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Größere Scheine, kleinere Brötchen - taz.de
Größere Scheine, kleinere Brötchen ■ Türkei verzeichnet Rekord-Inflation von 149,6 Prozent / Regierung Çiller vertraut für 95 auf Erlös aus Privatisierungen Istanbul (taz) – Mitte Januar brachte die türkische Zentralbank neue Banknoten in Umlauf. Und prompt bildeten die neuen Scheine Anlaß, über Ministerpräsidentin Çiller zu spotten: Eine Million Türkische Lira (TL) steht drauf – bis dahin war die höchste Denomination 500.000 TL. Nun hatte die Koalitionsregierung in Ankara noch vor einem halben Jahr versprochen, die Inflation drastisch zu senken. Die wollte aber partout nicht runter. Im Gegenteil: Mit einer Inflationsrate von 149,6 Prozent im vergangen Jahr (1993: zirka 60 Prozent) hat sie in der Geschichte der türkischen Republik eine traurige Rekordmarke erreicht. „Befinden wir uns etwa im Krieg?“ fragt das Wirtschaftsmagazin Iktisat Dergisi. Selbst während des Zweiten Weltkriegs wurden nicht so hohe Inflationsraten verzeichnet. Oppositionsführer Mesut Yilmaz von der „Mutterlandspartei“ spricht von einer Katastrophe. Der „Lügen-Champion“, so seine Bezeichnung für die türkische Ministerpräsidentin, müsse zurücktreten. Die „Mutterlandspartei“ organisiert zur Zeit regelmäßig Kundgebungen, bei denen Frauen durch die Straßen ziehen und, mit Kochtöpfen laut trommelnd, ihren Protest kundtun. Tatsächlich sind die Reallöhne innerhalb eines Jahres um 40 Prozent gesunken. Die inflationäre Entwicklung hat die Kaufkraft der abhängig Beschäftigten buchstäblich aufgefressen. Dabei hatte Tansu Çiller im April 94 mit dem heiligen Versprechen, die Inflation zu bändigen, ein Austeritätspaket verkündet. Die Defizite des Staatshaushaltes und das Außenhandelsdefizit sollten mit dem Paket abgefangen werden. Das Austeritätspaket, das mit einer radikalen Abwertung der türkischen Lira eingeleitet wurde, zielte darauf ab, die Binnennachfrage, Wachstum und Produktion zu drosseln und die türkische Wirtschaft auf den Export zu trimmen. „Schnallt den Gürtel enger, damit wir die Inflation in den Griff kriegen!“ lautete die Devise, „die Türkei im Aufbruch“ und „nationale Offensive“ waren die Schlagworte, die von den Medien immer wieder strapaziert wurden. Tatsächlich schaffte es die Regierung Çiller, daß trotz der Verarmung Arbeiter, Angestellte und Beamte kaum nennenswerten Widerstand leisteten; in den staatlichen Betrieben wurden selbst Tarifvereinbarungen von seiten der Regierung nicht eingehalten. Wurden im Sommer und Herbst vergangenen Jahres, also kurze Zeit nach Verkündung des Maßnahmenpakets, noch relativ geringe Teuerungsraten verzeichnet, so schnellte in der zweiten Jahreshälfte 1994 die Inflation wieder in die Höhe. Türkische Wirtschaftsexperten machen mehrheitlich düstere Prognosen. Die Rückzahlung von 11 Millarden US-Dollar Auslandsschulden steht in diesem Jahr an, und es ist angesichts der Tatsache, daß internationale Rating-Institutionen die Kreditwürdigkeit der Türkei anzweifeln, nicht anzunehmen, daß die Türkei in diesem Jahr neue Schulden wird aufnehmen können. Nur durch eine Hochzinspolitik kann die Regierung den Wechselkurs der Türkischen Lira halten. Erfolgreich war das im April 94 geschnürte Maßnahmenpaket lediglich bei der Senkung der Löhne der staatlichen Angestellten und Beamten. Eine strukturelle Reform jedoch blieb aus. Einer der Gründe ist zweifellos, daß die türkische Regierung jede politische Lösung des Kurdistan-Konflikts ablehnt. Ein Minister schätzte, daß Ankara jährlich rund sieben Milliarden US-Dollar für den Krieg in den kurdischen Regionen ausgibt. Nach dem Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission werden fünf Prozent des Bruttosozialprodukts für „Terrorismusbekämpfung“ aufgewendet. Auch an eine Reform des anachronistischen Steuersystems traut sich die Regierung Çiller nicht heran. Dreißig Prozent der staatlichen Einnahmen werden durch die Einkommensteuer bestritten. Mit gerade mal fünf Prozent tragen die Unternehmen zu den staatlichen Einnahmen bei – ein Anteil, der von Jahr zu Jahr sinkt. Die Regierung Çiller vertraut ganz auf die Erlöse aus der Privatisierung von Staatsunternehmen, um das Jahr 1995 über die Runden zu bringen. Vor zwei Monaten hatte das türkische Parlament ein Privatisierungsgesetz verabschiedet. Sollten aber die Erlöse aus dem Ausverkauf der staatlichen Unternehmen ausbleiben, ist wohl erneut mit einem Austeritätspaket zu rechnen. Ömer Erzeren
Ömer Erzeren
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Die Wahrheit: Abgefeilte Reißzähne - taz.de
Die Wahrheit: Abgefeilte Reißzähne Die blutrünstige Wahrheit über die Schlagervampirin Helene Fischer kommt nach über 400 Jahren endlich ans Licht. Auch auf der Bühne nutzt Helene ihre Vampirkräfte, zum Beispiel für kleine Schwebekunststücke. Bild: reuters Engelsgleich steht sie im Scheinwerferlicht und strahlt. Helene Fischer, Stargast beim Rheumafest der Volksmusik, hat gerade ihren Auftritt absolviert. Wunderschön wie immer wirkt ihre Fassade! Und keiner im Publikum ahnt: Im Inneren ist sie eiskalt. Helene, die Unnahbare, die Unmenschliche, die Unbarmherzige. Dann geht sie ab, oder besser schwebt sie ab, kaum scheint ihr Fuß den Boden zu berühren. Sofort springen hinter der Bühne ihre Diener herbei und hüllen ihre Herrin in purpurne Gewänder, setzen ihr eine Rubinkrone auf und geleiten sie zu ihrer pechschwarzen, handgeschnitzten Sänfte. Derweil nimmt sie ihre zarte Mädchen-Maske ab. Darunter kommt ihr wahres grausiges Gesicht zum Vorschein: So würde man sich eher eine 400 Jahre alte Carmen Nebel vorstellen. Helene schnippt dreimal mit den Fingern, es klingt wie das herabfahrende Messer einer Guillotine, und schon schleppen sich sechs ausgemergelte Lakaien heran, die sie samt Sänfte in ihr gruftartiges Backstage-Gemach tragen. Ein solches groteskes Doppelleben führt Helene schon seit Jahrhunderten. Denn anders als offiziell behauptet, kam sie nicht 1984 im sibirischen Krasnojarsk zur Welt, sondern schon 1612 in einem Dorf in Transsilvanien – unter dem Namen Helena Draculesca. Aufgewachsen ist sie als ganz normales Bauernmädchen, war jedoch für die örtlichen Verhältnisse von bezaubernder Schönheit. Genau dieses reizende Äußere wurde ihr schließlich zum Verhängnis, denn der gerade auf der Ostblock-Tournee befindliche Volksvampir Florianus Argentum Ferrum wählte sie zu seiner blutrünstigen Braut und erweckte in ihr die Unsterblichkeit. Schon bald hieß man sie den Schrecken von Siebenbürgen, den Schatten der Karpaten, die Königin der mondlosen Nacht. Helenes Blutdurst ist seitdem ungestillt, heute noch überkommt sie das Verlangen nach jedem Auftritt. So sitzt sie auch an diesem Abend in ihren schummrigen Backstage-Gemächern auf einem Thron aus abgenagten Knochen und wartet aufs Catering. Ihre Diener führen ein ganz in Beige gekleidetes Rentner-Ehepaar herein, beide um die 70, mit einer Autogrammmappe und einem halben Dutzend Fischer-CDs im Schlepptau. Langsam treten sie in die düstere Kammer ein und sehen sich vorsichtig um. „Meinst du, hier sind wir richtig?“, fragt die Frau verschüchtert ihren Gatten. „Aber ja doch!“, säuselt es aus der finstersten Ecke herüber, in der man nur zwei glühend rote Augen funkeln sieht. „Meine lieben Fans, kommt nur näher“, flötet Helene mit hypnotischem Tonfall, und die beiden Senioren gleiten wie von einer unsichtbaren Macht gezogen über den polierten Marmorboden. Aus dem Dunkel hört man nur ein kurzes Schmatzen, dann ein Gluckern und dazu ein immer leiser werdendes Stöhnen. Nun ist es im Backstage-Bereich für einen Moment totenstill. Die blutrünstige Helene hat ihren Trieb befriedigt. Aus den Hälsen der beiden Rentner ragen nur noch ein paar Strohhalme heraus. Selbst beißen kann die Schlagervampirin nämlich längst nicht mehr – sie hatte sich für ihr unschuldiges Image die Reißzähne abfeilen lassen. Seitdem behilft sie sich mit einen kleinem Opfer-Anzapfer und stabilen Trinkhalmen. Gesättigt schnippt Helene einen Lakaien herbei. „Du da, Wurm! Das nächste Mal gefälligst wieder was Frisches, nicht ständig solche ausgetrockneten Fossilien! Die schmecken furchtbar ranzig.“ – „Ja, Herrin!“, versichert der Diener, wohl wissend, dass junge Opfer bei Veranstaltungen dieser Art schwer zu finden sind. „Vielleicht noch ein Dessert?“, haucht er unterwürfig. Helene nickt. Schon wird auf einem mit Blattgold beschlagenen Wagen ein gutes Dutzend gemischter Hundewelpen herangefahren. Und während die Karpatenprinzessin einen kleinen Golden Retriever anzapft, kommt auch schon ihr Gemahl, der unsterbliche Vampirfürst Argentum Ferrum, zum Fenster hereingeflattert. „Griaß di Gott, sammer guad drauf?“, entfährt es ihm, doch Helene rollt nur mit den Augen. Das ist nur einer der Gründe, weshalb sie ihm schon seit Jahrhunderten immer wieder zu entkommen versucht. Wäre sie doch neulich nur mit diesem unheiligen Grafen durchgebrannt! Aber das Schicksal scheint sie auf Gedeih und Verderb aneinander zu ketten. „Florianus, leg endlich deine Bühnentarnung ab!“, schimpft sie. „Verzeih mir, Gnädigste! Rose der Nacht!, flötet er daraufhin. Sie wirft ihm einen Welpen herüber. „Helene, es gibt unangenehme Neuigkeiten. Es hat schon wieder eine Doppelgängerin von dir Ärger gemacht und ist ungenehmigt in Dorfkneipen aufgetreten.“ Helenes Blick verfinstert sich. Wütend wirft sie einen halb ausgetrunkenen Dalmatiner zur Seite. „Meine Sänfte!“, keift sie. Noch in dieser Nacht sollte man am Glockenturm von Hintertupfing ein blutleeres Helene-Fischer-Double baumeln sehen. Die Wahrheit auf taz.de
Michael Gückel
Die blutrünstige Wahrheit über die Schlagervampirin Helene Fischer kommt nach über 400 Jahren endlich ans Licht.
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Charité: Abschreiben bis der Doktor kommt - taz.de
Charité: Abschreiben bis der Doktor kommt Mitarbeiter einer Website entlarven viele Doktorarbeiten von Ärzten als Plagiate. Berlins Uniklinik reagiert positiv auf die Kontrolle. Ein echter oder ein Türschild-Doktor? Oder bloß ein Arzt? Bild: DPA Die Diagnose ist eindeutig: Plagiatsfunde auf allen Seiten der Doktorarbeit. Auf einem Viertel der Seiten ist sogar weit über die Hälfte des Textes eine Kopie einer nicht genannten Quelle. Bei dem Text handelt es sich um die medizinische Doktorarbeit von Alexander M., der 2009 an der Universitätsklinik Charité promoviert hat. M. schrieb dafür auf 24 Seiten nahezu Wort für Wort aus anderen Arbeiten ab, darunter sogar aus Zusammenfassungen seines Doktorvaters. Mitarbeiter von VroniPlag Wiki, einer Plattform, die wissenschaftliche Arbeiten auf Plagiate untersucht, haben M.s Betrug vor einigen Tagen aufgedeckt. Dabei ist M. kein Einzelfall: An der gesamten Charité konnten auf VroniPlag Wiki in den vergangenen Monaten 20 Promotionen ermittelt werden, die aus Plagiaten bestehen. Drei davon auf allen Seiten, so wie im Fall von M., der mittlerweile niedergelassener Arzt ist. Debora Weber-Wulff, Informatikprofessorin an der HTW Berlin, arbeitet seit mehreren Jahren bei VroniPlag Wiki mit. Sie interessiert sich vor allem dafür, inwiefern Doktoranden aus anderen Doktorarbeiten abschreiben, die kostenlos im Netz zugänglich sind. Dafür hat VroniPlag Wiki 50.000 Promotionen heruntergeladen, die öffentlich zugänglich sind. Eigentlich ist Weber-Wulff eine Verfechterin des sogenannten open access. Sie habe Skeptikern nie glauben wollen, die darauf verwiesen, dass plagiieren dadurch einfacher werde. Die Ergebnisse auf VroniPlag Wiki in den vergangenen Monaten seien allerdings erschreckend: Nicht nur an der Charité, sondern auch an der Uni Münster wurden zahlreiche Promotionen gefunden, die zu einem großen Teil aus anderen Arbeiten abgeschrieben wurden. „Medizinstudenten wollen tolle Ärzte sein und sich nicht lange mit Forschung aufhalten. Das hat etwas mit Eitelkeit zu tun“, sagt Weber-Wulff. „Türschildpromotion“ nennt sie diese Fälle. Zwar muss nicht jeder Arzt einen Doktortitel haben, aber es ist die gängige Variante. Acht von zehn Medizinstudenten promovieren, lassen sich aber oft nicht genug Zeit dafür: Sie quetschen die Promotion irgendwo zwischen die letzten Prüfungen, das Praktische Jahr und die Facharztausbildung. Eine eigenständige Forschungsarbeit, wie bei Doktorarbeiten in anderen Fächern, kommt dabei selten heraus, so der Wissenschaftsrat in einem Positionspapier 2011. Die Charité hat auf die aufgedeckten Plagiate von VroniPlag-Wiki positiv reagiert. Die Dekanin schrieb sogar einen Brief an Debora Weber-Wulff, erzählt diese, um sich für die Arbeit zu bedanken: Schließlich würde dadurch gute Wissenschaft gefördert. Sie habe Weber-Wulff aber auch gebeten, eine Anzahl an plagiatsfreien Arbeiten zu nennen, um sich vor Generalverdacht schützen zu können. Volker Bähr von der Wissenschaftsstelle an der Charité bestätigt, dass Forschung oft nicht die erste Motivation der Medizinstudenten für ihre Promotion sei. „Die Charité schätzt die Arbeit von VroniPlag Wiki“, sagt Bähr – auch, wenn diese für ihn nun viel Mehrarbeit bedeutet. Er muss alle von VroniPlag Wiki für auffällig befundenen Arbeiten prüfen, weil er davon ausgehen muss, dass sich die Kandidaten rechtlich wehren, wenn ihnen der Doktortitel entzogen wird. Das sei nämlich in Fällen wie dem von Alexander M. die Konsequenz. Als Arzt praktizieren darf er weiterhin, nur auf seinem Türschild und seinem Personalausweis muss der Titel Dr. med verschwinden. „Betrug aufdecken ist eine Sache. Noch wichtiger ist es aber, dem vorzubeugen“, findet Bähr dann auch. Jeder Student muss jetzt Kurse übers wissenschaftliche Arbeiten ablegen. Außerdem versuche man auf die Betreuer einzuwirken. Wenn ein Promovend seitenlang von seinem Doktorvater abschreibt und der bemerkt oder erwähnt es nicht, dann sei das ebenso fragwürdig, wie das Plagiieren selbst. Auf die Professoren einzuwirken, ist aber kompliziert, sagt Bähr. Sie genießen viel Autorität. Man habe versucht, zumindest zu regulieren, dass Promovend und Betreuer sich künftig öfter treffen müssen. Weber-Wulff glaubt nicht, dass die Charité „die einzigen Bösen sind“. Plagiieren sei ein strukturelles Problem. Der Verband der Internisten fordert nun, an diesem Zustand etwas zu verändern. Ähnlich wie im angelsächsischen Raum soll jeder approbierte Arzt einen Doktortitel bekommen, sich also Herr oder Frau Doktor rufen lassen dürfen. Aber nur jene, die eigenständig wissenschaftlich forschen, sollen den Titel „Ph. D“ erhalten, der dann auch erst erlaube, an einer Universität zu lehren.
Anna Bordel
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Sekte: Scientology auf dem Schirm - taz.de
Sekte: Scientology auf dem Schirm Die Innenminister der Länder prüfen ein Verbot der Psychosekte. In Berlin, wo sie ihren Sitz hat, wird der Vorstoß skeptisch gesehen. Selbst Körting relativiert den Beschluss: Aufklärung sei wichtiger. Proteste sind immer noch besser als Verbote, weiß auch diese Frau Für ihre Niederlassungen wählt die Sekte Scientology in der Regel frequentierte Standorte. In New York liegt sie in unmittelbarer Nähe des Times Square, in Toronto auf der quirligen Yongestreet. Und ihre Weltzentrale in Los Angeles befindet sich auf dem berühmten Sunset Boulevard in Hollywood. Der Deutschlandsitz in der Charlottenburger Otto-Suhr-Allee ist ebenfalls keine schlechte Adresse. Gemein ist all diesen Zentralen vor allem eins: Obwohl täglich hunderte Passanten daran vorbeilaufen, sind sie von innen meist menschenleer. Für die Innenminister der Länder und des Bundes stellt die Psychosekte dennoch eine Bedrohung dar. Unter der Leitung von Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) einigten sich die Ressortchefs bei ihrer Konferenz am Freitag darauf, sie noch stärker ins Visier zu nehmen. Die Innenminister beauftragten ihre Verfassungsschutzämter damit, verstärkt Informationen zu sammeln, die ein Verbot der Organisation tatsächlich begründen könnten. Auch Körting stimmte dem zu. Dabei hatte der Innensenator noch vor einem Jahr auf entsprechende Urteile des Berliner Verwaltungsgerichts verwiesen, die eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht erlaubte - obwohl seiner Aussage nach die Schriften des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard "mit dem Menschenbild des Grundgesetzes, mit der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen und damit mit unserer verfassungsmäßigen Ordnung nicht vereinbar" seien. Doch vor einem Jahr hätten die tatsächlichen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Aktivitäten nicht vorgelegen. Dies scheint Körting nun anders zu sehen: In einem Zeitungsinterview sagte er: "Die Situation in Berlin hat sich dadurch ein bisschen geändert, dass Scientology dieses Gebäude an der Otto-Suhr-Allee bezogen und viele Aktivitäten entwickelt hat." Dirk Behrendt, rechtspolitischer Experte der Grünen im Abgeordnetenhaus, versteht den Sinneswandel des Innensenators nicht. Trotz Drucks der CDU habe sich Körting zu Recht bisher geweigert, Scientology zu bewachen. "Jetzt ist er nicht nur eingeknickt, sondern will die CDU auch noch überholen", sagte Behrendt der taz. Ein Verbot habe die Berliner CDU bisher nicht gefordert. Behrendt plädiert zwar ebenfalls dafür, die Gefahren, die von der Sekte ausgehen, verstärkt im Blick zu behalten. Auf geheimdienstliche Methoden solle aber verzichtet werden. Aufklärung an Schulen sei wesentlich sinnvoller. Und auch Firmen müssten besser informiert werden, damit nicht so etwas passiert wie bei der Fußball-WM vor einem Jahr. Damals hatte die Deutsche Bahn AG der Sekte gestattet, mit einem großen Zelt vor dem Hauptbahnhof für sich zu werben. Ein Verbotsverfahren werte Scientology aber nur unnötig auf, sagte Behrendt. Körting relativierte den IMK-Beschluss am Wochenende aber auch selbst: Scientology sei auch weiterhin nicht primär eine Sache des Verfassungsschutzes, der Schwerpunkt liege bei der Immunisierung, sagte er in dem Interview. Dies geschehe vor allem über Aufklärung. Und er gab zu: In der Berliner Gesellschaft habe Scientology nach wie vor eine "völlig untergeordnete Bedeutung".
Felix Lee
Die Innenminister der Länder prüfen ein Verbot der Psychosekte. In Berlin, wo sie ihren Sitz hat, wird der Vorstoß skeptisch gesehen. Selbst Körting relativiert den Beschluss: Aufklärung sei wichtiger.
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Brand-Bekenntnis - taz.de
Brand-Bekenntnis ■ „Lesbenfrauen“ zu „Junger Freiheit“ Erfurt (AP/taz) – Das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) hat die Bevölkerung um Mithilfe bei der Aufklärung des Brandanschlags auf die Union-Druckerei in Weimar gebeten. Wie eine LKA- Sprecherin am Montag in Erfurt mitteilte, setzte der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen führt, eine Belohnung von 25.000 Mark aus. Bei dem Anschlag in der Nacht zum 4. Dezember war Sachschaden von einer Million Mark entstanden. In dem Gebäude wurde die rechte Junge Freiheit gedruckt. Der Vertrag mit dieser Wochenzeitung sei aus Sicherheitsgründen fristlos gekündigt worden, sagte der Geschäftsführer der Union-Druckerei. Nach Angaben des LKA hatten sich „Revolutionäre Lesbenfrauengruppen und andere revolutionäre Gruppen“ in einem Schreiben zu dem Anschlag bekannt. Die Brandsätze hätten sich in drei gelben Postnormpaketen befunden. Sie bestanden den Angaben zufolge aus Brandbeschleuniger, Batterien, Blitzlichtbirnen und zwei schwarzen Quartz-Reiseweckern. Außerdem seien für die Tat zwei schwarze Fünf-Liter-Benzinkanister mit grünen Einfüllstutzen verwendet worden. Bereits am 4. Oktober hatten zwei maskierte Männer die Angestellten der Druckerei bedroht und einen Karton mit etwa 5.000 Adreßaufklebern von Abonnenten der Jungen Freiheit gestohlen.
taz. die tageszeitung
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Verkehrswende in Bologna: Fast nur noch Tempo 30 und Tempo 10 - taz.de
Verkehrswende in Bologna: Fast nur noch Tempo 30 und Tempo 10 Die italienische 400.000-Einwohner-Stadt entschleunigt den Verkehr flächendeckend. Das Hauptargument des Bürgermeisters ist gar nicht mal das Klima. In Bologna ist Schluss mit Rasen, ab jetzt sind nur noch 30 erlaubt Foto: Denis Vostrikov/imago ROM taz | „Bologna Città 30“ heißt das Motto, „Bologna Stadt 30“. Seit dem 1. Juli gilt im ganzen Stadtgebiet das Geschwindigkeitslimit von 30 Stundenkilometern, mit Ausnahme nur der großen Durchgangsstraßen, auf denen es bei 50 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit bleibt. Zugleich werden einige bisherige Tempo-30-Zonen jetzt weiter entschleunigt und zu Tempo-10-Zonen umgewidmet. Die Kommune mit knapp 400.000 Einwohnern in der Emilia-Romagna ist damit die erste Großstadt in ganz Italien, die flächendeckend 30 Kilometer durchsetzt. „Null Verkehrstote“ hat der von der gemäßigt linken Partito Democratico kommende Bürgermeister Matteo Lepore als Hauptziel der Maßnahme proklamiert. Immerhin 22 Menschen verloren im Jahr 2022 ihr Leben im städtischen Straßenverkehr, und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 sind schon 13 Tote zu beklagen. Zum Vergleich: Berlin mit zehnmal mehr Einwohnern als Bologna meldete im Jahr 2022 34 Verkehrstote. Auf diese Zahlen verweist Lepore und fügt hinzu, er sei gerne bereit, mit dem neuen Tempolimit eine Wahlniederlage zu riskieren, wenn es ihm gelinge, „jährlich 20 Menschenleben zu retten“. Allerdings hatte er schon vor seiner Wahl im Oktober 2021 die jetzt umgesetzte Maßnahme zum Teil seines Programms gemacht und dennoch den Urnengang für sich entschieden. Jedoch hielt die Stadtspitze jetzt zur Einführung von Tempo 30 den Ball flach, so als wolle sie so wenig öffentliche Aufmerksamkeit wie möglich erringen. Das ist gelungen: Italiens Medien berichteten so gut wie gar nicht, und auch in Bologna selbst war das öffentliche Echo gering. Dazu mag beitragen, dass Verstöße gegen das neue Tempolimit erst vom 1. Januar 2024 mit Geldbußen geahndet werden sollen. Der ÖPNV bekommt Geld Entsprechend schmal blieb so auch der Protest in der Stadt. Zu einem Autokorso, der sich im Schleichtempo durchs Zentrum bewegte, kamen am letzten Donnerstag gerade einmal 200 Fahrzeuge mit rund 400 Personen an Bord zusammen. Unterstützung findet der Protest bei den Rechtsparteien. So fordert die Lega ein städtisches Referendum, und die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia startete eine Unterschriftenaktion, die jedoch mit 2.500 Un­ter­zeich­ne­r*in­nen ein bescheidenes Resultat zeigte. Der Bürgermeister jedenfalls lässt sich nicht vom Kurs abbringen, zu dem auch kräftige Investitionen in den ÖPNV gehören.
Michael Braun
Die italienische 400.000-Einwohner-Stadt entschleunigt den Verkehr flächendeckend. Das Hauptargument des Bürgermeisters ist gar nicht mal das Klima.
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Fridays for Future jetzt virtuell: Greta rät zu Demo-Pause - taz.de
Fridays for Future jetzt virtuell: Greta rät zu Demo-Pause Greta Thunberg fordert wegen der Corona-Gefahr den Verzicht auf Massenaktionen. Stattdessen soll online demonstriert werden. Das war wohl erstmal ihr letzte Großdemo: Greta Thunberg (Mitte) am 6. März in Brüssel Foto: Geron/reuters BERLIN taz | Die Initiatorin der weltweiten Fridays-for-Future-Demonstration, Greta Thunberg, hat an die Klimaschutzbewegung appelliert wegen der Corona-Gefahr bis auf Weiteres auf große Demonstrationen zu verzichten. „Wir müssen uns hinter den Experten und der Wissenschaft vereinen“, schrieb Thunberg am Mittwoch auf Twitter. „Und die Experten raten uns, große, öffentliche Versammlungen zu meiden um eine bessere Chance zu haben, die Kurve abzuflachen und die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen.“ Sie empfehle, auf die Wissenschaft zu hören, schrieb die 17-jährige Schwedin weiter. Allerdings bleibe die Klimakrise drängend. „Wir werden darum neue Wege finden müssen, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und für Wandel zu werben, die keine zu großen Menschenmassen mit sich bringen.“ An diesem Freitag soll digital gestreikt werden, indem Menschen Fotos von sich mit Protestplakaten in den sozialen Medien hochladen. In Deutschland waren die wöchentlichen Demonstrationen in vielen Städten schon vor der Corona-Krise ausgesetzt worden, weil die OrganisatorInnen nach einem Jahr erschöpft waren oder neue Aktionsformen ausprobieren wollten. An diesem Freitag sollte es aber in mehreren Städten in Bayern größere Demonstrationen zur Kommunalwahl geben. Diese wurden von den Veranstaltern am Dienstag abgesagt: „Wir haben eine Verantwortung vor der Gesellschaft und wollen keine Menschen mit unseren Streiks gefährden“, sagte Leonie Häge, Sprecherin Fridays For Future Bayern. „Dennoch ist diese Wahl eine Klimawahl.“ Auch hier sollen die Proteste ins Netz verlegt werden. Die nächsten größeren Aktionen sind bisher zum globalen Streiktag am 24. April vorgesehen. Ob diese stattfinden können, ist derzeit noch offen.
Malte Kreutzfeldt
Greta Thunberg fordert wegen der Corona-Gefahr den Verzicht auf Massenaktionen. Stattdessen soll online demonstriert werden.
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Oase der Ruhe statt Beton - taz.de
Oase der Ruhe statt Beton WESERUFER Bürger wollen Bebauung verhindern Einen Erholungsgarten möchte die Bürgerinitiative „Bremer am Fluss“ an der umgedrehten Kommode anlegen, verkündete sie gestern. Bausenator Reinhard Loske hatte Pläne für Wohnbebauung auf dieser Fläche zurückgezogen – auf Protest der Bürger. Seitdem ist offen, was dort passieren soll. Die Bürgerinitiative hat die Anwohner befragt. „Wir wollen unsere Bäume behalten“, lautete deren Wunsch. Die Gestaltungsidee für die Grünanlage orientiert sich nun am Thema Wasser und soll sich harmonisch in die Natur am Weserufer einbinden. Unebenheiten im Gelände sollen terrassiert werden, um mehr Raum für Bänke und Erholungsflächen zu schaffen. Als Highlight der Grünanlage ist eine Aussichtsplattform geplant.„Wir schauen uns die Idee gerne an“, sagt Michael Ortmanns, Sprecher des Bausenats, dazu. Andere Vorschläge für die Nutzung der Fläche gäbe es noch nicht. KAFE
KAFE
WESERUFER Bürger wollen Bebauung verhindern
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DAS DENKT DUTSCHKE - taz.de
DAS DENKT DUTSCHKE Marek Dutschke (24) aus Boston, Massachusetts, beantwortet drei Fragen zum Rennen um die US-Präsidentschaft. Was ist das Thema der Woche? Heute Nacht wird der „Commander in Chief“ George W. Bush beim republikanischen Parteitag in New York seine große Rede zur erneuten Präsidentschaftskandidatur halten. Was wird er uns erzählen? Bush wird sich mit Außenpolitik befassen, dem Kampf gegen den Terror und der Sicherheit der USA. Es will demonstrieren, dass er männlicher ist als John Kerry. Und darum werden wir einen großspurigen „Cocky“ George W. Bush erleben, der behauptet, Geschichte gemacht zu haben, indem er mit seinen Lügen tausende von US-Soldaten und Irakern in den Tod geschickt hat. Wer wird der nächste US-Präsident? Ich weiß es nicht. Aber wenn Bush gewinnt, wird er mit Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments regieren. Dann werden wir nicht mehr über ihn lachen können wie heute Nacht, wenn wir seine Rede als idiotisch abtun.
Marek Dutschke
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■ Ostermärsche: Geringe Beteiligung - taz.de
■ Ostermärsche: Geringe Beteiligung Bonn (epd) – Bei den diesjährigen Ostermärschen soll nach Angaben der Veranstalter die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus im Mittelpunkt stehen. Ein Sprecher des „Netzwerks Friedenskooperative“ sagte gestern, er rechne mit einer relativ geringen Beteiligung von insgesamt zehn- bis zwanzigtausend Menschen. Die Friedensgruppen wollten auf „Widersprüche der aktuellen Politik zu den Lehren der Befreiung“ aufmerksam machen.
taz. die tageszeitung
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„Welthistorischer Rülpser“ - taz.de
„Welthistorischer Rülpser“ „Literatur am Ende der Politik“ – Ein Symposion der Zeitschrift „konzepte“ in den Räumen der Bonner Friedrich-Ebert-Stiftung  ■ Von Bernd Imgrund Brauchen wir eine neue politische Literatur? Unter dieser Fragestellung erschien im Frühjahr 1993 eine Ausgabe der Essener Zeitschrift konzepte, die herausgegeben wird vom „Bundesverband junger Autorinnen und Autoren“. Die Antworten der angeschriebenen Literaturwissenschaftler, Kritiker und Autoren fielen kontrovers aus, so daß die Klärung von An- und Widersprüchen politischer Literatur Anlaß zu einer weiteren Diskussion an diesem Wochenende gab. Eine erste Gesprächsrunde versuchte die späten 60er Jahre mit der Situation nach 1989 kurzzuschließen. Für den Kriegsteilnehmer Dieter Wellershoff markiert das Jahr 1945 den Einschnitt, der sein Leben in zwei Hälften trenne. Erst mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme und dem Fall der Mauer sei für ihn wieder „Geschichte spürbar“ geworden, während ihm APO und die Poetik- Thesen des berühmten „Kursbuch 15“ (in dem von verschiedenen Seiten der „Tod der Literatur“ diagnostiziert wurde) immer fremd geblieben seien. „Das Kollektiv ist der Wahnsinn.“ Diesen Eindruck habe er im Nationalsozialismus wie in Verbindung mit den darauf folgenden sozialistischen Versuchen in Osteuropa gewonnen. Wie Wellershoff bestätigte auch Freimut Duve, kulturpolitischer Sprecher der SPD und einst Herausgeber der Reihe „rororo aktuell“, daß Literatur heute angesichts der rasanten politischen Umbrüche ein zu langsames Medium sei, um unmittelbar Zeitgeschehen aufzugreifen. Noch für die 60er Jahre, die unter dem „Tierkreiszeichen der Schnecke“ gestanden hätten, konstatiert er einen Tempovorteil der Literatur, der es ihr ermöglicht habe, neue Entwicklungen zu dramatisieren, bevor sie von der nächsten historischen Welle überspült wurden. Die „wunderbare Welt“ der 60er sei zudem bestimmt gewesen durch klare Feindbilder, und mit Willy Brandt habe man damals eine „Vaterfigur“ verehrt, die sich nun nicht mehr finden lasse. Dem stimmte auch Verleger Klaus Wagenbach zu. Mit der Figur Brandts, für dessen Kanzler- Inthronisierung er dem SPD- Wahlkontor beigetreten sei, habe man Visionen verknüpft („Mehr Demokratie wagen“), die die „alten Gespenster“ von Adenauer bis Erhard vertreiben sollten. Der Autor Hanns-Josef Ortheil widersprach ihm in der Ansicht, daß die literarischen Reaktionen auf 1989 lediglich auf sich warten ließen. Der Mauerfall sei nur ein „welthistorischer Rülpser“ gewesen, an dem die westdeutschen Schriftsteller nicht aktiv teilgenommen hätten. Die Wiedervereinigung werde in der Literatur, trotz Monika Maron und Wolfgang Hilbig, immer weniger Widerhall finden, da die davon unmittelbar betroffenen ostdeutschen Autoren, wie die ehemalige DDR insgesamt, in wenigen Jahren auf westlichen Standard getrimmt sein würden. Das bestimmende Thema der letzten zehn Jahre, die Auseinandersetzung mit der Mediengesellschaft, werde auch der zukünftigen Literatur die Richtung weisen. Nach dieser Auftaktveranstaltung trafen sich samstags mit Carmen Francesa Banciu, Richard Wagner (beide aus Rumänien, heute in Berlin lebend) und Jiri Grusa (Tschechische Republik) drei osteuropäische Autoren, ergänzt durch Horst Domdey, Professor an der FU Berlin mit dem Spezialgebiet DDR-Literatur. „Von der Kritik des totalitären Systems in die Krise des Umbruchs“: Dieser Fragestellung wollte das Podium nicht folgen. Kritik habe es in der rumänischen Literatur, so Banciu, wenn überhaupt, dann nur über den Umweg der „erlaubten“ Kritik am Stalinismus gegeben. Mit Richard Wagner war man sich darin einig, daß das größte Verbrechen der sozialistischen Systeme die „Vernichtung der Terminologie der Aufklärung“ gewesen sei. Wer die „Verantwortlichkeit für das eigene Wort“ (Grusa) eingefordert habe, geriet in Konflikt mit dem System, weil die Partei den Alleinanspruch auf Begriffsdefinition und Sprachverwaltung erhob. Die Schriftsteller, die sich diese Zwangsjacke nicht ohnehin angezogen und zu Parolenlieferanten der Staatsmacht wurden, retteten sich in den historischen Roman, ins Phantastische oder Surrealistische. Von einer Krise der osteuropäischen Literatur nach Auflösung des Eisernen Vorhangs könne laut Grusa keine Rede sein, jetzt trenne sich lediglich die Spreu vom Weizen, das heißt, es zeige sich, wem das Schreiben nur als Kraftquelle für eine Art kreative Opposition gedient habe und wer dauerhaft Schriftsteller sei. Die Lesung Thomas Klings zum Abschluß des Vorabends verwies bereits auf die Reaktionen, die die Forderung der konzepte-Redaktion nach einer neuen politischen Literatur unter der jüngeren Schriftstellergeneration auslösen würde. Kling, der immer noch vornehmlich als „Sprachzertrümmerer“ gefeiert und mit postmodernen Literaturtheorien in Verbindung gebracht wird, ist natürlich auch ein politischer Autor, wenn man darunter die Einbindung aktueller politischer Motive in literarische Texte versteht. Ob Desertion in Kriegszeiten, Krawalle in Fußballstadien, Umweltzerstörung oder Pogrome gegen Minderheiten: All diese Zeitthemen finden sich in Tageszeitungen, Politikerreden wie auch Klings mit „experimentelle Lyrik“ nur unzureichend kategorisierten Gedichten. Dementsprechend erklärten die Podiumsteilnehmer, von Johannes Jansen und Sabine Peters über Ulrich Woelk und Matthias Altenburg bis zu Klaus Modick, das Diskussionsmotto für obsolet: Wie eingangs der Veranstaltung Hanns-Josef Ortheil, erklärte auch Klaus Modick die Einklage von Politikhaltigkeit für eine „literaturfeindliche“ Zumutung, die vom über die Jahre politisierten deutschen Feuilleton (in Anspielung auf Artikel von Ulrich Greiner, Frank Schirrmacher und zuletzt Iris Radisch) an die Schriftsteller herangetragen werde. Altenburg, der aufgrund seiner Spiegel-Polemik (42/92) gegen die jüngere selbstreflexive Literatur à la Thomas Hettche & Co. als Auslöser des jungen deutschen Literaturstreits gilt, bezeichnete die Diskussion als „zyklische Wiederkehr des akademischen Irrsinns“. Indem er feststellte, daß sich Literatur „nicht mit der Elle der Politik“ messen lasse, mißverstand er die Fragestellung ebenso wie Sabine Peters, die beklagte, daß es nun die Schriftsteller sein sollen, die „den Karren aus dem Dreck ziehen“. konzepte- Mitarbeiter Norbert Kron verwies auf die Rap-Musik und südamerikanische Schriftsteller, deren Texte das politische Zeitgeschehen reflektierten und die auch hierzulande viel breiter rezipiert würden als die deutsche Gegenwartsliteratur. Das „Leiden“, das Jansen und Woelk als Hauptimpuls des Schreibens outeten, gehe in Deutschland allzu oft mit dem „Leid des Lesers“ Hand in Hand. Während „politische“ Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Erich Fried sich noch berufen fühlten, aus großen Zeitthemen wie Überwachungsstaat oder Terrorismus fiktive Texte zu basteln, müsse man heute auf den persönlichen Mikrokosmos und eine induktive Schreibmethode zurückgreifen, um einer komplexer und unübersichtlicher gewordenen Welt gerecht zu werden. Auf die eigene Beobachtung, die vermeintlichen Kleinigkeiten, so der Ostdeutsche Jansen, komme es an, um die Konsequenzen und die innere Zerrissenheit der ehemaligen DDR-Bürger nach dem Mauerfall darstellen zu können. Und wie bereits die erste Gesprächsrunde landete auch die letzte beim derzeitigen und künftigen Hauptfeind der Sprachkultur, dem Fernsehen und den neuen Medien: Beavis und Butthead, jene beiden MTV-Comicfiguren mit einer arg beschränkten Sprache, seien das Menetekel für künftige Generationen, dem habe man sich zu stellen, um wenigstens im kleinen etwas zu bewegen.
bernd imgrund
„Literatur am Ende der Politik“ – Ein Symposion der Zeitschrift „konzepte“ in den Räumen der Bonner Friedrich-Ebert-Stiftung  ■ Von Bernd Imgrund
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Mit dem Zug nach Bali (Teil V): Neue Seidenstraße für Billigwaren - taz.de
Mit dem Zug nach Bali (Teil V): Neue Seidenstraße für Billigwaren Nach 5.500 Kilometern endet die Bahnstrecke. Das heißt: Umsteigen auf Marschrutnui und Audi. Einblicke in die vom Klimawandel irritierte Energiewirtschaft Kirgisistans. Schnee und Staub: Kältewüste Tientschan. Bild: nick reimer BALUIKSCHI taz Die "Schelesnaja Doroga" - was in der russischen Sprachhemisphäre gleichbedeutend mit "Eisenstraße", also Zug, ist - endet im kirgisischen Baluikschi. Dafür bahnt sich hier die legendäre Seidenstraße ihren Weg über den Tientschan. Berlin ist 5.500 Zugkilometer entfernt, jetzt heißt es umsteigen auf Marschrutnuis, Transporter, die Aufschriften wie "Frisches Obst aus Quedlinburg" oder "Haus- und Gartenservice" haben. Richtige Busse fahren hier nicht mehr. Der Fahrplan der Marschrutnuis richtet sich nach den Bedürfnissen: Sie starten, wenn die neun bis elf Plätze besetzt sind. Neben ein paar Sammeltaxis sind hier kaum noch Autos unterwegs. Dafür aber jede Menge Eselskarren. Und Lkws. Im September 1998 unterzeichneten 12 zentralasiatische und südeuropäische Staaten ein Abkommen, einen von Russland unabhängigen Verkehrsweg zu schaffen. Die "neue Seidenstraße" soll von Kirgisistan bis Usbekistan, von Turkmenistan bis Georgien, über Moldawien, Rumänien bis Bulgarien reichen. Finanziell unterstützt wird der Ausbau durch die USA und die EU. Es geht darum, den alten euro-asiatischen Korridor entlang der historischen Seidenstraße wiederzubeleben. Fast alle Unterzeichner waren einst vom Sowjetimperium abhängig; als sie in die Unabhängigkeit entlassen wurden, entstand ein politisches und wirtschaftliches Vakuum. Das Projekt "neue Seidenstraße" soll dieses füllen und helfen, sich auf eigene Geschichte zu besinnen und neues Selbstbewusstsein zu schaffen. Statt Gewürzen, Jade oder Seide transportieren die Karawanen der Neuzeit allerdings billige Hemden, Socken oder Röcke Richtung Westen. Auf dem Rückweg laden sie Schrott, Rohstoff für Chinas Wirtschaft. Naryn ist ein schmuckloses Verwaltungszentrum in Kirgisistans südlicher Mitte. Der Ölradiator ist hier präsenter als der Fernseher. Weil sich Kirgisistan Erdgas aus Usbekistan oder Kasachstan nur bedingt leisten kann, wird hauptsächlich mit Strom geheizt. Das geht nicht ohne Nebenwirkungen: Um im Winter genug Strom produzieren zu können, werden die Staubecken der Wasserkraftwerke schon in den Sommermonaten gefüllt. Unten in den Ebenen fehlt den Bauern deshalb das Wasser - ausgerechnet wenn sie es dringend bräuchten. Im Winter rauscht das gestaute Nass dagegen durch die Turbinen und überschwemmt nicht selten die Felder. Zweimal die Woche hält in Naryn ein Bus ins chinesische Kashgar. Sonst hilft nur ein Taxi. Risbek fährt die Route drei- bis viermal die Woche. Er schwört auf seinen Audi 80 CS. Zwar ist der schon Baujahr 1986, "aber was anderes als ein Audi würde die Piste gar nicht schaffen", sagt der 37-Jährige völlig überzeugt. Um den wachsenden Strombedarf zu decken, gibt es Pläne, weitere Staustufen in die "Himmelsberge", wie der Tientschan hier heißt, zu schlagen. Das hat die Chinesen auf den Plan gerufen: Der Tientschan nämlich verteilt das Wasser ungerecht. Das meiste fließt gen Norden ab, jetzt aber sollen auch Flüsse gestaut werden, die die chinesischen Oasenstädte im Süden versorgen. Dabei ist Wasser hüben wie drüben ein Problem: Hier bekommt Zentralasien den Klimawandel direkt zu spüren. Weil es deutlich weniger regnet, ist das Wasser in den fruchtbaren Ebenen vor und hinter den Bergen spürbar knapper geworden. Rispeks größter Traum ist, Autohändler zu werden. "20 Audis aus Deutschland holen und dann hier verkaufen, das wärs", sagt er. Aber er war noch nie in Europa und in Deutschland schon gar nicht. Er weiß nicht mal, ob der Audi 80 CS überhaupt noch gebaut wird. "Was anderes soll es nicht sein. Der Wagen ist ideal für hier." Es ist bitterkalt, und am zweiten Tag der Überfahrt über den Tientschan zeigt sich endlich die chinesische Grenze auf dem 3.752 Meter hohen Torugart-Pass. Kilometerweit stehen die Trucks vor einer von Kalaschnikow-Trägern bewachten doppelten Mauer aus Stacheldrahtverhauen. Grenzkontrolle. Rispek kennt sich hier aus: Ein "Hallo" hier, ein Geldschein da - nach anderthalb Stunden ist alles klar. China ist erreicht.
Nick Reimer
Nach 5.500 Kilometern endet die Bahnstrecke. Das heißt: Umsteigen auf Marschrutnui und Audi. Einblicke in die vom Klimawandel irritierte Energiewirtschaft Kirgisistans.
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Erste Schiedsrichterin einer Männer-WM: Nichts als ein Gnadenakt - taz.de
Erste Schiedsrichterin einer Männer-WM: Nichts als ein Gnadenakt Inszenierte Ausnahme von der Regel: Ginge es der Fifa wirklich um Gleichstellung, gäbe es längst einen quotierten Pool aus hochqualifizierten Unparteiischen. Pfeift das WM-Spiel Deutschland gegen Costa Rica: Schiedsrichterin Stéphanie Frappart Foto: Maurice Van Steen/anp/dpa So stellt sich der internationale Fußballverband das vor: Die Fifa hat eine Idee, und fast die ganze, weite Fußballwelt findet sie okay. Allzu oft kommt das ja nicht gerade vor in diesen Tagen. Aber nun ist es passiert. Als bekannt wurde, dass mit der Französin Stéphanie Frappart das erste Mal in der Geschichte der Männer-WM eine Frau als Schiedsrichterin die Leitung eines Spiels übernehmen wird, da gab es jede Menge positive Schlagzeilen über den ansonsten so sinistren Weltverband. Und ja, es ist wirklich toll, dass die hohen Herren des Fußballs nun zu der Einsicht gekommen sind, dass es bei der Schiedsrichterei keinen Unterschied macht, ob eine Frau oder ein Mann in die Pfeife bläst. Mit Gleichstellung allerdings hat dieser Gnadenakt einer der besten Schiedsrichterinnen der Welt gegenüber nichts, aber auch gar nichts zu tun. Denn die Nominierung von Frappart für das Spiel der Deutschen gegen Costa Rica ist nichts anderes als eine wohl inszenierte Ausnahme von der Regel, nach der Männer die Männerspiele und Frauen die Frauenspiele pfeifen. Wenn es der Fifa wirklich darum ginge, in ihren großen Turnieren immer die besten Unparteiischen aufzubieten, dann hätte vielleicht auch mal einer jener gut verdienenden Spitzenschiedsrichter aus dem professionellen Männerfußball ein Spiel bei einer Frauen-WM gepfiffen. Und wenn es der Fifa wirklich um Gleichstellung ginge, dann gäbe es längst einen sauber quotierten Pool aus hochqualifizierten Unparteiischen beiderlei Geschlechts. Dann würde sich auch niemand mehr fragen, ob die beste Schiedsrichterin auch wirklich so gut ist wie der beste Schiedsrichter, so, wie es der ehemalige Schweizer Profi­schiedsrichter Urs Meier als gern zitierter Experte immer wieder tut. So, wie es jetzt läuft, ist jeder Auftritt einer Frau im Männerfußball eine ex­tre­me Prüfungssituation. Mögen sie alle Schiedsrichterinnen meistern, die für Männerspiele nominiert werden! Und die Spieler? Sind sie bereit, Frauen an der Pfeife zu respektieren? Blöde Frage. Wer nicht hören will, wer sexistische Sprüche auf dem Feld klopft, bekommt eine Karte gezeigt. So einfach ist das im Fußball.
Andreas Rüttenauer
Inszenierte Ausnahme von der Regel: Ginge es der Fifa wirklich um Gleichstellung, gäbe es längst einen quotierten Pool aus hochqualifizierten Unparteiischen.
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Streit im Pflegebeirat eskaliert: Kein Konsens, nirgends - taz.de
Streit im Pflegebeirat eskaliert: Kein Konsens, nirgends Der Streit im Pflegebeirat der Bundesregierung eskaliert: Arbeitgebervertreter Volker Hansen spricht dem Gremium per Mail sein Misstrauen aus. Es sieht nicht gut aus für seine Pflegereform: FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr. Bild: ap BERLIN taz | Der Streit um den Abschlussbericht des Pflegebeirats der Bundesregierung ist am Dienstag eskaliert. Der Vertreter der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Volker Hansen, sprach den Beiratsvorsitzenden Wolfgang Zöller (CSU) und Klaus-Dieter Voß am Nachmittag um 14.41 Uhr per Email sein Misstrauen aus. Damit ist eingetreten, was viele Mitglieder des zerstrittenen Expertengremiums seit Tagen befürchten: Der lang erwartete Bericht zur Reform der Pflegeversicherung wird dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) am Donnerstag nicht im Konsens überreicht werden. Statt dessen fordert Hansen nun sein „Recht ein auf Abdruck einer 'Persönlichen Erklärung' / einer 'Abweichenden Meinung' im Bericht des Beirats“. Der Streit hatte sich zuletzt vor allem auf die Frage fokussiert, ob die Beiratsvorsitzenden in der Zusammenfassung des Berichts konkrete Angaben zum künftigen Finanzvolumen machen dürften, das nötig wäre, um Demenzkranke in der Pflegeversicherung besser zu stellen. Die Beiratsvorsitzenden wollten hierzu die Summe von 2 Milliarden Euro nennen. Doch diese Zahl sei weder mit den Mitgliedern abgesprochen worden, noch entspreche sie der Realität, hatten sowohl die Wohlfahrtsverbände als auch die Arbeitgebervertreter kritisiert. Die Wohlfahrtsverbände halten jährlich 2 Milliarden Euro für zu gering, die Arbeitgebervertreter für zu hoch. Hansen hatte deswegen bereits am Sonntag abend in einer weiteren Email an den Pflegebeirat von „Vertrauensbruch“ gesprochen „Wahrheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit“ Nachdem die Vorsitzenden, wie Hansen der taz sagte, bis Dienstag auf seine Bitten um ein klärendes Gespräch nicht nachgekommen seien, legte er nach: „Es geht mir nicht um die Durchsetzung von Arbeitgeberpositionen, sondern ausschließlich um Wahrheit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit gegenüber dem Bundesgesundheitsminister als Auftraggeber, der interessierten Öffentlichkeit und den Beiratsmitgliedern“, heißt es in der Email, die der taz vorliegt. Die Vorsitzenden müssten seiner Forderung nach der Aufnahme eines Minderheitenvotums nachkommen, schrieb Hansen: „Die Umsetzung meines Anliegens ist Ihre Pflicht. Dazu gehört auch, dass Sie mir - gemessen ab dem Zeitpunkt der Zustellung der überarbeiteten Fassung des Berichts des Beirats - eine angemessene Frist von mindestens eines halbem Arbeitstages für die Abfassung meiner Positionierung einräumen.“ Sein „Vertrauen in die Arbeit der Vorsitzenden“ gehe, so Hansen, „langsam gegen Null“. Die Brandmail endet mit der Drohung: „Ich werde bei der Übergabe des Berichts des Beirats am Donnerstag zugegen und vorbereitet sein.“ Die Beiratsvorsitzenden waren für die taz für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Eine Vertreterin der Geschäftsstelle des Expertenbeirats indes antwortete Volker Hansen mit Email von 14.46 Uhr, der Vorsitzende Voß habe „zur bilateralen Abstimmung zu Ihren Anmerkungen ... versucht Sie telefonisch zu erreichen, bisher allerdings ohne Erfolg“. Hansen wütete zurück: „Weder in meinem Büro, das heute durchgängig doppelt besetzt ist und jederzeit erreichbar war und ist, noch bei mir persönlich ... hat sich Herr Voß bisher gemeldet.“ Minderheitenvotum – oder der Beirat platzt Die Wohlfahrtsverbände wollten sich unterdessen bis Dienstag nachmittag nicht festlegen, ob sie ebenfalls auf ein Minderheitenvotum bestehen oder den Beirat gar ganz verlassen wollen. Es gebe Anzeichen, dass die Beiratsvorsitzenden doch bereit seien, auf die Nennung einer konkreten Summe zu verzichten, hieß es aus Wohlfahrtskreisen. Zuvor hatte unter anderem der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin in einer Email an die Mitglieder und Vorsitzenden des Beirats ihre „Befürchtung“ geäußert, dass mit der Benennung der Zahl 2 Mrd. am Ende die Presse und auch politische Parteien ein gefundenes Fressen fänden.
Heike Haarhoff
Der Streit im Pflegebeirat der Bundesregierung eskaliert: Arbeitgebervertreter Volker Hansen spricht dem Gremium per Mail sein Misstrauen aus.
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Musiktipps der Woche: Mission Schwarmästhetik - taz.de
Musiktipps der Woche: Mission Schwarmästhetik Erstmals Gäste bei der vierten Ausgabe der „Kosmostage“, gespentische Sounds beim Trio Dictaphone und eine Livestream-Expedition mit Mdou Moctar. Christoph Rothmeiers Sonograph dokumentiert klangliche und räumliche Vorgänge Foto: Gianmarco Bresadola Das Thema des Schwarms trieb Daniel Glatzel, Leiter des großartigen Andromeda Mega Express Orchestra schon um, bevor pandemiebedingt das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe auf die Agenda rückte. Um derartige Frage kommt man ja derzeit als Orchester, das nicht Orchester sein darf, kaum herum. Doch bereits 2019 hatte das 18-köpfige Ensemble mit der dreiteiligen Konzertreihe „Neue Orchesterformen“ erprobt, was Schwarmintelligenz ermöglichten kann, im Hinblick auf ein freieres Experimentieren. tazplanDer taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz. Zwar balancierten sie bei ihrem Mix aus Jazz, Neuer Musik, Afro-Funk, Electronica, Progressive Rock und Popzitaten von jeher geschickt zwischen Struktur und Improvisation, doch früher lag den Stücken eine komplexe Notation zugrunde; mittlerweile versucht man sich eher am momentbezogenen Ausbuchstabieren. So gesehen passt, dass bei der ersten digitalen Ausgabe der zum vierten Mal stattfindenden Kosmostage das Thema Schwarmästhetik im Fokus steht. Erstmals steht das Festival, zu dem sich das AMEO auch Gäste lädt, nicht unter der Regie von Glatzel. Statt dessen übernehmen vier AMEO-Musiker die künstlerische Leitung: Johannes Schleiermacher, Oliver Roth, Grégoire Simon und Oliver Potratz. Das Ganze steht unter dem Motto „Interstellar Waggle Crush“ und entstand knapp zwei Wochen vor der jetzt anstehenden Veröffentlichung. Am Eröffnungstag präsentierten das AMEO dafür im Radialsystem ihr aktuelles Konzertprogramm und zudem Kompositionen von Daniel Glatzel. An den folgenden Tagen teilte es sich dann in drei Schwarmzellen auf, die wiederum auf interaktive Klanginstallationen trafen: zum Beispiel auf einen vom Schweizer Komponisten Thomas Peter programmierten Algorithmus, der einen Modular-Synthesizer steuert. Zum Abschluss fanden die drei Zellen wieder zusammen, um eine Komposition von Grégoire Simon vorzustellen, der eine Beschäftigung mit dem Thema „Trance“ zugrunde liegt. Präsentiert wird das Ergebnis in Form von acht halbstündigen Konzertfilmen, die zwischen Dienstag (27. 4.) und Donnerstag (29. 4.) online gehen (www.andromedameo.com). Gerät mit Eigenleben Kommunikation mit einer Gerätschaft, die ein Eigenleben führt, gibt es auch auf dem neuen Album „Goats & Distortions 5“ (DENOVALI) des Berliner Trios Dictaphone, das am Freitag (30.4.) erscheint. Mastermind und Komponist Oliver Doerell fand zuhause einen alten Kassettenrecorder, der gespenstische Sounds von sich gab, bevor er dann ganz den Geist aufgab. Vorher hatte Doerell die Klänge noch gesampelt; zusammen mit dem Klarinettisten und Saxofonisten Roger Döring und Alex Stolze an der Geige entstanden auf dieser Grundlage entrückte, verspukt-verspulte Tracks. Die entwickeln eine ganz eigene Atmosphäre und nicht zuletzt dank Dörings Klarinette zudem einen warmen Sog. Sein Instrumnet verlor der Musiker nach den Aufnahme übrigens in der U-Bahn; irgendwie sträubten sich die mitwirkenden Instrumente offenbar gegen dieses Album. Zu­hö­re­r*innen wird es sicher anders ergehen. Live zu erleben ist das Ganze dann, knock on wood, am 30. 7. bei Detect Classic Festival in Neubrandenburg. Und hoffentlich auch bald mal in Berlin, an einem lauen Sommerabend… Expedition mit Feinschliff Zum Abschuss noch eine Livestream-Expedition in eine Region, das sonst eher selten auf der Pop-Landkarte steht: zum Gitarristen und Songwriter Mdou Moctar in den Niger. Für sein nächsten Monat erscheinendes Album „Afrique Victime“ beschäftigte Moctar sich mit der Gitarrentechnik von Eddie van Halen und brachte die mit den Melodien der Tuareg zusammen. Größtenteils entstanden die Tracks in Hotelzimmern, Studios und Backstage im Rahmen einer Tour, waren Moctar und Band doch 2019 als Support von Tame Impala in der Welt unterwegs. Den Feinschliff gab sie den Songs dann aber nach ihrer Rückkehr in den Niger. Als die Band ihre Songs in Niamey, der Hauptstadt des Niger, vor der Kamera einspielten wollte, wuchs sich das zu einem dreitätigen Nachbarschaftsfest aus, dem man ab Freitag (23. 4.) ab 2 Uhr morgens bewohnen kann (Stream für 24 Stunden 10 Dollar, www.mdoumoctar.bandcamp.com)
Stephanie Grimm
Erstmals Gäste bei der vierten Ausgabe der „Kosmostage“, gespentische Sounds beim Trio Dictaphone und eine Livestream-Expedition mit Mdou Moctar.
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Nachruf auf den Sänger Tony Bennett: Croonernd, aber nie schmalzig - taz.de
Nachruf auf den Sänger Tony Bennett: Croonernd, aber nie schmalzig Tony Bennett ist gestorben. Mit ihm seine nie versiegende Lust an einer Sorte Jazz, die noch nicht zur kunstreligiösen Distinktionsmusik geworden war. Tony Bennett im Jahr 2019 in New York Foto: Evan Agostini/Invision/dpa Es muss ein Samstag in den frühen Siebzigern gewesen sein, auf NDR2, lief spät abends Helga Boddins „Saturday Night Club“, eine erkärtermaßen nicht jungen Menschen gewidmete Sendung, mit Tracks von Sammy Davis Jr., Frank Sinatra, Doris Day, Yma Sumac, Della Reese und Dean Martin, viel Las Vegas, Glam aus älteren Crooner-Münder, Easy Listening scheinbar nur, so oder so die Antithese des progressiven Radiosenders auf alle Hippiekultur. Und mittendrin, immer wieder, die Moderatorin schien ihn sehr zu mögen, Tony Bennett. „I Left My Heart in San Francisco“, ein wehmütiges Couplet, in dem die Stadt an der „Bucht“ zum schönsten Sehnsuchtsort wird, viel größer, als es das allenfalls liebenswürdige Paris oder das eventuell viel zu alte Rom je sein könnten. Bennett hätte sich, als er diesen Song einspielte, 1962, gewiss nicht für zehn Liter Scotch so gut wie auf ex vorstellen können, dass er eines Tages, im Alter, einmal mit den größten Größen des Pop zusammenarbeiten würde, weil die vergleichsweise viel jüngeren Kräfte des Pop- und Jazzgewerbes es unbedingt wollten. Also: Amy Winehouse, k.d. lang, Céline Dion oder Lady Gaga. Letztere verehrte ihn, den Mann, der immer eine Spur weniger legendär schien als sein Freund und Vorbild Frank Sinatra, innig. Singender Kellner in New York Bennett, 1926 im New Yorker Stadtteil Queens geboren, im italienischsten Quartier der Metropole, Sohn eines Lebensmittelhändlerpaares, als Heranwachsender singender Kellner in Restaurants seiner Stadt, als GI Soldat der nazibefreienden US-Armee, an der Ardennenschlacht teilnehmend, war nach der Militärzeit klar, dass er sein Leben als Künstler verbringen wollte. Malerei, die Musik: Bennett, immer, bis in die letzte Zeit auf Bühnen im Smoking, mit der großen Garderobe wahrer Eleganz, verfügte über eine Stimme, die im dunklen Timbre selbst vor größten Auditorien intim wirken konnte, tonsicher, croonernd eben, nie schmalzig oder gar übersentimental. Seine Karriere hielt er weitgehend stabil, aber die Höhepunkte sollten erst spät kommen. Dass er als schon – gemessen an üblichen Erwerbsbiographien – im Alter quasi über nerdige Radioshows der Swingästhetik in Liebe ergebener Radiomoderatorinnen hinaus weltberühmt wurde, lag nicht am künstlerischen Transfer mit jungen Kolleginnen wie eben Ms Winehouse oder Ms Gaga, sondern an der nie versiegenden Lust Bennetts an der raffinierten Performance einer Sorte Jazz, die noch nicht zur kunstreligiösen Distinktionsmusik geworden war, also Swing, körperlich, die Stimme ein Organ der Verführung und eben nicht der Instrumentierung allein. Das konnte Bennett wie allenfalls noch Sinatra. Er war ein Großer, Sänger, Lebensabstürzer (umgekommen fast bei einem Drogenrausch auf Kokain) und Wiederaufersteher. Kurz vor seinem 97. Geburtstag, alzheimergeplagt nicht mehr ganz in der Welt, ist er in New York City am vorigen Freitag gestorben.
Jan Feddersen
Tony Bennett ist gestorben. Mit ihm seine nie versiegende Lust an einer Sorte Jazz, die noch nicht zur kunstreligiösen Distinktionsmusik geworden war.
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Wasteland - taz.de
Wasteland Krrrch, Krrrch, Krrrch ist seine Passion, professionell kennen wir ihn als ehemaligen Szene-Musikredakteur und taz hamburg- sowie Spex-Autor: Michele Avantario. Zusammen mit Rudi Burr am Bass und Gunnar Büttner spielt er als Drummer in der Hamburger Semi-Prominenten-Band Helgoland. Und die machen: Krrrch. Oder in den Worten ihres Infos: Speed Trash Pop im Zeichen der großen Devo. (heute, zusammen mit ElektroSun und Uri Geller Fry, MS Stubnitz, 21 Uhr) mmm Den Preis für den schönsten Galeriennamen verdient ganz sicher die Galerie Hinterconti, weil sie genau da liegt. Heute eröffnet dort die Ausstellung The Wonderful World of Relationships and Products, die so heißt, weil es genau darum geht. (Galerie Hinterconti, 21 Uhr) tob
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BVG-Abschluss und Tarife: Noch regiert der Index - taz.de
BVG-Abschluss und Tarife: Noch regiert der Index Steigen die VBB-Ticketpreise, weil die BVGlerInnen jetzt bessere Gehälter beziehen? Nein, so einfach sind die Zusammenhänge nicht. Vollere Bahnen bedeuten vollere BVG-Kassen – Landeszuschüsse braucht es trotzdem Foto: dpa Die am vergangenen Freitag vereinbarten Verbesserungen der Löhne und Gehälter von BVG-Angestellten und die dadurch deutlich steigenden Personalkosten könnten sich auch in höheren Ticketpreisen zum Jahreswechsel 2019/2020 niederschlagen. Sicher ist das allerdings nicht: Dagegen sprechen die aktuelle Preisindex-Regelung des Verkehrsverbunds VBB, aber auch der erklärte Wille von Rot-Rot-Grün, Preissenkungen zu prüfen. Zweifelsohne steht dem Land ein höherer Zuschuss an die BVG bevor. Nach mehreren Warnstreiks und Verhandlungsrunden hatten sich die Gewerkschaft Verdi und der Kommunale Arbeitgeberverband auf ein Paket geeinigt, das Lohnzuwächse zwischen 8 und 21,4 Prozent beinhaltet. Nach Angaben der BVG bedeutet das für die Verkehrsbetriebe einen Anstieg der jährlichen Personalkosten um 102 Millionen Euro. Dazu sagte BVG-Sprecherin Petra Nelken der taz, ein guter und wachsender Nahverkehr in Berlin brauche „zufriedene und marktgerecht bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, das Ergebnis bedeute aber auch eine „große Herausforderung“ für die BVG und das Land als Eigentümer. Das Unternehmen habe zwar gerade eine positive Bilanz vorgelegt, und die Überschüsse sollten auch in die Finanzierung einfließen. Das werde aber nicht ausreichen. Darum, so Nelken, würden jetzt Gespräche mit dem Senat über dessen Zahlungen für den laufenden Betrieb, die sogenannte Grundvergütung, „aktiv fortgesetzt“. Dass, wie schon in manchen Medien gemunkelt wird, die Mehrkosten auf die Fahrgäste abgewälzt werden könnten, ist eigentlich nicht vorgesehen: Seit mehreren Jahren gilt beim VBB, der den Einheitstarif für die Region Berlin-Brandenburg festlegt, eine Indexlösung: Die Ticketpreise sind demnach an die allgemeine Inflation, aber auch spezifisch an den Anstieg von Strom- und Treibstoffpreisen gekoppelt. Erstmal kommt eine – Arbeitsgruppe Dass die Preise weder 2018 noch 2019 stiegen, lag am minimalen Indexanstieg, der den Aufwand einer Tarifanpassung nicht gerechtfertigt hätte – was eher zufällig auch einem Moratorium entsprach, das R2G in Berlin ohne vorherige Absprache mit den Brandenburger Partnern verkündet hatte: Bevor Busse und Bahnen teurer werden, soll erst einmal eine Arbeitsgruppe über eine Strukturreform nachdenken, die eigentlich auch sogar zu billigeren Fahrkarten führen soll – so steht es im Koalitionsvertrag. In dieser „AG Tarife“ sind die verkehrspolitischen SprecherInnen der Koalition und die Senatskanzlei, der VBB, der Fahrgastverband IGEB und das brandenburgische Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung vertreten. Bis Ende des Jahres trifft sie sich noch vier Mal. Wenn im Herbst der VBB-Aufsichtsrat tagt, der über Tarifanpassungen befindet, hätte die AG die Möglichkeit, ihre Vorschläge einzubringen. Dabei könnte es aber auch zur Abkehr vom Index kommen, wenn Berlin vermeiden will, seinen Haushalt durch höhere Zuschüsse noch weiter zu strapazieren. VBB-Sprecherin Elke Krokowski sagte der taz, es sei in jedem Fall absehbar, dass es „nicht auf ewig Nullrunden“ geben werde: „Auch die Fahrgäste werden sich wieder beteiligen müssen.“ Ähnlich äußerte sich IGEB-Sprecher Jens Wieseke: „Auch wenn wir uns als Fahrgastvertreter über stabile Tarife freuen würden, muss wohl mit einer Erhöhung zu 2020 gerechnet werden.“
Claudius Prößer
Steigen die VBB-Ticketpreise, weil die BVGlerInnen jetzt bessere Gehälter beziehen? Nein, so einfach sind die Zusammenhänge nicht.
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Artgerechte Haltung: Zu viel Interesse an „Tierwohl“ - taz.de
Artgerechte Haltung: Zu viel Interesse an „Tierwohl“ Supermärkte zahlen etwas mehr Geld für ein bisschen artgerechte Haltung. Doch nun wird das Aldi und Co doch zu teuer. Sie haben es in die „Initiative Tierwohl“ geschafft: Ferkel im Gut Schweinezucht in Alt Gaarz. Foto: dpa BERLIN taz | Bauernverbandspräsident Joachim Rukwied findet, das Budget der „Initiative Tierwohl“ müsse verdreifacht werden. Die bekommt nun kalte Füße. Man prüfe eine „Erhöhung des Beitrags nach Ende der Vertragslaufzeit zum 31. Dezember 2017“, sagt Sprecher Patrick Klein. Im Rahmen der Initiative zahlen die großen Einzelhandelsunternehmen wie Aldi und Edeka seit dem 1. Januar vergangenen Jahres in einen Fonds ein – 4 Cent pro verkauftem Kilo Fleisch. Tierhalter können sich anmelden und bekommen aus diesem Fonds Bonuszahlungen, wenn sie ihren Tieren beispielsweise mehr Platz im Stall zur Verfügung stellen. 4.700 Schweinebesitzer bewarben sich, aber nur rund 2.100 der Betriebe wurden für die Überprüfungen zugelassen – die anderen kamen auf eine Warteliste. Rukwied fordert nun, dass die Händler 12 Cent für jedes Kilo Fleisch, das sie verkaufen, in den Fonds einbringen sollen. Damit könnten deutlich mehr Bauern beteiligt werden. Tierwohl ist eines der zentralen Themen bei der weltgrößten Agrarmesse Grüne Woche, die noch bis zum 25. Januar in Berlin läuft. Was gilt als Erfolg? Der Streit schwelt schon länger. Im Dezember hatte der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband eine Erhöhung des Beitrags von 4 auf 6 Cent pro Kilo gefordert. Landwirte demonstrierten unter anderem vor dem Verwaltungsgebäude von Edeka in Minden-Hannover. „Wir sind bereit, über eine Mehrzahlung des Handels zu diskutieren, wenn die vertraglich vereinbarte Erfolgsmessung der Maßnahmen vorliegt. Bislang bremsen Landwirtschaft und Schlachtunternehmen eine neutrale Überprüfung des Tierwohls aus“, erklärte danach Frank Thiedig für Edeka Minden-Hannover. Frank Thiedig, Edeka„Landwirtschaft und Schlachtunternehmen bremsen“ Der agrarpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Friedrich Ostendorff, kritisierte das: Es sei „eine Farce“, dass Edeka zunächst messbare Erfolge sehen wolle. Schließlich sei dieser doch schon durch die hohe Anmeldequote offensichtlich. Er spart auch nicht mit Kritik an Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU): Dass dieser sich aus der Preisbildung heraushalte, sei „ein Schlag ins Gesicht“ für alle Bauern, die leer ausgegangen seien. Verbraucherschützer plädieren für eine andere Lösung: ein verbindliches nationales Tierschutzlabel. Doch eine gesetzliche Kennzeichnung will Schmidt nicht. Aus seinem Ministerium heißt es aber, man prüfe, wie der Wunsch der Verbraucher nach einer Kennzeichnung erfüllt werden könne. Genau das ist bei der „Initiative Tierwohl“ nicht der Fall: Ob das Fleisch im Supermarkt von teilnehmenden Bauern kommt, können Verbraucher nicht erkennen.
Eva Oer
Supermärkte zahlen etwas mehr Geld für ein bisschen artgerechte Haltung. Doch nun wird das Aldi und Co doch zu teuer.
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Lob der Löschtaste: Personalpolitik per Schwabenquote - taz.de
Lob der Löschtaste: Personalpolitik per Schwabenquote Anton Hofreiter wurde deleted, Cem Özdemir an seine Stelle gepastet. Eine Betrachtung über Regierungsbildungen in digitalen Zeiten Entfernen oder löschen, delete oder doch escape Foto: imago Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich rückwärtsgewandt. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Ich komme nur sehr ungern ihrer Forderung nach, Fotos von gewissen männlichen Personen, die bei ihr in Ungnade gefallen sind, sofort auf meinem Handy und den Social-Media-Kanälen zu löschen. Sie dagegen hat den Finger in einer Geschwindigkeit auf der Delete-Taste, die umgekehrt proportional zu ihrem sonstigen Bewegungsdrang steht. In drei Minuten ist die Vergangenheitsbewältigung erledigt, die unsereins wochen-, wenn nicht monatelang beschäftigt. „Kann ich mal kurz dein Handy?“, lautet der Satz, auf den ich immer wieder aufs Neue hereinfalle. Rätselhafterweise ist eine Face-ID der Minderjährigen auf meinem Handy gespeichert, sodass die Dinge schon ihren Lauf nehmen, bevor ich überhaupt eine Frage stellen kann. Ich bin allerdings nicht die Einzige, die sich unerwartet mit der Delete-Taste konfrontiert sieht. Diese Woche musste auch der Grüne Anton Hofreiter erleben, wie er erst auf der Kabinettsliste der sich gerade formierenden Ampelkoalition markiert und dann von ihr gelöscht wurde. Der bisherige Fraktionschef der Grünen im Bundestag galt als gesetzt für die neue Regierung. Flügelproporz. Doch was für eine Gesellschaft soll das bitte abbilden, wenn der ehemalige Parteichef Cem Özdemir nicht am Kabinettstisch Platz nimmt? Nie war die Schwabenquote so wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft! Özdemir qualifiziert sich als neuer Landwirtschaftsminister nicht nur durch seinen passionierten Hanfanbau auf dem eigenen Balkon („Es ist eine Zierpflanze!“). Wer aus „The Länd“ (Baden-Württemberg) kommt, ist natürlich ohnehin wie gemacht für dieses Ministerium, das konsequenterweise in TheLändwirtschaftsministerium umbenannt werden sollte. Keine Kehrwoche in Neukölln Als Özdemir Bundestagsabgeordneter wurde und frisch aus The Länd in die Hauptstadt zog, wurde er kurzzeitig in Neukölln mal mein Nachbar. Ständig stolperte man über seine Bodyguards. Er bezog eine Dachwohnung im fünften Stock ohne Aufzug, die aber den Vorzug hatte, dass man von der Badewanne aus in den Himmel gucken konnte. Die Kaugummis und die Hundescheiße auf den Bürgersteigen des damals noch als total uncool geltenden Stadtteils regten ihn indes so auf, dass er kurz davorstand, eine Bürgerinitiative zur Einführung der Kehrwoche zu gründen. Er zog dann aber lieber weg in ein Viertel mit höherem schwäbischen Migrationsanteil. Aber mit seinem Aufstieg tut sich ein neuer, bedrohlicher Konflikt auf bei den Grünen. Die Falafel-Fraktion mit der vegetarisch-veganen Allianz zwischen Özdemir und Robert Habeck an der Spitze steht dem unerbittlichen Carnivoren-Block von Annalena Baerbock gegenüber. Alles wird sich künftig um die Frage drehen: Dürfen am Kabinettstisch Mettbrötchen gegessen werden oder können die weg? Die Delete-Taste ist aber nicht so vorwärtsgewandt, wie man meinen könnte. Schließlich ist Gelöschtes noch vorhanden und kann entlöscht werden. Dafür gibt es viele Beispiele. Olaf Scholz etwa. Seine SPD hatte ihn schon markiert, um ihn von der Liste der relevanten Sozialdemokraten zu entfernen, als er flink einfach mal Kanzler wurde. Schon auf der Pressekonferenz der Ampel wurde klar: Seine Statements sind so scholzig, dass man sie schon jetzt mit Copy-and-paste in jeden Artikel der nächsten vier Jahre hineinkopieren könnte. Merkt keiner. Auch Löschvorgänge, die schon länger zurückliegen, können übrigens noch rückgängig gemacht werden. Die politische Agenda von Friedrich Merz hat sich als geradezu unlöschbar erwiesen. Ganz egal, wie oft die CDU die Delete-Taste drückt, sie taucht immer wieder auf wie eine Fata Morgana in der Wüste. „Undelete“ beherrscht natürlich auch die Minderjährige. Sie hat es sich in Bezug auf eine gewisse männliche Person anders überlegt. Erst einmal jedenfalls. Die Fotos dürfen weiterleben. Der Name darf wieder ausgesprochen werden. Oder? Ich weiß auch nicht und habe mir jedenfalls einen geheimen Ordner angelegt, in dem Kopien liegen. Sicher ist sicher.
Silke Mertins
Anton Hofreiter wurde deleted, Cem Özdemir an seine Stelle gepastet. Eine Betrachtung über Regierungsbildungen in digitalen Zeiten
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Klima-Volksbegehren in Berlin: 180.000 für mehr Klimaschutz - taz.de
Klima-Volksbegehren in Berlin: 180.000 für mehr Klimaschutz Die Initiative Klimaneustart hat 180.500 gültige Unterschriften für einen Volksentscheid gesammelt. Der muss bis Ende März stattfinden. Nur wann? Eine Wahl, ein Entscheid, ein Termin: Protest vor dem Roten Rathaus am Dienstag Foto: dpa BERLIN taz | Die Initiative Klimaneustart Berlin hat die letzte Hürde für einen Volksentscheid genommen. Das Quorum der dafür benötigten rund 171.000 Unterschriften sei erreicht worden, teilte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Dienstag auf der Pressekonferenz nach der wöchentlichen Senatssitzung mit. Ziel der Initiative ist, Berlin bis 2030 – und damit sehr viel früher als bisher vom Senat geplant – klimaneutral zu machen. Mitte November hatte die Initiative nach einem furiosen Finish nach eigenen Angaben rund 262.000 Unterschriften eingereicht. Laut Angaben des Abstimmungsleiters Stephan Bröchler waren von den geprüften 261.841 Unterschriften genau 180.547 gültig. So sind zwar genug Un­ter­stüt­ze­r*in­nen gefunden worden; der Anteil der ungültigen Stimmen war mit etwa 31 Prozent aber noch mal deutlich höher als bei früheren Volksbegehren. Unterschreiben dürfen nur Menschen, die in Berlin für das Abgeordnetenhaus wahlberechtigt sind. Das schließt Personen unter 18 Jahren und vor allem jene ohne deutschen Pass aus. Sollte das Abgeordnetenhaus den von der Initiative vorgelegten Gesetzentwurf nicht doch noch annehmen – was unwahrscheinlich ist, weil bisher keine Partei im Abgeordnetenhaus das Anliegen unterstützt – muss es innerhalb von vier Monaten zu einem Volksentscheid kommen, über den alle Berliner Wahlberechtigten abstimmen können. Den Termin legt der rot-grün-rote Senat fest. Doch die drei Parteien sind sich in der Zeitfrage uneins. Eigentlich sieht die Verfassung vor, Entscheide und Wahlen an einem Tag stattfinden zu lassen, sofern dies den Fristen für den Volksentscheid gemäß möglich ist. Nachdem das Berliner Verfassungsgericht Mitte November die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksparlamenten von 2021 für ungültig erklärt hatte, gäbe es nun einen solchen Termin: Am 12. Februar 2023 werden diese Wahlen wiederholt. Mitte Oktober auf die Option einer gemeinsamen Abstimmung angesprochen, hatte Landeswahl- und -abstimmungsleiter Stephan Bröchler erklärt: „Darauf müssen wir uns einstellen.“ Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlaubenOb bei @klimaneustart, @dwenteignen oder unserem Volksentscheid, der Senat verhindert seit Jahren aktiv direkte Demokratie; die direkte Gesetzgebung von unten.250.000 Berliner*innen fordern: #LasstBerlinEineWahl pic.twitter.com/igLCU1H97F— Volksentscheid Berlin autofrei (@VBerlinautofrei) November 29, 2022 Davon ist inzwischen keine Rede mehr. Stattdessen hält Bröchler eine parallele Abstimmung für nicht mehr durchführbar – aus Organisationsgründen. Während die Grünen sich für einen gemeinsamen Termin ausgesprochen haben, ist die Linke tendenziell eher unentschieden, und SPD-Innensenatorin Iris Spranger hatte bereits Mitte November verlauten lassen, das sei „unwahrscheinlich“. Am Dienstag hat sich der Senat erneut mit dem Zeitplan befasst, eine Entscheidung soll aber erst nächste Woche fallen, so Spranger. Derweil erhöht die Initiative Klimaneustart Berlin den Druck auf den Senat. Erneut wurde vor dem Roten Rathaus unmittelbar vor Beginn der Senatssitzung für einen gemeinsamen Termin demonstriert. Sollte dieser nicht kommen, droht Sprecherin Jessamine Davis mit einem Gang vor Gericht: “Wir prüfen derzeit, ob wir rechtliche Schritte einleiten“, sagte sie laut einer Mitteilung. Hintergrund ist unter anderem die Quorums-Regelung: Damit ein Volksentscheid gültig ist, muss eine Mehrheit der Abstimmenden dafür votieren; diese Mehrheit muss aber mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten umfassen. Die Erfahrung aus früheren Solo-Volksentscheidungen jenseits von Wahlen zeigt: Diese Hürde ist sehr hoch.
Bert Schulz
Die Initiative Klimaneustart hat 180.500 gültige Unterschriften für einen Volksentscheid gesammelt. Der muss bis Ende März stattfinden. Nur wann?
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West-Verstärkung für Ost-PEN - taz.de
West-Verstärkung für Ost-PEN ■ Prominente West-Schriftsteller und Essayisten beantragen Mitgliedschaft im Ost-Verband Heidelberg (taz) – Namhafte Schriftsteller und Essayisten aus dem Westen der Republik haben eine Mitgliedschaft im ostdeutschen PEN-Club in Berlin beantragt. Nachdem Mitte Mai während der Jahrestagung des West-PEN eine Vereinigung der beiden Zentren von der Mehrheit der West-Autoren vorläufig auf Eis gelegt worden war, versuchen die prominenten Mitglieder des westdeutschen Clubs der Dichter, Novellisten und Essayisten nun, durch die beantragte Doppelmitgliedschaft Bewegung in die verfahrene Situation zu bringen. Auf die Idee gebracht hatte die Prominenten die widerstrebende Mehrheitsfraktion. Auf der Jahrestagung hatten die Vereinigungsgegner argumentiert, es sei Mitgliedern des Ost-PEN doch völlig freigestellt, eine Aufnahme im West-Club zu beantragen. Dann könnte der West-Club von Fall zu Fall entscheiden, ob der Antragsteller durch Stasi-Tätigkeit vorbelastet sei oder sonst gegen die PEN-Charta verstoßen habe. Daß die Karten nun neu gemischt werden, könnte wiederum im Ost-PEN für Verwirrung sorgen. Dessen Präsidium wollte gestern nach Redaktionsschluß entscheiden, wie man nun mit den West-Wünschen auf Doppelmitgliedschaft umgeht. Nachdem sich der West-PEN mehrheitlich gegen jegliche Annäherung der Clubs ausgesprochen hatte, müssen die Ostdeutschen nun zeigen, ob sie glücklich über den unverhofften West-Zuwachs sind. Sollte das Präsidium für eine Aufnahme der Antragsteller entscheiden, werden die neuen West-Mitglieder zwar kein Stimmrecht haben, es könnte allerdings das stattfinden, was schon seit längerem aussteht: Gespräche. Jürgen Berger
Jürgen Berger
■ Prominente West-Schriftsteller und Essayisten beantragen Mitgliedschaft im Ost-Verband
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Schule offen, Schule zu? - taz.de
Schule offen, Schule zu? Schulschließungen, Wechselunterricht oder doch nur Luftfilter – in Deutschland spitzt sich die Debatte um den Schulbetrieb in der Coronakrise zu. Wie sieht es bei den europäischen Nachbar:innen aus? Ein Blick nach Tschechien, Frankreich, Österreich und Spanien Sie darf zum Präsenzunterricht kommen: Grundschülerin in Barcelona am ersten Schultag nach dem Lockdown Foto: Emilio Morenatti/ap/picture alliance Tschechien: Wer nicht klickt, der fehlt Aus Prag Alexandra Mostyn Bevor die Achtklässlerin Katarina dieser Tage morgens aus ihrem Bett im siebten Prager Bezirk steigt, hat sie schon die erste Schulstunde hinter sich. Seit einem Monat ersetzt der virtuelle Meeting-Room die traditionellen Klassenzimmer Tschechiens. Jedes Fach hat dabei seinen eigenen Link, es gilt: Wer nicht klickt, der fehlt. Darf Katarina morgens sonst die Tram nicht verpassen, die sie zu ihrer Schule am Prager Wenzelsplatz bringt, 14 Minuten von zu Hause entfernt, reichen ihr in Notstandszeiten ein Handy und eine Internetverbindung, damit sie ihre gesetzliche Schulpflicht erfüllt. „Bis Weihnachten könnte das von mir aus noch mindestens dauern“, lacht die Achtklässlerin. Nicht nur für tschechische Schülerinnen und Schüler ist der Unterricht bequemer, seit die Regierung im Rahmen ihrer Anti-Corona-Maßnahmen sämtliche Bildungseinrichtungen der Republik geschlossen hat. Von der Grundschule bis zur Universität ist nun sämtliche Kommunikation auf Google, Skype oder Team-View beschränkt. Viele der Schulen kommen gerade so mit den Kernfächern nach: Mathe, Tschechisch, Fremdsprache. Im Durchschnitt unterrichten viele Schulen so nur noch vier anstatt sechs Stunden pro Tag. „Dafür haben wir aber mehr Aufgaben“, betont Katarina und erzählt von ihrer Power-Point-Präsentation für das Fach Gemeinschaftskunde. Unterricht light für Schülerinnen und Schüler – aber nicht unbedingt für die Eltern. „Bei drei Kindern bin ich um zwölf Uhr mittags schon völlig fertig“, stöhnt Petr Novotný, der in seinem Job als Architekt dem Rat der Regierung folgt und, soweit es geht, im Homeoffice arbeitet. Über die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, so fand eine Studie des Gesundheitsministeriums heraus, bleiben in diesen apokalyptisch anmutenden Zeiten am heimischen Schreibtisch. Denn im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind nicht nur die Schulen geschlossen und die Firmen im Homeoffice. Auch Gaststätten und Geschäfte sowie kulturelle Einrichtungen wurden durch Covid-19 in einen Dornröschenschlaf versetzt. Wie lange der noch anhalten wird, weiß niemand so recht. Schon am Donnerstag müssen Schülerinnen und Schüler der ersten beiden Klassen zwar wieder zum Präsenzunterricht erscheinen. Weitere Lockerungen hat die Regierung bislang jedoch noch nicht angekündigt: „Die Rückkehr in die Schulen wird schrittweise erfolgen“, erklärt Schulminister Robert Plaga seit Ende letzter Woche. Frankreich: Schlechte Noten für die Regierung Aus Paris Rudolf Balmer Innerhalb einer Woche, vom 5. bis 11. November, hat sich die Zahl der positiv auf Covid-19 getesteten Schüler:innen in den Grund- und Mittelschulen laut dem französischen Erziehungsministerium auf 12.487 vervierfacht. Insgesamt verzeichnet Frankreich täglich zwischen 30.000 und 50.000 bestätigten Neuinfektionen. Trotz dieser bedenklichen Entwicklung möchte Premierminister Jean Castex, der die zweite Lockdown-Periode bis zum 1. Dezember verlängert hat, die öffentlichen Schulen weiter offen halten. Nur die Hochschulen sind weitestgehend geschlossen. Zahlreiche Eltern von Schulkindern sowie die Gewerkschaften der Lehrer:innen äußern jedoch ihre Besorgnis. Auf Twitter veröffentlichte ein Kollektiv von Beamt:innen des Erziehungssystems Fotos, die zeigen, wie wenig die Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt werden. Diese internen Kriti­ker:in­nen nennen sich „Stylos rouges“ – „Rotstifte“. Sie haben sich zum Sprachrohr der Proteste im öffentlichen Schulsystem Frankreichs gemacht und kreiden an: Denn Warteschlangen von Schüler:innen, hoffnungslos überfüllte Schulrestaurants, Mangel an Masken und Platz für den nötigen Abstand sind die Regel. Am Dienstag vergangener Woche haben deshalb mehrere Gewerkschaften einen Streik organisiert. Marc D., Geschichtslehrer in einem Collège (untere Mittelschulstufe) in Versailles, erklärt dazu: „Bezüglich der Covid-Vorschriften sagt man uns ständig‚ diese sollten ‚wenn möglich‘ eingehalten werden. Konkret aber ist dies so gut wie nie und nirgends möglich.“ In den Gängen und beim Betreten der Klassen seien die Schüler dicht beieinander. Dass die Schulen offen bleiben, entspricht der Regierungsstrategie, dieses Mal die Wirtschaft, soweit es geht, in Gang zu halten. Die Schulleitungen sind gehalten, die Einhaltung der Abstandsregeln zu organisieren und wenn möglich den Unterricht in halbierten Klassen durchzuführen. Zudem müssen Schüler:innen ab 11 Jahren und das gesamte Personal Masken tragen. Seit Neustem sollten auch die Kleineren ab 6 eine Maske tragen. Alexandra Zins-Lavigne, Mutter von zwei Schulkindern in Paris, meinte gegenüber der taz: „Das ist nicht nur ein zusätzlicher Kostenfaktor, sondern auch für meinen 7-jährigen Sacha nach kurzer Zeit schlicht unerträglich. Wenn wirklich eine große Infek­tionsgefahr besteht, müssten sie konsequenterweise die Schulen schließen.“ Der Regierung würde sie in Sachen Covid-Politik eine „schlechte Betragensnote“ geben. Österreich: Glaubensstreit um Schulschließungen Aus Wien Ralf Leonhard Der Kampf ist entschieden: Am Dienstag ging Österreich in einen zweiten harten Lockdown, der auch den Kindern im Pflichtschulalter Distanzunterricht verordnet. Bis 6. Dezember öffnen die Schulen nur für jene Schülerinnen und Schüler, deren Eltern die Betreuung nicht wahrnehmen können. Bildungsminister Heinz Faßmann (parteilos auf einem ÖVP-Ticket) versprach, dass die Kinder dort nicht nur verwahrt, sondern auch in Kleingruppen unterrichtet würden. Dafür sollen etwa Lehramtsstudierende kurz vor dem Abschluss angeworben werden. In den Direktionen scheint diese Botschaft nicht flächendeckend angekommen zu sein. Die pensionierte Schuldirektorin Heidi Schrodt teilte auf Twitter das an die Eltern gerichtete Schreiben einer Schule, in dem es wörtlich heißt: „Für Kinder, deren Eltern außer Haus arbeiten und die unbeaufsichtigt wären, besteht die Möglichkeit, dass sie von 8.00 bis 11.45 vormittags in der Schule von einer Lehrerin/einem Lehrer in einer jahrgangsübergreifenden Gruppe betreut werden. (Kein Unterricht, nur Betreuung)“. Die von vielen Eltern und Bildungs­experten gehegte Befürchtung, die ohnehin schon abgehängten Kinder würden durch den Lockdown weiter an Terrain verlieren, wird dadurch nicht gerade entkräftet. In den letzten Wochen hatte ein wahrer Glaubenskrieg um die Schulen getobt. Nicht nur gestresste Eltern traten dafür ein, den Unterricht unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, die als Epidemiologin und ehemalige Gesundheitsministerin weiß, wovon sie spricht, findet die Lösung nicht in Ordnung. Nicht nur weil Kinder unter 14 „keine oder eine geringe Rolle“ spielten, sondern auch wegen „Nebenwirkungen“, die von schwer zu schließenden Bildungs­lücken bis zu Engpässen bei der weiblich dominierten Spitalspflege reichten. Die These, dass Kinder weniger ansteckend seien, wird allerdings von einer am Wochenende veröffentlichten Dunkelzifferstudie im Auftrag des Bildungsministeriums entkräftet. Universitäten in vier Bundesländern haben 10.000 Schulkinder zwischen 6 und 14 Jahren sowie Lehrpersonen mit Gurgeltests untersucht. Ihr Ergebnis: Unter den 40 positiv getesteten lässt sich weder ein signifikanter Unterschied in der Ansteckungsrate zwischen Lehrern und Kindern, noch zwischen den unter 10-Jährigen und den 10- bis 14-Jährigen erkennen. Damit werde widerlegt, dass jüngere Kinder weniger anfällig für Ansteckungen seien. Spanien: „In vielen Haushalten gibt es keinen Computer“ Foto: privatIsabel Galvín ist Generalsekretärin der Lehrergewerkschaft Feccoo in der Region Madrid und Didaktik-Professorin an der Madrider Universität Complutense. Interview Reiner Wandler taz: Frau Galvín, Ihre Gewerkschaft hat sich wie keine andere Organisation für Schulöffnungen nach dem Lockdown eingesetzt. Wäre Onlineunterricht nicht besser und sicherer? Isabel Galvín: Die konservative Regionalregierung in Madrid wollte die Schulen nicht öffnen. Denn das wäre billiger gekommen, als sie auf einen sicheren Betrieb vorzubereiten. Aber nur der Unterricht in den Schulen selbst garantiert die Chancengleichheit. Wieso das? In vielen Haushalten gibt es keinen Computer. In anderen nur einen, der dann auch noch von den Eltern im Homeoffice belegt ist. Über 100.000 Kinder arbeiteten am Handy, oft dem der Eltern. Waren diese für die Arbeit unterwegs, konnten die Kinder erst nach Feierabend ihre schulischen Pflichten erledigen. Nirgends in Spanien gibt es so wenige Computer und so schlechtes Internet an den Schulen wie hier in Madrid. Zudem sorgt die Schule nicht nur für einen Abschluss, sondern auch dafür, dass die Schüler sich dem von der Gesellschaft verlangten Standard annähern, damit sie anschließend mehr oder weniger erfolgreich sind. Die Schule bedeutet das Erlernen von Alltagsregeln wie feste Zeiten, Hygiene, Ernährung, Kleidung. In Haushalten, die genau damit Schwierigkeiten haben, verschärft sich dies im Lockdown. Sie werfen der konservativen Regionalregierung vor, die Chancengleichheit nicht zu verteidigen? Nirgends in Spanien und kaum irgendwo in Europa ist die soziale Ungleichheit im Schulsystem so groß wie hier. Das ist das Ergebnis der extrem neoliberalen Bildungspolitik. Knapp die Hälfte der Schüler geht nicht auf öffentliche Schulen, sondern auf staatlich subventionierte Privatschulen, die auch noch wesentlich besser finanziert werden. Das führt zu einer extremen Ungleichheit in der Bildung, zu zwei Parallelwelten. Sie haben eine Kampagne für Schulöffnungen gestartet, die bis zum Streik am ersten Schultag ging, weil da noch immer die Hälfte der 10.600 versprochenen zusätzlichen Lehrer fehlten. Waren Sie erfolgreich? Wir haben dafür gesorgt, dass in Spanien überhaupt über das Thema Schule geredet wurde. Noch Mitte August konnte niemand sagen, was am 1. September geschehen sollte. Die öffentliche Debatte drehte sich um Tourismus und Gastronomie. Von den Schulen redete keiner. Wenn es keinen Lockdown für die Gastronomie gibt, wenn wir es uns nicht leisten können, die Wirtschaft lahm zu legen, wie können dann die Schulen geschlossen bleiben? Bildung ist die Wirtschaft von morgen, es geht um die Post-Covid-Bürger. Wir haben diese Debatte gewonnen. Was haben Sie konkret erreicht? Überall im Land wurden die Schulen geöffnet. Die Zentralregierung stellte aus den EU-Covid-Fonds Geld für die regionalen Bildungsministerien zur Verfügung. In Madrid haben wir zum ersten Mal seit der Eurokrise durchgesetzt, dass Privatschulen nicht bevorteilt werden. Es wurde 13 Prozent mehr Personal eingestellt, neue Klassenzimmer aufgemacht – entweder in bestehenden Räumlichkeiten oder in Containern –, um die Klassenstärke zu verringern. In einer Region, die der Covid-Hotspot schlechthin war, haben wir mit die sichersten Schulen im Land.
taz. die tageszeitung
Schulschließungen, Wechselunterricht oder doch nur Luftfilter – in Deutschland spitzt sich die Debatte um den Schulbetrieb in der Coronakrise zu. Wie sieht es bei den europäischen Nachbar:innen aus? Ein Blick nach Tschechien, Frankreich, Österreich und Spanien
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IMK-Chef bremst Hans-Peter Friedrich: Mehr Besonnenheit ist gefragt - taz.de
IMK-Chef bremst Hans-Peter Friedrich: Mehr Besonnenheit ist gefragt Der SPD-Politiker Boris Pistorius kritisiert die „reflexartigen Forderungen“ des Bundesinnenministers. Der sei zu unüberlegt zur Stelle mit der Forderung nach Überwachung. Ein wenig grimmig hat Hans-Peter Friedrich (re.) Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius im Blick Bild: dpa HANNOVER dpa | Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Boris Pistorius (SPD), hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich zu mehr Besonnenheit aufgefordert. „Mir wäre wichtig, wenn er künftig zu etwas mehr Ruhe bei der Beurteilung von Sachfragen kommt“, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur vor dem Treffen der Innenminister in Hannover. In der Vergangenheit seien Friedrichs „reflexartige Forderungen“ etwa zur Fluggastdatenauswertung oder mehr Videoüberwachung nach den Bombenanschlägen von Boston „nur wenig hilfreich“ gewesen. Am Mittwoch beginnt in Hannover die Frühjahrskonferenz der Innenminister. Friedrich stellt seinen Kollegen aus den Ländern dann unter anderem seinen Bericht zur Sicherheitslage in Deutschland vor. „Wie wir alle wissen, lebten die Bostonattentäter schon seit Jahren in den USA und trotz entsprechender Überwachungssysteme zu Fluggastdaten konnten die Taten nicht verhindert werden“, sagte der niedersächsische Ressortchef. Friedrich müsse sich deshalb die Frage stellen, was er mit seinen Forderungen erreichen wolle, „mehr Sicherheit oder einfach mehr Überwachung“. Politiker dürften „nicht gleich immer schwarz-weiß Kategorien bedienen“. Das gelte auch für Friedrichs Forderung, Salafisten aus Deutschland auszuweisen. „Da müssen wir die Balance wahren und dürfen nicht durch vermeintlich populistische Forderungen eine verschärfte Diktion reinbringen“, sagte Pistorius. In Deutschland geborene Salafisten, die sich dem Dschihad anschlössen, könnten ohnehin nicht abgeschoben werden, weil sie Deutsche seien.
taz. die tageszeitung
Der SPD-Politiker Boris Pistorius kritisiert die „reflexartigen Forderungen“ des Bundesinnenministers. Der sei zu unüberlegt zur Stelle mit der Forderung nach Überwachung.
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Wie Hamburger Firmen auf das Pekinger Massaker reagierten: "Gute Ausrede für schlampige Arbeit" - taz.de
Wie Hamburger Firmen auf das Pekinger Massaker reagierten: "Gute Ausrede für schlampige Arbeit"
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Ausgang der Kommunalwahlen: Mitte-links siegt in Italien - taz.de
Ausgang der Kommunalwahlen: Mitte-links siegt in Italien Bei den italienischen Kommunalwahlen liegt das Lager um die Partito Democratico klar vorn. Die rechte Lega und die Fünf Sterne fahren große Verluste ein. Nicht mal in der Stichwahl: Roms bisherige Bürgermeisterin Virginia Raggi von den Fünf Sternen Foto: ap ROM taz | Die Kommunalwahlen in Italien vom Sonntag und Montag haben einen klaren Sieger: das Mitte-Links-Lager um die Partito Democratico (PD). Etwa 1.200 der gut 8.000 Kommunen und damit 12 Millionen Bür­ge­r*in­nen waren an die Urnen gerufen, um ihre Bür­ger­meis­te­r*in­nen und die Stadträte zu bestimmen, die Aufmerksamkeit richtete sich vorneweg auf die vier größten Städte des Landes Rom, Mailand, Neapel und Turin sowie auf Bologna. Schon im ersten Wahlgang konnte die Mitte-Links-Allianz Mailand, Neapel und Bologna erobern, mit Resultaten, die alle Erwartungen übertrafen. In Mailand wurde der bisherige Bürgermeister Beppe Sala mit 57,7 Prozent im Amt bestätigt, während sein rechter Gegenkandidat bei 32 Prozent hängenblieb. Noch eindeutiger war das Ergebnis in Neapel. Dort war der frühere Universitätsrektor Gaetano Manfredi angetreten, getragen von der PD ebenso wie von dem Movimento5Stelle (M5S – Fünf-Sterne-Bewegung). Der Pakt zahlte sich aus: Manfredi erhielt 63 Prozent. Von einer solchen breiten Koalition war auch Matteo Lepore in Bologna getragen, der 62 Prozent einfuhr. Eine Stichwahl ist dagegen in 14 Tagen sowohl in Rom als auch in Turin notwendig, da dort niemand unter den Kan­di­da­t*in­nen die 50-Prozent-Hürde überwand. Beide Städte hatten vor fünf Jahren sensationelle Ergebnisse gesehen, als sich in Turin mit Chiara Appendino und in Rom mit Virginia Raggi zwei Vertreterinnen der Fünf Sterne durchsetzten; Raggi hatte in Rom im ersten Wahlgang 35 Prozent und dann in der Stichwahl 67 Prozent verbuchen können. Ihre Erfolge waren der Vorbote des Triumphs der Fünf Sterne bei den Parlamentswahlen von 2018, die ihnen 33 Prozent einbrachten. Salvini kritisiert Wahlstrategie der Rechten Dass diese triumphalen Zeiten wohl endgültig vorbei sind, zeigte sich jetzt. Raggi trat wieder an, landete mit 19 Prozent aber nur auf dem vierten Platz. Die Rö­me­r*in­nen bestraften sie für fünf Jahre Stadtregierung, in denen sie weder die Müllprobleme noch den miserabel funktionierenden Öffentlichen Nahverkehr in der Ewigen Stadt in den Griff bekam. In der ersten Runde lag dagegen der Rechtskandidat Enrico Michetti mit 30 Prozent vorn, aber Roberto Gualtieri von der PD ist ihm mit 27 Prozent auf den Fersen. Gualtieri hat weit bessere Chancen, in der Stichwahl von den Stimmen der M5S-Wähler zu profitieren. Auch zahlreiche Stimmen des unabhängien Mitte-Kandidaten Carlo Calenda, mit gut 19 Prozent Dritter, könnten ihm zugutekommen und ihn zum Bürgermeister krönen. Auch in Turin spielen die Fünf Sterne keine Rolle mehr. Während die Amtsinhaberin auf einen erneuten Versuch verzichtete, kam ihre Nachfolgerin auf magere 9 Prozent. Überraschend auf dem ersten Platz liegt auch hier der Mitte-Links-Kandidat mit 44 Prozent, 5 Prozentpunkte vor seinem rechten Gegner. Damit droht jetzt jenes „5:0“ fürs Mitte-Links-Lager in den fünf wichtigsten Städten, das Italiens Rechte unbedingt verhindern wollte. Ungewohnt selbstkritisch gab sich noch am Wahlabend Matteo Salvini, Chef der rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Lega. „Zu spät“ habe die Rechte ihre Kandidaten ausgewählt, die Niederlage sei aus „eigenem Unvermögen“ zu erklären. Wahr daran ist, dass es im Rechtsblock in allen Städten ein monatelanges Gezerre gegeben hatte, zwischen der Lega und den im Aufstieg befindlichen Post­fa­schis­t*in­nen der Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) unter Giorgia Meloni. Und am Ende wurden dann etwa in Rom oder in Mailand alles andere als starke Kandidaten ins Rennen geschickt. Fünf Sterne verlieren klar an Bedeutung Wahr ist aber auch, dass die Lega besonders Federn lassen musste. Selbst in ihren Hochburgen im Norden liegen ihre Listen bestenfalls gleichauf mit denen der rechten Konkurrenz von FdI, während etwa in Rom FdI die Salvini-Truppe klar überrundet. Trösten kann sich Italiens Rechte nur mit dem klaren Sieg bei den Regionalwahlen in Kalabrien. Auch die Fünf Sterne gehen schwer zerzaust aus der Wahl hervor. Ihre prozentualen Ergebnisse sind im Keller, dort wo sie alleine antraten, wurden sie völlig irrelevant. Dies wiederum dürfte den gerade erst inthronisierten neuen Chef der Bewegung, den früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, stärken. Der setzt auf die Allianz mit der PD in einem erweiterten Mitte-Links-Lager, wie sie in Mailand und Bologna zustande kam, und damit auf den endgültigen Abschied von populistischen Anwandlungen. Die Zeiten, in denen Italien – seit den Parlamentswahlen 2013 – drei Pole sah, rechts, links und Fünf Sterne, sind damit vorbei, und das Land kehrt zu einem bipolaren Schema zurück. Die PD unter ihrem Chef Enrico Letta jedenfalls reicht Conte die Hand – und Letta hat parteiintern nach dem Erfolg vom Wochenende beste Chancen, die neue Allianz unter Dach und Fach zu bringen. Nicht zuletzt hilft ihm dabei, dass auch er persönlich gestärkt wurde. In einer Nachwahl fürs Abgeordnetenhaus eroberte er mit überzeugenden 50 Prozent den Sitz von Siena.
Michael Braun
Bei den italienischen Kommunalwahlen liegt das Lager um die Partito Democratico klar vorn. Die rechte Lega und die Fünf Sterne fahren große Verluste ein.
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■ Schweizer Kaffeerahmdeckeli erobern die Welt: In Benzin legen, dann glattwalzen - taz.de
■ Schweizer Kaffeerahmdeckeli erobern die Welt: In Benzin legen, dann glattwalzen Konstanz (taz) – „Das ist endlich mal ein Trend, der nicht aus den USA kommt – sondern aus der Schweiz“, jubelt Thomas Hediger. Erst waren es nur Käse und Offiziersmesser. Dann kam die ausgeflippte Swatch-Uhr. Und jetzt das: Kaffeerahmdeckeli. Hediger, eigentlich Briefmarkenhändler in St. Gallen, verkauft von Jahr zu Jahr mehr von diesen kleinen Verschlüssen für Kaffeerahmportionen. „Ich habe schon Kunden bis nach Hamburg. Für die Deutschen ist das wie im Schlaraffenland hier. Die deutschen Deckeli werden zwar auch immer dekorativer – sind aber noch lange nicht so attraktiv wie die schweizerischen.“ Angefangen hatte es ganz harmlos: Vor rund 30 Jahren wurden bei der Neher AG (Alusuisse-Lonza) im thurgauischen Kreuzlingen zum ersten Mal Schutzfolien für Kaffeesahne mit bunten Bildchen bedruckt. Wer die kleinen Alus vor dem Mülleimer rettete, wurde zunächst oft wegen seines spießigen Kleine-Leute-Hobbys belächelt. Heute ist das Sammeln gesellschaftsfähig. Zehntausende Eidgenossen, oft in Vereinen wie dem Berner „Kaffee-Doppelcrème“ organisiert, bekennen sich offen zu ihrer Obsession. Um die Sammelwut zu befriedigen, werden beinahe täglich neue Deckelserien herausgegeben. Ulrike Bühler, hauptberufliche Deckelidesignerin bei Neher, hat allein im letzten Jahr über 100 Serien gestaltet – jede Reihe mit jeweils 15 bis 40 Motiven. Die Großserie „Max und Moritz“ brachte es gar auf 90 Einzelbilder. „Und es werden immer mehr. Der Markt boomt zur Zeit sehr.“ Über Moral und öffentliche Ordnung wacht der Zentralverband schweizerischer Milchproduzenten in Bern, bei dem die Sahnebilder vor ihrer Veröffentlichung einzureichen sind. Pornographie zeigen deshalb die Alubilder nur ansatzweise: mäßig frivole Fotos aus den zwanziger Jahren, hie und da ein blanker Busen, eine Reihe „Der Kuß“. Im Prinzip seien aber der Phantasie so gut wie keine Grenzen gesetzt, erklärt Frank Schmidt von Alusuisse. Bloß: „Es gibt fast keine neuen Ideen mehr.“ Der Konkurrenzkampf zwischen den größten Schweizer Deckeliherstellern – Neher, NycO und Alcan – sei knallhart. „Werkspionage wird noch nicht direkt gemacht. Aber es gibt Leute, die ganz gerne in andere Grafikabteilungen schauen...“ Exemplare der derzeit teuersten Serie „Schattenspiele“ erzielen bei Auktionen 3.000 Schweizerfranken. Preistendenz: steigend. Normale Wald- und Wiesenblumendeckeli gibt es, sieht man von den raren Fehldrucken ab, meist billiger – in der Regel für etwa einen Franken pro Stück. Aber auch damit kann man ordentlich absahnen: Die im Kanton Bern, der helvetischen Deckelihochburg, angesiedelte Kade AG zum Beispiel wirft nicht nur eigene, „inoffizielle“ Serien auf den Markt, sondern vertreibt auch Sammlerzubehör wie Alben (möglichst edel, in Leder) oder Deckeliwalzen. Nur Experten können Neuauflagen von kostbaren Erstausgaben unterscheiden. Von der 5er-Serie, die das Massenblatt Blick herausgab (Stückpreis: 600 Franken), sollen schon Fälschungen im Umlauf sein. Im allgemeinen sind Kaffeerahmdeckeli ein dankbares Sammelobjekt: gut zu putzen. Wirklich problematisch ist nur das Ablösen der Deckeli. Besonders die deutschen Verschlüsse sind da sehr sensibel: auch wenn man sich ihnen ganz sacht nähert – sofort zerreißen sie. Hier hilft Schweizer Know-how weiter: erst den Boden des kleinen Rahmkübelchens abschneiden, dann die Kaffeesahne ausleeren – und den Becherstumpf in Benzin legen, bis sich das Deckeli mühelos und unversehrt entfernen läßt. Martin Ebner
Martin Ebner
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Studie zu Klimapolitik: Wenn Einsicht in Wut umschlägt - taz.de
Studie zu Klimapolitik: Wenn Einsicht in Wut umschlägt Die Menschen sorgen sich um die sozialen Folgen der Klima-Transformation: Mangelnder sozialer Ausgleich gefährdet den Umbau. Regen in Berlin Foto: Fabrizio Bensch/reuters Diese Botschaft sollten der selbsternannte Klimakanzler Olaf Scholz und sein Regierungsteam sehr ernst nehmen: Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland sieht angesichts der Klimakrise großen politischen Handlungsbedarf – aber die allermeisten sorgen sich gleichzeitig um eine angemessene soziale Abfederung. Die Umfrage im Auftrag des Umweltbundesamts wurde im vergangenen Sommer gemacht, auf dem Höhepunkt der Energiepreiskrise, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und während der Pandemie. Nach der Debatte über das Heizungsgesetz dürften die Sorgen um den sozialen Ausgleich noch viel größer sein. Wenn die Regierung den Bür­ge­r:in­nen diese Furcht nicht nehmen kann, wird die Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen schmelzen. Der Präsident des Umweltbundesamts fordert mit Blick auf die Umfrageergebnisse, dass bei jeder klimapolitischen Maßnahme das Soziale von Anfang an mitgedacht werden muss. Ja, natürlich muss das so sein. Dass das in einer Regierung, in der auch SPD und Grüne sitzen, nicht selbstverständlich ist, ist ein politischer Offenbarungseid für die beiden Parteien. Denn anders als die FDP beanspruchen sie für sich, die anstehende Transformation sozial zu gestalten. Die Einsicht, dass der klimaneutrale Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft notwendig ist und auch eigene Veränderungen erfordert, schlägt in Wut und Verweigerung um, wenn Bür­ge­r:in­nen das Gefühl haben, sie allein sollen das finanziell stemmen, obwohl sie es nicht können. Und wenn sie gleichzeitig sehen, dass Energiekonzerne und richtig Reiche von Belastungen verschont oder sogar entlastet werden. Begründete Furcht Diese Furcht und dieser Ärger breiten sich bis weit in die Mitte der Gesellschaft aus. Die Regierung hat beim Umgang mit dem Heizungsgesetz gezeigt, dass sie dafür keine Antenne hat. Auch die nach langem Gerangel verbesserte Förderung für eine neue Heizung reicht für Menschen mit wenig und mittlerem Einkommen nicht. Mit warmen Worten sind den Bür­ge­r:in­nen diffuse Ängste und eine begründete Furcht nicht zu nehmen. Dafür muss etwas Konkretes her, wie es das Klimageld sein könnte. Damit könnten Bür­ge­r:in­nen entlastet werden, wenn der CO2-Preis, wie derzeit vorgesehen, stark steigt. Durch die Erhöhung verteuert sich vieles, was Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen erheblich belastet. Doch das Projekt Klimageld kommt nicht voran, obwohl es im Koalitionsvertrag steht. Das Signal: Klimaschutz führt zu höheren Preisen, aber einen sozialen Ausgleich gibt es nicht. Wer so etwas macht, treibt die Gesellschaft auseinander.
Anja Krüger
Die Menschen sorgen sich um die sozialen Folgen der Klima-Transformation: Mangelnder sozialer Ausgleich gefährdet den Umbau.
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Krumme Immobilien-Deals: Altenheime zum Schnäppchenpreis - taz.de
Krumme Immobilien-Deals: Altenheime zum Schnäppchenpreis Der Altenheimkonzern Augustinum will 14 Häuser von einer kleinen Firma in Heide zurückbekommen. Sie sollen miteinander dubiose Millionengeschäfte gemacht haben. War nicht Gegenstand des Deals: Das First-Class-Augustinum am Hamburger Elbufer (links) Foto: dpa HAMBURG taz | Ein Wirtschaftskrimi spielt derzeit vor dem Münchner Oberlandesgericht: Der Altenheimkonzern Augustinum versucht von der kleinen Schleswig-Holsteiner Immobilienfirma Nordic Kontor die an sie verscherbelten 14 Seniorenheime zurückzubekommen. Diese Heime sind von den Staatsanwaltschaften vorerst beschlagnahmt worden. Hintergrund sind Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die beiden Nordic Kontor-Inhaber. Den beiden Männern aus Heide wird Betrug und Korruption vorgeworfen. „Unsere Ermittlungen werden wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Thomas Steinkraus-Koch. Solange die strafrechtlichen Ermittlungen laufen, sind die meisten Zivilverfahren erst einmal ausgesetzt worden, mit denen die Augustinum-Verkäufe für null und nichtig erklärt werden sollen. Der Augustinum-Konzern hatte zwischen 2010 und 2013 14 seiner bundesweit 23 Altenheime, in denen fast 7.400 SeniorInnen leben, an die Nordic Kontor GmbH verkauft und gleichzeitig die Häuser wieder zurückgemietet. Eine Sale-and-Lease-Back-Strategie, wie sie etwa Kaufhauskonzerne und Kommunen gerne nutzen, um schnelles Geld in die Kassen zu spülen. Für dieses Geschäftsmodell hatten sich der damalige und inzwischen verstorbene Augustimum-Aufsichtsratsvorsitzende Arthur Maccari und der damalige Vorstandsvorsitzende und kaufmännische Geschäftsführer Kurt Wilkin stark gemacht, die mit den Nordic Kontor-Inhabern gemeinsame Sache gemacht haben sollen. „Sie haben ihr Gesamtpaket mit krimineller Energie und Planmäßigkeit eingefädelt und mit irrwitzigen Aufwand, Verschleierung und Tarnung umgesetzt“, sagt ein mit den Vorgängen vertrauter Augustinum-Insider. Denn dieses Sale-and-Lease-Back-Modell hatte einen bedeutenden Haken: Augustinum als Verkäufer gewährte Nordic Kontor für diesen Kauf ein Darlehen von 728 Millionen Euro. Getilgt werden sollte der Kredit aus den monatlichen Mieteinnahmen der weit unter Wert erworbenen Immobilien. Ein Augustinum-Insider„Sie haben ihr Gesamtpaket mit krimineller Energie und Planmäßigkeit eingefädelt und mit irrwitzigen Aufwand, Verschleierung und Tarnung umgesetzt“ Eindruck machen konnte Nordic Kontor bei den Augustinum-Verantwortlichen auch durch ein Leumundszeugnis der als seriös geltenden Hamburger Sparkasse (Haspa). Sie bescheinigte der Firma im August 2011 große Immobilienprojekte in einem Volumen von mehr als 100 Millionen Euro im In- und Ausland „stets professionell“ realisiert zu haben. Laut Süddeutscher Zeitung handelt es sich bei dem zweiseitigen Schreiben um ein von einem Nordic Kontor-Inhaber vorformuliertes Gefälligkeitsschreiben. Dies sei von der Haspa nicht genau überprüft worden, wie ein Sparkassen-Mitarbeiter später bei der Münchner Kriminalpolizei aussagte. Der Vorgang sei nichts ungewöhnliches. Auf taz-Anfrage will sich die Haspa heute nicht äußern. „Dazu können wir nichts sagen, da wir das Schreiben nicht kennen“, sagt deren Sprecher Andre Grunert. Das habe ein ehemaliger Mitarbeiter verfasst. Es handelt sich nicht um einen einmaligen Vorgang. Laut Süddeutscher Zeitung bescheinigte die Haspa im Februar 2012 gegenüber dem Augustinum-Aufsichtsratschef Maccari der Nordic Kontor eine „einwandfreie Bonität“. Die kleine Firma habe bei dem Geldinstitut „nennenswerte Guthaben“. Dass die Firma über Vermögen verfügt, verwundert nicht, hatte Augustinum die geliehenen Millionenbeträge für den Kauf der Altenheime doch auch auf Haspa-Konten der Nordic Kontor überwiesen. Augustinum-Aufsichtsratschef Maccari und Geschäftsführer Wilkin wird ferner Vorgeworfen, bei dem Immobiliengeschäft über eine Schweizer Treuhandgesellschaft 35 Millionen Euro Schmiergeld kassiert zu haben. Wilkin bestreitet das. Der Höhepunkt steht für die Beteiligten offenbar noch aus: Der würde nach Ablauf der Mietverträge folgen – durch den lukrativen Weiterverkauf der seinerzeit unter Wert erworbenen Immobilien. Doch das Geschäft flog im Frühjahr 2014 nach einem anonymen Schreiben an die Augustinum-Spitze auf. Diese erstattete Anzeige und Wilkin verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Am Montag sagte Augustinum-Sprecher Matthias Steiner der taz: „Drei Wohnheime haben wir heute zurückbekommen.“ Man sei zuversichtlich alle Immobilien wiederzuerlangen, auch die in Braunschweig und Aumühle bei Hamburg.
Kai von Appen
Der Altenheimkonzern Augustinum will 14 Häuser von einer kleinen Firma in Heide zurückbekommen. Sie sollen miteinander dubiose Millionengeschäfte gemacht haben.
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■ Anschläge: Großbritannien - taz.de
■ Anschläge: Großbritannien London (dpa) – Bei einem mutmaßlichen IRA-Anschlag auf das weltberühmte Kaufhaus Harrods in der Londoner Innenstadt sind am Donnerstag vier Menschen leicht verletzt worden. Die Polizei hatte zuvor eine Telefonwarnung erhalten. Bei einem Bombenanschlag auf ein im Bau befindliches Wohnhaus bei Cookstown in der nordirischen Grafschaft Tyrone wurde ein Mann getötet.
taz. die tageszeitung
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Rettungsschiff mit 65 Migranten an Bord: Salvini versus „Alan Kurdi“ - taz.de
Rettungsschiff mit 65 Migranten an Bord: Salvini versus „Alan Kurdi“ Erneut verbietet Italiens Innenminister einem Rettungsschiff, in die Hoheitsgewässer seines Landes einzufahren. Pro Asyl kritisiert Horst Seehofer. Das nächste Schiff, das Matteo Salvini im Visier hat: die „Alan Kurdi“ Foto: dpa/Sea-Eye ROM/BERLIN/FRANKFURT AM MAIN dpa/epd | Die Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye wird mit ihrem Rettungsschiff „Alan Kurdi“ mit 65 Migranten an Bord vorerst nicht in italienische Hoheitsgewässer einfahren. Das sagte Sea-Eye-Einsatzleiter Gorden Isler der Deutschen Presse-Agentur am Samstag am Telefon. Der italienische Zoll habe der Besatzung am Morgen ein Dekret des italienischen Innenministers Matteo Salvini ausgehändigt, mit dem die Einfahrt in die Hoheitsgewässer des Landes untersagt wurde. „Wir beachten erstmal dieses Verbot“, versicherte Isler. Ohne triftigen Grund werde Sea-Eye nicht gegen das Dekret verstoßen. Die „Alan Kurdi“ hatte nach Sea-Eye-Angaben 65 Migranten in internationalen Gewässern vor Libyen von einem Schlauchboot gerettet. Im Bundesinnenministerium war am Freitagabend ein Brief Salvinis eingegangen. Darin drängt er Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Verantwortung für die „Alan Kurdi“ zu übernehmen. Deutschland hat der EU-Kommission nach Angaben Seehofers angeboten, Migranten von der Sea-Eye und vom Rettungsschiff „Alex“ der italienischen Hilfsorganisation Mediterranea Saving Humans im Mittelmeer aufzunehmen. Die „Alex“ hat aktuell 54 Menschen an Bord. „Auch im Fall der „Alan Kurdi“ und der „Alex“ sind wir im Rahmen einer europäisch-solidarischen Lösung bereit, einen Teil der aus Seenot Geretteten aufzunehmen“, sagte Seehofer am Samstag. Deutschland lehnt das von Salvini verfochtene Prinzip ab, wonach der Flaggenstaat prinzipiell zuständig sein soll. Seehofer macht sich weiter für einen europäischen Verteilmechanismus für die Migranten stark. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte auf Anfrage: „Wer Menschen vor dem sicheren Ertrinken rettet, erfüllt seine humanitäre Pflicht.“ Deshalb habe die Bundesregierung in diesem Jahr bereits 228 Menschen – und damit mehr als jeder andere EU-Mitgliedstaat – aufgenommen. Die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl wirft allerdings Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nach den Vorgängen rund um die „Sea-Watch 3“ vor, um jeden Preis ein geordnetes Aufnahmeverfahren aus den Erstanlandestaaten heraus verhindern zu wollen. Deutschland müsse die Initiative ergreifen, sodass in einem geordneten Verfahren Gerettete aufgenommen werden, erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt am Samstag in Frankfurt am Main. Bisher verharre die deutsche Regierung in einer „unerträglichen Prinzipienreiterei“ und wolle möglichst alle Bootsflüchtlinge in den Erstanlandestaaten des Mittelmeers belassen. Günter Burkhardt, Pro Asyl„Das Abdrücken der Verantwortung für Schutzsuchende auf die Grenzstaaten ist die Ursache des Boot-für-Boot-Geschacheres“ „Das Abdrücken der Verantwortung für Schutzsuchende auf die Grenzstaaten ist die Ursache des Boot-für-Boot-Geschacheres“, fügte Burckhardt hinzu. Er warnte zugleich vor der Verschiebung des Diskurses nach rechts: „Die dramatischen Bootsbilder heizen die Stimmung an und bieten Rechtsextremen und Rechtspopulisten die Bilder für menschenverachtende Kampagnen. Dieses Handeln Deutschlands spielt den Rechtsextremen in den südlichen Staaten in die Hände. Dabei ist das reale Problem sofort lösbar.“ In Deutschland und anderen EU-Staaten gebe es eine aufnahmebereite Zivilgesellschaft. 13 Seemeilen vor Lampedusa Pro Asyl erinnerte an die Forderungen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, Seenotrettungsorganisationen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Jugendverbänden für eine Neuausrichtung der deutschen und europäischen Politik vom April. Unter anderem müssten danach aufnahmebereite Mitgliedsstaaten in einem geordneten Verfahren aus Seenot gerettete und in EU-Mittelmeeranrainerstaaten gestrandete Schutzsuchende solidarisch aufnehmen. Viele deutsche Städte und Kommunen hätten sich bereiterklärt, Geflüchtete aufzunehmen, hieß es. Für sie müsse eine Möglichkeit geschaffen werden, freiwillig zusätzliche Schutzsuchende aufzunehmen. Zudem dürfe es keine Rückführungen nach Libyen geben, wo zurückgebrachte Flüchtlinge systematischer Folter, Versklavung und Gewalt ausgesetzt seien. Die „Alan Kurdi“ befand sich am Samstagvormittag nach Angaben Islers etwa eine Seemeile vor den italienischen Hoheitsgewässern und rund 13 Seemeilen vor der italienischen Insel Lampedusa. Eine per Mail an die Behörden in Rom und Valletta, der Hauptstadt Maltas, geschickte Bitte um Zuweisung eines sicheren Hafens für die „Alan Kurdi“ sei bis zum Vormittag ohne Antwort geblieben, sagte der Einsatzleiter weiter.
taz. die tageszeitung
Erneut verbietet Italiens Innenminister einem Rettungsschiff, in die Hoheitsgewässer seines Landes einzufahren. Pro Asyl kritisiert Horst Seehofer.
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No-Brexit-Gesetz in Kraft: Last Order in Großbritannien - taz.de
No-Brexit-Gesetz in Kraft: Last Order in Großbritannien Nach einer turbulenten Woche hat die Queen das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit gebilligt. Speaker Bercow kündigte derweil seinen Rücktritt an. Verheddert: Großbritannien kommt nicht so leicht aus der EU Foto: imago images/Xinhua BERLIN taz | In Großbritannien soll in der Nacht zum Dienstag die laufende Parlamentssitzung zu Ende gehen. Dies geht aus der Tagesordnung des Unterhauses hervor und wurde von der Regierung bestätigt. Nach Abschluss aller anderen Punkte sollten dafür die Unterhausmitglieder im Parlamentssitz von einem Emissär der Queen über den Flur in die Kammer des Oberhauses gerufen werden, wo die Inkraftsetzung aller ausstehenden Gesetze durch die Queen und anschließend die „prorogation“ genannte Beendigung der Sitzungsperiode beider Parlamentskammern verkündet werden sollte. Die aktuelle Sitzungsperiode hatte im Juni 2017 begonnen und ist damit eine der längsten der Geschichte – normalerweise läuft eine Sitzungsperiode ein Jahr. Die vor knapp zwei Wochen für einen Zeitraum zwischen dem 9. und 12. September verfügte „prorogation“ durch die Regierung stieß allerdings auf Protest, weil die nächste Sitzungsperiode erst am 14. Oktober beginnt – nach Ansicht von Kritikern verliert das Parlament damit fünf Wochen Zeit mitten in der heißen Brexit-Phase. Zwar wären drei Wochen davon wegen der Jahresparteitage der großen Parteien ohnehin sitzungsfrei gewesen, und nach Wiedereröffnung gibt es drei Sitzungswochen vor dem aktuell gültigen Brexit-Termin, dennoch wurde der Regierung ein „Putsch“ vorgeworfen. Um sich zu wehren, haben die Abgeordneten ein Gesetz durchgezogen, das einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober ohne parlamentarische Zustimmung unmöglich machen soll und Premierminister Boris Johnson zu einem Antrag auf Aufschub des Brexit bei der EU verpflichtet. Johnsons Gegenforderung nach vorgezogenen Wahlen noch im Oktober hat das Parlament durchfallen lassen und wollte das am Montagabend erneut tun. Ungeachtet ihrer Erfolge gegen Johnson finden manche Abgeordnete immer noch, die „prorogation“ sei ein antidemokratischer Skandal. Die Labour-Fraktionsführerin im Oberhaus, Baroness Smith, kündigte einen Boykott an. Manche Abgeordnete wollten im Unterhaus sitzen bleiben und sich weigern, die Kammer zu verlassen. Eine Klage gegen die „prorogation“ scheiterte zwar vergangene Woche, liegt nun aber dem Obersten Gericht vor. Zusätzlich haben die Abgeordneten an ihrem letzten Sitzungstag die Offenlegung sämtlicher interner Regierungskommunikation über die „prorogation“ beantragt – das dürfte allerdings mangels weiterer Sitzungstage wenig Folgen haben. Der Präsident des britischen Unterhauses, John Bercow, kündigte indes seinen Rücktritt an. Bercow sagte, er werde nicht erneut für das Amt kandidieren, falls die Abgeordneten am Montag für vorgezogene Neuwahlen stimmen sollten. Aber auch im Falle einer Ablehnung vorgezogener Neuwahlen werde er am 31. Oktober zurücktreten. Bercow will nicht nur als Sprecher, sondern auch als Abgeordneter zurücktreten. Er hat das Amt des sogenannten Speaker seit zehn Jahren inne. Im Streit um den Brexit liefert sich das Parlament einen harten Schlagabtausch mit dem Premierminister. Nicht Johnson, sondern das Unterhaus geht aus dieser Auseinandersetzung als Sieger vom Platz. Alle Augen richten sich nun auf die Wiedereröffnung des Parlaments am 14. Oktober – und ob Boris Johnson bis dahin Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU vermelden kann, die sowohl einen No-Deal-Brexit als auch einen Brexit-Aufschub überflüssig machen und damit die Krise entschärfen könnten.
Dominic Johnson
Nach einer turbulenten Woche hat die Queen das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit gebilligt. Speaker Bercow kündigte derweil seinen Rücktritt an.
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Familiendrama aus Belgien: Der Teufel steckt im Alltag - taz.de
Familiendrama aus Belgien: Der Teufel steckt im Alltag Der belgische Regisseur Joachim Lafosse erzählt in „Die Ruhelosen“ von einem Vater mit bipolarer Störung. Er tut das mit sensiblem Realismus. Wenig Distanz: Damien (Damien Bonnard) und Leïla (Leïla Bekthi) in „Die Ruhelosen“ Foto: eksystent Grund zur Beunruhigung gibt es, Anzeichen, noch keine Gewissheit: Damien am Steuer eines Motorboots fährt weit hinaus auf das Meer, sein kleiner Sohn Amine genießt die Fahrt. Da springt, ohne Ankündigung, Damien ins Wasser, ruft dem Sohn zu, das Steuer zu übernehmen, er schwimme an den entfernt liegenden Strand. Am Strand wartet Leïla, wartet, der Sohn lenkt das Motorboot ohne Probleme zurück. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Nun warten sie auf Damien, Leïla geht auf und ab, Damien taucht nicht auf, und dann kommt er doch, schwimmt heran und sieht kein Problem. Es ist nicht klar, was eigentlich los ist, es ist nicht klar, ob es überhaupt ein Problem gibt, aber Leïla, und mit ihr der Film, und mit dem Film wir, sind gleich mit dieser ersten Szene in Unruhe versetzt, auch wenn diese Unruhe zunächst unbestimmt bleibt. Freunde kommen zu Besuch, Serge, Damiens Galerist, hat seine kleine Tochter dabei. Übermütig, wenn nicht übergriffig wirft Damien sie zum Empfang in den Pool. Bald darauf zieht Damien im Pool seine Bahnen, erst denkt man sich nichts, dann hört er damit nicht mehr auf. Es sind solche erst leisen, dann auch heftigeren Irritationen, mit denen Joachim Lafosse, ohne zunächst irgendwas zu erklären, die Zu­schaue­r*in irritiert. Wasser, Gewässer, sind wieder und wieder der Schauplatz, am Meer beginnt der Film, an einem See wird er enden: Metapher für Oberflächen, die ruhig scheinen, unter denen die Unruhe jedoch lauert. Grenzen überschreiten Es sind keine großen Geschichten, sondern Familienszenen, die sich entfalten. Kleinfamilienszenen, Vater, Mutter, Kind, Leïla, Damien und Amine. Und nach und nach werden die Grenzüberschreitungen gravierender, man beginnt zu begreifen, dass in der Tat etwas nicht stimmt mit Damien, dass Leïla und auch Amine nicht ohne Grund aufmerksam sind. Der Film„Die Ruhelosen“. Regie: Joachim Lafosse. Mit Leïla Bekthi, Damien Bonnard u. a. Belgien/Luxemburg/Frankreich 2021, 118 Min. Eine kurze Szene noch im Urlaub, Leïla in einem Krankenhausflur, was hier geschieht, wird nicht genauer erklärt. Dann ist die Familie mit einem ganz beiläufigen Schnitt aus dem Urlaub zurück. Damien in seinem Studio, er malt, steigert sich ins Malen hinein. Eines Morgens schnappt er sich Amine und fährt ihn zur Schule im Dorf, Leïla hinterher, es ist eine lebensgefährliche Fahrt. Andere Szene, kurz darauf, in der Dorfbäckerei: Damien weigert sich, Maske zu tragen, kauft im Überschwang Kleingebäck und das Tablett gleich dazu mit. Der Überschwang erweist sich nun immer klarer als manische Phase eines bipolar Kranken. Es ist nicht das erste Mal, so erklärt sich die Unruhe Leïlas schon bei den unklaren Zeichen. Damien hat offenbar aufgehört, das ihm verschriebene Psychopharmakon Lithium einzunehmen, Leïlas Versuche, ihn unter Kontrolle zu halten, werden verzweifelter. Sie holt Damiens Vater zu Hilfe, sie ruft Sanitäter, die den Kranken aber nicht gegen dessen Willen in die Psychiatrie mitnehmen können. Lafosse schildert all das mit Geduld und Sinn für die Nuance, dramatisiert nicht über Gebühr, sehr sparsam nur wird die Musik von Ólafur Arnalds und Antoine Bodson eingesetzt. Sie soll die Stimmung der Szenen nur unterstreichen und akzentuieren. Erinnerungen an den eigenen Vater Lafosse hat das Drehbuch gemeinsam mit einer Reihe Ko­au­to­r*in­nen verfasst, er hat ganz gewiss genau recherchiert, nicht zuletzt beruht die Geschichte auf Erinnerungen an seinen eigenen bipolaren Vater. Entsprechend wird die Perspektive des Sohnes, Amine, immer wieder ins Zentrum gerückt – den Gabriel Merz Chammah mit beeindruckendem Verzicht auf jede kindliche Niedlichkeit spielt. Ohnehin geht es aber nicht in erster Linie um die Darstellung einer Krankheit, nicht einmal, wenngleich das dazugehört, um das Porträt eines Kranken. Der Belgier Joachim Lafosse bleibt sich treu als Filmemacher, der Störungen des Zwischenmenschlichen in bürgerlichen Milieus observiert. Immer beobachtet er dabei weniger die Individuen als ihre gestörten Beziehungssysteme. Auf der internationalen Szene tauchte er 2006 auf, als das Festival von Venedig „Nue proprieté“ im Wettbewerb zeigte: ein Drama um eine geschiedene Mutter – gespielt von Isabelle Huppert – die zu neuen Ufern aufbricht und ihre gerade erwachsenen Zwillingssöhne in eine Krise stürzt. In seinem vorletzten Film, „Die Ökonomie der Liebe“ (2016), stand wiederum eine Familie im Zentrum, Vater, Mutter, zwei Kinder, aber die Beziehung der Eltern ist zerfallen, es gibt kein Zurück zu Liebe und Glück. Danach hat Lafosse in „Continuer“ (2018) eine Mutter und ihren 18-jährigen Sohn auf eine Reise in die kirgisische Steppe geschickt, wo sie ihr schwieriges Verhältnis in der Fremde krisenhaft neu justieren. Einfache Lösungen bietet Lafosse niemals an, auch nicht in „Die Ruhelosen“, mit dem er es 2021 das erste Mal in Cannes in den Wettbewerb schaffte. Wichtiger noch: Es gibt auch keine simplen Beschreibungen der jeweiligen Lage. Der Teufel steckt im Alltag und seinen vielen Details. Den Raum der Fiktion minimieren Das Mittel der Wahl ist dabei ein auf den ersten Blick formal wenig auffälliger filmischer Realismus. Die Einstellungen sind funktional, man ist und bleibt nahe dran an den Figuren, alle Aufmerksamkeit gilt dem Spiel der Darsteller*innen, besonders ihrem Zögern, den Unsicherheiten. Das ist kein Kino der geschliffenen Dialoge oder der mitreißenden Dramaturgie, kein Plot Point wird irgendwen retten, schön verpackte Einsichten nimmt keiner aus einem Film von Lafosse mit. Auffällig ist, dass die beiden zentralen Figuren jeweils den realen Vornamen ihrer Dar­stel­le­r*in tragen: Leïla ist Leïla Bekhti, Damien ist Damien Bonnard. Der Raum der Fiktion im Sinne ausgedachter Erfindung wird so minimiert. Einerseits nach außen ein weiteres Realismussignal, andererseits auch ein Verfahren, das beim Drehen Nähe und Intimität schafft, als offener Vornamensraum für Bekhti und Bonnard. Erst eher subkutan auffällig, dann ein einziges Mal im Dialog thematisiert: ihre Körper. Leïla trägt weite Gewänder, versteckt ihre (sehr relative, nur angedeutete) Fülle darin. Damiens Bauch ist schon zu Anfang bei der Motorbootfahrt und dann immer wieder deutlich im Bild. Lesbar als Folge der Medikamenteneinnahme wird er nicht gleich, so wie Leïla ihre Gewichtszunahme erst später als Folge des Lebens in ständiger Sorge um Mann und Kind thematisiert. Ihr Leben in Sorge ist dann auch der eigentliche Gegenstand dieses Films. Verzweifelt versucht Leïla, die Familie, ihr tägliches Leben und das von Amine zusammenzuhalten angesichts des geliebten Mannes, der ihr und auch sich in manische Zustände entgleitet. Wieder und wieder sagt sie, sie könne nicht mehr; und macht doch erst einmal weiter. Der Film zeigt Amine und seine Unfähigkeit, den Vater und dessen abweichendes Verhalten genau zu begreifen. Damien beschwört ihn, sich niemals für ihn oder überhaupt für etwas zu schämen. Leichter gesagt als getan, schon gar, wenn der Vater in die Klasse stürmt und sichtlich nicht ganz bei sich ist. Es gibt, auch da ist Lafosse Realist, keine Heilung und keine Erlösung, nur ein Zusammenhalten, solange es geht; ein Aushalten der Lage, die keine Sicherheit bieten kann, was auch immer Damien sich und Amine und Leïla verspricht. Das bedingt offene Ende, das Lafosse findet, ist darum sehr konsequent. Man kann es nicht spoilern, denn die Bipolarität gehorcht keiner Katharsisdramaturgie. Das Leben geht weiter und kehrt in vertraute Bahnen zurück, aber nur, bis es wieder Grund zur Beunruhigung gibt.
Ekkehard Knörer
Der belgische Regisseur Joachim Lafosse erzählt in „Die Ruhelosen“ von einem Vater mit bipolarer Störung. Er tut das mit sensiblem Realismus.
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Mein Sohn und seine neue Geschäftsidee: Der Corona-Verkäufer - taz.de
Mein Sohn und seine neue Geschäftsidee: Der Corona-Verkäufer Mein Sohn Mehmet geht neuerdings morgens um 8 aus dem Haus und kommt spätabends mit einem Haufen Geld wieder. Was ist da los? Immun oder nicht? Covid-19-Antikörpertest der südkoreanischen Firma Boditech Med Foto: dpa Mein kommunistischer Sohn Mehmet hat selbst an diesen Corona-Tagen, wo die ganze Welt zu Hause gelangweilt rumsitzt, eine neue Geschäfts­idee entwickelt und schwimmt im Geld. Er ist der kapitalistischste Kommunist, den ich kenne. Nach seiner letzten grandiosen Idee bin ich selbstverständlich total gespannt, was der ewige Student schon wieder in seinem stillen Kämmerlein für eine Geldmaschine ausgebrütet hat? Letztes Jahr hatte er eine Briefwahl-Mitbenutzungszentrale gegründet. Er kaufte von politikmüden Eingeborenen ihre Briefwahlunterlagen für 22,50 Euro ein und verkaufte sie an Migranten ohne Wahlrecht weiter – für 45 Euro! Das Geschäft war ein Riesenerfolg. Wir mussten sogar für einige Wochen unten im Keller schlafen, weil unsere ganze Wohnung mit Briefwahl­unterlagen vollgestopft war. Diesmal befürchtet er offenbar Konkurrenz aus der eigenen Familie – er erwähnt seine neue Geschäftsidee mit keinem Wort. Er geht jeden Tag morgens um 8 Uhr mit einer schwarzen Aktentasche aus dem Haus und kommt spätabends mit einem Haufen Geld wieder zurück. Und wenn ich ihn danach frage, rennt er schnell weg, angeblich weil ich die Corona-Abstandsregeln nicht kenne. Am nächsten Tag hänge ich mich frühmorgens an seine Fersen. Was ich dann zu sehen bekomme, verschlägt mir die Sprache! Mehmet läuft von Tür zu Tür und kassiert Geld – einfach so! Erpresst er etwa die ganze Stadt? Sieht überhaupt nicht danach aus! Er wird jedes Mal total begeistert empfangen und im Überschwang der Gefühle pfeifen die Leute sogar auf alle Coronaregeln und küssen ihn mitten auf den Mund! Bei Allah, Mehmet ist denen wichtiger als ihr Leben! Ist er ein Internet-Star geworden? Hat er ein Corona-Gegenmittel erfunden? Beherrscht er die Kunst der Fern-Hypnose? Total neugierig klingele ich auch an zwei Türen, nachdem er umarmt, geküsst und mit viel Geld verabschiedet wurde – und werde sofort wie ’n Hund weggejagt! Wieder zu Hause frage ich seine Mutter, was ihr Sohn denn schon wieder im Schilde führt? „Ich weiß es nicht“, rätselt sie genauso wie ich. „Seit Tagen grüßt er mich nicht mal.“ „Ich weiß, warum“, schimpfe ich. „Weil der Hundesohn Angst hat, wir könnten Geld von ihm verlangen! Und genau das werde ich jetzt tun!“ Als Mehmet um Mitternacht nach Hause kommt, nehmen wir ihn in die Zange. „Junge, du kommst hier nicht weg, bevor du mit der ganzen Wahrheit rausrückst. Bist du etwa der neue Mafia-Boss? Kassierst du Schutzgelder?!“ „Quatsch! Als guter Kommunist befreie ich die Menschen von ihren Ketten. Ich stecke sie mit Corona an und werde dafür bestens bezahlt.“ „Wie bitte? Willst du uns für dumm verkaufen?“ „Das stimmt. Ich habe Corona und ich verkaufe meine Coronaviren. Die Leute sind es leid, sich monatelang zu verstecken. Sie wollen es endlich hinter sich bringen und ihr altes Leben weiterleben. Komm, lass dich auch küssen, Papa!“
Osman Engin
Mein Sohn Mehmet geht neuerdings morgens um 8 aus dem Haus und kommt spätabends mit einem Haufen Geld wieder. Was ist da los?
[ "Immunität", "Geschäftsmodell", "Satire", "Kolumne Alles getürkt", "Nord", "Serie", "taz", "tageszeitung" ]
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„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Schlechtes suspendieren - taz.de
„taz“ auf der Leipziger Buchmesse 2013: Schlechtes suspendieren Die Startheoretiker der Rebellion, das Duo Antonio Negri/ Michael Hardt schlagen wieder zu. In „Demokratie - Wofür wir kämpfen“ geht es ums Ganze. Hoffnung für die Demokratie? Bild: dpa Beide sind für linke und linksradikale Kräfte aus dem Kultur- und studentoiden Milieu seit vielen Jahren die wichtigsten Stichwortgeber - ihre, gemessen an Karl Marx, apokryphen Schriften zur grundsätzlichen Gesellschafts- und Staatsveränderung, also zur Hoffnung in und für die Revolution, genießen Auflagen in Höhen, von denen gewöhnlich-bürgerliche Buchclubs oft nur träumen können. Wer in den neunzigern und nuller Jahren seinen Negri, seinen Hardt nicht las, hatte nicht verdient, als gleichwertiger Rebell unter dem Himmel aller Volxbühnen der Republik ernstgenommen zu werden. Jetzt haben beide ein kleines Vademecum, ein Brevier des Aktuellen geschrieben. Es geht um Demokratie, um die Notwendigkeit, alle schlechten Verhältnisse zu suspendieren. Hardt und Negri schreiben auf wenigen Seiten sehr kompakt über Repression, Herrschaft (schlechte, weil seitens der Linken nicht innehabend), über Occupy und darüber, dass das, was es selbst in den westlichen Industrie- und Zivilisationsländern gibt, nicht als Demokratie begriffen werden darf. Ja, es fehlt überall an Demokratie - was Hardt und Negri allerdings nicht weiter begründen. Aber das dürfen sie ohnehin nicht, denn würden die theoretischen (und womöglich heilsgeschichtswissenschaftlichen) Wurzeln ihrer Sätze offenbar, erkennte man womöglich, dass sie luftig argumentieren, um nicht zu sagen: fragebedürftig. Michael Hardt, ein freundlicher, sehr sympathischer Mann aus den USA, ist momentan auf Europatournee mit seinem Buch - und auch auf der Leipziger Buchmesse am Stand des taz.studios. Michael Hardt/Antonio Negri: „Demokratie - Wofür wir kämpfen“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013, 130 Seiten, 12,90 Euro. Samstag, 16.3.2013, 15 Uhr im taz.studio: Der Autor Michael Hardt im Gespräch mit Jan Feddersen und Tania Martini.
Jan Feddersen
Die Startheoretiker der Rebellion, das Duo Antonio Negri/ Michael Hardt schlagen wieder zu. In „Demokratie - Wofür wir kämpfen“ geht es ums Ganze.
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Verfassungsschutz- Skandal in Brandenburg - taz.de
Verfassungsschutz- Skandal in Brandenburg ■ Kölner Bundesamt munitioniert Koalitionspartner FDP Berlin (taz) — Das Bundesland Brandenburg hat zwar noch keinen funktionierenden Verfassungsschutz, aber mit der tatkräftigen Hilfe des Kölner Bundesamtes bereits den ersten handfesten Geheimdienstskandal. Im ampelregierten Potsdam hat sich der Koalitionspartner FDP mit Unterlagen der Kölner Behörde munitionieren lassen — um damit den Kandidaten von Bündnis 90 für das Amt des Landesdatenschutzbeauftragten abzuschießen. Der Vorgang, der fatal an die Ausforschung und Diffamierung von Abgeordneten der Grünen Mitte der 80er Jahre erinnert, nahm seinen Anfang am 11. Oktober: Am Rande einer Veranstaltung in Berlin fragte die Potsdamer FDP-Sicherheitspolitikerin Rosemarie Fuchs den Präsidenten des Kölner Verfassungsschutzamtes, Eckart Werthebach, ob nicht möglicherweise Informationen über den früheren Abgeordneten der Grünen im Stuttgarter Landtag, Thilo Weichert, vorlägen. Nachdem sich die Koalition in Brandenburg vor wenigen Wochen darauf verständigt hatte, das Amt des Datenschutzbeauftragten mit einem Mitglied der Bürgerbewegung zu besetzen, war der 36jährige Jurist vom Bündnis als Kandidat vorgeschlagen und nach einer Anhörung von der SPD akzeptiert worden. Weichert ist derzeit Vizechef im gemeinsamen Ausschuß der Neuländer für ein Stasi-Unterlagen-Gesetz und Mitarbeiter von Bündnis 90/Grüne im sächsischen Landtag. Auch die FDP hatte ursprünglich eine Zusage signalisiert. Nur vier Tage nach der Anfrage ließ Kölns oberster Verfassungsschützer der Liberalen Fuchs ein 25seitiges Dossier zukommen, mit der Erkenntnis, Weichert verfolge möglicherweise linksextremistische Bestrebungen. Vorgehalten werden ihm darin Auszüge aus seinen Landtagsreden, neben der Teilnahme an Blockaden von Giftgas- Standorten soll er im Zusammenhang mit einem Hungerstreik der RAF-Gefangenen versucht haben, eine Solidaritätsgruppe zu initiieren. Den Potsdamer Behörden schien Werthebach zur Übermittlung seiner vertraulichen Depesche nicht recht trauen zu wollen: Die Unterlagen wurden an das Landesamt in Berlin via Fax übermittelt — von dort aus wurden sie per Kurier der Auftraggeberin überbracht. Die Übermittlung der Verfassungsschutzunterlagen wird von den Beteiligten nicht geleugnet — im Gegenteil, sie wird gerechtfertigt. Während SPD und Bündnis 90 an ihrem Kandidaten festhalten und als Konsequenz den Rücktritt von Werthebach verlangen, trat die Behörde selbst die Flucht nach vorne an. In einer Stellungnahme beteuert das Bundesamt, es sei nur „offen“ zugängliches Material verschickt worden. Zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sei die Behörde darüber hinaus ermächtigt, an öffentliche Stellen auch personenbezogene Daten weiterzuleiten. Die Abgeordnete Fuchs verschanzte sich hinter dem Argument, sie sei als stellvertretende Vorsitzende des Innenausschusses zu ihrem Auskunftsersuchen berechtigt. Weil aber der Datenschutzbeauftragte vom Landtag eingesetzt wird, hätten Erkenntnisse — wenn überhaupt— nur an den Landtagspräsidenten übermittelt werden dürfen, halten SPD und Bündnis 90 dagegen. Die Übermittlung an eine „Privatperson“ halten sie für „rechtswidrig“. Die innenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grüne, Ingrid Köppe, will die Vorgänge nun im Bundestag zur Sprache bringen. Unterstützung erhält die FPD- Politikerin Fuchs inzwischen aus den Reihen der CDU-Opposition im Landtag. Die Sichtweise von Pressesprecher Thomas Roloff: „Die Frage ist doch nicht, wie die FDP an die Unterlagen gekommen ist, sondern ob ein Mann wie Weichert als Datenschutzbeauftragter tragbar ist.“ Von einem Skandal könne dann nur geredet werden, wenn die SPD an dem Bündnis-90- Kandidaten festhalten wolle. Thilo Weichert hat die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als teilweise falsch und ihm unbekannt zurückgewiesen. Der 36jährige Jurist, der nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber dem Verfassungsschutz gemacht hat, vermutet, daß der Verfassungsschutz einen ausgewiesenen Kritiker als Datenschutzbeauftragten verhindern will. Zweifel an seiner Verfassungstreue dürften weniger das Motiv sein: So hat das für Weichert zuständige Stuttgarter Landesamt bereits am 18. Februar mitgeteilt, es gebe keine Unterlagen, die ein Eintreten Weicherts für die freiheitlich-rechtliche Grundordnung in Frage stellten. Wolfgang Gast
wolfgang gast
■ Kölner Bundesamt munitioniert Koalitionspartner FDP
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Debatte Nato: Erhöhte Risikofreude - taz.de
Debatte Nato: Erhöhte Risikofreude Regionales Verteidigungsbündnis oder globale Ordnungsmacht? Noch ist der Richtungsstreit zwischen Revisionisten und den USA nicht entschieden. Beim November-Gipfel in Lissabon will die Nato ihr neues strategisches Konzept verkünden. Bis dahin müssen die Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten überbrückt sein. Dieses Thema wird auch die Außen- und Verteidigungsminister beschäftigen, die diesen Donnerstag in Brüssel zusammenkommen. Bisher konkurrierten in der Debatte über die künftige Ausrichtung der Allianz zwei gegenläufige Denkmodelle. Zurück zu den Wurzeln der Nato als Regionalbündnis zum Schutz gegen äußere Bedrohung zieht es die eine Fraktion. Vorwärts auf dem Weg zur universalen Ordnungsmacht mit globalem Wirkungsanspruch strebt das alternative Modell. Beide Varianten überzeugen nicht. Europäische Revisionisten Das Vorgängerkonzept vom April 1999, mitten im Kosovokrieg verabschiedet, kreierte das Wortungetüm von den "nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen". Gemeint waren militärische Operationen jenseits des klassischen Verteidigungsauftrags und außerhalb der vertraglichen Bündnisgrenzen. Darin läge die Zukunft der Nato. Vorkehrungen gegen einen nicht mehr befürchteten Angriff auf das Bündnisgebiet traten in den Hintergrund. REINHARD MUTZwar bis 2006 geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Inzwischen ist er pensioniert. Die mittelost- und südosteuropäischen Regierungen möchten diese Rangfolge wieder umkehren. Sie fordern sichtbare Vorbereitungen auf einen bewaffneten Konflikt samt demonstrativer Krisenfallplanung, also vorverlegte alliierte Truppen plus gemeinsame Manöver. Würde die Nato diesem Wunsch nachkommen, müsste sie ihren Vorsatz, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren, wohl abschreiben. Zu deutlich dominiert hier das revisionistische Motiv. Aus der bisher nur rechtlich und politisch gezogenen Ostgrenze würde wieder eine militärisch befestigte Frontlinie. Wie im Kalten Krieg stünden sich westliche und russische Soldaten auf Sichtweite gegenüber. Der Kaukasuskrieg vor zwei Jahren kann als Warnung dienen. Augenblicklich eskalierte ein lokaler Sezessionskonflikt zur internationalen Großkrise. In Brüssel berieten damals die Botschafter der Allianz über die Entsendung der Nato-Response-Force. Wie nahe der Westen einem militärischen Zusammenstoß mit Russland war, lässt sich nur erahnen. Also doch als Aufgabenschwerpunkt die Krisenreaktionseinsätze, die der Ehrlichkeit halber besser bewaffnete Interventionen hießen? Mit ihnen hat man mittlerweile Erfahrungen gesammelt, vorwiegend schlechte. Schon die Stationierungsdauer in den Zielländern spricht für sich. In Afghanistan stehen alliierte Streitkräfte seit neun Jahren, im Kosovo seit elf, in Bosnien seit fünfzehn Jahren. Am Hindukusch ist die Hoffnung auf den militärischen Sieg verflogen. Auf dem Balkan kam viel mehr als Gewaltunterbindung nicht zustande. Bosnien und das Kosovo sind auf dem Papier souveräne Staaten, de facto aber immer noch Quasi-Protektorate. Wird Krisenbewältigung am langfristigen Ziel des selbsttragenden Friedens gemessen, hat sich das militärische Instrument als stumpfes Schwert erwiesen. 860 US-Militärbasen weltweit Will man wissen, wohin sich die Nato bewegt, muss man wissen, wohin die Führungsmacht tendiert. Zum Markenzeichen amerikanischer Auslandsaktivitäten wird zunehmend der verdeckte Kampf. Er kann auf ein weltumspannendes Netz überseeischer Stützpunkte zurückgreifen. Bemerkenswerte 860 Militärbasen unterhalten die USA, verteilt auf mehr als 90 Länder, die Hälfte davon erst während der Bush-Administration entstanden. Von dort aus operieren Spezialkräfte in derzeit 75 Staaten mal mit, meist aber ohne Wissen der betreffenden Regierungen. Betroffen von diesen Operationen sind neben Afghanistan und dem Irak Länder wie Somalia, Jemen, Saudi-Arabien und Iran. Der Auftrag lautet, so die New York Times unter Berufung auf das zuständige Einsatzkommando in Florida, militante Gruppen "zu unterwandern, zu stören, abzuwehren oder zu vernichten". Die Verstärkung, Ausrüstung und der Aufbau einer Infrastruktur für die unkonventionellen Antiterrorkrieger machen inzwischen den größten Wachstumsfaktor im amerikanischen Streitkräftehaushalt aus. Nato attackiert Atommacht Dieser Paradigmenwechsel führt dazu, dass sich das Risikobewusstsein zunehmend verliert. Die Fähigkeit zu unterscheiden, welche Fragen eine militärische Antwort vertragen und welche nicht, nimmt ab. Angriffe der CIA mit unbemannten Flugkörpern auf grenznahe Ziele in Pakistan sind zur Routine geworden, als hätte der Amtswechsel im Weißen Haus gar nicht stattgefunden. Die Anzeichen mehren sich, dass neuerdings auch andere Mitgliedstaaten daran mitwirken. Im Klartext: Das Bündnis attackiert derzeit eine Atommacht. Auf derselben Linie liegt der Hang der Nato, immer neue Tätigkeitsfelder zu usurpieren - erst Energiesicherheit, nun Cyber-Sicherheit. Was, bitte, muss man darunter verstehen? Sollen Kommandokräfte ausschwärmen, wenn das Öl aus den Pipelines wieder einmal nur tröpfelt? Oder Killerdrohnen abheben, um lästige Hacker außer Gefecht zu setzen? Und welcher Einfall käme dann als Nächstes - vielleicht die Währungssicherheit, die "verteidigt" werden müsste, wenn sich kommerzielle Konkurrenten am Weltmarkt erdreisten, ihre Exportgüter durch niedrige Wechselkurse zu subventionieren? Die Nato ist inzwischen 61 Jahre alt. Die Verantwortlichen sollten wieder einmal den Nordatlantikvertrag zur Hand nehmen, die Gründungsurkunde ihrer Wertegemeinschaft, und die UNO-Charta dagegenhalten. Eine überraschende Erkenntnis wäre ihnen gewiss: Beide Dokumente sind aus demselben Stoff, sie sprechen dieselbe Sprache. Denn beide legen die Priorität auf die zivile vor der militärischen Konfliktlösung und binden das Überschreiten der Gewaltschwelle an strikte Bedingungen. In Zeiten globaler Terrordrohung - sei es durch Selbstmordtäter, sei es durch "Schurkenstaaten" - ein überholter Standpunkt, wenden Kritiker ein. Sie mögen sich umsehen in der Konfliktrealität von heute und fragen, ob der schnelle Griff zu den Waffen die tückischen neuen Gewaltformen wirklich bezwingt. Oder nicht vielmehr erst schürt.
Reinhard Mutz
Regionales Verteidigungsbündnis oder globale Ordnungsmacht? Noch ist der Richtungsstreit zwischen Revisionisten und den USA nicht entschieden.
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Stichwahl in der Türkei: Wahlkampf gegen Geflüchtete - taz.de
Stichwahl in der Türkei: Wahlkampf gegen Geflüchtete Auch die türkische Opposition hetzt gegen Geflüchtete. Kemal Kılıçdaroğlu hofft auf diese Weise, in der Stichwahl besser abzuschneiden. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu will auch syrische Geflüchtete loswerden Foto: Thomas Trutschel/imago Können in einem undemokratisch regierten Land demokratische Wahlen abgehalten werden? Bei der am nächsten Wochenende stattfindenden Stichwahl um die Präsidentschaft in der Türkei gibt es immer noch Hoffnungen auf einen Regierungswechsel – auch wenn die Voraussetzungen für die Kandidaten alles andere als gleich sind. Im April sollen laut einer Erhebung im Staatsfernsehen TRT dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rund 32 Stunden Sendezeit gewidmet worden sein – dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dagegen 32 Minuten. Dass die Pressefreiheit im Land seit Jahren schon dramatisch eingeschränkt wird, hat zur Folge, dass es zudem kaum Zugänge gibt zu kritischen, faktenbasierten Nachrichten in der eigenen Sprache über die politische Realität im Land. Wie überall auf der Welt wirken sich natürlich auch in der Türkei vor allem Social-Media-Bubbles auf das Wahlverhalten vieler Bürger_innen aus. Doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern existiert so gut wie keine unabhängige Presse mehr, an der Fake News und Propaganda abgeglichen werden könnten. Sprich: Fake News sind die News. Kritische Berichterstattung ist dagegen – sobald sie ein größeres Publikum erreicht – ein Fall fürs Gericht. Dass Propaganda sich am besten durch dokumentierte Zahlen und Fakten zerlegen lässt, daran glaubt in der Türkei also niemand mehr. Und so verstrickt sich auch die Opposition zunehmend in frisierten Wahrheiten im Zuge plumper Wahlversprechen, die bei der Stichwahl am 28. Mai ins Gewicht fallen könnten. In einer Rede am Donnerstag etwa versprach Kı­lıç­dar­oğlu, er werde, sollte er im zweiten Wahlgang gewählt werden, „alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt.“ Im Satz vorher behauptete er, Erdoğan habe 10 Millionen Geflüchtete ins Land gelassen, eine Zahl, die die ohnehin rassistische Stimmung in der Gesellschaft weiter anheizen soll. Fakt ist: Die ­UNHCR geht von derzeit 3,9 Millionen Geflüchteten aus, die in der Türkei leben sollen, allein 3,6 Millionen von ihnen aus dem Nachbarland Syrien. Sicherlich wird es eine Dunkelziffer undokumentierter Geflüchteter geben, 10 Millionen erscheinen aber unrealistisch. Seit Jahren schon wendet sich der Unmut der Bevölkerung über Wirtschaftskrise, Korruption und Arbeitslosigkeit mehr gegen geflüchtete Menschen als gegen die politisch Verantwortlichen für diese Probleme. Die Rhetorik der Opposition verbindet nun das Potenzial dieser rassistischen Grundstimmung mit der Kritik an der AKP-Regierung: Erdoğan hat euch die Flüchtlinge gebracht, ich werde euch von ihnen befreien, geht der Duktus. Es geht um 5,1 Prozent Man mag das als letzte erfolgversprechende Strategie erkennen, im Kampf um den 5,1-Prozent-Stimmenanteil des rechtsextremen Kandidaten Sinan Oğan aus dem ersten Wahlgang. Dieser wird bei der Stichwahl neu verteilt und entscheidend sein. Allen Beteiligten ist klar: Jetzt wird es hässlich. Kılıçdaroğlu braucht im Grunde jede einzelne Stimme, die im ersten Wahlgang an den drittstärksten Kandidaten ging, um noch gewinnen zu können. Zugleich ist die Antiflüchtlingsparole nicht einmal ein Kurswechsel, wo doch ultranationalistische bis rechtsextreme Flügel in beiden Allianzen einflussreich sind. Dass Kılıçdaroğlu zugleich auf die Wählerstimmen der prokurdischen Linken Yeşil Sol (ehemals HDP) zählt, mag den Rechten ein Dorn im Auge sein, aber in der Hoffnung, Erdoğan abzuwählen, das geringere Übel. Hass auf schutzbedürftige Menschen aus Syrien wiederum erscheint als einziger Kitt, der fast alle politischen Lager der Türkei zusammenhält. Und so betreibt eben auch eine sich als „progressive“ verstehende Opposition Hetze auf Geflüchtete, um deren Lebensbedingungen es unter Erdoğan sowieso sehr schlecht steht. Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern vielleicht die einzige Möglichkeit, bei der Stichwahl besser abzuschneiden.
Fatma Aydemir
Auch die türkische Opposition hetzt gegen Geflüchtete. Kemal Kılıçdaroğlu hofft auf diese Weise, in der Stichwahl besser abzuschneiden.
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NS-Kriegsverbrecher-Prozess: Demjanjuk entgeht der Ausweisung - taz.de
NS-Kriegsverbrecher-Prozess: Demjanjuk entgeht der Ausweisung Der mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher bezichtigt deutsche Behörden der "Folter", wenn sie ihn nach Deutschland einfliegen. Nun wollen US-Behörden die Ausweisung erneut überprüfen. Demjanjuk wird zur Last gelegt, Beihilfe zum Mord in mindestens 29.000 Fällen begangen zu haben. Bild: ap BERLIN taz Die Staatsanwaltschaft München hat am Montag einen Termin weniger. Sie wird den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk nicht wie geplant am Flughafen in Empfang nehmen und ihm den Haftbefehl eröffnen können. Denn Demjanjuk wird nicht kommen. Ein Richter im US-Bundesstaat Virginia ordnete in letzter Minute nach einem Eilantrag des 89-Jährigen eine Überprüfung seiner Ausweisung an. Demjanjuks Anwalt gab an, der Flug nach Deutschland würde ihn "schweren körperlichen und geistigen Schmerzen aussetzen, die nach einer vernünftigen Definition dieses Ausdrucks eindeutig auf Folter hinauslaufen". Demjanjuk soll an einer Vorform von Leukämie leiden. Ob und wann der pensionierten Automechaniker aus Cleveland, Ohio, nun nach Deutschland ausgeliefert wird, bleibt zunächst unklar. Dem gebürtigen Ukrainer John (Iwan) Demjanjuk wird zur Last gelegt, im Nazi-Vernichtungslager Sobibor im deutsch besetzten Polen 1943 Beihilfe zum Mord in mindestens 29.000 Fällen begangen zu haben. Sobibor war eines von drei Lagern, die die SS im Zuge der "Aktion Reinhard" 1942 errichtete. Dort wurden die Juden gleich nach ihrer Ankunft zu Tausenden vergast. Demjanjuk soll in dem Vernichtungslager als Wachmann eingesetzt worden sein. Das geht aus seinem damaligen Dienstausweis hervor. Letzte Zweifel an dessen Echtheit beseitigte jüngst eine Untersuchung des Bundeskriminalamts. Zeugenaussagen anderer Wachmänner aus früheren Verfahren in der Sowjetunion bestätigen Demjanjuks Einsatz. Einzelne Mordtaten können ihm offenbar nicht nachgewiesen werden. Der Ukrainer war ein Rädchen im Getriebe des Massenmords, einer von tausenden "fremdvölkischen" Männern, die der SS zu Diensten standen. Kaum einer von ihnen ist für seine Taten zur Rechenschaft gezogen worden. Ausgebildet zum Wachmann wurde Demjanjuk im Lager Trawniki. Bevor ihn die Nazis am 27. März 1943 nach Sobibor schickten, arbeitete er im KZ Majdanek. Später ist sein Einsatz im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz durch Akten belegt. Nach Kriegsende tauchte er in einem Lager für Displaced Persons in Landshut unter, bevor er 1952 in die USA emigrieren konnte. Schon einmal stand John Demjanjuk vor Gericht. In einem spektakulären Verfahren in Jerusalem wurde er vor elf Jahren zum Tode verurteilt - wegen bestialisch begangener Morde im Vernichtungslager Treblinka, die ihm dem Namen "Iwan der Schreckliche" einbrachten. Das damalige Verfahren beruhte vor allem auf Zeugenaussagen von Überlebenden. Schon damals tauchten Zweifel auf, ob Demjanjuk gleichzeitig in Sobibor und Treblinka eingesetzt worden sein könnte. Vor der Berufungsverhandlung fanden sich neue Indizien aus der Sowjetunion, nach denen "Iwan der Schreckliche" in Wahrheit ein Iwan Marchenko gewesen sei. Demjanjuk musste freigesprochen werden. Der aktuelle Haftbefehl ist Ergebnis akribischer Untersuchungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Es könnte nicht der letzte sein. Der Spiegel berichtet, dass derzeit ein Vorermittlungsverfahren gegen einen in Michigan, USA, lebenden ehemaligen ukrainischen Hilfspolizisten läuft, der eigenhändig Juden ermordet haben soll. Untersucht wird ferner die Vita eines früheren Slowaken, der in Buchenwald und Auschwitz eingesetzt wurde, und eines Exlitauers, der bei der litauischen Geheimpolizei mit den Nazis kollaborierte.
K. Hillenbrand
Der mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher bezichtigt deutsche Behörden der "Folter", wenn sie ihn nach Deutschland einfliegen. Nun wollen US-Behörden die Ausweisung erneut überprüfen.
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Der Siegesflug der Falken im Weißen Haus - taz.de
Der Siegesflug der Falken im Weißen Haus In den USA setzen neue Sicherheitsberater eine harte Iran-Politik durch. Und kaum hat Trump das Atomabkommen aufgekündigt, bringen sich Israel und Saudi-Arabien mit Drohgebärden in Stellung. Auch im Iran brennt das Sternenbanner Stolz auf sein Werk: Donald Trump hat seinen Namen geschrieben Foto: Evan Vucci/dpa Aus New York Dorothea Hahn Zwei Tage nachdem Donald Trump einseitig das internatio­nale Iran-Atomabkommen aufgekündigt hat, konzentriert das Weiße Haus sich auf einen weit entfernten anderen Krisenschauplatz, Nordkorea. Hier feiern Trump und seine Anhänger diplomatische Erfolge und wittern schon den Friedensnobelpreis. Die öffentliche Eskalation gegenüber Teheran hingegen überlässt Trump den Regierungen der beiden einzigen Länder, die ihn zu seiner Iran-Politik beglückwünscht haben: Israel und Saudi-Arabien. Doch im Hintergrund diskutiert Washington bereits die Verschärfung seiner Sanktionen gegen den Iran „möglicherweise schon in der nächsten Woche“, so Sprecherin Sarah Sanders, sowie eine Ausweitung des Drucks auch auf europäische Länder, die ihren Handel mit Teheran fortsetzen (siehe unten). In einer unmissverständlichen Erklärung stellt sich das Weiße Haus hinter die massiven israelischen Bombardements in Syrien. „Wir unterstützen das israelische Recht auf Selbstverteidigung“, heißt es in der Erklärung, die zugleich „iranische Provokationen“ verantwortlich macht. Am selben Morgen verlautet aus Riad, dass Saudi-Arabien seinerseits mit der Entwicklung einer Atombombe reagieren werde, falls der Iran zu seinem Atomprogramm zurückkehre. Auch das passt gut in den Aufbau der neuen Washingtoner Drohpositionen. Das ist das Iran-Abkommen2016 tritt das Abkommen zwischen dem Iran und den sechs Garantiemächten USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland in Kraft. Es verpflichtet den Iran, auf Atomwaffen zu verzichten. Dafür werden die Sanktionen gegen die Islamische Republik gelockert.Kontrollinstanz ist die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), die sicherstellen soll, dass das Atomprogramm von Iran nur noch zivilen Zwecken dient. Die Behörde berichtete 2015, dass es seit 2009 keine Hinweise auf einen Bruch des Abkommens vonseiten Irans gegeben hätte. Trump konnte das Iran-Abkommen dank einer Routine aufkündigen, die so alt ist wie das Abkommen selbst. Sein Vorgänger, Präsident Barack Obama, hatte es im Jahr 2015 vermieden, das Iran-Abkommen als internationalen Vertrag einzuführen. Denn um einen solchen in Kraft zu setzen, hätte er eine Zweidrittelmehrheit im Senat gebraucht. Diese Mehrheit hatte er nicht. Zwar war schon die Regierung seines republikanischen Amtsvorgängers, George W. Bush, an der Anbahnung der Iran-Gespräche beteiligt gewesen. Aber seit Obamas Amtsantritt begegneten ihm die RepublikanerInnen im Kongress mit einer feindseligen Blockadehaltung gegen sämtliche politische Vorhaben. Auch einige demokratische Kongressabgeordnete sprachen sich dagegen aus. Um das Abkommen stärker zu kontrollieren, brachten ein Republikaner und ein Demokrat das Rezertifizierungsgesetz in den Kongress ein, das den Präsidenten – und seinen Nachfolger – verpflichtete, alle drei Monate erneut zu prüfen, ob der Iran sich weiterhin an die Bedingungen des Abkommens hält. Trump hat das Iran-Abkommen schon in seinem Wahlkampf heftig bekämpft. Damals wie heute redet er darüber, als handele es sich um ein bilaterales Versagen von Oba­ma – und nicht um ein internationales Abkommen, zu dessen anderen Unterzeichnern die engsten Verbündeten der USA gehören, die alle weiter an dem Abkommen festhalten. Nach seinem Amtsantritt hat Trump vor jeder neuen Rezertifizierung des Abkommen ein internationales Psychodrama provoziert, aber letztlich widerstrebend daran festgehalten. Vor jeder Rezerti-fizierung hat Trump ein internationales Psychodrama provoziert Das galt, solange er noch ein Team im Nationalen Sicherheitsrat und im Außenministerium hatte, das ihn zum Festhalten am Iran-Abkommen drängte. Doch seit dem letzten Rezertifizierungstermin hat Trump die Mahner durch Falken ersetzt: Sicherheitsberater John Bolton und Außenminister Mike Pompeo sind beide erklärte Gegner des Iran-Abkommens. Verteidigungsminister James Mattis, der in dem Iran-Abkommen das kleinere Übel sieht, ist damit in die Minderheit geraten. Seit Trumps Ausstieg aus dem Iran-Abkommen sind die Bilder einer brennenden US-Fahne in Teheran vielfach über die US-Fernseher geflimmert. Diese Bilder und die Rufe nach „Tod den USA“ schüren die Stimmung für Trump. Die Demonstrationen gegen Trumps gefährliche Iran-Politik sind hingegen winzig. Die Frauengruppe Code­Pink versucht es anders. „Wir entschuldigen uns bei dem iranischen Volk“, lautet eine Petition, die sie in der Nacht zu Donnerstag ins Netz gestellt hat. Bis Redaktionsschluss der taz haben knapp 5.000 Personen unterschrieben.
Dorothea Hahn
In den USA setzen neue Sicherheitsberater eine harte Iran-Politik durch. Und kaum hat Trump das Atomabkommen aufgekündigt, bringen sich Israel und Saudi-Arabien mit Drohgebärden in Stellung. Auch im Iran brennt das Sternenbanner
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Deutsches Geld für Deutsche - taz.de
Deutsches Geld für Deutsche Ein Teil der Gelder für die Arbeit mit den Herero fließt in die Taschen der deutschen Entwicklungshelfer „Ein solcher Umgang mit Geldern ist gegenüber den Steuerzahlern nicht zu rechtfertigen“ OKAKARARA taz ■ Die Bühne des Kommunalen Kultur- und Tourismuszentrums Okakarara war noch nicht ganz fertig gestellt, als Bundesentwicklungsministerin Wieczorek-Zeul vor einem Jahr dort um Entschuldigung für den deutschen Völkermord an den Herero bat. In Windeseile mit Geldern des Auswärtigen Amtes, der für die Ausführung staatlicher deutscher Entwicklungshilfeprojekte zuständigen GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) und des DED (Deutscher Entwicklungsdienst) errichtet, ist die Bühne inzwischen überdacht, es finden Theatergastspiele und Filmvorführungen statt. Organisiert wird das im Wesentlichen von der DED-Entwicklungshelferin Almut Hielscher, die mit einem jungen Herero das Kulturzentrum leitet. Hielscher, langjährige Spiegel-Korrespondentin, wunderte sich vor einigen Monaten über den Verwaltungsaufwand der GTZ. Sie fand es überhöht, dass diese für die Abwicklung des Kulturprogramms in Okakarara ein Fünftel der vom Bundesentwicklungsministerium bewilligten 200.000 Euro kassiert – noch dazu, wo der größte Teil der Arbeit vom DED geleistet wird. „Ein solcher Umgang mit Geldern, die der Aussöhnung dienen sollen, [ist] weder gegenüber den Herero noch gegenüber den deutschen Steuerzahlern zu rechtfertigen“, erklärte Almut Hielscher in einem Antrag an die jährliche Vollversammlung des DED. Sie forderte, einen neuen, günstigeren Vertrag auszuhandeln „mit dem Ziel, dass ein möglichst großer Teil der vom BMZ bereitgestellten Summe ausschließlich der Kulturarbeit des Okakarara-Projekts zugute kommt“. Überraschend fand der Antrag keine Mehrheit. Und weder die Landesdirektionen von GTZ und DED noch der deutsche Botschafter wollten Fragen der taz nach der Höhe des GTZ-Verwaltungskostenanteils beantworten. Von der GTZ-Zentrale in Eschborn kam schließlich die Antwort, von 20 Prozent sei „niemals“ die Rede gewesen. Er liege bei „9 bis 11 Prozent“. Die so genannten Gemeinkostenzuschläge der GTZ und anderer Entwicklungshilfeorganisationen sind seit Jahren umstritten. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob es gerechtfertigt ist, durch solche Zuschläge fette Expertengehälter zu finanzieren. RHH
RHH
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Беларусь и война в Украине: На стороне Украины - taz.de
Беларусь и война в Украине: На стороне Украины В Беларуси разные позиции по войне в Украине: мнение белорусов – и мнение лукашистов. Алекса́ндр Григо́рьевич Лукаше́нко Foto: Sergei Shelega/ITAR-TASS/imago Беларусы против войны. В войну ввязался не белорусский народ, а вполне конкретный человек. К несчастью, у этого конкретного человека есть армия. Летом 2020 мы еще надеялись, что армия с народом. Но увы, она очень определенно против народа. Krieg und Frieden – ein TagebuchDie taz glaubt an das Recht auf Information. Damit möglichst viele Menschen von den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine lesen können, veröffentlich sie die Texte der Kolumne „Krieg und Frieden“ auch auf Russisch. Hier finden sie die Kolumne auf Deutsch. С 2020 у нас ежедневные задержания, сроки на годы ни за что и обыски, после которых квартиру проще сжечь, чем восстановить. Так что армия у нас – личная охрана одного конкретного безумного социопата, который даже не является нашим президентом. И поэтому мне обидно слышать от друзей, что убежавших в другие страны белорусов дискриминируют. Им отказывают в аренде жилья, в обслуживании, им говорят: „Вы – агрессоры!“Поймите, мы бежим, потому что нас второй год уже изнутри убивают. Те, кто уехал, сейчас собирают лекарства, одежду и одеяла и уже отправили несколько таких грузов-карго в Украину. Мы ведем партизанскую войну. Белорусы, под покровом ночи и страхом попасть в тюрьму, уже сделали диверсию – испортили участок железной дороги на юге страны, чтобы российские танки не смогли там проехать. В Telegram-канале на 27000 человек публикуются поминутно данные от людей, живущих около военных баз, о взлетевших российских самолетах и ракетах. Меня часто спрашивают: „Янка, почему ты до сих пор в Беларуси?“ Потому что я вижу какую пользу для мира я могу оказать, оставаясь тут. В том числе этим текстом. И не я должна уезжать отсюда… В соцсетях в первые же дни войны белорусы писали на 4 языках, включая немецкий: „Ich spreche mich dagegen aus, dass das Land meines Heimatlandes, der Republik Belarus, für eine Aggression gegen das brüderliche Volk der Ukraine genutzt wird!“ Пожалуйста, разделяйте нас: есть белорусы, а есть лукашисты! Белорусы хотят остановить это безумие. А лукашисты – возглавить его. Но есть интересный момент – Лукашенко пока не вводит свою армию в Украину, не только из-за страха стать изгоем для мирового сообщества, но и потому, что белорусские солдаты и офицеры массово отказываются воевать. Большинство рядового состава белорусских частей, которых готовили к отправке в Украину, настроены против участия в войне. Офицеры докладывают в Генеральный штаб ВС РБ, что в случае перехода границы жизнь офицеров будет в огромной опасности, потому что солдаты поднимут оружие против них. Также прогнозируется массовая сдача в плен белорусских военнослужащих. Я лично знаю белорусов, которые сейчас в добровольческом отряде, сражаются на стороне Украины. К сожалению, один наш прекрасный парень уже погиб под Киевом. Но знаете что эти ребята говорят? „Мы наведем тут порядок, а потом все вместе с украинцами-однополчанами вернемся и восстановим справедливость в Беларуси!“
Janka Belarus
В Беларуси разные позиции по войне в Украине: мнение белорусов – и мнение лукашистов.
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Experte über „Demokratie leben“: „Die Probleme sind gewachsen“ - taz.de
Experte über „Demokratie leben“: „Die Probleme sind gewachsen“ Der Bund plant erneut 115,5 Millionen Euro für demokratiefördernde Projekte. Das ist zu wenig, sagt Josef Blank von der Gesellschaft für Demokratiepädagogik. Für Demokratie, gegen rechte Hetze: auf der Unteilbar-Demo im August in Dresden Foto: Robert Michael taz am wochenende: Herr Blank, der Etat der Bundesregierung für demokratiefördernde Projekte bleibt unverändert. Im kommenden Jahr sind 115,5 Millionen Euro für das Programm „Demokratie leben“ eingeplant. Warum ist das immer noch zu wenig? Josef Blank: Weil die Herausforderungen und Probleme, vor denen wir stehen, im gleichen Zeitraum in ungleich größerem Maße angewachsen sind. Wir haben ein gesellschaftliches Klima, in dem sich rechtes Gedankengut und Alltagsrassismus bis in Schulen und Bildungseinrichtungen hinein massiv verstärkt haben, dazu kommen neue Themen wie Onlinemobbing und Hate Speech. Deswegen sind alle Organi­sa­tio­nen viel mehr Anfragen konfrontiert, zum Teil mit doppelt so vielen wie früher. Der Mittelzuwachs von „Demokratie leben“ reicht einfach nicht aus. Wirken sich Zäsuren wie der rechtsextremistische und antisemitische Anschlag in Halle auf Förderstrukturen aus? Zäsuren führen zwar dazu, dass es kurzfristig eine intensivere Debatte in Politik und Gesellschaft zu der Frage gibt, was man langfristig gegen die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas tun muss. Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit dann abebbt, verschwinden diese Debatten aber auch schnell wieder. Wie kann eine nachhaltigere Demokratieförderung aussehen? Sie bräuchte vor allem langfristige Strukturen. Momentan werden Projekte zeitlich begrenzt gefördert, eine Folgeförderung ist nur möglich, wenn die Projekte deutlich umgestaltet werden. Das heißt: Wir haben eine Förderstruktur, in der gute Projekte entwickelt und erprobt werden, und wenn sie funktionieren und man auch weiß, dass sie funktionieren, muss man sie wieder verändern. Und auf struktureller Ebene? im Interview:Josef Blank33, ist geschäfts­führender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. Brauchen wir auch eine Förderung von Organisationen und Strukturen. Weil die Mitarbeitenden bei der Projektförderung nur für dieses eine Projekt arbeiten dürfen, haben alle Organisationen große Probleme, das Personal zu finanzieren, das darüber hinaus notwendig ist, um neue Projekte zu entwickeln und die bestehenden zu verwalten. Das ist eine dauerhafte Mangelwirtschaft. Eine der Neuerungen von „Demokratie leben“ ist die Einführung sogenannter Partnerschaften für Demokratie, bei denen das ehrenamtliche Engagement von Bürgerinnen und Bürgern gefördert wird. Das ist unglaublich wichtig für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, ersetzt aber nicht ein professionelles, hauptamtliches und dauerhaftes Engagement von Expertinnen und Experten. Eigentlich könnten sich diese beiden Förderbereiche wunderbar ergänzen, momentan führt es aber leider dazu, dass zwar viele punk­tuel­le Projekte gestärkt werden, aber der hauptamtliche Einsatz für die Demokratieförderung geschwächt wird. Viele Organisationen kritisieren auch die geplante Verteilung der Gelder. Anstatt an Bund und Länder soll künftig mehr Geld an die Kommunen gehen. Welche Folgen könnte das haben? Über die Vergabe dieser Fördertöpfe entscheidet ein Begleitausschuss in der Kommune. Gut an „Demokratie leben“ ist, dass dieser Ausschuss überwiegend zivilgesellschaftlich besetzt ist. Aber nichtsdestotrotz sind dort auch ­Kommunalpolitikerinnen und -politiker eingebunden. An vielen Orten sehen wir schon jetzt, dass es eine Angst davor gibt, die AfD gegen sich aufzubringen. Die große Gefahr ist: Wenn das gesellschaftliche Klima in einer Kommune schon kaputtgegangen ist, werden auch Förderentscheidungen ängstlich getroffen. Rassismus und Antisemitismus haben sich modernisiert und verbreiten sich nicht zuletzt durch die digitale Vernetzung. Muss sich auch die Demokratieförderung modernisieren? Auf jeden Fall. Was wir brauchen, ist eine Struktur, in der wir ausprobieren, was funktioniert – und dann die Möglichkeit, diese erfolgreichen Projekte in die Breite tragen zu können. In meinem Hauptarbeitsfeld Schule haben wir sehr viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die gute Demokratiearbeit machen. Aber das sind eben nur die, die sich selbst um Weiterbildungen kümmern. Ob ein Kind in der Schule tatsächlich Demokratie lernen und leben kann, hängt also vom Zufall ab. Um die Demokratie flächendeckend zu fördern, brauchen wir also eine staatlich sichergestellte Demokratiearbeit. taz am wochenende Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Was braucht es noch? Wir müssen unsere Methoden und Projektansätze modernisieren, stärker in den digitalen Raum gehen und auf Dialogarbeit setzen. Und wir brauchen Fortbildungsinitiativen, müssen neue Zielgruppen erschließen. Pädagoginnen und Pädagogen müssen lernen, wie sie mit demokratiefeindlichen Äußerungen und Handlungen umgehen. Eine ­Mathelehrerin kann heute nicht mehr sagen: Mir ist es egal, wenn sich ein Schüler rassistisch äußert oder den Hitlergruß zeigt. Das ist nicht mein Fachgebiet. Auch von diesen Lehrerinnen und Lehrern ist Grundrechteklarheit und ein Eintreten für die Grundwerte gefragt. Sie haben das aber in ihrer Ausbildung nie gelernt, höchstens, wenn sie Politik unterrichten. Die Demokratieförderungen kann nicht mehr nur Aufgabe von Spezialisten sein, sondern muss Dauer­aufgabe von allen Pädagoginnen und Pädagogen in allen Bildungseinrichtungen werden. Seit zwei Jahren kämpfen einige Politiker*innen für ein Demokratiefördergesetz. Heiße Luft oder Hoffnungsschimmer? Wenn mit dem Demokratiefördergesetz tatsächlich eine langfristige Finanzierung von Projekten und Strukturen möglich wird und wir endlich aus diesem Teufelskreis von zeitlich begrenzter Projektförderung ausbrechen können, dann wäre das ein wichtiger Meilenstein für die Demokratiearbeit.
Pia Stendera
Der Bund plant erneut 115,5 Millionen Euro für demokratiefördernde Projekte. Das ist zu wenig, sagt Josef Blank von der Gesellschaft für Demokratiepädagogik.
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Und es ist alles wahr - taz.de
Und es ist alles wahr ■ Prag, die Kleinseite, der Schmerz: „Rasierklingen“ von Zdeněk Tyc Ein junger, tschechischer Regisseur: wie sympathisch. Die Region unterhalb der ost- westdeutschen Linie wird, nach Vera Chytilova' oder Jir'i Menzel, zwar nicht mehr als cineastische Peripherie abgetan, aber wohl immer noch nur von Leuten mit „special interest“ zur Kenntnis genommen. Schade, denn dort passiert etwas, wenn auch nicht ganz so flott. Zdeněk Tyc, schlaksig und höchstens dreißig, hat fünf Jahre gebraucht, um Gelder für seinen Film „Žiletky“ aufzutreiben. „Žiletky“ entstand in französischer Koproduktion und beginnt mit den Worten, die Tycs Produktionsfirma den im Tschechischen nicht ganz so umständlichen Namen gaben — „...Und es ist alles wahr“. Andrej, ein junger Prager Bohemièn, liebt die Christina, verführt aus Unglück eine andere, Vera, trinkt und irrt durch Prag, dort, wo es am wunderbarsten ist. Die Prager Kleinseite und die Gassen um den Altmarkt, Höfe, Treppen, Arkaden leuchtet Tyc ein wenig in expressionistischer Manier aus, selbst Dali läßt von Ferne grüßen. Aber wer wären wir, dem Newcomer das anzulasten — er hat sein Handwerk gelernt. Solange Andrej liebt, ist das Leben bunt, alleingelassen verfällt er in schwarz- weiße Depressionen, und dann muß er zur Armee. Hier beginnt Tycs Film eigentlich. Schikanen, Andrej wird, wie die anderen Soldaten, vom Menschen zum Stück „Hühnerscheiße“ degradiert. Christina verlangt Unmögliches von dem Mann — er (der Armist!) soll auf der Stelle mit ihr fortgehen. Andrej geht es schlecht, der Winter zieht in sein Herz. In eindeutiger Absicht ersteigt er einen sehr hohen Schornstein, wird gerettet, Psychiatrie. Die ist nicht besser als die Armee, nur eine andere Variante von mißbrauchter Macht. „Rasierklingen“ ist kein einfacher, auch kein „schöner“ Film. Man merkt ihm an, daß der Regisseur jemanden Empfindsames, vielleicht einen Freund, vielleicht ein Stückchen von sich selbst, erklären und all das vor dem Vergessen retten wollte, was eine dünne Haut ausbluten läßt. Tyc hat auf wahre Begebenheiten zurückgegriffen und offenbar sein ganzes Herz in die Sache gelegt. Die Unausgewogenheit in den Mitteln macht dieses Wissen verständlicher. Lange, unendlich lange hält die Kamera auf den am Schornstein klebenden Andrej, saugt sich in der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses fest. Tyc hat recht mit diesem stummen Pathos, hinter dem die pure Härte zum Vorschein kommt. Auf andere Art klischiert ist die Schönheit von Christina, ihre slawischen Wangenknochen, ihre Locken, ihre Beine — es ist der Kontrast von Realität und Traum im Leben Andrejs. Letztlich macht ihn beides fertig. Das Ende — ein lädiertes Aussteiger-Arkadien, wie es tatsächlich gelebt wird — zeigt einen einsamen Schäfer. Der Film ist es wert. Anke Westphal „Žiletky“. R: Zdeněk Tyc. Tschechische Republik 1994, 110 Minuten. (Forum)
Anke Westphal
■ Prag, die Kleinseite, der Schmerz: „Rasierklingen“ von Zdeněk Tyc
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Das Weinviertel - taz.de
Das Weinviertel Das Weinviertel hat ein Image als Massenproduzent, es ist das größte Weingebiet Österreichs, 16.000 Hektar Rebland werden bewirtschaftet. Für die beschaulichen österreichischen Verhältnisse ist damit das Weinviertel von der Größe her ein Gigant. Mehr als 50 Prozent sind mit der Sorte Grüner Veltliner bepflanzt. Und die Erträge sind hoch, das Gros der Winzer setzt auf Masse. Aber in den letzten zehn Jahren hat ein Umdenken im Weinviertel begonnen. Die Dynamik ist stark. Etwa ein Dutzend Spitzenbetriebe gibt es momentan, Tendenz steigend. TE
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193. -200. Tag Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Befehlsgewalt oder nicht? - taz.de
193. -200. Tag Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Befehlsgewalt oder nicht? Das OLG Stuttgart bezweifelt, dass FDLR-Präsident Murwanashyaka aus Deutschland heraus Kriegsverbrechen im Kongo hätte verhindern können. „Damit wir alle Helden werden“: Murwanashyakas Osterbotschaft an die FDLR. Bild: ap BERLIN/STUTTGART taz | Das hat es bisher im Verfahren gegen Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni, die beiden in Stuttgart angeklagten politischen Führer der ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) noch nicht gegeben: Zwei komplette Verhandlungstage fallen aus, weil über einen erneuten Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen den Senat beraten werden muss. Statt 202 Verhandlungstage bis zur Weihnachtspause 2013, wie zunächst vorgesehen, kommt das Gericht daher nur auf 200. Der Antrag wird abgelehnt. Er folgt auf die Vernehmung weiterer kongolesischer Opferzeugen per Videolink, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Öffentlich wird lediglich das Begehren des Angeklagten Murwanashyaka, die Zeugen in seiner Muttersprache Kinyarwanda (Ruandisch) befragen zu dürfen. Dies lehnt der Senat ab, per Vorsitzendenanordnung. Bisher habe man das Murwanashyaka gestattet - aber inzwischen sei klar, dass der FDLR-Präsident die deutsche Sprache ausreichend beherrscht, so der Vorsitzende Richter Hettich. Das hätten sowohl seine Promotion in Deutschland als auch seine zahlreichen Beanstandungen der Übersetzungen ruandischer Aussagen ins Deutsche während der Hauptverhandlung gezeigt. DIE STRITTIGEN PARAGRAPHEN§4 Völkerstrafgesetzbuch: Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber und anderer Vorgesetzter (1) Ein militärischer Befehlshaber oder ziviler Vorgesetzter, der es unterlässt, seinen Untergebenen daran zu hindern, eine Tat nach diesem Gesetz zu begehen, wird wie ein Täter der von dem Untergebenen begangenen Tat bestraft. § 13 Abs. 2 des Strafgesetzbuches findet in diesem Fall keine Anwendung. (2) Einem militärischen Befehlshaber steht eine Person gleich, die in einer Truppe tatsächliche Befehls- oder Führungsgewalt und Kontrolle ausübt. Einem zivilen Vorgesetzten steht eine Person gleich, die in einer zivilen Organisation oder einem Unternehmen tatsächliche Führungsgewalt und Kontrolle ausübt.§23 Strafgesetzbuch: Strafbarkeit des Versuchs (1) Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. Diese Ablehnung ist Grund für den Befangenheitsantrag, dessen Behandlung außerordentlich lange dauert. Als der Senat wieder zusammentritt, ist es der 18. Dezember 2013, der letzte Verhandlungstag des Jahres vor der Weihnachtspause. Passend dazu wird Murwanashyakas Osterbotschaft an die FDLR vom Jahr 2009 verlesen. Osterbotschaft vor der Weihnachtspause Die Osterbotschaft datiert aus der Zeit nach den gemeinsamen kongolesisch-ruandischen Armeeoperationen gegen die Miliz im kongolesischen Busch und nach dem mutmaßlichen Befehl an die FDLR, eine „humanitäre Katastrophe“ unter der kongolesischen Zivilbevölkerung anzurichten - ein Befehl, dessen Existenz die Angeklagten bestreiten. Die FDLR habe sich gegründet wegen der „Schreie gegen die FPR-Regierung“, steht da - gemeint ist die Regierung der in Ruanda regierenden ehemaligen Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) von Präsident Paul Kagame; FPR ist die französische Version des Namens. Die FPR wolle alle Hutu mit Aids infizieren, habe alles in ihren Händen und begehe Massaker. Die FDLR kämpfe für die Befreiung der Mehrheit der Ruander und Kongolesen. Murwanashyaka dankt den Abacunguzi (FDLR-Kämpfer) für ihr Verhalten und motiviert sie, dass der Feind den Krieg verlieren werde wie in der Vergangenheit. Wer aus dem Kongo nach Ruanda zurückkehre, solle sich nicht mit der Regierung verbünden, sondern mit den Zielen der FDLR die Menschen in Ruanda mobilisieren. Ziel sei die Freiheit aller Ruander. Von den FDLR-Mitgliedern fordert Murwanashyaka Bescheidenheit und Nächstenliebe. Er spricht von „unserem großen Befreier Jesus Christus“ und sagt: „Die Jungfrau Maria soll für uns beten, damit wir alle Helden werden“. Die Botschaft wird am 1. April vewröffentlicht, mit leichten Veränderung. „Benehmt euch wie Heilige, nicht nur zur Osterzeit sondern auch in Zukunft“ fordert der FDLR-Präsident seine Mitglieder auf. Unterzeichnet: Deutschland, 1 4.2009, Ignace Murwanashyaka. In einer E-Mail vom gleichen Tag führt der Präsident aus, dies sei die Version für die Öffentlichkeit. Für die Leute im Busch habe es eine eigene Version gegeben, die schon geschickt worden sei. „Versuchsstrafbarkeit“ und „Tatverhinderungsmacht“ Schließlich nimmt die Bundesanwaltschaft Stellung zu einem bereits vor einiger Zeit ergangenen rechtlichen Hinweis des Senats, wonach Murwanashyaka nach dem Stand der bisherigen Ermittlungsergebnisse nicht als Befehlshaber im Sinne von Paragraf 4 des Völkerstrafgesetzbuches verurteilt werden könne (siehe Kasten), sondern eventuell nur als „Versuchsstrafbarkeit“ – hier greift §23 des Strafgesetzbuches (siehe Kasten). Hier geht es einerseits darum, ob Murwanashyaka tatsächlich Befehlsgewalt über die FDLR-Kämpfer hatte oder sich das vielleicht nur einbildete – eine eingebildete Befehlsgewalt als Straftatbestand hat es international so noch nicht als Konstrukt gegeben und würde wohl auch sehr diskutiert werden. Zum anderen ist die Frage, ob Murwanashyaka „Tatverhinderungsmacht“ hatte – ob der FDLR-Präsident also aus Deutschland in der Lage war, die FDLR-Einheiten im Kongo daran zu hindern, Verbrechen zu begehen. Der Senat zweifelt daran offenbar. Die Staatsanwälte zweifeln daran nicht und führen die entsprechenden Zeugenaussagen der vergangenen Jahre aus. Die Bundesanwaltschaft halte an der Anklage gemäß Paragraf 4 VStGB fest.
Dominic Johnson
Das OLG Stuttgart bezweifelt, dass FDLR-Präsident Murwanashyaka aus Deutschland heraus Kriegsverbrechen im Kongo hätte verhindern können.
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Vom Nachttisch geräumt: Erotik - taz.de
Vom Nachttisch geräumt: Erotik ■ "Erotik in der Kunst des 20. Jahrhunderts" Courbets „Der Ursprung der Welt“ zeigt das weibliche Geschlecht, so schreibt Gilles Néret, als „wilde Grotte in einem wuchernden Wald“. Was es mit Christos „Surrounded Islands“ in Wahrheit auf sich hat, wird in „Erotik in der Kunst des 20.Jahrhunderts“ schon dadurch deutlich, daß sie direkt über dem „Ursprung der Welt“ stehen. Christos bewaldete Inseln sind riesige Mösen. Der keusche Verpacker zeigt sich als überdimensionaler Enthüller. Schon diese Gegenüberstellung ist das Geld für Nérets Buch wert. Es gibt nichts Vergleichbares zum Thema. Der energische Zugriff aufs Thema, Welten entfernt vom hierzulande üblichen kunsthistorischen Vokabular, das von „schwellenden Formen“ redet, wo Picasso einen Penis hinsetzte, das alles macht das Buch nicht nur zu einem Genuß, sondern auch hoffentlich zum festen Bestandteil jeder ordentlichen Bibliothek. Néret liefert eine Bilanz, und wie jeder richtige Buchhalter kümmert auch er sich nicht um Qualitäten. Max Ernst und Jeff Koons, Fetting und Picasso, Klossowski und Gerhard Richter – sie gelten ihm alle gleich. Er wertet nicht ästhetisch. Es geht Néret nicht um künstlerische „Talente“, sondern um einen Katalog der Obsessionen. Er versucht auch nicht, die eine oder andere Leidenschaft– zum Beispiel Bellmers Zerstückelungen oder Balthus' Nymphomanie – zu erklären. Néret bringt uns das Sehen bei. Dabei macht er nicht viel mehr, als mit dem Finger auf die Bilder zu zeigen und daran zu erinnern, daß ein großer Daumen auch ein anderes Körperteil repräsentieren kann. Er macht das vergnüglich, mit einer Lust, die sich überträgt. Das steckt an, aber manchmal fragt man sich: Hat der sie noch alle? So beginnt Néret mit einer Typologie der Künstler nach ihren erotischen Vorlieben: Die einen sind fasziniert vom weiblichen oder männlichen Geschlechtsteil, die anderen von dicken, die nächsten von dünnen Frauen, es gibt die Liebhaber kleiner Jungen und die von Mädchen, es gibt Fans für Spitzenhandschuhe, für Haare und Behaarungen, technoide Zerstückler oder Fetischisten samtener Häute. Nachdem er uns mit der ganzen chaotischen Fülle der von Erotomanen bevorzugten Zonen und Gegenstände bekannt gemacht hat, verkündet Néret apodiktisch: „Das Hinterteil, das wollen wir nicht vergessen, ist die schönste Kostbarkeit, die wir uns beim weiblichen Geschlecht vorstellen können.“ Néret hatte nicht widerstehen können, mußte dem Chaos des fremden erotischen Ballasts seine eigene Fixierung entgegenstellen. Neben den Abbildungen und Nérets Text stehen die Aussagen der Künstler. So geballt hat man sie bisher noch nicht lesen können. Bonnard, Beckmann, Copley, Beuys, Bellmer, Oldenburg, Richter, Koons, Wesselmann, Matisse, Ernst, Schiele, Oelze, Bacon, Kokoschka, Pollock und viele andere. Die einzige Frau, Louise Bourgeois, schreibt: „Das Leben des Künstlers ist die Verneinung von Sex. Kunst rührt her von der Unfähigkeit zu verführen.“ „Erotik in der Kunst des 20.Jahrhunderts“. Herausgegeben von Angelika Muthesius und Burkhard Riemschneider, mit einem Text von Gilles Néret, übersetzt von Bettina Blumenberg. Taschen Verlag, 234 vorwiegend farbige Abbildungen, 200 Seiten, 29,95DM
georg herrmann
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Schwere Ausschreitungen in Ägypten: Chaos in Kairo - taz.de
Schwere Ausschreitungen in Ägypten: Chaos in Kairo Bei Protesten gegen Ägyptens Regierung lieferten sich Demonstranten und die Polizei Straßenschlachten. Derweil darf der Satiriker Bassem Jussif weiter Mursi-Witze machen. Demonstraten vor dem Obersten Gerichtshof in Kairo. Bild: dpa ISTANBUL/KAIRO dpa/afp | Bei gewaltsamen Protesten gegen Ägyptens Staatschef Mohamed Mursi sind am Wochenende nach offiziellen Angaben mindestens acht Menschen verletzt worden. In Kairo und zwei weiteren Städten sei es am Samstag zu schweren Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Mena. Zuvor waren bei neuer Gewalt zwischen Muslimen und koptischen Christen fünf Menschen getötet worden. Die Anti-Regierungsproteste konzentrierten sich in Kairo vor dem Obersten Gerichtshof in der Hauptstadt, den die Demonstranten zu stürmen versuchten. Sie steckten Reifen in Brand und griffen gepanzerte Polizeifahrzeuge an, die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein. Zu den Verletzten sei es dort und in der südlichen Provinz Fajum gekommen, meldete Mena. In der Stadt Mahalla sei eine Polizeistation mit Benzinbomben angegriffen worden. Auch in Alexandria sei es zu Ausschreitungen gekommen. Anlass der Proteste war der fünfte Gründungstag der Bewegung 6. April. Die Bewegung hatte großen Anteil am Sturz des früheren Präsidenten Husni Mubarak und ist inzwischen Teil einer säkularen Koalition gegen den islamistischen Mubarak-Nachfolger Mursi. Hakenkreuz-Schmierereien als Auslöser Bei einer religiös motivierten Schießerei nahe Kairo waren am Freitagabend vier Kopten und ein Muslim getötet worden. Sechs weitere Menschen seien im Bezirk Kaljubia nördlich der Hauptstadt verletzt worden, verlautete aus Sicherheitskreisen. Präsident Mursi bemühte sich, ein Aufflammen neuer Gewalt zwischen den Konfessionen zu verhindern. Mursi rief am Samstag „alle Bürger“ auf, „jede Handlung zu unterlassen, die die Sicherheit und Stabilität des Landes gefährdet“. Auslöser des Streites waren Hakenkreuz-Schmierereien von Kindern an einem islamischen Gebäude. Als sich ein Muslim darüber beschwerte, sei die Situation eskaliert und Schüsse gefallen, hieß es aus Sicherheitskreisen. Die aufgebrachten Muslime hätten anschließend eine Kirche belagert, die aber von Sicherheitskräften geschützt worden sei. Nach Medienberichten unter Berufung auf einen Priester wurde ein Teil der Kirche in Brand gesetzt. Aus Sicherheitskreisen wurde das dementiert. Satire-Sendung bleibt erlaubt Ein Islamist ist mit seiner Klage gegen den privaten Fernsehsender CBC, der Witze über Präsident Mursi zeigt und den Islam beleidigt haben soll, gescheitert. Ein Verwaltungsgericht in Kairo wies am Samstag den Fall mit der Begründung ab, der Kläger sei zu dieser Klage überhaupt nicht berechtigt. Ein islamistischer Anwalt hatte die Schließung des Senders erreichen wollen, der die Show „Al-Barnameg“ des populären TV-Satirikers Bassem Jussif ausgestrahlt. Gegen Jussif laufen allerdings noch weitere Verfahren wegen Beleidigung. Vor einer Woche war er nach einem Verhör gegen eine Kaution von umgerechnet rund 1.700 Euro wieder freigekommen. Seit die Islamisten in Ägypten an der Macht sind, häufen sich Klagen gegen Kritiker der Muslimbruderschaft – aus der Mursi stammt – oder der Regierung. Menschenrechtler kritisieren einen deutlichen Anstieg bei der Strafverfolgung von Journalisten, Bloggern und anderen Aktivisten.
taz. die tageszeitung
Bei Protesten gegen Ägyptens Regierung lieferten sich Demonstranten und die Polizei Straßenschlachten. Derweil darf der Satiriker Bassem Jussif weiter Mursi-Witze machen.
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Nach Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen: Ein Tod, viele Fragen - taz.de
Nach Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen: Ein Tod, viele Fragen Ein Mann stirbt nach einem Polizeieinsatz in Brandenburg. taz-Recherchen bringen Ungereimtheiten ans Licht. War es Polizeigewalt? Der Ort des Geschehens, das Grundstück eines Mehrfamilienhauses in Königs Wusterhausen Foto: taz Ivan N. ist nicht überrascht. “Mein Bruder ist tot. Ich weiß es schon“, sagt er am Telefon. Er sagt das mit ruhiger Stimme. Wir haben ihn am Donnerstagnachmittag angerufen, um nach Vitali N. zu fragen, 45 Jahre alt, geboren in Moldau. Wie viele aus dem Land hatte er auch einen bulgarischen Pass, um in der EU arbeiten zu können. Am Dienstag der vergangenen Woche nimmt die Polizei Vitali N. in der brandenburgischen Stadt Königs Wusterhausen fest. Einen Tag später stirbt er in einem Berliner Krankenhaus. Die Staatsanwaltschaft in Berlin ermittelt nun die Todesursache. Recherchen der taz lassen Zweifel aufkommen, wie glaubhaft die Darstellung der Polizei zum Ablauf der Festnahme und zu den Ereignissen danach ist. Immer wieder sterben in Deutschland Menschen bei Polizeieinsätzen. Oft sind es Menschen mit Migrationshintergrund oder in einer psychischen Ausnahmesituation. Selten werden diese Todesfälle komplett aufgeklärt. Ob auch Vitali N. psychisch krank war, ist unklar. In der Polizeimeldung nach der Festnahme heißt es, er sei “psychisch auffällig“ gewesen. Eine knappe Polizeimeldung Vitali N. war seit dem 1. April in einem dreistöckigen Wohnhaus in Niederlehme gemeldet, einem Stadtteil von Königs Wusterhausen. Am 11. April, Dienstag, soll er dort randaliert haben. Eine Nachbarin erzählt am Mittwoch dieser Woche, er sei im Nachbarhaus und in ihrem Haus die Treppen auf- und abgelaufen. “Es klang, als hätte jemand die ganze Zeit Türen geschmissen.“ Die Meldung, die die Polizei am 12. April, dem Tag nach der Festnahme herausgibt, ist knapp. Ein Mann habe sich “unberechtigt auf einem Grundstück“ aufgehalten, auf Gegenstände und Autos geschlagen. “Er verhielt sich aggressiv, biss“. Polizisten hätten ihn fixiert und gefesselt – mit Hilfe von Anwohnern. Plötzlich sei er ohnmächtig geworden, ein Notarzt gerufen worden. Als der Mediziner ankommt, sieht er, dass die Polizei-Beamten versuchen, Vitali N. wiederzubeleben. Nach rund 30 Minuten hat Vitali N. zum ersten Mal wieder einen Kreislauf. So schreibt es der Notarzt in seinem Bericht. Das Dokument liegt der taz vor. Ein Krankenwagen fährt Vitali N. etwa 30 Kilometer in ein Krankenhaus im Berliner Bezirk Neukölln. “Zur medizinischen Behandlung“ heißt es in der Polizeimeldung. Gut 20 Stunden nach der Festnahme ist Vitali N. tot. Während Ivan N. von den deutschen Behörden eine Erklärung für den Tod seines Bruders fordert, produzieren Polizei und Justiz Widersprüche. Eine Durchsuchung ohne Anordnung? Nachdem Vitali N. bewusstlos in das Berliner Krankenhaus eingeliefert wurde, kamen Polizisten in die Klinik, um die Kleidung von Vitali N. zu beschlagnahmen und eine Blutprobe zu entnehmen. Der taz liegt das Amtshilfeersuchen der Brandenburger an die Berliner Polizei vor. Darin bittet ein Hauptkommissar aus Königs Wusterhausen seine Berliner Kollegen, die Kleidung von Vitali N. sicherzustellen und eine Blutprobe zu entnehmen. Dies sei “am heutigen Tage nach Rücksprache mit der“ zuständigen Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Cottbus “um 00.40 Uhr angeordnet“ worden, heißt es in dem Dokument. In Cottbus ist man für Königs Wusterhausen zuständig. Auf taz-Nachfrage bei der Cottbusser Staatsanwaltschaft sagt eine Sprecherin am Mittwoch dieser Woche allerdings: “Die Staatsanwältin hat in dieser Nacht die Durchsuchung nicht angeordnet.“ Wie kann das sein? Hat die Brandenburger Polizei die Kleidung von Vitali N. ohne offizielle Anordnung beschlagnahmen lassen? Hat die Brandenburger Polizei behauptet, es gebe eine Anordnung, um die Kollegen loszuschicken? Donnerstag. Zweiter Versuch, das mit der Durchsuchung zu klären. Eine zweite Anfrage bei der Staatsanwaltschaft Cottbus, dieses Mal schriftlich. Keine Antwort, auch telefonisch nicht. Ebensolche Anfragen gehen an das für ganz Brandenburg zuständige Polizeipräsidium in Potsdam und an die für die Ermittlungen zum Tod Vitali Ns. zuständige Generalstaatsanwaltschaft in Berlin. Potsdam verweist auf Berlin, Berlin verweist auf die Pressestellen der Polizeien in Berlin und Brandenburg. Die wiederum verweisen auf die Staatsanwaltschaft in Cottbus. Als wir dort den angeblich zuständigen Staatsanwalt erreichen, sagt er, er sei nicht zuständig und seine Kolleginnen in Polen oder anderweitig nicht zu erreichen. Das sind nicht die einzigen Ungereimtheiten. Die Einschätzungen der Me­di­zi­ne­r:in­nen im Klinikum Neukölln zu den Ursachen für den Tod von Vitali N. decken sich nicht mit denen von Polizei und Justiz. Auf dem Leichenschauschein, der nach Vitali Ns. Tod im Klinikum Neukölln ausgestellt wurde, heißt es, Vitali N. habe eine „schwerste anoxische Hirnschädigung“ erlitten, einen systemischen „Sauerstoffmangel durch mechanische Behinderung der Atmung“. Einen “Atem- und Herzstillstand“. Entstanden sei dieser „durch gewaltsames zu Boden drücken von Gesicht und Thorax in Bauchlage“. Gewalt, also? Das Dokument liegt der taz vor. Eine Obduktion und offene Fragen Die Staatsanwaltschaft Berlin hat am Dienstag dieser Woche, eine Woche nach Vitali Ns. Festnahme, mitgeteilt, bei einer vorläufigen Obduktion habe es keine Hinweise auf äußere Gewalteinwirkung gegeben. Die Gerichtsmediziner:in­nen hätten auch keine Belege dafür gefunden, dass Vitali N. an Erde erstickt sei. Mit­ar­bei­te­r:in­nen des Klinikum Neukölln hatten das vermutet. Auch im Einsatzbericht des Notarztes, der Vitali N. in Königs Wusterhausen erstversorgt hat, heißt es, Vitali N. habe “feuchte Erde in Mund und Nase“ gehabt. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. In der Lunge von Vitali N. seien allerdings keine Erdrückstände gefunden worden, sagt eine Sprecherin der Berliner Staatsanwaltschaft der taz. Der Tote habe Einblutungen an Rücken und Schulter gehabt, die aber nicht todesursächlich gewesen seien. Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen, es stehen noch feingewebliche Untersuchungen aus. Eine weitere Unstimmigkeit gibt es bei der Frage, ob Vitali N. noch gefesselt war, auch nachdem er bewusstlos wurde. Ohnmächtige zu fixieren, gilt unter Not­ärz­t:in­nen als gefährlich. Die Reanimation wird erschwert, das Erstickungsrisiko steigt. Am Tag nach dem Einsatz hatte die Polizei vermeldet, dass Vitali N. nach der Festnahme ohnmächtig wurde. Die Handfesseln seien gelöst, Erste Hilfe geleistet und ein Notarzt gerufen worden. Im Einsatzbericht des Notarztes, der der taz vorliegt, klingt das anders. Dort steht, der Arzt sei um 21.45 Uhr alarmiert worden “wegen Atemstillstand in polizeilicher Fixierung“. Als der Notarzt eintrifft, wird der Mann demnach “bereits durch Polizei reanimiert“. “Handschellen liegen noch an“, notiert der Notarzt in seinem Bericht. Ob das heißt, dass Vitali N. noch vollständig gefesselt war, ließ sich bis Redaktionsschluss nicht abschließend klären. Vitali N. stirbt am Tag nach seiner Festnahme um 17.57 Uhr auf der Intensivstation 1 des Klinikum Neukölln. Er stirbt allein, heißt es aus der Klinik. Die Polizei habe keine Angehörigen ermitteln können. Ein Sohn, Bruder, und Vater Ivan N., der Bruder des Toten, spricht mal mit klarer, fester Stimme, mal wird er laut, mal weint er. Ein Mitarbeiter der moldauischen Botschaft habe sich am Freitag, zwei Tage nach dem Tod seines Bruders, gemeldet und ihm die Nachricht überbracht. „Er sagte mir, dass es eine Art Konfrontation zwischen der Polizei und meinem Bruder gab und dass die Polizei ihn mit Pfefferspray besprüht hat. Er ist dann im Krankenhaus verstorben“, erzählt Ivan N. Mehr habe der Botschaftsmitarbeiter nicht gewusst. Dass zwischen dem Todeszeitpunkt und dem Anruf bei der Familie ganze zwei Tage liegen, macht Ivan N. wütend. Dass er und Vitalis Familie kaum etwas erfahren darüber, wo sein Bruder jetzt ist, wie und warum er gestorben ist, beschreibt Ivan N. als „Horror“. Vitali N. hatte nicht nur einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, die in einem kleinen Ort im Süden Moldaus leben, sondern auch einen 15 Jahre alten Sohn. Er lebt mit seiner Mutter, Vitalis Ex-Frau, in Italien, erzählt der Bruder. In russischsprachigen sozialen Netzwerken hat Vitali N. Fotos gepostet: Er mit Kleinkind auf dem Arm, er mit Kinderwagen, sein Sohn im Spiel mit anderen Kindern. Unter einem Bild, das seinen Sohn als Kleinkind zeigt, hat Vitali N. geschrieben: „Mein geliebter Sohn“. Unter ein anderes, mit seiner Ex-Frau, „Meine Familie!“. Unter ein Foto hat jemand geschrieben: „Vitalik, du veränderst dich nicht, du bist immer positiv.“ Ivan N. beschreibt seinen Bruder als ruhigen, unauffälligen Menschen. Als einen, der selten Alkohol trank, weil er keinen vertrug. Auch der Bluttest in der Berliner Klinik, in die Vitali N. nach der Festnahme bewusstlos eingeliefert wurde, ergab: Kein Alkohol, keine Drogen im Blut, Vitali N. war nüchtern. An­woh­ne­r:in­nen hatten erzählt, Vitali N. habe sich am Tag seiner Festnahme wie jemand verhalten, der Drogen genommen habe. Sein Bruder habe viel gearbeitet, sagt Ivan N., vor allem um seinen Sohn zu unterstützen. Dafür hat er Jobs im Ausland angenommen: Russland, Bulgarien, Deutschland. Das bestätigen Freun­d:in­nen von Vitali, die wir ebenfalls über russischsprachige soziale Netzwerke finden. Auf der Suche nach einem besseren Leben Was sie und Vitalis Bruder erzählen, ist die Geschichte eines Mannes, der wie viele Menschen aus Osteuropa aufbricht, um Geld für ein besseres Leben zu verdienen. In Russland arbeitet er als Mechaniker in einer Fleischfabrik, als Taxifahrer und als Vorarbeiter auf dem Bau. Später zieht er nach Bulgarien, um Autos zu überführen und zu reparieren, erzählt ein Freund aus Russland. Und: Vitali sei „ein sehr frommer Mensch“ gewesen. Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Berliner Klinik fanden in seinem Portemonnaie ein Marienbild und einen Gewerbeschein, der Vitali als Trockenbauer auswies. In Königs Wusterhausen hatte Vitali N. wahrscheinlich kaum Zeit anzukommen, bevor er starb. Der Verkäufer im Dönerrestaurant unweit von seinem Haus sagt, er habe ihn in den letzten ein bis zwei Monaten häufiger hier gesehen. Er sei immer allein zum Essen gekommen. Eine Frau, die im selben Haus wohnt, sagt, sie sei Vitali N. am Tag der Festnahme zum ersten Mal begegnet. Der Rasen vor dem Haus ist schon wieder ganz glatt an diesem Mittwoch. Nichts deutet auf den Polizeieinsatz hin, in dessen Folge ein Mensch gestorben ist.
Erica Zingher
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Ein rotes Tuch für die Apotheken - taz.de
Ein rotes Tuch für die Apotheken Bundesweite Apotheker-Protestaktion gegen das geplante Beitragssicherungsgesetz der Bundesregierung Wie gut, dass Apotheker nicht streiken dürfen. Ansonsten hätten gestern nämlich viele kranke Menschen Probleme gehabt, sich mit Medikamenten zu versorgen. Um ihren Unmut über das neue Gesetz äußern zu können, haben gestern viele Medikamentenverkäufer ihre Schaufenster mit einem roten Tuch verhüllt.Tritt das neue Gesetz in Kraft, würde den Apotheken rund eine Million Euro entzogen, prognostiziert die Bundesapothekerkammer. Damit seien die Apotheken weitaus stärker belastet als jede andere Gruppe im Gesundheitswesen. Die Mitglieder des Bundesrates lehnten das Gesetz bislang zwar ab, mit einer „Kanzlermehrheit“ soll das Veto aber noch in dieser Woche überstimmt werden. „Besonders die kleine Landapotheke, die wenig Handverkauf hat und hauptsächlich Rezepte aushändigt, würde an den Rand des Ruins getrieben“, bedauert Lars Ruhwisch von der Apothekerkammer in Bremen. Wer letztlich die Last trage, sei klar: der Kunde. Der müsse mit einer schlechteren Arzneimittelversorgung rechnen und längere Wartezeiten in Kauf nehmen, so Ruhwisch. jf/Foto: Kerstin Rolfes
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Der Andere des Menschen - taz.de
Der Andere des Menschen Mehr als ein Trost für Misanthropen: Der Braunbär kehrt in die Alpen zurück. Ein Phänomen, das der Wirklichkeit wohl tuende Lebendigkeit verleiht: Macht es doch klar, dass der Mensch nur eine evolutionäre Variante an der Spitze der Nahrungskette ist VON CHRISTIAN KORTMANN Die Informationsmöglichkeiten der Gegenwart verbessern die Gemütslage nur selten, denn jederzeit können einen an jedem Ort Nachrichten über das Schlechtsein der Welt erreichen – und in diesen Tagen der allgemeinen Aufregung um die Mohammed-Karikaturen sowieso. Doch ab und zu dringt erfreuliche Kunde zu einem vor, die hoffnungsfroh stimmt: So war kürzlich zu lesen, dass der Grizzlybär von der roten Liste der bedrohten Tierarten gestrichen wurde, weil sein Bestand in Nordamerika gesichert ist. Des Weiteren hört man, dass in den Alpen wieder vermehrt Braunbären gesichtet werden. Das Großraubtier Ursus arctos kehrt also in die Wildnisreservate innerhalb des durchzivilisierten Raums der nördlichen Hemisphäre zurück. Darüber staunen besonders die Europäer, für die wilde Tiere nur mehr wie in Formaldehyd in den Mythen und Symbolen ihres Kontinentes konserviert sind – man denke an die Gründungsgeschichten von Rom, Berlin oder Bern. Und man hat den Bären gegenüber einiges gutzumachen. Schon die Germanen exportierten sie in großem Stil nach Rom, wo sie bei grausamen Gladiatorenkämpfen umkamen. Im 19. Jahrhundert wurde der Braunbär dann in vielen Regionen ausgerottet, in Deutschland der letzte Bär 1835 erschossen. Als man in Europa von Löwen noch nichts gehört hatte, galt der Bär als König der Tiere, doch heute stellt man ihn sich meist als Börsenallegorie, Teddy, hinter Gitterstäben oder als Star von Fernsehdokus vor: Mindestens einmal pro Woche kann man auf irgendeinem Sender Grizzlys beim Lachs- oder Eisbären beim Robbenfang beobachten. Und jetzt das: Bären unter uns, live und in Farbe! Als vergangenen Sommer in Graubünden der erste Bär seit 1923 auf Schweizer Terrain gesichtet wurde, löste das einen wahren Bärenboom aus: Zeitweise drängelten sich 300 Schaulustige an der schmalen Ofenpassstraße, wo sich der Bär regelmäßig zeigte. Heute weiß man so viel über Bären, dass man sie nicht mehr jagen will und muss. Diplomatie ist an die Stelle der Kriegführung getreten. So gibt es in Österreich, wo ungefähr 30 Braunbären leben, Bärenanwälte, die Menschen besänftigen, an deren Nutztierbeständen oder Bienenstöcken sich die Allesfresser bedienten. Die Rückkehr des Bären ist nicht nur eine tolle Sache für Touristen und Bilderjäger, sondern ein erfreuliches Phänomen für das allgemeine Lebensgefühl. Denn das Wissen um die Existenz der Bären verleiht der Wirklichkeit eine wohl tuende Lebendigkeit: Es gibt das wilde und gefährliche Leben da draußen also noch! Der Braunbär wird in den Alpen zwar über zwei Meter groß und 250 Kilogramm schwer, ist aber scheu und greift Menschen nur an, wenn diese ihm zu nahe kommen. Doch man freut sich über die potenzielle Gefahr, die von solch einem Raubtier ausgeht, weil sie manches zurechtrückt. Es wird einem klar, dass der Mensch nur eine evolutionäre Variante an der Spitze der Nahrungskette ist – und der Bär eine gleichberechtigte Alternative selbstbestimmten Lebens. So spendet der Einzelgänger allen Misanthropen Trost, denn er verkörpert das Undomestizierte, das Un-Unterordbare, das der despotische Mensch nicht kleingekriegt hat. Wie schön, dass man diese Welt auf eine nichtmenschliche Art und Weise souverän bewohnen kann. Dieses Andere fehlt dem anthropozentrischen Zivilisationsbewohner allzu oft. Vom nomadisch-puristischen Lebensstil des Bären könnte er etwa Gelassenheit und Genügsamkeit lernen. Wandert man in diesen Tagen durchs tief verschneite Kaisergebirge nahe Kufstein, wo einst viele Bären in Höhlen hausten, so gewinnt diese einsam-stille Landschaft dadurch, dass der Bär wieder anwesend sein könnte, an Vitalität. Ein Ortsname wie Hinterbärenbad, der hier noch von einer früheren ehrfurchtsvollen Koexistenz von Mensch und Bär kündet, wird gewissermaßen reaktiviert. Man blickt über die weiten Hänge und Wälder, auf die entlegenen Felsgrate und weiß, dass sich dort oben seine charakteristische Silhouette abzeichnen könnte oder er vielleicht gerade schnarchend in seiner Höhle liegt. Der Bär ist ein ebenso archaisches wie lebendiges Symbol, das einem verdeutlicht, wie es hier einmal war und wie es wieder sein könnte, dort, wo die Landschaft noch nicht völlig zersiedelt und vom Menschen kolonisiert ist. Die Faszination für Bären hat einen Doppelcharakter, der einerseits von der empathischen Nähe zur anderen Art und andererseits von der existenzialistischen Gefahr bestimmt wird. So findet man im Katalog des Outdoor-Ausrüsters Globetrotter, in dem sich die neo-Rousseau’schen Natursehnsüchte einer ganzen Subkultur kristallisieren, auch das Gadget „Bärenglocke“, mit der man beim Gehen durch die Wälder läutet, um Bären zu verscheuchen. Dabei ist der Überlebenskünstler Bär derjenige, der das Outdoor-Motto „Draußen zuhause“ par excellence verwirklicht. Momentan halten die Bären noch Winterruhe, welche man sich wie ein großes Vor-sich-hin-Dösen vorstellen muss. Nur ab und zu stehen sie auf, drehen eine Runde durch die Höhle, essen einen Happen oder suchen sich ein neues Lager – da sind sie also ganz wie wir. Hoffentlich träumen sie süß, um im Frühjahr gut erholt für Bärennachwuchs zu sorgen. Denn ihre Existenz macht auch unser Leben lebenswerter. Ist der Bär gesund, freut sich der Mensch.
CHRISTIAN KORTMANN
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Hillary Clinton per Photoshop entfernt: Leerer Stuhl im Situation Room - taz.de
Hillary Clinton per Photoshop entfernt: Leerer Stuhl im Situation Room Das legendäre Foto aus dem Situation Room des Weißen Hauses, auf dem Obama und sein Team sich die Ermordung bin Ladens ansehen, gibts auch ganz ohne Frauen. Da fehlt doch jemand:Der Situation Room ohne die Außenministerin Clinton und die Antiterrorismus-Leiterin Tomason. Bild: screenshot "Di Tzeitung" Die US-Außenministerin Hillary Clinton ist schon sehr prominent auf dem schon jetzt ikonografischen Situation-Room-Foto, das aufgenommen wurde während US-Präsident Obama und sein Team dem Show-down im Osama-bin-Laden-Versteck live folgen. Sie sitzt quasi in der Mitte und hält sich die Hand vor den Mund. Es sieht aus als sei sie schockiert - aber eigentlich habe sie gegähnt, erklärte sie die Geste im nachhinein. Was auch immer sie da tut - die Leser der jüdisch-orthodoxen Zeitung Di Tzeitung sollen es nicht erfahren. Denn das Blatt aus Brooklyn druckt niemals Frauen ab, da ihre Abbildung die männliche Leserschaft sexuell zu verführen droht. Nicht nur Hillary musste verschwinden, während ihre Unterlagen auf dem Laptop an ihrem Sitzplatz liegenbleiben durften - auch eine weitere Mitarbeiterin, Audrey Tomason, die hinter diversen Herren im Raum stand, musste dem stalinistischen Modell der Retouchierung von Geschichtsdokumenten (man denke an Trotzky, der von Lenins Seite verschwand) folgen und ausradiert werden. Nun bleibt, neben einer frauenlosen Männerrunde, die Frage, warum man das Bild, das sowieso schon überall zu sehen war, einfach nicht druckt, anstatt sich zumindest der Dokumentenfälschung schuldig zu machen. Das beantwortet die Zeitung mehr schlecht als recht mit folgender Entschuldigung: Der Foto-Redakteur habe das Kleingedruckte, das jegliche Änderung an dem Bild verbiete, in der Hektik übersehen, sonst hätte man von einer solchen Veröffentlichung tatsächlich abgesehen. Die Bildfälschung sei aber allein aus religiösen, nicht aber aus diskreditierenden oder degradierenden Gründen erfolgt und durch die im Ersten Artikel der Verfassung der Vereinigten Staaten verankerten Religionsfreiheit gerechtfertigt.
Julia Niemann
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Debatte Korruption in Indien: Risse in der Glitzerfassade - taz.de
Debatte Korruption in Indien: Risse in der Glitzerfassade In Indien wachsen die Zweifel, ob das Wirtschaftswachstum anhält. Denn die ausufernde Korruption droht den Aufstieg des Landes ernsthaft zu gefährden. Viele Gelder werden zwischen Unternehmern und Politikern geteilt. Das Nachsehen hat der Steuerzahler. Bild: reuters Von Weitem sieht alles prima aus im Boomland des 21. Jahrhunderts. Erst kürzlich setzte das Londoner Wirtschaftsmagazin Economist einen rennenden Tiger auf die Titelseite und orakelte: "Wie Indiens Wachstum das chinesische überholen wird". Prompt legte die Weltbank jetzt mit Zahlen nach: Schon im Jahr 2012 werde Indiens Volkswirtschaft mit 8,7 Prozent um 0,3 Prozentpunkte schneller wachsen als der große Konkurrent im Norden. Aber auch politisch demonstriert Indien Stabilität und Kontinuität: Seit sechs Jahren führt Premierminister Manmohan Singh eine scheinbar konkurrenzlose Koalitionsregierung unter Führung der Kongresspartei. Als das US-Magazin Newsweek vor kurzem die Leistungen der Regierungschefs in aller Welt bewertete, eroberte Singh den ersten Platz: wegen seiner Bescheidenheit und Unbestechlichkeit. Doch das ist nur der Blick von außen. In Indien selbst rumort es. Inmitten des Wirtschaftsbooms hat sich ein politisches Unbehagen eingeschlichen, in dem manche Beobachter mehr als nur ein vorübergehendes Stimmungstief sehen. Die Rede ist von einer politischen Systemkrise, die dem Wirtschaftswachstum langfristig ein jähes Ende bereiten und Indiens Weltmachtambitionen um Jahrzehnte zurückwerfen könnte. Im Zentrum der Kritik steht der Vorwurf: Korruption. Gerade in Indien klingt das banal, man hat den Vorwurf oft gehört. Und blüht Korruption nicht überall, auch in den Erfolgsökonomien Chinas und Brasiliens? Doch in Indien hat sich ein ungeheurer politischer Frust aufgestaut, die ersten Risse in der bislang heilen politischen Fassade der Kongresspartei werden sichtbar. Gerade musste Premierminister Singh unter öffentlichem Druck sein Kabinett umbilden - das erste Mal in seiner Amtszeit. Es traf Ministerien wie Energie, Luftfahrt und Straßenbau, in denen sich die Korruption über Jahre festgesetzt hat. Beispiel Straßenbau: Dort hatte erst im Mai 2009 der zuvor erfolgreiche Handelsminister Kamal Nath die Geschäfte übernommen. Er versprach der Nation bei seiner Amtseinführung, jeden Tag zwanzig neue Straßenkilometer zu bauen und für Investitionen in den Straßenbau von über 70 Milliarden Dollar innerhalb von drei Jahren zu sorgen. Nun musste Nath die Segel streichen, weil seither praktisch nichts geschah. Nicht einmal die größten Städte des Landes, Delhi und Mumbai, verbindet bis heute eine Autobahn. Und das, obwohl Milliarden Dollar in den Ausbau eines nationalen Autobahnrings flossen, der auch die Strecke Delhi-Mumbai abdeckt. Das Versagen des Staates beim Aufbau der Infrastruktur aber ist eines der entscheidenden Hemmnisse für langfristiges Wirtschaftswachstum. Demokratie als billige Ausrede Oft führen indische Politiker demokratische Hürden an, um die Verzögerung ihrer Projekte zu rechtfertigen. Straßen könnten nicht gebaut werden, weil Bauern ihre Felder dafür nicht hergäben - und niemand in Indien könnte sie dazu zwingen. Das aber sind meist bequeme Lebenslügen. In Wirklichkeit teilen sich Politiker und Unternehmer die unerhört hohen staatlichen Auftragssummen, die nur wenig mit den anschließend vollbrachten Leistungen zu tun haben. Das System wurde vor den Commonwealth-Spielen in Delhi im letzten Jahr offensichtlich: Für die Vermietung von Kränen für den Straßenbau verlangten Baufirmen im Vorfeld der Spiele vom Staat das Zehnfache der gewöhnlichen Mietkosten. Die Gewinnsumme teilten sich Unternehmer und Politiker, das Nachsehen hatte der Steuerzahler. Es geht dabei nicht um Peanuts, sondern um volkswirtschaftlich relevante Summen. Bei der Vergabe von Mobilfunklizenzen entdeckte der indische Rechnungshof Ende letzten Jahres staatliche Mindereinnahmen über umgerechnet 40 Milliarden Dollar: Regierungspolitiker hatten die Lizenzen lieber billig an ihre Freunde in der Telekom-Industrie abgegeben. Der Verlust für den Staat belief sich auf das Sechsfache seines jährlichen Gesundheitsbudgets. Indien braucht dringend staatliche Investitionen in Gesundheit und Lebensmittelversorgung, da ein Großteil seiner ländlichen Bevölkerung unterernährt ist. Doch im indischen Korruptionssumpf geht nicht nur viel Geld verloren, sondern auch die Moral. Vor sechs Jahren war die Kongresspartei noch mit großen staatlichen Initiativen gegen die Armut angetreten. Doch einem zunächst erfolgreichen Beschäftigungsprogramm für die arme Landbevölkerung fehlt heute der politische Schwung. Ein für Singhs zweite Amtsperiode angekündigtes Staatsprogramm für das Recht auf Ernährung blieb ein vages Versprechen. Kampf gegen Armut fällt aus "Über die nächsten vier, fünf Jahre bestehen in Indien so viele Unsicherheiten, dass man die Dinge jetzt ändern muss, solange das Wachstum anhält, sonst wird alles viel schwerer", warnt der indische Politologe Pratap Bhanu Mehta, Präsident des unabhängigen Zentrums für Politikforschung in Delhi. Solche Kritiker denken an den Aufbau unabhängiger Regulierungsinstanzen, fordern eine deutliche Stärkung der Justiz bei der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität, aber auch klare staatliche Verantwortlichkeit bei der Bekämpfung der größten Armut. Doch nichts davon ist in Sicht. Trotz Demokratie fehlt es in Indien an einer schlagkräftigen Opposition. Außer bei Wahlen kann die Regierung kaum belangt werden. Die oft bissigen Medien, die manchen Skandal aufgedeckt haben, gehören am Ende dem Big Business, die Gewerkschaften haben keinen Einfluss. Die sozialen Bewegungen allein können die kriminelle Verzahnung zwischen Politik und Wirtschaft nicht aufhalten. Veränderung kann deshalb vorerst nur aus dem Inneren der Macht kommen. Die Hoffnung ruht auf einer jüngeren Generation rechtsbewusster Politiker um den Nehru-Urenkel Rahul Gandhi und einer neuen, im Ausland geschulten Managergeneration. Doch die alten Eliten sitzen fester im Sattel denn je. Die Kabinettsumbildung in der vergangenen Woche war nur ein Stühlerücken. Ebendas aber beflügelt das Unbehagen: Alles geht weiter wie zuvor. Niemand wird bestraft. Und das Ausland jubelt den Sündern noch zu.
Georg Blume
In Indien wachsen die Zweifel, ob das Wirtschaftswachstum anhält. Denn die ausufernde Korruption droht den Aufstieg des Landes ernsthaft zu gefährden.
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Urteil über Sonntagsarbeit: Feuerwehr ja, Callcenter nein - taz.de
Urteil über Sonntagsarbeit: Feuerwehr ja, Callcenter nein Dürfen auch Videotheken und Callcenter am Wochenende geöffnet sein? Nein, sagt das Bundesverwaltungsgericht und schiebt der Sonntagsarbeit einen Riegel vor. Sonntags kein Anschluss: Ruhetag im Callcenter. Bild: dpa LEIPZIG/WIESBADEN dpa | Das Bundesverwaltungsgericht hat der Ausweitung der Sonntagsarbeit Grenzen gesetzt. Die Leipziger Richter sehen keine Notwendigkeit für sonntags geöffnete Videotheken, Bibliotheken, Callcenter sowie Lotto-Annahmestellen. Damit erklärten sie am Mittwoch wesentliche Teile einer Verordnung des Landes Hessen für unwirksam, das 2011 weitreichende Ausnahmen für den gesetzlich geschützten, arbeitsfreien Sonntag festgelegt hatte. Das Urteil dürfte weitreichende Folgen haben, da auch die meisten anderen Bundesländer ähnliche Verordnungen haben (Az.: BVerwG 6 CN 1.13). Die Gewerkschaft Verdi und zwei evangelische Gemeindeverbände hatten gegen die sogenannte Bedarfsgewerbeverordnung des Landes Hessen geklagt. Schon vor dem hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel hatten sie in der Vorinstanz recht bekommen. Teile dieses Urteils bestätigten jetzt die Leipziger Richter. „Das ist für uns ein außerordentlich positiver Erfolg“, sagte Bernhard Schiederig, Landesfachbereichsleiter Handel bei Verdi in Hessen. Die hessische Landesregierung kündigte an, das Verbot in den betroffenen Branchen sofort umzusetzen. Der Sozial-Staatssekretär Wolfgang Dippel (CDU) sprach von einem sehr ausdifferenzierten Urteil, das auch andere Bundesländer betreffe. „Wir haben uns in Hessen bewusst an den in den anderen Ländern geltenden Regelungen orientiert.“ Der Call Center Verband kritisierte das Urteil als einen „Schlag ins Gesicht der Verbraucher“. Am Sonntag telefonisch nicht erreichbar zu sein, sei für viele Unternehmen keine Option. „Jetzt ist der Bundesgesetzgeber gefordert, schnell mit einer Änderung des Arbeitszeitgesetzes zu reagieren“, erklärte Verbandspräsident Manfred Stockmann. Gravierende Eingriffe Nach dem Arbeitszeitgesetz ist in Deutschland eine Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen nicht erlaubt. Das Gesetz selbst sieht jedoch Ausnahmen vor - etwa für Polizei, Feuerwehr, Krankenschwestern oder Notdienste. Zudem ermächtigt es die Bundesländer, weitere Ausnahmen vom Sonntagsschutz zu beschließen. Die Frage war, wie weit die Länder gehen dürfen. Der VGH in Kassel hatte entschieden, dass auch Ausnahmeregelungen für Getränke- und Eisfabriken nichtig seien, die das Land Hessen vorgesehen hatte. Diese Eingriffe in den Sonntagsschutz seien so gravierend, dass nicht die Länder, sondern nur die Bundesregierung sie vornehmen dürften. Dem folgten die Bundesrichter nicht. Sie gaben dem VGH auf, sich noch einmal mit der saisonalen Sonntagsarbeit in Brauereien und Eisfabriken zu beschäftigen. Nur in einem Punkt waren die Bundesrichter mit der hessischen Verordnung einverstanden: Buchmacher auf Pferderennbahnen dürfen auch sonntags arbeiten, da sie untrennbar mit den ohnehin veranstalteten Rennen verbunden sind. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau sah einen Teilerfolg. „Das Urteil ist hilfreich für die weitere Diskussion rund um die Zukunft unserer Sonn- und Feiertage“, sagte Ulrike Scherf, Stellvertreterin des Kirchenpräsidenten. Wichtig sei das Verbot der Sonntagsarbeit in Call-Centern.
taz. die tageszeitung
Dürfen auch Videotheken und Callcenter am Wochenende geöffnet sein? Nein, sagt das Bundesverwaltungsgericht und schiebt der Sonntagsarbeit einen Riegel vor.
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Kommentar Nachfolge UN-Spitze: Drei Fortschritte bei der UNO - taz.de
Kommentar Nachfolge UN-Spitze: Drei Fortschritte bei der UNO Die Generalversammlung in New York beginnt mit der Anhörung der KandidatInnen. Bei dem Ablauf des Verfahrens tut sich Erfreuliches. Für ihn wird eine Nachfolge gesucht: Ban Ki-moon Foto: ap Bei den Vereinten Nationen gibt es drei Fortschritte: mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Geschlechtergerechtigkeit. Die Generalversammlung in New York beginnt heute mit einer dreitägigen Anhörung aller KandidatInnen für die Nachfolge von Generalsekretär Ban Ki-moon, der zum Jahresende nach zwei fünfjährigen Amtsperioden seinen Abschied nimmt. Die acht BewerberInnen, die im Verlauf der letzten zwölf Monate aus ihren Herkunftsländern vorgeschlagen wurden, müssen sich dabei einer zweitstündigen Befragung durch die BotschafterInnen der 193 UNO-Mitgliedsstaaten stellen. Ihre ausführlichen Biographien stehen bereits seit Anfang des Jahres auf der UNO-Webseite. Und die meisten von ihnen führen einen offenen Wahlkampf. Das ist ein erfreulicher Zuwachs an Demokratisierung und Transparenz. Denn in den letzten 70 Jahren seit Gründung der Weltorganisation wurde ihr höchster Repräsentant in einem instransparenten, der Papstwahl ähnlichen Verfahren im Sicherheitsrat bestimmt. Den Ausschlag gaben dabei in erster Linie die Interessen der fünf ständigen und vetoberechtigten Ratsmitglieder, einen ihnen möglichst genehmen Generalsekretär auszuwählen. Auch weiterhin wird die letzte Entscheidung über die/den künftige/n AmtsinhaberIn, wie in der UNO-Charta festgelegt, vom Sicherheitsrat getroffen. Doch die stärkere Beteiligung der Generalversammlung und die größere Transparenz des Verfahrens wird es den ständigen Ratsmitgliedern zumindest erheblich schwerer machen, die undemokratische Kungelei der letzten 70 Jahre fortzusetzen. Vage Hoffnung auf Helen Clark Der dritte Fortschritt: das neue Auswahlverfahren ermutigte erstmals auch Frauen, sich um den höchsten UNO-Posten zu bewerben. Unter den acht KandidatInnen sind vier Frauen. Allerdings ist trotz dieser Fortschritte zu befürchten, daß nicht die qualifizierteste unter ihnen das Rennen machen wird. Das wäre die frühere neuseeländische Premierministerin Helen Clark. Als derzeitige Direktorin des UNO-Entwicklungsprogrogramms (UNDP) verfügt sie über die größte internationale Erfahrung. Ihre Umweltpolitik als Premierministerin und ihre Korrektur der zügellosen Privatisierung und Deregulierung in ihrem Heimatland entspricht der Position einer großen Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Zudem erfüllt Clark am ehesten das Anforderungsprofil, das in der UNO engagierte Nichtregierungsorganisationen aus dem Bereichen Umwelt-, Flüchtlings-, Menschenrechts-und Abrüstungspolitik für den/die künftigen GeneralsekretärIn formuliert haben. Doch gegen eine Wahl Clarks steht die – ungeschriebene, aber sehr wirkmächtige – UNO-Regel, wonach alle Weltregionen bei der Besetzung des Postens einmal zum Zuge kommen müssen. Nach drei Westeuropäern, je zwei Afrikanern und Asiaten sowie einem Lateinamerikaner sei nun endlich einmal ein/e OsteuropäerIn an der Reihe. Sechs der acht BewerberInnen stammen aus Osteuropa und berufen sich bei ihrer Kandidatur auf diese Regel. Und die Vetomacht Russland hat bereits angedeutet, daß sie die Regel bei der Entscheidung im Sicherheitsrat durchsetzen will. Unter diesen Bedingungen wird wahrscheinlich die zweitbeste Kandidatin zur neuen UNO-Generalsekretärin gekürt: die Bulgarin Irina Bokova, die sich bereits im Herbst 2009 bei ihrer Wahl zur Generalsekretärin der UNESCO gegen sieben Bewerber durchsetzte. Auch das wäre ein großer Fortschritt für die UNO.
Andreas Zumach
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Ausstellung über Inflation in Frankfurt: 18 Milliarden für eine Postkarte - taz.de
Ausstellung über Inflation in Frankfurt: 18 Milliarden für eine Postkarte Das Historische Museum Frankfurt am Main widmet sich der Inflation von 1923 – ein Trauma im Gedächtnis der krisengewohnten Deutschen. Schlangestehen um Lebensmittel im Frühjahr 1919 in Frankfurt Foto: Historisches Museum Frankfurt Die große Inflation von 1923. Buchstäblich über Nacht wuchsen Vermögen und andere Werte nominell astronomisch an oder wurden real völlig vernichtet. Trotzdem sollte die Inflation nur den Anfang dieser so katastrophal verlaufenden ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts markieren. Im Gedächtnis vieler Deutscher hat sich die Inflation als eine Art Trauma eingebrannt. Auf den Ersten folgte weniger als 20 Jahre später der Zweite Weltkrieg und die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Wie die beiden Weltkriege fiel auch die Inflation von 1923 nicht vom Himmel, sondern hatte ihre Ursachen im Krieg, den die deutschen Eliten in Militär, Wirtschaft und Politik des Kaiserreichs maßgeblich zu verantworten hatten und verloren. Die Rechnung des Kaiserreichs ging nicht auf Das Deutsche Reich hatte sich beim siegesgewissen, patriotisch-nationalistisch verhetzten Publikum verschuldet Mit einer Niederlage rechnete niemand in der Elite des Kaiserreichs und deshalb entschloss man sich dazu, den Krieg mittels Staatsanleihen zu finanzieren, sich also beim ebenfalls siegesgewissen, durch und durch patriotisch-nationalistisch verhetzten, zahlungsbereiten Publikum zu verschulden. Nach dem Sieg wollte man sich mit den „Erlösen“ aus den von den Besiegten zu zahlenden Reparationskosten schadlos halten. Da diese Spekulation durch die Politik des Kaiserreichs und die Niederlage der deutschen Truppen zunichte gemacht wurden, brach nach dem Krieg die Inflation mit enormen Preissteigerungen aus. Der Begriff der „Inflation“ ist relativ jung und kam erst spät in Umlauf, wurde maßgeblich durch den amerikanischen Juristen Daniel Dewey Barnard (1797–1861) in den 1830er Jahren geprägt. Eine gut gelungene Ausstellung im Frankfurter Historischen Museum, „Inflation 1923. Krieg, Geld, Trauma“, kuratiert von Frank Berger und Na­tha­lie Angersbach, zeichnet den Verlauf der Inflation jetzt mustergültig nach: mit Fotos, Tonaufnahmen, papierenen Dokumenten, Filmen und Zeugnissen von Zeitgenossen sowie Presseartikeln und Karikaturen. Blütezeit der Satire Für die Satire war die Inflation nämlich eine Blütezeit, was die Ausstellung mit den Zeitschriften Simplizissimus, Kladderadatsch und den darin publizierenden Künstlern George Grosz, Otto Dix, Käthe Kollwitz, Heinrich Zille dokumentiert. Zu den ausgestellten Prachtstücken gehört auch eine zentnerschwere Additionsmaschine mit 10 Stellen. Die wurde nötig, als die Nennwerte der Banknoten sprunghaft in die Höhe kletterten, bis hin zu Milliarden- und Billionenbeträgen. Banknoten mit Tageseinnahmen von Geschäftsleuten konnten nur noch waschkörbeweise transportiert werden. Spektakulär ist auch ein präsentiertes Karnevalskostüm, das aus Geldscheinen besteht, die auf ein Ballkleid aufgenäht sind. In der Reichsbank diente ein erhalten gebliebener, solider metallener Leiterwagen mit Ketten für schwere Schlösser damals als hausinternes Transportmittel in den Kellern und Tresoren. In der Ausstellung sind auch zwei Adler-Schreibmaschinen zu sehen, mit denen die Frankfurter Sparkasse noch die gesamte Korrespondenz mit ausländischen Kunden bewältigte. Nominelle Millionäre Zum Eindrücklichsten der Ausstellung gehören jedoch die Tagebuchnotizen. So notierte der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer im Oktober 1923: „1 Dollar = 1 Milliarde Mark.“ Hedwig Pringsheim, die Schwiegermutter von Thomas Mann, hielt fast gleichzeitig trocken fest: „Wetter wie gestern. Dollar 200 Milliarden Mark.“ Franz Kafka berichtete im November 1923, dass die Vermieterin die Monatsmiete für ein Zimmer auf 4.000 Mark erhöhte und das Porto für eine Postkarte tatsächlich 18 Milliarden Mark kostete. Theodor Heuss wiederum, der 37.000 Mark im Herbst 1922 Mark anlegte, wurde buchstäblich über Nacht für kurze Zeit zum nominellen Millionär, bevor er wieder schnell verarmte und mit seinem Geldvermögen fast nichts mehr bezahlen konnte. 1923 ist nicht heute Am 15. November 1923 wurde die Inflation durch die Einführung der Rentenmark im Umtauschverhältnis von 1 Billion Mark zu 1 Rentenmark gestoppt. Die Voraussetzung für diese Währungsreform der neuen Regierung der großen Koalition unter dem Liberalen Gustav Stresemann aus Deutscher Volkspartei (DVP), SPD, Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und katholischer Zentrumspartei war die Beendigung der Besetzung des Ruhrgebiets durch alliierte Truppen, trugen doch die Kosten für die Kämpfe Mitschuld am Zusammenbruch der Mark. Trotz Massenentlassungen und Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst betrug Anfang 1924 die Arbeitslosigkeit 13,5 Prozent. Die Ausstellung„Inflation 1923. Krieg, Geld, Trauma“: Historisches Museum Frankfurt, bis 10. September. Zwar ist die Inflation durch die jüngste wirtschaftliche Entwicklung wieder verstärkt ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt, aber die Ausstellungsmacher verdeutlichen präzis, dass die heutigen Zustände und Gefahren mit den damaligen rea­len Entwicklungen in keiner Weise vergleichbar sind. Anders lautende Befunde entspringen bestenfalls spekulativem ­Alarmismus.
Rudolf Walther
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Nachfrage sinkt, Hertie schließt - taz.de
Nachfrage sinkt, Hertie schließt ■ Hertie-Exitus am Halleschen Tor ist nur die Spitze des Eisbergs. Karstadt verhandelt schon über den Verkauf seines Kaufhauses Die für März 1999 angekündigte Schließung des Hertie-Kaufhauses am Halleschen Tor gilt als jüngstes Symptom der schwierigen Lage im Berliner Einzelhandel. „Seit sieben Jahren erleben wir bei den Umsätzen einen Sinkflug“, sagt Nils Busch-Petersen, Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes. Auch Ingo Pfeiffer, Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hält die „schwache Kaufkraftentwicklung, die weiter anhalten wird“ für ausschlaggebend. Aufgrund der Arbeitslosigkeit und sinkender Reallöhne nimmt die Nachfrage der Bevölkerung ab. Karstadt als Eigentümer der Hertie-Kaufhäuser hatte die geplante Schließung mit „anhaltenden drastischen Umsatzeinbrüchen“ begründet. Doch nicht nur der Einzelhandel in ärmeren Stadteilen wie Kreuzberg leidet. In einer aktuellen Untersuchung der Blumenauer Immobilien Research GmbH (Bad Soden) rangiert an Wochentagen nicht einmal mehr Berlins Renommier-Einkaufsmeile, der Tauentzien, unter den zehn Shoppingstraßen mit dem höchsten Käuferandrang. Nur samstags kommt die Straße zwischen Gedächtniskirche und Nollendorfplatz auf den zehnten Platz. Der Ku'damm taucht in der Spitzengruppe nicht einmal auf. Neben abnehmender Attraktivität einzelner Standorte wie des Halleschen Tors macht Busch-Petersen auch die starke Konkurrenz von Einkaufsparks auf der grünen Wiese vor den Stadtgrenzen für die Schwierigkeiten des Einzelhandels verantwortlich. Außerdem führt Blumenauer den mangelnden Kundenandrang auf „das beeinträchtigte Ambiente durch die andauernden Umgestaltungs- und Neubaumaßnahmen“ zurück. Deshalb werden in dem Bericht für die von Baumaßnahmen betroffene Luxuszeile Friedrichstaße „enttäuschende Frequenzen“ bei Flaneuren genannt; für Charlottenburgs Kaufmeile, die Wilmersdorfer Straße, wird ein Rückgang um 50 Prozent beim Passantenaufkommen festgestellt. Mit Blick auf Hertie am Halleschen Tor zeigt sich HBV-Chef Manfred Birkahn aus einem weiteren Grund verärgert: „Die beabsichtigte Schließung hat Karstadt von langer Hand vorbereitet“, ohne die Beschäftigten zu informieren. Bereits in einem internen Schreiben der Karstadt AG vom 15. Januar werde die Schließung behandelt, so Birkahn. Das Grundstück sei bereits an ein Karstadt-Tochterunternehmen, die Risal Beteilungs GmbH, veräußert worden. Beteiligt am Verkauf sei auch die LHI-Leasing in München. Verhandlungen über den Verkauf liefen bereits mit der Teppich Domäne, die aber die Karstadt-Mitarbeiter nicht übernehmen wolle. Nur wenige der 160 Mitarbeiter des Hertie-Kaufhauses haben die Qual der Wahl: „Wir werden Mitarbeitern das Angebot machen, in den bundesweiten Filialen zu arbeiten“, so Elmar Kratz, Sprecher des Mutterkonzerns, der Karstadt AG. Jedoch könnten nicht alle Beschäftigten übernommen werden. „Wir werden Abfindungen, abhängig von der Beschäftigungsdauer, zahlen“, so der Sprecher. Peter Sennekamp, Hannes Koch
P.Sennekamp / H.Koch
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Bürger wollen Billy - taz.de
Bürger wollen Billy IKEA-ALTONA Die Initiative „Pro-IKEA“ kämpft für eine Niederlassung des schwedischen Möbelhauses im ehemaligen Frappant in Altona Ikea kommtDie Wahrscheinlichkeit, dass Ikea in Altona eine Filiale eröffnet, ist groß:■ Der Aufsichtsrat des schwedischen Möbelkonzerns hat den Plänen von Ikea Ende März zugestimmt.■ Ein Verkehrsgutachten der Argus GmbH behauptete eine vertretbare Steigerung des Verkehrs.■ Das Bezirksamt lädt am 16. September zu einer öffentlichen Anhörung.■ Die Abrissarbeiten sollen Anfang nächsten Jahres beginnen.■ Die Eröffnung des Möbelhauses ist für das Jahr 2012 geplant. Seit fünf Jahren steht das ehemalige Frappant-Warenhaus in der Großen Bergstraße leer und war zeitweise von kulturellen Einrichtungen genutzt worden. Das solle auch möglichst so bleiben, findet die Bürgerinitiative „Kein Ikea in Altona“: „Raum für Menschen statt Möbel“ ist die Forderung. Es gibt aber auch Anwohner und Vertrauensleute aus dem Einzelhandel, die sich auf das neue Möbelhaus von Ikea Deutschland freuen, das das Frappant-Gebäude in Altona ersetzen soll. „Ich will diesen hässlichen Klotz einfach nicht mehr anschauen“, sagt Hella Dierking, Inhaberin der Einhorn Apotheke und Mitglied der Initiative „Pro-IKEA“. Dierking hat nun zusammen mit Heinz Weißsteiner (Hair Inn) und Gregor Lammers (Foto Studio Lammers) im Namen des Einzelhandelsverbands Einkaufscity Altona (ECA) einen Antrag auf ein Bürgerbegehren für eine IKEA-Niederlassung im ehemaligen Frappant gestellt. „Unser Bürgerbegehren hat einen symbolischen Charakter“, sagt Gregor Lammers. Er ist seit 25 Jahren in dem Quartier. Seine Kunden seien keine Ikea-Gegner. „Ikea ist unsere allerletzte Chance, aus der Großen Bergstraße etwas zu machen.“ Was früher mal die Vorzeigefußgängerzone Europas gewesen sei, sterbe nun mehr und mehr aus, sagt Lammers. „Nach dem Verlust von Karstadt und Aldi blieben die Kunden aus. Ikea wäre ein Magnet – auch für potenzielle Kunden des Einzelhandels.“ Die Initiative „Kein Ikea in Altona“ dagegen fürchtet, dass wegen der vielen Kunden ein Autobahnzubringer durch Altona gebaut wird und dass durch Luxussanierungen die Anwohner vertrieben werden. Aus Sicht des Vorsitzenden des ECA und Reisebüro-Inhabers Klaus-Peter Sydow kümmere das nur die wenigsten. „Wir haben Stimmenabgaben bis hoch zur Max-Brauer-Allee.“ Dass ein attraktiveres Umfeld auch steigende Mieten für die Gewerbetreibenden mit sich bringt, sieht Gregor Lammers nicht als Problem: „Jede Miete ist bezahlbar, wenn der Umsatz stimmt.“ Auch um die Infrastruktur mache man sich Gedanken und wolle, dass Ikea sich um ein Verkehrskonzept bemüht. Für den kommenden Mittwoch hat das Bezirksamt zu einer öffentlichen Anhörung des Sonderausschusses „Ikea“ geladen. Derzeit arbeiten mehrere Planungsbüros von Ikea daran, die Vorschläge „publikumsfreundlich“ zu machen. Simone Settergen von der Expansionsabteilung beantwortete vorab allerdings keine Fragen. EVA-MARIA MUSHOLT
EVA-MARIA MUSHOLT
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das denkt dutschke - taz.de
das denkt dutschke Das Thema der Woche? Der Parteitag der Demokraten ging letzte Woche zu Ende. John Kerry hat offiziell die Nominierung seiner Partei angenommen. Das schwingt noch nach. War Kerry wirklich so überzeugend? John Kerry hat versucht, sich als den besseren Kriegsherrn darzustellen. Er hat bei seiner Rede betont, dass er auch für Sicherheit sorgen kann, dass er aber nicht über Grund und Zweck lügen wird, falls er amerikanische Truppen in einen Krieg schickt. Dass er auch ein lässiger, sympathischer Kumpeltyp ist, versucht er weiterhin zu beweisen, indem er sich beim Baseball, beim Radfahren, Snowboarden und Windsurfen fotografieren lässt. Letzten Endes ändert das nichts daran, dass die Wahl sehr eng wird. Sie wird in den wechselnd wählenden „Swing States“ Florida, Ohio, Pennsylvania, Minnesota, Wisconsin und Michigan entschieden. Wer wird der nächste Präsident? In den vergangenen Jahren hat der Herausforderer nach seinem Parteitag großen Auftrieb erhalten. Aber auch wenn Kerry in Umfragen zulegen sollte, bedeutet es noch gar nichts. Michael Dukakis, Gegner von Bush sr., hatte 1988 nach seinem Parteitag 20 Prozent Vorsprung – und verlor grandios.
MAREK DUTSCHKE
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USA sucht Edward Snowden: Lange Nase aus Moskau - taz.de
USA sucht Edward Snowden: Lange Nase aus Moskau Moskau genießt die Verärgerung der USA über die mangelnde Kooperation. Die Beziehungen der beiden Länder sind ohnehin eher schlecht. Schon 2010 installierte Barack Obama im Rücken Dmitri Medwedews eine Abhörwanze. Bild: dpa MOSKAU taz | Die russisch-amerikanischen Beziehungen bewegen sich seit Langem um den Gefrierpunkt. Der Neustart im bilateralen Verhältnis, den Präsident Barack Obama und der damalige Kremlchef Dmitri Medwedjew 2009 in Gang zu setzen versuchten, wurde nie wirklich umgesetzt. Störversuche, Sticheleien und Schadenfreude bestimmen den Umgang miteinander. Die Affäre um Edward Snowden, der auf der Flucht vor den US-Behörden im Transitbereich des Moskauer Flughafens auf seine Weiterreise wartete, hat die Spannungen noch erhöht, weil Moskau es ablehnte, den Wünschen der Vereinigten Staaten nach einer Auslieferung des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters nachzukommen. Für eine Festnahme gebe es keine rechtlichen Anhaltspunkte, so die russische Begründung. Auch die Interpol-Datenbank enthalte keine Informationen über den flüchtigen 30-Jährigen, der Ecuador um politisches Asyl gebeten haben soll. Obwohl sich die russischen Medien zu diversen Spekulationen verstiegen, scheint Snowden nicht um Asyl in Russland ersucht zu haben. Ob es Kontakte zwischen dem Transitreisenden und russischen Sicherheitsstrukturen gab, ist so wenig bekannt wie die Frage, ob der russische Geheimdienst versucht hat, den US-amerikanischen Whistleblower zu bewegen, in Russland zu bleiben. Klar ist dagegen, dass die Tatsache, dass Snowden sein US-Pass aberkannt wurde, für die russischen Behörden keinen Grund zur Festnahme darstellt: Der Reisende hielt sich im Transitbereich des Flughafens auf – und musste folglich zu keinem Zeitpunkt eine russische Passkontrolle durchqueren. Kaum zu übersehen ist, dass Russland die Aufregung in den USA auskostet und jede Anfrage aus Washington genüsslich abtropfen lässt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Alexei Puschkow, erinnerte daran, dass die USA auf dem G20-Treffen 2009 in London den damaligen Präsidenten Medwedjew abgehört hatten. Damals habe sich die Regierung in Washington auch keine Gedanken über die Konsequenzen gemacht.
Klaus-Helge Donath
Moskau genießt die Verärgerung der USA über die mangelnde Kooperation. Die Beziehungen der beiden Länder sind ohnehin eher schlecht.
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Weiß mit Tiefgang - taz.de
Weiß mit Tiefgang ■ Eimer, Holzklotz und die Eltern: Zwei Kunststudenten aus Ottersberg zeigen in einer ehemaligen Viertelkneipe ihre Arbeiten Nicht alle Vermieter sind Kunstbanausen. Als die Studenten Leo Bertram und Jan Bathel von der Ottersberger Fachhochschule für Kunsttherapie, Kunstpädagogik und Kunst eine Räumlichkeit suchten, in der sie der Bremer Öffentlichkeit ihre neuesten Exponate vorstellen können, war eine ablehnende Antwort zugleich auch die freundlichste. Schließlich aber fanden sie doch noch einen vermietenden Kunstliebhaber. Bis Ende Januar präsentieren die beiden Nachwuchskünstler nun an der Lessingstraße 63 ihre Arbeiten. So heißt auch der Titel der Ausstellung schlicht „Arbeitspräsentation“. Ein zweideutiger Name, wie man bei Eintritt in die ehemalige Kneipe meinen könnte: Eine auf dem Boden liegende Metallrinne, ein Holzklotz und ein alter Plastikeimer lassen vermuten, hier seien wohl noch Handwerker am Schaffen. Wie so oft bei moderner Plastik bedarf es auch hier des expliziten Hinweises, dass der Eimer nicht wegen einer undichten Decke angebracht wurde, sondern Teil des Kunstwerkes ist. Das erklärt der während der Ausstellung anwesende Künstler Leo Betram dem interessierten Betrachter höchstselbst. Fünf Objekte sind über den Boden verteilt. Neben Eimer und Rinne gehören noch ein abgerundeter Holzblock und zwei weiße, rundlich geformte Elemente dazu. Was es damit auf sich hat, ist mit Zweckdenken nicht zu erfassen. Leo Bertram sollte man auch nicht fragen, denn der ist schließlich Künstler. Und die interpretieren nicht gern. „Hier wächst etwas – etwas Zerbrechliches“, sagt Leo Bertram knapp. Aha! Eine Knospe! „Um Gottes Willen, nein! Eine Knospe wäre vollkommen falsch“, widerspricht der Kunststudent vehement und verweist auf seine Zeichenstudien. Von den Bleistiftskizzen auf Kopierpapier, Momentaufnahmen seiner geistigen Inspiration, wird sich vielleicht ein Zugang zu der Plastik finden lassen. Doch auch ein gereichter Zettel, auf welchem Bertram poetisch einen nächtlichen, kafkaesken Traum notiert, erleichtert nicht die Suche nach dem Sinn. Gleichwohl ist unverkennbar, dass durchaus etwas dahinter steckt. Die Anordnung klar begreifbarer und schwer zu definierender Elemente sowie die dynamische Ausrichtung der Gruppierung von einem Holzblock hin zu einer gelben Fläche an der Wand entwickeln eine interessante Ästhetik. Nicht ganz so sparsam mit verständlichen Hinweisen auf seine Arbeitsweise ist Jan Bathel. Er hat für seine Bilder ein folienartiges weißes Papier verwendet. Die Begründung für seine Wahl: „Weil ich endlich ein Weiß gefunden habe, das Tiefe hat.“ Darauf zeichnet er in beinahe fotografischer Genauigkeit Portraits seiner Eltern. Vor ihrem weißen Hintergrund entfalten sie eine seltsame Plastizität und – in diesem Ausstellungsraum – auch eine gewisse Kälte. Es sei schon seltsam, sagt Leo Betram: „Da hat man bereits Madonnenbilder und Göttererscheinungen gemalt. Und plötzlich fängt man wieder bei den eigenen Eltern an!“ Johannes Bruggaier Die Ausstellung „Arbeitspräsentation“ ist noch bis zum 26. Januar täglich von 15 bis 19 Uhr an der Lessingstraße 63 zu sehen.
Johannes Bruggaier
■ Eimer, Holzklotz und die Eltern: Zwei Kunststudenten aus Ottersberg zeigen in einer ehemaligen Viertelkneipe ihre Arbeiten
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Müllers Bananenschloss - taz.de
Müllers Bananenschloss Der große Blonde mit der Kamera und sein Traum. Thomas Müller hat auf Gomera eine alte Bananenverladestation entdeckt, renoviert und ein Kulturzentrum daraus gemacht VON NICOL SCHMIDT Der Wind pfeift. Schwarzgraue, zerklüftete Basaltfelsen bauen sich auf wie senkrechte Mauern. Meterhoch schlagen die Wellen dagegen. Gischt spritzt. So stellt man sich das Ende der Welt vor. Dabei war Thomas Müller mit seinen Gästen gerade noch ein palmenbestandenes Tal hinaufgefahren. Sie streiften grüne Terrassenlandschaften an den Flanken gewaltiger Vulkanschlote, stille Ortschaften mit weiß getünchten Häusern. Dann bog er am nördlichsten Zipfel der kleinen Insel ab auf eine Holperpiste an der Küste. Und plötzlich toben hier die Urgewalten. Aber da, ganz vorne an Rand einer Klippe, steht unbehelligt wie ein Fels in der Brandung eine steinerne Burg. „Meine Piratenburg, mein Kindheitstraum, mein Abenteuerspielplatz, mein Schicksal“, schwärmt der Darmstädter Thomas Müller. Was für eine Begeisterung, nach 28 Jahren noch. Ganz zufällig hat der große Blonde damals, im Urlaub auf La Gomera mit Rucksack und Kamera, die alte Bananenverladestation entdeckt. Da war er 23 und das einst trutzige Bauwerk nicht viel mehr als ein Steinhaufen. In seiner Fantasie aber stand die 1890 erbaute Hafenanlage wieder auf. Einer wehrhaften Burg ähnlich. Nur wenig später gab der Hesse seinen Job als Stadtplaner am Darmstädter Institut für Wohn- und Umwelt auf und kam zurück. Die kleine Kanareninsel wirkte auf ihn wie ein Magnet. Es war ihr ganz besonderes Licht, nach dem er süchtig wurde. „Außerdem findest du hier alle Landschaften: Dschungel, Wüste, den Atlantik, kannst auf Berge kraxeln und mit Delfinen reiten, es gibt alte koloniale Architektur wie in Agulo.“ Und er war besessen von dem Wunsch, die in den 50er Jahren stillgelegte Burg im Meer vor dem endgültigen Verfall zu retten. Also sprach Thomas Müller beim damaligen Besitzer vor, legte dem verdutzten Mann umgerechnet 3.000 Euro auf den Tisch. Es dauerte allerdings 20 Jahre, bis die Inselregierung den einzigen Landzugang, die zugeschüttete Küstenstraße, wieder herrichtete. Zeit genug für den Macher Müller, ein Vermögen zu verdienen. Er fotografierte alle und alles – gefühlvolle Bilder von den Menschen und Landschaften La Gomeras. Und wurde der Inselfotograf, genannt „El Fotografo“. Sämtliche Postkarten, die es auf La Gomera zu kaufen gibt, sind seine Motive. Dann kamen noch Bildbände, Inselführer, ein paar Immobiliengeschäfte dazu. „Alles, was ich hatte“, steckte der Einwanderer in die Renovierung. Und ein paar Bankkredite noch dazu. „Es waren mehrere Millionen.“ Fast ist sein Castillo del Mar vollendet. Es ist ein Begegnungs- und Kulturzentrum vom Feinsten, das eine dramatische Kulisse für Discovollmondnächte und einen Kunstmarkt bietet. Im zinnengekrönten Turm können Gäste in einer Honeymoonsuite übernachten, im neuen Restaurant meerumspült speisen. Allerdings fehlen genug zahlende Besucher, die den serpentinenreichen Weg hierher finden. „Die kommen schon. Mit den richtigen Zugpferden. Warum nicht Andreas Vollenweider oder Santana?“, greift Müller nach den Sternen. So kann nur ein Romantiker und Idealist reden. „Das Castillo bedeutet mir mehr als alles Geld auf der Welt.“ Was hat er sich nicht alles als Unterstützungstöpfe einfallen lassen. „Banano brut“, einem Bananenprosecco. Hunderte von Flaschen ließ er schon produzieren. Janosch, ein Freund, entwarf das Etikett. „Alles war im Nu weg.“ Doch es fehlt der Investor, der im großen Stil einsteigt. Oder Bananenchips, die er versuchsweise selber herstellte. „Die Trocknungsanlage habe ich für 1.000 Euro von einer bankrotten Firma aus Darmstadt geholt.“ Oder das neu eröffnete Apartment-Hotel Gomera-Lounge im Valle Gran Rey mit Wellness-Bereich . Das Castillo verschlingt trotzdem mehr, als jemals gedacht. Vor einem halben Jahr ging auch noch das Aggregat kaputt, das eh schon irre teuren Strom produziert. Das Castillo blieb bis zum Jahresende zu. Hilfe erhielt Müller nicht. „Den Antrag auf Vernetzung stellten wir schon vor Jahren. Doch die Küstenregierung gibt kein Okay.“ Er vermutet: Weil das Castillo dermaßen schön im hochsensiblen Küstenbereich liegt „weckt das beim Küstenamt Begehrlichkeiten, es sich einzuverleiben“. Aber Müller gibt nicht auf. Er hat einen aufs Küstenrecht spezialisierten Rechtsanwalt eingeschaltet, schreibt an Bundestagsabgeordnete, spricht mit jedem, den er trifft, fast nur noch über dieses Thema. Und wenn der deutsche Abenteurer endlich sein Ziel erreicht hat, ist er dann wahrscheinlich 80 und wird das Castillo, so lautet der Vertrag, sowieso an die Insel zurückgeben müssen. Das sei völlig in Ordnung. Dann werde er mit Kamera und Rucksack wieder zurück nach Darmstadt gehen – in die Maulbeerallee, wo er von den Eltern ein zauberhaftes Grundstück mit Holzhäuschen geerbt hat. „Aber es hat mir wenigstens großen Spaß gemacht.“ Castillo del Mar, Parque Marítimo, 38840 Vallehermoso, Tel. +349 22 80 04 97, www.castillo-del-mar.com, www.gomeralounge.de, Tel. +349 22 80 51 95
NICOL SCHMIDT
Der große Blonde mit der Kamera und sein Traum. Thomas Müller hat auf Gomera eine alte Bananenverladestation entdeckt, renoviert und ein Kulturzentrum daraus gemacht
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■ Zwischenfälle an der Grenze zu Albanien: Erneut Tote bei serbischen Razzien im Kosovo - taz.de
■ Zwischenfälle an der Grenze zu Albanien: Erneut Tote bei serbischen Razzien im Kosovo Turicevac/Belgrad (rtr/dpa) – In der serbischen Provinz Kosovo hat die Polizei am Wochenende ihre gewaltsamen Razzien gegen die albanische Bevölkerung fortgesetzt. In der Region Drenica wurden nach Berichten von Augenzeugen seit Freitag abend mindestens vier Albaner getötet. Drei seien bei Übergriffen der Polizei auf das Dorf Vojnik umgekommen. In Turicevac war zuvor der 35jährige Agim Emin Emini nach Angaben seiner Familie von serbischen Polizisten getötet worden. Polizeieinheiten hätten den Ort am Freitag morgen beschossen, sagte Dorfbewohner. Dutzende Menschen flohen zu Fuß vor den Polizisten. In dem Gebiet war immer wieder Granaten- und Maschinengewehrfeuer zu hören. Nach serbischen Angaben versuchte eine Gruppe von Albanern in der Nacht zum Sonntag zweimal, illegal die Grenze zu überqueren und Waffen in den Kosovo einzuschmuggeln. Als jugoslawische Grenzsoldaten das Feuer eröffneten, hätten sich die Albaner zurückgezogen.
taz. die tageszeitung
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Berliner Grüne zu Jamaika-Aus: „Es ist nie zu Ende“ - taz.de
Berliner Grüne zu Jamaika-Aus: „Es ist nie zu Ende“ Das Vertrauen fehlte zwischen Union, FDP und Grünen – darin sind sich Berliner Grüne einig. Dennoch schließt der Landeschef einen neuen Jamaika-Versuch nicht aus. Wer wird hier als nächstes zum Kanzler gewählt? Foto: dpa Reichlich nüchtern – weniger ernüchtert – haben die Berliner Grünen auf das überraschende Aus der Jamaika-Sondierungen reagiert. „Der Abbruch war nicht komplett verwunderlich. Man hat ja gemerkt, dass es an vielen Ecken und Enden gehakt hat“, sagte Werner Graf, einer der beiden Landeschefs, am Montag der taz. Die Stimmung zwischen den vier Parteien sei „nicht vertrauensvoll“ gewesen, obwohl Sondierungen eigentlich „die nette Zeit“ im Vergleich zur späteren Regierungssphase seien. Inhaltlich seien die Verhandlungen „teilweise über die Schmerzgrenze hinaus“ gegangen. Dennoch sei es richtig gewesen, sich an einen Tisch zu setzen, betonte Graf. „Wir sind nicht in der Politik, um Freunde zu finden. Wir haben einen politischen Auftrag und kämpfen für bestimmte Inhalte.“ Der grüne Landeschef wollte keine Prognose wagen, ob es nun auf Neuwahlen oder Sondierungen zwischen anderen Parteien hinauslaufe. Sogar einen erneuten Anlauf für Jamaika schloss er nicht aus. „Es ist nie vorbei“, so Graf. Anders sieht das Antje Kapek. „Jamaika ist gegessen“, sagte die grüne Fraktionschefin der taz. Bereits seit Wochen habe sie damit gerechnet, dass CSU oder FDP die Sondierungen scheitern lasse. Die FDP habe ja bereits im Wahlkampf ein solches Bündnis ausgeschlossen. Kapek warf den Liberalen vor, sich „brutal vor der Verantwortung“ zu drücken. Bisher habe Parteichef Christian Lindner noch keinen inhaltlichen Punkt gesagt, warum es nicht geklappt habe. Kapek geht davon aus, dass in der SPD doch noch eine Debatte um eine mögliche Regierungsbeteiligung aufkomme, die letztlich mit einem Mitgliederentscheid ende, bei dem die Befürworter gewinnen würden. SPD-Bundeschef Martin Schulz hat am Montag allerdings noch einmal bekräftigt, dass die SPD in die Opposition gehen werde.Eine Minderheitsregierung auf Bundesebene hält Kapek für keine geeignete Option. Antje Kapek, Fraktionschefin„Die FDP drückt sich brutal vor der Verantwortung“ „Jamaika wäre sehr schwierig geworden“, sagte die Sprecherin der Grünen Jugend Berlin, Louisa Hattendorff. Sie kritisierte die Kompromissangebote, die die grünen Verhandler in der Schlussphase der Sondierungen vorgebracht hätten. „Da ist die Schmerzgrenze der Partei neu ausgelotet worden“, sagte sie und kündigte eine Debatte darüber an. Die Sondierungen hätten auch gezeigt, dass ein Jamaika-Bündnis nicht langfristig existieren könnte. Ziel müsse es deswegen sein, auf eine linke Mehrheit hinzuarbeiten. Sie glaubt aber nicht, dass es bei möglichen Neuwahlen bereits für Rot-Rot-Grün auf Bundesebene reichen würde. Zumindest auf Berliner Landesebene gibt es einen rot-rot-grünen Grundkonsens, so Antje Kapek. Sie betonte: „Ich regiere total gerne.“ Die Linke in Berlin sei aber eine andere Partei als im Bund, wo sich stark populistische Töne immer mehr durchsetzen.
Bert Schulz
Das Vertrauen fehlte zwischen Union, FDP und Grünen – darin sind sich Berliner Grüne einig. Dennoch schließt der Landeschef einen neuen Jamaika-Versuch nicht aus.
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Kommentar von Susanne Schwarz zum neuen EU-Energiepaket: Mit Wind und Sonne gegen Putin - taz.de
Kommentar von Susanne Schwarz zum neuen EU-Energiepaket: Mit Wind und Sonne gegen Putin Das Klima ist der Vater aller Dinge. Ging so nicht die jahrtausendealte Weisheit, die vom griechischen Philosophen Heraklit überliefert ist? Mittlerweile ist bekannt, dass das Klima und seine (damals natürlichen) Änderungen durch die Menschheitsgeschichte hinweg schon zu Aufstieg und Fall von Supermächten beigetragen haben. Es schafft Bedingungen für Ernten oder für Aufstände. Da ist es so symbolträchtig wie einleuchtend, dass die EU-Kommission ein umfassendes Energiewende-Paket genau an dem Tag vorstellt, an dem die Weltwetterorganisation gleich vier neue Klimakrisenrekorde meldet: beim Meeresspiegelanstieg, beim Wärmeinhalt der Ozeane, bei der Versauerung der Meere und bei der Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre. Oder? Es ist aber nicht das Klima, das Heraklit für den Vater aller Dinge hielt. Es ist der Krieg. Und so spricht aus jeder Zeile der Kommissionsdokumente heraus: Die erhöhten Zielmarken für die Nutzung erneuerbarer Energien, für das Energiesparen, für Öko-Investitionsmittel – all das gibt es, um Russlands Angriffskrieg gegen die Ukrai­ne etwas entgegenzusetzen. Die Angst davor, dass russisches Gas ausbleiben könnte, ist groß. Natürlich hätte es schon vorher einen Anlass für diese Schritte gegeben, die Bewahrung einer lebenswerten Erde, aber das macht die Ziele ja nicht falsch. Es ist ein im Großen und Ganzen überzeugendes Paket, das die EU-Kommission vorgelegt hat. Es hat jedoch auch seine Tücken. Zum Beispiel bei der Finanzierung: Eine Idee ist es, den Europäi­schen Emissionshandel wieder mit mehr Zertifikaten auszustatten, deren Verkauf ja Einnahmen generiert. Aber: Der Kauf eines Zertifikats erlaubt den Ausstoß einer Tonne CO2 – genau das, was der Emissionshandel durch fortschreitende Verknappung der Zertifikate eigentlich verhindern soll. Das wieder umzudrehen würde die sonstigen Ideen im neuen Paket konterkarieren. Was von alldem im europäischen Gesetzgebungsprozess von EU-Parlament und vor allem Mitgliedstaaten übrigbleibt, wird sich ohnehin erst noch zeigen. Wäre mit Deutschland zum Beispiel so etwas zu machen, wie es der luxemburgische Energieminister Claude Turmes mit Blick auf die Energiesparziele vorschlägt – EU-weites Tempolimit, autofreie Wochenenden, zwei Tage Homeoffice die Woche? Bisher scheitern solche Vorhaben hierzulande vor allem daran, dass auch die FDP Heraklits Ausspruch nicht mehr richtig in Erinnerung hat. Dass die bornierte Verteidigung sämtlicher Bequemlichkeiten wider besseres Wissen der Vater aller Dinge sei, hat der Philosoph bestimmt nicht gesagt.
Susanne Schwarz
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Blinde Eiferer - taz.de
Blinde Eiferer ■ Das Phantombild der neuen Rechten: REP Ein nach den Berliner Wahlen konzipiertes und jetzt erschienenes Buch war der Anlaß einer vom Rotbuch-Verlag organisierten Podiumsdiskussion: Der Göttinger Politikprofessor Claus Leggewie stellte dort seine Thesen über die „Republikaner“ vor, die er in seinem gestern erschienenen Rotbuch „Die Republikaner, Phantombild der neuen Rechten“ veröffentlichte, oder besser: er versuchte es. Kernthese Leggewies: Mit den REPs ist eine europäische Erscheinung ins Parteienspektrum der BRD eingetreten, die zur „Normalität“ gehören wird wie Le Pen in Frankreich. Schon diese These provozierte vielfältig die in dem Auditorium vertretenen „Antifaschisten“, die ihm Verharmlosungen der faschistischen Gefahren vorwarfen. Auch als er darauf hinwies, daß nicht Schönhuber von der „Durchrassung“ (O-Ton Stoiber, CSU) oder von der „Auschwitz -Lüge“ gesprochen hat, sprangen ihm die Antifaschisten geradezu ins Gesicht: SIe warfen ihm vor, nicht auf die vielfältigen direkten Einflußnahmen der alten und neuen Nazis auf die Führungsspitze der REPs hingewiesen zu haben. Doch darum ging es Leggewie nicht. Andere Teilnehmer der Veranstaltung fragten mit ihm, warum nach jahrzehntelanger Bedeutungslosigkeit rechter Splitterparteien die „Republikaner“ plötzlich reüssierten. Eine Antwort: Sie aktivieren rechte Nichtwähler: „man kann wieder wählen“. Sie greifen mit Themen wie Umweltschutz, Parteienfilz, Ausländerhetze und nationaler Frage populistisch massenwirksame Politikfelder auf, die teilweise auch die Linken zu besetzen suchten. Es gebe, so Leggewie, bei den „Republikanern“ durchaus derzeit zwei Entwicklungslinien: Eine in die Nachfolge rechtsradikaler Parteien wie der NPD (in Nordrhein-Westfalen rekrutiert sich die gesamte Führungsmannschaft der REPs aus NPDlern), die andere in Richtung auf die von Strauß seit über zehn Jahren geforderte bundesweite CSU. Die auf dem letzten Parteitag der Grünen deutlich gewordene Tendenz der Negation der Ausländerhetze sei keine politische Antwort, weil sie die durch die Entwicklung der multikulturellen Gesellschaften entstehenden Probleme völlig verdränge. Die im Auditorium zahlreich vertretenen Antifaschisten reagierten geradezu allergisch auf die Thesen Leggewies. Einige forderten von ihm, seiner „lockeren, liberalistischen“ Darstellungsweise zu entsagen. Über weite Strecken des Abends mußten unbeteiligte Zuschauer den Eindruck gewinnen, daß bei Diskussionen über die neuen Rechtsparteien mittlerweile Rede- und Denkverbote gefordert werden. Direkte Debatten zwischen den „Antifas“ und Publizisten wie Leggewie, die sich einen differenzierten Blick auf die neuen Rechtsparteien durch antifaschistische Aktionsbündnisse nicht verstellen lassen wollen, scheinen nur noch unter Geschrei möglich. Jony Eisenberg Claus Leggewie, „Die Republikaner, Phantombild der neuen Rechten“, Rotbuch-Verlag, 14 Mark.
j.eisenberg
■ Das Phantombild der neuen Rechten: REP
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Deutsche Prepaid-Karten: Kein Datenschutz für Geflüchtete? - taz.de
Deutsche Prepaid-Karten: Kein Datenschutz für Geflüchtete? Provider sollen nach drei Monaten die aktuellen Adressen von Geflüchteten erfragen. Doch eigentlich gehen sie die gar nichts an. Eine Notunterkunft in Stuttgart. Foto: dpa Wer keine passable Bonität vorweisen kann, ganz zu schweigen von einem deutschen Pass, hat es hierzulande schwer, einen Mobilfunkvertrag zu bekommen. Geflüchtete wählen daher Prepaid-Karten, wenn sie per Handy kommunizieren wollen. Bei denen haben die Telekommunikationsanbieter kein finanzielles Risiko – schließlich zahlt der Kunde sein Guthaben schon beim Kauf. Doch auch dort sollen Geflüchtete Nachteile in Kauf nehmen – zumindest, wenn es nach der Bundesnetzagentur geht. Die fordert die Provider auf, beim Verkauf einer Prepaid-Karte an Geflüchtete die Adresse der jeweiligen Erstaufnahmestelle aufzunehmen. So weit normal – laut dem Telekommunikationsgesetz sind Verbraucher beim Kauf verpflichtet, Name, Adresse und Geburtsdatum zu nennen. Allerdings ist der Verkäufer nicht verpflichtet, diese Angaben zu überprüfen – in der Praxis sind also auch eine Reihe von SIM-Karten im Umlauf, die auf falsche Daten registriert sind. Doch bei Menschen, die beim Kartenkauf die Adresse einer Erstaufnahmestelle angeben, soll folgende Besonderheit greifen: Drei Monate nach dem Kauf soll der Telekommunikationsprovider den Nutzer per SMS auf Englisch und Arabisch auffordern, eine aktuelle Adresse – die auch die alte sein kann – zu hinterlegen. Reagiert der Nutzer nicht, wird die Karte laut Michael Reifenberg, Sprecher der Bundesnetzagentur, 14 Tage später abgeschaltet. Asylsuchende sollten so die Möglichkeit bekommen, einen Mobilfunkanschluss zu erhalten, „ohne die gesetzlichen Vorgaben außer Acht zu lassen“, erklärt Reifenberg. Eine Erstaufnahmestelle sei keine dauerhafte Anschrift, daher müssten die Provider nachhaken. Datenschützer sehen das anders. „Damit steht ein Merkmal wie‚Flüchtling‘,oder‚Migrant‘in den Bestandsdaten, das ist datenschutzwidrig, weil es dafür keine Rechtsgrundlage gibt“, kritisiert Werner Hülsmann von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz. Die fehlende Pflicht zur Adressprüfung ist vor allem Sicherheitsbehörden ein Dorn im Auge Die Bundesnetzagentur betont zwar, dass das Verfahren keine dauerhafte Kennzeichnung des Kunden nach sich ziehen werde, ein Merkmal wie „Migrant“ solle es nicht geben. Doch Hülsmann hält das für unplausibel. Schließlich müsse allein, um nach drei Monaten eine SMS verschicken zu können, irgendwo in der Software eine entsprechende Information hinterlegt sein – auch die Information, dass eine derartige SMS versendet werde oder wurde, lasse entsprechende Rückschlüsse zu. Die fehlende Pflicht zur Adressprüfung beim Verkauf von SIM-Karten ist vor allem Sicherheitsbehörden ein Dorn im Auge. Denn sie haben ein Interesse an korrekten Adressen. Sonst führen manche Ermittlungswege ins Leere, etwa wenn eine SIM-Karte ihrem Verwender zugeordnet werden soll. Das passiert etwa nach dem Einsatz von IMSI-Catchern, mit denen sich ermitteln lässt, welche SIM-Karte zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Funkzelle eingebucht war. Laut einem Sprecher der Bundesnetzagentur geht die – mit dem Wirtschafts- und Innenministerium abgestimmte – Regelung auf Anfragen der Provider zurück, die wissen wollten, wie sie mit der Registrierung von Geflüchteten ohne dauerhaften Wohnsitz umgehen sollen. Datenschützer Hülsmann kritisiert, dass so mit zweierlei Maß gemessen werde: Regulär ist beim Kauf einer SIM-Karte der Kunde dafür zuständig, die Adresse aktuell zu halten. Provider fragen etwa nicht nach, ob ein Kunde umgezogen ist – und hätten auch keine Rechtsgrundlage dafür.
Svenja Bergt
Provider sollen nach drei Monaten die aktuellen Adressen von Geflüchteten erfragen. Doch eigentlich gehen sie die gar nichts an.
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Urlaub in Coronazeiten: Tourismusbranche droht Debakel - taz.de
Urlaub in Coronazeiten: Tourismusbranche droht Debakel Die EU-Tourismusbranche muss mit 400 Milliarden Euro Verlust rechnen. Kommissionschefin von der Leyen sucht nach „intelligenten Lösungen“. Zugegeben, nicht Capri. Touristen am Steinstrand, in Rijeka, Kroatien Foto: Eibner Europa/imago BRÜSSEL taz | Nach der Zwangspause in der Industrie droht der EU nun auch noch ein Debakel in der Tourismusbranche. Wegen der Coronakrise könnte der Umsatz in diesem Jahr um bis zu 70 Prozent einbrechen, sagte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton in Brüssel. Nach ersten Schätzungen könnten der europäischen Reisebranche zwischen 275 und 400 Milliarden Euro verloren gehen, so der Franzose. Vor allem die besonders von der Coronakrise getroffenen Länder Italien, Spanien und Frankreich rechnen mit massiven Einbrüchen. Dort ist bisher nicht einmal ein Ende der Ausgangssperren absehbar. Aber es gibt auch Hoffnungsschimmer. So bereiten sich Griechenland, Portugal, Kroatien und Österreich trotz aller Probleme mit Covid-19 auf die Urlaubssaison vor. Doch noch gelten fast überall Reisewarnungen, Grenzkontrollen und andere Einschränkungen etwa an den Häfen und Flughäfen. Die Reisefreiheit ist im gesamten Schengen-Raum eingeschränkt oder aufgehoben. Über eine mögliche Lockerung müssten sich zunächst die Außenminister einigen, hieß es am Montag am Rande einer Videokonferenz der EU-Tourismusminister. Ihre Hoffnung ruht vor allem auf bilateralen oder regionalen Absprachen. So brachte die österreichische Tourismusministerin Elisabeth Köstinger eine mögliche Vereinbarung mit Berlin ins Gespräch. „Wenn Länder auf einem sehr guten und positiven Weg sind, wie beispielsweise Deutschland, dann gibt es durchaus auch die Möglichkeit, dass man sich bilateral einigt.“ Ursula von der Leyen, EU„Urlaub vielleicht ein bisschen anders, mit mehr Abstand“ Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg stellte am Montag jedoch klar, dass sein Land keine Alleingänge plane. Er schwenkte damit auf die Linie seines deutschen Amtskollegen Heiko Maas ein, der vor einem „europäischen Wettlauf“ gewarnt hat. Das führe zu unvertretbaren Risiken, so Maas. Europa brauche gemeinsame Kriterien für einen Weg zurück zur Reisefreiheit – „so schnell wie möglich, aber so verantwortlich wie nötig“. Mit einem schnellen Ende der Reisewarnungen sei nicht zu rechnen. Die aktuelle deutsche Warnung gilt bis zum 3. Mai. Der Deutsche Reiseverband (DRV) drängt unterdessen auf eine allmähliche Lockerung. Die Risikoabschätzung für die Reiseländer müsse wieder differenzierter werden, fordert DRV-Präsident Norbert Fiebig. Nach einer Öffnung bestimmter Regionen in Deutschland könnten schrittweise auch jene Länder in Europa freigegeben werden, welche die Coronapandemie gut gemeistert hätten. Optimistisch gibt sich auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Wir werden intelligente Lösungen finden, um etwas Urlaub machen zu können“, erklärte die CDU-Politikerin. „Vielleicht ein bisschen anders, mit anderen Hygienemaßnahmen, etwas mehr Abstand.“ Die EU-Kommission will am Mittwoch erstmals über die Tourismusbranche und mögliche EU-Hilfen beraten. Dabei dürfte es auch um die Frage gehen, ob bereits gebuchte Urlaubsreisen erstattet werden können. Berlin hat sich für eine Gutscheinlösung ausgesprochen. Brüssel hält jedoch dagegen und fordert eine Rückerstattung. Nach EU-Recht hätten Verbraucher die Wahl, ob sie einen Gutschein akzeptierten oder eine Erstattung bevorzugten, sagte der zuständige EU-Kommissar Didier Reynders. Doch Brüssel könnte Berlin in der Frage genauso entgegenkommen wie am Montag bei der Rettung der angeschlagenen Fluggesellschaft Condor. Die Kommission hat einen Notkredit der Bundesregierung von 550 Millionen Euro an die Airline im Eilverfahren durchgewinkt. Dies sei eine angemessene Reaktion auf die Krise, hieß es in Brüssel.
Eric Bonse
Die EU-Tourismusbranche muss mit 400 Milliarden Euro Verlust rechnen. Kommissionschefin von der Leyen sucht nach „intelligenten Lösungen“.
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Nachschlag - taz.de
Nachschlag ■ Für alle tragbar: Das soziale ABM-Projekt „Mode-Theater“ Foto: Annette Hauschild/Z 21 Wen schaudert's nicht beim Betreten eines Seniorenfreizeitheims angesichts großgeblümter Kittelschürzen und ausgeleierter Polyester-Pullis? Wer wandte sich nicht schon angeekelt ab von Gören in grellen Anoraks, Backfischen in buntbedruckten Sweatshirts und Frauen in Leggings und Schlabberpullis? Gerade in Berlin kann man ganze Stadtviertel durchwandern auf der Suche nach einem einzigen gutgekleideten Menschen – vergebens. Das muß nicht so bleiben. Am Mittwoch stellten die Designerin Tamara Rouditser und ihr „Mode-Theater“ in der Siemens-Villa eine Kollektion vor, die für jede Frau erschwinglich ist und auch ältere Damen und Mädchen berücksichtigt. Kaum eine Kombination kommt ohne Westen aus: Kurz und knapp lassen sie über Seventies-Hüfthosen den Nabel frei, lang und gerade fallen sie über solide Plisseeröcke. Natur- und Pastelltöne dominieren, nur die Strandmode feiert eine Orgie in bunten Folklore- Mustern. Höhepunkt des Defilees waren zwei raffinierte Synthetik-Abendkleider mit Schlangenmuster. Tamara Rouditser verbindet einen zeitlosen Stil geschickt mit aktuellen Trends wie transparenten Stoffen und Korsagen à la Versace. „Tragbare Sachen zu machen ist viel schwerer als verrückte“, meint die Designerin und hat damit zweifellos recht. „Mode-Theater“ bietet allerdings nur Mode und kein Theater. Zwar läuft eine kleine Geschichte von einer restlos überarbeiteten Frau und ihrem Geliebten (Hochzeit und Happy-end inklusive) vom Band, doch die zwölf Models, allesamt Laien, tänzeln dazu auch nicht anders über den Laufsteg als ihre berühmten Kolleginnen in Paris und Mailand. Das ABM-Projekt unter dem Dach der Beschäftigungsgesellschaft IQ MediaTech läuft seit Oktober letzten Jahres und wird vom Senat für Arbeit und Frauen gefördert. So defilierte auch die Senatorin Christine Bergmann in hellen Marlene-Hosen über den Laufsteg und lobte laut das „pfiffige Design“. 18 arbeitslosen Frauen hat Tamara Rouditser, die an der Fachhochschule für Damenmode in Minsk studiert hat, Nähen und Zuschneiden beigebracht. Die Kollektion wird in SeniorInnenheimen oder Frauenzentren vorgeführt und kann dort zum Selbstkostenpreis von 15 bis 50 Mark pro Teil erworben werden. Männer allerdings bleiben außen vor; und so werden die Straßen Berlins auch weiterhin von Trägern violetter Jogginganzüge bevölkert sein. Miriam Hoffmeyer
Thomas Winkler
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Vernichtete Unterlagen zum NSU: Bundesanwälte durften schreddern - taz.de
Vernichtete Unterlagen zum NSU: Bundesanwälte durften schreddern Notizbuch weg? Kein Problem: Das Verbot, Unterlagen aus dem NSU-Komplex zu vernichten, gilt nicht für die Bundesanwaltschaft, sagt der Staatsanwalt. Sag mir, wo die Akten sind… – offenbar hat die Bundesanwaltschaft sie ganz legal vernichtet Foto: dpa MÜNCHEN/KARLSRUHE dpa | Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe wird kein Ermittlungsverfahren gegen Bundesanwälte wegen der Vernichtung des Notizbuchs eines mutmaßlichen NSU-Unterstützers einleiten. Das sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Tobias Wagner, am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. Die beiden Nebenklage-Anwälte im NSU-Prozess, Mehmet Daimagüler und Seda Basay, hatten den Vorgang angezeigt. Wagner sagte, es habe sich kein Anfangsverdacht für eine Straftat ergeben. Seine Behörde habe geprüft, ob gegen Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft wegen Rechtsbeugung oder Strafvereitelung ermittelt werden müsse. Das sei aber nicht der Fall. Die Vernichtung von Asservaten sei grundsätzlich rechtmäßig, wenn das betreffende Verfahren abgeschlossen sei. Das vom Bundesinnenministerium verhängte generelle Verbot, Unterlagen aus dem NSU-Komplex zu vernichten, gelte für die Bundesanwaltschaft nicht. „Es würde sich eher um eine Fahrlässigkeit handeln, die nicht strafbar ist“, sagte Wagner. Das vernichtete Notizbuch gehörte einem Chemnitzer Neonazi, gegen den die Bundesanwaltschaft noch ein Ermittlungsverfahren führt. Sie geht dem Verdacht nach, er habe den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) unterstützt, für dessen überwiegend rassistisch motivierte Mordserie Beate Zschäpe angeklagt ist.
taz. die tageszeitung
Notizbuch weg? Kein Problem: Das Verbot, Unterlagen aus dem NSU-Komplex zu vernichten, gilt nicht für die Bundesanwaltschaft, sagt der Staatsanwalt.
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Studie zum Klimawandel an der Antarktis: Das Eis schmilzt sechsmal schneller - taz.de
Studie zum Klimawandel an der Antarktis: Das Eis schmilzt sechsmal schneller In den 1980er-Jahren verlor die Antarktis 40 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Eine Studie zeigt, das es inzwischen mehr als 250 Milliarden Tonnen jährlich sind. Wird immer weniger: antarktisches Eis Foto: dpa WASHINGTON ap | Das Eis der Antarktis schmilzt derzeit sechs mal so schnell wie in den 1980er-Jahren. Das geht aus einer am Montag veröffentlichten Studie hervor. Seit 2009 habe die Antarktis jährlich fast 252 Milliarden Tonnen Eis verloren. In den 1980er-Jahren seien es 40 Milliarden Tonnen pro Jahr gewesen. Für die in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlichte Studie wurde mithilfe von Luftaufnahmen, Satellitenmessungen und Computermodelle erfasst, wie schnell das Eis seit 1979 an 176 Stellen in der Antarktis geschmolzen ist. Die dramatische Beschleunigung des Abschmelzens ist ein Indikator für den vom Menschen verursachten Klimawandel. Die ermittelte Menge des schmelzenden Eises ist 15 Prozent höher als bei einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie. Erstautor Eric Rignot von der University of California sagte, dass seine Untersuchung zu dem Ergebnis komme, dass die Ostantarktis jährlich 51 Milliarden Tonnen Eis verliere. Die Studie aus dem Vorjahr hatte für die Ostantarktis keinen oder geringen Verlust vermeldet. Durch das dortige Abschmelzen steige „das Risiko eines Anstiegs des Meeresspiegels um mehrere Meter im Laufe des nächsten Jahrhunderts oder so“, sagte Rignot. Richard Alley, ein Forscher der Pennsylvania State University, der nicht an der Studie beteiligt war, nannte sie „wirklich gute Wissenschaft“.
taz. die tageszeitung
In den 1980er-Jahren verlor die Antarktis 40 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Eine Studie zeigt, das es inzwischen mehr als 250 Milliarden Tonnen jährlich sind.
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Spar Wars mit Lehrstühlen - taz.de
Spar Wars mit Lehrstühlen Immer mehr Studenten, Professoren und Unis beteiligen sich an den Protesten gegen Kürzungen. Erste Erfolge gibt es in Bayern. Ein bundesweiter Aktionstag ist geplant BERLIN taz ■ Die Hochschulen von Darmstadt und Göttingen vor zwei Tagen, Konstanz und Wiesbaden gestern: Die Liste der Unis, deren Studenten gegen Kürzungs- und Studiengebührenpläne protestieren, wird länger. Vielleicht kulminiert der Widerstand sogar in einem bundesweiten Aktionstag; am 11. oder 13. Dezember wollen die Studenten bundesweit demonstrieren. Der Dachverband der Studentenvertretungen, der „Freie Zusammenschluss von Studentinnenschaften“ (fzs), will am Wochenende einen nationalen Aktionstag initiieren. Morgen treffen sich die Studierenden in Jena zu einem Kongress über die „Rolle der Studentinnenschaften in Hochschule und Gesellschaft“ in Jena. Zur Diskussion stehen dabei auch zentrale Demonstrationen oder bundesweit koordinierte Aktionen, sagte fzs-Sprecherin Nele Hirsch der taz. Geplant war für Jena eigentlich etwas anderes. „Eigentlich wollten wir überlegen, wie wir die Studierenden wieder wachrütteln können“, sagte Hirsch. Auch gestern gingen Studierende auf die Straße. In Berlin zogen 20.000 zur Regierungszentrale im Roten Rathaus. Der Begriff „Spar Wars“ machte die Runde. Am Morgen persiflierten die Kommilitonen den Abbau von Professorenstellen mit einem symbolischen „Lehrstühlestreichen“: Auf dem Gelände des neu eröffneten Ikea-Marktes in Tempelhof strichen sie Holzstühle in schillernden Farben an. In Göttingen erwartete man Hilfe von ganz oben und verlegte die morgendliche Soziologievorlesung in die Kirche. In München gab es eine mitternächtliche Protestvorlesung vor 1.000 Studenten. In Hamburg wurde eine Demonstration von rund 150 Studierenden von der Polizei aufgelöst. Nach Angaben der Polizei war der Haupteingang zum Rathaus blockiert worden Die hessischen Kommilitonen trafen sich gestern in Wiesbaden auf den Stufen zum Zentrum der Macht: Studenten aus Frankfurt, Darmstadt, Marburg, Offenbach und Gießen blockierten den Parlamentarier- und Presseeingang zum Hessischen Landtag, während die Abgeordneten über das „Studienguthabengesetz“ berieten. Damit sollen Langzeit- und Verwaltungsgebühren eingeführt werden. Die Protestierenden durften das Gebäude nicht betreten. Kein Platz mehr auf der Zuschauertribüne, hieß es. Außerdem seien die Studenten nicht angemeldet. In Konstanz ist man auf der Vorstufe zum Boykott: Eine Vollversammlung erklärte sich mit 700 Teilnehmern solidarisch mit den streikenden Kommilitonen im ganzen Land. Kommenden Mittwoch wollen die Studierenden darüber befinden, ob man auch am Bodensee in den Ausstand tritt. „Die Stimmung steht hier auf Streik“, hieß es gestern aus dem Konstanzer Asta. Erste Erfolge kann man unter Umständen in Bayern verzeichnen: Am Mittwoch gab Ministerpräsident Stoiber bekannt, dass nun doch nicht ganz konsequent per Rasenmähermethode gespart werden soll. 10 Prozent minus in allen Ressorts lautete die Planung bisher. Nun wird die Bildung geschont: Das Schulministerium soll 2,5 Prozent, die Wissenschaft nur 5 Prozent an Einsparungen erbringen. Dafür werden die Ressorts Wirtschaft sowie Umwelt und Gesundheit um happige 15 Prozent gekürzt. Vielleicht bleibt den bayerischen Studierenden so erspart, was ein Berliner Student verkaufen will: Seit gestern kann jeder beim Internet-Auktionshaus eBay für einen Stadtplan-Ausdruck bieten, auf dem das Areal der Technischen Uni geschwärzt ist. „Bildungsloch Berlin“ heißt das Werk. OLIVER HAVLAT
OLIVER HAVLAT
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Beugehaftforderung für Kretschmann: Wer Recht bricht, muss büßen - taz.de
Beugehaftforderung für Kretschmann: Wer Recht bricht, muss büßen Politik sollte nicht von der Justiz gemacht werden. Aber wenn eine Regierung sich nicht um Urteile schert, muss das Konsequenzen haben. Scheren sich nicht um die Rechtssprechung: Ministerpräsident Kretschmann (r.) und sein Vize Strobl Foto: dpa Politik auf die juristische Ebene zu verlagern und RichterInnen darüber entscheiden zu lassen, ob das Handeln von MinisterInnen oder RegierungschefInnen geahndet werden muss, ist problematisch. Denn über das Tun und Lassen in der Politik sollten die WählerInnen urteilen, abgesehen von klar kriminellem Verhalten wie Korruption oder verfassungswidrigen Entscheidungen. Die Forderung nach Knast für PolitikerInnen ist allzu oft ein populistischer Impuls auf Entscheidungen, die einem oder einer nicht passen. Auf den ersten Blick sieht der Antrag der Deutschen Umwelthilfe (DUH) auf Beugehaft für den grünen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und seinen Stellvertreter Thomas Strobl (CDU) wegen der Luftverschmutzung in Stuttgart nach einer Verlagerung aus. Doch das Gegenteil ist der Fall. Hier geht es nicht um eine politische Weichenstellung, die man je nach Standpunkt richtig oder falsch finden kann. Es geht um eine große und sehr wichtige Frage: Dürfen Landesregierungen rechtskräftige höchstrichterliche Urteile einfach ignorieren? Denn die grün-schwarze Regierung in Stuttgart schert sich einfach nicht um ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Luftreinhalteplan für Stuttgart um zonale Fahrverbote für Euro Diesel 5 ergänzt werden muss. Das ist ein starkes Stück. Denn es handelt sich keineswegs um eine Ermessensfrage. Es ist ein klarer Rechtsbruch. Jede Urteilsverkündung für ein Fahrverbot, das die DUH erstreitet, ist eine Sternstunde des Rechtsstaats. Denn jede einzelne dieser Entscheidungen zeigt, dass BürgerInnen es nicht einfach hinnehmen müssen, wenn Verwaltungen und Regierungen sich aus Rücksicht auf die Autoindustrie oder anderen Gründen über Gesetze hinwegsetzen. Dass die baden-württembergische Landesregierung UmweltschützerInnen und RichterInnen einfach auflaufen lässt, untergräbt den Rechtsstaat. Das sollte in der Tat Konsequenzen haben.
Anja Krüger
Politik sollte nicht von der Justiz gemacht werden. Aber wenn eine Regierung sich nicht um Urteile schert, muss das Konsequenzen haben.
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Abgabe auf atomare Brennstoffe gebilligt: Energiekonzerne gescheitert - taz.de
Abgabe auf atomare Brennstoffe gebilligt: Energiekonzerne gescheitert Die Kernbrennstoffsteuer ist rechtens, meint der EuGH. Energiekonzerne hatten geklagt – auf eine Rückzahlung von fünf Milliarden Euro. Brennt hier noch was? Tauchgang im gefluteten Reaktorbecken des AKW Grafenrheinfeld (Bayern). Foto: dpa LUXEMBURG afp | Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die deutsche Brennelementesteuer gebilligt. Es handelt sich weder um eine unzulässige Strom- noch um eine unzulässige Verbrauchssteuer, wie der EuGH am Donnerstag in Luxemburg entschied. (Az: C-5/14) Die offiziell Kernbrennstoffsteuer genannte Abgabe war Anfang 2011 in Kraft getreten. Juristisch ist die Steuer stark umstritten. Das Finanzgericht Hamburg hält sie für unzulässig und rief 2013 zunächst das Bundesverfassungsgericht und dann auch den EuGH an. Nach dem Luxemburger Urteil bestehen europarechtlich jedoch keine Bedenken. Die besteuerten Brennelemente seien keine „Energieerzeugnisse“, die nur der Umsatzsteuer unterworfen werden dürfen. Auch handle es sich nicht um eine neben der Umsatzsteuer unzulässige zusätzliche Verbrauchssteuer auf elektrischen Strom. E.ON, RWE und EnBW hatten gegen die seit 2011 erhobene Steuer geklagt. Sie hoffen auf eine Rückzahlung von fast fünf Milliarden Euro an bereits gezahlten Abgaben. Vor dem Bundesverfassungsgericht steht die Entscheidung in einem zweiten Verfahren zu dem Thema aber noch aus. Dort soll es in der zweiten Jahreshälfte zu einem Urteil kommen. Das oberste deutsche Gericht könnte die Steuer noch kippen. Die Aktien der Versorger gerieten nach dem EuGH-Urteil mächtig unter Druck. RWE verloren bis zu 2,9 Prozent, E.ON 1,8 Prozent.
taz. die tageszeitung
Die Kernbrennstoffsteuer ist rechtens, meint der EuGH. Energiekonzerne hatten geklagt – auf eine Rückzahlung von fünf Milliarden Euro.
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Geplante Koalition in den Niederlanden: Viele Probleme, wenig Zuspruch - taz.de
Geplante Koalition in den Niederlanden: Viele Probleme, wenig Zuspruch In den Niederlanden steht die Vier-Parteien-Koalition unter Premier Rutte vor einer Neuauflage. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist gering. 271 Tage nach der Wahl: Premierminister Mark Rutte hat die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen Foto: Peter Dejong/ap AMSTERDAM dpa/afp | In den Niederlanden ist nach den längsten Koalitionsverhandlungen der Landesgeschichte das neue Regierungsbündnis so gut wie perfekt. Nach fast neun Monaten schlossen die rechtsliberale Partei VVD von Ministerpräsident Mark Rutte, die linksliberale D66, die christdemokratische CDA und die ChristenUnie am Montagabend in Den Haag ihre Verhandlungen ab – genau 271 Tage nach der Wahl. Noch an diesem Dienstag sollten die vier Fraktionen über den Koalitionsvertrag entscheiden. Als sicher gilt, dass Rutte erneut Regierungschef wird. Der 54-Jährige regiert das Nachbarland Deutschlands mit etwa 17,5 Millionen Einwohnern bereits seit elf Jahren. Die genauen Pläne der neuen Koalition wurden zunächst nicht bekannt. Deutlich ist nur, dass erheblich mehr in Klimaschutz, Kinderbetreuung und Wohnungsbau investiert werden soll. Rutte selbst sprach von einem „guten Abkommen“. Die Fraktionsvorsitzende von D66, Sigrid Kaag, nannte die Vereinbarungen einen „sehr ausgewogenen Vertrag“. Der bisherige Finanzminister und CDA-Chef, Wopke Hoekstra, zeigte sich erleichtert nach einer „Zangengeburt“. Die Wahl in den Niederlanden war am 17. März – also auch deutlich vor der Bundestagswahl im September, nach der sich SPD, Grüne und FDP innerhalb weniger Wochen einig wurden. Mit 271 Tagen waren die Koalitionsverhandlungen die längsten in der Geschichte des Landes. Der bisherige Rekord lag bei 225 Tagen: So lange hatte es im Jahr 2017 gedauert, bis damals Ruttes Kabinett vereidigt werden konnte. Koalitionsgespräche stockten nach Skandal um Rutte Der neue Koalitionsvertrag soll nun am Mittwoch dem Parlament präsentiert werden. Dann soll Rutte auch erneut mit der Bildung einer Regierung beauftragt werden. Es wird sein viertes Kabinett. Der Rechtsliberale ist bereits der längstamtierende Regierungschef des Landes. Die neue Regierung wird wahrscheinlich aber erst nach der Weihnachtspause von König Willem-Alexander vereidigt – fast ein Jahr nachdem die alte Regierung nach einer umfassenden Affäre um Kinderbeihilfen zurückgetreten war. Die Affäre löste eine große politische Krise aus. Zehntausende Niederländer waren über Jahre von den Steuerbehörden fälschlicherweise als Betrüger abgestempelt worden und mussten oft Zehntausende Euro bezahlen. Die Opfer wurden noch immer nicht vollständig entschädigt. Bei der Wahl im März wurde die VVD von Rutte dennoch erneut stärkste Kraft, gefolgt von der linksliberalen D66. Doch die Koalitionsgespräche stockten nach einem Skandal um Rutte: Ein großer Teil des Parlaments hatte ihm nach einer Lüge das Vertrauen entzogen. Er hatte versucht, einen kritischen Abgeordneten aus dem Parlament wegzubekommen und darüber nicht die Wahrheit gesagt. Es dauerte Monate, bis Rutte bei seinen Partnern Glaubwürdigkeit zurückgewinnen konnte. Der Rechtsliberale verspricht nun eine „Regierung mit neuem Elan“. Größte Herausforderungen sind Klimaschutz, Wohnungsnot, Gesundheitsversorgung und die Bewältigung der Coronakrise. Nur noch 16 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Coronapolitik der Regierung. Die Kritik an einem Zickzack-Kurs und undeutlicher Kommunikation ist groß. Seit die Regierung im Oktober aufgrund des rapiden Anstiegs der Infektionen erneut massive Coronabeschränkungen einführte, kam es immer wieder zu Protesten, die teils von heftigen Ausschreitungen begleitet wurden. Und das Vertrauen in der Bevölkerung in die neue Regierung ist niedrig: Nach Meinungsumfragen könnte die Koalition, wenn jetzt gewählt würde, nicht mehr mit einer Mehrheit rechnen.
taz. die tageszeitung
In den Niederlanden steht die Vier-Parteien-Koalition unter Premier Rutte vor einer Neuauflage. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist gering.
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Brückenenergie und Erderwärmung: Tabuthema Atomkraft - taz.de
Brückenenergie und Erderwärmung: Tabuthema Atomkraft Die Klimakrise ist eine Überlebensfrage für die Menschheit. Dennoch werden kaum Kohlekraftwerke abgeschaltet. Seit Jahresende nicht mehr in Betrieb: das AKW Brokdorf Foto: Christian Charisius/dpa Robert Habeck geht mit dem sympathischen Grundsatz durchs Leben, dass auch andere recht haben könnten, dass die Dinge auch anders sein könnten. Die Ideen der politischen Konkurrenz könnten vielleicht sogar überzeugender sein, ihre Forderungen sinnvoller. Wenn diese Sicht des Wirtschafts- und Klimaschutzministers auf die Politik auch für die Wirklichkeit gilt, dann wäre angesichts der bedrohlichen Erderwärmung und der aktuellen Diskussion über die Energiewende zu fragen: Was wäre, wenn die anderen, die Atomkraftbefürworter*innen, recht hätten? Wenn die Bedeutung der AKWs und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, in Zeiten des Klimawandels, der großen Überlebensfrage für die Menschheit, neu bewertet werden müssen? Die Frage ist ein großes Tabu. Niemand stellt sie, nicht einmal die Union. Bei Habecks Pressekonferenz diese Woche zur Klimabilanz (verheerend) meldeten sich rund zwei Dutzend Jour­na­lis­t*in­nen zu Wort. Ob die derzeitige Linie zur Energiewende richtig ist, war dabei kein Thema. Deutschland nimmt AKWs vom Netz und lässt stattdessen die Kohlekraftwerke weiterlaufen. Erst zum Jahreswechsel wurden die Kernkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C abgeschaltet, die drei letzten folgen Ende 2022. Neue Gaskraftwerke als Backup für Erneuerbare sollen sogar noch gebaut werden, was allein schon wegen des Gaslieferanten Wladimir Putin höchst problematisch ist. Wenn die Erderwärmung die größte politische Krise unserer Zeit ist, von deren Lösung das Überleben der Menschheit abhängt, wie kann es dann sein, dass die extrem klimaschädlichen Kohlekraftwerke nicht zuerst abgeschaltet werden? Wie kann es sein, dass Gaskraftwerke ganz selbstverständlich eingeplant sind, weil man sie eben „braucht“? Ein kleiner Zahlenvergleich: Fast das 10fache an CO2-Emissionen Bei der Braunkohle betragen die CO2-Emissionen pro Kilowattstunde 1.034 Gramm, bei Gas sind es 442 Gramm und bei Atomstrom 117 (Uranabbau, der Bau usw. eingerechnet). Am effektivsten sind erwartungsgemäß die Erneuerbaren. Doch wer die Klimabilanz von Habeck diese Woche gehört hat, der weiß, dass es nahezu unmöglich ist, in den kommenden zwei Legislaturperioden ihren Anteil zu verdoppeln, um auf dem 1,5-Grad-Pfad zu bleiben. Habeck kann noch so viel in seiner Lieblingsrolle als Draußenminister durchs Land reisen und mit Menschen sprechen, es wird nicht reichen. Denn auch wenn es zeitnah gelingt, Genehmigungsverfahren zu verkürzen, wird es nach gültiger Rechtslage immer noch eine gewisse Zeit dauern, bis Anlagen genehmigt und gebaut sind. Von der Materialbeschaffung und dem Mangel an Fachkräften in diesem Bereich mal ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass der Strombedarf von Industrie und Verkehr nach allen Prognosen in den kommenden Jahren enorm steigen wird. Natürlich ist die Kritik der Atom­kraft­geg­ne­r*in­nen an der geplanten EU-Einstufung von AKWs als „grüne“ und „nachhaltige“ Brückentechnologie berechtigt. Es dauert viel zu lange, neue Kraftwerke zu bauen und in Betrieb zu nehmen, um den Klimawandel in der entscheidenden Phase bis zum Kipppunkt noch positiv zu beeinflussen. Wohin mit dem Atommüll ist bis zum heutigen Tage nicht geklärt. Die neuen Reaktortypen der vierten Generation – Thorium-Reaktor, Laufwellen-Reaktor und ähnliche –, die sicherer sein und teils ohne radioaktiven Abfall auskommen sollen, sind bestenfalls in der Erprobung. Atomstrom ist allein schon wegen der teuren Sicherheitsvorkehrungen und den Folgekosten unwirtschaftlich. Investitionen in Atomstrom könnten den Erneuerbaren das nötige Geld für den Ausbau entziehen. Nukleare Störfälle sind gefährlich. Umweltorganisationen denken um Ein GAU kann ganze Landstriche unbewohnbar machen. Doch wie viele Landstriche werden aufgrund des Klimawandels unbewohnbar werden? Wie viele Menschen werden in Zukunft sterben, wenn Städte verschwinden, Hitzewellen und Fluten Landwirtschaft vielerorts unmöglich machen? Denn schließlich ist die Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten, es geht es jetzt nur noch darum, sie einzudämmen. Und bei allen Gefahren, die mit der Atomkraft verbunden sind: Beim Reaktorunglück von Fukushima starb unmittelbar ein Mensch. Einer! Langfristig hat sich nach Schätzungen die Krebsrate erhöht und sind vermehrt Suizide aufgetreten. An den Folgen des Klimawandels sind laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits Zehntausende gestorben. Nasa-Forscher haben errechnet, dass die Atomkraftwerke in den vergangenen Jahrzehnten den Tod von 1,84 Millionen Menschen verhindert haben, die sonst an den Folgen des Kohlestaubs oder bei Grubenunglücken gestorben wären. Wir müssen reden. Wenn der Weltklimarat Atomkraft als Teil der Lösung ansieht und die finnischen Grünen ihre Haltung zu AKWs revidiert haben, dann sollte es auch in Deutschland möglich sein, Atomkraft nicht länger als Tabu zu betrachten. Es geht ja hierzulande nicht um den Bau neuer Kraftwerke oder irgendeine andere Art von nuklearer Renaissance. Doch die Klimakiller Kohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen, während AKWs abgeschaltet werden, ergibt einfach keinen Sinn. Man würde sich ja auch nicht den Fuß eingipsen, wenn der Arm gebrochen ist. Nur weil wir schon immer gegen Atomkraft waren, wir jahrelang dagegen demonstriert und uns Wasserwerfern entgegengestellt haben, sind bisherige Positionen nicht sakrosankt. Die Bedrohung durch die Klimakrise verlangt uns einiges ab, womöglich auch die Aufgabe liebgewonnener Positionen. Angesichts der Erderhitzung kann nichts mehr tabu sein, wir können uns keine ideologische Verbohrtheit leisten. Deutschland wird dieses und wohl auch nächstes Jahr die Klimaziele nicht erreichen. Deshalb ist Pragmatismus gefragt, und pragmatisch wäre es, die ohnehin vorhandenen AKWs ein paar Jahre länger laufen zu lassen, um Zeit zu gewinnen. Dieser Kommentar ist Teil einer breiteren Diskussion zu Klimawandel und Atomkraft. Alle Texte finden Sie hier.
Silke Mertins
Die Klimakrise ist eine Überlebensfrage für die Menschheit. Dennoch werden kaum Kohlekraftwerke abgeschaltet.
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Kolumne Habseligkeiten: Unterwegs auf grünen Gewässern - taz.de
Kolumne Habseligkeiten: Unterwegs auf grünen Gewässern Fruchtlos und frustrierend: Wie es sich anfühlt, ein Boot zu besitzen. Das Boot ist weg. Beziehungsweise: Es ist nicht weg, es ist nur woanders. Zu meiner großen Freude. Denn von allen Dingen, die man sich anschaffen kann und deren Besitz einen im Laufe der Zeit immer weiter zermürbt, ist es ein eigenes Segelboot im falschen Revier. Dabei hatten wir es uns so schön ausgemalt. Im Sonnenschein würden wir über die Havel jagen, der weiße Spinnacker sollte sich im Wind blähen, während wir ab und ab an einer Strippe zögen. Oder sagen wir: Es war meine Vorstellung, aber ich komme auch aus NRW und hatte keine Ahnung. Mein norddeutscher Mann fütterte mich über Jahre mit kleinen Segelausflügen nach Brandenburg an, so dass ich am Ende wirklich glaubte, mein Glück läge irgendwo zwischen GFK-Rumpf und Verklickerer eines Internationalen Folkeboots. Bevor das Boot mit einem Kran zu Wasser gelassen wurde bildeten wir eine Eignergemeinschaft mit drei Parteien. Wenn wir alle zusammen wären, dachten wir, würde es richtig behaglich. So war es auch, wenn es denn nur dazu kam. Bei unserem ersten richtigen Segelausflug wir hatten ein Bordbuch angeschafft, Sekt eingepackt und Kartoffelsalat, kletterten wir mit Mann und Maus vom Steg an Bord, hievten die Kinder in ihren Schwimmwesten hinein, ein Schlauchboot, Geschirr, Besteck, Gläser und legten ab. Es kam gleich ein Gefühl auf, als führe man nachmittags um halb fünf auf die Berliner Stadtautobahn oder auf den Ruhrschnellweg. Wir mussten aufpassen, dass wir den Kurs hielten und in niemanden hineinfuhren. Das war nicht einfach, denn einmal kam der Wind von der einen Seite, mal von der anderen und in Höhe des Grunewalds wehte gar keiner mehr, an dieser Stelle herrschte Flaute. Immer. Wir dümpelten auf dem grünlichen Wasser, das gar nicht mehr so aussah, als wolle man sofort reinspringen und baden. Unter Deck herrschten tropische Temperaturen, der Motor, den wir häufiger anwarfen als gedacht, lärmte. Der einzige Eigner, der auf die Pflege des Boots geachtet hatte, zog in die Schweiz, damit waren wir nur noch zwei Parteien. Spinnen nisteten sich an Bord ein, die Kabine war zu einem Pfandflaschenlager verkommen. An einem der wenigen windstarken Tage riss das Segel. Wir brauchten neue, wir mussten allerlei umweltschädliche Unterwasseranstriche kaufen, wir mussten Schrubber besorgen, den Mast stellen und dafür bezahlen. Es kostete zwar nicht mehr pro Monat, das IF-Boot zu betreiben, als es die Mitgliedschaft im Fitness-Studio getan hätte. Aber es war ähnlich fruchtlos und dazu noch frustrierend. Dann zog der zweite Eigner nach England und mein Mann war plötzlich der Einzige, der etwas vom Segeln verstand. Als ich das Boot am Wochenende nach langer Zeit wieder sah, gefiel es mir trotzdem. Es fuhr gerade mit zwei neuen Miteignern am Lübecker Holstentor vorbei in Richtung Ostsee. Dort liegt es nun in einem Hafen in der Nähe des Strands, große Fähren nach Skandinavien rauschen vorbei, es gibt wenig Gegenverkehr und viel Wind. Vielleicht liegen wir bald unter dem aufgeblähten Spinnacker in der Sonne. Sonst gibt es immer noch Ebay.
Natalie Tenberg
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Debatte Heiraten im Alter: Liebe in Zeiten der Pflege - taz.de
Debatte Heiraten im Alter: Liebe in Zeiten der Pflege Viele ältere Paare heiraten heute, um sich gegenseitig finanziell abzusichern. Und auch, um sich gegenseitig unkompliziert pflegen zu können. Nicht alle älteren Menschen heiraten aus romantischen Gründen. Bild: imago / McPHOTO Katrin will, dass Robert sie heiratet. Die beiden sind seit über 20 Jahren ein Paar. Sie haben gemeinsam seine zwei Söhne aus erster Ehe großgezogen und eine Eigentumswohnung gekauft. Trauschein? Brauchen wir nicht! Sagten sie mal. Aber jetzt sieht Katrin das anders, jetzt hätte sie es gern, wenn Robert auch rechtlich Ja zu ihr sagte. Auch Marina und Bernhard lag jahrzehntelang nichts ferner, als sich vor einem Standesbeamten ewige Liebe und Treue zu schwören. Vor Kurzem haben sie sich doch getraut: an einem gewöhnlichen Wochentag, profan und zackig. Keine Ringe, kein Brimborium. Abends noch ein Essen mit den erwachsenen Kindern – das war’s. Werden Ehen heute so geschlossen? Zwischen Frühstücksbrötchen und Mittagsmenü? Ohne Schwüre für die Ewigkeit? Einfach unterschreiben und weiter im Alltag? Katrin und Robert sind über 50, Marina und Bernhard über 60. Ältere Brautpaare sind keine Ausnahmen, im Gegenteil, ihre Zahl steigt. Rund 23.000 Männer und 19.000 Frauen zwischen 50 und 55 Jahren haben 2011 geheiratet. Zehn Jahre zuvor zählte das Statistische Bundesamt noch 14.600 Männer und 10.500 Frauen, die in diesem Alter Hochzeit feierten. Auch bei den über 60-Jährigen ist die Eheschließungsquote nach oben gegangen. Ökonomisches Backup Natürlich heiraten manche Ältere aus ganz romantischen Gründen. Oder aus dem Glauben heraus, man müsse einer Beziehung einen ordentlichen Rahmen verpassen. Viele aber – das zeigen Umfragen – treibt ein anderer Gedanke in die Standesämter: Sie wollen sich gegenseitig absichern. Was ist daran so ungewöhnlich? Jahrhundertelang wurden Ehen aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen, als ökonomisches Backup, als Lebensversicherung für Haus und Hof. Auch heute ist das vielfach nicht anders. Manche heiraten fürs Ehegattensplittung und andere Steuererleichterungen, für die Krankenmitversicherung und für die Witwenrente. Aber manche von den Alten, die jetzt so gern vor den Traualtar treten, wollten früher, als sie jung waren, genau an diesen Eheprivilegien rütteln. Sie wollten ökonomische Aspekte und den Staat aus ihrem Privatleben heraushalten. Sie wollten das vorleben, was sie propagierten: ein modernes Geschlechterbild, das ohne traditionelle Formen auskommt. Im Laufe ihres Lebens wurde ihnen allerdings klar, dass sie die Idee der romantischen Liebe über- und den pragmatischen Wert einer versorgerischen Ehe unterschätzt hatten. Auch die Pflegedebatte und die Sorge um eine rechtliche Absicherung für den Krankheitsfall trägt zum Hochzeitsboom der Alten bei. Katrin würde ja nicht nur alles verlieren, wenn Robert etwas zustieße: Haus und Erspartes würden Roberts Kinder erben. Sollte Robert im Krankenhaus liegen, könnte Katrin ihn zwar besuchen, aber sie könnte keine Entscheidungen für ihn treffen, wenn er dazu nicht mehr in der Lage ist. Sie würde nicht in jedem Fall erfahren, wie es ihm geht. Diese Rechte haben nur Angehörige. Katrin könnte ihren Mann nicht einmal problemlos pflegen. Formulare und Stempel Das Pflegeargument hat auch Marina und Bernhard zur Hochzeit getrieben. Dabei haben die beiden nicht an sich selbst gedacht, sondern an noch Ältere: an Marinas Mutter zum Beispiel. Die lebt im Altersheim, Marina und Bernhard kümmern sich seit Jahren um sie. Sollte Marina dazu einmal nicht in der Lage sein, könnte auch Bernhard kaum helfen. Schließlich ist er, rein formal betrachtet, kein Familienmitglied, sondern ein Fremder. Mit entsprechenden Anträgen und großer Geduld würde Bernhard zwar irgendwann die Pflege übernehmen können – irgendjemand muss es ja machen. Aber warum braucht etwas, das vorher selbstverständlich funktioniert hat, plötzlich Bescheinigungen und abgestempelte Formulare? Mit steigender Lebenserwartung und damit größerer Verfalls- und Demenzwahrscheinlichkeit sind Menschen mehr denn je auf ein funktionierendes Hilfesystem und ein bekanntes soziales Umfeld angewiesen. Der Staat kann das jetzt schon kaum leisten. ExpertInnen sagen für die nächsten Jahrzehnte ein Pflegechaos voraus. Private Fürsorge, vor allem für Ältere, wird mehr und mehr zu einem Thema. Da spielt es zunächst keine Rolle, ob jemand verheiratet ist oder nicht. Aber wenn ein Trauschein nicht nur eine Voraussetzung für Besitzstandswahrung ist, sondern auch dafür, unkompliziert Verantwortung übernehmen zu können und dafür finanzielle Unterstützung zu bekommen, stimmt etwas nicht. Profan und zackig Was kann man dagegen tun? Die Ehe abschaffen? Das wäre zumindest eine Option. Aber daran ist in Deutschland momentan nicht zu denken. Die Ehe ist für viele Menschen heilig. Die konservativen Parteien halten sie hoch. Dabei geht sie inzwischen vielfach am Leben vorbei – erinnert sei nur an die Hausfrauenehe und das damit verbundene Ehegattensplitting. Warum unterstützt der Staat noch immer dieses Lebensmodell mit einem Anreiz, damit einer keine Erwerbsarbeit leistet – traditionell ist das die Frau? Viele Paare, bei denen beide Partner arbeiten gehen, empfinden die Steuerersparnis des Einverdienermodells als ungerecht. Nicht ohne Grund verweigern sich viele junge Leute ganz dem Standesamt. Die Politik hat darauf zwar reagiert und Ledigen einerseits ein paar Rechte mehr eingeräumt, zum Beispiel beim Elterngeld und bei den Vätermonaten. Beides können auch Männer bekommen, die mit der Mutter nicht verheiratet sind. Und demnächst will die Bundesregierung das automatische Sorgerecht für unverheiratete Eltern beschließen. Andererseits wurden ledigen PartnerInnen Pflichten auferlegt. Stichwort hier: Hartz IV. Das bekommen Langzeitarbeitslose nicht, wenn sie mit jemanden zusammenleben, der für sie aufkommen kann. Hier wird Fürsorge nicht miteinander Verheirater ganz selbstverständlich zum Muss gemacht. Ohne viel Brimborium, profan und zackig. Warum dann nicht auch in Fällen wie denen von Katrin und Robert und Marina und Bernhard?
Simone Schmollack
Viele ältere Paare heiraten heute, um sich gegenseitig finanziell abzusichern. Und auch, um sich gegenseitig unkompliziert pflegen zu können.
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