequenzen haben, und die Hand Gottes wird Rache an der saudi-arabischen Führung nehmen“, sagte Chamenei. Der ultrakonservative Teheraner Freitagsprediger, Ajatollah Ahmad Chatami, prophezeite, die Exekution der Schiiten werde die saudische Führung zum Sturz bringen und die sunnitische Herrschaftsfamilie aus den Geschichtsbüchern streichen. Anders als die geistlichen Instanzen und konservative Politiker versucht die Regierung des iranischen Präsidenten Hassan Rohani die Auseinandersetzung zu deeskalieren. Der Präsident verurteilte die Hinrichtung der Schiiten als Akt, der die Spaltung der Muslime fördere und nur den Terroristen nutze. Er warnte aber zugleich, die Demonstranten im Iran würden durch illegale Handlungen dem Ansehen der Islamischen Republik Schaden zufügen. Er verurteilte die Angriffe auf saudische Einrichtungen und ordnete an, die Täter festzunehmen und zu bestrafen. Polizei werde Versammlungen nicht dulden Teherans Außenministerium verbot in einer Erklärung alle Versammlungen vor den saudischen Vertretungen im Iran. „Wir verstehen die Wut der Bürger, aber trotzdem sollten sie sich vor keiner der diplomatischen Vertretungen Saudi-Arabiens versammeln“, sagte Außenamtssprecher Dschabir Ansari. Er betonte, dass die Polizei Versammlungen nicht dulden und falls nötig sie angreifen werde. Auch das Königreich Bahrain hat nun seine diplomatischen Beziehungen zu Teheran abgebrochen. Begründung: die zunehmend „offene und gefährliche Einmischung“ Irans in die Angelegenheiten Bahrains und andrer arabischen Staaten. Die Arabischen Emirate haben ebenfalls ihre Beziehungen zu Teheran herabgestuft. Die USA und andere Staaten warnten vor einer Verschärfung des Streits zwischen Teheran und Riad. Russland versucht, so hieß es aus Diplomatenkreisen, zwischen den beiden Staaten zu vermitteln.
Bahman Nirumand
Die Regierung in Riad bricht die diplomatischen Beziehungen mit dem Iran ab. Zudem stellt sie den Flugverkehr ein und kappt den Handel.
[ "Saudi-Arabien", "Iran", "Vereinigte Arabische Emirate", "Nahost", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,867
Die Schüsse haben auch den Kiez getroffen - taz.de
Die Schüsse haben auch den Kiez getroffen In der Neuköllner Fontanestraße ist es drei Tage nach der Bluttat wieder ruhig geworden. Die Anwohner sind betroffen, manche zünden Kerzen am Tatort an. Die Drogendealer in der Hasenheide legen einen Ruhetag ein – zu viel Polizei Das Reisebüro Geber Reisen hat zwischen seine Sommersonderangebote ein Foto des niedergeschossenen Uwe L. gehängt. Der 42-jährigen Hauptkommissar liegt im Sterben (siehe Text oben). „Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie“, lautet der Begleittext. „Wir trauern.“ Auf der andere Seite der Neuköllner Fontanestraße sammelt sich eine Gruppe Kinder bei dem improvisierten Denkmal mit Rosen, Tulpen und brennende Kerzen. Sie sind in der Mittagspause von der Schule um die Ecke hergelaufen. „Ist er echt hier erschossen worden?“, fragt ein Junge seine Mutter laut. „Ja“, antwortet sie leise. „Es ist schlimm, sehr schlimm.“ Drei Tage nach der Schießerei ist es ruhig geworden um den Tatort – nur die üblichen Passanten waren gestern am Nachmittag unterwegs. Und auch die Dealer in der angrenzenden Hasenheide legen einen Ruhetag ein. „Normalerweise könnte ich dir etwas verkaufen“, sagt ein Typ in einem orangefarbenen Mantel. „Aber jetzt gibt es hier zu viel Polizei. Vielleicht später.“ Er findet es „schrecklich“, was dreißig Meter weiter passiert ist. „Aber ich habe nichts damit zu tun.“ Polizisten in Uniform sind nach den Durchkämmaktionen am Wochenende nicht mehr unterwegs, wenn überhaupt sind Fahnder zivil vor Ort. Mitten in dem Park steht ein Mann in Trainingsanzug. Er hält ein Schwert in der Hand. Langsam und konzentriert hebt er es hoch, als ob er einen eingebildeten Feind bedrohen wollte. „Ich mache Tai Chi“, sagt er. Auf das die Bluttat angesprochen seufzt er. „Ja klar, schrecklich.“ Und nein, er brauche sein Schwert nicht, weil es hier zu gefährlich sei. „Obwohl ich hier nachts nicht gern entlang gehen würde.“ Die Umgebung der Hasenheide, zu der die Fontanestraße gehört, ist nicht gerade eine reiche Gegend Berlins. In der Hermannstraße reiht sich Spielhölle an Spielhölle – Sportwetten liegt gegenüber Fortuna Wetten, daneben lockt Albers Wetten. Auch in der Altberliner Kneipe („Tag und Nacht geöffnet“) gibt es mehrere Geldspielautomaten. Ein alter Mann liest in einer Boulevardzeitung über den angeschossenen „Drogen-Cop“. Er selbst wohne schon seit 77 Jahren in Neukölln. „Früher mal war es ein gemütlicher Bezirk. Jetzt wird es immer schlimmer.“ Er wage sich nicht mehr in den Park, aus Angst überfallen zu werden. Heute könne es ruhig sein, erzählt er, aber morgen seien die herumlungernden Jugendlichen wieder da. Und die Polizei sei machtlos. „Sie rufen einander an, wenn ein Beamter kommt. Dann sind alle in ein paar Sekunden verschwunden.“ Draußen, an einem Eingang der Hasenheide, steht eine Gruppe Teenager. Sie wollten eigentlich Haschisch kaufen, sagen sie. Bekommen haben sie nichts – zu viel Polizei. MICHIEL HULSHOF
MICHIEL HULSHOF
In der Neuköllner Fontanestraße ist es drei Tage nach der Bluttat wieder ruhig geworden. Die Anwohner sind betroffen, manche zünden Kerzen am Tatort an. Die Drogendealer in der Hasenheide legen einen Ruhetag ein – zu viel Polizei
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
13,874