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Diversität in der Ausbildung von Lehrenden | Gesellschaft der Vielfalt | bpb.de
Für einen schnellen Überblick: 0:26 - Was bedeutet Diversität im Kontext der Lehrerbildung? 1:21 - Auf welchen Ebenen findet diversitätssensible Lehrerbildung statt? 2:52 - Inwiefern fördert das Projekt "Prompt! Deutsch lernen" dieses Ziel? 3:53 - Wie werden die Studierenden auf das Berufsfeldpraktikum vorbereitet? 4:28 - Was können die Studierenden von den Kindern und Jugendlichen lernen? Hintergrundinformationen zum Interview Das Interview entstand im Rahmen der Konferenz Externer Link: BEYOND LIMITS – offene Grenzen in Schule und LehrerInnenbildung. Die Tagung fand vom 22. bis 23. März 2018 an der Universität zu Köln statt und wurde vom Externer Link: Zentrum für LehrerInnenbildung (ZfL), der Externer Link: Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) und der Externer Link: Robert Bosch Stiftung veranstaltet. Mona Massumi ist abgeordnete Lehrerin am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln und Projektleiterin von Externer Link: "Prompt!". Sie ist Mitglied im Externer Link: Netzwerk Flüchtlingsforschung und schreibt ihre Dissertation zu Schulbiografien von migrierten Jugendlichen. Das Interview entstand im Rahmen der Konferenz Externer Link: BEYOND LIMITS – offene Grenzen in Schule und LehrerInnenbildung. Die Tagung fand vom 22. bis 23. März 2018 an der Universität zu Köln statt und wurde vom Externer Link: Zentrum für LehrerInnenbildung (ZfL), der Externer Link: Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) und der Externer Link: Robert Bosch Stiftung veranstaltet. Mona Massumi ist abgeordnete Lehrerin am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln und Projektleiterin von Externer Link: "Prompt!". Sie ist Mitglied im Externer Link: Netzwerk Flüchtlingsforschung und schreibt ihre Dissertation zu Schulbiografien von migrierten Jugendlichen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-10T00:00:00"
"2018-05-22T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/269503/diversitaet-in-der-ausbildung-von-lehrenden/
Welche Dimensionen umfasst der Begriff Diversität im Ausbildungskontext? Mona Massumi erklärt im Interview am Beispiel des Projektes "Prompt!", wie angehende Lehrende diversitätssensibel ausgebildet werden können.
[ "Bildung", "Hochschule", "Diversität" ]
400
Arbeitseinkommen | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de
Maurer-Azubi auf dem Rohbau eines Hauses. Die individuellen Arbeitnehmeentgelte geben Auskunft über die Verdienste von Arbeitern, Angestellten, Beamten und Auszubildenden. (© picture-alliance/dpa, Boris Roessler) Um zwischen einzelnen Beschäftigten bzw. Beschäftigtengruppen vergleichen zu können, ist es wichtig, die Dauer der geleisteten Arbeitszeit (Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung) zu berücksichtigen. Denn bei einer längeren Arbeitszeit erhöht sich der Jahres- und Monatsverdienst. Deshalb ist es erforderlich, von Stundenverdiensten auszugehen bzw. diese zu errechnen. Stundenverdienste, die einen bestimmten Schwellenwert unterschreiten, werden als Niedriglöhne bezeichnet (vgl. Niedriglöhne). Es ist üblich diese Schwelle bei zwei Dritteln des Medianverdienstes anzusetzen. Der Medianverdienst wird berechnet, indem die betrachteten Verdienste in genau zwei Hälften geteilt werden, das heißt, die eine Hälfte der Beschäftigten verdient weniger und die andere Hälfte mehr als diesen Wert. Ausschlaggebend für die Lohnspreizung, d.h. für die Unterschiede zwischen hohen und niedrigen Verdiensten, sowie für das Ausmaß von Niedriglöhnen sind die tatsächlich gezahlten Verdienste. Diese Effektivverdienste umfassen neben den Grundlöhnen, d.h. den regulären Monatsverdiensten, auch Leistungszulagen, Zuschläge (bei Arbeitserschwernissen, Überstunden, Schicht-, Nacht- und Sonntagsarbeit/Feiertagsarbeit) und Sonderzahlungen (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Prämien). Effektivverdienste sind nicht automatisch mit den Tarifverdiensten identisch. Nach Tarif werden nämlich nur etwa 60 Prozent der Beschäftigten bezahlt; die nicht-tarifgebundene Vergütung liegt in aller Regel niedriger. Auf der anderen Seite sind manche tarifgebundenen Unternehmen bereit, übertarifliche Lohnbestandteile zu zahlen. In diesem Fall übersteigen die Effektiv- die Tariflöhne. Effektiv- wie Tarifverdienste variieren sehr stark, wenn man nach demografischen, ökonomischen und regionalen Merkmalen unterscheidet: Alter Geschlecht Nationalität, Migrationshintergrund Qualifikation Beschäftigungsverhältnis (u.a. Vollzeit/Teilzeit, Minjobs, Leiharbeit) Betriebszugehörigkeit Wirtschaftszweig Regionen, Bundesländer Bei der Unterscheidung nach Geschlecht ist es üblich geworden, einen sog. gender pay-gap zu berechnen. QuellentextUnbereinigter Gender Pay Gap "Der jährlich ermittelte unbereinigte Gender Pay Gap betrachtet den geschlechtsspezifischen Verdienstunterschied in allgemeiner Form, das heißt ohne Berücksichtigung struktureller Unterschiede in den Beschäftigungsverhältnissen von Männern und Frauen. Auf diese Weise wird auch der Teil des Lohnabstands erfasst, der zum Beispiel durch unterschiedliche Zugangschancen beider Geschlechtergruppen auf bestimmte Tätigkeitsfelder oder Leistungsgruppen verursacht wird, die möglicherweise ebenfalls das Ergebnis benachteiligender Strukturen sind. In den vergangenen Jahren lag der unbereinigte Gender Pay Gap in Deutschland bei 22 %, das heißt der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen fiel um 22 % geringer aus als der von Männern." Quelle: Klemt, Lenz 2016, S. 145. Neben dem Gender Pay Gap, der auch aktuell unbereinigt bei über 20 Prozent liegt, werden in der Wissenschaft und Politik noch weitere Kennziffern diskutiert, die andere verteilungspolitisch relevante Aspekte der Gender-Problematik beleuchten. Die Abbildung "Ausgewählte Aspekte geschlechtsspezifischer Ungleichheit in Deutschland" zeigt auf Basis einer Zusammenstellung von Daten des BMFSFJ durch OXFAM einige davon. Maurer-Azubi auf dem Rohbau eines Hauses. Die individuellen Arbeitnehmeentgelte geben Auskunft über die Verdienste von Arbeitern, Angestellten, Beamten und Auszubildenden. (© picture-alliance/dpa, Boris Roessler) "Der jährlich ermittelte unbereinigte Gender Pay Gap betrachtet den geschlechtsspezifischen Verdienstunterschied in allgemeiner Form, das heißt ohne Berücksichtigung struktureller Unterschiede in den Beschäftigungsverhältnissen von Männern und Frauen. Auf diese Weise wird auch der Teil des Lohnabstands erfasst, der zum Beispiel durch unterschiedliche Zugangschancen beider Geschlechtergruppen auf bestimmte Tätigkeitsfelder oder Leistungsgruppen verursacht wird, die möglicherweise ebenfalls das Ergebnis benachteiligender Strukturen sind. In den vergangenen Jahren lag der unbereinigte Gender Pay Gap in Deutschland bei 22 %, das heißt der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen fiel um 22 % geringer aus als der von Männern." Quelle: Klemt, Lenz 2016, S. 145. Danach bleiben die simulierten Lebenseinkommen von Frauen durchschnittlich um 49 Prozent hinter denen der Männer zurück. Ihre Versichertenrenten sind um 53 Prozent niedriger. Dagegen leisten sie um 52 Prozent mehr Care-Arbeit (Pflege- und Betreuungsaufgaben außerhalb der Erwerbsarbeit) als Männer.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2016-11-16T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/237399/arbeitseinkommen/
Die individuellen Arbeitseinkommen (Arbeitnehmerentgelte) geben Auskunft über die Verdienste von Arbeitern, Angestellten, Beamten und Auszubildenden. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Jahres-, Monats- und Stundenverdiensten. Von besonderem Interess
[ "Arbeitseinkommen", "Niedriglohnbeschäftigung", "Niedriglöhne", "Gender Pay Gap", "Kennziffern" ]
401
Parlamentswahl in der Slowakei | Hintergrund aktuell | bpb.de
Seit der letzten Interner Link: Parlamentswahl 2016 regiert in der Slowakei die Sozialdemokratische Partei Smer-SD (Smer – sociálna demokracia) gemeinsam mit der Slowakischen Nationalpartei (Slovenská národná strana, SNS) und Most-Híd (Brücke), einer Partei der ungarischen Minderheit. Das Amt des Ministerpräsidenten übernahm zunächst der Sozialdemokrat Robert Fico. Ihm folgte Externer Link: im März 2018 sein Parteikollege Peter Pellegrini. Grund für den Wechsel an der Spitze der Regierung war ein politischer Skandal um einen Mordfall. Am 21. Februar 2018 wurden der 27-jährige Investigativjournalist Ján Kuciak und dessen Verlobte Martina Kusnírová erschossen. Kuciak recherchierte zu Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft, zu Steuerbetrug und mafiösen Strukturen in der Slowakei. Sein letzter (posthum veröffentlichter) Artikel erhebt den Vorwurf, dass Personen aus dem engsten Umfeld des damaligen Ministerpräsidenten Fico private und geschäftliche Beziehungen zum organisierten Verbrechen unterhalten haben sollen, darunter auch Ficos Beraterin Mária Trošková. Nach Massenprotesten trat Fico im März 2018 zurück. Die nun anstehende Wahl wird zeigen, ob die gesellschaftliche Erschütterung über die Vorfälle zu einer grundlegenden Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der Slowakei führt. Wie wird gewählt? Der Nationalrat der Slowakischen Republik hat 150 Sitze und wird alle vier Jahre gewählt. Es gibt keine Direktmandate, die Sitze werden nach einem reinen Verhältniswahlrecht verteilt. Allerdings ist es möglich, innerhalb einer Liste vier Vorzugsstimmen zu verteilen, um den eigenen Favoritinnen und Favoriten zu einem vorderen Listenplatz zu verhelfen. Wahlberechtigt sind slowakische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Es gilt eine Sperrklausel von fünf Prozent. Wer steht zur Wahl? Die Smer-SD von Ministerpräsident Peter Pellegrini lässt sich nach Meinung von Politikwissenschaftlern weniger als sozialdemokratische, sondern als sozialpopulistische und linksnationalistische Partei einstufen. Im aktuellen Wahlkampf stellt sie die Unterstützung von Rentnern und jungen Familien sowie den Ärztemangel in den Mittelpunkt. Als Vorsitzender arbeitet weiterhin der zurückgetretene Regierungschef Robert Fico. Eine Fortführung der bisherigen Koalition ist unwahrscheinlich, da die beiden Juniorparteien der Regierungskoalition SNS und Most-Hid Gefahr laufen, an der Fünfprozenthürde zu scheitern. Die SNS bezeichnet sich selbst als national-konservative Partei, die die nationale Souveränität der Slowakei fördern will. Most-Hid präsentiert sich hingegen pro-europäisch und will sich für den Schutz des Rechtsstaats und von Minderheiten einsetzen. Die größte Oppositionspartei im Parlament ist derzeit die konservative und wirtschaftsliberale Sloboda a Solidarita (SaS), die jedoch seit der Wahl im Jahr 2016 an Bedeutung verloren hat. Sie fordert unter anderem einen Abbau von Bürokratie und will sich gegen Korruption einsetzen. In aktuellen Umfragen liegen sieben weiteren Parteien oberhalb oder nur knapp unterhalb der Fünfprozenthürde und könnten möglicherweise in das Parlament einziehen, darunter auch die Protestpartei OĽaNO (Obyčajní ľudia a nezávislé osobnosti, Deutsch: "Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten") des ehemaligen SaS-Abgeordneten Igor Matovič. Sie will die demokratischen Institutionen stärken und Korruption bekämpfen. Im konservativen Spektrum wirbt auch die Externer Link: 2019 gegründete Partei Za l’udi (Deutsch: "Für das Volk") des früheren Präsidenten Andrej Kiska um Wähler. Sie gilt als liberal und europafreundlich. Das Bündnis Progresívne Slovensko/Spolu (PS/SPOLU, Deutsch: "Progressive Slowakei/Gemeinsam") vertritt linksliberale Positionen. Ihm gehört die Juristin und Umweltaktivistin Zuzana Čaputová an, die im Juni 2019 zur Staatspräsidentin der Slowakei gewählt wurde. Auch eine rechtsextreme Partei tritt zur Wahl an: die ĽSNS (Ľudová strana – Naše Slovensko, Deutsch: "Volkspartei – Unsere Slowakei") von Parteichef Marian Kotleba, die seit 2016 im Parlament vertreten ist. 2019 war ein zwei Jahre dauerndes Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme Gruppierung gescheitert, da das Gericht nicht genügend Beweise für Verstöße gegen die demokratische Grundordnung sah. Kotleba wird darüber hinaus vorgeworfen, auf einer Gedenkfeier für Jozef Tiso, der als Präsident der slowakischen Präsidialdiktatur geherrscht und mit Adolf Hitler kooperiert hatte, Codes aus der Neonazi-Szene verwendet zu haben. Auch die populistische Protestpartei Sme Rodina (Deutsch: Wir sind eine Familie), die KDH (Kresťanskodemokratické hnutie, Deutsch: Christdemokratische Bewegung) und die Dobrá Vol‘ba (Deutsch: Gute Wahl) haben den Umfragen zufolge Chancen, die Fünfprozenthürde zu überwinden. Während die Sme Rodina etwa ein Recht auf Mindestwohnraum schaffen und Schülerinnen und Schülern kostenlose Tickets für den Nahverkehr zur Verfügung stellen will, spricht sich die KDH unter anderem für ein traditionelles Familienmodell und die Förderung von Familienunternehmen aus. Die Dobrá Vol’ba will sich unter anderem für niedrigere Mieten und den Ausbau regionaler Krankenhäuser einsetzen. Was sind die wichtigsten Themen im Wahlkampf? Die Morde an Kuciak und dessen Verlobter wirken bis heute nach. So sind die Bekämpfung von korrupten Strukturen und die Debatte um die Unabhängigkeit der Justiz zentrale Themen des Wahlkampfs. Auch der Aufstieg des Rechtsextremismus durch den zunehmenden Zuspruch für die ĽSNS wird diskutiert, wiederholt kam es deswegen zu Protesten. Bisher schließen alle Parteien eine Koalition mit der ĽSNS aus. Parallel zum Wahlkampf findet der Prozess zu den Morden an Kuciak und Kusnírová statt. Als Auftraggeber ist der Geschäftsmann Marian Kočner angeklagt, der gute Kontakte zu Polizei, Justiz und der Smer-SD unterhalten und sich von Kuciaks Recherchen bedroht gefühlt haben soll. Der Mörder, ein 37-jähriger Ex-Soldat, hat die Tat mittlerweile gestanden. Er belastet Kočner und eine seiner Mitarbeiterinnen. Beide streiten eine Beteiligung ab. Wer könnte nach der Wahl regieren? Seit der Wahl 2006 war die Smer-SD die dominierende politische Kraft im Land. Im Jahr 2012 erreichte sie 44,4 Prozent der Stimmen und damit die absolute Mehrheit der Sitze im Nationalrat. Bereits mit der Wahl 2016 begann eine Zersplitterung der Parteienlandschaft in der Slowakei. Kamen damals die Sozialdemokraten noch auf 28,3 Prozent, so sehen jüngste Umfragen die Smer-SD als stärkste Kraft bei weniger als 20 Prozent der Stimmen, nur knapp vor OĽaNO. Mit dem Bündnis PS und der Partei Za l’udi könnten darüber hinaus zwei Gruppierungen jeweils auf bis zu zehn Prozent der Stimmen kommen, die bisher nicht im Nationalrat vertreten sind. Insgesamt ist nach aktuellen Umfragen zu erwarten, dass der neu gewählte Nationalrat aus sechs bis elf Parteien bestehen könnte. Nicht nur diese mögliche Zersplitterung des Parlaments, sondern auch das Abschneiden der ĽSNS könnte eine entscheidende Rolle für die Regierungsbildung spielen. Ob und wie man mit den Rechtsextremen, die Umfragen zufolge auf mehr als zehn Prozent der Stimmen hoffen können, kooperieren darf, ist Gegenstand einer heftigen Kontroverse. Mehr zum Thema: Interner Link: Parlamentswahl in der Slowakei 2016 (Hintergrund aktuell) Interner Link: Die Visegrad-Gruppe (Dossier Polen) Interner Link: Hans-Jörg Schmidt: Wie die Flüchtlingskrise Europa entzweit (Themenseite Flucht und Asyl)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-09T00:00:00"
"2020-02-26T00:00:00"
"2022-02-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/305770/parlamentswahl-in-der-slowakei/
Am 29. Februar wählen die Slowakinnen und Slowaken einen neuen Nationalrat – zum ersten Mal, nachdem die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak das Land erschüttert hat. Umfragen prognostizieren den regierenden Sozialdemokraten deutliche Verluste.
[ "Nationalrat", "Slowakische Republik", "Nationalratswahlen" ]
402
Filmliste von Maryanne Redpath | Interkulturelle Filmbildung | bpb.de
Interner Link: Filmliste von Maryanne Redpath (PDF) Maryanne Redpath (© Ali Ghandtschi) MARYANNE REDPATH ist gebürtige Neuseeländerin. Während der 1980er Jahre arbeitete sie als Performance-Künstlerin und unterrichtete als Theater- und Kunstlehrerin Aborigine-Kinder und -Jugendliche in Australien. Seit 1985 lebt und arbeitet sie in Berlin. Sie leitet die Sektion Berlinale Generation und ist die offizielle Berlinale-Delegierte für Australien und Neuseeland. Sie ist stimmberechtigtes Mitglied der Asian Pacific Film Awards (APSA), und war in die Konzeption des neu geschaffenen Young Audience Award (YAA) der European Film Academy involviert. Sie war Chefkuratorin der Berlinale-Sonderreihe NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema. In ihrer Filmliste präsentiert Maryanne Redpath eine Auswahl an Filmen, die in der Berlinale Sektion Generation Kplus zu sehen waren. Im Fokus stehen Filme, die in ihren Erzählungen und ihrer Filmsprache Kinder und Jugendliche ernst nehmen, aus der Sicht ihrer jungen Protagonist/innen erzählt werden und deren Welt erfahrbar machen. Filme, die Mut einfordern, intersektionale Perspektiven aufzeigen, gemeinsame Lösungsansätze fördern und der Welt der Erwachsenen einen Spiegel vorhalten. Anbessa (I/ETH/USA 2019, R: Mo Scarpelli, 85 Min.) Asalif und seine Mutter trotzen den allerorts in Äthiopien gebauten Planstädten und führen ihr traditionelles Leben in der Dorfgemeinschaft fort: lassen ihre Tiere weiden, bewirtschaften die Gärten, ernten Früchte von den Bäumen. Während es in der Hütte der Mutter keinen Strom gibt, leuchten die Fenster der Hochhäuser nachts heller als der Mond. In den Straßen der neuen Stadt sucht Asalif nach Elektroschrott. Baut ein Raumschiff mit Motor. Die Mutter erzählt alte Legenden. Grundstücksmakler kaufen Land. Asalif fühlt sich zunehmend bedroht, verfolgt von der unsichtbaren Hyäne, die um die Siedlung schleicht. Mit aufmerksamem Blick für seine Gefühlswelt begleitet die Dokumentarfilmerin und Kamerafrau Mo Scarpelli den Wandel ihres Protagonisten zu Anbessa, dem Löwen. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2019/02_programm_2019/02_filmdatenblatt_2019_201911613.html#tab=filmStills Ein aufmerksamer Blick auf – und in - die Gefühlswelt eines Jungen, der am Rande eine äthiopischen Hochhaussiedlung mit seiner Mutter versucht, ‚traditionell‘ zu leben. Kein Strom, die Natur allgegenwärtig, umgeben von altem Wissen. Kluge Darstellung von mystischen, schamanischen Ebenen. Ein interkultureller Blick. Altersfreigabe: freigegeben ohne Altersbeschränkung Altersempfehlung: ab 8 Jahren Originalsprachen: Amharisch Armed Lullaby (D 2019, R: Yana Ugrekhelidze, 9 Min.) Vier Fluchtwege, die Kinder nehmen mussten, um aus ihrer Heimatstadt zu fliehen. Ein Junge reist mit dem letzten Schiff, der andere Junge mit dem letzten Flugzeug, das Mädchen mit dem letzten Zug, und noch ein Junge, der keines dieser Fluchtmittel nutzen konnte, geht zu Fuß über die Berge. Die Fluchtszenarien entsprechen den tatsächlichen Gegebenheiten während des Massakers von Sochumi 1993, das die georgische Zivilbevölkerung der abchasischen Hauptstadt erleiden musste. Quelle: Externer Link: https://ffmop.de/programm/film_detail/movie-5dfa4819e959f Eine poetische und eindringliche Darstellung von Kindern im Krieg und Kindern als Geflüchtete. Bringt schwierige Lebenswelten nah und stellt Traumata auf Augenhöhe dar, auch für ein junges Publikum. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 12 Jahren Originalsprachen: keine gesprochene Sprache Ceres (B/NL 2018, R: Janet Van den Brand, 73 Min.) Ferkel werden geboren, Kälber, Lämmer und Küken. Es wird gesät, gepflanzt und geerntet. Tiere werden geschlachtet. Die Kamera ist hautnah dabei; sie folgt Koen, Daan, Sven und Jeanine durch ihren Alltag. Die vier Kinder wachsen auf Bauernhöfen auf, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Von klein auf helfen sie bei der Arbeit, lernen Verantwortung zu tragen und Abschied zu nehmen. Werden sie die Höfe ihrer Eltern einmal übernehmen? In ihrem Langfilmdebüt porträtiert Janet van den Brand junge Menschen, ihre innige Verbundenheit mit der Natur, ihre Vorstellungen und Wünsche. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2018/02_programm_2018/02_filmdatenblatt_2018_201811807.html#tab=filmStills Dokumentation über Realitäten im landwirtschaftlichen Milieu. Kinder auf dem Lande, ihr Alltag, ihre Wünsche, Sorgen und Träume. Interkulturalität als Augenöffner für Stadtkinder. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 12 Jahren Originalsprachen: Niederländisch Die Adern der Welt (D/MN 2020, R: Byambasuren Davaa, 95 Min.) Mitten in der der mongolischen Steppe wächst der elfjährige Amra in einer traditionellen Nomadengemeinschaft auf. Morgens wird er von seinem Vater in die Schule gefahren, abends hilft er, die Herde mit den Schafen und Ziegen zur Jurte zu treiben. Mit seinen gleichaltrigen Freunden schaut er YouTube-Videos und träumt davon bei Mongolia´s Got Talent aufzutreten. Daheim treffen sich die Erwachsenen, um über die Zukunft der Gemeinschaft zu beraten. Auf der Suche nach Gold bedrohen globale Bergbaukonzerne die Lebensgrundlage in der Steppe. Der unerwartete Tod des Vaters lässt Amras Träume den Ansprüchen der Realität weichen. Mit aller Macht und weit über seine Kräfte hinaus nimmt der Junge sich vor, dem Vermächtnis seines Vaters gerecht zu werden. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv2020/programm/detail/202002200.html Eine nomadische Familie in der mongolischen Steppe ist bedroht vom Fortschritt und dem drohenden Klimawandel. Tiefe Einblicke in das Leben einer traditionellen Familie, authentisch erzählt von einer mongolischen Regisseurin und ihrer Crew. Altersfreigabe: freigegeben ohne Altersbeschränkung Originalsprachen: Mongolisch Fridas Sommer (Estiu 1993) (ESP 2017, R: Carla Simón, 97 Min.) Schweigend sieht die sechsjährige Frida zu, wie die letzten Gegenstände aus der Wohnung ihrer verstorbenen Mutter verpackt werden. Zum Abschied laufen Freunde winkend hinter dem Auto her. Obgleich sie von der Familie ihres Onkels liebevoll aufgenommen wird, gewöhnt sich Frida fernab ihrer Heimatstadt Barcelona nur zögerlich an ihr neues Zuhause auf dem Land. Momente kindlicher Ausgelassenheit wandeln sich zu nachdenklicher Distanziertheit. Abends betet Frida für ihre Mutter, die sie schmerzlich vermisst, tagsüber versucht sie ihren Platz in diesem neuen Leben zu finden. Trotz der sommerlichen Farben berühren die ernsten Untertöne dieses Coming of Age Dramas, das in behutsamen Bildern die Folgen einer unberechenbaren Krankheit verhandelt. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2017/02_programm_2017/02_filmdatenblatt_2017_201715609.html#tab=filmStills Spanien 1993. Ein junges Mädchen trauert über den Tod ihrer an AIDS gestorbenen Mutter. Dazu muss sie als Stadtkind mit ihrem neuen Leben auf dem Land zurechtkommen. Was gibt Halt? Welche Unterstützung bekommt sie, um ihre unausgesprochene Trauer zu bewältigen? Gelebte Interkultur im abrupten Wohnortwechsel eines Kindes. Altersfreigabe: freigegeben ohne Altersbeschränkung Altersempfehlung: ab 11 Jahren Originalsprachen: Katalanisch Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess (Mijn bijzonder rare week met Tess) (NL/D 2019, R: Steven Wouterlood, 82 Min.) Eine Woche Ferien mit der Familie am Meer! Für Sam ist es eine Woche voller Rätsel über den Tod, das Leben und Tess. Ihn treibt der Gedanke um, dass seine Eltern und sein Bruder einmal sterben werden. Wahrscheinlich sogar vor ihm, weil er der Jüngste ist. Also bereitet sich Sam auf diesen wohl unabwendbaren Moment vor: mit einem täglichen Alleinsein-Training. Blöd nur, dass er gleich am ersten Tag die so chaotische wie faszinierende Tess kennen lernt und viel lieber mit ihr durch die Dünen streifen möchte. Als sie ihm ihr wohlgehütetes Geheimnis verrät, gerät Sams Welt noch mehr ins Wanken. In der sommerlichen Hitze einer niederländischen Ferieninsel stellen sich die Teenager den großen Fragen des Lebens und entwickeln ganz eigene Antworten. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2019/02_programm_2019/02_filmdatenblatt_2019_201911930.html#tab=filmStills Ein Junge stellt sich den großen Fragen des Lebens und entwickelt ganz eigene Antworten. Wie in mehreren Filmen dieser Liste geht es darum, wie mit Trauer und Tod, aber auch mit Angst um die Zukunft umgegangen wird. Altersfreigabe: freigegeben ohne Altersbeschränkung Altersempfehlung: ab 9 Jahren Originalsprachen: Niederländisch, Deutsch Schnee für Wasser (Snijeg za Vodu) (GB/BH 2018, R: Christopher Villiers, 15 Min.) Eingehüllt in eine Decke stehen Ema und ihr jüngerer Bruder Adi am Fenster. Es schneit in der belagerten Stadt Sarajevo. In der Ferne das Donnern von Geschützen. Eimer für Eimer schleppen die Kinder Schnee in die Badewanne, um Wasser zu gewinnen, träumen von einem Marmeladenbrot, toben ausgelassen im Hof. Im zerbombten Haus gegenüber lauern Heckenschützen mit geladenen Gewehren. Sensibel, ohne zu schonen, nähert sich Villiers einer Kindheit im Krieg. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2018/02_programm_2018/02_filmdatenblatt_2018_201810229.html#tab=filmStills Sarajevo, während des Krieges. Scharfschützen lauern überall. Zwei Kinder müssen Wasser holen. Der Film bringt andere, gefährliche, schonungslose Realitäten nahe. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 12 Jahren Originalsprachen: Bosnisch Supa Modo (D/C 2018, R: Likation Wainaina, 74 Min.) Die neunjährige Jo liebt Actionfilme und träumt davon, selbst eine Superheldin zu sein. Ihr größter Wunsch wäre es, einen Film zu drehen, in dem sie selbst die Hauptrolle spielt. In ihrer Fantasie vergisst das Mädchen völlig, dass es unheilbar krank ist. Irgendwann kann Jos Schwester nicht mehr mit ansehen, wie das lebensfrohe Kind die kostbare Zeit, die ihm noch bleibt, einfach im Bett verbringt. Sie ermutigt Jo, an ihre magischen Kräfte zu glauben, und in der Folge animiert sie das ganze Dorf, Jos Traum wahr werden zu lassen. Alle beteiligen sich daran. Quelle: Externer Link: https://www.trigon-film.org/de/movies/Supa_Modo Ein Film, der einen Einblick in eine uns fremde Welt, Kenia, bietet. Bevor die junge, aber unheilbar kranke Protagonistin stirbt, versucht sie auf wundersame Weise, den Schmerz ihrer Freunde und Familie zu lindern. Ein ungewöhnlicher, anderer Weg des Abschiednehmens. Altersfreigabe: freigegeben ohne Altersbeschränkung Altersempfehlung: ab 10 Jahren Originalsprachen: Swahili, Englisch, Kikuyu Unterwegs (En route) (NL 2019, R: Marit Weerheijm, 10 Min.) Inay und ihr Bruder stehen ohne Murren auf, geben der gerade von der Nachtschicht heimgekehrten Mutter einen Abschiedskuss und starten mit dem Vater in den Tag. Perfekt beherrschen sie die Balance zwischen seinem strammen Schritt und zielstrebiger Trödelei, um am Ende mit Sahnepudding belohnt zu werden. Einfühlsam porträtiert die Regisseurin den Zusammenhalt zwischen den Geschwistern, deren kindlicher Blick die prekären Lebensumstände nur erahnen lässt. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv-2020/programm/detail/202002468.html Die Herausforderungen einer von Armut geprägten Familie, Tag für Tag das Essen auf den Tisch zu bringen. Unterlegt von einem latenten Rassismus, aber durchzogen von Momenten der interkulturellen Solidarität. Erzählt auf eine sehr menschliche Art und Weise. Kinder bleiben, soweit es geht, Kinder. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 8 Jahren Originalsprachen: Niederländisch Wallay (F/BF 2017, R: Berni Goldblatt, 87 Min.) Durch die Augen des 13-jährigen Ady porträtiert der Schweizer Regisseur das alltägliche Leben in Burkina Faso. Ady lebt eigentlich in Frankreich; sein Vater hat ihn auf die lange Reise zu Verwandten nach Westafrika geschickt. Der Junge hofft auf einen lässigen Urlaub im Herkunftsland seines Vaters und freut sich riesig. Doch endlich angekommen, bereitet ihm sein Onkel einen überaus kühlen Empfang und macht ihm heftige Vorwürfe. Die anderen Familienmitglieder sind glücklich über den Besuch aus der Ferne und versuchen zu vermitteln, aber Ady merkt bald, dass dies keine Vergnügungsreise wird. Quelle: Externer Link: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2017/02_programm_2017/02_filmdatenblatt_2017_201714190.html#tab=filmStills Ein authentischer Blick in das Alltagsleben in der Heimat des Regisseurs, Burkina Faso. Altes und neues Wissen kollidieren. Ein für deutsche Kinder und Jugendliche zugänglicher Film, der zum Nachdenken über die eigene Kultur anregt. Altersfreigabe: nicht geprüft Altersempfehlung: ab 12 Jahren Originalsprachen: Französisch, Dyula Maryanne Redpath (© Ali Ghandtschi)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2021-03-08T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/328195/filmliste-von-maryanne-redpath/
Im Fokus stehen Filme, die in ihren Erzählungen und ihrer Filmsprache Kinder und Jugendliche ernst nehmen, aus der Sicht junger Protagonist/-innen erzählt werden und deren Welt erfahrbar machen.
[ "Interkulturelle Filmbildung", "Film", "Interkultur", "Filmbildung", "Filmvermittlung" ]
403
KryptoKids | Demokratie im Netz | bpb.de
Das Projekt Die KryptoKids Benny, Samira, Filippa und Flo haben es schon einmal geschafft: Sie haben den kriminellen Datenkraken das Handwerk gelegt und konnten durch ihre besonderen Kenntnisse im Bereich Datenschutz und Verschlüsselung einen Hackerangriff aufklären. Nun steht ihnen das nächste Abenteuer bevor, in dem sie ein geheimes extremistisches Netzwerk aufdecken müssen. Das interaktive Abenteuerspiel zu den Themen Demokratie und Extremismus-Prävention kann mit Gruppen von 8 bis 12-Jährigen mit pädagogischer Rahmung gespielt werden. Es besteht aus digitalen und analogen Elementen, die mit der entsprechenden App und dem pädagogischen Begleitmaterial selbständig und kostenlos von Multiplikator*innen durchgeführt werden können. KryptoKids ist ein Projekt der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW. Kontakt E-Mail Link: info@krypto-kids.de Externer Link: Link zur Projektseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-05-02T00:00:00"
"2022-08-05T00:00:00"
"2023-05-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/foerderung/foerdermoeglichkeiten/demokratie-im-netz/511613/kryptokids/
Krypto Kids ist ein interaktives Spiel zu den Themen Demokratie und Extremismus-Prävention.
[ "digital" ]
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Verleumdungskampagnen und Medienskandale. Amtsführung im "postfaktischen Zeitalter" | Das Amt | bpb.de
Die Welt im 21. Jahrhundert hat sich radikal verändert. Die Voraussage des Medientheoretikers Marshall McLuhan, dass die Welt zum Dorf wird, ist längst Realität. Transaktionen laufen in Sekundenschnelle rund um den gesamten Globus, und die Menschen haben sich über die weltumspannenden Social-Media-Kanäle vernetzt. Der Kampf um die Informationshoheit ist längst entbrannt. Die mächtigsten Unternehmen der Welt sind die Internetkonzerne Google und Facebook, die nichts produzieren, aber alles wissen. Ihre Algorithmen geben den Takt der vernetzten Informationsgesellschaft vor. Viele spüren die umfassende Wucht dieses Veränderungsprozesses, der bei einigen Ängste auslöst. Die Angst verbreitet sich rasch: Bürgerinnen und Bürger geben sich ihr hin und schaffen Feindbilder mit Behauptungen, die jeder Grundlage entbehren. Politikerinnen und Politiker werden zu "Volksverrätern" erklärt, und Journalistinnen und Journalisten gehören der "Lügenpresse" an. Dieser Transformationsprozess und seine Auswirkungen auf die Amtsführung sollen im Folgenden beleuchtet werden. Dabei verdeutlicht ein Blick auf vergangene Medienskandale: Zwar sind Falschmeldungen und Lügen gewiss keine neuen Phänomene; neu aber ist ihre schnelle und crossmediale Verbreitung. Mediales Theaterspiel aus Empörung, Angst und Rettung Kommunikation ist nicht nur schneller geworden, sondern auch zunehmend emotionalisiert und zugleich weniger faktenbasiert. Beim Kurznachrichtendienst Twitter, in dem etwa auch US-Präsident Donald Trump seine Informationspolitik betreibt, erlebt man in 140 Zeichen den neuen Erregungszustand. Das Internet ist zur schnellsten Reiz-Reaktions-Maschine geworden. Anfang der 1980er Jahre sorgte der US-Ingenieur Robert Kahn, der die technologischen Grundlagen für das Internet konzipierte, dafür, dass das amerikanische Verteidigungsministerium rund eine Milliarde Dollar in ein zehnjähriges Forschungsprogramm zur Entwicklung der künstlichen Intelligenz investierte. Er hielt damals fest, dass "die Nation, die das Feld der Informationsverarbeitung dominiert, den Schlüssel zur Weltherrschaft im 21. Jahrhundert besitzen wird". Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und Russland um die Cyberattacken im US-Wahlkampf 2016 sind bezeichnend für den Kampf um die Informationshoheit. Doch der Ton wird auch innerhalb der jeweiligen Länder schärfer: Der demokratisch gewählte US-Präsident Donald Trump erklärte in seiner Rede vor dem Hauptquartier der CIA, er befinde sich "im laufenden Krieg mit den Medien". "Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" lautet ein bekanntes Diktum des preußischen Offiziers Carl von Clausewitz. Nach Clausewitz muss man einen Feind benennen, um die eigenen Reihen zu schließen. Seine Strategeme sahen folgende Instrumente in der Kriegsführung vor: den Überraschungseffekt, das Anfallen von mehreren Seiten her, die Inszenierung eines Kriegstheaters, die Einbeziehung des Volkes sowie die Benutzung großer moralischer Kräfte. Diese Überlegungen mögen alt sein, doch das Schema wird heute noch genutzt – mit neuen technischen Mitteln: Populisten suchen mit ihren Meldungen einen Überraschungseffekt durch eine Provokation oder Falschmeldung zu erzielen, ihre Anhänger nehmen die Nachrichten auf und tragen sie bis zur Empörungswelle durchs Netz. Weil Fehlverhalten und Skandale Empörung und dadurch Aufmerksamkeit versprechen, werden sie zu einem probaten Mittel, Nachrichten zu generieren. Die Populisten selbst werden zu einem Medienereignis. Sie verweisen auf die Stimmung im Volk, die sie selbst erzeugt haben, und inszenieren sich vor einem Millionenpublikum als Retter des Vaterlandes. Es stellt sich die Frage, wie dieses Reiz-Reaktions-Schema der Medienlogik durchbrochen werden kann. Die Gesellschaft befindet sich, ganz nach dem Pawlowschen Experiment, bei dem der Glockenton und nicht mehr das Futter den Speichelfluss beim Hund auslöst, in einer Konditionierungsfalle. Der Physiologe Iwan Pawlow fand auch heraus, dass der Speichelfluss beim Hund mit der Zeit zurückging, wenn der Glockenton nicht durch andere Assoziationen an Futter verstärkt wurde. Dies lässt sich auf die beschriebene Informationsspirale übertragen: Die Nachrichten müssen durch Zuspitzung, Gerüchte und Emotionalisierung immer weiter aufgewertet werden. Die Populisten nutzen die dem Pawlowschen Phänomen entsprechende Medienlogik für sich, und Donald Trump ist ihr Meister. Zum probaten Mittel in der medialen Auseinandersetzung sind die sogenannten Fake News geworden: Quelle und Autorenschaft werden hierbei weder hinterfragt noch überprüft. In "postfaktischen Zeiten" ist der Wahrheitsgehalt einer Nachricht unwichtig. Die neue Währung in der Aufmerksamkeitsspirale des Netzes ist die Empörung. Der Wahrheitsgehalt bleibt dabei auf der Strecke. Auch in der Bundesrepublik waren Politikerinnen und Politiker in jüngster Zeit im Fokus von Fake News. So wurde etwa auf Facebook Ende 2016 ein Mord an einer Frau in Freiburg genutzt, um die Bundestagsabgeordnete Renate Künast mit einem frei erfundenen Zitat zu verunglimpfen. Das gefälschte Zitat – "Der traumatisierte Junge [sic] Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen" – machte im Netz umgehend die Runde und löste in der Diskussion um die Flüchtlingspolitik eine Welle der Empörung aus. Als Quelle wurde die "Süddeutsche Zeitung" genannt. Renate Künast reagierte rasch und richtig: Sie widerrief das Zitat als "frei erfunden" und erstattete Anzeige und Strafantrag gegen die Macher der Facebookseite "Widerstand deutscher Patrioten" sowie gegen unbekannt wegen "übler Nachrede". Der Fall Künast verdeutlicht, dass der Reiz in der Medienlogik über der Information steht. Doch Falschaussagen, Verleumdungen und Lügen hat es in der Vergangenheit immer gegeben, und es wird sie auch in der Zukunft geben. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich bei großen gesellschaftlichen Umwälzungen immer mediale Diskurse, Entgleisungen und neue Machtstrukturen Bahn brechen. Schon die erste deutsche Demokratie begann mit einem Medienskandal, aus dem eine Verleumdungskampagne der antidemokratischen Kräfte erwuchs. Abbildung 1: "Berliner Illustrirte Zeitung", Titel der Ausgabe vom 24. August 1919 (© Albrecht & Thron/©MaRo) Als die erste Republik baden ging Am Tag der Vereidigung des ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, veröffentlichte die "Berliner Illustrirte Zeitung" (BIZ) am 21. August 1919 ein ungewöhnliches Titelfoto: Es zeigte den ersten Demokraten im höchsten Staatsamt und Reichswehrminister Gustav Noske in Badehosen (Abbildung 1). Die Fotografie, die als "Badebild" in die Geschichte einging, schockierte nicht nur die Bevölkerung, sondern hatte auch ungeahnte Folgen für die abgelichteten Personen. Schon damals kämpften die verschiedenen Verlagshäuser um die Gunst der Leserinnen und Leser. Die Verlage mussten, wenn sie höhere Gewinne machen wollten, durch spektakuläre Geschichten, Fotos oder Skandale ihre Auflagen erhöhen. Der damalige Chefredakteur der BIZ, Kurt Korff, schrieb 1927 über den Umgang mit Fotos: "Nicht die Wichtigkeit des Stoffs entschied über die Auswahl und Annahme von Bildern, sondern allein der Reiz des Bildes selbst." So wie im Fall Künast: Der Reiz ist wichtiger als die Information. Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten für die Medien. Und die Veröffentlichung des "Badebildes" war ein Skandal. Bis dato war die Bevölkerung ausschließlich die Gala-Uniformen von Kaiser Wilhelm II. und seinem Hofstaat gewöhnt. Nun standen die neuen Repräsentanten des Staates ohne Kleider da. Zu dieser Zeit trugen Männer für gewöhnlich noch Badeanzüge. Die beiden Politiker waren jedoch de facto nackt. Zudem sah die hungernde und leidende Bevölkerung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg einen gut genährten Sozialdemokraten. All das gab Anlass zu Spott und Häme. Es folgten zahllose Verunglimpfungen von Gegnern der Republik. Sie nutzten das Bild für Artikel, Postkarten, Karikaturen und Bücher. Die "Deutsche Tageszeitung", die das Foto bereits Tage zuvor in einer Beilage veröffentlicht hatte, kommentierte: "Mitte Juli weilten die Herren Reichspräsident Fritz Ebert und Reichswehrminister Noske auch einige Tage im Ostseebade Haffkrug bei Travemünde. In Ausübung ihrer hohen Machtvollkommenheiten dispensierten sie sich von der dort herrschenden Vorschrift, nur im Kostüm zu baden, stellten der Welt ihre ganze Mannesschönheit zur Schau und veranlassten in animierter Stimmung die Fixierung der nebenstehend wiedergegebenen Szene auf eine photographische Platte. Nachträglich kamen ihnen doch Bedenken über die Abzüge. Herr Ebert hatte indes die Freundlichkeit, uns eine Kopie zur Verfügung zu stellen, weil er in ihrer Wiedergabe mit Recht eine treffliche Propaganda für das neue Regime und für seine Person erblickt." Heute würde man von Fake News sprechen, denn die Nachricht war gelogen. Der Tathergang war ein anderer gewesen. Der Büroleiter des Reichspräsidenten, Rudolf Nadolny, hielt in seinen Aufzeichnungen fest, dass Ebert und seine Begleiter nach einem Besuch in Hamburg weiter nach Haffkrug gefahren waren, um ein Waisenhaus zu besuchen. Nach der Besichtigung habe jemand angeregt, noch ein Bad in der Ostsee zu nehmen. Während sie badeten, sei der Fotograf noch einmal vorbeigekommen und habe vorgeschlagen, noch ein Bild zu machen. Alle Personen hätten dem Foto für private Zwecke zugestimmt. Die Herausgabe der Fotoplatte an fremde Dritte sei ausdrücklich untersagt worden. Der Strandfotograf Wilhelm Steffen habe sein Wort gebrochen und das Bild an die Berliner Presse verkauft. Die Klage gegen die Veröffentlichung des Fotos wurde abgewiesen, da man das Bild als Dokument der Zeitgeschichte einstufte. Das Vertrauen, das Ebert dem Fotografen entgegenbrachte, wurde ihm zum Verhängnis. Die Amtswürde des Reichskanzlers wurde durch ein – nach damaligen moralischen Standards – unangemessenes Verhalten schwer beschädigt. Nach der Veröffentlichung fehlte es ihm an einer klugen Medienstrategie, um den Skandal in den Griff zu bekommen. Stattdessen befeuerte er selbst die Auseinandersetzung um das Foto. Immer wieder verklagte er seine Gegner vor der monarchisch eingestellten Justiz, die im sprichwörtlichen Sinne auf dem rechten Auge blind war. Gegen die Verwendung des Badebildes stellte der Reichspräsident in seiner Amtszeit 173 Strafanträge, mit denen er versuchte, die Würde seines Amtes und der Demokratie wiederherzustellen. Vergeblich: 1925 verstarb Ebert während seines letzten Strafprozesses. Ebert war während seiner gesamten Amtszeit mit Falschmeldungen konfrontiert. Auch er beschäftigte sich mit der Berichterstattung in der Presse, doch nach der Verantwortung der Medien fragte er nie. Ein Diskurs über die Medienethik hätte der jungen Republik geholfen, denn das "Badebild" hatte keinen Informations-, sondern ausschließlich einen Sensationsgehalt. Eine andere Badeszene sorgte auch in der jüngeren deutschen Geschichte für Schlagzeilen und ruinierte die Karriere eines Spitzenpolitikers. Politik als Inszenierung Trotz seiner steilen politischen Karriere konnte Rudolf Scharping sein Image als "Sandmännchen" nie ganz ablegen. Seine vermeintliche Langsamkeit, seine einschläfernden und selten mitreißenden Reden sowie sein Erscheinungsbild mit Brille, Bart und Behäbigkeit brachten ihm diesen Spitznamen ein. Als Verteidigungsminister im ersten Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder war er der erste Sozialdemokrat, der den Einsatz von Waffen befahl – im März 1999, als die NATO in den Kosovo-Konflikt eingriff. Aus dem "Sandmännchen" war in den Medien nun der "Feldherr" geworden. Doch er wollte mehr: Sein damaliger Berater, Moritz Hunzinger, brachte Wirtschaftsvertreter mit Politikern zusammen, veranstaltete parlamentarische Abende und trat für die Interessen seiner Mandanten bei Regierungsvertretern ein. Sein Auftrag war der Kontakthandel im Dienste bestimmter Interessen. Hunzinger hatte innerhalb von zwei Jahrzehnten die damals zweitgrößte PR-Beratungsgesellschaft in Deutschland aufgebaut. Über Hundert Mitarbeiter pflegten seine mehr als 60000 wertvollen Adressen von Prominenten aus Politik und Wirtschaft. Mit seinen Netzwerkgeschäften erzielte er Anfang der 2000er Jahre fast fünf Millionen Euro Umsatz. Um die Belange von Rudolf Scharping kümmerte er sich persönlich. Hunzinger entwickelte ein umfangreiches PR-Konzept, um den kommunikativen Auftritt des steif wirkenden Ministers zu optimieren. Doch seine Beratung führte nicht zum Reputationsgewinn des Ministers, sondern zum öffentlichen Absturz. So ließ sich Scharping im August 2001 mit seiner neuen Lebensgefährtin Kristina Pilati, die er bei Hunzingers "Politischem Salon" kennengelernt hatte, im Pool auf Mallorca für die Titelseite der Publikumszeitschrift "Bunte" ablichten (Abbildung 2). Zeitgleich standen Bundeswehrsoldaten unmittelbar vor dem schwierigen Einsatz in Mazedonien. Die Soldaten mussten ihren Kopf hinhalten, während der Verteidigungsminister mit seiner neuen Freundin im Wasser planschte und nicht bei der Truppe weilte – so der Vorwurf. Dieses Verhalten wurde als unhaltbar angesehen. "Der Spiegel" machte es zum großen Aufmacher: Scharping war zum liebestollen Bademeister der Nation geworden. Sein Pressestab im Ministerium wusste von nichts. Es war allein Scharpings Initiative. Abbildung 1: "Berliner Illustrirte Zeitung", Titel der Ausgabe vom 24. August 1919 (© Albrecht & Thron/©MaRo) Vor der Inszenierung im Pool hätte er sich an das Skandalbild seines Parteigenossen aus der Weimarer Republik erinnern und die Wirkung und möglichen Konsequenzen durchdenken sollen. Bis heute ist fraglich, warum der SPD-Minister den Lobbyisten Hunzinger mit CDU-Parteibuch für sein Kommunikationsmanagement beauftragte und welche Rolle dieser wirklich spielte. Scharping wurde zur Belastung, und die Kritik an seiner Amtsführung wegen der Fotos schadete der Regierung und der Partei. Bundeskanzler Schröder entzog ihm das Vertrauen. Anders als Ebert suchte Scharping die Inszenierung und scheiterte daran. Schwarmintelligenz Gerhard Schröder prägte den Satz: "Zum Regieren brauche ich Bild, BamS und Glotze." Einige Jahre später stützte sich Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in seiner politischen Krise auf die "Weisheit" des ehemaligen Bundeskanzlers und wählte ebenfalls die "Bild"-Zeitung als strategischen Partner. Am 16. Februar 2011 berichtete die "Süddeutsche Zeitung", dass Professor Andreas Fischer-Lescano die Dissertation von zu Guttenberg als "dreistes Plagiat" bezeichnet habe. Guttenberg entgegnete, die Anfertigung der Arbeit sei seine eigene Leistung gewesen. Bereits einen Tag nach der Veröffentlichung kommentierte der Boulevard-Journalist Franz Josef Wagner in der "Bild"-Zeitung: "Ich flog durchs Abitur und habe nie eine Universität von innen gesehen. Also, ich kann von außen sagen: Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor." Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Untersuchungen zur Dissertation vor. Und trotzdem bezog Wagner klar Stellung: Der Doktortitel war, seiner Auffassung nach, nichts wert. Beim Fall Guttenberg kam es zu einer Spaltung innerhalb des Axel Springer Verlags. Die Chefredaktion der "Welt" vertrat die Auffassung, dass eine Dissertation, besonders für ihre konservative Leserschaft, ein Wert sei, der nicht infrage zu stellen sei. Ganz anders die "Bild": Der damalige Chefredakteur Kai Diekmann stellte sich hinter zu Guttenberg. Die auflagenstärkste Zeitung wurde zur PR-Abteilung eines Ministers. Währenddessen arbeiteten Unzählige im virtuellen Raum an der Überprüfung der Doktorarbeit. Sie schlossen sich am 17. Februar 2011 auf der Internetplattform "GuttenPlag" zusammen. Am nächsten Tag kam es in der Bundespressekonferenz zu einem Eklat. Zu Guttenberg stellte sich nicht den kritischen Fragen der Journalisten, sondern gab parallel zu der laufenden Bundespressekonferenz eine Erklärung vor ausgewählten Medienvertretern ab, die vor dem Ministerium gewartet hatten. In dürren Worten betonte der Minister, dass seine Arbeit kein Plagiat sei, aber auch, dass er seinen Doktortitel bis zur Aufklärung der Universität Bayreuth nicht mehr führen werde. Mit seinem Nichterscheinen auf der Bundespressekonferenz brachte er alle Hauptstadtkorrespondenten gegen sich auf. Es herrschte Fassungslosigkeit über das Verhalten des Ministers. Den Berliner Journalisten zeigte sich ein neues Bild von zu Guttenberg. Er wurde nun als feige eingeschätzt. Auch sein Pressesprecher Steffen Moritz war völlig handlungsunfähig und konnte in der Bundespressekonferenz keine Erklärung abgeben. Noch während der laufenden Terminankündigungen durch Regierungssprecher Steffen Seibert verließen die Journalisten aus Protest gegen das Verhalten des Ministers geschlossen den Saal. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundespressekonferenz. Am 20. Februar 2011, also nur vier Tage nach der Veröffentlichung des Vorwurfs, war eine erdrückende Beweislage im Internet abrufbar: Bei fast 70 Prozent der Dissertation handelte es sich um ein Plagiat. Am 3. April 2011 stand schließlich das Ergebnis von GuttenPlag fest: Auf 371 von 393 Seiten der Doktorarbeit waren Plagiatsfragmente gefunden worden – das sind 94 Prozent aller Seiten. Die Schwarmintelligenz des Internets konnte Fakten präsentieren, während die "Bild" mit Emotionen argumentierte. Die Universität Bayreuth bestätigte das GuttenPlag-Ergebnis, und am 1. März 2011 trat zu Guttenberg von seinen politischen Ämtern zurück. "Spiegel Online" meldete folgerichtig: "Netz besiegt Minister". Und tatsächlich markiert die Causa Guttenberg einen Meilenstein im Umgang mit medialen Krisen. Der Minister wurde von unbekannten Netzaktivisten seines Amtes enthoben. Die frühere Medienlogik von Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder schien nicht mehr zu bestehen. Fazit Amtsführung heißt heute, wie im Fall von Renate Künast, Falschmeldungen zu erkennen und mit Schnelligkeit und Entschlossenheit gegen sie vorzugehen. Doch Schnelligkeit alleine reicht nicht, das belegt der Fall von Friedrich Ebert. Das Scheitern von Rudolf Scharping verdeutlicht, dass ein Amt anhand von Werten, Würde und Sachverstand zu führen ist und nicht auf PR-Maßnahmen beruhen kann. Die Inszenierung der Politik trieb Karl-Theodor zu Guttenberg zur Perfektion. Zu seiner Zeit war er der beliebteste Politiker der Bundesrepublik, da es ihm gelang, alle Milieus in Deutschland über die unterschiedlichsten Medien gezielt anzusprechen. Seine Öffentlichkeitsarbeit baute auf einem bekannten Muster auf: Der Baron und seine Frau erzählten die Geschichte der Kennedys nach: jung, modern, attraktiv, international, weltgewandt und werteorientiert. Doch zu Guttenberg stürzte über die eigenen Werte, die er nicht einhielt. Er wurde von der Schwarmintelligenz des Internets entzaubert. Das Beispiel zeigt, warum Politiker sich nicht auf die restriktive Unterbindung von Fake News konzentrieren, sondern vielmehr für die Freiheit des Netzes eintreten sollten. Die Aufgabe von Entscheidern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert ist die ethische und sozialverantwortliche Gestaltung der digitalen Transformation unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Hierfür braucht es ein schlüssiges Konzept, um das beschriebene Reiz-Reaktions-Schema und den Erregungszustand zu beenden. Marshall McLuhan, Understanding Media, New York 1964, S. 12ff. Zit. nach Kai Schlieter, Wie Algorithmen die Politik verändern, 25.1.2016, Externer Link: http://www.politik-kommunikation.de/ressorts/artikel/wie-algorithmen-die-politik-veraendern-1247577150. Vgl. Christian Gschwendtner, Putin soll von Cyberangriff auf US-Demokraten gewusst haben, 15.12.2016, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/-1.3296490. Zit. nach "Ich bin im Krieg mit den Medien", 22.1.2017, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/2017-01/usa-donald-trump-amtseinfuehrung-besucherzahl-kritik. Siehe Marcel Rosenbach, Erfundenes Zitat auf Facebook – Künast stellt Strafanzeige, 10.12.2016, Externer Link: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/a-1125240.html. Vgl. hier und im Folgenden Niels H.M. Albrecht, Die Macht einer Verleumdungskampagne, Bremen 2001. Zit. nach Ute Eskildsen, Fotografie in deutschen Zeitschriften 1924–1933, Stuttgart 1982 S. 7. Deutsche Tageszeitung, 9.8.1919, Beilage S. 4. Vgl. Rudolf Nadolny, Mein Beitrag. Erinnerungen eines Botschafters, Wiesbaden 1955, S. 133f. Vgl. Albrecht (Anm. 6), S. 369ff. Siehe Bild, Scharping spricht über die Fotos, die sein Image ruinierten, 20.11.2013, Externer Link: http://www.bild.de/politik/-33475318.bild.html. Ebd. Vgl. Rupert Ahrens/Eberhard Knödler-Bunte, Die Affäre Hunzinger. Ein PR-Missverständnis, Berlin 2003 S. 49ff. Vgl. Matthias Gebauer, Verfangen im eigenen Netz. PR-Berater Hunzinger und der Scharping-Fall, 19.7.2002, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/-a-205958.html. Vgl. Ahrens/Knödler-Bunte (Anm. 13), S. 53f. Vgl. Der Spiegel, Rauswurf in 50 Sekunden. Schröder feuert Scharping, 18.7.2002, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/-a-205828.html. Siehe Roland Preuß/Tanjev Schultz, Guttenberg soll bei Doktorarbeit abgeschrieben haben, 16.2.2011, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/-1.1060774. Post von Wagner, Lieber Dr. zu Guttenberg, Externer Link: http://www.bild.de/-16015226.bild.html. Siehe Externer Link: http://de.guttenplag.wikia.com. Vgl. Oliver Lepsius/Reinhart Meyer-Kalkus, Inszenierung als Beruf. Der Fall Guttenberg, Berlin 2011, S. 49. Christian Stöcker, Netz besiegt Minister, 1.3.2011, Externer Link: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/-a-748358.html. Siehe Niels H. M. Albrecht, Der EGO-Macher, Göttingen 2015, S. 236.
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, Niels H.M. Albrecht
"2023-03-23T00:00:00"
"2017-03-29T00:00:00"
"2023-03-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/245601/verleumdungskampagnen-und-medienskandale-amtsfuehrung-im-postfaktischen-zeitalter/
Falschmeldungen, Lügen und Verleumdungskampagnen sind gewiss keine neuen Herausforderungen für Spitzenpolitiker. Schon die erste deutsche Demokratie begann mit einem Medienskandal, aus dem eine Kampagne der antidemokratischen Kräfte erwuchs.
[ "Medien", "Fake News" ]
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M 02.02.03 Checkliste Fragebogen | Wahlen nach Zahlen | bpb.de
Aufgaben: Tauscht mit einer anderen Gruppe die Fragebögen. Überprüft anhand der Checkliste den Fragebogen und gebt der anderen Gruppe anschließend Feedback. Checkliste für den Fragebogen: Prüft folgende Aspekte: Sind die Fragen eindeutig und einfach formuliert? Sind die Fragen kurz und prägnant? Sind die Fragen konkret gestellt? Sind wertende Fragen vermieden worden, d. h. Fragen, die eine bestimmte Antwort nahe legen? Wurde immer nur nach einem einzelnen Sachverhalt gefragt? Wurden sehr heikle bzw. zu persönliche Fragen vermieden? Decken Antwortmöglichkeiten alle möglichen Perspektiven und Antworten ab? Sind die Antwortmöglichkeiten eindeutig? Sind die Antwortmöglichkeiten sachlich formuliert? Wurde die Reihenfolge der Fragen beachtet? Ist die Sprache angemessen? Wurden die Skalen sinnvoll gewählt? Dieses Material steht auch als formatierte Interner Link: Druckvorlage zur Verfügung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-01-17T00:00:00"
"2021-07-16T00:00:00"
"2023-01-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/wahlen-nach-zahlen/336736/m-02-02-03-checkliste-fragebogen/
Mithilfe dieser Checkliste geben sich die Lernenden im Rahmen eines Peer-Feedbacks Rückmeldungen zu den von ihnen konzipierten Fragebögen und geben sich ggf. Tipps zur Überarbeitung.
[ "Bundestagswahl 2021", "Meinungsforschung", "Wahlforschung", "Umfrage", "Fragebogen", "Checkliste" ]
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Kommentar: Ukraine-Studien in Deutschland. Beobachtungen eines Historikers | Ukraine-Analysen | bpb.de
Die Geschichte der Ukraine im deutschen Hochschulsystem ist eine Disziplin, deren institutionelle Schwäche mehr als offensichtlich ist. Die Ukraine selbst steht in den Augen eines großen Teils der deutschen (auch akademischen) Gesellschaft immer noch im "Schatten Russlands" und wird eher als Objekt denn als handlungskompetentes Subjekt wahrgenommen. Was die Anzahl der Veröffentlichungen (und nicht deren Qualität) betrifft, so lässt sich eine Überbetonung der neueren und zeitgenössischen Themen feststellen. Auffällig ist die Häufigkeit von Themen wie Nationalismus, Antisemitismus und Kollaboration mit den Nazis. Dadurch entsteht die weit verbreitete Wahrnehmung, dass die Schlüsselfigur der ukrainischen Geschichte Bandera ist und dass das Adjektiv "ukrainisch" fast immer unmissverständlich durch "nationalistisch" ersetzt werden kann. Ich formuliere diesen Gedanken bewusst so scharf wie möglich, um die immer wiederkehrende Herausforderung an ukrainische Themen zu verdeutlichen. Im Jahr 1994 im Vorwort zur ersten Auflage seiner "Kleinen Geschichte der Ukraine" schreibt Andreas Kappeler: "Die Ukrainer galten bis vor kurzem auch in Deutschland als Russen, ihre Sprache als russischer Dialekt, ihre Geschichte als russische, polnische oder sowjetische Geschichte… Ein Ziel dieses Buches besteht darin, der vorherrschenden russozentrischen Perspektive, die die Ukraine (wenn überhaupt) nur als Randgebiet Russlands zur Kenntnis nimmt, eine ukrainische Perspektive entgegenzusetzen…". In seinem Buch "Ungleiche Brüder" von 2017, also in einem anderen politischen Kontext – nach dem Euromaidan, der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges im Donbas – stellte derselbe Kappeler fest: "Im westlichen Ausland folgte man weitgehend dem russischen Narrativ. Es war und ist die Rede vom Kiewer Russland, von Altrussland oder von der altrussischen Literatur. Damit übernahm man die Vereinnahmung der Kiewer Rus durch Russland und die Russen". Kappelers Hauptaussage stimmt überraschenderweise mit den Hauptthesen der Veröffentlichungen von Dmytro Doroschenko, ein bedeutender emigrierter Historiker und der erste Direktor des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin, aus den 1930er Jahren überein. Folgt daraus, dass sich die deutsche Ukrainistik in ihrer Hauptaufgabe – der vollen Anerkennung der kulturellen und historischen Selbstständigkeit der Ukraine – im Kreis bewegt? Oder braucht das Ukraine-Thema in der sich wandelnden politischen Realität in Deutschland immer wieder eine neue Legitimation? Die Anfänge der ukrainischen Studien an den deutschen Universitäten gehen zurück auf die Forschungsaktivitäten der Berliner Wissenschaftler Vatroslav Jagić, der 1874 der erste Professor für Slawistik an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin wurde und das "Archiv für slavische Philologie" (1876–1929 in Berlin erschienen) ins Leben rief, und Max Vasmer, der in seiner 1924 gegründeten "Zeitschrift für slavische Philologie" Publikationen zu ukrainischen Themen begrüßte. Ein wichtiger Versuch, ukrainische Studien in Deutschland zu institutionalisieren, wurde 1926 mit der Gründung des bereits erwähnten Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts (UNI) in Berlin unternommen. Dmytro Doroschenko entwarf das UNI als Forschungsinstitut, eine "kleine Akademie der Wissenschaften", die sich der Popularisierung der ukrainischen Forschung in Deutschland widmete und frei von jeglichen politischen Verpflichtungen war. Die letzte Maxime wurde 1931 de facto aufgegeben, als das Institut den Status einer staatlichen Einrichtung beim deutschen Bildungsministerium erhielt. Seitdem (und bis 1945) engagierten sich seine Mitarbeiter in der Lehre an der Berliner Universität und in der Erstellung deutsch-ukrainischer Wörterbücher. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs initiierte eine Gruppe von Wissenschaftlern des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts die Wiedergründung der Ukrainischen Freien Universität (UFU) in München (sie wurde 1921 in Wien eröffnet und im selben Jahr nach Prag verlegt). Im Jahr 1950 erkannte das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus die UFU offiziell als Privatuniversität an und unterstützte ihre Aktivitäten, darunter Publikationen, Konferenzen und Kunstausstellungen, finanziell. Auch wenn es an deutschen Universitäten in der Nachkriegszeit keine etablierte Ukrainistik gab, brachten einige Publikationen deutscher Professor:innen wegweisende Erkenntnisse zur Erforschung der ethnischen und nationalen Komplexität des Rußländischen Reiches (Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich) und der Sowjetunion (Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion). Ihre bahnbrechenden Forschungen wurden zu einem Meilenstein für die internationale Debatte über die Überwindung der Grenzen nationaler und imperialer Narrative. Neben deutschen Historikern haben auch Politik- und Literaturwissenschaftler eine Reihe von wichtigen Publikationen zur Ukraine vorgelegt. Die volle Entfaltung ukrainischer Themen an deutschen Hochschulen erfordert jedoch eine systematische Verbesserung der Grundkenntnisse und -kompetenzen, vor allem der ukrainischen Sprache, Geschichte und Literatur. Kompetente Ukraine-Expertise kann sich nicht nur auf deutsch-, englisch- oder gar nur russischsprachige Publikationen über die jüngsten Entwicklungen stützen. Die entscheidende Verbesserung der Qualität wird hoffentlich unweigerlich neue methodische Überlegungen mit sich bringen. In erster Linie könnte man eine Neuformulierung der Geschichte einer Region erwarten, indem man die Ukraine als Prisma verwendet, das die verflochtene Geschichten zwischen Russland, Polen, der jüdischen Gemeinschaft und des habsburgischen Erbes sichtbar macht, aber in einer neuen Perspektive, die zum Verständnis der spezifischen historischen Selbstständigkeit der Ukraine beiträgt. Eingezwängt zwischen den normativen Extremen des postkolonialen Narrativs einerseits und des "nationalizing state" andererseits muss die postsowjetische Ambiguität der Ukraine immer noch als eine unverwechselbare und autonome komplexe Subjektivität in einem breiten transnationalen und transregionalen Kontext analysiert werden. Die neuen Ukraine-Studien könnten in dreierlei Hinsicht inklusiv sein: Sie sind auf die Interaktion zwischen russischen, polnischen, jüdischen und osmanischen Studien ausgerichtet; sie sind als grundlegend interdisziplinäres Forschungsfeld gedacht, in dem Geschichte auf Anthropologie, Ökonomie, Soziologie, Literaturwissenschaft, politische Philosophie und Kunstgeschichte trifft; sie stehen ForscherInnen aus der Ukraine und anderen Regionen offen gegenüber (und beziehen Menschen aus den verschiedenen Provinzen ein, anstatt sich nur auf die Hauptstädte zu konzentrieren), die in internationalen Debatten und Austauschprogrammen immer noch unterrepräsentiert sind. Quellen / Literatur Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine. München: C. H. Beck, 1994. Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart . München: C. H. Beck, 2017. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall . München: C. H. Beck, 1992. Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinistischen Gesellschaft. Baden-Baden: Nomos, 1986. Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine. München: C. H. Beck, 1994. Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart . München: C. H. Beck, 2017. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall . München: C. H. Beck, 1992. Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinistischen Gesellschaft. Baden-Baden: Nomos, 1986.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-06-10T00:00:00"
"2022-06-03T00:00:00"
"2022-06-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-269/508984/kommentar-ukraine-studien-in-deutschland-beobachtungen-eines-historikers/
Die Ukraine steht in den Augen eines Großteils der akademischen Gesellschaft in Deutschland immer noch im Schatten Russlands. Es braucht neue Ukraine-Studien, die möglichst inklusiv sein sollten.
[ "Ukraine", "Ukraine", "Ukraine", "Deutschland", "Deutschland", "Deutschland", "Beziehungen zu sonstigen Staaten", "Bildung und Wissenschaft" ]
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Dieter Baackes Definition von Medienkompetenz | Medienpädagogik | bpb.de
Externer Link: Dieter Baacke über Medienkompetenz from Externer Link: jff_de on Externer Link: Vimeo.
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"2022-01-14T00:00:00"
"2014-03-21T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/medienpaedagogik/medienkompetenz-2014/181193/dieter-baackes-definition-von-medienkompetenz/
Dieter Baacke brachte den Begriff "Medienkompetenz" in die gesellschaftspolitische Debatte ein. In dem Interview erläutert er seine Definition.
[ "Dieter Baacke", "Medienkompetenz" ]
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Anerkennungsquote Die Anerkennungsquote beziffert, wie viele Asylgesuche positiv entschieden werden. Neben der Anerkennung als Asylbewerber, die nur recht wenige Antragsteller erreichen, existieren weitere Aufenthaltsarten. So wird eine vergleichsweise größere Zahl der Asylbewerber als Flüchtling anerkannt und darf so lange in Deutschland bleiben, bis sich die politische Situation in ihrem Heimatland ändert. In diesem Fall wird der Status geändert und eine Ausreise gefordert. Erfolgt diese nicht freiwillig, wird sie durch eine Abschiebung erzwungen. (Quelle: BAMF) Asyl Ein geschützter Aufenthaltsort, im Griechischen der "Ort, von dem man nicht gewaltsam weggeholt wird". Unser Grundgesetz gewährt politischen Flüchtlingen Asyl. Dieses unbefristete Aufenthaltsrecht in Deutschland wird nur denjenigen gewährt, bei denen eine Prüfung ergibt, dass sie wegen politischer Verfolgung (und nicht z.B. aus wirtschaftlichen Gründen) ihre Heimat verlassen haben. Siehe auch: Das junge Politik-Lexikon Asylverfahren Erreichen Geflüchtete die Bundesrepublik, stellen sie einen Asylantrag. Das Asylverfahren kann unterschiedlich lange dauern – von mehreren Monaten bis zu mehreren Jahren. Nur ca. 1,8 Prozent der Asylanträge werden positiv entschieden. Weitere 30 Prozent der Antragsteller werden zwar nicht als asylberechtigt, aber als Flüchtling anerkannt. Sie erhalten einen temporären Aufenthaltstitel, der jederzeit widerrufen werden kann, wenn sich die Situation im Heimatland ändert. Bildausschnitt Der gewählte Bildausschnitt bestimmt im Zusammenspiel mit der Kameraperspektive und der Tiefenschärfe die Möglichkeiten für die visuelle Anordnung von Figuren und Objekten innerhalb des Bildes. Bürgerinitiative Interessenvereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die sich aufgrund eines konkreten Anlasses organisiert haben und sich um Abhilfe im Sinne ihres Anliegens bemühen, z.B. dass eine Umgehungsstraße gebaut wird. Im Gegensatz zu Parteien wollen Bürgerinitiativen nicht auf Dauer bestehen, nehmen nicht an Wahlen teil und haben auch kein allgemeinpolitisches Programm. Sie können aber zu Vorstufen politischer Parteien werden.Siehe auch: Das junge Politik-Lexikon Dokumentarfilm Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff non-fiktionale Filme, die mit Material, das sie in der Realität vorfinden, einen Aspekt der Wirklichkeit abbilden. John Grierson, der den Begriff prägte, verstand darunter den Versuch, mit der Kamera eine wahre, aber dennoch dramatisierte Version des Lebens zu erstellen; er verlangte von Dokumentarfilmern/innen einen schöpferischen Umgang mit der Realität. Im Allgemeinen verbindet sich mit dem Dokumentarfilm ein Anspruch an Authentizität, Wahrheit und einen sozialkritischen Impetus, oft und fälschlicherweise auch an Objektivität. In den letzten Jahren ist der Trend zu beobachten, dass in Mischformen (Doku-Drama, Fake- oder Performing-Doku) dokumentarische und fiktionale Elemente ineinander fließen und sich Genregrenzen auflösen. (Quelle: www.kinofenster.de) Drittstaatenregelung/Dublin-III-Verordnung Die Drittstaatenregelung besagt, dass Asylsuchende, die von ihrem Herkunftsland über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist sind, keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland haben. Sie werden auf Anordnung des Bundesamtes an den für sie zuständigen sicheren Drittstaat, der ihr letzter Aufenthaltsort war, zurückgeführt. Diese Anordnung wird auch Abschiebungsanordnung genannt. Siehe auch: Interner Link: Das Europalexikon Einstellung Die kleinste Einheit des Films. Aus mehreren Einstellungen verschiedener Größe (z.B. Detail, Großaufnahme) setzt sich eine Szene zusammen. Im Normalfall wird eine Einstellung durch einen Schnitt begrenzt. Filmmusik Das Filmerlebnis wird wesentlich von der Filmmusik beeinflusst. Sie kann Stimmungen untermalen (Illustration), verdeutlichen (Polarisierung) oder im krassen Gegensatz zu den Bildern stehen (Kontrapunkt). Eine extreme Form der Illustration ist die Pointierung (auch: Mickey-Mousing), die nur kurze Momente der Handlung mit passenden musikalischen Signalen unterlegt. Musik kann Emotionalität und dramatische Spannung erzeugen, manchmal gar die Verständlichkeit einer Filmhandlung erhöhen. Bei Szenenwechseln, Ellipsen, Parallelmontagen oder Montagesequenzen fungiert die Musik auch als akustische Klammer, in dem sie die Übergänge und Szenenfolgen als zusammengehörig definiert. Flüchtling Personen, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion in ihrem Heimatstaat verfolgt werden bzw. aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen bzw. wegen eines (Bürger-)Krieges ihr heimatland verlassen mussten. Der hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt an, dass die Anzahl der Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen mussten, 2013 weltweit knapp 20 Mio. betrug. Schätzungen, die auch die Vertriebenen innerhalb der eigenen Länder (Binnen- Flüchtlinge) einkalkulieren, belaufen sich auf ca. 51 Mio. Flüchtlinge. Siehe auch: Das Junge Politik-Lexikon Interviews Interviews dienen der Informationsbeschaffung und der Recherche. Sie gehören in Dokumentarfilmen und anderen dokumentarischen Formaten zu den wichtigsten Bestandteilen. Im Grunde ist ein Interview eine Befragung, bei der die Rollen klar verteilt sind: Ein Interviewer fragt, der Interviewpartner antwortet. Vor dem Interview muss der Interviewer darauf hinweisen, dass das Gespräch zur Veröffentlichung bestimmt ist. Im fertigen Film können Interviews ganz unterschiedlich eingebunden werden. Am häufigsten wird auf das "Sit-Down-Interview" zurückgegriffen, das in einem ruhigen, abgeschlossenen Raum geführt und in dem der Interviewte häufig in einer Halbnah- oder Naheinstellung gefilmt wird, bei der Kopf und Schultern sichtbar sind. Diese Einstellung wird auch als "Talking Heads" bezeichnet. Kommentar/Voice-Over Auf der Tonspur vermittelt eine Erzählerstimme Informationen, die dem besseren Verständnis der Geschichte dienen sollen und mitunter Ereignisse zusammenfassen, die nicht im Bild zu sehen sind. Im frühen Dokumentarfilm war es üblich, die Bilder, die damals meist noch ohne Ton aufgenommen wurden, mit einem sehr starken Kommentar zu versehen. Gegen die Verwendung solcher autoritären Kommentare regte sich Widerstand, als es mit der Entwicklung neuer Kameratechnik Ende der 1950er-Jahre möglich wurde, dokumentarische Bilder auch mit Original-Ton aufzunehmen. Ab den 1960er-Jahren entstanden immer mehr Dokumentarfilme, die bewusst auf einen Kommentar verzichteten. Königsteiner Schlüssel Jedes Bundesland nimmt eine bestimmte Zahl von Asylsuchenden auf. Diese Aufnahmequote wird nach dem sogenannten "Königsteiner Schlüssel" festgesetzt. Dieser wird für jedes Jahr entsprechend der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl der Länder berechnet. Die Bezeichnung geht zurück auf das Königsteiner Staatsabkommen der Länder von 1949, mit dem dieser Schlüssel ursprünglich zur Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen eingeführt worden ist. Kontakttheorie Soziologisches Theorem, das 1954 von Gordon Allport formulierte und 1998 von Andrew Pettigrew weiter entwickelt wurde. Die Kontakttheorie spezifiziert Bedingungen, unter denen interethnische Vorurteile reduziert werden können. Förderlich sind demzufolge der persönliche Kontakt zwischen Angehörigen der verschiedenen Gruppen sowie die Existenz gemeinsamer Ziele und ein vergleichbarer sozialer Status. Montage/Schnitt im Dokumentarfilm Als Schnitt oder Montage bezeichnet man die Anordnung und Zusammenstellung der einzelnen Bildelemente eines Filmes einschließlich der Szenenfolge und der Anordnung der verschiedenen Sequenzen. Im Schnittprozess wird aus den einzelnen Filmszenen ein filmischer Text produziert. Dabei ist die Bezeichnung Filmschnitt eigentlich irreführend, denn die Kunst der Montage liegt nicht in virtuos gesetzten Schnitten, sondern in der Interpretation des Materials und im Zusammenfügen einzelner Elemente zu einer großen Erzählung. Im Dokumentarfilm ist die Filmmontage für die Dramaturgie des Films mindestens ebenso wichtig wie die Drehbucharbeit, da beide mit dem Aufbau der Geschichte des Films befasst sind. Protagonist/innen Die Protagonist/innen sind die handelnden Personen, die in einem Dokumentarfilm mitwirken. Häufig geben die Protagonist/ innenn dabei einen tiefen Einblick in ihr privates Denken und Leben. Anders als im Spielfilm, wo Schauspieler die Ideen eines Regisseur/innen umsetzen, entsteht der Dokumentarfilm oft im Spannungsfeld der verschiedenen Interessen der Protagonist/innen und des Filmteams. Rassismus Rassismus ist eine Ideologie der Ungleichwertigkeit. Sie teilt die Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen oder realen herkunft, hautfarbe, Sprache oder ethnischen Zugehörigkeit in verschiedene Gruppen ein und weist diesen unveränderliche, meist negative Eigenschaften oder handlungen zu. Ihrer eigenen Gruppe sprechen Rassisten meist eine natürliche Überlegenheit zu und leiten daraus das Recht zur Benachteiligung anderer ab. Der sogenannte Alltagsrassismus beschreibt die Übernahme von Rassismus in alltäglichen Situationen. Es handelt sich dabei oft um rassistische Bezüge in der Alltagssprache und im Alltagsbewusstsein und um Ausgrenzungspraxen, bei denen Menschen oder Menschengruppen aufgrund eines Merkmals (Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht etc.) in einer subtilen Art und Weise diskriminiert werden. Siehe auch: Pocket Politik - Demokratie in Deutschland Sequenz Eine Gruppe aufeinanderfolgender Einstellungen, die eine sinnliche, abgeschlossene Einheit bilden. Die Sequenz kann aus mehreren Szenen bestehen und wird meist durch eine filmische Markierung begrenzt, zum Beispiel den Einsatz von Musik, eine Auf- oder Abblende oder einen Kommentar. St.-Florians-Prinzip Eine egoistische Geisteshaltung nach dem Grundsatz, das eigene Umfeld möglichst problemfrei zu halten und Unangenehmes möglichst weit weg zu schieben, obwohl dann andere davon betroffen werden. Im Englischen spricht man vom NIMBY-Prinzip. NIMBY ist ein Akronym für "Not in my backyard". Willkommenskultur Als Willkommenskultur bezeichnet man die Offenheit gesellschaftlicher Strukturen gegenüber Fremden. Das beinhaltet einerseits eine offene und tolerante haltung bei jedem Einzelnen, aber auch offene Strukturen von Organisationen und Institutionen im Umgang mit Menschen, die in ein Land einwandern. Als Grundlage für eine Willkommenskultur gilt ein "Wir-Gefühl", das auch Migranten einschließt. Damit verbunden ist die Entwicklung einer Anerkennungskultur, die die bereits bestehende kulturelle Vielfalt der deutschen Gesellschaft als Normalität und Ressource für gesellschaftliche Entwicklung würdigt. Siehe auch:Interner Link: Glossar zum Projekt "Du kommst hier nicht rein! Jugend zwischen Ausgrenzung und Integration" aus der Reihe "Forschen mit GrafStat" Die Anerkennungsquote beziffert, wie viele Asylgesuche positiv entschieden werden. Neben der Anerkennung als Asylbewerber, die nur recht wenige Antragsteller erreichen, existieren weitere Aufenthaltsarten. So wird eine vergleichsweise größere Zahl der Asylbewerber als Flüchtling anerkannt und darf so lange in Deutschland bleiben, bis sich die politische Situation in ihrem Heimatland ändert. In diesem Fall wird der Status geändert und eine Ausreise gefordert. Erfolgt diese nicht freiwillig, wird sie durch eine Abschiebung erzwungen. (Quelle: BAMF) Ein geschützter Aufenthaltsort, im Griechischen der "Ort, von dem man nicht gewaltsam weggeholt wird". Unser Grundgesetz gewährt politischen Flüchtlingen Asyl. Dieses unbefristete Aufenthaltsrecht in Deutschland wird nur denjenigen gewährt, bei denen eine Prüfung ergibt, dass sie wegen politischer Verfolgung (und nicht z.B. aus wirtschaftlichen Gründen) ihre Heimat verlassen haben. Siehe auch: Das junge Politik-Lexikon Erreichen Geflüchtete die Bundesrepublik, stellen sie einen Asylantrag. Das Asylverfahren kann unterschiedlich lange dauern – von mehreren Monaten bis zu mehreren Jahren. Nur ca. 1,8 Prozent der Asylanträge werden positiv entschieden. Weitere 30 Prozent der Antragsteller werden zwar nicht als asylberechtigt, aber als Flüchtling anerkannt. Sie erhalten einen temporären Aufenthaltstitel, der jederzeit widerrufen werden kann, wenn sich die Situation im Heimatland ändert. Der gewählte Bildausschnitt bestimmt im Zusammenspiel mit der Kameraperspektive und der Tiefenschärfe die Möglichkeiten für die visuelle Anordnung von Figuren und Objekten innerhalb des Bildes. Interessenvereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die sich aufgrund eines konkreten Anlasses organisiert haben und sich um Abhilfe im Sinne ihres Anliegens bemühen, z.B. dass eine Umgehungsstraße gebaut wird. Im Gegensatz zu Parteien wollen Bürgerinitiativen nicht auf Dauer bestehen, nehmen nicht an Wahlen teil und haben auch kein allgemeinpolitisches Programm. Sie können aber zu Vorstufen politischer Parteien werden.Siehe auch: Das junge Politik-Lexikon Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff non-fiktionale Filme, die mit Material, das sie in der Realität vorfinden, einen Aspekt der Wirklichkeit abbilden. John Grierson, der den Begriff prägte, verstand darunter den Versuch, mit der Kamera eine wahre, aber dennoch dramatisierte Version des Lebens zu erstellen; er verlangte von Dokumentarfilmern/innen einen schöpferischen Umgang mit der Realität. Im Allgemeinen verbindet sich mit dem Dokumentarfilm ein Anspruch an Authentizität, Wahrheit und einen sozialkritischen Impetus, oft und fälschlicherweise auch an Objektivität. In den letzten Jahren ist der Trend zu beobachten, dass in Mischformen (Doku-Drama, Fake- oder Performing-Doku) dokumentarische und fiktionale Elemente ineinander fließen und sich Genregrenzen auflösen. (Quelle: www.kinofenster.de) Die Drittstaatenregelung besagt, dass Asylsuchende, die von ihrem Herkunftsland über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist sind, keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland haben. Sie werden auf Anordnung des Bundesamtes an den für sie zuständigen sicheren Drittstaat, der ihr letzter Aufenthaltsort war, zurückgeführt. Diese Anordnung wird auch Abschiebungsanordnung genannt. Siehe auch: Interner Link: Das Europalexikon Die kleinste Einheit des Films. Aus mehreren Einstellungen verschiedener Größe (z.B. Detail, Großaufnahme) setzt sich eine Szene zusammen. Im Normalfall wird eine Einstellung durch einen Schnitt begrenzt. Das Filmerlebnis wird wesentlich von der Filmmusik beeinflusst. Sie kann Stimmungen untermalen (Illustration), verdeutlichen (Polarisierung) oder im krassen Gegensatz zu den Bildern stehen (Kontrapunkt). Eine extreme Form der Illustration ist die Pointierung (auch: Mickey-Mousing), die nur kurze Momente der Handlung mit passenden musikalischen Signalen unterlegt. Musik kann Emotionalität und dramatische Spannung erzeugen, manchmal gar die Verständlichkeit einer Filmhandlung erhöhen. Bei Szenenwechseln, Ellipsen, Parallelmontagen oder Montagesequenzen fungiert die Musik auch als akustische Klammer, in dem sie die Übergänge und Szenenfolgen als zusammengehörig definiert. Personen, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion in ihrem Heimatstaat verfolgt werden bzw. aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen bzw. wegen eines (Bürger-)Krieges ihr heimatland verlassen mussten. Der hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt an, dass die Anzahl der Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen mussten, 2013 weltweit knapp 20 Mio. betrug. Schätzungen, die auch die Vertriebenen innerhalb der eigenen Länder (Binnen- Flüchtlinge) einkalkulieren, belaufen sich auf ca. 51 Mio. Flüchtlinge. Siehe auch: Das Junge Politik-Lexikon Interviews dienen der Informationsbeschaffung und der Recherche. Sie gehören in Dokumentarfilmen und anderen dokumentarischen Formaten zu den wichtigsten Bestandteilen. Im Grunde ist ein Interview eine Befragung, bei der die Rollen klar verteilt sind: Ein Interviewer fragt, der Interviewpartner antwortet. Vor dem Interview muss der Interviewer darauf hinweisen, dass das Gespräch zur Veröffentlichung bestimmt ist. Im fertigen Film können Interviews ganz unterschiedlich eingebunden werden. Am häufigsten wird auf das "Sit-Down-Interview" zurückgegriffen, das in einem ruhigen, abgeschlossenen Raum geführt und in dem der Interviewte häufig in einer Halbnah- oder Naheinstellung gefilmt wird, bei der Kopf und Schultern sichtbar sind. Diese Einstellung wird auch als "Talking Heads" bezeichnet. Auf der Tonspur vermittelt eine Erzählerstimme Informationen, die dem besseren Verständnis der Geschichte dienen sollen und mitunter Ereignisse zusammenfassen, die nicht im Bild zu sehen sind. Im frühen Dokumentarfilm war es üblich, die Bilder, die damals meist noch ohne Ton aufgenommen wurden, mit einem sehr starken Kommentar zu versehen. Gegen die Verwendung solcher autoritären Kommentare regte sich Widerstand, als es mit der Entwicklung neuer Kameratechnik Ende der 1950er-Jahre möglich wurde, dokumentarische Bilder auch mit Original-Ton aufzunehmen. Ab den 1960er-Jahren entstanden immer mehr Dokumentarfilme, die bewusst auf einen Kommentar verzichteten. Jedes Bundesland nimmt eine bestimmte Zahl von Asylsuchenden auf. Diese Aufnahmequote wird nach dem sogenannten "Königsteiner Schlüssel" festgesetzt. Dieser wird für jedes Jahr entsprechend der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl der Länder berechnet. Die Bezeichnung geht zurück auf das Königsteiner Staatsabkommen der Länder von 1949, mit dem dieser Schlüssel ursprünglich zur Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen eingeführt worden ist. Soziologisches Theorem, das 1954 von Gordon Allport formulierte und 1998 von Andrew Pettigrew weiter entwickelt wurde. Die Kontakttheorie spezifiziert Bedingungen, unter denen interethnische Vorurteile reduziert werden können. Förderlich sind demzufolge der persönliche Kontakt zwischen Angehörigen der verschiedenen Gruppen sowie die Existenz gemeinsamer Ziele und ein vergleichbarer sozialer Status. Als Schnitt oder Montage bezeichnet man die Anordnung und Zusammenstellung der einzelnen Bildelemente eines Filmes einschließlich der Szenenfolge und der Anordnung der verschiedenen Sequenzen. Im Schnittprozess wird aus den einzelnen Filmszenen ein filmischer Text produziert. Dabei ist die Bezeichnung Filmschnitt eigentlich irreführend, denn die Kunst der Montage liegt nicht in virtuos gesetzten Schnitten, sondern in der Interpretation des Materials und im Zusammenfügen einzelner Elemente zu einer großen Erzählung. Im Dokumentarfilm ist die Filmmontage für die Dramaturgie des Films mindestens ebenso wichtig wie die Drehbucharbeit, da beide mit dem Aufbau der Geschichte des Films befasst sind. Die Protagonist/innen sind die handelnden Personen, die in einem Dokumentarfilm mitwirken. Häufig geben die Protagonist/ innenn dabei einen tiefen Einblick in ihr privates Denken und Leben. Anders als im Spielfilm, wo Schauspieler die Ideen eines Regisseur/innen umsetzen, entsteht der Dokumentarfilm oft im Spannungsfeld der verschiedenen Interessen der Protagonist/innen und des Filmteams. Rassismus ist eine Ideologie der Ungleichwertigkeit. Sie teilt die Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen oder realen herkunft, hautfarbe, Sprache oder ethnischen Zugehörigkeit in verschiedene Gruppen ein und weist diesen unveränderliche, meist negative Eigenschaften oder handlungen zu. Ihrer eigenen Gruppe sprechen Rassisten meist eine natürliche Überlegenheit zu und leiten daraus das Recht zur Benachteiligung anderer ab. Der sogenannte Alltagsrassismus beschreibt die Übernahme von Rassismus in alltäglichen Situationen. Es handelt sich dabei oft um rassistische Bezüge in der Alltagssprache und im Alltagsbewusstsein und um Ausgrenzungspraxen, bei denen Menschen oder Menschengruppen aufgrund eines Merkmals (Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht etc.) in einer subtilen Art und Weise diskriminiert werden. Siehe auch: Pocket Politik - Demokratie in Deutschland Eine Gruppe aufeinanderfolgender Einstellungen, die eine sinnliche, abgeschlossene Einheit bilden. Die Sequenz kann aus mehreren Szenen bestehen und wird meist durch eine filmische Markierung begrenzt, zum Beispiel den Einsatz von Musik, eine Auf- oder Abblende oder einen Kommentar. Eine egoistische Geisteshaltung nach dem Grundsatz, das eigene Umfeld möglichst problemfrei zu halten und Unangenehmes möglichst weit weg zu schieben, obwohl dann andere davon betroffen werden. Im Englischen spricht man vom NIMBY-Prinzip. NIMBY ist ein Akronym für "Not in my backyard". Als Willkommenskultur bezeichnet man die Offenheit gesellschaftlicher Strukturen gegenüber Fremden. Das beinhaltet einerseits eine offene und tolerante haltung bei jedem Einzelnen, aber auch offene Strukturen von Organisationen und Institutionen im Umgang mit Menschen, die in ein Land einwandern. Als Grundlage für eine Willkommenskultur gilt ein "Wir-Gefühl", das auch Migranten einschließt. Damit verbunden ist die Entwicklung einer Anerkennungskultur, die die bereits bestehende kulturelle Vielfalt der deutschen Gesellschaft als Normalität und Ressource für gesellschaftliche Entwicklung würdigt. Siehe auch:Interner Link: Glossar zum Projekt "Du kommst hier nicht rein! Jugend zwischen Ausgrenzung und Integration" aus der Reihe "Forschen mit GrafStat"
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-11-18T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/willkommen-auf-deutsch/215791/glossar/
[ "Migration", "Einwanderung", "Asyl", "Glossar" ]
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"Die Akteure im Rahmen ihres damaligen Horizontes wahrnehmen" | Die Wohnung | bpb.de
Adolf Eichmann nannte Leopold von Mildenstein, seinen Vorgänger im so genannten Judenreferat, seinen "bedeutendsten Meister und Lehrer", dessen Anschauungen er bis zum Ende beibehalten habe. Wie schätzen Sie diese Aussagen ein? Eichmanns Aussagen sind meiner Ansicht nach ganz klar als Verteidigungsstrategie zu sehen. Er weist von Mildenstein bewusst eine große Bedeutung zu, um seine eigene Rolle dahinter kleiner zu machen, als sie tatsächlich war. Eichmann versuchte zudem, sich in eine Kontinuität mit von Mildenstein zu stellen, der zu Beginn des NS-Regimes für eine forcierte Auswanderung der deutschen Juden plädiert hatte und noch nicht für den Massenmord. Was war der Sicherheitsdienst der SS, in dem Mildenstein 1935/36 das "Judenreferat" leitete? Heinrich Himmler, Reichsführer SS, beauftragte 1931 den gerade entlassenen Marineoffizier Reinhard Heydrich mit dem Aufbau des SD (Sicherheitsdienst) als Nachrichtendienst innerhalb der Schutzstaffel (SS). Zunächst sammelte der SD Informationen über oppositionelle Personen und Gruppierungen; seit der Machtübernahme 1933 gewann er aber zunehmend in Verbindung mit der Gestapo – Heydrich war sowohl Chef der Gestapo wie des SD – an Wichtigkeit und Gefährlichkeit. Das so genannte Judenreferat des Sicherheitsdienstes der SS war 1935/36, als von Mildenstein dort tätig war, erst im Aufbau; erst mit Eichmann wurde es immer wichtiger. Als im September 1939 das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) als oberste Behörde des Terrors und der Verfolgung gegründet wurde, gehörte neben der Gestapo und der Kriminalpolizei auch der SD dazu. Nunmehr wurde das "Judenreferat", in dem Adolf Eichmann tätig war, die Organisationszentrale für die Deportation der europäischen Juden in die Vernichtungslager. Heute verbindet man mit dem SD in erster Linie Staatsterror und mit dem Judenreferat die Massenvernichtung der Juden. Man denkt nicht an zwei, drei Männer, die in einem kleinen Amtszimmer sitzen, Informationen sammeln und Zeitungsartikel ausschneiden. Das berührt auch ein Grunddilemma des Historikers. Einerseits wissen wir – so wie der Regisseur Goldfinger im Film – um den weiteren Fortlauf der Nationalsozialistischen Verbrechen, andererseits wollen und müssen wir die Akteure im Rahmen ihres damaligen Horizontes wahrnehmen und beurteilen. Natürlich war der SD auch Anfang der 30er-Jahre eine verbrecherischen Organisation, aber dass es nur wenige Jahre später Vernichtungslager wie Sobibor, Belzec oder Auschwitz geben würde, konnte sich niemand Anfang der 1930er-Jahre vorstellen, weder jemand aus der Familie Tuchler, noch, denke ich, jemand wie Mildenstein. Es gibt in den Archivunterlagen und Zeugenaussagen zum Teil sehr widersprüchliche Angaben zu von Mildensteins Biographie. Sicher scheint, dass er 1936 das Judenreferat aus uns unbekannten Gründen verließ, mindestens ein Jahr in die USA reiste – und 1938 in Goebbels Propagandaministerium als Referent begann. Wieso trat ein Mann wie er 1936 aus der SS aus und 1938 wieder ein? Ich würde für Mildensteins Ausscheiden aus dem SD 1936 weniger ideologische als opportunistische, karrierepolitische Gründe verantwortlich machen. Von Mildenstein verstand sich als weit gereister, polyglotter Journalist, dem war der SD in dessen Anfangsjahren sicherlich bald eine Nummer zu klein. Ein Posten im Propagandaministerium war da ein Schritt nach oben auf der Karriereleiter. Sein Ein- und Austritt aus der SS ist zwar ungewöhnlich, war aber damals durchaus möglich. Man darf nicht vergessen, dass Mildenstein womöglich ein wichtiger Informant für den SD im Propagandaministerium war, und um ihn zu verpflichten, er wieder SS-Mitglied wurde. Aber das sind Spekulationen, denn in seiner SS-Personalakte findet sich darüber nichts. Wurde von Mildenstein nach dem Kriege verurteilt? Nein, wurde er nicht. Zwar war die SS im Nürnberger Prozess als verbrecherische Organisation eingestuft worden, und somit mussten sich zunächst alle SS-Angehörigen vor einem Entnazifizierungsgericht verantworten. Aber bald waren die Fragen nur noch reine Formsache; niemand wollte mehr wissen, was diese Täter wirklich getan hatten, und Anfang der 1950er-Jahre wollte man die nationalsozialistische Vergangenheit schnell hinter sich lassen. Die Tatsache, dass Herr von Mildenstein bald nach dem Krieg bei US-Unternehmen wie Ford und Coca Cola Karriere machte, war durchaus nicht ungewöhnlich. Da ließen sich etliche Bespiele nennen. Vielleicht kam von Mildenstein auch zugute, dass er kurz vor Kriegsbeginn die USA bereist hatte und diese Kontakte nach dem Krieg für sich ausnutzte. Dieses Interview stammt aus dem Booklet zur von der Edition Salzgeber in 2012 produzierten DVD "Die Wohnung".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2014-11-18T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/die-wohnung/195257/die-akteure-im-rahmen-ihres-damaligen-horizontes-wahrnehmen/
Der Historiker Michael Wildt erläutert im Interview die historische Figur Leopold von Mildenstein und dessen seltsam anmutende freundschaftliche Beziehung zu den Tuchlers.
[ "Adolf Eichmann", "Leopold von Mildenstein", "Tuchler", "Judenreferat", "NS-Regime", "Heinrich Himmler", "Schutzstaffel", "Vernichtungslager", "Holocaust", "Shoah", "Archiv", "Zeugenaussage", "Propagandaministerium", "Nachkriegszeit", "Aufarbeitung", "Deutsches Reich", "Bundesrepublik Deutschland", "Berlin", "Wuppertal" ]
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Covid-19-Chronik, 18. bis 31. Mai 2021 | bpb.de
18.05.2021 Bei einem Besuch des Krankenhauses in Wolica (bei Kalisch/Kalisz) lobt Paloma Cuchi, Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Polen, die Bekämpfung der Corona-Pandemie in Polen als "fehlerlos". Polen habe sofort reagiert und Geräte und Hilfe für Kranke und vulnerable Gruppen organisiert. Auch die Impfungen würden effektiv verlaufen. Cuchi besucht in Wolica ein Spezialzentrum für Lungenkrankheiten und Tuberkulose, um für die WHO Informationen und Erfahrungen über die Bekämpfung von Covid-19 und die Nachbehandlung der Krankheit zu sammeln. 19.05.2021 Der Woiwode von Niederschlesien (woj. dolnośląskie), Jarosław Obremski, hebt den Beschluss des Stadtrates von Wałbrzych auf, der Ende April eine verpflichtende Corona-Impfung für alle Einwohner ab dem 18. Lebensjahr sowie alle, die in der Stadt arbeiten, angeordnet hat. Eine solche rechtliche Regelung liege allein in der Kompetenz der Zentralregierung, so Obremski. 21.05.2021 In einer von Kantar Public veröffentlichten Umfrage (durchgeführt vom 7. bis 12. Mai 2021) geben 38 % an, vor dem Hintergrund der herrschenden Corona-Pandemie keine Urlaubspläne für diesen Sommer zu haben. 27 % wollen den Urlaub in Polen verbringen, 6 % planen eine Auslandsreise. 13 % geben an, verreisen zu wollen, aber noch nichts geplant zu haben. 22.05.2021 Im Zentrum von Warschau protestieren ca. 200 Personen gegen den Lockdown infolge der Corona-Pandemie und gegen Corona-Impfungen. 23.05.2021 Der Impfbeauftragte der Regierung, Michał Dworczyk, gibt bekannt, dass das im Warschauer Nationalstadion für Covid-19-Patienten eingerichtete "Nationalkrankenhaus" seinen Dienst einstellen konnte. Ein Teil der Geräte werde für eine eventuelle vierte Infektionswelle vorgehalten. Im Stadion würden künftig wieder Sport- und Kulturveranstaltungen stattfinden. 25.05.2021 Der Impfbeauftragte der Regierung, Michał Dworczyk, teilt mit, dass in den letzten Wochen ca. 2 Mio. Personen wöchentlich gegen Covid-19 geimpft worden seien. Bei insgesamt 18,3 Mio. Impfungen seien es knapp 13 Mio. Erstimpfungen. Ab dem 1. Juli habe man freie Wahl, wo man zum zweiten Mal geimpft werden wolle. Das sei bisher organisatorisch nicht möglich gewesen. 25.05.2021 Der Impfbeauftragte der Regierung, Michał Dworczyk, informiert über eine Impf-Werbekampagne, die am 1. Juli beginnen wird. Es handele sich um eine Lotterie, die von dem Lotto-Unternehmen Totalizator Sportowy, das unter der Aufsicht des Finanzministeriums steht, sowie von Gesellschaften des Staatsschatzes finanziert wird. Die Gemeinden in Polen, in denen in 49 Gebieten die höchste Impfquote registriert wird, erhalten eine Million Zloty zur freien Verfügung. Die Gemeinde, welche die höchste Quote in ganz Polen hat, erhält zusätzlich zwei Millionen Zloty. 27.05.2021 Przemysław Czarnek, Minister für Bildung und Wissenschaft, stellt die vollständige Rückkehr zu Präsenzveranstaltungen an den Universitäten ab dem 1. Oktober in Aussicht, sollte es die Lage der Corona-Pandemie erlauben. Die Hochschulen halten seit März 2020 Lehrveranstaltungen als Distanzunterricht ab. 28.05.2021 Sejmmarschallin Elżbieta Witek (Recht und Gerechtigkeit/Prawo i Sprawiedliwość – PiS) sagt, dass die infolge der Corona-Pandemie geänderten Regeln im Parlament bis zum verkündeten Ende der Pandemie aufrechterhalten werden. Dies betrifft zum Beispiel Abstimmungen, die wegen der Hygiene- und Abstandsregeln zurzeit online durchgeführt werden. 30.05.2021 Vize-Sejmmarschall Piotr Zgorzelski (Polnische Bauernpartei/Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) teilt in einem Interview mit TVN 24 mit, dass er bei Sejmmarschallin Elżbieta Witek (Recht und Gerechtigkeit/Prawo i Sprawiedliwość – PiS) beantragt hat, wieder Präsenzabstimmungen im Parlament einzuführen. Infolge der herrschenden Corona-Pandemie werden die Sitzungen online durchgeführt. 31.05.2021 Ab dem heutigen Tag gilt ab der 4. Klasse wieder vollständig Präsenzunterricht. In den letzten zwei Wochen fand der Unterricht im Wechsel als Distanz- und Präsenzveranstaltung statt. Seit Oktober 2020 wurde Distanzunterricht praktiziert. Die Maßnahmen wurden zum Schutz vor der herrschenden Corona-Pandemie getroffen. Die Klassen 1 bis 3 haben bereits seit Anfang Mai wieder Präsenzunterricht.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-04-25T00:00:00"
"2021-06-09T00:00:00"
"2022-04-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/334609/covid-19-chronik-18-bis-31-mai-2021/
Die Ereignisse vom 18. Mai bis 31. Mai 2021 in der Covid-19-Chronik.
[ "Gesundheit: Covid-19 Pandemie", "Polen" ]
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Friedrich Wilhelm Murnau | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de
Friedrich Wilhelm Murnau (© Friedrich- Wilhelm- Murnau-Stiftung, Wiesbaden) Friedrich Wilhelm Murnau, geboren am 28.12.1888 als Friedrich Wilhelm Plumpe in Bielefeld, gestorben am 11.3.1931 in Santa Barbara, USA Der aus einem wohlhabenden bürgerlichen Fabrikantenhaushalt in Bielefeld stammende Friedrich ­Wilhelm Plumpe studiert zunächst Philologie und Kunstgeschichte in Heidelberg, bevor er die Berliner Theaterschule von Max Reinhardt, einem der führenden deutschen Theaterregisseure und Intendanten seiner Zeit, besucht. Dort nimmt er Schauspielunterricht und wird Reinhardts Regieassistent. Da seine Familie sowohl seine künstlerischen Ambitionen wie auch seine Homosexualität ablehnt, distanziert er sich bereits 1910 von seinem Geburtsnamen und nimmt den Künstlernamen Murnau, nach einem Urlaubsort in Oberbayern, mit dem er romantische Erinnerungen verbindet, an. Nach seiner Dienstzeit als Leutnant im Ersten Weltkrieg beginnt er 1919 in Berlin beim Film zu arbeiten. Der Erfolg seiner Filme bringt ihm einen Vertrag mit der Universum-Film AG (UFA) ein. Von seinen ersten elf Filmen gelten – außer dem Kriminalfilm Der Gang in die Nacht (D 1920), Schloss Vogelöd (D 1921), dem Bauerndrama Der brennende Acker (D 1922) und Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (D 1921/22) – alle anderen als verschollen. Bevor er 1926 von US-amerikanischen Filmgesellschaften abgeworben wird und nach Hollywood geht, entstehen noch weitere expressionistische Stummfilmklassiker wie die Literaturadaptionen Tartüff (D 1925) nach Molière und Faust (D 1926) nach der deutschen Volkssage und dem Drama von Johann Wolfgang von Goethe, sowie Der letzte Mann (D 1924). Dieser Film erzählt vom sozialen Abstieg eines alten Hotelportiers und zeigt formal zahlreiche expressionistische Elemente auf, verweist thematisch jedoch schon auf die Filme der Neuen Sachlichkeit. In allen drei Filmen spielt Emil Jannings die Hauptrolle. In seiner Zeit in den USA realisiert er vier weitere Filme, von denen vor allem das psychologische Melodram Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen (USA 1927) und der zwischen Dokumentarfilm und Melodram angesiedelte Südseefilm Tabu (USA 1931), der mit Laiendarstellern/innen in Tahiti und Bora-Bora gedreht wird, heute noch bekannt sind. Eine Woche vor der Filmpremiere von Tabu im März 1931 stirbt Murnau an den Folgen eines Autounfalls. F.W. Murnau, so die gängige Namensverkürzung, gehört zu den besonders innovativen und bedeutenden Filmemachern des frühen 20. Jahrhunderts. Er verstand es, den Film als visuelles Medium zu etablieren. In seinen Filmen, vor allem in den Literaturverfilmungen, die in ihrer ursprünglichen künstlerischen Schriftform allein vom Wort leben, gibt es – für die Stummfilmzeit höchst ungewöhnlich – kaum Zwischentitel. Murnau erkannte die Kraft des Bildes, von Beleuchtung und Kameraführung und setzte auf besondere Lichtreflexe. So verdüstert in Faust der Mantel Mephistos allmählich die ganze Stadt und kündigt damit, optisch eindrucksvoll, die Pest an. Zusammen mit seinem Kameramann Karl Freund, der später ebenfalls als Regisseur und Kameramann in Hollywood Erfolge feiern konnte, entwickelte er die Führungsweise der "entfesselten Kamera" und schuf damit völlig neue Bildperspektiven. In Der letzte Mann wird zum Beispiel der Rauch einer Zigarette mit Hilfe einer an eine Feuerwehrleiter befestigten Kamera mitverfolgt. Die Konzentration auf diese rein filmischen Mittel, zusammen mit ausgesuchten Bildausschnitten, die wie Gemälde konzipiert sind, sowie dem psychologisch dichten Spiel der Schauspieler/innen, die Murnau besonders gut zu instruieren und motivieren verstand, geben seinen Filmen eine bemerkenswerte Ausdruckskraft. Daneben achtete der Filmemacher auf eine durchgehende atmosphärische Stimmigkeit, in der Wirklichkeit und Unwirklichkeit auf poetische Weise ineinander übergehen. Bei der Auswahl seiner Themen war der häufig melancholisch gestimmte Murnau eher auf Vergangenes gerichtet. Er liebte klassische, romantische Literatur, die auch einigen seiner Filme wie Tartüff, Faust oder Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen zugrunde liegt oder romantisierende Sozial­darstellungen wie in Der letzte Mann, City Girl (Unser täglich Brot, USA 1930) oder in Tabu. In diesen Filmerzählungen wird stets die Schönheit des einfachen Lebens heraufbeschworen, die im Gegensatz zur zunehmend technisierten Alltagswelt seiner Zeit stand. Filmografie als Regisseur (Alle heute noch erhaltenen Filme) Der Gang in die Nacht (D 1920) Schloss Vogelöd (D 1921) Der brennende Acker (D 1922) Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (D 1922) Phantom (D 1922) Die Finanzen des Großherzogs (D 1924) Der letzte Mann (D 1924) Tartüff (D 1925) Faust (D 1926) Sunrise – A song of two humans (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen) (USA 1927) City Girl (Unser täglich Brot, USA 1930) Tabu (USA 1931) Friedrich Wilhelm Murnau (© Friedrich- Wilhelm- Murnau-Stiftung, Wiesbaden)
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Dr. Martin Ganguly
"2022-02-25T00:00:00"
"2016-07-06T00:00:00"
"2022-02-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/230668/friedrich-wilhelm-murnau/
Biografie und Filmografie von Friedrich ­Wilhelm Plumpe, der unter dem Namen Murnau einige der bedeutsamsten Filme des Weimarer Kinos realisierte.
[ "Klassiker des Vampirfilms", "Friedrich Wilhelm Murnau", "Regisseur", "Filmbildung", "Filmklassiker" ]
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Verratene Ideale | Die 68er-Bewegung | bpb.de
"Dem rigiden System ging allmählich die Luft aus". Antonín Novotny, Präsident der CSSR (1957-1968). (© AP) Der tschechoslowakische Frühling des Jahres 1968 bedeutete für die 18-Jährige, die in einem Gymnasium in Bratislava Tag für Tag langweilige Stunden unter dem Porträt Antonín NovotnÝs zuzubringen hatte, eine wilde Freude: In der Pause wurde das strenge Dutzendgesicht mit den schmalen Lippen und einer ordentlich gebundenen Krawatte von den Mitschülern heruntergerissen. Im Gekreische und im Gestampfe auf dem Bild unseres Präsidenten auf dem Fußboden des Klassenzimmers wurde ich als Bürgerin geboren. Vorher hatte ich stumpf den Pflichtwortmüll geschluckt: Wir leben in der besten aller Welten und sind auf dem direkten Weg zu einer noch vollkommeneren Gesellschaft. Und die Sowjetunion ist unser Vorbild und allerbester Freund. Nach der Befreiung der proletarischen Massen durfte es nie mehr einen Aufstand geben, eigene revolutionäre Initiative, in welcher Richtung auch immer, hieß Sabotage. Täglich überschritt ich wie eine Doppelagentin die scharfe Grenze zwischen der Außenwelt und dem Zuhause, wo mir die Mutter ihre Grundsätze des Überlebens beizubringen versuchte: Denke, was du willst, aber sag es nie. Nichts, was hier gesprochen wird, darfst du in der Schule weitererzählen. Das mütterliche Verbot hat - entgegen ihrer Absicht - aus mir eine Schreibende gemacht. Jeder meiner Texte ist immer noch ein Aufbäumen gegen das Gebot des Schweigens und des Nichthandelns. Der kläglich am Boden zerstörte Präsident hat mir die Entdeckung geschenkt, dass Politik auch 18-Jährigen unbändige Freude bereiten kann. Die Zeit war reif. Noch im Winter hätte man für solch eine Tat mit dem Schulausschluss rechnen müssen, ein paar Jahre davor mit der Einweisung in die Psychiatrie oder in eine Besserungsanstalt. Der politische Frühling, den diese Episode charakterisiert, kam nicht von der Basis her, sondern oben im kommunistischen Apparat wurden Reformen durchgesetzt, die dann die Menschen auf ihre Weise umzusetzen versuchten. Im Frühlingswind, der über die Donauebene wehte, ordnete der herbeigeeilte Schulrektor an, die Splitter zusammenzufegen, und murmelte: Das ist strafbar, der Genosse NovotnÝ ist immer noch Präsident. Aber seine Stimme war dünn und bestätigte, was wir schon wussten: Dem rigiden System ging allmählich die Luft aus. Auf dem Heimweg schmierten wir auf die Mauern vulgär-naive Sprüche wie "Der Präsident ist ein Schwein" und lachten entfesselt. Das Glück war vollkommen, der Anfang der Polis war da, wir benannten Unrecht und Blödheit so, wie wir sie fühlten - emotional und ungeübt in der politischen Wortwahl. NovotnÝs verbrecherische Biederkeit, mit der die Gesichter der Funktionäre vom Zentralkomitee der KP allgemein geschlagen waren, als kämen sie vom Fließband, stand für repressive Lüge und abtötende Langeweile, die meiner Generation aufgezwungen wurde. NovotnÝs Gesicht herunterzureißen hieß: die Autorität der Väter zu stürzen, die uns die Beatles, das Tragen von langen Haaren und Miniröcken und damit den Anschluss an die Welt am liebsten verbieten wollten. Was wäre geschehen, wenn der in jedem Klassenzimmer und in jedem Büro hängende Präsident attraktiv und jung wie Che Guevara auf dem berühmten Plakat gewesen wäre, das ich später in den WGs der westlichen Linken hängen sah? Die Schönheit eines bärtigen Revolutionärs mit schickem Barett passte zur westlichen Illusion vom Sozialismus, nicht in unsere hässliche Wirklichkeit. Unsere glattrasierten Weltverbesserer redeten monoton, ihre Reden auf KP-Kongressen über eine bessere Zukunft, die sie für uns vorbereiteten, wurden im Parteiorgan "Pravda" (Wahrheit) und im Gewerkschaftsorgan "Práca" (Arbeit) in voller Länge abgedruckt. Wie hätte ich da Journalistin werden wollen? Auf den Geschmack dieses Berufes kam ich in jenen Monaten, die so kurz wie ein Traum waren und mich doch nachhaltig verwandelten. NovotnÝs Inventargesicht wurde durch das weiche, zwar nicht außergewöhnliche, doch menschlich anmutende Gesicht von Alexander Dubcek ersetzt, der Parteichef geworden war. Mit diesem Gesicht, das nicht in Klassenzimmern aufgehängt wurde, sondern lebendig blieb, kam eine neue Definition der anzustrebenden Gesellschaftsordnung auf - der Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Es war nicht zu überhören, was die neue Ausrichtung implizierte: Der vorherige war ein Sozialismus mit Monstergesicht. Versprechungen einer neuen Utopie gegenüber waren wir misstrauisch oder zumindest vorsichtig geworden, sie waren allzu schrecklich strapaziert worden und könnten wieder eine Täuschung sein. Revolutionär dafür war, dem Monster nun ins Gesicht schauen zu dürfen. Während bei westlichen Linken der Prager Frühling zukunftsorientiert als "dritter Weg" wahrgenommen wurde, als Verheißung einer gerechten Gesellschaft, war das Tauwetter für mich rückwärts- und gegenwartsgerichtet, als Entlarvung der kommunistischen Verbrechen, und darin lag seine Menschlichkeit. "Pravda" und "Práca" wurden zu Zeitungen. Ich fing an, sie zu lesen, und erfuhr von politischen Prozessen und Arbeitslagern aus den 1950er Jahren sowie von absurden und vertuschten Missgriffen der Planwirtschaft. Es war noch längst nicht Pressefreiheit, aber die Lockerung der Zensur machte diese Blätter zu einer aufregenden Lektüre. Der Frühling 1968 war licht, aber nicht, weil er eine lichte Zukunft entwarf, sondern, weil er die Dunkelheit als dunkel benannte. Das Demütigende, das Unerträgliche der Nachkriegsepoche in der sozialistisch gewordenen Tschechoslowakei bestand in der Lüge - die Verbrechen wurden als Wohltaten für die Menschheit angepriesen, die Geschichte und die Gegenwart waren verfälscht, und das, was uns die Eltern aus ihrer Erfahrung erzählten, falls sie es überhaupt wagten, war ganz anders als die Schullektüre. 1961, als ich elf Jahre alt war, kehrte meine Mutter aus dem Gefängnis zurück. Doch sie sagte nicht, wo sie gewesen war. Und ich hatte verinnerlicht, was sich gehörte, und fragte nicht. Der Begriff der politischen Freiheit leitet sich für mich vom tschechoslowakischen Tauwetter ab und bleibt mit der Forderung nach Aufklärung der Staatsverbrechen verknüpft. Diese Freiheit heißt, den Blick in den Kerker zu werfen. Erst im Frühling 1968 begann meine Mutter zu erzählen, wie die Gefangenen ihre Gefängniskleidung gebügelt hatten - sie hatten sie die Nacht über unter die Matratze gelegt. Und sie lachte befreit, schließlich hatte sie die Nachricht von ihrer Rehabilitierung erhalten. Das Private ist mit dem Politischen aufs Engste verwoben, das war die Lektion des Lebens in der CSSR. Dass wir, die einfachen Bürger und Bürgerinnen, das Recht haben, das Knäuel zu entwirren, erfuhr ich erst in diesem wundersamen Frühling. Das Vermächtnis des tschechoslowakischen Frühlings bleibt: Wenn ich das Vergangene und das Jetzige klar beim Namen nenne, wird die Zukunft ein aufrichtiges Antlitz haben. Doch bis zur endgültigen Befreiung dauerte es noch erzwungene 21 Jahre des Rückfalls in die Diktatur, euphemistisch normalizácia genannt. Denn nach dem Frühling kam der Sommer. Am 21. August 1968 um drei Uhr morgens brach eine sowjetische Panzerdivision unter der Leitung des Generals Bandarenko von der ungarischen Grenze nach Bratislava auf. Man sagte den Soldaten, dass sie den Sozialismus gegen tschechoslowakische Konterrevolutionäre und die bundesdeutsche Okkupationsarmee verteidigen würden. Mit dabei war Muhammad Salich. Im Rahmen von groß angelegten Manövern des Warschauer Paktes war er schon zweieinhalb Monate in Ungarn. Er war 18 Jahre alt und zum ersten Mal weg aus seinem usbekischen Heimatdorf. Am Vortag hatte man die alten Kalaschnikows durch das neueste Modell ausgetauscht, und jeder Soldat hatte 120 Patronen, zwei Granaten und eine neue Uniform samt Helm erhalten. Die Essenration wurde erhöht, und es gab sogar Sahne und Schokolade - ein Fest für sowjetische Soldaten. Nun saß Salich auf dem Panzer, beflügelt von einem abenteuerlichen Gefühl, und hielt sich für bedeutend und kühn. Während seine Einheit über die Donaubrücke auf die slowakische Metropole zufuhr, wartete er furchtlos darauf, dass die Konterrevolutionäre den Konvoi in die Luft sprengen würden. Als sie in die dunklen Straßen eindrangen, sehnte er sich danach, die gemeinen kontry zu bekämpfen, doch aus den Fenstern lehnten sich bloß verschlafene Menschen, die sie in einer slawischen Sprache fragten, wer sie denn um Gottes Willen seien. Rote Armee, antworteten sie stolz, aber die aus dem Schlaf Gerissenen wollten es nicht glauben. Bratislava wurde für Salich eine Stadt mit fassungslosen Gesichtern. Alles erschien ihm wie im Märchen: eine europäische Stadt mit einer mittelalterlichen Burg, darunter eine Wiese mit hohem Gras in einer warmen Sommernacht. Er war schon damals ein Dichter. Den ersten Schmerz und die erste Scham empfand er, als die Soldaten das Gras zertrampelten. Noch wusste er nicht, dass er ein Besatzer und kein Befreier war, doch nach der Entweihung der Ruhe auf der Wiese fing er an, es zu erahnen. Am Tag darauf sah er zum ersten Mal junge Frauen in Miniröcken, deren lange Beine er nie mehr vergessen sollte. Diese wunderschönen Wesen überbrachten ihm Flugblätter und versuchten ihn ohne Bosheit, doch unermüdlich davon zu überzeugen, dass er Unrecht beging. Jahrzehnte später erzählt mir Salich, der inzwischen ein Dichter und der bekannteste usbekische Oppositionspolitiker geworden ist, wie ihn dieser ruhige, würdevolle und zähe Widerstand beeindruckt habe. Ich treffe ihn in seinem Frankfurter Exil, und er bittet mit sanfter Stimme die Bevölkerung der Tschechoslowakei und mich um Verzeihung. Ich hätte ihm damals unter der Burg begegnen können. Doch ich war in jenen tragischen Tagen in einem Studentenlager in Frankreich. Unterwegs nach Bordeaux, redeten im Zug zwei französische Arbeiter auf mich ein: "Attention, les Russes." Sie wurden nicht müde, mir ihre Warnung nachzurufen, als ich schon ausgestiegen war. Ich genoss die neue Freiheit des Reisens und war zuversichtlich, dass der Kuss, den der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew seinem Kollegen Dubcek auf den Mund gepresst hatte, verbindlich sei. Wieso wussten einfache Menschen in Frankreich über feuchte Küsse aus dem Kreml besser Bescheid? In Bratislava begriff Salich, dass er kein Russe war, und dass Usbekistan mit seinen Baumwollplantagen eine sowjetische Kolonie war. Paradoxe Gefühle hatte der Besatzer - er pflückte süße Pflaumen und wäre gerne länger geblieben, aber es schauderte ihn zu sehen, wie sein Vorgesetzter während einer Protestdemonstration in Bratislava ein kleines Mädchen erschoss, das auf den Schultern seines Vaters saß. Zum Auslöser für den endgültigen Bruch mit der Sowjetunion wurde für Salich der Sturm auf das slowakische Rundfunkstudio. Sein Spähtrupp drang mit entsicherten Gewehren in die verlassenen Korridore ein, wo sich eine einsame Angestellte mit erhobenen Armen sofort ergab. Da lachte er über sich selbst, sah ein, wie lächerlich er war. Und als sich ein Soldat oben auf das Klavier setzte und mit den Füßen auf der Klaviatur herumtrampelte, war es für Salich, als habe sich durch diese Untat die große russische Kultur, die er so bewunderte, selbst entwertet. Bald darauf verließ er die Tschechoslowakei als usbekischer Nationalist. Bis heute wandert Salich ruhelos durch die Welt als gejagter Feind Nr. 1 des Präsidenten Islam Karimow. Sollte es der Opposition gelingen, Karimows Regime zu stürzen, will mein ehemaliger Okkupant den Frühling nach Taschkent bringen. Ich eilte aus Frankreich nach Hause, um mich den Panzern zu stellen, doch meine Mutter wartete schon in Wien. Sie wolle westwärts fahren, egal wohin, und der Rest der Familie solle nachkommen. An einem verregneten Septembernachmittag erreichten wir Basel, und Mutter sagte: "Wir emigrieren keinen Meter weiter." Seitdem lebe ich hier. In meinem ersten, in deutscher Sprache verfassten Text beschrieb ich 1980 den Schock über den hinterlistigen Gewaltakt: "Ich begann zu begreifen. Es war wie das Hauen auf eine leere Konservenbüchse (...). Mein Körper war hohl und in ein Frostkorsett gezwängt. Das französische Radio meldete ununterbrochen L'occupation de la Tchéchoslovaquie. Irgendwann überfielen mich unbarmherzige Weinkrämpfe. Die Hülle war abgefallen. Übrig geblieben war ein winziges, gehäutetes Wesen. Und da spürte ich ein leises Kribbeln beim Bewusstsein eines historischen Augenblicks. Meine Heimat zog mich an wie ein bodenloser Abgrund, ich hätte mich gerne blind hineingestürzt. Ich ahnte, dass nicht die Panzer, die vor meinen ungläubigen Augen auftauchten, zum Verzweifeln waren. Das Gefährliche und Lähmende war die Gewissheit, dass es auf dieser von den Panzern gewalzten Erde wieder ein plattes Leben in gegenseitigem Misstrauen und Angst geben würde." Diese Gefühle sind längst von dem Wissen besänftigt, dass der Große Bruder nach der Samtenen Revolution von 1989 mit Schmach abziehen musste und Tschechien und die Slowakei ins vereinte Europa zurückgekehrt sind. "Dem rigiden System ging allmählich die Luft aus". Antonín Novotny, Präsident der CSSR (1957-1968). (© AP) Quellen / Literatur Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 20/2008) Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 20/2008)
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Irena Brezná
"2021-12-27T00:00:00"
"2012-01-08T00:00:00"
"2021-12-27T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/52012/verratene-ideale/
Als 18-Jährige erlebt Irena Brezná den Prager Frühling. Sie merkt, wie dem alten Regime die Luft ausgeht. Ihre Lehrer strafen sie nicht mehr für Kritik an Präsident Novotny ab. In diesen Monaten wurde Irena Brezná "als Bürgerin geboren".
[ "68er", "Bewegung", "Rebellion", "Protest", "Prager Frühling", "Tschecheslowakei", "Diktatur" ]
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Global Media Forum 2016: It's all about information | Presse | bpb.de
Dear Ladies and Gentleman, this year’s Global Media Forum focuses on the intricate links between media and values, the very foundation of our democratic system. We are here to discuss how in times of digitalization, the thin line between information and disinformation is frequently blurred. And to talk about how it has increasingly become the task of journalists to work as translators, to process data sets and to help audiences to navigate through vast amounts of publicly available information. In times of digitalization, cornerstones of conventional journalism have been altered, requiring new strategies of information gathering. During the subsequent penal debate, examples for such strategies will be discussed in more detail. In search of objectivity and reliable information sources, we have increasingly started to draw upon data sets, which are collected on a huge scale through digital devices. This has come about in two steps: The internet, the backbone of today’s world, connected us with each other and our environment. And by using digital technology, we started leaving all kinds of “digital footsteps”: information on administration procedures as well as personal behavior could be stored, transferred and analyzed. These massive amounts of data that we collect have no intrinsic value or logic, no meaning in themselves. Only if they are organized and interpreted along certain parameters, meaning can be subtracted and conclusions can be drawn. The publications by WikiLeaks or more recently, the “Panama Papers” are famous examples, where journalists suddenly turned into interpreters of data sets in order to subtract meaning from data and make it available to the general public. Now, if we look at data interpretations, there are indeed a number of straightforward benefits. Looking for example at medical records or climate graphs allows us to draw conclusions that can help to detect or fight diseases more efficiently. It can moreover help to predict environmental changes or natural disasters. As Viktor Meyer-Schönberger, professor at the University of Oxford, puts it: digital technology allows us to explore reality, to gain new insights that help us to react to social and environmental challenges in a more far-sighted, efficient and rational way. Also journalists can include data sets in their work and draw valuable conclusions. Another field that benefits from digitalization and data collection is politics, also in regard to political participation. Digital technology has become democratized in the process of being used by an increasing number of people, and also the structure of the internet, channeling communication “from many to many” has not lost its appeal and the democratic potential for politics from below. This observation is closely tied to the notion of access: access to information as well as access to participatory structures and networks. In the subsequent panel, we thus also speak about open data and open access initiatives. Open Data initiatives presume that being able to access data collected by governments or state agencies can facilitate processes of democratization and participation, thus counterbalancing secrecy and state corruption. As we elect our leaders, these must in return answer to us and justify their actions. Gathering and storing data is always a form of exercising power. Data transparency, as opposed to this, allows citizens (sometimes with the help of data journalists) to monitor the work of state agencies or their elected representatives, gain insights into governmental decision making and challenge the status quo. Promoting the concept of “Open Data”, can thus lead to more accountability and transparency in future state affairs. Hence the digital is also a chance to counter the politics of the secret and the rationale of suspicion. This approach is based on the assumption that data represent objective facts in a rational world, as mentioned at the beginning of this speech. And indeed, the idea of responsible, politically active citizens who draw upon government data to uncover mismanagement and defend the greater good of society is very appealing. Yet, even in democracies there are limitations to information transparency for reasons such as national security or personal data security. And there remains the question, who interprets data and to what end? I believe that this is where institutions of civic education play an important role. Because we need to turn our face to the foundation of our democratic system, which is based on negotiation and debate, on participation and compromises. And one substantial part of this system is quality journalism based on thorough research and investigation. The Federal Agency for Civic Education is an institution promoting awareness for democracy and participation in politics. Hence, our task is not to tell people what they should believe, but rather to enable them to find their own truths among a broad range of information sources. Democracy is never simple and it is hardly ever a straightforward process. Although data can help us understand the world in important new ways, it must always leave room for subjectivity and ambiguity, even for a margin of error. And moreover, even the interpretation of straightforward data is hardly ever without a certain bias of the interpreter. Therefore, it is the task of civic education to ask a range of fundamental questions: Is there such a thing as an objective truth? Who makes the decisions and who determines the parameters? Who has got access and who facilitates or restricts access to information? Digitalization comes along with a range of promises. We need to constructively challenge those promises and provide citizens with the theoretical and technical framework and competences to draw their own conclusions. Openly debating the right to informational self-determination is one part of this, because it upholds freedoms of the individual yet also obliges the individual to take active part in the process. Civic education is thus working at the interface between individual self-determination, technological promises and practical utopias of transnational companies. It is our task to facilitate access to a broad range of reliable information sources and prevent citizens from being misled by simplifications or superficial truths. This is why we need an informed digital citizenry, which draws upon open software and uses data economically and responsibly. And we need civic education to support journalists and citizens alike, in facing the challenges of a digitalized society. Thank you for your attention! -Es gilt das gesprochene Wort- For more information on the Global Media Forum 2016 and the penal "It's all about information", hosted by the bpb, please refer to: Externer Link: http://www.dw.com/en/its-all-about-information/a-19297521
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-06-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/229411/global-media-forum-2016-it-s-all-about-information/
This year’s Global Media Forum focuses on the intricate links between media and values, the very foundation of our democratic system. We are here to discuss how in times of digitalization, the thin line between information and disinformation is frequ
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Sein oder Nichtsein | Der Filmkanon | bpb.de
USA 1942 Komödie Kinostart: 1960 (BRD) Verleih: Neue Visionen / Deutsche Kinemathek Regie: Ernst Lubitsch Drehbuch: Edwin Justus Mayer Darsteller/innen: Carole Lombard, Jack Benny, Robert Stack, Felix Bressart, Lionel Atwill, Stanley Ridges u. a. Kamera: Rudolph Maté Laufzeit: 99 Min. Format: 35mm, Schwarzweiß FSK: ab 12 J. Altersempfehlung: ab 14 J. Klassenstufen: ab 9. Klasse Themen: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Theater, Filmgeschichte Unterrichtsfächer: Deutsch, Englisch, Geschichte, Kunst Warschau 1939. Das Ensemble des Theater Polski ist entsetzt: Um den kriegsbereiten deutschen Nachbarn nicht zu reizen, wird sein antifaschistisches Stück "Gestapo" verboten. Nun, Hauptdarsteller Joseph Tura spielt ohnehin lieber den Hamlet. Die Anerkennung als "großer Schauspieler" ist ihm fast noch wichtiger als die Liebe seiner Frau, der gefeierten – und nicht sehr treuen – Bühnendiva Maria Tura. Solche künstlerischen Eitelkeiten werden mit Hitlers Überfall auf Polen auf brutale Weise hinfällig. Doch auch im Krieg geht das Spiel weiter, diesmal auf Leben und Tod: Um einen gefährlichen Spion auszuschalten und den polnischen Widerstand zu schützen, inszeniert das Ensemble ein fintenreiches Verwechslungsspiel. Dafür schlüpfen die Schauspieler in die Rollen und Kostüme ranghoher Nationalsozialisten und statten das Theater als Gestapo-Hauptquartier aus. Es wird damit zur Bühne einer makabren Groteske um dumme Nazis und falsche Bärte. Bereits der Filmtitel Sein oder Nichtsein signalisiert Regisseur Ernst Lubitschs Verbundenheit zum Theater; der zitierte Hamlet-Monolog ist sogar Teil der ausgeklügelten Dramaturgie. Aber auch die filmsprachlichen Mittel verdeutlichen den Schauspielcharakter des Films: Echte und falsche Nazis betreten die Kulisse durch Türen, die statische Kamera simuliert den Publikumsblick. Von einer anfänglichen Erzählstimme und der orchestralen Musik abgesehen, liefern allein die gedrechselten Dialoge dramatischen Effekt: Im Büro des stets zu Scherzen aufgelegten Gestapochefs Ehrhardt, genannt "Konzentrationslager-Ehrhardt", bedeutet jedes falsche Wort Gefahr. Während die Schauspieler/innen – und gelegentlich auch die Nationalsozialisten – alles tun, um nicht aus der Rolle zu fallen, verdeutlicht allenfalls die Beleuchtung die Düsternis der wahren Situation. Sie erinnert an den zeitgenössischen Film Noir. Sein oder Nichtsein wurde 1942 in den USA uraufgeführt und sofort heftig kritisiert. Der Vorwurf, den nationalsozialistischen Terror als Lustspiel zu verharmlosen, traf den deutschstämmigen Lubitsch schwer. Tatsächlich war das wahre Ausmaß der NS-Verbrechen zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nicht bis Hollywood durchgedrungen. Spätestens nach Bekanntwerden des Holocaust galt ein Film, in dem polnische Schauspieler in SS-Uniformen schlüpfen und echte Nazis ihre Opfer verhöhnen, als Geschmacklosigkeit. Doch Lubitsch beharrte auf der Freiheit der Kunst und behielt Recht. Gemeinsam mit Charlie Chaplins Der große Diktator (The Great Dictator, USA 1940) wurde die beißende Satire zum Vorbild für weitere Filme, die zeigten, dass man selbst über Hitler lachen darf. Ein Thema für den Unterricht ist ferner auch die Inszenierung von Macht im Hitler-Faschismus. Wird doch das herrische Auftreten der Nationalsozialisten in Sein oder Nichtsein nicht nur beißend karikiert, sondern auch durch die Schauspieler, die sich als Nazis ausgeben, mit den ureigenen Mitteln des Theaters brillant entlarvt. Informationen und Materialien Interner Link: bpb.de: Dossier Filmkanon: Sein oder Nichtsein Externer Link: Sein oder Nichtsein – Zusatztexte Ernst Klett Verlag Mehr zum Thema auf kinofenster.de Externer Link: Film noir – Welt der Alpträume (Hintergrund vom 23.06.2009) Externer Link: Hitler-Darstellungen im Film (Hintergrund vom 09.01.2007) Externer Link: Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (Filmbesprechung vom 09.01.2007)
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Philipp Bühler
"2021-12-08T00:00:00"
"2013-03-26T00:00:00"
"2021-12-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/filmkanon/157154/sein-oder-nichtsein/
Der Nationalsozialismus als lächerliche Inszenierung mit tödlichem Potential. Ein satirischer Blick Ernst Lubitschs aus seinem amerikanischen Exil auf seine Heimat Deutschland unter der NS-Diktatur.
[ "Nationalsozialismus", "Zweiter Weltkrieg", "Theater", "Filmgeschichte", "Filmbildung" ]
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Miteinander reden | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
In Raum 410 der Volkshochschule Leipzig müssen die vorhandenen Stühle zusammengerückt und noch mehr Stühle geholt werden. Anstelle der angemeldeten 47 sind knapp 60 Teilnehmende da. Der Workshop „Meinungsaustausch mal anders“ verspricht Möglichkeiten des Diskurses auch bei konträren Meinungen - und der Bedarf dafür ist offensichtlich hoch. Nun sitzt also eine bunt gemischte Runde aus jungen BesucherInnen des Kongresses und gestandenen politisch Bildenden an einem Tisch und lauscht Kursleiterin Sieglinde Eichert. „Wie kann man miteinander reden, wenn es um schwierige Themen geht?“, fragt sie und verspricht, Ansätze dazu mit der Gruppe direkt zu erproben. Begonnen wird mit einer simplen wie effektiven Übung: Zwei sich vorher unbekannte Menschen haben eine Minute Zeit, sich auszutauschen und dabei Gemeinsamkeiten zu finden. Die Runde fördert Kurioses zutage: Zwei Teilnehmende sprechen zum Beispiel über ihr Seepferdchen-Abzeichen, eine weitere Gruppe besitzt kein Auto, dafür aber zwei Fahrräder. Die Erkenntnisse sorgen für Belustigung, machen aber gleichzeitig deutlich, wie selten wir uns im Alltag die Zeit nehmen, Gemeinsamkeiten zu finden. Workshopleiterin Eichert ist überzeugt, dass schon diese eine Minute des Austausches „auf rein menschlicher Ebene“ eine Grundlage für das Sprechen über kontroverse Themen legen kann. Lehrer, Krankenschwester, Bürgermeister Die lassen nicht lange auf sich warten. Denn als nächstes geht es um eine Beurteilung von Entscheidungen. Auf einer Skala von 0 bis 6 soll eingetragen werden, wie schwierig eine Entscheidung ist. Dazu werden drei Beispiele präsentiert: Ein Referendar muss entscheiden, ob er gegenüber einer Schülerin Position bezieht- und damit möglicherweise seine Lehrprobe gefährdet. Eine Krankenschwester überlegt, ob sie für Grundwerte und Freiheit demonstrieren geht, obwohl es sie und ihre Kinder gefährdet - oder nicht demonstriert und damit sich selbst und ihre Familie schützt. Schließlich geht es um einen Bürgermeister, der einen Bauauftrag an eine Firma erteilen soll, deren Geschäftspraktiken fragwürdig sind. Schon hier differenzieren sich die Meinungen, selbst bei sonst klaren Tendenzen gibt es einige Ausreißer. Die Debatte wird erhitzter, die Emotionen spürbar. Wie wild wird spekuliert, wie andere zu ihrem Skalenwert gekommen sind. Kein Beispiel ist einfach. Diese Erkenntnis ist klares Ziel der Übung. Zum ausführlichen Vergleichen bleibt keine Zeit, denn die Hauptaufgabe des Workshops folgt noch. Das Dilemma Hierfür wird eine neue Situation geschildert: Eine Krankenschwester findet ihre seit langem schwer kranke Patientin leblos in ihrem Zuhause. Neben ihr eine leere Packung Schlaftabletten und einen Zettel mit der Bitte „Lasst mich sterben“. Die Patientin atmet noch und hat einen Puls. Die Krankenschwester greift zum Telefon, um den Notruf zu wählen - und zögert. Hier ergibt sich bei der Abstimmung ein sehr diverses Bild. Von 0 bis 6 sind alle Schwierigkeitsgrade dabei. Es folgt das Ende der Geschichte: Die Krankenschwester wählt den Notruf nicht, sondern hält die Hand der Sterbenden. Nach einer Denkpause wird erneut abgestimmt: Die Teilnehmenden sollen äußern, ob sie die Entscheidung in Ordnung finden. „Müssen wir uns entscheiden?“, schallt es aus mehreren Ecken. Eichert sieht es pragmatisch: „Mir wäre es schon lieb, denn im Leben müssen sie sich auch immer entscheiden!“ Die Gruppe wird also geteilt, die zwei Parteien sind sogar fast gleich groß. Zu dritt werden nun Argumente für die eigene Meinung gesammelt. Dazu soll auch überlegt werden, wer von dieser Entscheidung noch betroffen ist. So ergibt sich ein ganzheitliches Bild. Nach Diskussions- und Bedenkzeit folgt der Austausch nach einem Ping-Pong-Prinzip: Jede Gruppe darf abwechselnd ihre Argumente vorbringen, die Gegenseite entkräften, Szenarien entwerfen. Hierbei erhitzen sich die Gemüter schnell, fast alle beteiligen sich an der Runde. Zwischendurch hört man immer wieder empörtes Schnaufen, aufgeregtes Flüstern oder verwirrte Nachfragen aus den Gruppen. Am Ende kommt die Gruppe trotz Benennung der besten Argumente der Gegenseite nicht auf einen Konsens. Die erneute Abstimmung am Ende zeigt, dass niemand seine Meinung geändert hat. Menschenwürde und Moral Auffällig ist hierbei aber, auf welche unterschiedlichen Grundlagen sich die Argumentation stützt - die Menschenwürde, das Strafgesetzbuch, die eigene Moralvorstellung. Genau diese Vielfalt sei doch die Stärke der Demokratie, meint ein Teilnehmer: „Ich möchte ja wissen, wie mein Gegenüber zur eigenen Einschätzung kommt.“ Die Kritik folgt auf dem Fuße: „Was mich interessiert, ist nicht Sterbehilfe, sondern wie ich mit PEGIDA reden kann!“, formuliert es eine Teilnehmerin. In der Tat sei diese Methode dafür nicht geeignet, räumt Eichert ein. Prävention ist hier das Stichwort. Um an politischen Diskursen überhaupt teilnehmen zu können, müssen sich Menschen zuallererst eine eigene Meinung bilden. Neben der Erfahrung, diese in einer Gruppe überhaupt zu äußern, ziele die Dilemma-Diskussion auf Grundlegendes ab: „Für viele ist es das erste Mal, dass sie einen ‚Feind‘ gegenüber haben und niemand geht sich an die Gurgel“, erzählt die Kursleiterin. Die wichtigste Lektion: „Es geht auch anders. Man kann miteinander reden.“
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Helene Fuchs
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-03-20T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/287850/miteinander-reden/
Die politische Bildung ist auf der Suche nach neuen Methoden. In Zeiten fortschreitender gesellschaftlicher Polarisierung muss wieder mehr miteinander gesprochen werden, so der Konsens des Kongresses. Der Kampf gegen diese Spaltung soll mit innovativ
[ "Emotionen in Politik und Gesellschaft" ]
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FOSS, die Firma und der Markt | Open Source | bpb.de
1. Einleitung: Software und Informationsgesellschaft Das Fundament zur Informationsgesellschaft wird wesentlich durch Softwareentwicklung gelegt. Software ist es, die unsere Datenströme lenkt, die jenen Prozess am Leben erhält, in dem "der menschliche Verstand eine unmittelbare Produktivkraft und nicht nur ein entscheidendes Element im Produktionssystem" darstellt. Die instantane Kommunikation in globalisierten Märkten, wie wir sie von den Börsentickern im Fernsehen oder den Auktionen bei Ebay kennen, ist ohne Software nicht denkbar. Aber auch die Kommunikation mit unseren Freunden und Verwandten in aller Welt erfolgt mit Unterstützung von Software: Telefongespräche werden im Telefonnetz durch Software vermittelt; die Briefe werden bei der Post von Maschinen sortiert, die von Software gesteuert werden; das Internet, das unsere Emails transportiert, läuft mit Software. Kurz gesagt, Software ist unverzichtbarer Teil des sozialen Gebäudes, das wir Informationsgesellschaft nennen. Damit kommt der Informationstechnologie im Allgemeinen und der Software im Besonderen eine vergleichbare Rolle zu wie den Sklaven in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, Land in der Agrargesellschaft, Rohstoffen und Energie in der modernen Industriegesellschaft: Software ist strategische Ressource und die Kontrolle über ihren Besitz und ihre Verteilung entscheidet über Macht und Reichtum. Software gewinnt dergestalt eine politische Dimension und die Auseinandersetzungen um große Softwarehersteller – IBM in den 1960er und 1970er Jahren, Microsoft seit den 1990er Jahren – finden quasi automatisch im politischen Raum statt. Es geht darin um mehr als Marktanteile und Wettbewerbsregeln, macht Software die Informationsgesellschaft doch nicht nur möglich, sondern auch verletzlich. Dort, wo Daten Kapital repräsentieren, entstehen neue Abhängigkeiten, wenn diese Daten in Datenformaten gespeichert und verarbeitet werden, die einer Fremdkontrolle unterliegen. Solche Abhängigkeiten können nicht nur teuer werden, wo es um den Einkauf von Lizenzen für entsprechende Software geht. Sie werden aus der Sicht der Datenbesitzer zu einer Existenzfrage, wenn die Verfügbarkeit der Daten und Programme der eigenen Einflusssphäre weitgehend entzogen ist. Die unternehmerische Freiheit findet dann ihre Grenzen in der Produktpolitik eines Softwareherstellers und nicht mehr nur in der Verfassung. Proprietäre Software mit proprietären Datenformaten liefert ihre Anwender, so gesehen, einer prekären Situation aus, und das Unbehagen darüber ist nur zu verständlich. Das Streben nach Sicherheit leitet die Suche nach Alternativen. Die ökonomischen Besonderheiten von Netzwerkgütern, die bei Software voll zum Tragen kommen, haben in einem unregulierten Markt zu einer hohen Konzentration geführt. Marktanteile von über 90 Prozent in bestimmten Segmenten sind nicht ungewöhnlich, Marktanteile von mehr als zwei Dritteln üblich. Märkte mit derart hoher Konzentration, man kann in einigen Fällen von der Ausbildung natürlicher Monopole sprechen, lassen die vollständige Konkurrenz des ökonomischen Standardmodells vermissen. Sie neigen dazu, unerwünschte Wettbewerbsergebnisse herbeizuführen. In der Folge werden Ressourcen falsch gelenkt, durch den Anbieter verursachte Kosten nicht durch diesen getragen und Teile der Nachfrage nicht bedient. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich neben proprietärer Software eine andere Art von Software einen Platz im Softwareuniversum erobert: Freie und Open-Source-Software, kurz FOSS. Diese unterscheidet sich von proprietärer Software in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt in den Institutionen auf denen sie aufbaut und den ökonomischen Machtverhältnissen, die sie herbeiführt. Der Aufstieg von FOSS ist eng verknüpft mit dem Aufstieg des Internets. FOSS steuert das Internet zu erheblichen Teilen, FOSS wird in lokalen und globalen Gemeinschaften im Internet verteilt entwickelt und über das Internet verbreitet, ohne dass dafür exklusive Eigentumsrechte nötig wären. Knappheit am Informationsgut ist, abweichend von den üblichen Theorien zum geistigen Eigentum, keine Voraussetzung im FOSS-Modell. Stattdessen herrscht ein Überfluss an Code. Diesem Umstand hat es FOSS zu verdanken, dass dem Phänomen in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, sowohl von Seiten der wissenschaftlichen Forschung als auch durch die populäre Presse. Für wohl die meisten akademischen Ökonomen stellt das FOSS-Paradoxon eine echte Herausforderung dar: Wieso funktioniert das FOSS-Modell? Wie kann man mit etwas Geld verdienen, das niemandes exklusives Eigentum ist? Oder etwas allgemeiner gefragt: Wie lassen sich Ressourcen effizient und nachhaltig bereitstellen und bewirtschaften, wenn diese nicht ihrem Wesen nach knapp sind? Müssen öffentliche Güter nicht zwangsläufig der "Tragödie der Allmende" zum Opfer fallen, wie es Garret Hardin vorhergesagt hat? Würde es nicht zu einem Mangel an Software kommen, wenn diese nicht exklusiv vermarktet werden könnte, wie es die ökonomische Standardtheorie vorhersagt? Der vorliegende Aufsatz geht diesen Fragen nach und sucht Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von FOSS, Unternehmen und dem Markt. Dabei wird ausgehend von den ökonomischen Randbedingungen diskutiert, auf welchem Fundament FOSS seit über zwei Jahrzehnten wächst und gedeiht. Statt einer "Tragödie der Allmende" (Hardin) erleben wir eine "Kommödie der Allmende" (Carol Rose). 2. Was ist FOSS? Die Andersheit von FOSS gegenüber proprietärer Software ruht auf drei Pfeilern: einer rechtlichen Konstruktion, dem sog. "Copyleft", dem Vertrieb von FOSS im Quellcode und dem Community-basierten Entwicklungsmodell, das sich vom Firmen-zentrierten Entwicklungsmodell für proprietäre Software unterscheidet. FOSS im Recht Historischer Ausgangspunkt für die gesetzliche Behandlung von Software war ihre Eigenschaft, die darin verkörperten Ideen als Text darzustellen. Abstrakt lässt sich formulieren: Software ist an eine Maschine gerichtete Information, die textuell repräsentiert ist. Die Tatsache, dass es sich um Ideen verkörpernde Texte handelt, ist von entscheidender juristischer Bedeutung, denn Texte unterliegen dem Schutz des Urheberrechts: "Zu den geschützten Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst gehören insbesondere: 1. Sprachwerke, wie Schriftwerke, Reden und Computerprogramme". Den gemeinsamen Rahmen für alle Softwaremodelle bildet also das Urheberrecht, das dem Urheber grundsätzlich die Verfügungsgewalt über die geschaffene Software zuspricht. Der Urheber eines Computerprogramms darf somit allein darüber entscheiden, ob und wie das Programm veröffentlicht, verwertet, vervielfältigt, bearbeitet und verbreitet werden darf. In der Ausübung dieser Rechte zeigt sich dann, welches Modell der Urheber unterstützt, FOSS oder proprietäre Software. Die Übertragung von urheberrechtlichen Befugnissen erfolgt bei Software entweder auf individueller Vertragsbasis oder durch Standardlizenzen. Individuelle Verträge kommen üblicherweise bei Individualsoftware, Standardlizenzen bei Software für den Massenmarkt zum Einsatz. Proprietäre Software und FOSS unterscheiden sich lizenzrechtlich in der Hauptsache dahingehend, dass bei FOSS weitergehende Rechte eingeräumt werden. Das Konzept dahinter nennt sich Copyleft, in Anlehnung an das angloamerikanische Gegenstück zum Urheberrecht, das "Copyright". Eine dem Copyleft-Gedanken folgende Lizenz für eine Software gestattet jeder und jedem, die Software zu vervielfältigen, Kopien lizenzkostenfrei weiter zu verbreiten, die Software für beliebige eigene Zwecke zu nutzen und zu bearbeiten. Software unter einer FOSS-Lizenz entbindet die Anwender von aufwendigen Verhandlungen über die Nutzungsrechte an der erworbenen Software. Sinn und Zweck des Copyleft ist es, auf der Basis gemeinsamer Interessen von Entwicklern und Anwendern die Kooperation zwischen ihnen zu fördern sowie die Integration fremder und eigener Leistungen möglichst unaufwändig zu gestalten. Demgegenüber reservieren Lizenzen für proprietäre Software praktisch alle weitergehenden Rechte – über das der einfachen Nutzung hinaus – für den Eigentümer der Software. Die Integration fremder und eigener Leistungen soll so erschwert werden, um dem Eigentümer ein Alleinstellungsmerkmal im Softwaremarkt zu garantieren, aus dem dieser Kapital schlagen kann. An dieser Stelle ist auf einen wichtigen Unterschied zwischen Freier und Open-Source-Software hinzuweisen: Bei Freier Software wird das Copyleft "vererbt", das heißt, jede Version, die in Umlauf gebracht wird, muss ihrerseits mit denselben Befugnissen ausgestattet werden, auch wenn sie bearbeitet wurde. Paradigmatisch ist die GNU General Public License (GPL). Die GPL wird als "viral" bezeichnet, weil jeder aus GPL-Code abgeleitete Code ebenfalls unter der GPL zu lizenzieren ist. GPL-Software "vererbt" in diesem Sinne die an sie gekoppelten Rechte und Pflichten. Bei Open-Source-Software kommen liberalere Lizenzen zum Einsatz, die zum Teil die Privatisierung bearbeiteter Versionen nicht ausschließen. Quellcode versus Binärcode Software entsteht als Text. In speziellen Programmiersprachen von Menschen verfasst, werden die Programmtexte – die Quellcodes – von anderen Programmen übersetzt, in die Maschinensprache des jeweiligen Mikroprozessors. Erst in dieser Form, praktisch nicht mehr für den Menschen verständlich, werden die Informationen aus den Programmtexten für die Computer interpretierbar. Hierin gleichen sich proprietäre und Freie bzw. Open-Source-Software. Die Besonderheit von solchen Programm-Texten liegt darin, dass sie in Verbindung mit entsprechender Hardware Wirkungen auslösen, ohne dass zur Steuerung der Abläufe ein weiteres menschliches Eingreifen notwendig wäre. Computerprogramme ähneln mit diesem Verhalten zwar eher Maschinen als Büchern, entstehen aber eher wie Bücher als wie Maschinen. Das Recht des geistigen Eigentums kennt eine Dichotomie zwischen ungeschützten, abstrakten Ideen und ihren schutzfähigen Ausdrucksformen (Urheberrecht) bzw. angewandten Wirkmechanismen (Patentrecht). Damit soll einerseits den Interessen der Öffentlichkeit an möglichst weiter Verbreitung der Ideen und andererseits den Interessen der Urheber bzw. Erfinder an der exklusiven Vermarktung der auf den Ideen basierenden Werke bzw. Erfindungen Rechung getragen werden. Der beschriebene Ablauf bei der Softwareentwicklung, wo die im Quelltext konkret ausgedrückten Ideen maschinell in einen nur noch maschinenlesbaren Text übersetzt werden, führt diesen Grundgedanken der freien Verbreitung von ungschützten Ideen ad absurdum. Praktisch niemand ist in der Lage, aus dem Binärcode eines Programmes die ihm zu Grunde liegenden Ideen zu extrahieren. Der Zugang zu den ungeschützten Ideen erfordert daher den Zugang zum Quelltext. FOSS entspricht diesem Bedürfnis nach Zugang und kommt entweder unmittelbar als Quelltext zum Anwender, der den Prozess der Übersetzung dann selbst initieren muss, um ein ablauffähiges Programm zu erhalten. Oder der Quelltext wird, falls FOSS zur Entlastung der Anwender im Binärcode verbreitet wird, zusätzlich auf Abruf zur Verfügung gestellt. Damit bilden Quelltext und FOSS-Lizenz zwei Seiten einer Medaille, deren Besitz Freiheiten schenkt, die im proprietären Softwaremodell unbekannt sind. Die Nutzung dieser Freiheiten hat zur Herausbildung einer aktiven Gemeinschaft von Softwareentwicklern, -vermarktern und -anwendern geführt, die schlicht als "Community" bezeichnet wird. Die FOSS-Community und der FOSS-Prozess Industrielle Produktion von Gütern findet in einem arbeitsteiligen Prozess statt, dessen wesentliche Träger in der Marktwirtschaft Unternehmen – Firmen – sind, die über den Markt miteinander und mit den Konsumenten der Güter im Austausch stehen. Proprietäre Software bildet da keine Ausnahme. Eine Firma ist ein Zusammenschluss von Menschen, die miteinander überwiegend in vertraglich fixierten, auf längere Dauer angelegten, hierarchischen Beziehungen verbunden sind. Der Zweck des Zusammenschlusses ist die Produktion und Vermarktung von Waren im weitesten Sinne mit dem Ziel der Erwirtschaftung von Profiten. Um die Profite zu maximieren, versucht die Firma, unnötige Ausgaben zu vermeiden. Die Grenzen der Firma werden maßgeblich dadurch bestimmt, dass die zur Wertschöpfung notwendigen Schritte im Rahmen der Firma kostengünstiger ausgeführt werden können als über den Markt. Die Entwicklung von FOSS findet, wie erwähnt, in einer Community statt, zu der Mitglieder aus den unterschiedlichsten Umfeldern (Mitarbeiter aus Firmen, Forschungseinrichtungen, Universitäten sowie Privatleute) gehören. Die Arbeitsteilung erfolgt dabei im Wesentlichen nicht über Markttransaktionen und Firmenhierarchien, auch wenn Firmen oder Mitarbeiter aus Firmen in der Community aktiv sind und die meisten Projekte in der Community partiell hierarchische Strukturen aufweisen. Nur ausnahmsweise sind die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern an einem Projekt vertraglich fixiert, beispielweise innerhalb von in der Community engagierten Firmen. So kann es vorkommen, daß Unternehmen Mitarbeiter extra für die FOSS-Entwicklung einstellen. Vorherrschend sind in der FOSS-Community Ad-hoc-Beziehungen aus der Beteiligung von Anwender-Entwicklern, wobei die individuelle Position von der Bedeutung der eigenen Beiträge für das jeweilige Projekt abhängt (Meritokratie). Die Bewertung erfolgt dabei durch die anderen Projektteilnehmer. Dieser Bewertungsprozess wird häufig mit dem aus der Wissenschaft bekannten Peer-Review-Verfahren verglichen, bei dem die Beurteilung der individuellen Leistungen von Wissenschaftlern durch deren Kollegen erfolgt. Der offene Peer-Review-Prozess der FOSS-Community findet im Internet statt und ist für Beteiligte und Unbeteiligte weitgehend transparent. Die Projektführung liegt in den Händen charismatischer Persönlichkeiten mit hoher Reputation innerhalb der Community. Deren Autorität beruht auf der Duldung durch die Projektmitglieder, besonders durch die Mitglieder eines engeren Zirkels ("peers"). Solange der oder die Projektführer konform mit den Auffassungen einer Mehrheit von Mitgliedern im Hinblick auf das Projekt sind, behalten sie ihre Rolle. Verstoßen sie jedoch dagegen, laufen sie Gefahr, ihre Position zu verlieren. Ein FOSS-Prozess (Projekt) kann auf unterschiedliche Weise begründet werden. Um die Endpunkte des Spektrums zu skizzieren: Es kann sein, dass ein individueller Entwickler zur Lösung eines individuellen Problems Software schreibt, deren Quellcode unter einer FOSS-Lizenz im Internet veröffentlicht und zur Mitarbeit einlädt. Oder es kann sein, dass ein Unternehmen ein komplettes Produkt unter einer FOSS-Lizenz auf seinen Webservern zur Verfügung stellt, so dass potentielle Anwender und Entwickler weltweit Zugang zum Quellcode erhalten. Diese nutzen, inspizieren und testen den Code. Ein Teil von ihnen erweitert und verbessert die Software. Die Verbesserungen fließen dann in zurück in das Projekt. Mit der Initiierung ist der Erfolg eines FOSS-Projekts noch nicht garantiert, aber eine unabdingbare Voraussetzung geschaffen. Über den Erfolg entscheiden letztlich, wie im Markt, die Abnehmer, d.h. die Anwender. Bedient die Software weit verbreitete Bedürfnisse, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich um die Software eine Anwender-Entwickler-Community bildet und deren Entwicklung aktiv vorantreibt. Die Entstehung einer Community ist jedoch eher unwahrscheinlich, wenn es sich um eine Spezialsoftware mit sehr engem Anwendungsbereich handelt. Anwender spielen im FOSS-Modell eine besondere Rolle. Dort, wo es im proprietären Modell Konsumenten gibt, deren Einfluss auf die Produktgestaltung von Massenmarktsoftware eher marginal ist, steht im FOSS-Modell der Anwender-Entwickler, dem die FOSS-Lizenz das Recht und der Quellcode die praktische Möglichkeit geben, eigene Vorstellungen in ein Produkt hineinzuprogrammieren. Über das Internet stehen verschiedene Wege zur Kommunikation mit dem Projekt, d.h. anderen Anwender-Entwicklern offen. Der Anwender-Entwickler ist der Schlüssel des FOSS-Prozesses. Statt bloß als Abnehmer aufzutreten, wird er Akteur des Entwicklungsprozesses. Strukturell handelt es sich bei der FOSS-Community als Ganzem um ein Netzwerk aus Netzwerken (kleineren Communities), wie sie für die Informationsgesellschaft als typisch angesehen werden. Diese Netzwerke verfolgen je eigene Projektziele und produzieren Code, der auf Grund der beschriebenen offenen Lizenzierung von anderen Netzwerken (ganz oder in Teilen) wiederverwendet werden kann. Der Code bildet, so gesehen, den kleinsten gemeinsamen Nenner der Kommunikation zwischen den Netzwerken. Große FOSS-Projekte, wie der Betriebssystemkern Linux oder der Webserver Apache, differenzieren im Laufe ihrer Evolution Subnetzwerke zur Lösung von Detailproblemen aus. Das können Hardwaretreiber im Fall von Linux oder Module zur Anbindung von Datenbanken im Fall von Apache sein. Das Internet liefert die logistische Grundlage und hat mit seinen niedrigen Kommunikationskosten entscheidend zum Erfolg des FOSS-Modells beigetragen. Die Kommunikation selbst findet zwischen den Mitgliedern der Community unmittelbar statt. Das ist ein großer Unterschied zur vermittelten Kommunikation marktwirtschaftlicher Transaktionen, in denen der Preismechanismus als Vehikel dient. Die Ursprünge der FOSS An dieser Stelle soll kurz auf die historischen Hintergründe der FOSS-Bewegung eingegangen werden. Will man FOSS nicht bloß als konsequente Übertragung des von der Wissenschaft entwickelten Entdeckungsmodells auf die Software verstehen, lässt sich die erste Hacker-Community im Umfeld des Labors für künstliche Intelligenz am MIT ausmachen. Dort nutzten zu Beginn der 1960er Jahre Studenten, Mitarbeiter und ihre Kinder den liberalen Umgang der Laborleiter um erste Erfahrungen mit der interaktiven Programmierung von Computern zu sammeln. Zu diesem Zeitpunkt war interaktive Programmierung praktisch unbekannt, es herrschte der sogenannte Batch-Betrieb mit Großrechnern vor. Der Zugang zu den Großrechnern war streng hierarchisch organisiert. Software wurde mit Papier und Bleistift entwickelt, dann in Lochkarten gestanzt und den Systemverwaltern übergeben, die den Computer damit fütterten. Der Programmierer selbst kam mit dem Computer kaum in Berührung, durfte sich nur irgendwann die Rechenergebnisse abholen. Gegen dieses Klima der Technikkontrolle rebellierten einige bastelfreudige Individualisten, überwiegend Studenten, und eroberten sich ungenutzte "Kleincomputer", die sie für ihre Zwecke in Beschlag nahmen. Sie programmierten Betriebssysteme, Assembler und erste Computerspiele, deren Code sie untereinander austauschten und freigiebig an Interessenten außerhalb des Labors weitergaben. In den 1970er Jahren war Richard Stallman einer der aktiven Hacker dieser Community. Er musste miterleben, wie Kontroll- und Eigentumsdenken immer mehr auch im AI-Labor des MIT um sich griffen. Passwörter wurden eingeführt und Software wurde privatisiert (viele Hacker gingen in die Industrie, gründeten eigene Softwareunternehmen). Die historische Erfahrung des Zusammenbruchs der Hacker-Bewegung lehrte Stallman, dass Softwareentwicklung unter puren Laissez-faire-Bedingungen allzu leicht ein Opfer der "Tragödie der Allmende" werden kann: Alle mit Zugang zum Code können sich diesen aneignen und profitabel verwerten, und überwiegend werden sie genau das tun, wenn sie nicht durch entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen daran gehindert werden. Den entnommenen Code werden sie dann als ihr Eigentum betrachten, weiterentwickeln und exklusiv vermarkten. Software sollte frei sein, war das Motto der Hacker und Stallman glaubte daran. Ende der 1970er Jahr war er praktisch "der letzte der wahren Hacker" (Steven Levy) und beschloss 1983, das MIT zu verlassen: "Aber er verließ das MIT mit einem Plan: eine Version des populären Betriebssystems UNIX zu schreiben und an alle zu verteilen, die daran Interesse hätten." Er nannte sein geplantes System GNU, ein Akronym für "Gnu is Not Unix". Schritt für Schritt entwickelte Stallman, unzweifelhaft einer der besten Softwareentwickler der Welt, die zu einem UNIX-System gehörenden Werkzeuge, und fand im Rahmen der von ihm mitbegründeten Free Software Foundation (FSF) Unterstützung durch andere Hacker. Der Erfolg eines Softwaremodells, das den freien Umgang mit dem Quellcode gestattete, erforderte jedoch die Schaffung von spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen, die den Raubbau an der "Code-Allmende" verhindern. Um zu garantieren, dass die von ihm und seinen Mitstreitern geschriebene Software auch wirklich frei blieb, entwickelte er die erste Lizenz für freie Software, die GNU General Public License (GPL). Anfang der 1990er Jahre waren die Entwicklungsarbeiten weit forgeschritten, es fehlte praktisch nur noch der Betriebssystemkern. Dessen Platz sollte innerhalb kurzer Zeit Linux ausfüllen, das seit 1991 unter Leitung des finnischen Studenten Linus Torvalds im Internet entwickelt und von diesem unter der GPL lizenziert wurde. Mitte der 1990er Jahre war die Kombination aus GNU und Linux reif genug für erste geschäftskritische Anwendungen und der Apache Webserver machte sie in aller Welt bekannt. Der Erfolg Freier Software weckte das Interesse von Unternehmern und man begann, vorrangig in den USA, darüber nachzudenken, wie man damit Geld verdienen könnte. Das philosophische Grundkonzept der GPL mit seinem radikalen Freiheitsbekenntnis wurde als zu strikt angesehen und von einer Gruppe von Leuten um Eric S. Raymond modifiziert. Statt von Freier Software wollte man zukünftig von Open-Source-Software sprechen und eigene Lizenzen entwickeln, die weniger Freiheit auch zulassen würden. Praktisch alle großen Softwareanbieter bieten inzwischen (2005) Teile ihres Produktportfolios für FOSS-Betriebssysteme oder als FOSS an und selbst Microsoft wagt erste Schritte auf die Community zu. FOSS ist für die Wirtschaft attraktiv geworden. 3. FOSS, Firmen und der Markt FOSS-Prozesse und auch der "Markt" für FOSS entstehen aus der Summe individueller Kosten-Nutzen-Erwägungen und strategischer Überlegungen, die im einzelnen gar nicht objektiv richtig sein müssen, in ihrer Gesamtheit jedoch ein Wechselspiel von Nachfrage und Angebot hervorbringen, das sich gar nicht so sehr von anderen Märkten unterscheidet. FOSS-Prozesse treten an die Stelle des Marktes, wo diese Organisations- und Produktionsweise vergleichsweise Kostenvorteile zu bieten hat. Viele Firmen haben das begriffen und bemühen sich um eine eigenständige Open-Source-Strategie, um das Beste aus beiden Welten - Markt und Community - für sich nutzbar zu machen. Die Nachfrageseite Auf der Nachfrageseite findet man potentiell jedes Unternehmen, dessen Wertschöpfungskette zumindest in Teilen auf dem Softwareeinsatz beruht. Auch Behörden, Bildungseinrichtungen, Privatanwender usw. zählen zu den Nachfragern. Aus Unternehmenssicht ist die Effizienz der Wertschöpfungskette ausschlaggebend für die Erreichung der Unternehmensziele. "Die Informationstechnik durchdringt die Wertschöpfungskette an jedem Punkt und verändert radikal Wertschöpfungsaktivitäten und zwischen ihnen bestehende Verkettungen. Sie beeinflußt aber auch die Wettbewerbsbreite und die Art und Weise, wie ein Produkt die Wünsche des Konsumenten befriedigt. Diese grundlegenden Effekte erklären, warum die Informationstechnik strategische Bedeutung hat und sich darin von vielen anderen Technologien für kommerzielle Anwendungen unterscheidet." (Michael Porter und Victor E. Millar) Je softwareintensiver die Wertschöpfungskette ist, desto stärker fallen die Kostenfaktoren Lizenzierung/Entwicklung und Wartung von Software ins Gewicht. Jedes Softwaremodell, das in der Summe niedrigere Kosten für die Wertschöpfungskette verspricht, wird daher von Firmen auf lange Sicht bevorzugt werden. Das FOSS-Modell leistet das, indem die Entwicklung und Wartung der Software zumindest teilweise außerhalb der Firma stattfindet, ohne dass dafür Lizenz- oder Servicekosten anfallen. So ist es nur allzu verständlich, dass viele Firmen Kosteneinsparungen als eines ihrer wichtigsten Motive für den Einsatz von Open-Source-Software in ihrer Wertschöpfungskette nennen. Weitere wichtige Motive sind u.a.: Open-Source-Software unterstützt die Innovation in kleinen Unternehmen. Die Beiträge und Unterstützung aus der Community sind hilfreich beim Finden und Beseitigen von Fehlern. Open-Source-Software ist zuverlässig und von hoher Qualität. Effektiv handelt es sich für viele Unternehmen um das Auslagern von Teilen der Wertschöpfungskette, wenn sie auf FOSS zurückgreifen oder selbst FOSS bereitstellen: Ehemals private Kosten für Entwicklung und Wartung (des Unternehmens) werden sozialisiert, wohingegen die Abschöpfung des Profits aus der gesamten Wertschöpfungskette überwiegend beim Unternehmen verbleibt. Eine fundamentale Kapitalismusfeindlichkeit, wie gelegentlich unterstellt, wohnt dem FOSS-Modell keinesfalls inne. Die Anbieterseite Auf der Anbieterseite ist potentiell jedes Unternehmen zu finden, das entweder Software oder Produkte, die Software enthalten, vermarktet. Dazu kommen andere Organisationen mit eigener Softwareentwicklung und Privatleute, die im Internet FOSS zur Verfügung stellen. Ein Teil der Nachfrage nach reiner Software wird bereits durch deren Angebote bedient, so dass spezialisierte Softwarehersteller partiell entbehrlich werden. Reine Software und kombinierte Angebote Aus der Perspektive von mehr oder weniger reinen Softwareanbietern stellt sich die Lage im Hinblick auf FOSS am schwierigsten dar. Dort ist die Wertschöpfungskette stark auf die Softwareentwicklung und den Softwarevertrieb im Lizenzgeschäft fokussiert, deren Voraussetzung die Knappheit an Code ist. Diese Bedingung ist bei FOSS nicht erfüllt. Kostengünstige oder lizenzkostenfreie Konkurrenz – nicht nur auch aus der FOSS-Community – gefährdet praktisch die gesamte Wertschöpfungskette solcher Unternehmen. Sollte es ihnen nicht gelingen, durch technologische oder rechtliche Alleinstellungsmerkmale diese Konkurrenz zu verhindern bzw. zu verdrängen, werden sie massiv Umsätze, Marktanteile und Profite einbüßen. Alternativ könnten sie diversifizieren und Einnahmequellen aus anderen Produkten schaffen. Auch die Integration von FOSS-Angeboten mit eigenen, proprietären Erweiterungen stellt eine erfolgversprechende Strategie dar. Die durch Urheber- und Patentrecht gesicherten exklusiven Eigentumsrechte ermöglichen es einem Hersteller proprietärer Software, Profite zu erzielen, indem potentielle Konkurrenten daran gehindert werden, durch einfaches Kopieren ein konkurrenzfähiges Produktes auf den Markt zu bringen, ohne dafür selbst Entwicklungskosten tragen zu müssen. Andernfalls könnte der Plagiator leicht die Preise unterbieten und so das Geschäft des ursprünglichen Anbieters untergraben. FOSS ermöglicht es aber gerade auch potentiellen Konkurrenten, Software zu kopieren, zu variieren und zu vermarkten. Das steigert auf der einen Seite das Angebot, schmälert aber auf der anderen Seite die potentiellen Profite des eigentlichen Entwicklers. Sinken die Profite dadurch soweit, dass die ursprünglichen Produktionskosten nicht amortisiert werden können, ist zu erwarten, dass die Softwareproduktion eingestellt wird. FOSS-Anbieter standen hingegen von Anfang an vor der Aufgabe, ohne Lizenzeinnahmen wirtschaften zu müssen. Die Lizenzen der Software, die sie vertrieben, folgten praktisch ausschließlich dem Copyleft-Gedanken, was Lizenzgebühren (nicht aber Gebühren für die Distribution) ausschließt. Ob für die Entwicklung und Vermarktung von Massenmarktsoftware FOSS eine nachhaltige Grundlage bilden kann, bleibt nach aktuellem Kenntnisstand eine nicht eindeutig zu beantwortende Frage. Als Präzedenzfälle kann man vorrangig die Linux-Distributoren heranziehen, die seit mehreren Jahren im Geschäft sind. Deren Profitmargen bleiben auf der einen Seite (wie zu erwarten) deutlich hinter denen der großen Anbieter proprietärer Software zurück. Auf der anderen Seite ist es ihnen gelungen, durch differenzierte Angebote und insbesondere durch komplementäre Dienstleistungen im Markt zu bestehen. Praktisch alle Linux-Distributoren bieten ihre Produkte mit unterschiedlichem Ausstattungsgrad zu unterschiedlichen Preisen an, und daran anschließend Dienstleistungen wie Auftragsentwicklung, Systeminstallation und -integration sowie Wartung. Für ihren Geschäftserfolg ist der Mix der Angebote aus FOSS-Basiskomponenten und individuellen Komplementärleistungen entscheidend. Als reiner Softwareanbieter hat sich keiner von ihnen durchgesetzt. Während die Distributoren den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf Produkte legen, agieren große und kleine FOSS-Dienstleister im Markt, deren Leistung in der Anpassung von Standard-FOSS-Paketen an individuelle Anforderungen bestehen. Sie unterscheiden sich nicht wesentlich von Systemintegratoren, die mit proprietärer Software arbeiten. Bezahlt wird die Lösung, nicht die Software, wobei unter einer Lösung in der Regel eine Kombination aus Hardware, Software und Dienstleistung zu verstehen ist. Auftragsentwicklung Für kleine Unternehmen mit einem Leistungsportfolio, das individuelle Auftraggeber anspricht, erleichtern FOSS den Marktzutritt und die Innovationsaktivitäten erheblich: Eingesparte Lizenz- und Entwicklungskosten können in niedrigere Preise an den Auftraggeber weitergegeben werden, was den potentiellen Markt vergrößert. Es gelingt in kürzerer Zeit, Entwicklungskosten zu amortisieren, wenn man auf einem großen vorhandenen Bestand an Software aufbauen kann. Ein fehlendes Lizenzgeschäft stellt kein Problem dar, da in der Regel Einnahmen aus Werkverträgen existieren, die reale Kosten abbilden. Die Notwendigkeit, hohe Entwicklungskosten auf zahlenmäßig viele Anwender verteilen zu müssen, entfällt. Im Fall von Software stimuliert FOSS die Aktivitäten von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und beseitigt Disparitäten zu großen Herstellern, die über einen eigenen Bestand an Quellcodes verfügen. Konsequenterweise kann man regional ein Wachstum von industriellen FOSS-Strukturen besonders im KMU-Segment beobachten. Eingebettete Systeme Eingebette Systeme sind jene kleinen Computer, die unsere Waschmaschinen, Digitalkameras, Fahrscheinautomaten und Autos steuern. Sie tragen unterstützend zur Gesamtfunktion eines Produktes bei, wir erwerben sie nicht separat. Die Software für eingebettete System ist häufig einer der größten Kostenfaktoren bei der Herstellung komplexer Konsumgüter. Nimmt man als Beispiel die Autoindustrie, so summiert sich der Anteil der das Auto kontrollierenden Software auf bis zu 40 Prozent der Gesamtkosten. Der Drang, durch Verringerung des Entwicklungsaufwandes Kosten zu sparen, ist da nur natürlich. Eingebettete Systeme kommen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zum Einsatz, entsprechend heterogen sind die Anforderungen an die Software. Ohne Anpassungen lässt sich praktisch kein Code verwenden, sei er proprietärer Natur oder FOSS. Was vor allem zählt, ist Flexibilität. Das betrifft sowohl die Technik als auch die rechtlichen Rahmenbedingungen. FOSS hat in diesem Umfeld schnell Fuß gefasst, wofür ein Gemenge aus unterschiedlichen Motiven verantwortlich ist. Dazu zählen die Verpflichtung aus der GPL, modifizierten Code freizugeben, die Möglichkeit, Kosten durch Auslagerung von Entwicklungs- und Wartungsaktivitäten zu sparen, und das soziale Motiv, als ein guter Mitspieler anerkannt zu werden, um Kooperationspartner in der Community zu finden (Reziprozitätsprinzip). FOSS in eingebetteten Systemen bringt für den Anbieter den Vorteil mit sich, dass die Softwarekosten im Preis für das Gesamtprodukt berücksichtigt werden können. Physische Produkte lassen sich im Unterschied zu Software nicht kostenfrei reproduzieren. Das Bündeln von Software mit physischen Produkten ermöglicht daher ein profitables Geschäftsmodell, selbst wenn die Software als FOSS freigegeben wird. 4. FOSS: Perspektiven jenseits klassischer Eigentumsverhältnisse FOSS ist eine Kombination aus Technik, Recht und sozialen Prozessen zur arbeitsteiligen Produktion von Software in der Informationsgesellschaft. Aus der Hackerbewegung der 1960er Jahre enstanden, hat sich mit FOSS ein Modell herausgebildet, das die Bedürfnisse der vernetzten Informationsgesellschaft an kostengünstigem und flexiblen Zugang zu zuverlässiger Software erfüllt. Für Entwicklungs- und Schwellenländer mit einer dynamisch wachsenden IT-Infrastruktur und hohen Lizenzkosten für importierte Software aus den Industrieländern bietet sich das FOSS-Modell sogar als industriepolitisches Förderinstrument an. Das Gesamtangebot an verfügbarer Software wächst mit FOSS. Der frei verfügbare Quellcode ermöglicht neuen Unternehmen einen kostengünstigen Zutritt zum Markt, was Konzentrationstendenzen entgegenwirkt. Stattdessen wird der Markt anbieterseitig fragmentiert, lokale werden Strukturen gestärkt. Der so verschärfte Wettbewerb zwingt Hersteller proprietärer Softwareprodukte zur Anpassung des Angebots an die Nachfrage, sowohl bei Preisen als auch bei der Leistung. Profitabilität hängt bei FOSS von der geschickten Kombination unterschiedlicher Wertschöpfungsaktivitäten im Geschäftsmodell zusammen. Dienstleistungen und integrierte Lösungen statt reiner Softwareprodukte tragen den wesentlichen Anteil zum Geschäft bei. FOSS und Marktwirtschaft sind offensichtlich keine Gegensätze, obwohl die Eigentumsrechte am Code keineswegs den klassischen kapitalistischen Verhältnissen entsprechen. Wie am Beispiel von FOSS sichtbar wird, stärken schwache Eigentumsrechte an Informationsartefakten den Markt für Integrations- und Dienstleistungen mit diesen Artefakten. Eine künstliche Verknappung durch starke Rechte aus geistigem Eigentum ist im Fall von Software keine allgemein notwendige Bedingung für die Schaffung von Anreizen zur Produktion. In der Informationsgesellschaft wird die Rolle der Community als einer Quelle des gesellschaftlichen Reichtums gestärkt. In der Community werden Informationsgüter in Teilen gemeinschaftlich verwaltet – als Allmenden. Die Wissenschaft stellt das klassische Beispiel dar, FOSS das modernste. Solche Beobachtungen sprechen dafür, dass vergleichbare Ansätze auch in anderen informationsintensiven Märkten erfolgreich sein werden. Beitrag aus: Hofmann, Jeanette (Hg.): Interner Link: Wissen und Eigentum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2006, S. 279-297. Vgl. Manuel Castells, Das Informationszeitalter I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, S. 34. "Code is Law" postuliert Lessig und meint damit, dass Software zu einer eigenen Regulationskraft neben dem Gesetz geworden ist.Vgl. Lawrence Lessig, Code and other Laws of Cyberspace, New York 1999. Von lat. "proprietas" – Eigentum, Besitz. Gemeint ist Software auf die exklusive Eigentumsansprüche bestehen und ggf. durchgesetzt werden. Der Begriff der Netzwerkgüter beschreibt Produkte, die sich durch Komplementarität, Kompatibilität und Standardisierung auszeichnen. Der Erwerb und Einsatz solcher Produkte zieht auf Konsumentenseite Externalitäten (Kosten und Nutzeffekte, die nicht vom Hersteller des Produkts unmittelbar verursacht werden), Kosten beim Technologiewechsel und daher häufig die Bindung von Kunden an bestimmte Technologien und Anbieter ("lock in") nach sich. Dem stehen auf Anbieterseite Skaleneffekte bei Produktion und Vermarktung gegenüber. Das klassische Beispiel sind Telefone und das Telefonnetz, bei denen der Nutzen für den Anwender mit der Anzahl der Anwender steigt. Gleichzeitig sinken für den Anbieter (in gewissem Umfang) die durchschnittlichen Kosten mit jedem neuen Anwender. Noch stärker ausgeprägt sind diese Netzwerkeffekte bei Software. Vgl. Oz Shy, The Economics of Network Industries, Cambridge 2001; Carl Shapiro/ Hal R. Varian, Information Rules. A Strategic Guide to the Network Economy, Boston 1999. Vgl. Ingo Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 6. Aufl. Stuttgart 1999, S. 32-41. Aufgrund ihrer rechtlichen und technischen Gemeinsamkeiten werden Freie und Open-Source-Software im Rahmen dieses Beitrages als FOSS zusammengefasst. Eine umfangreichere Analyse würde nichtsdestotrotz signifikante Unterschiede besonders in der dahinter stehenden Ideologie erkennen lassen. Das World Wide Web, für viele Menschen ein Synonym für Internet, basiert softwaretechnisch auf Webservern und Webbrowsern. Während bei den Webbrowsern der Löwenanteil an Microsoft mit dem Internet Explorer fällt, dominiert auf der Serverseite der FOSS-Server Apache mit nahezu 70 Prozent "Marktanteil". Vgl. NetCraft May 2005 Web Server Survey, http://news.netcraft.com/archives/web_server_survey.html. Vgl. etwa Klaus Goldhammer, Wissensgesellschaft und Informationsgüter aus ökonomischer Sicht, in: Jeanette Hofmann (Hg.): Wissen und Eigentum, Bonn 2006, S. 81-106, sowie Rüdiger Pethig, Information als Wirtschaftsgut in wirtschaftswissenschaftlicher Sicht, in: Herbert Fiedler/ Hanns Ulrich (Hrsg.), Information als Wirtschaftsgut: Management und Rechtsgestaltung, Köln 1997, S. 1-28. Ökonomen unterscheiden zwischen privaten Gütern, die auf Märkten gehandelt werden, und öffentlichen Gütern, die auf Märkten nicht (ohne weiteres) gehandelt werden (können). An privaten Gütern bestehen exklusive Eigentumsrechte, an öffentlichen Gütern können solche (aus verschiedenen Gründen) nicht durchgesetzt werden. Während exklusive Eigentumsrechte bei privaten Gütern deren Nutzung durch Nichteigentümer verhindern können, besteht bei öffentlichen Gütern diese Ausschlussmöglichkeit nicht. Typisch ist für öffentliche Güter auch die Nichtrivalität des Konsums, d. h. das Gut kann von mehreren Individuen genutzt werden, ohne dass der individuelle Nutzen geschmälert wird oder dass für neu hinzukommende Nutzer separate Kosten anfallen. Anders formuliert: Öffentliche Güter sind nicht per se knapp, nachdem einmal die Kosten für ihre Bereitstellung aufgebracht worden sind. Vgl. Dominick Salvatore, Microeconomics: Theory and Application, 4th ed. New York/Oxford 2003, S. 611-614; John A. Baden, A New Primer for the Management of Common-Pool Resources and Public Goods, in: John A. Baden/ Douglas S. Noonan (Hrsg.), Managing the Commons, 2nd ed. Bloomington/Indianapolis, 1998, S. 51-62, hier S. 52. Vgl. Garret Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science, 162 (1968), S. 1243-1248. Hardin benutzte das einer Gemeinde gehörige Weideland (Allmende, engl. commons) als Beispiel für eine sog. Common-pool-Ressource. Wenn dieses Weideland von jedem Bauern kostenlos genutzt werden darf, wird das auf Dauer zur Übernutzung führen und das Weideland wird zerstört. Den Grund sieht Hardin darin, dass jedes Individuum ein Interesse an der Nutzung, aber kein Interesse an der Pflege der Allmende haben kann, solange ihm nicht im Gegenzug exklusive Eigentumsrechte als Belohnung winken. Vgl. Carol Rose, The Comedy of the Commons: Custom, Commerce, and Inherently Public Property, in: Law Review 53,3 (1986), S. 711-781. Die USA nahmen als erstes Land 1980 Software als Schutzgegenstand in ihr Copyright-Gesetz auf. Vgl. Robert P. Merges, Peter S. Menell, Mar A. Lemley, Intellectual Property in the New Technology Age, 2nd ed., New York: Aspen Law & Business 2000, S. 911. Vgl. Gesetz über Urheberrechte und Verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz), §2, Abs. 1, Ziff. 1. Weitere Rechtsvorschriften u. a. aus Vertrags-, Marken-, Wettbewerbs- und Patentrecht sind zum Teil gleichzeitig anwendbar. Es ist der Grundgedanke des "geistigen Eigentums" (Urheberrecht und Patentrecht), dem Urheber bzw. Erfinder eine Exklusivposition zu garantieren, aus der heraus die Kosten für Entwicklung und Produktion durch Handel der "Ideenprodukte" im Markt amortisiert werden können. Eine umfangreiche ökonomischen Diskussion bietet William M. Landes/ Richard A. Posner, The Economic Structure of Intellectual Property Law, Cambridge/London 2003. An dieser Stelle verlaufen die Grenzen zu den Gebieten der Technik, die dem Patentschutz zugänglich sind, und in den letzten Jahren hat sich eine heftige Debatte darum entzündet, ob Software Patentschutz erhalten dürfe, oder nicht. Vgl. Bernd Lutterbeck/ Robert Gehring/ Axel H. Horns, Sicherheit in der Informationstechnologie und Patentschutz für Software-Produkte – ein Widerspruch? Kurzgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, Berlin, Dezember 2000, http://ig.cs.tu-berlin.de/forschung/IPR/LutterbeckHornsGehring-KurzgutachtenSoftwarePatente-122000.pdf Vgl. Pamela Samuelson/ Randall Davis/ Mitchell D. Kapor/ J.H. Reichman, A Manifesto Concerning the Legal Protection of Computer Programs, in: Columbia Law Review 94,8 (1994), S. 2308-2431, Externer Link: http://www.law.cornell.edu/commentary/intelpro/manif1.htm Das Patentrecht schützt Erfindungen, wobei der Begriff nicht scharf definiert ist. Das Urheberrecht verschärft dieses Problem noch. So heißt es zwar in §69a UrhG "Ideen und Grundsätze, die einem Element eines Computerprogramms zugrunde liegen ... sind nicht geschützt", aber der Zugang zu diesen Ideen und Grundsätzen, der ggf. durch Dekompilierung des Binärcodes erfolgen müsste, wird vom Gesetz bis auf Ausnahme für illegal erklärt; vgl. Wilhelm Nordemann und Kai Vinck, Kommentar zu §69d, S. 493, in: Fromm/Nordemann, Urheberrecht: Kommentar, 9. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer, 1998. Diese Erklärung liefert Ronald Coase in "The Nature of the Firm", seinem berühmten Aufsatz von 1937. Wiederabdruck in Ronald H. Coase, The Firm, the Market and the Law, Chicago/London 1988, S. 33-55. Das Community-Modell ist neben Märkten und Staaten ein weiteres erfolgreiches Modell zur Koordination kooperativer Aktivitäten. Vgl. Samuel Bowles/ Herbert Gintis, How communities govern: the structural basis of prosocial norms, in: Avner Ben-Ner/ Louis Putterman (Hrsg.), Economics, Values, and Organization, Cambridge u. a. 1998, S. 206-230. Vgl. Gregorio Robles, Hendrik Scheider, Ingo Tretkowski und Niels Weber, WIDI: Who Is Doing It? A research on Libre Software developers, Forschungsbericht, Fachgebiet Informatik und Gesellschaft der TU Berlin, Berlin 2000, http://ig.cs.tu-berlin.de/lehre/s2001/ir2/ergebnisse/OSE-study.pdf. In der Hauptsache über Mailinglisten und Quellcode-Archive. So begann die Linux-Entwicklung. Vgl. Linus Torvalds und David Diamond, Just for Fun: Wie ein Freak die Computerwelt revolutionierte, München/Wien 2001. Vgl. für das Beispiel des Apache Webservers Karim R. Lakhani/ Eric von Hippel, How open source software works: Free user-to-user assistance, in: Research Policy 32,6 (2003), S. 923-948. Vgl. u. a. M. Castells (Anm. 1); Ilkka Tuomi, Networks of Innovation: Change and Meaning in the Age of the Internet, Oxford/New York 2002. Durch elektronische Kommunikation, aber auch auf Community-Treffen. Vgl. u. a. Eva Brucherseifer, Die KDE-Entwicklergemeinde – wer ist das?, in: Robert A. Gehring/Bernd Lutterbeck (Hrsg.), Open Source Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 65-81, Matthias Ettrich, Koordination und Kommunikation in Open-Source-Projekten, a.a.O., S. 179-192. Die (partielle) Umgehung dieses Ware-Preis-Mechanismus' wird von einigen Autoren als grundlegender Mangel von FOSS gesehen. Vgl. Stefan Kooths, Markus Langenfurt und Nadine Kalwey, Open-Source-Software: Eine volkswirtschaftliche Bewertung, MICE Economic Research Studies, Vol. 4, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2004, http://mice.uni-muenster.de/mers/mers4-OpenSource_de.pdf. Kritisch dagegen: Markus Pasche und Sebastian von Engelhardt, Volkswirtschaftliche Aspekte der Open-Source-Softwareentwicklung, Arbeits- und Diskussionspapiere der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Nr. 18, 2004. Vgl. Levy, Steven, Hackers. Heroes of the Computer Revolution, Garden City 1984, S. 427. Zur Geschichte von UNIX vgl. Peter H. Salus, A Quarter Century of Unix, Reading u.a. 1995. Vgl. Heise Newsticker, Microsoft will Brücken zur Open-Source-Gemeinde bauen, Meldung vom 2. Mai 2005, http://www.heise.de/newsticker/meldung/print/59201. Vgl. Michael Porter und Victor E. Millar, Wettbewerbsvorteile durch Information, In: Harvard Manager, Informations- und Datentechnik, Band 1, Hamburg o. J., S. 146-155, hier S. 148. Vgl. Andrea Bonaccorsi and Cristina Rossi, Altruistic individuals, selfish firms? The structure of motivation in Open Source software, in: First Monday 9,1 (2004), http://www.firstmonday.org/issues/issue9_1/bonaccorsi und Andrea Bonaccorsi und Christina Rossi, Why Open Source software can succeed, in: Research Policy 32,6 (2003), S. 1243-1258. Vgl. auch P. Himanen (Anm. 18), S. 53-57; Lydia Heller und Sabine Nuss, Open Source im Kapitalismus: Gute Idee – falsches System?, in: Robert A. Gehring/ Bernd Lutterbeck (Anm. 27), S. 385-405. Vgl. Eric von Hippel, "Anwender-Innovationsnetzwerke": Hersteller entbehrlich, in: Bernd Lutterbeck/ Robert A. Gehring/ Matthias Bärwolff (Hg.), Open Source Jahrbuch 2005, Berlin 2005, S. 450-461. Die intensiven Bemühungen um Softwarepatente müssen in diesem Kontext gesehen werden. Als Beispiele können Apple mit MacOS X und Novell mit der Übernahme des Linux-Distributors SuSE dienen. Vgl. die Aktivitäten der Open-Source-Region Stuttgart http://opensource.region-stuttgart.de, oder die Rolle von FOSS-Unternehmen in der Schweiz: Bern und Basel setzen auf Open-Source-Software, in: Internetausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. Februar 2005, http://nzz.ch/2005/02/18/em/articleCLQCK.html. In Zukunft werden Appliances eine größere Rolle spielen. Als "Appliances" bezeichnet man Geräte, deren Kernfunktion durch Hardware und Software implementiert wird. Dazu gehören beispielsweise dedizierte Router und Firewalls. Die Abgrenzung zu eingebetteten Systemen ist unscharf. Vgl. Laurie Sullivan/ Ariane Rüdiger, Autobauer leiden unter Softwarefehlern, in: Internet-Ausgabe der Information Week vom 22. April 2004, http://www.informationweek.de/cms/3051.0.html. Vgl. Joachim Henkel/ Mark Tins, Die industrielle Nutzung und Entwicklung von Open-Source-Software: Embedded Systems, in: Bernd Lutterbeck/ Robert A. Gehring/ Matthias Bärwolff (Anm. 35), S. 123-138. Zur ökonomischen Bedeutung des Reziprozitätsprinzips vgl. Ernst Fehr/ Simon Gächter, How effective are trust- and reciprocity-based incentives, in: Avner Ben-Ner und Louis Putterman (Anm. 21), S. 337-363. Vgl. Bernd Lutterbeck, Infrastrukturen der Allmende – Open Source, Innovation und die Zukunft des Internets, in: Bernd Lutterbeck/ Robert A. Gehring/ Matthias Bärwolff (Anm. 27), S. 329-346. Dominique Foray, The Economics of Knowledge, Cambridge, MA und London 2004. Das grundlegende Werk zur Allmende-Wirtschaft ist Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Staat und Markt, Tübingen, 1999.
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Robert A. Gehring
"2022-02-08T00:00:00"
"2012-02-15T00:00:00"
"2022-02-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/digitalisierung/opensource/63923/foss-die-firma-und-der-markt/
Open Source-Entwicklung ist zu einer eigenen Produktionsform neben Firmen und Märkten geworden. Robert A. Gehring erklärt ihre Gesetze.
[ "Freie und Open-Source-Software", "FOSS", "Software", "Softwarehersteller", "Open Source", "Informationsgesellschaft", "Quellcodes", "Binärcodes" ]
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Bedeutung der Anerkennung | bpb.de
Im Kontext der Diskussion um die Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen verdeutlichten verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen den Zusammenhang zwischen der Anerkennung mitgebrachter Qualifikationen und dem erfolgreichen Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt. So untersuchten Brussig et al. 2009 die wirtschaftlichen Kosten einer defizitären strukturellen Integration von Migrantinnen und Migranten im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen dem Bezug von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II; "Hartz IV") und dem Migrationshintergrund. Im bundesweiten Durchschnitt sind 25% der Leistungsempfänger/-innen von SGB II Migranten (vgl. Abb.1). Von diesen besitzen nur 11,4% eine Anerkennung, während 28,8%, keine haben (Brussig et al. 2009: 7). Vorliegen und Anerkennung eines beruflichen Abschlusses von ALGII-Bezieher/-innen mit Migrationshintergrund Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Dabei stellten die Autoren fest, dass Personen mit mitgebrachten Qualifikationen, die in Deutschland keine Anerkennung erlangen konnten, ebenso schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wie Zuwanderer und Zuwanderinnen ohne Berufsabschluss. Mit einer Anerkennung des im Ausland erworbenen Abschlusses erhöhen sich die Beschäftigungschancen dagegen um 50% (Brussig et al 2009: 8). Neben der Sicherung des Fachkräftebedarfs für Deutschland rechnet sich eine verbesserte Anerkennungssituation also auch sozialpolitisch durch die bessere Integration von Zuwandernden in den Arbeitsmarkt. Die Eingliederung in eine ausbildungsadäquate Beschäftigung beschleunigt den gesamten Integrationsprozess (Schneider/Pfund 2009: 10f). Darüber hinaus kann sich die institutionelle Bestätigung der Gleichwertigkeit eines ausländischen mit einem inländischen Bildungsabschluss und die damit einhergehende Würdigung der bislang erworbenen Qualifikationen auch positiv auf das Selbstwertgefühl der Zuwandernden auswirken, da ihre bisherige (Lebens-)Leistung anerkannt wird. Die Anerkennung von Auslandsqualifikationen bringt in diesem Sinne beiden Seiten einen Vorteil: Dem deutschen Arbeitsmarkt, durch die Ausschöpfung des Qualifikationspotenzials der Zuwandernden und den betroffenen Zuwanderern und Zuwanderinnen selbst, da diese eine Würdigung ihrer Leistung erfahren und sich ihre Arbeitsmarktchancen erheblich verbessern. Dadurch kann eine Verstetigung in Tätigkeitsbereichen weit unterhalb der eigentlichen Qualifikation vermieden werden (Van Hausen 2010: 191). Trotz dieser mehrfach bestätigten großen Bedeutung der Anerkennung von Auslandsqualifikationen für die (strukturelle) Integration der Zuwandernden, kennzeichneten bislang viele Schwierigkeiten und Hürden das Anerkennungsverfahrenssystem in Deutschland, welche im Folgenden erläutert werden sollen. Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Bewertung von im Ausland erworbenen Qualifikationen". Vorliegen und Anerkennung eines beruflichen Abschlusses von ALGII-Bezieher/-innen mit Migrationshintergrund Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-07-31T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/141837/bedeutung-der-anerkennung/
Im Kontext der Diskussion um die Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen verdeutlichten verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen den Zusammenhang zwischen der Anerkennung mitgebrachter Qualifikationen und dem erfolgreichen Eintritt in
[ "sozialpolitisch", "Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen", "Fachkräftebedarf" ]
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (GRÜNE) | Landtagswahl Sachsen 2019 | bpb.de
Gründungsjahr Landesverband 1991* Mitgliederzahl in Sachsen 2.305* Landesvorsitz Christin Melcher, Norman Volger* Wahlergebnis 2014 5,7 Prozent *nach Angaben der Partei Der sächsische Landesverband von "BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN" (GRÜNE) hat seinen Ursprung in der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Das Wahlbündnis "Neues Forum – Bündnis – Grüne", dem wiederum eine Reihe von Vereinigungen der stark fragmentierten Oppositionsgruppen vorausging, erzielte 1990 bei der Landtagswahl 5,6 Prozent der Zweitstimmen. Anders als die DDR-Grünen, die bereits Ende 1990 mit ihrem westdeutschen Pendant fusionierten, vereinigten sich im September 1991 die sächsischen GRÜNEN zunächst mit den Bürgerbewegungen zur Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen – ein Modell, das 1993 auch im Bund vollzogen wurde. Die Heterogenität der zusammengeschlossenen Gruppierungen führte zu Konflikten: um den Status als Partei anstelle einer Bürgerbewegung, um die Haltung zur deutschen Einheit und um den Kurs zur regierenden CDU. 1994 scheiterten die GRÜNEN mit 4,1 Prozent und 1999 mit 2,6 Prozent an der Fünfprozenthürde. Erst 2004 gelang der Wiedereinzug in den sächsischen Landtag (5,1 Prozent). Seitdem sind die GRÜNEN parlamentarisch vertreten, blieben mit 6,4 (2009) und 5,7 (2014) Prozent allerdings hinter den bundesweiten Ergebnissen zurück. Zur Landtagswahl 2019 treten die GRÜNEN mit den beiden Spitzenkandidaten Katja Meier und Wolfram Günther an. Das Landtagswahlprogramm der GRÜNEN trägt die drei zentralen Anliegen der Partei im Titel: "Weltoffen. Ökologisch. Gerecht." Vor allem die Kernthemen Natur- und Klimaschutz werden ausführlich behandelt und mit den Forderungen aus anderen Politikfeldern nach einer ökologisch nachhaltigen Wirtschafts- und Verkehrspolitik verbunden. So plädieren die GRÜNEN für die Ausweisung neuer Naturschutzgebiete und die Eindämmung des Flächenverbrauchs, für eine "soziale Landwirtschaft" in Verbindung mit Tierschutz, den Ausstieg aus der Braunkohle und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und des Fahrradwegnetzes. Gesellschaftspolitisch wirbt die Partei für ein "Teilhabe- und Integrationsgesetz" für Zuwanderer auf Landesebene, das den Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und öffentlichen Ämtern von Migranten verbessern soll. Soziale Gerechtigkeit soll durch Chancengleichheit im Bildungssektor und Investitionen in den Bereichen Gesundheit und Pflege geschaffen werden. Ihrer Tradition als Bürgerrechtspartei entsprechen die Forderungen der GRÜNEN nach verstärktem Datenschutz und der Rücknahme der erweiterten Eingriffsbefugnisse durch das neue Polizeigesetz. Gründungsjahr Landesverband 1991* Mitgliederzahl in Sachsen 2.305* Landesvorsitz Christin Melcher, Norman Volger* Wahlergebnis 2014 5,7 Prozent *nach Angaben der Partei
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2019-08-05T00:00:00"
"2019-07-08T00:00:00"
"2019-08-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/sachsen-2019/293564/buendnis-90-die-gruenen-gruene/
Der sächsische Landesverband der GRÜNEN hat seinen Ursprung in der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Zu ihren Forderungen gehören u.a. die Ausweisung neuer Naturschutzgebiete und Investitionen in Bildung und Pflege.
[ "BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN", "Sachsen", "Landtagswahl" ]
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Die Stammzellforschung - Sachstand und ethische Problemstellungen | Gentechnik - Biopolitik | bpb.de
I. Die Knochenmark-Transplantation als erste bewährte Stammzelltherapie Als Stammzellen werden Körperzellen bezeichnet, die für die Regeneration von Körpergeweben sorgen. Diese Zellen haben die Fähigkeit sowohl zur Selbsterneuerungsteilung als auch zur Differenzierung in verschiedene entwickelte Körperzellen. Die bekanntesten Stammzellen, die schon seit den fünfziger Jahren für die Therapie beim Menschen eingesetzt werden, sind die blutbildenden (hämatopoetischen) Stammzellen des Knochenmarks. Heute werden diese gewebespezifischen Blutstammzellen auch aus dem Plazenta-Restblut, also dem Nabelschnurblut Neugeborener, gewonnen. Eingesetzt werden sie zur Regeneration des blutbildenden Systems nach Hochdosis-Chemo- und Strahlentherapie bei bösartigen Erkrankungen und Immundefekten. Weil diese Therapien das Blutsystem der Patienten zerstören, muss dieses anschließend wieder aufgebaut werden. Blutstammzellen aus dem Knochenmark (oder aus Nabelschnurblut) des Patienten (autologe Transplantation) oder von anderen SpenderInnen (allogene Transplantation) erfüllen diese Aufgabe. Aus diesen Blutstammzellen, die intravenös verabreicht werden, bildet sich im Knochenmark des Patienten innerhalb einiger Tage bzw. Wochen dessen Blutsystem neu, d. h., dass sich diese Stammzellen in alle Zelltypen des Blutes ausdifferenzieren. Im Gegensatz zur autologen Transplantation hängt der Erfolg einer allogenen Stammzelltransplantation davon ab, wie sich das fremde Blut mit dem Körpergewebe des Patienten verträgt, oder, wie es in der Fachsprache heißt, wie es den so genannten Chimärismus ausbildet. Interner Link: PDF-Version: 642 KB Für andere gewebespezifischen Stammzellen ist, wie für die Blutstammzellen, die Potenz charakteristisch, ein komplexes Zellsystem oder gar ein Organ wie das Blutsystem aus sich heraus aufbauen zu können. Diese Möglichkeit macht sie für die biomedizinische Forschung so interessant und lässt Hoffnungen wach werden, zukünftig auch andere Organe oder Zelldefekte mit den entsprechenden Stammzellkulturen behandeln zu können. II. Die Ausgangslage und die aktuelle Diskussion um die Stammzellforschung Diese Hoffnungen auf die Stammzellen als Multifunktionsheilmittel sind erst mit dem Erfolg der Klonierung des Schafes Dolly (1997) und den In-vitro-Züchtungserfolgen von humanen Stammzellen in den Forschungsgruppen um Thomson und Gearhart 1998 zu mehr als einer rein spekulativen Idee geworden. Denn im Falle Dollys wurde aus einer Körperzelle eines Schafes, die in eine entkernte Eizelle injiziert worden war, ein Embryo erzeugt, aus dem sich ein gesundes Schaf entwickelte (ein gesund geborenes Schaf aus ca. 280 solchen Klonierungsversuchen!). Dieser "Klonierungserfolg" lässt es möglich erscheinen, vielleicht sogar aus beliebigen Körperzellen von Menschen einmal die Gewebetypen und Organe zu erzeugen, die man für deren jeweilige Krankheitsbehandlung brauchen könnte. Die Vermehrung von humanen embryonalen Stammzellen in der Petrischale über mehrere Wochen, ohne dass sie ausdifferenzieren, gilt als weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung. Damit wurde gezeigt, dass auch humane Embryonalzellen und nicht nur - wie längst bekannt ist - Stammzellen von anderen Säugetieren in Kultur gehalten und vermehrt werden können. Das Fachorgan SCIENCE feierte Ende 1999 die Ergebnisse der Stammzellforschung auf dem Titelblatt und im Leitartikel als "Breakthrough of the Year" und stützte die Hoffnungen auf bald mögliche Therapien mit der Schlagzeile "Capturing the Promise of Youth" . Die öffentliche Diskussion über die Stammzellforschung hat sich seit Anfang diesen Jahres noch einmal dramatisch intensiviert. Die Stammzellforschung wird dabei zumeist in einem Atemzug mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) verhandelt, wie z. B. in der Artikelserie in der Wochenzeitung Die ZEIT Anfang diesen Jahres . Die Kontroverse der EthikerInnen drehte sich dabei um die Benutzung von Embryonen in der Forschung, die deren Tod zur Folge hat, und damit zusammenhängend um die Frage, wie wir die grundgesetzliche und kulturelle Leitidee von der Würde des Menschen weiterhin verstehen und aufrechterhalten wollen. In vielen Tageszeitungen und Fernsehberichten wird über die Forschungsentwicklung und über das ethische Dilemma berichtet, das zwischen zukünftigen Möglichkeiten, verbreitete und bisher unheilbare Krankheiten behandeln zu können, und der dafür notwendigen biotechnologischen Forschung und ihren Erfordernissen besteht. Am 3. Mai 2001 veröffentlichte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) eine neue Stellungnahme zur Forschung mit humanen Stammzellen , deren für die Forschenden unmittelbar wichtigster Punkt - die Zusage, einen Bonner Forschungsantrag zu fördern, der auf der Arbeit mit aus dem Ausland importierten embryonalen Stammzellen basiert - am nächsten Tag infolge politischer Vetos aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Bundeskanzleramt zurückgenommen wurde. Die DFG ist in dieser Stellungnahme mit der Meinung an die Öffentlichkeit gegangen, dass im Ausland legal hergestellte embryonale Stammzellinien in Deutschland nicht rechtlich verboten sein könnten. Nach den Forschungserfolgen der letzten zwei Jahre müssten zudem die grundrechtlich geschützte Forschungsfreiheit und die hochrangigen Forschungsziele neu abgewogen werden gegen das Verbot der Embryonenforschung im Embryonenschutzgesetz (ESchG). Es sollte auch in Deutschland mit embryonalen Stammzellen geforscht werden dürfen, um deren Potential zu erkunden, allerdings nur, wenn die importierten Linien auch sicher aus überzähligen Embryonen aus der In-vitro-Fertilisation (IVF) stammen. Diese Forderung in ihren wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und ethischen Zusammenhängen beurteilen zu können, soll die folgende Rekapitulation des Standes der Forschung mit humanen Stammzellen und der juristischen und ethischen Argumentationen Orientierungen geben. III. Der Stand der Forschung mit Stammzellen von Mäusen und Menschen Da sich die großen Hoffnungen in Bezug auf humane Stammzellen bislang fast ausschließlich auf Forschungserfolge bei Mäusen gründen, sei hier über den Stand der Forschung mit Mausstammzellen und mit humanen Stammzellen, wie ihn deutsche Stammzellforscher und -forscherinnen gegenwärtig sehen, berichtet . Die Forschung mit humanen Stammzellen befindet sich weltweit noch im Stadium der ersten Grundlagenforschung. Es sind heute noch keine eindeutigen Marker gefunden worden, an denen man speziell humane Stammzellen sicher identifizieren und von Tumorzellen unterscheiden könnte. Zwar liegen Verfahren vor, aus embryonalen (Mäuse-) Stammzellen Kulturen von Nerven- oder Herzmuskel- oder Knorpelgewebe zu züchten, allerdings gelingt dies nur bis zu einer Reinheit von max. 80 Prozent, und das ist für eine Therapie beim Menschen keineswegs ausreichend. In einer Kultur von z. B. Nervenzellen aus embryonalen Stammzellen, die zur Therapie verwendet werden soll, darf sich nicht eine undifferenzierte Zelle befinden, da diese zu unspezifischen Gewebswucherungen, also zu Tumorbildung bei den PatientInnen führen könnte. Dieses Risiko der Karzinogenität kann mit dem Einsatz gewebespezifischer Stammzellen vermieden werden. Blutbildende Stammzellen, die aus dem Knochenmark gewonnen werden, können, wie die Forschung der letzten Jahre gezeigt hat, transdifferenzieren, d. h. sie können z. B. im Gehirn wie neuronale, also Nervenstammzellen wirken und Nervengewebe erzeugen. Embryonale Stammzellen, die als nicht mehr totipotent gelten (d. h., aus denen sich nicht unter entsprechenden Umgebungsbedingungen ein ganzer Mensch entwickeln könnte), lassen sich aus der Blastozyste gewinnen. Forschungen mit Mäusestammzellen (die bisher eindeutig am erfolgreichsten sind - gemessen an möglichen Therapieerfolgen -, weit erfolgreicher als die mit Stammzellen von Schweinen, Rindern etc. aber auch mit humanen Stammzellen) haben gezeigt, dass sowohl die Stammzellen aus der Mäuse-Blastozyste aber auch Stammzellen aus dem Körper ausgewachsener Mäuse eine ganz erstaunliche Vermehrungs- und Differenzierungsfähigkeit besitzen. Es gelingt, aus embryonalen Mauszellen Kulturen zu entwickeln, die zu ca. 80 Prozent z. B. aus reinen Nerven- oder Knorpel- oder Herzmuskelzellen bestehen. Nach Transplantation dieser Nervenzellen z. B. in das Hirn künstlich neurodegenerativ erkrankter Mäuse, bilden sich im Gehirn neue, offenbar funktionsfähige Nervengewebsstrukturen, denn eine Maus mit Lähmungserscheinungen in den Beinen, wie sie symptomatisch beim Menschen z. B. nach Schlaganfällen vorkommen, kann im Experiment nach einer solchen Behandlung unter Umständen die Beine wieder bewegen wie vor dem induzierten Nervendefekt. Mit der Stammzellforschung wird die große Hoffnung verbunden, dass solche Heilungseffekte auch beim Menschen möglich werden. Behandlungsmöglichkeiten u. a. für Morbus Parkinson und Diabetes aber auch die Züchtung von Organen für die Transplantationsmedizin stehen auf der Wunschliste der Mediziner und der betroffenen Kranken. Die Stammzellforschung könnte diese Wunschliste vielleicht erfüllen. Allerdings, und das ist entscheidend für die Beurteilung dieser Forschung im Hinblick auf z. B. eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes, steht diese Forschung wirklich erst ganz am Anfang. Es ist bisher nicht geklärt, ob humane embryonale Stammzellen die gleichen Möglichkeiten für den technischen und damit therapeutischen Gebrauch bieten wie embryonale Mäusestammzellen. Bei anderen tierischen Stammzellen wie denen von Rind und Schwein ist dies nicht der Fall. IV. Die Fachbegriffe der Stammzelldiskussion Um die Debatte um die Stammzellforschung in ihren verschiedenen Hinsichten verstehen zu können, sind einige mittlerweile gängige Begriffsunterscheidungen wichtig, die nun erläutert werden. Unterschieden wird nach erstens verschiedenen Gewinnungsverfahren und zweitens verschiedenen Differenzierungsstadien von Stammzellen. Eine weitere Unterscheidung orientiert sich drittens am Ziel des technischen Verfahrens der Embryonenerzeugung. 1. ES-Zellen, EG-Zellen und adulte Stammzellen ES-Zellen: Sie können gewonnen werden durch die Kultivierung von in vitro durch künstliche Befruchtung einer weiblichen Eizelle erzeugten Embryonen. Solche überzähligen Embryonen aus IVF, von denen jetzt so häufig die Rede ist, sind in Deutschland kaum vorhanden, weil das ESchG verbietet, mehr Embryonen zu befruchten, als bei einer Implantation in die Gebärmutter eingesetzt werden. Vorhanden sind in Deutschland nur wenige kryokonservierte (bei -180 C tiefgefrorene) Vorkernstadien von Ei- und Samenzellen, die aber wie die kryokonservierten Embryonen in anderen Ländern für die Stammzellforschung verwendet werden könnten. Die Zellkulturen, die aus diesen Vorkernen entstehen, sind identisch mit Embryonen und bestehen aus so genannten ES-Zellen . Solche ES-Zellen können aber auch auf zwei anderen Wegen gewonnen werden, einmal durch die Teilung und Vermehrung von bereits vorhandenen In-vitro-Embryonen (Embryosplitting) oder durch Klonierung nach dem "Dolly-Verfahren", also dadurch, dass Körperzellen in eine entkernte Eizelle eingebracht und darin vermehrt werden. Die ersten beiden Methoden sind am Menschen bereits Routine: IVF-Behandlungen werden in Deutschland ca. 60 000-mal im Jahr vorgenommen, und das Embryosplitting entspricht dem technischen Vorgang zur Präimplantationsdiagnostik (die in anderen Ländern duchgeführt wird, in Deutschland aber nach ESchG verboten ist), nämlich von einem Embryo eine Zelle abzunehmen, nur dass sie hier vermehrt und nicht durch die genetische Untersuchung zerstört wird. EG-Zellen: Sie werden gewonnen aus Zellkulturen, die dadurch entstehen, dass die primordialen Keimzellen von Embryonen aus Schwangerschaftsabbrüchen (zwischen der fünften bis neunten Schwangerschaftswoche) entnommen und daraus Stammzellkulturen gezüchtet werden . Diese Methode ist in Deutschland nicht verboten, da dazu kein Embryo in vitro erzeugt wird. Richtlinien der Bundesärztekammer regeln die Gewinnung fetaler Zellen aus Schwangerschaftsabbrüchen. Allerdings zeigen Versuche, dass diese Methode sich zur Gewinnung humaner Stammzellen wohl nicht so gut eignet wie die anderen. Adulte Stammzellen: Die blutbildenden Stammzellen im Knochenmark sind typische adulte Stammzellen. Wir wissen heute jedoch, dass sich in jedem regenerationsfähigen Gewebe des Körpers Stammzellen befinden müssen, und wären ihre Marker bekannt, könnte man sie vielleicht auch ähnlich gut gewinnen wie die blutbildenden. Das Herz und die Nervenzellen im Gehirn sind die einzigen Gewebetypen im menschlichen Körper, die nicht über Stammzellen regelmäßig - wenn auch mit zunehmendem Alter langsamer - erneuert werden. Für jeden Gewebetyp gibt es daher die spezialisierten Stammzellen im erwachsenen Körper. Darum sind diese adulten Stammzellen auch immer gewebespezifische Stammzellen. Sie unterscheiden sich aus naturwissenschaftlicher Sicht von den ES- und EG-Zellen vor allem in ihrem Differenzierungspotenzial. 2. Totipotente, pluripotente und gewebespezifische Stammzellen Totipotenz: Alle Zellen der ersten Zellteilungsstadien des Embryos sind - unabhängig von der Erzeugungsmethode - totipotent. Das heißt, dass sich aus jeder dieser Zellen ein ganzer Mensch entwickeln könnte. Eben darum funktioniert in diesem frühen Stadium auch das Embryosplitting. Die Grenze der Totipotenz wird derzeit beim 8-Zellstadium angesetzt . In den anschließenden Entwicklungsschritten differenzieren die einzelnen Zellen langsam aus. Sie bilden zuerst so genannte Vorläuferzellen und entwickeln sich dann über die Bildung der drei Keimblätter zu gewebespezifischen Stammzellen weiter. Pluripotenz: Dieser Begriff wurde in die Diskussion um die Stammzellfoschung eingebracht, um einen Gegenbegriff zur Totipotenz zu haben, der signalisiert, dass diese Zellen nicht mehr unter das ESchG fallen . Pluripotent sind demnach alle nicht totipotenten Stammzellen, also Vorläuferzellen und gewebespezifische Stammzellen. Gewebespezifische Stammzellen sind all jene, die wie die blutbildenden Stammzellen in ihrer natürlichen Umgebung auf die Regeneration einer Gewebsart spezialisiert sind. Sie können jedoch nicht nur dem erwachsenen oder auch dem geborenen Menschen entnommen werden, sondern auch die Stammzellen in Feten sind gewebespezifische. Es scheint festzustehen, dass die fetalen und die Plazenta-Restblut-Stammzellen sich besser vermehren lassen als diejenigen in kindlichem Körpergewebe (juvenile), die aber für therapeutische Zwecke günstiger sein dürften als die Stammzellen älterer Menschen. Um die derzeitigen Forschungsprojekte und die gesellschaftlichen Entwicklungen im Kontext der Stammzellforschung abschätzen zu können, ist hier ein kurzer entwicklungsbiologischer Exkurs angebracht. Transdifferenzierung und Reprogrammierung: Die Ausdifferenzierung der Zellen wurde bisher als lineare Entwicklung beschrieben, von der Totipotenz zur Gewebespezifität. Dabei wird offenbar das "Leistungsvermögen" einer Stammzelle sukzessive auf eine ganz bestimmte Funktion hin zugeschnitten, und sie verliert dementsprechend die vielfältigeren Anlagen, ein ganzes Spektrum von Funktionen übernehmen zu können, das sie in früheren Entwicklungsstadien hatte. Das ist jedoch de facto bei Mäusestammzellen und - ersten Versuchen nach zu urteilen - zumindest auch bei humanen Blut- und Nervenstammzellen nicht so. Eine ganze Reihe von Untersuchungen - wieder vor allem an Mäusen - haben gezeigt, dass gewebespezifische Stammzellen transdifferenzieren können. Neuronale Mausstammzellen bilden, wenn sie in den Blutkreislauf von Mäusen gespritzt werden, deren Blutsystem durch Bestrahlung degeneriert wurde, dort neue Blutzellen und transdifferenzieren zu Blutstammzellen . Die damit verbundenen, noch rein spekulativen Hoffnungen auf enorme zukünftige Behandlungsmöglichkeiten mittels Stammzelltherapien beschleunigen schon heute das Geschäft mit dem Plazenta-Restblut Neugeborener, das nicht nur öffentliche Blutbanken aufbewahren, sondern das auch kommerzielle Unternehmen in Europa für die spätere Eigenbehandlung bei der Geburt eines Kindes auffangen und kryokonservieren. Ein anderes Potenzial gewebespezifischer Stammzellen ist die Fähigkeit zur Reprogrammierung, also dass sie nicht nur in einem anderen Gewebeumfeld sich dessen spezifischen Anforderungen einpassen, sondern dass sie auch sozusagen vielfältigere, frühere Entwicklungsniveaus wieder einnehmen können, u. U. sogar totipotent werden. Sollte sich diese Reversibilität der adulten Stammzellen bestätigen, wären die eben beschriebenen Begriffsunterscheidungen nicht mit ontologischen Qualitäten der Stammzellen verbunden, sondern würden nur verschiedene Zustandsformen von Stammzellen beschreiben, die offenbar umgebungsabhängig wären und die zumindest im Labor variiert werden könnten. Die Diskussion um die Legalität oder auch um die Legitimität der Forschung mit pluripotenten, aber nicht mit totipotenten Zellen würde zumindest in diesem Fall auf längere Sicht kein brauchbares Kriterium für die ethische und juristische Grundsatzdiskussion thematisieren. 3. Reproduktives versus therapeutisches Klonen So wie die Unterscheidung zwischen toti- und pluripotent ist die zwischen diesen beiden Klonverfahren eingeführt worden, um von der Zielorientierung her eines davon als legitim und moralisch nicht verwerflich auszuzeichnen. Reproduktives Klonen ist schlecht - wirklich niemand will es, wird häufig betont, aber therapeutisches Klonen könnte doch vielleicht einmal vielen kranken Menschen helfen. Der Unterschied zwischen den beiden Verfahren besteht ausschließlich darin, dass im ersten Fall die Implantation des Embryos in die Gebärmutter einer Frau erfolgen würde, um ein Kind wachsen zu lassen, während im zweiten Fall der klonierte Embryo in vitro als Zellkultur weitervermehrt und auf ein bestimmtes therapeutisches Ziel wie z. B. auf die Gewinnung von Leber- oder Pankreasgewebe für eine Transplantation des klonierten Patienten hin gezüchtet wird. Beides entspricht dem Gewinnungsverfahren, das ich oben als Dolly-Methode bezeichnet habe, und ist in Deutschland verboten. Das Reizvolle und für eine Transplantationsbehandlung Ausschlaggebende daran ist, dass sich auf diese Weise prinzipiell körperspezifische Stammzellen für jeden Menschen erzeugen ließen. Die immunologischen Abstoßungsprobleme der allogenen Transplantationen würden dann wahrscheinlich für die Stammzelltherapien und eventuell auch für aus Stammzellen gezüchtete Organe entfallen. V. Die ethischen und juristischen Probleme der Stammzellforschung Die wichtigsten ethischen Probleme der Forschung mit humanen Stammzellen sind m. E. die folgenden zwei: der Schutz der Menschenwürde von Embryonen und die Dynamik der Forschungs- und Technologieentwicklung. Diese zwei Problembereiche sind in mehrfacher Hinsicht miteinander verknüpft und hängen mit juristischen Themen zusammen. Allerdings sind rechtliche Probleme von anderer Art als ethische. Juristisch ist zum einen relevant, welche Forschungen die gegenwärtige Gesetzgebung erlaubt und zum zweiten, welche gesetzlichen Regelungen wir als Gesellschaft zukünftig als Antwort auf die ethischen Problemstellungen der Stammzellforschung behalten bzw. einführen wollen. Die ethischen Probleme fordern Antworten, die wir in komplexen Gesellschaften als Ergebnisse aufwendiger Konsensbildungsprozesse uns erst erarbeiten müssen. Sie sind dem Recht und seiner Formierung übergeordnet, denn die Rechtssetzung setzt ethische Urteilsprozesse voraus. Das gefasste Recht ist idealerweise die juristische Umsetzung ethischer Meinungsbildung. Es regelt pragmatisch die Einhaltung und Überwachung der ethischen Urteile darüber, was wir mit guten ethischen Gründen wollen oder nicht wollen. Darum behandle ich in der Folge ausführlich die ethische Dimension und komme dabei auf die juristische nur am Rande zu sprechen. 1. Verbrauchende Embryonenforschung und Menschenwürde Das Hauptthema der aktuell geführten Ethikdebatte um die Stammzellforschung sind die verbrauchende Embryonenforschung und der Schutz der Menschenwürde. Zumindest zur Technologieentwicklung braucht die Stammzellforschung mit Sicherheit viele menschliche Embryonen, und deren Leben ist in Deutschland durch das ESchG geschützt . Dieses Gesetz entstand, nachdem durch die plötzliche Konfrontation der Öffentlichkeit mit der De-facto-Einführung der IVF in den achtziger Jahren eine lange Debatte darum geführt worden war, wie man mit dem jungen menschlichen Leben, das nun in der Petrischale verfügbar geworden war, umgehen wolle. Beginnend mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist demnach das menschliche Leben von Anbeginn an vor der Fremdnutzung - Benutzung im Interesse anderer Individuen zum eigenen Schaden - unbedingt geschützt. Nun sind freilich sowohl Forschungsinteressen als auch die Therapiebedürfnisse Schwerstkranker fremde Zwecke in diesem Sinne, denen die Embryonen für die Stammzellforschung geopfert werden würden. Diese Darstellung entspricht etwa der Position, die in der aktuellen juristischen Debatte von Justizministerin Herta Däubler-Gmelin gegen andere Rechtsgutachten zur Legalität der Forschung mit importierten pluripotenten Stammzellen vertreten wird. Das Problem an dieser Position ist, dass der Konsens, der im ESchG mühsam gefunden worden war, gegenwärtig offenbar bei vielen einflussreichen Wissenschaftlern, Ethikern und Juristen nicht mehr gegeben ist. Die zumindest denkbaren Möglichkeiten der Therapie schwerer Krankheiten mittels Stammzellen haben große Überzeugungskraft und scheinen schwerer zu wiegen als der moralische Status, der im ESchG der befruchteten Keimzelle zugesichert wird. Für all jene Moralphilosophen, Theologen und Ethiker, die die Menschenwürde am Objekt festmachen, die also meinen, dass dieser Würde alle Menschen in all ihren Seinsformen entweder als von Gott geschaffene oder vom Menschen entsprechend anzusehende teilhaftig seien, erscheint jedes Ab- und Aufwägen dieses obersten Wertes des menschlichen Lebens ausgeschlossen . Von diesem Standpunkt aus ist das nur konsequent. Das Problem besteht darin, dass es keinen Konsens und keine geteilten Grundüberzeugungen gibt, die diesen Standpunkt für eine große Mehrheit wirklich plausibel erscheinen lassen. Das liegt nicht daran, dass nicht die meisten zustimmen würden, dass ohne normative Auszeichnungen des menschlichen Lebens eine lebenswerte Gesellschaftsform kaum zu erhalten oder zu erreichen wäre. Dass jedoch die volle Schutzwürdigkeit, die wir für alle lebenden Menschen fordern, auch einem 8- oder 32-Zeller zugeschrieben wird, entbehrt für viele der Plausibilität . Das hat m. E. mit dem Gegenstand Embryo selbst zu tun. Der Embryo, sowohl in vivo als auch in vitro, ist heute zu einem Gegenstand geworden, über dessen moralischen Status wir uns klar werden müssen bzw. darüber, wie wir mit ihm, der nun verfügbar geworden ist, umgehen wollen. Wir müssen folglich entscheiden, was mit ihm geschehen oder getan werden darf. Das Problem dabei ist, dass er kein sinnlich erfahrbares Gegenüber ist wie jeder geborene Mensch - gleich wie hinfällig er vielleicht geworden ist - oder auch wie ein Ungeborenes, das sich im Mutterleib regt . Der Embryo ist zugänglich nur über Mikroskop und Ultraschall, und diese zeigen uns den frühen Menschen im Blastozystenstadium nicht anders aussehend als einen gleichalten Mäuse- oder Schweineembryo. Auf der sinnlichen Erfahrungsebene fehlt uns die Möglichkeit, diesen Moralgegenstand unvermittelt als wirklich zu erleben. Die apparative Distanz oder - um es anders zu sagen - die technische Vermitteltheit und Konstruiertheit des Objekts früher Embryo - macht diesen als Moralgegenstand intuitiv nicht zugänglich, wohl aber als Forschungsgegenstand für die Wissenschaften verfügbar . Neuere ethische Überlegungen, in denen z. B. eine abgestufte Zuschreibung des Lebenswertes nach der schrittweisen Entwicklung der befruchteten Keimzelle zum Menschen mit all seinen spezifischen Qualitäten vorgeschlagen wird, versuchen, diese Unplausibilität der Menschenwürde des 8-Zellers zu umgehen und trotzdem in allen für relevant erachteten Fällen die vollen Schutzgarantien für Menschen festzuhalten. Problematisch ist daran, dass dazu Eigenschaften wie z. B. die Schmerzempfindsamkeit, die Fähigkeit zu selbstständigen Lebensvollzügen ab der Geburt oder die Entwicklung der Denkfähigkeit als relevant ausgezeichnet und an bestimmten Entwicklungsstufen festgemacht werden müssen. Alle menschlichen Lebensformen, die die entsprechende Eigenschaft nicht aufweisen, werden per definitionem von der Menschenwürde ausgeschlossen, und Lebewesen anderer Arten werden, wenn sie die entsprechenden Merkmale aufweisen, eingeschlossen. Letzteres scheint mir kein ernsthaftes Problem zu sein, da die Ausweitung von Schutzrechten auf Tiere ohnehin überfällig ist. Problematisch an diesen Bestimmungen ist vielmehr stets, dass es Grenzfälle gibt, z. B. dauerkomatöse Patienten, schwer Bewusstseinsgestörte oder die Anenzephalen (ohne Großhirn Geborene), die dann unter Umständen nicht der Schutzwürdigkeit teilhaftig werden, deren Ausschließung aber vielen ungerechtfertigt erscheint. Ich denke daher, dass andere Lösungen gefordert sind. Die neueren Entwicklungen der Biomedizin seit den siebziger Jahren stellen die Ethik vor die Frage, ob es überhaupt noch eine geeignete Begründungsstrategie ist, den Gegenstand, den wir geschützt wissen möchten, selbst als ontologisch mit der Würde ausgestattet zu sehen . Für diejenigen, die nicht glauben, dass seine moralische Dignität dem Embryo selbst schon innewohnt, sondern dass sie eine Zuschreibung ist, und denken, dass ethische Probleme nur über Konsensbildungen gelöst werden können, stellt sich die Aufgabe, die ethischen Fragen selbst anders zu fassen. Befürchtet wird dabei jedoch ein Dammbruch, wenn wir die Menschenwürde nicht mehr ontologisch im menschlichen Leben - vom Beginn an - verorten, das schleichende Ende der Menschenwürde als zentralem moralischem Wert und als historisch unverzichtbarem Fundament demokratischer Rechtskulturen. Diese Konsequenz scheint mir aber nicht zwangsläufig zu folgen, wenn wir nicht mehr mit der unplausibel gewordenen Menschenwürde als immanenter Qualität des Embryos selbst argumentieren. Eher droht eine allmähliche Erosion moralischer und ethischer Glaubwürdigkeit, wenn die Ethik der technischen Entwicklung immer nachhinkt und sich bemüht, unplausibel Gewordenes dennoch mit aller Kraft aufrechtzuerhalten. Der unverzichtbare Sinn des Konzepts Menschenwürde ist, dass wir menschliches Leben - wie Höffe mit Kant sagt, als "über allen Preis erhaben" betrachten. Doch der Preis ist nur ein wesentliches Moment, auch wenn er in der Medizinforschung eine große Rolle spielt. Menschenwürde festzuhalten heißt doch auch, Lebensbedingungen erhalten oder schaffen zu wollen, in denen Individuen Freiheitsspielräume zur persönlichen Lebensgestaltung haben . Die Menschenwürde in diesem Sinne im Blick zu haben, könnte in Bezug auf die Stammzell- und Embryonenforschung heißen, nach den gesellschaftlichen und politischen Folgen einer Nutzung von Embryonen und im weiteren Sinne dieser ganzen Technologieentwicklung zu fragen. Sind diese antizipierbaren oder zu befürchtenden Folgen mit der Würde des Menschen vereinbar und erstrebenswert? Viele längst in der Diskussion aufgeworfene Fragen, wie z. B. die nach dem Umgang mit Frauen, die ja als Embryo- oder Eizellspenderinnen gefordert sind, können uns hier eine erste Orientierung geben, wonach unter anderem zu fragen wäre. Würden sich z. B. ohnehin schon ausgesprochen risikobehaftete Behandlungen wie die IVF durch die erlaubte Gewinnung von ES-Zellen aus überzähligen Embryonen auf Kosten der Frauen verändern? Wie ließe sich das verhindern, und könnte Missbrauch kontrolliert und bestraft werden ? Doch auch andere Punkte müssten hier ausführlich beleuchtet werden. Ich möchte nur einige nennen, um die Richtungen aufzuzeigen: Es gälte nachzudenken über Folgendes: 1. Wie wären die Eigentumsfragen an den entwickelten Biotechnologien zu regeln, und zwar so, dass 2. der Einsatz damit entwickelter Therapien auch tatsächlich allen Menschen zugute kommen kann. 3. Wer wären die Profiteure dieser Technologieentwicklungen und wer würde darunter leiden bzw. dafür zahlen? 4. Welche Techniken und Kenntnisse werden in der Stammzellforschung zwangläufig mit entwickelt und stehen dann zur Verfügung, selbst wenn sich die Hoffnungen auf Stammzelltherapien zerschlagen sollten? Und was wären die erwartbaren Konsequenzen, sollten diese Techniken zum Einsatz kommen? 5. Was würde es bedeuten, Körperzellen des Menschen als therapeutisches Material zur Verfügung zu haben? Müssten alle Menschen dann in möglichst frühem Alter Zellreservoirs anlegen lassen? Wie werden diese z. B. verwaltet, überwacht etc.? Wem gehören meine Körperzellen . Auf diese Fragen Antworten zu finden würde viel Zeit und Reflexionsarbeit in Anspruch nehmen. Doch ethische Urteilsbildung zu einer Technologie, die so fundamentale, tradierte Selbstverständnisse umkrempeln könnte, ist ohne die Bearbeitung dieser Fragen nicht möglich. Dazu muss die biomedizinische Technologieentwicklung auf ihre impliziten ethischen und normativen Gehalte und ihre gesellschaftlichen Folgen hin untersucht werden. Erst danach kann man sich ein Urteil darüber bilden, ob die Methoden, Ziele und Konsequenzen dieser Forschung mit unseren pluralen Vorstellungen von einem würdigen Menschenleben vereinbar und also wünschenswert sind. Es scheint mir wahrscheinlich, dass die Beantwortung dieser Fragen zeigt, dass solche Technologien zur Krankheitsbehandlung neue Arten von Abhängigkeiten und gesellschaftlicher Verwaltung und Überwachung mit sich bringen. Die ethische und gesellschaftspolitische Frage würde dann lauten: Therapiechancen versus persönliche Freiheiten. Freiheiten sind dabei nicht nur Handlungsspielräume, sondern auch Seinsweisen und Le-bensformen, die sich den enger werdenden Maschen des Netzes von Normalitätsvorstellungen, das die biomedizinischen Technologien immer auch mit um das Menschsein herum weben, entziehen. Diese Alternative Therapiechancen versus weitere Spielräume menschlicher Lebensformen ist eine schwierige, weil von den Freiheitseinschränkungen zwar alle betroffen wären, aber sukzessive Einschnitte in persönliche Selbstbestimmungsrechte erstaunlich wenig Widerstand hervorrufen, während ernsthafte Erkrankungen mit dramatischem Angsterleben verbunden sind und m. E. jedem Individuum zugestanden werden muss, dass es in einer solchermaßen bedrohten Lebenssituation jede Möglichkeit, die ihm geboten wird, ergreift. Die Entscheidungen über neue Technologien müssen darum auch losgelöst von den akuten Krankheitsfällen und dem Therapieinteresse diskutiert und getroffen werden. 2. Forschungsdynamik und Technologieentwicklung Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass technische Entwicklungen stets nicht nur das bewirken (wenn überhaupt), was an Verbesserungen für das Leben der Menschen mit ihnen intendiert war. Wir müssen immer mit unerwarteten Neben- und Spätfolgen einer Technologie rechnen, und zwar auch in der Biomedizin. Allerdings sind die Zeiträume unserer Erfahrung mit diesen Techniken noch zu kurz, um Einzelfolgen absehen zu können, soweit sie nicht im Scheitern eines Therapieansatzes bestehen, wie wir ihn z. B. bei der somatischen Gentherapie feststellen mussten. Die Erfahrungen zeigen auch, dass Technologien, die einmal entwickelt sind, ihre Fortsetzung in anderen Bereichen finden und dass sowohl aufgrund international unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen als auch, weil eine umfassende Kontrolle der Forschungen und des Technikeinsatzes de facto unmöglich ist, auch Verbotenes immer wieder getan wird und auch heute noch die Öffentlichkeit häufig erst nach Vollendung mit den Tatsachen konfrontiert wird. Das jüngste Beispiel dafür sind die Kinder in den USA, die mit dem Erbgut dreier Elternteile ausgestattet wurden. Die IVF, die von vielen Medizinern mit dem Anspruch, unfruchtbaren Paaren zu helfen, entwickelt und ausgeübt wurde und wird, hat die technologischen Grundlagen für die Stammzellforschung und die Präimplantationsdiagnostik bereitgestellt. Diese sind, nach allem, was wir jetzt über die Embryonalentwicklung und ihre Steuerung in der Petrischale wissen, technikimmanent logische Weiterentwicklungen aus der Embryoerzeugung in vitro. Das heißt jedoch keineswegs - und hier widerspreche ich ausdrücklich dem Geist des so genannten Dammbrucharguments, mit dem auch die DFG in ihrer neuen Stellungnahme eben diese rechtfertigt -, dass wir diesen technisch vorgezeichneten Weg beschreiten müssten oder immer weiter gehen. Es ist nicht so, wie die DFG argumentiert, dass eine Gesellschaft, die die Spirale als Verhütungsmittel, den Schwangerschaftsabbruch nach Beratung und Indikation und die IVF als Infertilitätsbehandlung zulässt, damit unausgesprochen jeden Anspruch aufgibt, die Würde des Menschen am Lebensbeginn zu schützen. Im Gegenteil kann man an Versuchen wie dem ESchG sehen, dass Bemühungen, bestimmte Nutzungen eines Objekts zu verhindern, nicht grundsätzlich mit der Erlaubnis anderer Umgangsweisen mit demselben Objekt im Widerspruch stehen. Jede Technologie kann und muss für sich ethisch beurteilt werden. Deutlich wird das, wenn man z. B. die Diskussionen zum Thema Embryo und Menschenwürde zur Stammzellforschung und zur Präimplantationsdiagnostik miteinander vergleicht. In Ersterer spielt vor allem die Vernichtung von Embryonen für die Fremdnutzung eine Rolle, in Letzterer wird die Selektionsfrage brisant, bei der ganz andere kulturelle Erfahrungen und gesellschaftliche Folgen zu bedenken sind. Ethische Haltungen zu diesen Fragen zu entwickeln, die dann auch verbindlich eingehalten werden, ist freilich ein schwieriger Konsensfindungsprozess. Das Ergebnis muss unter Umständen später revidiert werden und ist nicht allen Betroffenen recht. Doch es gibt in diesen ethischen Fragen, auf die wir uns verständigen müssen, sicherlich keinen Rubikon, nach dessen Überschreitung alles verloren oder gewonnen sein müsste - je nach Sichtweise. Dass uns die Technikentwicklung und eine neue Interessenlage in einflussreichen Teilen der Gesellschaft dazu bringen kann, vormals für falsch gehaltene Handlungen (die darum evtl. verboten wurden) doch zuzugestehen, soll damit nicht ausgeschlossen werden. Allerdings lässt m. E. der derzeitige Forschungsstand mit humanen Stammzellen - erwähnt sei zur Erinnerung nur die Unkenntnis über deren therapeutisches Potential und das Risiko tumoröser Transplantate - eine solche Änderung in Bezug auf das ESchG nicht gerade dringlich erscheinen. Die Forderung der DFG nach einer Erlaubnis der Forschung mit humanen embryonalen Stammzelllinien begründet sie mit dem Forschungsinteresse und der Hochrangigkeit der Forschungsziele und damit implizit aber auch mit dem internationalen Konkurrenzdruck. Hier schwingt die Angst mit, dass alle Verfahrenspatente andere beantragen könnten, die Befürchtung, dass die deutschen WissenschaftlerInnen bei der Technologieentwicklung abgehängt werden könnten - dass damit auch der Industriestandort Deutschland gefährdet sein könnte. Doch eben diese Vermengung von Forschungsneugier, Verfahrensentwicklung und Patentschutz, die die gegenwärtige biotechnologische Forschung prägt, ebenso wie andere Forschungsfelder, ist für die ethische Betrachtung brisant und heikel. Das Argument der Forschungsfreiheit muss in Frage gestellt werden, wenn Forschung, Anwendung und Profitchancen so eng miteinander verquickt sind wie im Fall der Stammzellforschung. Der Druck durch andere Rechtsverhältnisse und andere moralische Einschätzungen in anderen Ländern ist kein ethisch oder moralisch gültiges Argument. Dass andere etwas tun, was wir selbst nicht für moralisch gerechtfertigt halten, ist kein Grund dafür, es selbst denn doch auch zu tun. Es sind in den letzten 20 Jahren Verfahren entwickelt worden, die eine qualifizierte Meinungsbildung zu Fragen der Technologieentwicklung und -einführung in einer komplexen Gesellschaft wie der unsrigen zumindest ermöglichen, etwa Konsensuskonferenzen und Bürgerforen. Allerdings geht die Technikentwicklung und Forschung in so vielen Bereichen heute so schnell voran, dass auch diese Verfahren mit Praktikabilitätsgrenzen zu kämpfen haben. Angemessene Methoden, zu Meinungsbildungen bezüglich der Technikentwicklung zu gelangen, bevor sich die einzelnen Technologien schon mehr oder weniger etabliert haben, stehen noch aus. Das enthebt uns jedoch nicht von der Verantwortung für unsere Gegenwart und Zukunft, nach den richtigen ethischen Entscheidungen zu suchen und darum zu streiten. Ich danke Michael Punzel für seine kritische Durchsicht des Manuskripts. Anmerkung der Redaktion: Zur Begrifflichkeit siehe das Glossar auf Seite 16. 1 Vgl. James A. Thomson u. a., Embryonic Stem Cell Lines derived from Human Blastocysts, in: SCIENCE, 282 vom 6. 11. 1998, S. 1145-1147; John Gearhart u. a., New Potential for Human Embryonic Stem Cells, in: SCIENCE, 282 vom 6. 11. 1998, S. 1061 f. Floyd E. Bloom, Breakthroughs 1999, in: SCIENCE, 286 vom 17. 12. 1999, S. 2267. Gretchen Vogel, Capturing the Promise of Youth, in: SCIENCE, 286 vom 17. 12. 1999, S. 2238 f. In der schon erwähnten ZEIT-Debatte von Anfang diesen Jahres sind die gängigen Positionen zur Menschenwürde des frühen menschlichen Lebens sehr pointiert vertreten worden. Ich beziehe mich daher auf diese Texte auch als Empfehlung zum Nachlesen. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu den Beitrag von Sigrid Graumann in diesem Heft. Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit menschlichen Stammzellen vom 3. Mai 2001. Auf einer Tagung vom 3.-5. Mai in Heppenheim, die unsere Darmstadt-Heidelberger Forschungsgruppe "Ethische Probleme der Forschung an und mit humanen Stammzellen" durchführte, stellten Dr. Jürgen Rohwedel aus Lübeck und Dr. Katja Prelle aus München die Forschungslage so dar, wie ich sie im Folgenden wiedergebe. Vgl. J. A. Thomson u. a. (Anm. 1). Vgl. J. Gearhart u. a. (Anm. 1). Bundesärztekammer, Richtlinien zur Verwendung fetaler Zellen und fetaler Gewebe, in: Deutsches Ärzteblatt, 88 (1991) 48, S. A- 4296-4298. Vgl. Henning M. Beier, Die Phänomene Totipotenz und Pluripotenz: Von der klassischen Embryologie zu neuen Therapiestrategien, in: Reproduktionsmedizin, (1999) 15, S. 190-199. Vgl. DFG-Stellungnahme zum Problemkreis "Humane embryonale Stammzellen" 1999. Vgl. Evelyn Strauss, Brain Stem Cells Show Their Potential, in: SCIENCE, 283 vom 22. 1. 1999, S. 471; Bjornson u. a., Turning Brain into Blood. Hematipoietic Fate Adopted by Adult Neural Stem Cells in Vivo, in: SCIENCE, 283 vom 22. 1. 1999, S. 534-537. Ingrid Schneider hat in "Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung: naturwissenschaftlich-medizinischer Sachstand, ethische Implikationen und gesellschaftliche Folgewirkungen" (in: Speyrer Texte 6, Optionen für eine Medizin der Zukunft?, K. Platzer/V. Hörner [Hrsg.], Januar 2001) besonders die problematische Patentsituation im Feld Stammzellforschung betont. Diese dränge die Wissenschaftler, eigene Stammzelllinien nach anderen Methoden entwickeln zu wollen - was aber bedeutet, in der Entwicklungsphase viele Embryonen zu verbrauchen (S. 28 f.). Vgl. Robert Spaemann, Gezeugt, nicht gemacht, in: Die Zeit vom 18. 1. 2001. Vgl. Reinhard Merkel, Rechte für Embryonen?, in: Die Zeit vom 25. 1. 2001. Barbara Duden hat in Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben (Hamburg-Zürich 1991) die historischen Veränderungen im Umgang mit dem Ungeborenen durch dessen medizinisch-technisch hergestellte Sichtbarkeit und Verfügbarkeit beschrieben. Vgl. dazu Christine Hauskeller, Die Stammzellforschung und das ärztliche Selbstverständnis zwischen wissenschaftlicher und ethischer Perspektive, in: Ethica, (2000) 4. Wie das besonders explizit Robert Spaemann in Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ,etwas' und ,jemand', Stuttgart 1996, tut, wenn er von Embryonen als ,jemand' spricht. Otfried Höffe, Wessen Menschenwürde?, in: Die Zeit vom 1. 2. 2001. Vgl. Franz J. Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation, Stuttgart 1998. Regine Kollek (Prämplantationsdiagnostik, Tübingen 2000) und Ingrid Schneider (Föten. Der neue medizinische Rohstoff, Frankfurt/M.-New York 1995) haben solche Fragen behandelt. Hier sei daran erinnert, dass das Transplantationsmedizingesetz das Eigentum an seinen Organen nicht dem Organspender selbst als persönliches zuspricht, um zu verhüten, dass Arme ihre verzichtbaren Organe als Geldquelle nutzen.
Article
Hauskeller, Christine
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26171/die-stammzellforschung-sachstand-und-ethische-problemstellungen/
Der Artikel gibt einen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand mit humanen Stammzellen. Am Beispiel des Textes "Empfehlungen der DFG zu Forschung mit menschlichen Stammzellen" zeigt er die ethischen Problemfelder auf.
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Editorial | Weimarer Republik | bpb.de
"Sorgen Sie dafür, dass die neue deutsche Republik, die wir errichten werden, nicht durch irgendetwas gefährdet werde!", soll der SPD-Politiker Philipp Scheidemann am Nachmittag des 9. November 1918, zwei Tage vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, einer Menschenmenge vom Reichstag aus zugerufen haben. Gefährdet war das demokratische Projekt trotz aller Euphorie des Augenblicks von Beginn an. Von den Rändern des politischen Spektrums immer wieder angefochten und von der Exekutive nicht konsequent verteidigt, konnte die Weimarer Republik den Belastungen durch Kriegsschäden, Reparationsverpflichtungen, Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit letztlich nicht standhalten. Oft ist es dieses Scheitern, das den Blick auf die 14 Jahre der ersten deutschen Demokratie bestimmt, sei es bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Zeichen einer Ursachenforschung, im Abgrenzungsdiskurs von der Kontrastfolie "Weimar" oder bei der Warnung vor "Weimarer Verhältnissen" in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen und politischer Verunsicherung. Die Attribute, mit denen die Weimarer Republik belegt worden ist, reichen von "ungeliebt" über "improvisiert" und "überfordert" bis hin zu "belagert". Gedeutet als reine "Zwischenkriegszeit", als von zwei Katastrophen eingerahmtes Intermezzo, droht sie mitunter im Bild eines "zweiten Dreißigjährigen Kriegs" vollends in den Hintergrund zu rücken. Zwar werden Potenziale und Leistungen der Weimarer Demokratie wie das 1918 eingeführte Frauenwahlrecht oder die von Außenminister Gustav Stresemann verfolgte Verständigungspolitik mit den Siegermächten mit Blick auf Kontinuitäten in der deutschen Demokratiegeschichte verstärkt hervorgehoben. Wenn sich im November 2018 die Ausrufung der ersten deutschen Republik zum hundertsten Mal jährt, stellt sich aber die Frage, wie eine offene Betrachtungsweise "Weimars" jenseits jeglicher Normierung im Rahmen eines Chancen- oder Sonderwegdiskurses aussehen kann.
Article
Anne-Sophie Friedel
"2021-12-07T00:00:00"
"2018-04-25T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/268351/editorial/
[ "APuZ Weimarer Republik Editorial", "APuZ 18-20/2018 Weimarer Republik" ]
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Präsidentschaftswahl in Tschechien | Hintergrund aktuell | bpb.de
Miloš Zeman ist für weitere fünf Jahre als Staatschef von Interner Link: Tschechien gewählt. Mit 51,4 Prozent gewann er jedoch nur knapp vor dem Politik-Neuling Jiří Drahoš, der 48,6 Prozent der Stimmen erhielt (Externer Link: vorläufiges Endergebnis). Die Wahlbeteiligung in der Stichwahl lag bei 66,6 Prozent. Beide Kandidaten stehen für eine sehr unterschiedliche Politik: Rechtspopulist Zeman ist vor allem bekannt für seine Kritik an der Europäischen Union und an Flüchtlingen, Drahoš gilt als liberal und prowestlich. Am 12. und 13. Januar fand die erste Runde der Präsidentschaftswahl statt. Dabei erhielt der Zeman 38,6 Prozent der Stimmen. Dahinter folgten Herausforderer Drahoš mit 26,6 Prozent, Pavel Fischer mit 10,2 Prozent, Michal Horáček mit 9,2 Prozent, Marek Hilser mit 8,8 Prozent, Mirek Topolanek mit 4,3 Prozent und Jiri Hynek mit 1,2 Prozent. Die übrigen Kandidaten erhielten jeweils weniger als ein Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Da kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte, fand am 26. und 27. Januar eine Stichwahl zwischen den Bewerbern mit dem meisten Stimmen - Zeman und Drahoš - statt. Die Wahl fand zu einer politisch unruhigen Zeit statt. Bei der Parlamentswahl im Oktober 2017 siegte der Unternehmer Andrej Babiš mit seiner Partei ANO. Im Dezember wurde Babiš vom amtierenden Präsidenten Miloš Zeman zum Chef einer Minderheitsregierung ernannt. Zeman unterstützt Babiš offen, diese Zusammenarbeit war besonders angesichts Zemans erneuter Präsidentschaftskandidatur Thema in Tschechien. Zumal die Partei von Babiš auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten verzichtet. Babiš verlor im Januar das Vertrauensvotum über seine Minderheitsregierung. Zeman gestattete Babiš, der nun kommissarisch regiert, jedoch einen neuen Versuch zur Regierungsbildung. Der tschechische Präsident ist mehr als nur Repräsentant des Staates Zum zweiten Mal, seit einer Verfassungsänderung 2012, wurde der Präsident direkt vom Volk gewählt. Vorher wurde er vom Abgeordnetenhaus und Senat gewählt. Kandidaten brauchen nun die Unterstützung von 20 Abgeordneten bzw. 10 Senatoren oder Unterschriften von 50.000 Bürgern, um zur Wahl antreten zu können. Bekommt kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, findet zwei Wochen später, am 27. und 28. Januar, eine Stichwahl zwischen den beiden Bewerbern mit den meisten Stimmen statt. Die tschechische Verfassung von 1992 weist dem Präsidenten eine stärkere Stellung als in Deutschland zu. Er kann Minister und Regierungsmitglieder ernennen oder ihres Amtes entheben sowie Richter des Verfassungsgerichts benennen (Artikel 62 der Verfassung). Andere Rechte des Präsidenten sind an die Zusammenarbeit mit der Regierung gebunden: zum Beispiel die Unterzeichnung internationaler Verträge oder die Ansetzung von Neuwahlen für beide Kammern des Parlamentes (Artikel 63). Das politische System Tschechiens Das politische System in Tschechien ist ein Zweikammersystem mit dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Der Präsident ist das Staatsoberhaupt. 2013 wurde er zum ersten Mal in zwei Wahlgängen direkt gewählt, mit einer Legislaturperiode von fünf Jahren. Eine Wiederwahl ist einmalig möglich. Der Präsident ernennt und enthebt den Ministerpräsidenten und die anderen Mitglieder der Regierung. Weiterhin kann der Präsident über ein aufschiebendes Veto Einfluss im Gesetzgebungsverfahren ausüben und in Krisensituationen unter bestimmten Bedingungen das Parlament auflösen. Das Abgeordnetenhaus hat 200 Mitglieder. Sie werden nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Eine Legislaturperiode hat eine Dauer von vier Jahren. Alle zwei Jahre stehen Wahlen zum Senat an - dann werden jeweils ein Drittel der 81 Sitze besetzt. Der Senat kann Gesetze an das Abgeordnetenhaus zur Änderung zurückverweisen oder ablehnen. Dann müssen die Mitglieder des Abgeordnetenhauses das Votum mit absoluter Mehrheit überstimmen. Darüber hinaus spielt der Senat vor allem bei verfassungsändernden Gesetzen und der Ernennung der Verfassungsrichter eine wichtige Rolle. Wer stand zur Wahl? Für die Präsidentschaftswahl 2018 bewarben sich insgesamt neun Kandidaten – allesamt männlich und mit einer Ausnahme auch älter als 50 Jahre (40 ist das Mindestalter für Kandidatinnen und Kandidaten). Interner Link: Amtsinhaber Miloš Zeman stellt sich zur Wiederwahl für eine zweite Amtszeit. Der 73-jährige ehemalige Sozialdemokrat ist Gründer und Mitglied der "Partei der Bürgerrechte" (Strana Práv Občanů, SPO), die derzeit nicht im Abgeordnetenhaus vertreten ist. Zeman ist seit 2013 Präsident – der erste, der direkt vom Volk gewählt wurde – und hatte bereits im März 2017 angekündigt, sich wieder zur Wahl zu stellen. Die Interner Link: rechtspopulistische Partei SPD unterstützt seine Kandidatur. Zeman ist für seinen EU- und flüchtlingskritischen Kurs bekannt. Europaweit für Schlagzeilen sorgte er unter anderem Ende 2015, weil er die Flüchtlingsmigration mit einer "organisierten Invasion" verglich. Die Interner Link: Integration von Muslimen hält Zeman für "unmöglich". Die Interner Link: Europäische Union hatte im Dezember 2017 angekündigt, unter anderem Tschechien vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen, weil sich das Land weigert, seine Quote bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu erfüllen. Zeman gilt als Verbündeter des neuen Ministerpräsidenten Andrej Babiš, dem viele politische Beobachter vorwerfen, ein Interner Link: Populist zu sein. Gegner Zemans in der Stichwahl war Jiří Drahoš. Der 68-jährige Chemieprofessor war bis März 2017 Präsident der tschechischen Akademie der Wissenschaften und vorher nicht in der tschechischen Politik aktiv – Anfang November vermeldete sein Büro, dass sich 142.000 Bürger in die Unterstützerlisten eingetragen hätten, also etwa zwei Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung Tschechiens. Er trat als unabhängiger Kandidat an, wird aber von den Christdemokraten (KDU-CSL) und von der liberal-konservativen STAN unterstützt. Inhaltlich positionierte sich der liberale Drahoš gegen Zeman: Ihm könne es nicht gleichgültig sein, dass Populismus und Interner Link: Extremismus Zulauf hätten, sagte er über die Beweggründe seiner Bewerbung. Er ist auch gegen ein Referendum über einen etwaigen Interner Link: Austritt Tschechiens aus der EU. Das politische System in Tschechien ist ein Zweikammersystem mit dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Der Präsident ist das Staatsoberhaupt. 2013 wurde er zum ersten Mal in zwei Wahlgängen direkt gewählt, mit einer Legislaturperiode von fünf Jahren. Eine Wiederwahl ist einmalig möglich. Der Präsident ernennt und enthebt den Ministerpräsidenten und die anderen Mitglieder der Regierung. Weiterhin kann der Präsident über ein aufschiebendes Veto Einfluss im Gesetzgebungsverfahren ausüben und in Krisensituationen unter bestimmten Bedingungen das Parlament auflösen. Das Abgeordnetenhaus hat 200 Mitglieder. Sie werden nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Eine Legislaturperiode hat eine Dauer von vier Jahren. Alle zwei Jahre stehen Wahlen zum Senat an - dann werden jeweils ein Drittel der 81 Sitze besetzt. Der Senat kann Gesetze an das Abgeordnetenhaus zur Änderung zurückverweisen oder ablehnen. Dann müssen die Mitglieder des Abgeordnetenhauses das Votum mit absoluter Mehrheit überstimmen. Darüber hinaus spielt der Senat vor allem bei verfassungsändernden Gesetzen und der Ernennung der Verfassungsrichter eine wichtige Rolle. Weitere Kandidaten des ersten Wahlgangs Mirek Topolánek trat ebenfalls als unabhängiger Kandidat an. Er war von September 2006 bis Mai 2009 Ministerpräsident von Tschechien und Mitglied der liberal-konservativen ODS, die seine Kandidatur unterstützt. Topolánek gab seine Kandidatur erst kurz vor dem Anmeldeschluss Anfang November bekannt. Aufgrund seiner vorherigen Erfahrung als Politiker galt er ebenfalls als starker Kandidat. Ähnlich wie Zeman ist auch Topolánek dafür bekannt, sich gegen den Zuzug von Migranten zu positionieren und übt oft starke Kritik an der EU. Topolánek gilt als Kritiker des derzeitigen Regierungschefs Babiš. Auch der 65-jährige Michal Horáček, Schriftsteller, Journalist und Wett-Unternehmer aus Prag, trat als unabhängiger Kandidat an. Bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur sagte er, das Amt des tschechischen Präsidenten könne "seriöser und kompetenter" ausgefüllt werden. Seine Kampagne finanzierte er selbst. Zudem bewarben sich der Unternehmer Jiří Hynek für die konservative Partei Realisté, der pro-europäische frühere tschechische Botschafter in Interner Link: Frankreich, Pavel Fischer, der Musiker Petr Hannig für die nationalistische Partei Rozumní, der Unternehmer Vratislav Kulhánek für die liberale Partei ODA und der Wissenschaftler und Aktivist Marek Hilšer. Mehr zum Thema: Interner Link: Hintergrund aktuell (28.01.2013): Miloš Zeman ist Tschechiens neuer Präsident Interner Link: Segert, Dieter: Tschechien - Entwicklung bis zum Ende der Monarchie Interner Link: Weiss, Stephanie: Zivilgesellschaft in Tschechien
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"2022-04-12T00:00:00"
"2018-01-08T00:00:00"
"2022-04-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/262633/praesidentschaftswahl-in-tschechien/
Der amtierende tschechische Präsident Miloš Zeman hat sich in der Stichwahl am 26. und 27. Januar knapp gegen seinen Herausforderer Jiří Drahoš durchgesetzt. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen konnte kein Kandidat die absolu
[ "Wahl", "Präsidentschaftswahl", "Tschechien", "Milos Zeman", "2018" ]
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Aus Russischen Blogs: Russische Blogger zu den Regionalwahlen | Russland-Analysen | bpb.de
Drei Szenarien des Wahlausgangs aus dem Stab von Nawalnyj "Eine Stichwahl ist unvermeidlich aber wohl unmöglich, denn Stichwahl würde Zusammenbruch des ganzen politischen Systems bedeuten", konstatiert Leonid Wolkow, Abgeordneter des Stadtrats Jekaterinburg und Leiter des Wahlstabs von Alexej Nawalnyj. Wolkow präsentiert vier Tage vor der Bürgermeisterwahl in Moskau drei Szenarien des Wahlausgangs und macht anhand von eigenen Umfragen eine Wahlprognose: künftiger Bürgermeister ist Sergej Sobjanin, er bekommt 44–47 %, der Oppositionelle Alexej Nawalnyj 26–29 %, der Kandidat der Kommunistischen Partei Iwan Melnikow 10–12 %. "Politische Prognose" von Leonid Wolkow, 4. September 2013, Externer Link: http://leonwolf.livejournal.com/517394.html Bürgermeister Sobjanin soll "geguttenbergt" haben Der Journalist Sergej Parchomenko analysierte anhand eines Berichts der Vereinigung "Dissernet", die sich mit Plagiaten in wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt, mit der Dissertation von Sergej Sobjanin "Föderationssubjekte in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Russlands" und stellte fest, dass es sich an mehreren Fundstellen um identische Sätze aus fremden Dissertationen und Monographien handelt. Außerdem besteht Parchomenko darauf, die Dissertation sei nicht eigenständig vom Autor verfasst, sondern gekauft worden. "Sergej Sobjanin. Nichts persönliches, alles fremd" von Sergej Parchomenko, 5. September 2013, Externer Link: http://cook.livejournal.com/230335.html Militärischer Nachrichtendienst hat gewählt Anton Nosik, IT-Experte und populärer Blogger, erzählt in seinem Blog über die Stimmabgabe von 1.500 "streng geheimen" Wählern im Wahllokal Nr. 469 in Moskau. All diese Personen sind Mitarbeiter des militärischen Nachrichtendienstes GRU und hatten aufgrund ihrer hohen Sicherheitseinstufung fiktive Namen, Anmeldung und Anschrift. Dazu wurden zehn Mitarbeiter von vier verschiedenen Geheimdiensten als "Wahlbeobachter" eingesetzt. "GRU und Wahlen: Ein Fall aus der Praxis" von Anton Nosik, 9. September 2013, Externer Link: http://dolboeb.livejournal.com/2564405.html Boris Nemzow wurde Abgeordneter in Jaroslawl Die Oppositionspartei "RPR-PARNAS" hat bei den Wahlen zur Gebietsduma in Jaroslawl die Fünf-Prozent-Hürde überwunden. Das einzige Mandat bekam der Ko-Parteivorsitzende, ehemalige Ministerpräsident und Putin-Kritiker Boris Nemzow. In seinem Blog berichtet er vom Verlauf der Wahlkampagne, administrativen Ressourcen, schwarzen Wahltechnologien und Wahlbetrug. Die Region hat erst vor zwei Monaten für Schlagzeilen gesorgt, als der Jaroslawler Bürgermeister und Gegner der Putin-Partei "Einiges Russland" Jewgenij Urlaschow wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde. "Sie haben sich sehr bemüht, uns nicht reinzulassen – das hat nicht geklappt" von Boris Nemzov, 9. September 2013, Externer Link: http://www.echo.msk.ru/blog/nemtsov_boris/1153684-echo/ "Rojsman kann es, Nawalny kann es nicht" Kremltreue Bloggerin und ehemalige Pressesprecherin der Jugendorganisation "Naschi" (Die Unseren) äußert scharfe Kritik gegenüber Nawalny für seine Unfähigkeit, selbst bei fairen Wahlen die Niederlage anzuerkennen, und wirft ihm vor, die Verantwortung für Provokationen bei der Massenkundgebung am Bolotnaja-Platz zu tragen. "Lüge über faire Wahlen" von Kristina Potuptschik, 9. September 2013, Externer Link: http://krispotupchik.livejournal.com/535058.html Zusammengestellt von Sergej Medvedev (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache)
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"2021-06-23T00:00:00"
"2013-09-13T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/169126/aus-russischen-blogs-russische-blogger-zu-den-regionalwahlen/
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8. März: Weltfrauentag | Hintergrund aktuell | bpb.de
"Keine Sonderrechte, sondern Menschenrechte" - das forderte die deutsche Sozialistin Clara Zetkin 1910 auf dem II. Kongress der Sozialistischen Internationale in Kopenhagen. Ein Jahr später gingen erstmals Frauen in Deutschland, Österreich, Dänemark und der Schweiz zum Frauentag auf die Straße. Ihre zentrale Forderung: Einführung des Frauenwahlrechts und Teilhabe an der politischen Macht. Außer in Interner Link: Finnland durften zu diesem Zeitpunkt in keinem europäischen Land Frauen wählen. In Interner Link: Deutschland wurde Frauen dieses Recht erst 1918 zugestanden. In der Schweiz dürfen Frauen sogar erst seit 1971 wählen. Geschichte des Weltfrauentags Der Weltfrauentag hat eine über 100-jährige Geschichte. In Deutschland wurde der Internationale Frauentag Interner Link: während der NS-Herrschaft als sozialistischer Feiertag verboten. Stattdessen propagierten die Nationalsozialisten den Muttertag und die "biologische Verpflichtung" der Frau. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde der 8. März schon zwei Jahre nach Kriegsende wieder gefeiert. Mit der Gründung des Interner Link: Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) 1947 in Berlin begann in der SBZ eine Tradition der Würdigung von Frauen, die sich besonders auf ihre Arbeitskraft bezog. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) verwandelte den Frauentag unter dem Motto "Gruß und Dank den Frauen" in den 1950er Jahren zum staatlich angeordneten Feierritual. Fraueninteressen wurden den allgemeinen politischen Zielen der DDR untergeordnet. Als (potenzielle) Mütter, die dazu berufen seien, das Leben zu schützen, sollten sich die DDR-Frauen an der Seite der Sowjetbürgerinnen und Frauen aus anderen "friedliebenden Ländern" in die Front gegen den "westlichen Imperialismus" einreihen. Im Zuge der Interner Link: neuen Frauenbewegung in der Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre gelangte er wieder in das westdeutsche Bewusstsein zurück. Seit den 1980er Jahren hat er in ganz Westeuropa wieder an Bedeutung gewonnen. Die Forderungen hingen wesentlich von den historischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts kämpften Frauen für ihre fundamentalen politischen und bürgerlichen Rechte, wie etwa das Recht auf Bildung. In den 1960er und 70er Jahren erreichte die Frauenbewegung im Interner Link: Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen 218 einen Höhepunkt. Wichtige Forderungen der Frauenbewegung heute sind die Frage nach der Rolle von Frauen in politischen Entscheidungsprozessen sowie der weltweite Kampf gegen Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Diskriminierung per Gesetz In der DDR war die Gleichberechtigung der Geschlechter verfassungsmäßig geregelt: "Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben die gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe" (Art. 20, Abs. 2 der Verfassung der DDR). In der BRD erhielt mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 die Gleichbehandlung von Frau und Mann in Gestalt des Gleichstellungsartikels (Art. 3 GG) Verfassungsrang. Am 1. Juli 1958 wurde die Vorgabe des Grundgesetzes mit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes (GleichberG) dann auch Gesetzeswirklichkeit. Zuvor war es Frauen zum Beispiel nicht erlaubt, ohne Zustimmung ihres Ehemannes ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Auch die Verfügungsgewalt über das Geld hatte der Mann. Mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1958 war Diskriminierung per Gesetz jedoch noch nicht abgeschafft. Erst seit 1977 brauchen Ehefrauen nicht mehr die Einwilligung ihres Mannes, um arbeiten zu dürfen. Zudem wurde Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 strafbar. Gegenwärtiger Stand Gewalt gegen Frauen Interner Link: Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eine der am weitesten verbreiteten und systematisch begangenen Menschenrechtsverletzungen. "UN Women", die für Gleichberechtigung zuständige Sektion der Vereinten Nationen, definiert Gewalt gegen Frauen als jegliche geschlechtsbasierte Gewalt, durch die Frauen physisch, sexuell oder psychologisch leiden. Auch Männer und Jungen erfahren Gewalt. Gewalt gegen Frauen wird jedoch spezifisch als "in Geschlecht begründet" ("gender-based") definiert, da Frauen durch ihre strukturell benachteiligte Rolle in der Gesellschaft speziellen Formen von Gewalt besonders stark ausgesetzt sind. Am häufigsten äußert sich Gewalt gegen Frauen in häuslicher und sexueller Gewalt, in sexueller Belästigung sowie emotionaler und psychischer Gewalt. Sexuelle Gewalt ist zudem eine weitverbreitete Kriegstaktik: Durch systematische Vergewaltigungen soll dabei der Widerstand der Bevölkerung gebrochen werden. Auch weibliche Interner Link: Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Mord an weiblichen Neugeborenen, Frauenhandel oder sogenannte "Ehrenmorde" zählt die UN zum Feld der Gewalt gegen Frauen. Besonders betroffen sind in Kriegsgebieten lebende Frauen und Mädchen, die u.a. ethnischen oder sexuellen Minderheiten angehören, keinen legalen Aufenthaltsstatus haben oder etwa in Gefängnissen inhaftiert sind. Das Risiko für arme Frauen, Gewalt ausgesetzt zu sein, ist doppelt so hoch wie für Männer - vor allem in Entwicklungsländern. In einer weltweiten UN-Umfrage (2011) gaben je Land zwischen 15 und 76 Prozent der Frauen an, schon einmal physische und/oder sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Der Großteil dieser Gewalt findet im häuslichen Umfeld statt. Eine Milliarde Frauen, so schätzt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, sind weltweit Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden - ein Drittel aller Frauen. Gewalt durch eine/-n Beziehungspartner/-in haben in Deutschland etwa 25 Prozent der Frauen zwischen 16 und 85 Jahren schon einmal erlebt, so eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Reproduktive Rechte von Frauen In vielen Ländern der Welt werden die reproduktiven Rechte von Frauen, wie sie z.B. von den Vereinten Nationen 1994 formuliert wurden, nicht hinreichend geschützt. Zu den reproduktiven Rechten gehört unter anderem das Recht auf ein sicheres und selbstbestimmtes Sexualleben, das Recht auf Familienplanung, der Zugang zu effektiven Verhütungsmitteln und das Recht auf Gesundheitsvorsorge für eine sichere Schwangerschaft und Geburt. Vor allem auf ärmere Frauen in Entwicklungsländern wirkt sich die fehlende Durchsetzung dieser Rechte unmittelbar aus: Die Folge sind unter anderem ungewollte Schwangerschaften, hohe Müttersterblichkeit und sexuell übertragbare Infektionen wie HIV. Laut UN-Weltbevölkerungsbericht 2012 haben 220 Millionen Frauen in Entwicklungsländern keinen Zugang zu Verhütung und Familienplanung. Zehntausende Frauen sterben jedes Jahr allein durch Komplikationen bei der Schwangerschaft oder Geburt. Die gläserne Decke: Frauen in der Arbeitswelt Insgesamt hat sich die Situation der Interner Link: Frauen auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren weltweit verbessert. Mit 68 Prozent liegt der Anteil der erwerbstätigen Frauen in Deutschland über dem OECD-Durchschnitt von 60 Prozent. Allerdings werden Frauen nach wie vor schlechter bezahlt als Männer - laut OECD-Gleichstellungsbericht für die OECD-Länder beträgt der Lohnunterschied durchschnittlich 16 Prozent bei mittleren Einkommen. In Deutschland sind es 22 Prozent. Bereinigt nach Gleichheit der Arbeit und Qualifikation sind es noch etwa acht Prozent. Hauptgrund für das Missverhältnis ist der Studie zufolge für viele Frauen das Problem, Karriere und Familie zu vereinbaren. Viele Frauen arbeiten in Teilzeit, insbesondere Mütter: Bei 25- bis 54-Jährigen mit Kindern in Schule oder Ausbildung sind es 62 Prozent. Zum Vergleich: In Frankreich liegt der Anteil nur bei 26 Prozent. Allerdings gibt es auch hier positive Entwicklungen. Die Einführung der Elternzeit in Deutschland im Jahr 2007 hat dazu geführt, dass mehr Väter eine Auszeit nehmen. 2007 waren es lediglich 9 Prozent, Ende 2010 waren es bundesweit über 25 Prozent. Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist die Erwerbsquote von Müttern, deren Partner in Elternzeit ist, doppelt so hoch wie von Müttern, deren Partner nicht in Elternzeit ist. Frauen in Führungspositionen In deutschen Führungsetagen sind Frauen nach wie vor Interner Link: unterrepräsentiert. Das zeigt ein Blick in die Vorstände und Aufsichtsräte der DAX-Unternehmen: Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) waren 2012 nur vier Prozent aller Vorstands- und knapp 13 Prozent aller Aufsichtsratssitze in den 200 größten Unternehmen in Deutschland von Frauen besetzt. Im europäischen Vergleich belegt Deutschland damit den sechsten Rang. Allerdings hat der prozentuale Anteil in den vergangenen Jahren in beiden Gremien zugenommen. Vor allem die größten Unternehmen beriefen in jüngster Zeit Frauen in ihre Vorstände. Derzeit gilt in Deutschland eine unverbindliche Selbstverpflichtung, den Anteil an Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. 2011 hatten die 30 DAX-Unternehmen dazu individuelle Zielvorgaben gemacht. Eine gesetzliche Regelung lehnten die Konzerne allerdings ab. Mehr zum Thema Interner Link: Christina Holtz-Bacha: Politikerinnen-Bilder im internationalen Vergleich Interner Link: Daniela Grunow: Arbeit von Frauen in Zeiten der Globalisierung Interner Link: Marei Pelzer:"Geschlechtsspezifische Verfolgung findet in vielen Fällen im Privaten statt Interner Link: Hintergrund aktuell (04.03.2016): Weltfrauentag Interner Link: Hintergrund aktuell (06.03.2017): Frauen auf dem Arbeitsmarkt der EU
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"2021-09-05T00:00:00"
"2013-03-07T00:00:00"
"2021-09-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/156226/8-maerz-weltfrauentag/
Am 8. März begehen Frauen in aller Welt den Internationalen Frauentag. Seit mehr als 100 Jahren fordern sie an diesem Tag Gleichberechtigung und prangern die nach wie vor herrschende Gewalt gegen Frauen an. Auch im Arbeitsleben sind Frauen gegenüber
[ "Weltfrauentag", "Frau", "Geschlecht", "Gender", "Diskriminierung", "Gleichberechtigung", "Arbeit", "Familie" ]
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Workshop: Innere Führung | 17. Bensberger Gespräche 2020 | bpb.de
Oberst i.G. Reinhold Janke, Abteilungsleiter im Zentrum Innere Führung, leitete den Workshop zur Bedeutung der Inneren Führung mit dem Verweis auf unterschiedliche Selbstdarstellungen der beiden deutschen Streitkräfte ein; hierbei wurde insbesondere die bei der Nationalen Volksarmee (NVA) immer wieder berufene Gefechtsbereitschaft in Verbindung mit eindeutigen Feindbildern deutlich: So führt ein NVA-Soldat "auf Wacht für Frieden und Sozialismus" mit seinem Gewehrkolben einen Schlag auf eine Schlange aus, die mit "NATO"-Zähnen, Eisernem Kreuz, Hakenkreuz und Sigrunen als Zunge versehen ist. Ein weiterer Unterscheidungsaspekt zur Bundeswehr war die Bedeutung von Kontrolle und Überwachung. Dies zeigte sich unter anderem in der geradezu allgegenwärtigen Versiegelung und Geheimhaltung – doch führte dies gleichsam zu Ermüdungserscheinungen, denn wenn alles geheim ist, wird diese Klassifizierung entsprechend entwertet. Im Workshop wurden diverse Leitfragen zur angeregt geführten Diskussion gestellt: Was trennte die Angehörigen der NVA von denjenigen der "alten" Bundeswehr (d.h. bis 1990), sei es sozio-politisch/ideologisch, historisch, mental/soziologisch oder auch handwerklich/technisch? Gab es gemeinsame Werte, Tugenden, Haltungen, Vorstellungen, Überzeugungen, Lebensziele, Wünsche? Warum konnte die Armee der Einheit gelingen? Welche Rolle spielte dabei die Innere Führung? Gibt es heute noch Unterschiede und Barrieren? Wenn ja, wie können sie beseitigt werden? Diverse Teilnehmende verfügten über eigene Erfahrungen in den west-, ost- und gesamtdeutschen Streitkräften, was sich für die gemeinsame Diskussion als sehr bereichernd erwies. So wurde mehrfach darauf verwiesen, dass die technische Ebene problemlos integrationsfähig war – Motoren müssen beispielsweise mit entsprechender Expertise gewartet werden. Gleichsam spielte die Selbstwahrnehmung der (nun ehemaligen) NVA-Soldaten als "hart" (einsatzbereit, kampftauglich, etc.) und deren Wahrnehmung der Bundeswehr hingegen als "weich" (bzw. verweichlicht) eine immer wiederkehrende große Rolle. In diesem Zusammenhang unterstrich Janke, dass die Innere Führung nicht als sozialwissenschaftliches Konstrukt entwickelt wurde, um Soldaten ziviler erscheinen zu lassen, sondern vielmehr zielt sie "auf die Optimierung von Einsatz- und Gefechtsbereitschaft" ab. Ein Teilnehmender verwies auf russische Soldaten, für die das Konzept der Inneren Führung einen "inneren Wert" darstellte, die sie mit ihrer eigenen Einsatzerfahrung in Afghanistan abglichen. Ein großer Teil der Diskussion im Workshop behandelte das unterschiedliche Traditionsverständnis. So verwies ein Diskutant auf die Bedeutung von ehemaligen Offizieren der Wehrmacht für den Aufbau der Bundeswehr und von ehemaligen Wehrmachts-Unteroffizieren für denjenigen der NVA. Gleichsam habe es bei der Bundeswehr eine recht tiefgehende Untersuchung über die politische Vorgeschichte der Soldaten gegeben, während man bei der NVA unkritischer vorging. Andere Teilnehmende verwiesen auf die Generalfeldmarschälle Friedrich Paulus und Ferdinand Schörner; ersterer war für die NVA tätig, letzterer galt als überzeugter Nationalsozialist, hatte nach seiner Freilassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft das Angebot zur Übernahme in die NVA abgelehnt, siedelte nach München über und wurde dort als Kriegsverbrecher verurteilt. Die Kasernennamen wurden ebenfalls diskutiert: Während in der DDR oft ein klarer antifaschistischer Namensbezug erfolgte, wurden bei der Bundeswehr häufig frühere Namen fortgeführt; die erste Benennung nach einem Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime erfolgte mit der Julius-Leber-Kaserne erst nach der deutschen Einheit. Bei Namensgebungen der Bundeswehr der 1960er Jahre wurde häufig ausgeblendet, dass die Wehrmacht eben nicht rein militärisch und damit losgelöst von der Politik agierte, sondern immer ein Herrschaftsinstrument der nationalsozialistischen Diktatur war. Die Diskussion wurde bis zu den Herausforderungen des dritten Traditionserlasses fortgeführt. Kann man sich wirklich auf die Bundeswehr selbst zur Traditionsstiftung reduzieren – oder gibt es nicht auch Möglichkeiten, ideenpolitische Vorläufer zur Revolution 1848/1849 oder zu den Einigungskriegen einzubeziehen? Die ethische Dimension wurde ebenso diskutiert: Die NVA war von ihrer Grundrichtung marxistisch (Primat der Ökonomie) und leninistisch (führende Rolle der Partei), während die ethische Dimension eher ausgeblendet wurde. Vielmehr forderte die NVA – wie die Wehrmacht – unbedingten Gehorsam. Ebenso wurde auf den Lebenskundlichen Unterricht (LKU) in der Bundeswehr verwiesen: In jenen geradezu revolutionären Einheiten besprechen Soldaten auf gemeinsamer Augenhöhe ethische Fragestellungen. Die Wehrpflicht als bestimmender Faktor beider Streitkräfte wurde ebenfalls adressiert, bis hin zu den einsatzbedingten Kontakten zur Bevölkerung (z.B. Ernteeinsätze der NVA, die eigentlich im Widerspruch zur hohen Gefechtsbereitschaft standen). An gemeinsamen Werten wurden soldatische Tugenden wie Tapferkeit und Patriotismus definiert – und gleichsam die Schwierigkeiten eines heutigen Patriotismus‘ adressiert. "Nationale Volksarmee" enthielte hingegen gleich "drei toxische Begriffe, mit denen heute viele ihre Schwierigkeiten haben". Ein anderer Teilnehmender sah wiederum durch den "gelebten Zwang" (Zitat aus dem "Handbuch für Mot-Schützen") der NVA keine gemeinsame Basis für Werte und Tugenden. Letztendlich wurden ca. 11.000 Soldaten der NVA in die Bundeswehr übernommen, dazu viele zivile Angestellte. Der Erfolg wurde mit der guten Menschenführung und dem im besten Falle gegenseitigen Respekt begründet. Auch hier wurde die Degradierung der in die Bundeswehr übernommenen NVA-Soldaten adressiert: In der NVA wurde ausschließlich nach Dienstzeit befördert, nicht nach Dienstposten, was zu zahlreichen auch höheren Offizieren führte. Zudem konnten viele Dienstposten vom Leutnant bis zum Oberstleutnant (also nahezu alle Offiziersgrade unterhalb der Generalsränge) besetzt werden – während dieselben Tätigkeiten in der Bundesehr oft von Unteroffizieren oder gar Mannschaftsdienstgraden wahrgenommen wurden. Zur Frage der immer noch vorhandenen Barrieren hieß es, es gäbe in der Bundeswehr keine sichtbaren Unterschiede, sondern den auch in den Medien konstruierten Ost-West-Diskurs, während andere Diskutanten auf die vereinigende Bedeutung der Musik verwiesen, oder darauf, dass die Bundeswehr aufgrund der Durchmischung der Einheiten und der frühzeitigen Verlagerung zahlreicher Ausbildungseinrichtungen und anderer Behörden in den Osten eher vereinigt war als viele andere Bereiche unserer Republik. An bleibenden Herausforderungen wurden die sich heutzutage verfestigenden Milieus genannt, da die Soldatinnen und Soldaten heimatnäher und unter Vermeidung häufiger Versetzungen dienen. Dokumentation: Martin Bayer
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"2021-06-23T00:00:00"
"2020-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bensberger-gespraeche/305812/workshop-innere-fuehrung/
Oberst i.G. Reinhold Janke vom Zentrum Innere Führung erarbeitete mit den Teilnehmenden, welche Rolle die Innere Führung bei der Zusammenführung von Soldaten ehemals verfeindeter Streitkräfte zu einer "Armee der Einheit" spielte.
[ "Dokumentation", "17. Bensberger Gespräche", "30 Jahre Einheit", "DDR", "Mauerfall", "Ost- und Westdeutschland", "NVA" ]
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M 02.11 Krieg und Flucht | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de
Das Material legt anhand eines Diagrammes dar, aus welchen Ländern die meisten Flüchtlinge stammen. Des Weiteren beinhaltet es drei Zitate von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen aus ihrer Heimat fliehen mussten. Die Lernenden sollen anhand des Materials einen Perspektivwechsel vollziehen und Gründe für ein Verlassen des Heimatlandes erkennen. Anzahl der Flüchtlinge weltweit in Millionen: Syrien weltweit an der Spitzenposition. (© UNHCR 2015) Familie Kolani aus dem Irak: „Wir waren ständig mit der Gewalt gegen uns Christen konfrontiert. Jeden Tag hatten wir Angst um unsere Kinder. 2011 wurden drei Busse mit christlichen Studenten in die Luft gesprengt. Als Adel einen Anruf erhielt, wenn er weiterhin in die Universität ginge, würden sie ihn umbringen, sind wir in die Türkei geflohen.“ Lina aus dem Süd Sudan: „Wir kamen wegen der Krise hierher. Als kämpfende Menschen in unser Dorf kamen, rannten wir weg. Das war ein sehr anstrengender Weg, besonders mit den kleinen Kindern. Ich musste immer meinen Bruder festhalten, sonst hätten wir ihn verloren. Ich habe ihnen ja schon erzählt, dass er nicht gut sieht.“ Ibrahim aus Nigeria: "Ich rannte neben meinem Vater und sie töteten ihn. Als ich die Schüsse hörte, hatte ich Angst. Mein Vater sagte, ich solle rennen. Als sie uns sahen, schossen sie auf ihn und er fiel hin. Sie töteten meinen Vater. Ich weinte und sie zogen ihre Macheten und schlugen mich auf den Kopf. Ich bin ohnmächtig geworden. Ich konnte mich nicht bewegen. Später habe ich mich unter einen Baum in den Schatten geschleppt. Sie kamen zurück, hoben mich auf. Sie dachten, ich sei tot. Sie gruben ein Loch und warfen mich hinein und deckten mich mit Sand zu." Aus: Uno Flüchtlingshilfe (Hrsg.), Flüchtlinge erzählen ihre Geschichte, Externer Link: www.uno-fluechtlingshilfe.de (23.03.2016). Aufgaben: Aus welchen Ländern kommen die meisten Flüchtlinge? Hast du bereits, aus den Medien oder durch Erzählungen, etwas über die im Diagramm aufgeführten Länder gehört? Schreibe stichpunktartig auf, was dir zu diesen Ländern einfällt! Vergleiche deine Stichpunkte mit den Zitaten! Erläutere, aus welchen Gründen Menschen ihre Heimat verlassen. Das Arbeitsmaterial Interner Link: M 02.11 Krieg und Flucht ist als PDF-Dokument abrufbar. Anzahl der Flüchtlinge weltweit in Millionen: Syrien weltweit an der Spitzenposition. (© UNHCR 2015)
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"2022-05-30T00:00:00"
"2016-02-16T00:00:00"
"2022-05-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/220951/m-02-11-krieg-und-flucht/
Das Unterrichtsmaterial beinhaltet Zahlen, aus welchen Ländern die meisten Flüchtlinge stammen und Zitate von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen aus ihrer Heimat fliehen mussten.
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Ungleiche Schwestern? Demokratie und Diktatur im Urteil von Jugendlichen | Nationalsozialismus | bpb.de
Die Studie "Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen" des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin hat in den Medien zu einigen Irritationen geführt. Wissen deutsche Jugendliche wirklich nicht, dass Hitler ein Diktator war? Glauben sie tatsächlich, dass es in der DDR freie Wahlen gab, man aber in der Zeit vor der Wiedervereinigung nicht ohne Weiteres aus der Bundesrepublik auswandern konnte? Wie kann es trotz jahrelangem Geschichts-, Politik- und Sozialkundeunterricht zu solch gravierenden Fehleinschätzungen kommen? Das dreijährige Forschungsprojekt brachte tatsächlich einige befremdliche bis erschreckende Ergebnisse. Gegenstand der Studie waren Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen über den Nationalsozialismus, die DDR sowie die Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung. Neben einem vergleichenden Überblick über das Wissen der 15- und 16-Jährigen zu diesen Systemen interessierten uns insbesondere ihre Systembewertungen sowie die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen den zeitgeschichtlichen Kenntnissen und den Urteilen gibt. Die Studie bestand aus drei unterschiedlichen Teilprojekten. Den größten Umfang nahm dabei eine repräsentative Querschnittbefragung ein. Hierfür befragten wir in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen insgesamt 4627 Schülerinnen und Schüler der im jeweiligen Bundesland relevanten allgemeinbildenden Schularten. Die Jugendlichen sollten dabei Wissens- und Einstellungsfragen beantworten sowie verschiedene Aussagen über die unterschiedlichen Systeme bewerten. In einem weiteren Teilprojekt befragten wir 30 (andere) Klassen aus denselben Bundesländern über einen Zeitraum von rund eineinhalb Jahren hinweg mehrfach. Diese ungleich aufwendigere Befragung konnte – anders als der Querschnitt – nicht repräsentativ angelegt werden. Im Ergebnis zeigen sich aber große Ähnlichkeiten zwischen Längsschnitt- und Querschnittuntersuchung, sodass davon auszugehen ist, dass auch die Ergebnisse des Längsschnitts durchaus typisch sind. In der Längsschnittbefragung stellten wir den Schülerinnen und Schülern zu Beginn und am Ende der Untersuchung dieselben Fragen, um die Veränderung von Kenntnissen und Urteilen nachvollziehen zu können. Die Urteilsfragen waren dabei so formuliert, dass die Jugendlichen dieselben Äußerungen unmittelbar nacheinander für jedes der vier Systeme bewerteten, sodass sich jeweils ein Set subjektiv konsistenter Bewertungen ergab. Darüber hinaus legten wir im Längsschnitt den Jugendlichen Kurztexte mit den abstrakten Beschreibungen fünf hypothetischer Staaten zur Bewertung vor. Diese Form der Untersuchung – der faktorielle Survey – hatte zum Ziel, die Urteile der Jugendlichen über unterschiedliche Staats- und Gesellschaftsformen unabhängig von konkreten historischen Systemen, sozialer Erwünschtheit, familiären Bezügen oder dem "Image" eines Systems zu erheben. Das dritte Teilprojekt schließlich befasste sich mit den Auswirkungen von Gedenkstättenbesuchen auf zeithistorische Kenntnisse und Urteile. Hierzu kooperierten wir mit vier Berliner Gedenkstätten (dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der Topographie des Terrors, der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sowie dem Berliner Stasi-Museum) und befragten Schulklassen am Ort der Gedenkstätte unmittelbar vor dem Besuch derselben. Diese Untersuchung umfasste 60 Klassen mit insgesamt 1992 Schülerinnen und Schülern. Zusätzlich konnten wir 20 dieser Klassen etwa ein halbes Jahr nach deren Gedenkstättenbesuch erneut befragen. Zeitgeschichtliches Wissen der Jugendlichen Als ein erstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass das zeitgeschichtliche Wissen von Jugendlichen insgesamt eher gering ausgeprägt und zudem in mehrfacher Hinsicht unterschiedlich verteilt ist. So differieren die Schüler der beteiligten Bundesländer nicht nur hinsichtlich des Kenntnisstandes, sondern auch hinsichtlich der Zunahme des Wissens über die Zeit. Am besten schneiden Sachsen-Anhalt und Thüringen ab, das Schlusslicht in allen Untersuchungsteilen bildet Nordrhein-Westfalen. Je nach Gegenstand ist das Wissen der Schüler unterschiedlich groß. Von den vier abgefragten Systemen konnten sie nur für den Nationalsozialismus mehr als die Hälfte der Wissensfragen richtig beantworten. Über die anderen Systeme wissen sie deutlich weniger (siehe Tabelle der PDF-Version). Bei Multiple-Choice-Fragen mit vier Antwortmöglichkeiten gaben beispielsweise nur jeweils 30 bis 40 Prozent von ihnen korrekt an, wer den Bau der Berliner Mauer veranlasst hat, was am 17. Juni 1953 geschah oder wie die Partei Die Linke beziehungsweise PDS vor 1990 hieß. Erwartbar waren dagegen schulartspezifische Differenzen in den Kenntnissen. Gymnasien schneiden deutlich besser ab als alle anderen Schularten. Unerwartet war hingegen das schlechte Abschneiden der Gesamtschüler. Sie wissen bisweilen kaum mehr als Hauptschüler und werden in puncto Wissen von den Realschülern übertroffen. Eine weitere deutliche Differenz besteht zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Kinder mit Migrationshintergrund verfügen über deutlich weniger Wissen über die deutsche Zeitgeschichte als Kinder ohne Migrationshintergrund. Dieser Unterschied zeigt sich bereits vor der Behandlung der entsprechenden Themen in der Schule. Auch wenn, so die Befunde der Längsschnittuntersuchung, diese Kinder durchaus vom Geschichtsunterricht profitieren, können sie die bestehende Lücke zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern ohne Migrationshintergrund nicht schließen. Die Differenz resultiert aus vor- und außerunterrichtlichen Einflüssen. Ein deutlicher Unterschied dürfte dabei im Inhalt von Familiengesprächen über Geschichte bestehen. Zwar unterscheiden sich solche Gespräche zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund kaum hinsichtlich der Quantität, doch regt die klassische Aufforderung von Kindern an ihre Eltern und Großeltern "Erzähl doch mal von früher …" in diesen beiden Gruppen offensichtlich Erzählungen und Gespräche über unterschiedliche Thematiken an. Daraus folgt, dass der zeitgeschichtliche Unterricht gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund von großer Bedeutung ist. Zusammenhang zwischen Kenntnissen und Urteilen Man mag sich streiten, welche der gestellten Fragen Jugendliche unbedingt richtig beantworten können sollten. Keinen Zweifel kann es jedoch an der Notwendigkeit politisch-historischer Kenntnisse geben, denn erst das Wissen um grundlegende Fakten ermöglicht ein fundiertes Urteil. Ohne ein Mindestmaß an Wissen bleiben Einschätzungen Vorurteile oder Bekenntnisformeln. Insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Kenntnisgrad und der Angemessenheit der Urteile auf Basis der Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das überwiegend nicht gute, teilweise sogar ausnehmend geringe zeitgeschichtliche Wissen ist mehr als nur eine wenig schmeichelhafte Unannehmlichkeit. Es ist ein zentraler Grund dafür, dass viele Jugendliche den Nationalsozialismus nicht als Diktatur betrachten und die Bundesrepublik nicht als Demokratie. Kenntnisse sind jedoch eine entscheidende Erklärungsvariable für die Bewertung eines Systems als diktatorisch oder demokratisch, aber auch hinsichtlich der Frage, ob die Jugendlichen einen qualitativen Unterschied zwischen den vier von uns erfragten Systemen sehen. Abhängig von der genauen Fragestellung erklärt die Höhe der Kenntnisse über 30 Prozent der Varianz bei der Bewertung der Systeme sowie bei der Einschätzung der Systeme als Diktatur oder Demokratie. Der Einfluss der Kenntnisse auf die Systembeurteilungen ist damit stärker als beispielsweise die Herkunft der Eltern, die besuchte Schulform oder die Parteipräferenz. siehe Abbildung 1 der PDF-Version verdeutlicht diesen Zusammenhang unmittelbar: Je höher die Kenntnisse der Schüler sind, desto positiver sehen sie die beiden Demokratien und desto negativer die beiden Diktaturen. Systembewertungen der Jugendlichen Angesichts dieser Ausführungen ist es wenig überraschend, dass Urteile und Einschätzungen der Jugendlichen bezogen auf die vier Systeme bisweilen fast abenteuerlich anmuten. Grundsätzlich charakterisieren zwar Mehrheiten der Befragten Nationalsozialismus und DDR als Diktaturen und die beiden Bundesrepubliken als Demokratien. Dennoch zeigt eine nähere Betrachtung, dass vielen Schülerinnen und Schülern die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur nicht bewusst sind. Teile von ihnen scheinen mit Begriffen wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit oder freien Wahlen allenfalls etwas Diffus-Positives zu verbinden. Einigen gelingt aber nicht einmal das. Sie deuteten beispielsweise einen Rechtsstaat als "Staat von Rechten, also Nazis". In Ermangelung konkreten Wissens konstruieren sie bisweilen höchst bizarre Geschichtsbilder. Zur Bewertung der Systeme präsentierten wir den Jugendlichen Aussagen, zu denen sie sich mittels einer Skala ("stimme voll zu", "stimme eher zu", "lehne eher ab", "lehne voll ab") äußern sollten. Die Statements decken unterschiedliche Dimensionen ab wie beispielsweise die Einschätzung eines Demokratie- beziehungsweise Diktaturcharakters, Sozialpolitik, Meinungsfreiheit oder Wirtschaftspolitik. Darüber hinaus sollten die Schüler Aussagen über eine mögliche Gleichwertigkeit der Systeme bewerten. Aus den Einzelantworten wurde das Gesamtbild eines Systems errechnet und dieses dann in den Kategorien positiv, neutral und negativ erfasst. Diese zusammengefassten Systembewertungen der Jugendlichen zeigen überwiegend eine eindeutige Tendenz. Ein positives Bild vom Nationalsozialismus haben knapp zehn Prozent der Befragten, ein neutrales Bild dieser Diktatur weist etwa ein Viertel auf; etwa zwei Drittel der Jugendlichen beurteilen ihn negativ. Jugendliche mit Migrationshintergrund sehen den Nationalsozialismus positiver als ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund. Jugendliche mit Eltern aus dem Nahen Osten beispielsweise schätzen ihn zu knapp 18 Prozent positiv ein, solche mit türkischen oder kurdischen Eltern zu knapp 16 Prozent. Etwas positiver als über den Nationalsozialismus fällt das Urteil der Jugendlichen über die DDR aus. Gut zehn Prozent werten die DDR positiv, mehr als ein Viertel sieht die sozialistische Diktatur neutral, 63 Prozent der Befragten haben ein negatives DDR-Bild. Allerdings macht sich hier der Einfluss von in der DDR geborenen Eltern stark bemerkbar. Von ihren Kindern beurteilt nur gut die Hälfte die DDR negativ, etwa 35 Prozent fällen ein neutrales Urteil. Die alte Bundesrepublik schneidet bei der Systembewertung überraschend schlecht ab: Nur gut ein Drittel der Befragten sieht sie durchgängig positiv. Die meisten Jugendlichen – fast die Hälfte – haben ein neutrales Bild von dem zwischen 1949 und 1990 existierenden System. Ein negatives Bild von der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung haben gut 15 Prozent. Kinder von in der Bundesrepublik geborenen Eltern sehen die alte Bundesrepublik deutlich positiver als jene von in der DDR und im Ausland geborenen Eltern (44,2 Prozent; 34,6 Prozent; 31,9 Prozent). Das wiedervereinigte Deutschland schneidet im Vergleich der Systembewertungen eindeutig am besten ab. Knapp zwei Drittel der befragten Jugendlichen haben ein positives und nur sehr wenige ein durchgängig negatives Bild von dem Staat, in dem sie leben. Allerdings fällt das positive Urteil bei Jugendlichen mit Eltern aus der Bundesrepublik deutlich höher aus als bei denen mit Eltern aus der DDR oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund (71,7 Prozent; 57,1 Prozent; 59,9 Prozent). Dennoch lässt sich insgesamt festhalten, dass das wiedervereinigte Deutschland eindeutig das "Lieblingssystem" der befragten Jugendlichen ist. Es ist allerdings auch das einzige der vier Systeme, das die Jugendlichen aus eigenem Erleben kennen. Insofern gehen wir davon aus, dass ihr Urteil auch ihre allgemeine Lebenszufriedenheit widerspiegelt. Die Systembewertungen der Jugendlichen brachten zwei für uns überraschende Ergebnisse: Erstens bestehen zwischen den Vorstellungen und Urteilen im Hinblick auf die beiden Bundesrepubliken vor und nach der Wiedervereinigung deutliche Differenzen. Demzufolge gibt es unter den Jugendlichen kein verbreitetes Bewusstsein für die große politisch-institutionelle Kontinuität beider Systeme – für Menschen mit Lebenserfahrungen in beiden Zeiträumen mag dies schwer nachvollziehbar sein. Für Jugendliche sind die Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung aber offensichtlich zwei verschiedene (Lebens-)Welten. Die Unterschiede, die sie etwa hinsichtlich der demokratischen Legitimation von Regierungen oder der Gewährleistung von Meinungsfreiheit empfinden, lassen sich allerdings in der Realität schwerlich wiederfinden. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Jugendlichen in den vier Systemen nicht zwei Demokratien und zwei Diktaturen erkennen, sondern ein gutes und drei mehr oder weniger schlechte Systeme. Der zweite Befund ist nicht minder auffällig: Die in den Bewertungen der Jugendlichen zum Ausdruck kommende Differenz zwischen der DDR und der alten Bundesrepublik ist oftmals überraschend gering. Wer sich an die unterschiedlichen Realitäten in Ost und West zu Zeiten der Teilung erinnert (oder auch nur etwas darüber gelernt hat), kann diese Urteile kaum nachvollziehen. Grundsätzlich unterscheiden sich die Systembeurteilungen im Längsschnitt von den im Querschnitt befragten Jugendlichen nur in Nuancen. Wie im Querschnitt sieht hier eine große Mehrheit den Nationalsozialismus negativ. Positiv oder neutral beurteilt dieses System nur eine Minderheit. Die DDR wird ebenfalls überwiegend negativ gesehen, wenngleich vor allem in den östlichen Bundesländern das Urteil etwas weniger eindeutig ausfällt als hinsichtlich des Nationalsozialismus. Hier wird die DDR deutlich häufiger neutral gesehen. Auch in der Längsschnittuntersuchung zeichnen viele Jugendliche ein stark unterschiedliches Bild von der alten Bundesrepublik und dem wiedervereinigten Deutschland. Anders als bei den anderen drei Systemen gibt es hinsichtlich der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung keine dominierende Sichtweise, vielmehr stehen hier unterschiedliche Einschätzungen nebeneinander. Zu Beginn unserer Untersuchung urteilte eine relative Mehrheit neutral, das heißt, die von den Jugendlichen gesehenen besseren und schlechteren Aspekte halten sich die Waage. Zugleich haben nahezu gleich starke größere Gruppen ein positives beziehungsweise negatives Bild dieses Systems. Die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung schneidet auch im Längsschnitt im Urteil der Jugendlichen am besten ab. Eine sehr deutliche Mehrheit beurteilt das System positiv, dementsprechend schätzen nur kleine Minderheiten (insbesondere Kinder von in der DDR oder im Ausland geborenen Eltern) das wiedervereinigte Deutschland neutral oder negativ ein. In den Systembeurteilungen verstärken sich in den nachfolgenden Befragungen für alle Systeme mit Ausnahme der alten Bundesrepublik die zuvor bereits vorhandenen Urteilstendenzen deutlich. Der Nationalsozialismus und die DDR werden negativer als zuvor eingeschätzt, wobei erneut die DDR im Urteil der Jugendlichen besser abschneidet als der Nationalsozialismus. Während zuletzt rund 15 Prozent den Nationalsozialismus positiv oder neutral bewerten, liegt der entsprechende Anteil für die DDR bei über 30 Prozent, also mehr als doppelt so hoch. Das wiedervereinigte Deutschland hingegen gewinnt an Zustimmung; 85 Prozent der Befragten beurteilen das System nun positiv, nur noch 15 Prozent sehen es neutral oder negativ. Einen "Sonderfall" stellt erneut die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung dar. Für dieses System geht mit dem nun deutlich geringeren Anteil neutraler Bewertungen ein leicht höherer Anteil negativer sowie ein deutlich höherer Anteil positiver Einschätzungen einher. Damit beurteilen zuletzt 38 Prozent der Jugendlichen dieses System positiv und jeweils gut 30 Prozent neutral oder negativ. Auch bei leichter objektivierbaren Aspekten, etwa den Fragen nach der Möglichkeit ungehinderter Auswanderung oder dem Einfluss von Wahlen auf die Politik, fällt das Urteil über die beiden Bundesrepubliken deutlich auseinander. Die alte Bundesrepublik scheint für viele Jugendliche eine Art "Black Box" zu sein. Sie wissen nicht viel über dieses System, vermuten aber auch nicht viel Gutes, sodass sich erneut der Eindruck bestätigt, dass sich in der subjektiven Wahrnehmung der Jugendlichen drei, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, schlechte und ein gutes System gegenüberstehen. Gleichwertigkeit der Systeme? Neben detaillierteren Urteilen über jedes der vier Systeme fragten wir nach einer möglichen Gleichwertigkeit der Systeme. Dazu sollten die Schüler angeben, ob sie die unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Systeme und die Gewährleistung von Menschenrechten, individueller Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit als gleichwertig ansehen. Mit Ausnahme des politischen Systems, bei dem knapp 17 Prozent von einer Gleichwertigkeit ausgehen, ist dies bei rund 30 Prozent der Befragten der Fall. Eine gleiche Gewährleistung von Menschenrechten in den vier Systemen sehen sogar gut 36 Prozent der Jugendlichen. Insgesamt werden die Aussagen zur Gleichwertigkeit durchgängig nur von rund 60 Prozent der Befragten abgelehnt, wobei sich die Herkunft der Eltern stark auf die Einschätzung auswirkt. Kinder von Eltern aus der Bundesrepublik lehnen zu gut 70 Prozent, die von Eltern aus der DDR zu knapp 60 Prozent und die von im Ausland geborenen Eltern zu rund 50 Prozent eine Gleichwertigkeit von Diktaturen und Demokratien ab. Diese Ergebnisse belegen ebenfalls, dass es überraschend vielen Befragten an Fähigkeiten zur Differenzierung zwischen Demokratie und Diktatur mangelt. Aber auch hier gilt: je höher das Wissen, desto angemessener das Urteil. Eine Gleichwertigkeit der Systeme nehmen vor allem Schüler mit geringem zeitgeschichtlichen Wissen an (siehe Abbildung 1 der PDF-Version). Bild vom Nationalsozialismus Zwar sieht eine große Mehrheit der Jugendlichen den Nationalsozialismus negativ, jedoch bestehen im Detail recht befremdliche oder sogar erschreckende Einschätzungen dieses Systems, wie siehe Abbildung 2 der PDF-Version zeigt. Im Längsschnitt sollten die Jugendlichen ebenfalls verschiedene Aspekte der vier Systeme beurteilen, darunter: "Demokratie gibt es in diesem System faktisch nicht." Das glauben für den Nationalsozialismus in der ersten Befragungswelle nur gut zwei Drittel der Befragten, in der Wiederholungsbefragung zum Ende des Untersuchungszeitraums waren es mit 70,5 Prozent kaum mehr. Damit sehen – nach der Behandlung des Nationalsozialismus im Unterricht – fast 30 Prozent demokratische Elemente im NS-Staat. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Umgang mit der doppelten Verneinung einigen Schülern schwer fällt, kann der hohe Anteil ablehnender Antworten allein damit nicht erklärt werden. Zudem bleibt es das Geheimnis der Jugendlichen, was genau dieses System als Demokratie qualifiziert – Wahlen sind es zumindest für einen großen Teil von ihnen nicht. Mit einem weiteren Statement erfragten wir in der Längsschnittuntersuchung, ob nach Ansicht der Jugendlichen die Menschen durch Wahlen die Politik mitbestimmen können. Zum ersten Befragungszeitpunkt und damit vor beziehungsweise zu Beginn der Behandlung dieses Themas im Unterricht, bejahten für den Nationalsozialismus gut 25 Prozent diese Aussage; in der Replikationsbefragung reduzierte sich dieser Anteil auf knapp 13 Prozent. Damit zeigt sich zum einen, dass bei einer zwar kleinen, aber nicht zu vernachlässigenden Minderheit trotz Geschichtsunterricht und häufig auch anderen Angeboten der politischen Bildung solch historisch unzutreffende Vorstellungen bestehen bleiben. Zum anderen wird deutlich, dass wesentlich weniger Jugendliche im Nationalsozialismus die Möglichkeit politischer Mitbestimmung durch Wahlen sehen, als es Jugendliche gibt, die dieses System als zumindest verhalten demokratisch charakterisieren. Zwei weitere Statements befassen sich mit der Meinungsfreiheit im Nationalsozialismus: "Unterschiedliche Meinungen und Interessen werden öffentlich diskutiert" sowie "Es gibt Meinungs- und Pressefreiheit". In der ersten Befragungswelle 2010 sprechen sich jeweils rund 20 Prozent für diese Aussagen aus. In der Replikationsbefragung aus dem Jahr 2011 sind es mit 10,6 Prozent beziehungsweise 7,5 Prozent (Meinungs- und Pressefreiheit) deutlich weniger Befragte. Allerdings zeigt eine nähere Analyse, dass viele Jugendliche nicht beiden Aussagen zustimmen, sondern eines der beiden Statements ablehnen, dem anderen aber zustimmen. Damit gab es ihrer Ansicht nach zwar keine Meinungsfreiheit, aber unterschiedliche Meinungen konnten trotzdem öffentlich diskutiert werden oder umgekehrt. Hier zeigt sich ein ähnliches Phänomen wie zuvor im Hinblick auf den Zusammenhang von Wahlen und Demokratie. Um nicht alle Jugendlichen als politisch "unzurechnungsfähig" zu disqualifizieren, interpretieren wir diese Diskrepanz als Ausdruck dafür, dass es einem nennenswerten Teil von ihnen nicht gelingt, theoretische Konzepte wie beispielsweise Grundfreiheiten – deren Bedeutung und die Konsequenzen ihres Fehlens – auf die Realität zu übertragen oder in dieser wiederzuerkennen. Diese Transferschwierigkeiten werden besonders in einem weiteren Untersuchungsteil, dem faktoriellen Survey, deutlich. Bewertungen hypothetischer Staaten Die oben dargestellten Befunde werfen Fragen nach den Gründen für die jeweiligen Urteile der Schüler auf – nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, sondern vor allem auch für die politische Bildung. Ist die Zustimmung zu einem Statement als Provokation gemeint? Wie stark ist das Antwortverhalten durch Konformität mit dem sozial Erwünschten geprägt? Welche Werthaltungen und Einstellungen beeinflussen die Beurteilung eines Systems jenseits dieser Faktoren? Um diese Fragen beantworten zu können, führten wir im Rahmen der Längsschnittuntersuchung einen faktoriellen Survey durch, bei dem die Jugendlichen fünf Kurzbeschreibungen von hypothetischen Staaten erhielten. Für jeden Staat wurden die Aspekte persönliche, wirtschaftliche und politische Freiheit, das Wohlstandsniveau und das System der sozialen Absicherung in drei verschiedenen Ausprägungen beschrieben. Die Jugendlichen sollten die hypothetischen Staaten im Hinblick auf zwei Fragen mit Schulnoten bewerten: "Möchte ich in diesem Staat leben?" und "Wäre dies ein guter Staat für alle Menschen?". Ziel war es, Bewertungen unterschiedlicher politischer Systeme unabhängig von Faktoren wie dem Image eines Systems oder sozialer Erwünschtheit zu erheben. Das Ergebnis fällt unerwartet eindeutig aus und ist mit den sonstigen von den Jugendlichen geäußerten Systembewertungen auf den ersten Blick nicht in Übereinstimmung zu bringen. In allen Bundesländern, für alle Schularten und für beide Geschlechter zeigt sich eine eindeutige Präferenz für liberale Staaten. Je liberaler ein Staat ist, desto besser wird er benotet, desto lieber möchten die Jugendlichen in ihm leben und für desto besser geeignet halten sie ihn als Lebenshintergrund für alle Menschen. Auch aus den Kommentaren, die wir während der Erhebung vernahmen, wurde deutlich, dass die Jugendlichen Einschränkungen individueller Freiheit entschieden ablehnen. Allerdings spiegelt sich diese eindeutige Präferenz weder in den Urteilen über die realen Systeme noch in den Antworten auf andere Einstellungsfragen wider. Obschon also Freiheit für die Jugendlichen ein hohes Gut darstellt, sind sie oftmals nicht in der Lage, Einschränkungen oder Bedrohungen derselben in der (historischen) Realität zu erkennen. Vielen fällt es offenbar ausgesprochen schwer, entsprechende Transferleistungen zu erbringen. Konsequenzen für die politische Bildung Vor diesem Hintergrund erscheinen manche befremdlichen Befunde in einem anderen Licht: Die vermeintliche Demokratiefeindlichkeit oder Diktaturaffinität dürfte sich in vielen Fällen als ein solches Transferproblem erweisen. Diese Erklärung beruhigt jedoch nur auf den ersten Blick, denn aus ihr folgen hohe Anforderungen an politische Bildung. Doch auch "verordnete" Einstellungen helfen nicht weiter. So begrüßenswert es ist, dass sich gegenüber dem Nationalsozialismus inzwischen eine eindeutig ablehnende normative Bewertung etabliert hat, ist damit der politischen Bildung nur bedingt geholfen. Die "richtige" Einstellung alleine versetzt Jugendliche nicht in die Lage, ihre Urteile auch auf konkrete Einzelfragen, auf andere Situationen oder andere Systeme zu übertragen. Im Ergebnis führt dies, gemeinsam mit ihrem geringen Wissen, zu erschreckenden Befunden, etwa zu dem Ergebnis, dass etwa jeder Dritte die Gestapo für eine Sonderpolizei hält, wie sie auch jeder demokratische Staat hat. Dem Ministerium für Staatssicherheit attestieren dies sogar insgesamt knapp 35 Prozent der Befragten (Kinder von in der DDR geborenen Eltern: 40,2 Prozent). Politische Bildung sollte ein Bewusstsein für die Bedeutung einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie wecken, damit Jugendliche die Wichtigkeit von Abwehrrechten, der Gewaltenteilung, der individuellen Freiheit und der Möglichkeit des gewaltlosen Regierungswechsels erkennen. Dieser Anspruch richtet sich insbesondere an Schulen. Für die Lehrpläne ebenso wie für den konkreten Unterricht, die Lehrpersonen und die von ihnen gelehrten Inhalte ist eine Ausrichtung an den Maßstäben der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unabdingbar. Dabei müssen Konzepte wie persönliche, wirtschaftliche und politische Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder pluralistische Demokratie die Grundlage der Bewertung von Systemen bilden. Schulunterricht sollte nicht – wie nicht wenige Lehrer und Zeithistoriker behaupten – prinzipiell "ergebnisoffen" sein, sondern er sollte dies nur in dem normativen Rahmen sein, den die freiheitlich-demokratische Grundordnung absteckt. Da es "die" Schule nicht gibt, bedeutet die Umsetzung dieser Anforderungen somit für jede Schule etwas anderes. Insbesondere sollten sie nicht als Aufforderung zu einer gedankenlosen Steigerung des Ressourceneinsatzes fehlinterpretiert werden – weder in finanzieller Hinsicht noch bezogen auf das Engagement vieler Lehrkräfte. Dass sich Engagement bisweilen auch kontraproduktiv auswirken kann, zeigt sich etwa im Hinblick auf Gedenkstättenbesuche. Eingebettet in eine Vor- und vor allem in eine Nachbereitung, die den Schülern eine Einordnung und Verarbeitung des Gesehenen und Gehörten erlaubt, können solche Besuche ein wertvoller Beitrag zur politisch-historischen Bildung sein. Werden jedoch mehrere Gedenkstättenbesuche beispielsweise in das enge Zeitkorsett einer Klassenfahrt gedrückt, ist vielen Jugendlichen eine angemessene Verarbeitung der dargebotenen Informationen nicht möglich. In der entstehenden Verwirrung können Informationen verfälscht oder falsch zugeordnet werden oder es bildet sich eine Verweigerungshaltung heraus – zumal die politische Bildung nur für die wenigsten Jugendlichen zu den Höhepunkten einer Klassenfahrt zählt. Ein strukturierter und stetiger Geschichtsunterricht kann hier unter Umständen mehr bewirken. Verlässliche Normalität ohne Ausnahmen, "Action" und "Highlights" mag unmodern sein, bedeutet jedoch nicht, dass diese Form von Unterricht schlecht ist, im Gegenteil: Manchmal kann weniger mehr sein. Fazit Die Studie "Später Sieg der Diktaturen?" belegt, dass das zeitgeschichtliche Wissen von Jugendlichen häufig recht gering ist. Durchschnittlich am meisten wissen die Befragten über den Nationalsozialismus; über die DDR und die Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung wissen sie deutlich weniger. Dieser Befund ist deshalb so problematisch, weil mit einem geringen zeitgeschichtlichen Wissen nach den Maßstäben der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unangemessene Urteile einhergehen. Auch dies hat die Studie gezeigt. Daraus aber auf eine grundsätzliche Diktaturaffinität der Jugendlichen oder ihre Distanz zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten zu schließen, wäre falsch. Im Gegenteil erbrachte unsere Befragung, dass die meisten Schülerinnen und Schüler freiheitliche Systeme sehr schätzen. Viele von ihnen sind jedoch nicht in der Lage, Einschränkungen oder Bedrohungen dieser Freiheit in der (historischen) Realität zu erkennen. Damit einher geht das Phänomen, dass für viele die Trennlinien zwischen Demokratie und Diktatur verschwimmen. Festhalten lässt sich, dass bessere, wertorientiert vermittelte zeitgeschichtliche Kenntnisse bei Jugendlichen unabdingbar sind. Sie sind Voraussetzung dafür, dass Jugendliche theoretisch und vor allem auch praktisch lernen, die wesentlichen Unterschiede zwischen Demokratien und Diktaturen zu erkennen. Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder/Rita Quasten/Dagmar Schulze Heuling, Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt/M. 2012. In der Replikationsbefragung wurden die Fragen in einer veränderten Reihenfolge präsentiert.
Article
, Monika Deutz-Schroeder | , Rita Quasten | , Klaus Schroeder | , Dagmar Schulze Heuling
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-08-02T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/141900/ungleiche-schwestern-demokratie-und-diktatur-im-urteil-von-jugendlichen/
Aufgrund mangelnden zeithistorischen Wissens können viele Jugendliche nicht zwi­schen Demokratien und Diktaturen unterscheiden, so das Ergebnis der Studie „Spä­ter Sieg der Diktaturen?“. Erforderlich ist eine wertorientierte politische Bildung.
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IT-Sicherheit im US-Wahlkampf | USA | bpb.de
Wahlen werden weltweit immer digitaler. Das bietet neben vielen Vorteilen auch neue Herausforderungen: Am Beispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016 lässt sich gut nachvollziehen, wie mit Interner Link: Desinformation und Interner Link: Cyberoperationen versucht wurde, Einfluss auf die Wahl zu nehmen. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 haben die USA sowohl auf Regierungsebene als auch auf zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene Maßnahmen ergriffen, um sich gegen die Wirksamkeit von Cyberoperationen und Interner Link: Desinformation zu schützen. Cyberoperationen und Desinformation im US-Präsidentschafts-wahlkampf 2016 Im Vorfeld der letzten US-Präsidentschaftswahlen 2016 mischte sich Russland mittels Cyberangriffen in den Wahlkampf ein: Russland griff 2015 und 2016 mittels solcher Cyberangriffe die Demokratische Partei auf Bundesebene (Democratic National Committee, DNC) an. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DNC schickte der russische Geheimdienst innerhalb von fünf Tagen dutzende Interner Link: Spear-Phishing-E-Mails an die Arbeits- und persönlichen Konten. Auch betroffen waren freiwillige Unterstützerinnen und Unterstützer der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton. Ziel war es, in deren Computersysteme einzudringen, um mithilfe der gestohlenen Informationen, unter anderem Passwörter, in die Netzwerke des DNC einzudringen. So erhielt der russische Geheimdienst auch Zugriff auf die E-Mails von Clintons Wahlkampfchef, John Podesta. Interner Link: [1] Dort gewonnene Informationen wurden veröffentlicht, was für die Demokraten hochbrisant war. Denn die E-Mails heizten bestehende Zweifel darüber an, wie neutral das DNC bei der Wahl zwischen der Präsidentschafts-Anwärterin Clinton und Anwärter Bernie Sanders war. Die Vorsitzende des DNC trat in der Folge zurück. Interner Link: [2] Ausspähung: Datenbanken der Wählerinnen und Wähler Cyberoperationen dienen außerdem dazu, Schwachstellen von IT-Systemen auszunützen, um an laufende Kommunikation oder gespeicherte Daten zu kommen. Interner Link: [3] Dieselbe russische Geheimdiensteinheit, die für die Cyberangriffe auf das DNC verantwortlich war, zielte auch auf US-Wahlbüros sowie US-amerikanische Hersteller von Wahlgeräten ab. Etwa im Juni 2016 kompromittierte der russische Militärnachrichtendienst GRU das Computernetz des Staates Illinois und erhielt – durch eine Sicherheitslücke auf der Webseite – Zugriff auf eine Datenbank mit Informationen zu Millionen registrierter Wählerinnen und Wähler in Illinois. Interner Link: [4] Zudem gab der Gouverneur in Florida an, dass auch zwei Bezirke in seinem Staat betroffen waren und auch dort ein Zugriff auf jene Daten möglich war. Interner Link: [5] Verzeichnisse über Stimmberechtigte sind wichtig für die Wahl, weil eine Veränderung der Daten dazu führen kann, dass Wählerinnen und Wähler daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben oder dies erst nach einer erneuten Verifizierung tun können. In diesem Fall wurden allerdings keine Änderung der Daten oder Abstimmungen belegt. Allein der Versuch des Eindringens kann jedoch schon problematisch sein, da dadurch die Legitimation der Ergebnisse der Wahlen angezweifelt werden könnte. Interner Link: [6] Soziale Medien: Hetzerische Inhalte und gefälschte Accounts Ein Dreh- und Angelpunkt russischer Aktivitäten in den sozialen Medien in den USA war die Interner Link: Internet Research Agency (IRA). Dieses Unternehmen steuerte laut US-Regierungsermittlungen gefälschte Social-Media-Accounts auf Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und Tumblr, um unter anderem hetzerische Botschaften zu gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen zu verbreiten. Interner Link: [7] Oftmals gaben sich IRA-Mitarbeitende dabei als US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger oder gemeinnützige Vereine aus. Welche Auswirkungen diese Aktivitäten auf die Wahl hatten, ist umstritten. Einige Analysen sprechen von einer amateurhaften Kampagne Interner Link: [8] und verweisen darauf, dass Ausmaß und Auswirkungen von (russischer) Desinformation nicht klar erfasst sind Interner Link: [9a]. Andere betonen, dass Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner mit IRA-Inhalten in Kontakt gekommen sind, die oft dazu dienen sollten, etwa Minderheiten von der Wahl abzuhalten oder Streit unter den Unterstützerinnern und Unterstützern der Demokraten anzustacheln Interner Link: [9b]. Es lässt sich in jedem Fall sagen, dass es der IRA gelang, ihre Inhalte über kleine Gruppen im Netz zu streuen. Auch das durch die Berichterstattung vermittelte Gefühl einer "Bedrohung von außen" durch die IRA könnte letztendlich dazu beigetragen haben, Misstrauen in den Wahlprozess zu streuen. Reaktionen und Schutzmaßnahmen in den USA, 2016-2020 Die Einmischung in die US-Wahlen 2016 war ein Wendepunkt in einer langjährigen Diskussion um die Sicherheit von Wahlen. In der Folge wurden in den USA diverse Maßnahmen getroffen. Diese zeigen, dass der Schutz von Wahlen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, denn sie umfassen Maßnahmen des Staates, der Wirtschaft, der Wissenschaft sowie der Zivilgesellschaft. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 zeichnete sich ab, wie schwierig es ist, Desinformation und Cyberoperationen in den Griff zu bekommen. Interner Link: [10] Ein Faktor ist, dass sich der Wahlkampf aufgrund der Covid-19-Pandemie noch stärker ins Internet verlagert hat. Das bietet weitere Angriffsflächen: Einerseits werden Kampagnen online geplant und umgesetzt. Andererseits werden aber auch weitaus mehr Menschen als üblich von der Briefwahl Gebrauch machen. Gerade zur Briefwahl und den Wahlmodalitäten in der Pandemie kursierte bereits Monate vor der Wahl Desinformation – diese stammte allerdings nicht vornehmlich von ausländischen Akteurinnen und Akteuren, sondern aus dem Weißen Haus selbst. Hierbei ist die Gefahr vor allem, dass Bürgerinnen und Bürger, das Vertrauen in den Wahlprozess oder das Endergebnis verlieren. Die zentrale Frage ist, wie die Widerstandsfähigkeit von Parteien, sozialen Medien, Bürgerinnen und Bürgern und auch der IT-Infrastruktur so verbessert werden kann, dass die Wirkung von Desinformation und Cyberoperationen abgeschwächt wird. Einige Maßnahmen werden im Folgenden beispielhaft aufgezeigt. Wie gut die Schutzmaßnahmen und Reaktionen wirken und ob sie ausreichen, wird sich erst nach der Wahl zeigen. Konsequenzen russischer Einflussnahme auf den US-Wahlkampf Staat Legislative Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12] Anhörungen Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren. Beauftragung von Studien Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16] Exekutive Sonderermittlung Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen. IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18]. Verordnungen Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19] Cyberoperationen des US-Militärs Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20] Außenpolitische Sanktionen Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22] Judikative Anklagen Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24] Parteien IT-Sicherheitsexpertise Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30] Privatsektor Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31] Zusatzinformationen sichtbar machen Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht. Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32] Wissenschaft Studien und Trainings zur IT-Sicherheit Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33] Zivilgesellschaft Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35]. Glossar Cyberoperation Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36] Desinformation Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37] Internet Research Agency (IRA) Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38] IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39] Spear-Phishing Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40] Leaken Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41] Fußnoten 1 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 2 Edward-Isaac Dovere and Gabriel Debenedetti. (2016). Externer Link: Heads roll at the DNC. Politico. 3 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 4 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election p.36. 5 Makena Kelly. (2019). Externer Link: Russians hacked voting databases in two Florida counties in 2016 governor says. 6 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 7 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 8 Thomas Rid. (2018). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare. Kapitel 30. Farrar, Straus and Giroux.; Aaron Maté. New Studies Show Pundits Are Wrong About Russian Social-Media Involvement in US Politics. 9a Gabrielle Lim. (2020). Externer Link: The Risks of Exaggerating Foreign Influence Operations and Disinformation. 9b Philip N. Howard et al. (2018). Externer Link: "The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018"; Renee DiResta et al. (2018). Externer Link: "The Disinformation Report: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency". 10 Süddeutsche. (2020). Externer Link: Zahlreiche Hackerangriffe auf US-Wahlkampfteams. 11 Miles Parks. (2019). Externer Link: Congress Allocates $425 Million For Election Security In New Legislation. 12 Eric Geller et al (2019). Externer Link: The scramble to secure America’s voting machines. Politico. 13 Subcommittees National Security (116th Congress). (2019). Externer Link: Securing U.S. Election Infrastructure and Protecting Political Discourse. The Committee on Oversight and Reform. 14 Subcommittee of Cybersecurity Infrastructure Protection, & Innovation (116th Congress). (2020). Externer Link: Secure, Safe, and Auditable: Potecting the integrity of the 2020 elections. 15 Select Committee on Intelligence United States Senate. (2019). Externer Link: Report of the Select of Committee on Intelligence United States Senate On Russian Active Measures Campaigns and Interference in the 2016 U.S. Election. 16 Renee DiResta u. a.(2019). Externer Link: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency; Howard u. a. 2018). Externer Link: The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018. 17 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 18 Chris Krebs. (2020). Externer Link: Tweet. 19 Executive Office of the President. (2018). Externer Link: Imposing Certain Sanctions in the Event of Foreign Interference in a United States Election. 20 Ellen Nakashima. (2019). Externer Link: U.S. Cyber Command operation disrupted Internet access of Russian troll factory on day of 2018 midterms. 21 U.S. Department of State. (2020). Externer Link: Cyber Sanctions. 22 U.S. Department of the Treasury. (2019). Externer Link: Treasury Targets Assets of Russian Financier who Attempted to Influence 2018 U.S. Elections. 23 Justice Departement. (2018). Externer Link: Case 1:18-cr-00215-ABJ Document 1 Filed 07/13/18. 24 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 25 Noland D. McCaskill. (2016). Externer Link: DNC creates cybersecurity advisory board following hack. 26 Joe Perticone. (2018). Externer Link: The Democratic National Committee hired a Yahoo executive to beef up its cyber security. 27 Tim Starks. (2020). Externer Link: DNC ramps up 2020 cyber protections, NRCC falls victim to hackers. 28 Sean Lyngaas. (2019). Externer Link: DNC updates cybersecurity advice to protect candidates from hackers in 2020. 29 Eric Geller. (2020). Externer Link: Biden campaign taps Obama administration alum to lead cybersecurity team. 30 Michael Riley. (2016). Externer Link: DNC Ignored Cybersecurity Advice that May Have Prevented Recent Breach. 31 Für Kritik hieran, siehe u.a. Mozilla. (2019). Externer Link: Facebook and Google: This is What an Effective Ad Archive API Looks Like. 32 New York Times. (2020). Externer Link: Russian Intelligence Hackers Are Back, Microsoft Warns, Aiming at Officials of Both Parties. 33 Belfer Center. (2020). Externer Link: Defending Digital Democracy Project Advances Election Security. 34 Center for Democracy and Technology. (2020). Externer Link: Election Security Ressources. 35 U.a. von German Marshall Fund. (2020). Externer Link: Alliance For Securing Democracy.; Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 36 Sven Herpig. (2016). Externer Link: Anti-War and the Cyber Triangle: Strategic Implications of Cyber Operations and Cyber Security for the State. 37 European Commission, COM. (2018). 794 final: Report on the implementation of the Communication ‚Externer Link: Tackling online disinformation: a European Approach, 2–3.; zur Definition siehe auch Alexander Sängerlaub, Miriam Meier, und Wolf-Dieter Rühl. (2018). Externer Link: Fakten statt Fakes. Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017. 10–13.; Alexandre Alaphilippe. (2020). Externer Link: Adding a ‚D‘ to the ABC Disinformation Framework. 38 National Intelligence Council. (2017). Externer Link: Background to Assessing Russian Activities and Intentions in Recent US Elections: The Analytic Process and Cyber Incident Attribution. 39 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 40 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 41 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. Staat Legislative Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12] Anhörungen Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren. Beauftragung von Studien Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16] Exekutive Sonderermittlung Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen. IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18]. Verordnungen Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19] Cyberoperationen des US-Militärs Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20] Außenpolitische Sanktionen Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22] Judikative Anklagen Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24] Parteien IT-Sicherheitsexpertise Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30] Privatsektor Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31] Zusatzinformationen sichtbar machen Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht. Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32] Wissenschaft Studien und Trainings zur IT-Sicherheit Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33] Zivilgesellschaft Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35]. Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36] Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37] Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38] IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39] Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40] Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41]
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-05T00:00:00"
"2020-10-15T00:00:00"
"2022-02-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/317184/it-sicherheit-im-us-wahlkampf/
Wie rüsten sich die USA gegen Desinformation und Cyberoperationen im Wahlkampf? Ein Überblick über die Lektionen aus der russischen Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahlen 2016.
[ "US-Wahlkampf", "US-Präsidentschaftswahl", "USA", "Wahlkampf" ]
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Nach Stalin: Das Funktionieren der UdSSR | Sowjetunion | bpb.de
Die Forschung zur späten Sowjetunion hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt. Dominierte in den 1990er Jahren die Stalinismusforschung, ist es jetzt die Forschung zur Zeit nach 1953. Die Historiker*innen haben sich vom Schock des Zusammenbruchs erholt; sie fragen nicht mehr nach den Gründen für den Zusammenbruch – und warum sie diesen nicht vorhergesehen haben –, sondern, warum die Sowjetunion offenbar so lange sehr gut funktionierte. Das Masternarrativ wandelt sich also langsam von einer Niedergangs- zu einer Erfolgsgeschichte – mit jähem Ende. Darüber hinaus scheint die Zeit der Schulenbildung und Lagerkämpfe vorbei zu sein. Behakten sich bis 1991 Totalitarist*innen, die von der vollkommenen Durchherrschung der Gesellschaft durch Staat und Partei ausgingen, und Revisionist*innen, die den sozialen Gruppen große Handlungsspielräume und Gestaltungskraft zuschrieben, gesellte sich in den 1990er Jahren die Gruppe der Kulturalist*innen hinzu, die den Motor der Geschichte weder in physischer Gewalt noch in sozialen Gruppen, sondern in den Diskursen verorteten. Heute herrscht dagegen ein nahezu fröhliches Miteinander von verschiedenen Theorien und Zugängen. In der Forschung ist es ein zentrales Anliegen, überholte Dichotomien wie Stalinist*in/Reformer*in, Sowjetmensch/Dissident*in, öffentlich äußern/privat denken aufzugeben und integrale Konzepte zu finden. Die neue Integration gilt auch für das Feld der Historiker*innen selbst. Niemand tritt mehr an, andere Herangehensweisen zu verdrängen. Zu beobachten ist allerdings ein "Performative Shift". Damit folgt auf die "Macht der Sprache" die "Macht der Handlung": Solange eine Person zur Parade am 1. Mai ging, unterstützte sie durch diese Handlung das System, ganz gleich, was sie dazu sagte oder dachte. Auch sind wirtschaftsgeschichtliche Ansätze zurückgekehrt, die lange ein Schattendasein gefristet haben. Schließlich finden zunehmend reportagehafte Schilderungen Einzug in die Historiografie. Die Chance dabei ist, neben dramaturgischen Effekten ein "hautnahes Erleben" zu erzeugen; die Gefahr besteht darin, an kritischer Distanz und Analysekraft zu verlieren. Unter Chruschtschow und Breschnew Die späte Sowjetzeit wird weitgehend mit der Herrschaft Nikita Chruschtschows (1953–1964) und Leonid Breschnews (1964–1982) gleichgesetzt. Die Historisierung hat beide Politiker von den Pauschalurteilen aus der Zeit des Kalten Krieges befreit, sodass sie in ihrem Kontext neu betrachtet werden können. William Taubmans große Chruschtschow-Biografie 2003 war ihrer Zeit voraus. Die Faszination für diesen scheinbar widersprüchlichen Mann, der es liebte, seine westlichen Gesprächspartner zu provozieren, und für jeden Redenschreiber ein Albtraum war, da er ständig vom Manuskript abwich und unkontrolliert polterte und drohte, hat einige Werke hervorgebracht, wenngleich Lücken bestehen bleiben. Ein eher kurzes Intermezzo in der Historiografie war der Streit über die wahren Gründe für Chruschtschows Entstalinisierungskurs und die "Geheimrede" auf dem 20. Parteitag 1956. Die von Dissident*innen vertretene und bis dahin unhinterfragte Meinung, Chruschtschow habe dies aus einer "Bewegung der Seele" heraus getan, wurde zwischenzeitlich als naiv verurteilt: Die Abrechnung mit Stalin sei nur eine Flucht nach vorn und Strategie zum Machterhalt gewesen. Indes überwiegt weiterhin die Meinung, nach Stalins Tod hätten die meisten Parteiführer ihr Gewissen entdeckt; Terror und Gewalt hätten nicht mehr ihrem Bild von einem modernen Sowjetstaat entsprochen. Geht es bei Chruschtschow darum, ihn der Exotisierung zu entreißen, steht bei Breschnew im Vordergrund, das Etikett "Stalinist" zu entfernen. Tatsächlich war Breschnew genauso wenig ein Stalin-Anhänger wie sein Vorgänger Chruschtschow, hielt es aber nach den zwei Putschversuchen gegen Chruschtschow für angeraten, den Stalinisten entgegen zu kommen. Weder war er die treibende Kraft beim Einmarsch in Prag 1968 noch bei jenem in Afghanistan 1979. Dabei geht es nicht um reine Persönlichkeitsprofile, sondern um die Parteinetzwerke und darum, wie die "Patrone" die Loyalität ihrer "Klienten" belohnten oder bestraften: Stalin verhaftete, Chruschtschow entließ, Breschnew lobte Widersacher weg. Hardliner und Hippies Nicht nur die Parteiführer, auch die Sowjetmenschen werden dem Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Krieges entrissen. Weder waren alle Parteigranden Stalinist*innen, noch bestand die Bevölkerung nur aus Befürworter*innen des Tauwetters. Sehr beeindruckend hat Miriam Dobson gezeigt, dass die Gesellschaft weder bereit war, die amnestierten Gulag-Häftlinge als Nachbar*innen und Arbeitskolleg*innen zu akzeptieren, noch die damit einhergehende Umwertung der Geschichte. Sie fürchteten die aus den Lagern in ihr Leben schwappende Kriminalität genauso wie den Lagerjargon, der sich als subversiver Jugendslang ausbreitete. Daher fiel auch 1962 die Reaktion vieler Leser*innen von Alexander Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" so empört aus, weil sie die derbe, vulgäre Sprache als Angriff auf die Hochkultur begriffen. Dobson hat damit alle Totalitarist*innen widerlegt, die immer implizierten, der Tod des Tyrannen mache aus allen Untertanen automatisch aufgeklärte Subjekte. Während es auf der einen Seite starke Beharrungskräfte gab, gerade auch mit Blick auf Familien- und Moralvorstellungen, entwickelten sich auf der anderen Seite die stiljagi, die sich bunt, wild und unangepasst kleideten und gebärdeten, oder auch Hippies. Die Antwort waren Nachbarschaftswehren und -gerichte, die von Staat und Partei weniger oktroyiert wurden, als den Anliegen der verunsicherten Sowjetmenschen entsprachen. Wie sehr die Entstalinisierung eine Erschütterung alter Normen und Richtwerte und der Kampf um Sagbarkeitsregime war, zeigen auch zahlreiche andere Werke. Uneinigkeit herrscht angesichts der Frage, ob die Dissident*innen "Sowjetmenschen" waren oder die direkten Nachfahren der vorrevolutionären Intelligenz. Auch wenn ihr Ursprung in der Chruschtschow-Zeit zu finden ist, traten sie erst unter Breschnew in Erscheinung, als sie die nach 1953 erlangten Freiheiten verteidigten und gegen die Verhaftung Andersdenkender aufbegehrten. Während die einen sie sehr pathetisch als letzte Erb*innen und Träger*innen einer untergegangenen Kultur beschreiben, zeigen die anderen, dass auch die "Petent*innen", wie sie sich selbst bezeichneten, Teil der sowjetischen Kultur waren und sich des sowjetischen Jargons bedienten, um ihre Anliegen vorzutragen. Sie argumentierten im, nicht außerhalb des Systems. Wie Jelena Bonner über ihren Mann Andrei Sacharow gesagt haben soll: "Mein Mann ist Physiker – nicht Dissident." Meine Wohnung, mein Auto Chruschtschow und Breschnew erklärten die Anhebung des extrem niedrigen Lebensniveaus zur ersten Aufgabe des Staates beziehungsweise zur Generallinie der Partei. Es war ein flächendeckendes Armutsbekämpfungsprogramm. Darüber hinaus versprach Chruschtschow allen Sowjetmenschen eine eigene Plattenbauwohnung, Breschnew ein Auto, um daran zu schrauben, auf die Datsche zu fahren und Defizitprodukten hinterherzujagen. Auch hier lässt sich darüber streiten, ob dies aus Kalkül geschah, um die Bevölkerung mit einem "kleinen Deal" – Konsum gegen Loyalität – ruhig zu stellen, oder weil für beide die Linderung der Not eine Herzensangelegenheit war. Beide erhöhten die Rente und den Mindestlohn und sorgten dafür, dass der Staat die Landarbeiter*innen erstmals nicht nur in Naturalien bezahlte. Auch der Medienkonsum, das Fernsehen, dessen Bedeutung lange Zeit von den Parteiführern nicht begriffen wurde, die endlos, ohne aufzuschauen, live Reden verlasen, Rundfunk und der Bezug von Rock’n’Roll-Musik aus dem Westen sind in den Fokus von Historiker*innen gerückt. Mit der Frage "Dissident*in oder Konsument*in?" wird immer auch die Generationenfrage verhandelt: Die Andersdenkenden waren die Kinder der Erbauer*innen der UdSSR, meist in den 1930er Jahren geboren, und damit die zweite sowjetische Generation. Sie brachten um 1950 die "Sputnik-Generation" oder "Babyboomer" zur Welt, die als eher "unpolitisch" gelten; sie kümmerten sich hauptsächlich um eine gute Ausbildung und ihre Karriere. Ihre Kinder, die vierte Generation, zählen als "zynische Konformisten" oder "Konsumgeneration", die sich weder um den Kommunismus noch dessen Reform noch eine gute Ausbildung scherten, sondern sich ganz materiellen Werten verschrieben hatten; das Parteinarrativ und die Festtagsrituale waren für sie nur noch leere Hülsen. Noch in den Anfängen steckt dagegen die Forschung über Bäuer*innen, über deren Alltag und Lebensrealität nach 1953 wenig bekannt ist. Erstaunlich ist auch, wie wenig bislang zu Chruschtschows Neulandkampagne publiziert wurde, mit der ab 1954 vor allem in Kasachstan unter entsprechender propagandistischer Begleitung ödes Land in ertragreiche Ackerflächen verwandelt wurden. Nahezu unerforscht ist, dass Bäuer*innen bis 1974 kein Anrecht auf einen Inlandspass hatten und damit offiziell ihre Dörfer nicht verlassen durften. Wie Breschnew es formulierte: "Der Sozialismus ist im Dorf noch nicht angekommen." Neue Wirtschaftsgeschichte Die UdSSR basierte auf einer technischen Utopie und kollabierte am Ende zusammen mit ihr. Zwar ebbte die Ära der Großbaustellen mit Stalins Tod ab, aber zumindest Breschnew versuchte ein letztes Mal, mit dem Bau der Baikal-Amur-Magistrale an den – vermeintlichen – Enthusiasmus der 1930er Jahre anzuknüpfen. Auch wenn die Zeit der Großprojekte in die Stalin-Ära fiel, beginnt die Wirtschaftsgeschichte gerade für die 1960er bis 1980er Jahre zu florieren. Während Anna Krylova 2016 diagnostizierte, die Kulturgeschichte sei schuld daran, dass Historiker*innen die Wirtschaftsgeschichte aus dem Blick verloren hätten, sehen andere eher eine Chance, beides zu fusionieren und eine Geschichte zu schreiben, die weniger Zahlen und Statistiken als vielmehr Wirtschaftsweisen und menschliches Handeln in den Vordergrund stellt. Bahnbrechend war die These von Oscar Sanchez-Sibony zur "roten Globalisierung", nach der die UdSSR immer, auch unter Stalin, den Handel mit dem Westen gesucht habe und die Märkte immer verflochten waren. In diesem Sinne sind zahlreiche Studien zu den Verhandlungen rund um den Export von "rotem" Gas und Öl entstanden. Sehr aufschlussreich ist auch eine Arbeit zu Moskaus "kapitalistischen Bänkern", die im Westen lebten, um dort das Geld für die Handelsgeschäfte zu besorgen. Noch gibt es keine erschöpfende Studie zur staatlichen Planungsbehörde Gosplan, die nicht nur für die Fünfjahrespläne, sondern auch für die Ressourcenverteilung in der gesamten UdSSR verantwortlich zeichnete. Ihr Anspruch war, auf der Basis gesicherter Daten und Statistiken aus den Republiken und Regionen auf wissenschaftlicher Basis Produktions- und Wirtschaftspläne auszuarbeiten, die sowohl realistisch als auch bedarfsgerecht waren. Dass die Realität ganz anders aussah, war kein Geheimnis: Daten und Statistiken wurden gefälscht, Ressourcen wurden oft nur auf dem Papier, nicht aber in der Praxis zugeteilt, weshalb sich die Verantwortlichen das Benötigte über ihre eigenen Netzwerke beschafften; der Bedarf der Bevölkerung stand schließlich auf einem ganz anderen Blatt. Und so ist die Behörde Gosplan nicht nur eine Superbehörde, die kaum zu fassen ist; es besteht auch die Gefahr, beim Erforschen ihrer Institutionen die viel wesentlicheren Netzwerke und Praktiken zu übersehen. Diese Geschichte bleibt also vorerst ein Desiderat. Dass Wirtschaften in der UdSSR weder "wissenschaftlich" noch nach Plan lief noch bedarfsgerecht war, zeigt beispielsweise eine Studie von Alexandra Oberländer, wonach die Währungsreform 1961 dazu führte, dass in vielen Regionen der Rubel durch Hühnereier abgelöst wurde – die Läden akzeptierten als Zahlungsmittel nur noch Eier. Jenseits von Moskau Es war und ist ein Problem der Historiografie, dass sie sich stark auf die beiden Metropolen – neben Moskau St. Petersburg –, kaum aber auf die Republiken konzentriert. Während sich das für die Zeit des Stalinismus wesentlich gewandelt hat, ändert es sich für die Zeit nach 1953 erst langsam. Aber gerade in den vergangenen Jahren konzentriert sich die Forschung darauf, was Entstalinisierung und Sowjetisierung für die zentralasiatischen Republiken oder im Kaukasus bedeutete und wie "Sozialismus" teilweise sehr erfolgreich in nationale Kategorien übersetzt wurde. Dabei gerät auch das interethnische Zusammenleben in den Vordergrund: sei es der zentralasiatischen Arbeitsmigrant*innen, die ihr Glück in den beiden Metropolen suchten, aber sich dort als Menschen zweiter Klasse wiederfanden, seien es interethnische Ehen, die der Staat als Idealbild der Völkerfreundschaft propagierte, aber in der Praxis tief verwurzelte Vorurteile über ethnische Eigenschaften und Zugehörigkeiten offenbarten. Daneben geraten auch die transnationalen Beziehungen der Sowjetmenschen ins Visier. Dies ist der Einsicht geschuldet, dass die UdSSR nach Stalin keineswegs so abgeschottet lebte, wie der Westen oft glaubte. Wie Rosa Magnusdottir festgestellt hat, war die Anziehungskraft, die die UdSSR vor dem Krieg auf den Westen ausgeübt hatte, verflogen. Um dem Westen zu beweisen, dass sie immer noch ein unterstützenswertes Projekt war, bedurfte es lebender Beispiele – der "Bürger*innen-Diplomatie". Das begann mit dem Import von Filmen, Romanen und Träumen, setzte sich mit tatsächlichen Reisen ins In- und Ausland fort, fand einen Höhepunkt mit dem Weltjugendtag in Moskau 1957, als erstmals auch kapitalistische junge Menschen eingeladen waren, die Sowjetunion zu bestaunen, und mündete in mehreren Organisationen, die im Sinne des unter Chruschtschow neu entdeckten "Internationalismus" dem Austausch mit dem Ausland und dabei natürlich der Propagierung des sowjetischen Fortschritts dienen sollten. Als Mittler zwischen den Welten fungierten schließlich auch die in Moskau akkreditierten Auslandskorrespondenten. Kalter Krieg Die Forschung zum Kalten Krieg ist und bleibt zentral. Eine jüngere Erscheinung ist aber, dass er nicht mehr als rein politische Konfrontation und atomares Wettrüsten gilt, sondern als ein Phänomen, das sich in sämtlichen gesellschaftlichen Sphären niederschlug. Die beiden politischen Systeme wirkten wie zwei magnetische Pole, zwischen denen sich jedes Teilchen unwillkürlich ausrichten musste. Die Primaballerina des Bolschoi Theaters, die in New York Schwanensee tanzte, leistete genauso ihren Beitrag zum Systemwettbewerb wie Jurij Gagarin, als er 1961 ins All flog. Neben den Studien zu den einschlägigen Krisen, Konflikten und Stellvertreterkriegen hat sich daher eine breite Forschung zu den kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Kalten Krieges sowie zu seinen Erscheinungsformen jenseits der industrialisierten Welt entwickelt. Es gilt als gesichert, dass Chruschtschow von einem gewaltigen Minderwertigkeitskomplex getrieben war und jede seiner außenpolitischen Handlungen auch darauf zielte, von den USA als gleichberechtigte Supermacht anerkannt zu werden. Breschnew hingegen war nach dem Einmarsch in Prag 1968 und der Verkündung der sogenannten Breschnew-Doktrin vom Westen als starker, ebenbürtiger Partner akzeptiert. Beide aber unternahmen Anstrengungen, ihren Weltmachtstatus dadurch zu unterstreichen, dass sie möglichst viele "Entwicklungsländer" beziehungsweise Staaten im Globalen Süden zu ihren Partnern machten und diese mit ihrer Erfolgsstory vom Agrar- zum Industriestaat einerseits sowie mit Wirtschaftshilfen und Waffen andererseits umwarben. Dabei hat die Forschung der vergangenen Jahre gezeigt, dass trotz des asymmetrischen Machtverhältnisses Moskau eher der Schwächere war: Der Drang, sich selbst als den USA ebenbürtige Supermacht zu profilieren war so groß, dass sich Chruschtschow und Breschnew regelrecht erpressen und zu Leistungen verpflichten ließen, die ihre Ressourcen überstiegen. Aus diesen Beobachtungen der "imperialen Überdehnung" speist sich auch die fortwährende Debatte, ob die Abrüstungsbemühungen Chruschtschows 1955 bis 1959, Breschnews 1969 bis 1975 und schließlich Michail Gorbatschows einem echten Wunsch nach Wandel entsprangen oder nur der wirtschaftlichen Zwangslage geschuldet waren. Diese Frage lässt sich letztlich nur weltanschaulich beantworten: So lange nicht Dokumente auftauchen, in denen das Politbüro formuliert, dass es sich zu Abrüstungsbemühungen gezwungen sah, womit nicht zu rechnen ist, bleibt es eine philosophische Frage, ob man den Motor der Geschichte in der Wirtschaft oder im Weltbild eines Menschen lokalisiert, oder nicht ohnehin beides Hand in Hand geht. Während sich die Politikwissenschaftler*innen mit der Frage befass(t)en, "wer" schuld am Kalten Krieg war – die UdSSR wegen ihrer aggressiven Ideologie (traditionell), die USA, weil sie mit der Bombe die UdSSR in die Defensive trieben (revisionistisch), oder beide, weil sie Fehlwahrnehmungen und Missverständnissen unterlagen (postrevisionistisch) –, fragen Historiker*innen gewöhnlich lieber danach, "wie" etwas kam. Dabei werden zunehmend nicht nur kulturelle und diskursive Unterschiede als "harte Fakten" eingestuft, sondern auch Emotionen und Gefühlslagen als entscheidungsrelevant analysiert. Die Biografen von Chruschtschow, Breschnew und Gorbatschow sind sich darin einig: Es war nicht die Wirtschaft, sondern der Wunsch, die Welt zu verändern, der ihre Protagonisten antrieb. Katastrophen und Krise Mit der Umweltgeschichte hat sich auch die Katastrophengeschichte etabliert. Es waren zwei Katastrophen, die zwar unabhängig von Perestroika und Glasnost stattfanden, aber erst in diesem Rahmen ihre Sprengkraft entwickelten: Die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 zerstörte die technische Utopie von der Beherrschbarkeit der Elemente, das Erdbeben in Armenien 1988 die Illusion vom Wohlfahrtsstaat. Auch wenn Kate Brown in ihrem sagenhaften Buch zeigen kann, dass, gemessen an westlichen Staaten, die UdSSR große Anstrengungen unternahm, um ihre Bevölkerung zu retten, und der Versuch, das Ausmaß der Katastrophe zu verschleiern, keineswegs sowjetischer Geheimniskrämerei entsprang, sondern im Interesse der weltweit agierenden Atomlobby geschah, sprengte die Explosion nicht nur das Reaktordach, sondern auch Teile des Fundaments der UdSSR weg. Auch das verheerende Erdbeben in Armenien im Dezember 1988 entwickelte seine politische Sprengkraft erst durch den bereits offen ausgebrochenen Konflikt um Bergkarabach einerseits und die neue Medienberichterstattung im Zeichen von Glasnost andererseits. Dennoch wirkten beide Katastrophen lediglich als Brandbeschleuniger, keineswegs als Ursachen für das Ende der UdSSR. Die Frage, warum die UdSSR zusammenbrach, ist, wie angedeutet, inzwischen vor der ihrer erstaunlichen Funktionsfähigkeit verblasst und damit der Streit "Krise oder Selbstmord" in den Hintergrund gerückt. Nach der ersten Ansicht hatte sich die UdSSR delegitimiert: Der Marxismus-Leninismus war zu einer Kulisse verkommen; wirtschaftlich konnte sie mit den USA nicht Schritt halten, der Rüstungswettlauf hatte sie an den Rand des Ruins gebracht, und die aufflammenden Nationalitätenkonflikte taten ein Übriges, um dem maroden Koloss den Todesstoß zu versetzen. Danach war der Zerfall des Vielvölkerreichs eine "nachholende Entwicklung", die die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" beendete. Zuweilen wird auch ein makrohistorischer Rahmen bemüht und die Geschichte Russlands in drei Modernisierungszyklen gepresst: Von Peter I. bis 1856 habe Russland militärisch aufgeholt, bis 1970 industriell, elektronisch habe es dann versagt. Dem widersprechen so prominente Experten wie der Gorbatschow-Spezialist Archie Brown und Stephen Kotkin. Beide vertreten pointiert die "Selbstmord-These" und bestreiten die Krise: Die Wirtschaft lief schlecht, aber sie lief, der "militärisch-industrielle Komplex" verschlang riesige Ressourcen, aber das traf auch auf die USA zu, und die Bevölkerung hatte sich in der Sowjetunion in bescheidenem Wohlstand eingerichtet. Erst der neue Generalsekretär habe so grundlegend an den Säulen des Regimes gerüttelt, dass er den Zusammenbruch nolens volens herbeiführte. "Der Leninismus beging Selbstmord, und nichts trat an seine Stelle", so Kotkin. Die Historisierung der Perestroika-Zeit beginnt gerade erst und wird sicher nicht nur für ein komplexeres Bild dieser Jahre sorgen, sondern auch die Idee von historischen Zwangsläufigkeiten weiter in den Hintergrund drängen. Vgl. William Taubman, Khrushchev. The Man and His Era, New York 2003. Vgl. Peter Carlson, K Blows Top. A Cold War Comic Interlude Starring Nikita Khrushchev, America’s Most Unlikely Tourist, New York 2009; Jurij Jakovlevič Gerčuk, Krovoizlijanie v MOSCH, ili Chruščev v Maneže. 1 dekabrja 1962 goda (Očerki vizual‘nosti), Moskau 2008. Vgl. Roj Aleksandrovič Medvedev, Vom XX. zum XXII. Parteitag der KPdSU. Ein kurzer historischer Überblick, in: Reinhard Crusius/Roj Aleksandrovič Medvedev (Hrsg.), Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt/M. 1977, S. 23–49, hier S. 32. Vgl. Stephan Merl, Berija und Chruscev: Entstalinisierung oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma sowjetischer Politik nach Stalins Tod, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 2001, S. 484–506, hier S. 494; Rudol‘f G. Pichoja, Sovetskij Sojuz. Istorija vlasti. 1945–1991, Moskva 1998, S. 103ff. Vgl. Amir Weiner, The Empires Pay a Visit. Gulag Returnees, East European Rebellions, and Soviet Frontier Politics, in: Journal of Modern History 2/2006, S. 333–376. Vgl. Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie, Köln–Weimar–Wien 2017. Vgl. Yoram Gorlizki/O.V. Chlevnjuk, Substate Dictatorship. Networks, Loyalty, and Institutional Change in the Soviet Union, New Haven–London 2020; Saulius Grybkauskas, Governing the Soviet Union’s National Republics. The Second Secretaries of the Communist Party, Abingdon–New York 2021. Vgl. Miriam Dobson, Khrushchev’s Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin, Ithaca 2009. Siehe auch Grybkauskas (Anm. 7). Vgl. Deborah A. 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Susanne Schattenberg
"2022-01-04T00:00:00"
"2021-04-14T00:00:00"
"2022-01-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/sowjetunion-2021/331335/nach-stalin-das-funktionieren-der-udssr/
Die Forschung zur späten Sowjetunion hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt. Dominierte in den 1990er Jahren die Stalinismusforschung, ist es jetzt die Forschung zur Zeit nach 1953 unter der Herrschaft Chruschtschows und Bres
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"2022-04-12T00:00:00"
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Wir brauchen einen Dialog zu bezahlbarem Wohnraum | Eine Stadt. Ein Land. Viele Meinungen. | bpb.de
Von Michael Zahn Schaut auf diese Stadt. In den letzten 100 Jahren gab es vom Ende des Zweiten Weltkriegs über den Mauerbau bis hin zur Wende viele Phasen der Stadtentwicklung Berlins. Alle hat die Deutsche Wohnen bzw. ihre Vorläuferunternehmen miterlebt. Berlin ist heute für Menschen aus aller Welt wieder ein attraktiver Ort zu leben. Mehr als 40.000 Menschen mehr beheimatet die Stadt pro Jahr. Und das ist auch gut so, das sollten wir nicht abwürgen! Eine neue Teilung. Mit dieser Entwicklung hat die Wohnungspolitik jedoch nicht Schritt gehalten. 30 Jahre nach dem Mauerfall erlebt die Stadt erneut eine Teilung in zwei Lager. Die Grenze verläuft nun zwischen jenen, die angesichts stark gestiegener Preise für neu vermietete und gebaute Wohnungen an ihre finanziellen Grenzen stoßen und denen, die von historisch-bedingt niedrigen Bestandsmieten profitieren, die weit unter ihrem finanziell Leistbaren liegen. Politik und Initiativen schlagen immer neue und radikalere Maßnahmen vor, die diese Teilung manifestieren; die individuelle Leistungsfähigkeit der Mieter und deren Wohnsituation wird dabei nicht genügend berücksichtigt. Lange Zeit haben Mieter mit geringerem Einkommen in einem Haus weniger bezahlt und dies wurde ausgeglichen durch Mieter mit höherer Leistungsfähigkeit. Schärfere Mietpreisbremse und absoluter Mietendeckel scheren jedoch alle über einen Kamm, auch innerhalb der Quartiere. In einer solidarisch geprägten Stadtgesellschaft sollten die Bessergestellten die Schwächeren stützen. Sonst müssen die Kosten für hochwertigen und ökologisch-nachhaltigen Wohnraum vor allem jene tragen, deren Wohnsituation sich gerade ändert, wie junge Familien, die mehr Platz benötigen. Bezahlbares statt billiges Wohnen. Analysiert wurde zuletzt viel, aber leider zu wenig getan. Die Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit der Mieter ist der Weg, mehr Fairness in den Mietmarkt zu bringen. Es geht nicht darum, besonders billig zu wohnen – aber es muss für den Einzelnen bezahlbar sein. Daher haben wir unseren Mietern ein Versprechen gegeben, sie finanziell nicht zu überfordern. So muss kein Mieter seine Wohnung wegen einer Modernisierungsmaßnahme oder Mieterhöhung aufgeben. Doch wo immer mehr Menschen leben wollen, müssen wir auch neuen Wohnraum schaffen. Viele fordern heute vor allem billigen neuen Wohnraum, doch damit tun wir uns keinen Gefallen. Das zeigen uns etwa die teils wenig lebenswerten Bausünden der siebziger Jahre, die wir heute aufwändig sanieren müssen. Berlin braucht modernen nachhaltigen Wohnraum, der Qualitätsansprüchen genügt und bezahlbar ist. Das heißt, jene zu entlasten, die sich gestiegene Mieten kaum noch leisten können und gleichzeitig notwendige Investitionen in nachhaltigen Wohnraum tätigen zu können. Auch das versprechen wir: Die Deutsche Wohnen will im Großraum Berlin bis zum Jahr 2023 850 Millionen Euro in neuen Wohnraum investieren. Sofern es passende Grundstücke gibt, können und wollen wir noch mehr bauen, denn wir verfügen über die notwendigen Mittel und Expertise. Gemeinsam Antworten finden. Wenn die Höhe der Miete sich beispielsweise stärker am Einkommen orientiert, sorgen wir für ein solidarisches Miteinander in unserer Stadt und vermeiden zwei Klassen von Mietern. Zudem sind wir überzeugt, dass nur ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz der Komplexität der aktuellen Fragestellungen gerecht wird und wir nur gemeinsam die richtigen Antworten finden. Darum werden wir in den kommenden Monaten einen Berlin-Dialog initiieren und alle Interessierten einladen, sich gemeinsam für ein faires Wohnen und eine lebenswerte Stadt zu engagieren. Gemeinsam werden wir auch diese und zukünftige Herausforderungen meistern und dafür sorgen, dass die Stadt für neue und alte Berliner attraktiv bleibt. Mehr Beiträge zum Thema Interner Link: Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite Interner Link: Wohnen muss ein Grundrecht bleiben! Interner Link: Für mehr Flexibilität in der Wohnraumförderung Interner Link: Krisensicher und zukunftstauglich wohnen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-10-07T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/eine-stadt-ein-land-viele-meinungen/294853/wir-brauchen-einen-dialog-zu-bezahlbarem-wohnraum/
Michael Zahn ist Geschäftsführer des Unternehmens „Deutsche Wohnen“. Um den Berliner Wohnungsmarkt bezahlbar und lebenswert zu gestalten, initiiert er einen Dialog für faires Wohnen.
[ "Wohnen; Miete; Berlin; Enteignung; Deutsche Wohnen; Gentrifizierung" ]
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Editorial | Arbeit - Arbeitsmarktpolitik | bpb.de
Einleitung "Brauchen wir eine europäische Beschäftigungspolitik?" Diese Frage wird von den einen vehement verneint, von anderen bejaht, Dritte argumentieren vorsichtig abwägend. Anhand der Beiträge dieser Ausgabe, deren Autorinnen und Autoren je unterschiedliche Antworten auf diese Frage geben, sollen sich die Leserinnen und Leser selbst ein Bild davon machen können, welche Wirkungen eine europäische Beschäftigungspolitik hat oder haben kann. Der EG-Vertrag enthält ein Beschäftigungskapitel, das die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine koordinierte Beschäftigungsstrategie zu entwickeln. Es klingt plausibel, die Arbeitsmarktprobleme in den Ländern der EU durch eine gemeinsame, aktive Arbeitsmarktpolitik und durch makroökonomische Politiksteuerung lösen zu wollen. Und es erscheint sinnvoll, gemeinsame Ziele zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den europäischen Staaten zu formulieren und einzelne Maßnahmen aufeinander abzustimmen. Unterschiedliche Entwicklungen und Ausprägungen der Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern setzen jedoch einer europäischen Arbeitsmarktpolitik möglicherweise insofern enge Grenzen, als sie auch unterschiedliche Ansätze zur Beseitigung der überwiegend strukturell bedingten Arbeitslosigkeit erfordern. Kritiker einer koordinierten europäischen Beschäftigungspolitik wie Hagen Lesch warnen daher vor Fehlentwicklungen auf den einzelnen Arbeitsmärkten. Bei allen nationalen Unterschieden, die vielleicht gegen eine europäische Arbeitsmarktpolitik sprechen, gibt es aber mindestens eine Gemeinsamkeit: So sind in den meisten europäischen Ländern die Arbeitslosenquoten Mitte der siebziger, Mitte der achtziger und Mitte der neunziger Jahre jeweils sprunghaft angestiegen und danach nicht wieder auf ihr ursprüngliches Niveau zurückgekehrt. Michael Neugart veranlasst dieser Befund zu der Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung und nach den sich daraus ergebenden Optionen der Politik. Der Autor setzt auf die Wirkungen der Europäischen Währungsunion. Dadurch bedingte flexiblere Arbeitsmärkte würden dazu beitragen, dass sich Wachstumsimpulse eher auf die Arbeitsmärkte übertrügen. Nach beschäftigungspolitischen Optionen, die im Kampf gegen die anhaltende Arbeitslosigkeit konsensfähig unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion sind, suchen auch Gabriele Kasten und David Soskice. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass nur die Koordination der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik langfristig Abhilfe gegen die hohe Arbeitslosigkeit in Europa verspricht und dass sich eine Aufteilung der dementsprechenden Verantwortlichkeiten im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit als konsensfähig unter den Mitgliedstaaten erweisen könnte. Eben dies wird von Hagen Lesch in Frage gestellt, der seinerseits die Dringlichkeit flankierender Flexibilisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen betont. Ein vierter Beitrag handelt von der Flexibilisierung der Arbeitszeiten in der Bundesrepublik Deutschland. Karin Schulze Buschoff geht es darum, Begriff, Formen und Ausmaß der Flexibilisierung zu präzisieren. Das Ausmaß der Flexibilisierung lässt sich an der Erosion des so genannten Normalarbeitsverhältnisses und der dementsprechenden Zunahme atypischer Arbeitszeitregelungen erkennen. Eine Ausdehnung des Bereiches schlecht bezahlter, ungesicherter und unbeständiger Erwerbsarbeit, die für immer mehr Menschen die Alternative zur Arbeitslosigkeit sein wird, ist die Folge.
Article
Katharina Belwe
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25654/editorial/
Nicht nur in Deutschland ist Arbeitslosigkeit ein großes Problem, ganz Europa leidet unter struktureller Erwerblosigkeit. Welche Beschäftigungskonzepte könnten europaweit greifen?
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Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung | Mensch und Tier | bpb.de
Einleitung Schon in der Antike ging die Ausbildung der Medizin in Griechenland nicht nur mit der Sektion toter Tiere, sondern auch mit Eingriffen an lebenden Tieren, mit Tierversuchen einher. In der Entwicklung der modernen Medizin seit dem 16. Jahrhundert wurden Tierversuche nach einer Pause von mehr als 1000 Jahren wieder aufgenommen. Im 19. Jahrhundert wurde die Medizin wie die Physik und die Chemie zu einer experimentellen Wissenschaft, die sich auf die Ergebnisse von Tierversuchen stützt. Seitdem ist es zu einem stetigen Anstieg wissenschaftlicher Tierversuche gekommen. Ihre Ergebnisse lieferten wichtige Beiträge bei der Erforschung von Krankheiten sowie der Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln. Mit der Ausbildung der modernen biomedizinischen Grundlagenforschung kam es zu einer stetigen Ausweitung wissenschaftlicher Fragestellungen als Begründung von wissenschaftlichen Tierversuchen. Heute findet Forschung an Tieren im Wesentlichen an speziell zu Forschungszwecken gezüchteten Tieren statt. 2009 wurden in Deutschland 2,78 Millionen Wirbeltiere für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwandt sowie 690000 Wirbeltiere zu wissenschaftlichen Zwecken getötet. Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen Neue Wissenschaftsfelder, etwa die Gentechnik und die Stammzellforschung, geben neue Impulse für wissenschaftliche Tierversuche und haben zur Schaffung von Mensch-Tier-Mischwesen geführt, von Tieren, in die menschliche Gene, Zellen oder menschliches Gewebe übertragen werden. Es kommt dabei insbesondere zur gezielten artübergreifenden Übertragung menschlicher Erbfaktoren in Tiere, die weitervererbt werden. Dies wirft die Frage auf, wie dies mit unserem Selbstverständnis, das traditionell von der Vorstellung einer klaren Grenzziehung zwischen Mensch und Tier ausgeht ist, vereinbar ist. Bei der Verschmelzung von zwei Embryonen unterschiedlicher Art in einem sehr frühen Entwicklungsstadium können Chimären entstehen, die zu etwa gleichen Anteilen Zellen zweier Arten trägt. Ein so entstehendes Mischwesen (in der Tierwelt die "Schiege", die 1984 durch Verschmelzung von Schaf- und Ziegenembryo entstand) könnte keiner Art zugewiesen werden. Es gibt allerdings keinerlei Hinweise dafür, dass diese Technik unter Einsatz menschlicher Embryonen derzeit in der Forschung untersucht oder auch nur angestrebt wird. Im Folgenden wird ein Überblick über die wichtigsten Forschungsfelder gegeben, in denen unterschiedliche Mensch-Tier-Mischwesen erschaffen werden. Transgene Tiere mit menschlichem Erbmaterial. Die Gentechnik schaffte die Möglichkeit, Gene als Träger von Erbanlagen eines Lebewesens gezielt über Artengrenzen hinweg auszutauschen. Dies führte seit etwa 30 Jahren zur millionenfachen Schaffung transgener Tiere, vor allem Mäuse und Ratten, denen einzelne menschliche krankheitsspezifische Gene eingefügt wurden, die im Tier weitervererbt werden. Die Schaffung transgener Tiere ist sowohl in der Grundlagenforschung wie auch in der medizinischen Forschung weit verbreitet, um die Funktion menschlicher Gene zu erforschen. Es werden Tiermodelle menschlicher Krankheiten (beispielsweise die "Krebsmaus") geschaffen, um die molekularen Zusammenhänge einer Krankheit untersuchen und besser verstehen zu können. Die transgene Maus entwickelt dann oft ein ähnliches Krankheitsbild. 2009 wurden in Deutschland in der Forschung 607000 transgene Tiere eingesetzt, davon 591000 (97 Prozent) transgene Mäuse, 8300 transgene Ratten und 1300 transgene Zebrafische. Geringfügig sind aber auch Kaninchen und Schweine vertreten. 1998 wurde erstmals ein Affe zum Tiermodell für eine menschliche Krankheit. Dies geschah durch Übertragung des menschlichen Gens, das für die Huntington-Krankheit verantwortlich ist. Gene kodieren zum einen für einzelne Proteine. Einzelne Gene können zum anderen aber auch die Steuerung der Entstehung von Geweben oder Organen übernehmen. Gerade die Funktion solcher Steuerungsgene kann nur im lebenden Organismus analysiert und verstanden werden. Bei ihrer Manipulation kann es durchaus zu einer Veränderung komplexer Systeme im Tier kommen. 1997 wurde weltweit erstmals ein ganzes menschliches Chromosom in den Erbgang einer Maus übertragen. Angesichts der weit entfernten Verwandtschaft transgener Tiere wie Fisch, Maus, Ratte, Kaninchen oder Schwein ist aber nicht davon auszugehen, dass sich weitergehende Fragen des Tierschutzes stellen. Aspekte des Schutzes der Menschenwürde könnten sich jedoch bei der Erzeugung transgener Primaten, insbesondere bei Menschenaffen, stellen. Zytoplasmische Hybride (Zybride). In diesem Forschungsfeld geht es um die Verschmelzung einer entkernten tierischen Eizelle mit dem Zellkern einer Zelle eines Individuums einer andern Art. Im Experiment wurde dabei eine entkernte Rindereizelle mit einem menschlichen Zellkern verschmolzen. Die so entstandene vermehrungsfähige Zelle weist damit ein fast komplettes menschliches Genom auf. In dieser Zelle sind nach wie vor die Mitochondrien aus tierischem Material mit insgesamt 39 tierischen Genen enthalten. Allerdings übernimmt das menschliche Genom sofort die Steuerung der Zellentwicklung. Aus einem solchen zytoplasmischen Zybrid, so hofft man, lassen sich künftig in den ersten Stadien der Zellteilung humane embryonale Stammzelllinien gewinnen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, humane embryonale Stammzellen ohne Verwendung von gespendeten menschlichen Eizellen aus Zybriden vor der Einpflanzung in eine Gebärmutter herzustellen. Dies stellt insofern einen Fortschritt dar, als das Spenden von Eizellen durchaus mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Zweifellos hätte diese Methode der Gewinnung pluripotenter embryonaler Stammzelllinien, aus denen verschiedene Gewebetypen entwickelt werden können, durchaus Bedeutung für die medizinische Forschung - zum besseren Verständnis der molekularen Grundlagen für Erkrankungen und für die Entwicklung neuer Zell- und Gewebetherapien. Auf diesem Gebiet hat es nach ersten Vorhaben bis 2005 allerdings einen Stillstand gegeben. Dazu gibt es mittlerweile eine mögliche technische Alternative: Seit 2007 lassen sich menschliche Zellen mithilfe spezieller molekularer Signale in induzierte pluripotente Stammzellen (IPs-Zellen) verwandeln. Es ist heute trotz wichtiger Fortschritte nicht abschließend zu bewerten, ob sich die hohen Erwartungen an die IPs-Zellen erfüllen lassen. Bei den Zybriden stellt sich die Grundsatzfrage: Sind die Zybride noch menschlich, gehen wir bei ihnen davon aus, dass der Schutz menschlichen Lebens von Beginn an geboten ist - oder sind sie ein technisches Konstrukt ohne moralischen Status, das auf anderem Wege als durch Zeugung im Verständnis des Embryonenschutzgesetzes entsteht? Übertragung menschlicher Zellen, auch Stammzellen, in ungeborene oder geborene Tiere - Hirnchimären. Zur Vorbereitung klinischer Studien am Menschen, um Therapien gegen eine unfall- oder krankheitsbedingter Zell- oder Gewebezerstörung zu entwickeln, werden in präklinischen Studien menschliche Zellen, auch unreife, in Tiere verpflanzt, um die therapeutischen Effekte einer solchen Transplantation zu untersuchen. Solche Studien werden am Hirn zur Erforschung von Krankheiten wie etwa Alzheimer-Demenz, Schlaganfall oder Parkinson mit der Hoffnung auf spätere Behandlungsansätze vorgenommen. Damit wird auch die Frage aufgeworfen, ob durch die Verpflanzung menschlicher Nervenzellen oder ihrer Vorläufer in Tiergehirne menschliche Befähigungen im Tier entstehen können, welche die Frage nach dem moralischen Status des Tieres aufwerfen. Könnten etwa auf diesem Wege kognitive Fähigkeiten des Tieres gesteigert, "vermenschlicht" werden? Im vergleichsweise sehr kleinen Hirn von Nagetieren spricht alles dagegen, dass menschlich geprägte Nervennetzwerke räumlich überhaupt entstehen können. In Tierversuchen gibt es aber auch den Hinweis darauf, dass Transplantationen von unreifem Nervengewebe zwischen verwandten Arten mit vergleichbarem Hirnvolumen, mit vergleichbarer Hirnstruktur durchaus zu Mischwesen mit chimärischem Hirn führen können, die Verhaltensweisen der Spenderart zeigen. So äußerten Hühner nach einer Transplantation von Wachtel-Hirngewebe wachtelartige Laute. Deshalb ist für die Zukunft durchaus ein wachsendes Interesse an der Transplantation menschlicher Hirnzellen, von menschlichem Hirngewebe in Primaten, insbesondere Menschenaffen, denkbar. Solche Versuche könnten zu einem chimärischen Hirn eines Menschenaffen führen, der Verhaltensweisen des Menschen zeigt. Wir verfügen aber bislang nicht über angemessene verhaltensbiologische Untersuchungen zu der Frage, ob es zu qualitativen Verhaltensänderungen bei Tieren mit menschlichen Zellen im Gehirn kommt. Zum moralischen Status von Mensch und Tier Moralischer Status und Menschenwürde. Der Mensch hat sich selbst immer wieder in Abgrenzung zum Tier, zum Säugetier, als "Nicht-Tier" definiert, sein Selbstverständnis ist von der Einzigartigkeit des Menschen als Vernunftwesen, als moralfähiges Wesen geprägt. Nur dem Menschen kommt Würde als Wesensmerkmal zu. Nach dem Verständnis unserer Verfassung kommt sie jedem einzelnen Mensch und allen Menschen gemeinsam (Gattungswürde) zu. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu festgestellt: "Menschenwürde (...) ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann." Der Mensch ist um seiner selbst willen zu achten. Status und Schutz des Tieres. Aus dem Verständnis eines grundsätzlichen Unterschiedes zwischen Mensch und Tier hat der Mensch das Recht abgeleitet, Tiere zu essen und zu töten, sie zu besitzen, als Mittel zum Zweck zum Nutzen der Menschheit zu erzeugen und zu verwenden. Die Tierwelt umfasst eine große Breite von niedrig bis hoch entwickelten Arten. Von menschlicher Sensibilität und Fragen des Tierschutzes werden vorrangig Wirbeltiere (etwa Fische, Reptilien, Vögel) erfasst, da ihnen Schmerz und Leidensfähigkeit zuerkannt wird. Zu den Wirbeltieren zählen auch die Säugetiere - warmblütig, meist behaart, mit ausgeprägter Hirnfunktion und in der Regel mit vier Gliedmaßen versehen. Weitgehend durchgesetzt hat sich seit dem 19. Jahrhundert die Auffassung, dass allen schmerz- und leidensfähigen Wesen - zu denen neben dem Menschen vor allem auch die Wirbeltiere zählen - moralische Rücksicht gebührt. In dieser Zeit setzte auch die Forderung nach gesetzlichen Grenzen für die Verwendung von Tieren zu Forschungszwecken ein. 1876 wurde in Großbritannien das Gesetz zur Verhinderung der Grausamkeit gegen Tiere (Cruelty to Animal Act) erlassen, das die Zulassung von Labors für Tierversuche und die Genehmigungspflicht für bestimmte Tierversuche festlegte. Vergleichbare Bestimmungen wurden 1880 in Bayern und 1885 in Preußen in Ministerialerlassen festgelegt. Albert Schweitzer weitete in seiner "Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben" den Gedanken der ethisch begründeten Rücksichtnahme auf Tiere auf eine Ethik der Verantwortung für die Tiere als Teil der Schöpfung, als Mitgeschöpfe der Menschen, aus. Seitdem hat der Schutz von Tieren große Fortschritte gemacht. 2002 wurde das Staatsziel Tierschutz in Artikel 20a unseres Grundgesetzes aufgenommen. Das geltende deutsche Tierschutzgesetz geht durchaus von einer Sonderstellung des Menschen in der Natur, als Vernunftwesen mit Moralfähigkeit aus, aber mit Verantwortung für den Schutz von Tieren als Teil der Schöpfung. In Paragraf 1 wird als Ziel des Tierschutzes genannt: "aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen". Schmerz- und leidensfähigen Wesen, also auch vielen Tieren, insbesondere Wirbeltieren, gebührt moralische Rücksicht von Seiten der moralfähigen Menschen. Paragraf 7 des Tierschutzgesetzes definiert den Tierversuch als Eingriff oder Behandlung zu Versuchszwecken "1. an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere oder 2. am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können". Das Tierschutzgesetz konzentriert sich auf den Schutz von Wirbeltieren. Tierversuche sind nach Paragraf 7 Absatz 3 nur zulässig, wenn die zu erwartenden Schmerzen Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Dies ist der Fall, wenn davon auszugehen ist, dass die angestrebten Forschungsergebnisse für wesentliche Bedürfnisse von Tier und Mensch einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sind. Es muss also eine Abwägung zwischen Schutz und Wohlergehen des Tieres und Hochrangigkeit der Forschungsziele vorgenommen werden. Diese erfolgt bei Forschungsprojekten mit Wirbeltieren im Rahmen eines Antragsverfahrens unter Einschaltung einer Tierschutzkommission. Zur besonderen Stellung von Primaten und Menschenaffen. Der moralfähige Mensch, dem Würde als Vernunftwesen zukommt, gewichtet seine Verpflichtung zum Schutz von Tieren durchaus differenziert. Immer häufiger wird die Forderung erhoben - nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Verhaltensforschung -, dass Tiere, die uns biologisch und in moralisch relevanten Eigenschaften nahestehen, eine besonders starke Rücksichtnahme verdienen. Primaten, insbesondere Menschenaffen, die als Tiere besonders ausgeprägte Leidensfähigkeit und Schmerzempfinden besitzen, werden in immer stärkerem Maße als Adressaten spezieller moralischer Schutzpflichten von Seiten des Menschen gesehen. Zu den Menschenaffen zählen der Gorilla, der Orang-Utan und der Schimpanse. Insbesondere Verhaltensforschung an und mit Primaten hat die Frage aufgeworfen, ob auch Menschenaffen kulturfähig seien, in die Zukunft hinein denken und über eine Vorstufe von Moral verfügen. Aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Nähe zum Menschen müssten besondere Schutzpflichten für sie gelten. In diesem Sinne haben etwa die Schweiz, Österreich, die Niederlande und Neuseeland Versuche an Menschenaffen verboten. Auf EU-Ebene ist dies seit 2010 bis auf wenige Ausnahmefälle untersagt. Solche Versuche fanden seit 1991 auch in Deutschland nicht mehr statt. Manche, etwa Utilitaristen, ziehen die Schlussfolgerung, dass Menschenaffen den gleichen moralischen Status wie Menschen hätten und ihnen auch Würde zukomme. Der Gedanke des Tierschutzes müsse daher auf die Durchsetzung von Tierrechten ausgeweitet werden. Aspekte der ethischen Beurteilung von Mensch-Tier-Mischwesen Überschreiten der Artengrenze - ein grundsätzliches ethisches Problem? Jedes Lebewesen wird in der Biologie einer bestimmten Art zugeordnet, die in der Evolutionsbiologie als Fortpflanzungsgemeinschaft verstanden wird. Zwischen den Arten kommt es nicht zu Paarungen, in Ausnahmefällen entstehen dabei nur unfruchtbare Nachkommen. Eine biologische Art ist eine in sich geschlossene Fortpflanzungs- und Abstammungsgemeinschaft, die eine genetische, evolutionäre und ökologische Einheit bildet. Diese natürliche Ordnung muss aber nicht zwangsläufig unangetastet bleiben. Wohl sollte sie den Menschen dazu bewegen, eine sorgfältige Abwägung zwischen den Zielen eines solchen Vorgehens und dem Respekt vor natürlich gewachsenen Artengrenzen vorzunehmen. Bei niederen Lebensformen wie Bakterien oder Viren stellt sich diese ethische Frage ohnehin nicht. Die beobachtbare Eigenschaft von Viren, also Krankheitserregern, Artengrenzen überwinden zu können, stellt aber eine deutliche Gefährdung der Gesundheit von Menschen, aber auch von Tieren, dar. Der Gedanke des Artenschutzes setzt nicht in erster Linie bei der einzelnen Art an, es geht hier um den Erhalt der Artenvielfalt, der genetischen Vielfalt in der Natur. Auf diesem Verständnis baut beispielsweise die Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen auf. Aus einer moralischen Pflicht, die Artenvielfalt als Ganzes zu erhalten, lässt sich aber kein unbedingtes Gebot ableiten, die unter den einzelnen Arten bestehenden Grenzen nicht zu überschreiten. Zur Sonderstellung der Art "Homo Sapiens". Wenn es um die Artengrenze zwischen Mensch und Tier geht, bewegen wir uns in einer verbreiteten kulturellen Tradition der Menschheit, die von einer deutlichen Trennung von Mensch und Tier ausgeht. Der Mensch-Tier-Grenze wird eine besondere ethische Bedeutung zugewiesen. Biologisch gesehen ist der Mensch den Tieren zuzuordnen. Kulturell herrscht das Verständnis einer Sonderstellung des Menschen im Tierreich vor, begründet durch die menschenspezifische Ausprägung bestimmter Befähigungen. Zu diesen Befähigungen gehören vor allem Sprache, Selbstbewusstsein und Kultur. Von besonderer ethischer Relevanz ist dabei, dass nur ihm das Vermögen, moralisch motiviert zu handeln, gegeben sei. Hierauf gründen Befähigungen und Besonderheiten des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Die moderne Verhaltensbiologie geht intensiv der Frage nach, ob nicht auch einzelne Tierarten, insbesondere Primaten, Ansätze derartiger Fähigkeiten aufweisen. Hier kommt der Deutsche Ethikrat zu der Bewertung, dass solche Befähigungen in Ansätzen zweifellos auch bei Tieren vorhanden sind. Sie sind aber beim Menschen ungleich komplexer, mit einer anderen Qualität ausgeprägt und beruhen auf bewusster Reflexion. Die biologische Evolution hat sich beim Menschen offenkundig durch kulturelle Evolution beschleunigt und an Komplexität deutlich zugelegt. Dies wird besonders bei Kommunikation und Sprache deutlich. Nur beim Menschen ist von Sprachfähigkeit in vollem Sinne zu sprechen: Sie ermöglicht die Ausbildung von Wissen, das über Generationen hinweg weitergegeben wird. Beim Menschen haben sich Laut-, Schrift-, Kunst- und Wissenschaftssprache ausgebildet, eine entscheidende Grundlage für die Ausbildung von Recht, Wissenschaft, Technik, Kunst und Religion. Ergebnisse der modernen Soziobiologie werfen durchaus die Frage auf, ob menschliche Moralfähigkeit nach den gleichen evolutionären Prinzipien wie die menschliche Gestalt oder physiologische Eigenschaften entstanden sind. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass das entscheidende Kriterium für die Moralfähigkeit des Menschen nicht allein eine empirisch zu beobachtende "moralische" Handlungsweise ist. Sie begründet sich zentral in dem geistigen Reflexionsprozess und in vernunftgeleiteten Überlegungen, die sich auf Gründe berufen und sich an moralisch gebotenen Vorgaben orientieren, die einer solchen Handlung - oder ihrem Unterlassen - vorausgehen. Daraus ergibt sich aber auch, dass der Mensch - und nur er - im Kontext seiner kulturellen Entwicklung Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für den Erhalt und die Entfaltung seiner natürlichen und kulturellen Lebensgrundlagen übernehmen kann und übernehmen soll. Das schließt den Respekt vor der Tierwelt, den Tierschutz ein. Ethische Relevanz der Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwesen Im Allgemeinen wird nicht davon ausgegangen, der ethisch bedeutsame Unterschied zwischen Mensch und Tier beruhe auf der biologischen Zugehörigkeit zur Art als solcher. Die Artzugehörigkeit ist aber insofern relevant, als sie die biologischen Voraussetzungen jener artspezifischen Befähigungen anzeigt, die Grundlage für die Sonderstellung des Menschen sind. In diesem Sinne ist die Artzugehörigkeit, die Gattungszugehörigkeit Bestandteil des Begriffs der Menschenwürde. Menschenwürde kommt in unserer Verfassung nicht nur dem einzelnen Menschen, sondern auch dem Menschen als Gattung zu, sie wird aber nicht nur aus der Artzugehörigkeit begründet. Die Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwesen, die in weit erheblicherem Umfang als das eingesetzte Versuchstier eine Annäherung an die typisch menschlichen Befähigungen aufweisen, würde diese kulturell verankerte gattungsbezogene Basis unseres Verständnisses von Menschenwürde berühren, ja in Frage stellen. Daraus können sich Konsequenzen für den Umfang der Schutzpflichten gegenüber den veränderten Tieren, aber auch für die Einschätzung des moralischen Status des Mensch-Tier-Mischwesens ergeben. Ein grundlegendes Problem bei der Schaffung von Mischwesen besteht darin, dass ethisch höchst relevante Merkmale (insbesondere solche, die Leistungen des Gehirns betreffen) sich erst nach der Geburt ausprägen. Man müsste also Experimente und Züchtungen vornehmen, um ex post ihre ethische Zulässigkeit bewerten zu können. Allerdings lassen sich schon ex ante Aussagen zur Eingriffstiefe des geplanten Vorgehens treffen. Es geht zum einen um das quantitative Verhältnis von menschlichem und tierischem Beitrag zum Mischwesen, nach dem Prinzip minimaler Anteil, geringe Wirkung. Welcher Anteil artfremden Materials wird integriert? Diese Frage hat bei informationsgebenden Molekülen wie Genen, Proteinen, DNA oder RNA durchaus eine gewisse Bedeutung. Bei einer transgenen Maus werden heute nur ein Gen oder wenige Gene des Menschen in das 30000 Gene umfassende Mäusegenom eingefügt. Der transgene Beitrag liegt also unter ein Promille. Vergleichbare Mischungsverhältnisse können sich bei der Einfügung von Zellen in das Hirn eines Mäuseembryos ergeben. Bei der Einfügung eines ganzen Chromosoms in das Mausgenom würde sich das Mischungsverhältnis schon spürbar ändern. Quantitative Angaben allein sind aber meistens nicht überzeugend, sie müssen durch qualitative Attribute ergänzt werden. Relevant ist die Frage, auf welcher Ebene eines Organismus (Zelle, Gewebe, Organ), in welchem Entwicklungsstadium des Tieres der Eingriff erfolgt. Im Frühstadium der Embryonalentwicklung, vor Ausbildung der Organanlagen kann das Implantat (Gen, Chromosom oder Stammzelle) den gesamten Organismus einschließlich Keimbahn und Gehirn beeinflussen, ja dominierend gestalten. Insgesamt werfen bei der Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen Eingriffe in die Erbanlagen, sowie Eingriffe mit Auswirkungen auf Befähigungen, die für den moralischen Status eines Wesens relevant sind, die Frage der Verantwortbarkeit auf. Dies gilt aber auch für einschneidende Veränderungen des Aussehens, da sie die Basis intuitiver Abgrenzungen berühren. Empfehlungen des Deutschen Ethikrates Die Empfehlungen des Ethikrates verstehen sich als Bausteine eines von Vorsicht und Vorsorge getragenen Vorgehens auf dem Feld der Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen. 1. Der Deutsche Ethikrat will den Weg zur Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwesen unklarer Artzuordnung grundsätzlich untersagen und fordert deshalb, "dass keine Mensch-Tier-Mischwesen in eine Gebärmutter überragen werden dürfen, bei denen man vorweg absehen kann, dass ihre Zuordnung zu Tier oder Mensch nicht hinreichend sicher möglich ist ('echte Mischwesen')". 2. Der Deutsche Ethikrat begrüßt, dass in Paragraf 7 des Embryonenschutzgesetzes schon Bestimmungen enthalten sind, die das Entstehen von Mensch-Tier-Mischwesen verhindern sollen, insbesondere durch das Verbot der Übertragung menschlicher Embryonen auf ein Tier sowie der Erzeugung von Lebewesen durch Befruchtung, insbesondere unter Verwendung von menschlichen und tierischen Keimzellen oder Fusion eines menschlichen Embryos mit einem tierischen Embryo. Die Bestimmungen des Paragraf 7 des Embryonenschutzgesetzes sind durch folgende Verbote zu erweitern: das Verbot der Übertragung tierischer Embryonen auf den Menschen und das Verbot des Einbringens tierischen Materials in den Erbgang des Menschen. 3. Ein Teil des Ethikrates spricht sich für ein Verbot der Herstellung von Mensch-Tier-Zybriden aus, da "in seinem Zellkern alle Wesensmerkmale für ein menschliches Individuum angelegt sind". Ein Teil des Ethikrates lehnt ein Verbot ab, da "das Verfahren des Zellkerntransfers (...) in einem völlig anderen Kontext als die Erzeugung von Nachkommen" geschehe. Das experimentelle Zellkonstrukt sei nicht als menschliches Leben anzusehen. Der gesamte Ethikrat spricht sich für ein Verbot einer Einpflanzung eines Zybrids in eine Gebärmutter aus. 4. Bei weiteren Entwicklungen auf dem Feld transgener Tiere und bei der Einbringung menschlicher Zellen in das Hirn von Säugetieren sollten Experimente mit großer Eingriffstiefe "insbesondere bei Einfügung von Genen oder Injektion von Zellen in der Embryonalentwicklung, in der Hochrangigkeit wissenschaftlicher Zielsetzungen, insbesondere im Hinblick auf ihren zu erwartenden medizinischen Nutzen für die Menschheit sehr gut begründet sein und auf ihre möglichen Auswirkungen auf den moralischen Status des Mischwesens bewertet werden." Hochrangigkeit der Grundlagenforschung soll als alleinige Begründung nicht ausreichen. 5. Bei Forschungsvorhaben an Primaten sollten Anträge "aufgrund unseres vorläufigen und begrenzten Wissens über mögliche Auswirkungen auf Aussehen, Verhalten und Befähigungen" einem interdisziplinären Begutachtungsverfahren unterliegen. Der nach Paragraf 49 der EU-Tierschutzrichtlinie auch in Deutschland zu bildende Nationale Ausschuss sollte bundesweite Richtlinien dazu erarbeiten und an Grundsatzentscheidungen auf diesem Gebiet beteiligt werden. 6. Der Deutsche Ethikrat spricht sich für ein Verbot "der Schaffung transgener Mensch-Tier-Mischwesen mit Menschenaffen" und für ein Verbot der "Einfügung hirnspezifischer menschlicher Zellen speziell in das Gehirn von Menschenaffen" aus. 7. Der Ethikrat fordert mehr interdisziplinäre Forschung zu den Auswirkungen des Einbringens menschlicher Gene, Chromosomen, Zellen und Gewebe in den tierischen Organismus. Diese "muss verstärkt ethische Fragestellungen berücksichtigen und dabei auch die Auswirkungen auf das Verhalten und die Befähigungen sowie phänotypische Veränderungen einbeziehen". 8. Notwendig ist vor allem eine größere gesellschaftliche Transparenz auf diesem Forschungsgebiet. Deshalb sollten die Tierschutzberichte der Bundesregierung künftig detaillierte Informationen dazu enthalten. Vgl. Tierschutzbericht der Bundesregierung 2011, Bundestags-Drucksache 17/6826, S. 52, S. 63. Vgl. ebd., S. 62. Die Huntington-Krankheit ist eine seltene, vererbbare und fortschreitende Erkrankung des Gehirns, die meist zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr ausbricht. Ursache ist ein verändertes Gen. Es gibt bisher keine Heilmethode. Vgl. online: www.huntington-hilfe.de (3.2.2012). BVerfGE 87, 209 (228). Deutscher Ethikrat, Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung. Stellungnahme, Berlin 2011, S. 119. Ebd., S. 102. Ebd., S. 100. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 120; EU-Tierschutzrichtlinie: Amtsblatt EG Nr. L 276/33 vom 20.10.2010. Ebd., S. 123, S. 124. Ebd., S. 121.
Article
, Wolf-Michael Catenhusen
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-03-07T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/75824/tiere-und-mensch-tier-mischwesen-in-der-forschung/
Neue Wissenschaftsfelder haben zur Schaffung von Mensch-Tier-Mischwesen geführt. Ist dies mit unserem Selbstverständnis, das traditionell von einer klaren Grenzziehung zwischen Mensch und Tier ausgeht, vereinbar?
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Weiße Gentechnologie | Bioethik | bpb.de
Definition In der industriellen Biotechnologie, häufig auch als "Weiße Biotechnologie" bezeichnet, werden biotechnologische Verfahren in industriellen Produktionsprozessen eingesetzt. Dabei werden die Fähigkeiten bestimmter Mikroorganismen, Zellkulturen oder Enzyme – Substanzen herzustellen, umzubauen oder abzubauen – für technische Anwendungen genutzt. Auf diese Weise können viele verschiedene Produkte hergestellt werden, wie z.B. Lebensmittel und Getränke, Vitamine und Aromastoffe, Medikamenten- und Pestizidwirkstoffe, Chemikalien, Werkstoffe sowie Bioenergieträger (etwa Bio-Ethanol oder Biogas). Biotechnologische Verfahren spielen heute in vielen Branchen eine wichtige Rolle, weil sie das Spektrum der industriell nutzbaren Produktionsverfahren ergänzen und erweitern. Hierzu gehören die chemische und pharmazeutische Industrie, die Lebensmittel- und Getränkeherstellung, die Textilindustrie, die Zellstoff- und Papierherstellung, die Lederherstellung sowie die Energieversorgung. Gründe für den Einsatz biotechnologischer Verfahren in der industriellen Produktion Der Einsatz biotechnologischer Verfahren in der industriellen Produktion wird mit der Erwartung verbunden, bestehende Prozesse und Produkte zu verbessern und neue zu entwickeln. Dabei kann es sich um Produkte handeln, bei denen die ursprüngliche Produktionsweise durch biotechnologische Verfahrensschritte ersetzt wird, um so wirtschaftlicher oder umweltfreundlicher produzieren zu können (z.B. die fermentative Herstellung von Zitronensäure durch den Schimmelpilz Aspergillus niger anstelle der Gewinnung aus Zitrusfrüchten oder stone-washed Jeans, deren verwaschenes Aussehen mittlerweile mit Hilfe von Enzymen statt wie früher durch Waschen mit Bimssteinen erzielt wird); die konventionell hergestellte Produkte ersetzen bzw. ergänzen und sich ggf. noch durch besondere Eigenschaften und Qualitätsvorteile auszeichnen (z.B. biologisch abbaubare, waschaktive Substanzen, sogenannte Bio-Tenside, Bio-Ethanol als alternativer Treibstoff); die einzigartig sind und nicht bzw. nicht wirtschaftlich auf einem anderen als dem biotechnologischen Wege herstellbar wären (z.B. Joghurt, Käse, kompliziert gebaute Molekülstrukturen, Proteine als Medikamente, Waschmittelenzyme; die Biomasse anstelle von fossilen Rohstoffen als Ausgangsmaterial nutzen (z.B. "Bioplastik", Biokraftstoffe). Bedeutung der Gentechnik für die industrielle Biotechnologie Biotechnologische Verfahren sind nicht mit Gentechnologie gleichzusetzen: Klassische biotechnologische Verfahren, bei denen natürlich vorkommende Mikroorganismen oder Enzyme eingesetzt werden, sind insbesondere in der Lebensmittel- und Getränketechnologie seit Jahrhunderten etabliert (beispielsweise der Einsatz von Hefen in der Brot-, Bier- und Weinproduktion). Aufgrund des rasanten technologischen Fortschritts, des immensen Zuwachses an verfügbaren genetischen Informationen und drastisch gesunkener Kosten für gentechnische Verfahren (bspw. Sequenzbestimmungen) werden genetische Verfahren heute bereits routinemäßig für die Identifikation und Charakterisierung neuer Produktionsorganismen oder Enzyme eingesetzt. Ein wachsendes Verständnis für die Mechanismen, die bestimmten (erwünschten und unerwünschten) Eigenschaften von Produktionsorganismen zugrunde liegen, ermöglicht es bereits in vielen Fällen, neue Produktionsorganismen aufgrund ihrer genetischen Merkmale zu identifizieren. Die so ausgewählten Organismen sind aber nicht gentechnisch verändert. In der Regel sind allerdings natürlich vorkommende Organismen für industrielle Produktionsprozesse nur bedingt geeignet. Deswegen handelt es sich bei so gut wie allen eingesetzten Produktionsorganismen um solche, die für industrielle Produktionsprozesse optimiert wurden und mit denen hohe Produktionsausbeuten erreicht werden können. Viele Firmen verwenden häufig "eigene" Mikroorganismenstämme, für die sie über die alleinigen Nutzungsrechte verfügen. Diese werden für neue Anwendungen (beispielsweise die Herstellung eines neuen Enzyms) jeweils entsprechend gentechnisch verändert. Durch Veränderungen des Erbguts kann der Stoffwechsel von Mikroorganismen für die jeweiligen Produktionsprozesse optimiert werden (sogenanntes Metabolic engineering) oder es können neue Gene in einen etablierten Produktionsorganismus übertragen werden, damit in diesem beispielsweise ein industrielles Enzym in großem Maßstab produziert werden kann. Hierfür stehen verschiedene gentechnische Verfahren zur Verfügung. Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob fremde DNA-Sequenzen in das Erbgut eines Organismus eingebracht werden, sodass der resultierende Organismus als transgen zu bezeichnen ist, oder ob ausschließlich zufällige Methoden wie die UV-Mutagenese zum Einsatz kamen, bei denen der resultierende Organismus zwar Veränderungen im Erbgut aufweist, diese sich aber nicht von natürlichen Mutationen unterscheiden lassen. Seit wenigen Jahren stehen zudem Methoden zur Verfügung, die die punktgenaue Veränderung des Erbguts (auch "Genome Editing" genannt) ermöglichen. Während bislang nur solche Organismen, bei denen fremde DNA-Sequenzen in das Erbgut eingebracht wurden, nach deutschem und europäischem Recht als gentechnisch verändert gelten, ist nun eine Diskussion darüber entbrannt, wann ein Organismus als gentechnisch verändert zu betrachten ist und anhand welcher Kriterien dieser zu bewerten ist. Unter anderem befasst sich aktuell der Europäische Gerichtshof mit dieser Frage. Die meisten Produkte, die mit Hilfe biotechnologischer Verfahren oder mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellt werden, sind Zwischenprodukte, die noch in weiteren industriellen Verfahren (teilweise auch in anderen Branchen) zu Endprodukten verarbeitet werden, mit denen der Verbraucher letztlich in Kontakt kommt. Diese Zwischen- und Endprodukte enthalten in der Regel keine lebensfähigen Produktionsorganismen mehr, möglicherweise aber Enzyme, die als Prozesshilfsstoffe eingesetzt wurden, oder gentechnisch veränderte DNA. Eine Besonderheit stellt der Lebensmittelmarkt innerhalb der industriellen Biotechnologie dar. Für gentechnisch veränderte Agrarrohstoffe und für daraus hergestellte Lebensmittel sind Schwellenwerte festgelegt, bei deren Überschreitung eine spezielle Kennzeichnung vorgeschrieben ist. Wegen der ablehnenden Haltung von Handel und Verbrauchern gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmittelrohstoffen, gentechnisch veränderten Starterkulturen und Enzymen sowie Zusatzstoffen, die mit Hilfe gentechnisch veränderter Organismen produziert wurden (umgangssprachlich auch als "Gen-Produkte" bezeichnet), werden viele Produkte in verschiedenen Versionen (konventionell oder gen(technik-)frei) hergestellt. Die genaue Unterscheidung von solchen Produkten kann im Einzelfall jedoch schwierig sein, da möglicherweise im Laufe des Herstellungsprozesses gentechnische Verfahren zum Einsatz gekommen sind, dies in den Endprodukten aber nicht mehr nachweisbar ist. Dabei kann es sich beispielsweise um gentechnisch hergestellte Futtermittelzusätze wie Vitamine oder Aminosäuren handeln (vgl. Externer Link: www.transgen.de). In der Regel ist nicht davon auszugehen, dass für die Endverbraucher Gesundheitsrisiken beim Konsum von Produkten bestehen, die mit Hilfe gentechnischer Methoden hergestellt wurden. Unabhängig davon, ob die Produktionsorganismen gentechnisch verändert sind oder nicht, kann der Einsatz von Mikroorganismen und Enzymen in industriellen Produktionsprozessen Gefahren für die menschliche Gesundheit mit sich bringen. Betroffen sind in erster Linie Beschäftigte in biotechnologischen Produktionsanlagen. Seit Mitte der 1970er Jahre wurden Sicherheitsmaßnahmen entwickelt, gesetzlich verbindlich vorgeschrieben und in die industrielle Praxis eingeführt, die darauf abzielen, Gefährdungen vorzubeugen und Beschäftigte vor Infektionen, Allergien oder toxischen Wirkungen zu schützen. Die meisten Mikroorganismen, die für industrielle Zwecke optimiert worden sind, dürften in der freien Umwelt natürlichen Organismen im Hinblick auf ihre Überlebensfähigkeit deutlich unterlegen sein. Ein Umweltrisiko ist insbesondere in der Verbreitung von Antibiotika-Resistenzen zu sehen. Viele Bakterien sind zu einem sogenannten Gentransfer in der Lage, d.h. der Übertragung von Genen auf einen anderen Organismus. Da viele Produktionsorganismen zu Selektionszwecken Resistenzgene tragen, besteht die Gefahr, dass im Falle einer Freisetzung diese Resistenzgene auf natürlich vorkommende Bakterien übertragen werden. Die wichtigsten Maßnahmen bei der Arbeit mit genetisch veränderten Mikroorganismen bestehen demnach darin, ungefährliche Produktionsorganismen zu verwenden und in geschlossenen Anlagen zu produzieren, aus denen sie nicht in die Umwelt freigesetzt werden. (Externer Link: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)). Der Einsatz von Gentechnologie kann aber auch einen Beitrag zu sichereren Produktionsprozessen und Produkten sein, da ggf. toxische Eigenschaften von Mikroorganismen gezielt ausgeschaltet werden können oder anstelle eines natürlich vorkommenden, aber toxischen Organismus, ein unkritischer Produktionsorganismus entwickelt werden kann. Neuartige Biotechnologische Verfahren Um die immensen Vorteile der industriellen Biotechnologie in Zukunft effizient nutzen zu können, müssen zum einen die bereits existierenden biotechnologischen Verfahren fortlaufend verbessert werden, zum anderen werden neuartige Verfahren benötigt, die für den industriellen Einsatz geeignet sind. Wichtige Trends sind die engere Verzahnung von chemischen und biotechologischen Prozessschritten und die Übertragung ingenieurtechnischer Ansätze auf biotechnologische Prozesse. In Deutschland beschäftigt sich eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen und kleinerer Biotechnologie-Unternehmen mit der Entwicklung neuer Technologien. Eine hohe Hürde stellt jedoch die Überführung neuer Konzepte in die wirtschaftliche Anwendbarkeit dar. So existieren bereits diverse Beispiele, wie vollständige, nicht-natürliche Synthesewege in einem Produktionsorganismus konstruiert wurden; im großen Maßstab kommt die sogenannte synthetische Biologie jedoch noch nicht zum Einsatz. Durch das "genome editing" eröffnen sich nun auch für die industrielle Biotechnologie weitreichende Potenziale. Unter anderem wird erwartet, dass durch die gezielte Manipulation der Genome von Produktionsorganismen noch bestehende Limitationen überwunden werden und dadurch vielfältige neue Anwendungsgebiete für die Biotechnologie erschlossen werden können, beispielsweise für die Produktion von Biokraftstoffen durch Mikroorganismen, in der Abfall- und Abwasseraufbereitung oder für die Herstellung von biobasierten Chemikalien. Wirtschaftliche Bedeutung Zur kommerziellen Verwertung und wirtschaftlichen Bedeutung der industriellen Biotechnologie gibt es nur annäherungsweise Daten. Das "Key Enabling Technology Observatory" der Europäischen Kommission schätzt die Beschäftigung in Deutschland, die von der Produktion mithilfe der industriellen Biotechnologie abhängt, auf knapp über 50.000 Personen im Jahr 2013 (KET Observatory 2015). Dabei kommt Klein- und Mittelständischen Unternehmen (KMU) eine erheblich geringere Rolle bei der kommerziellen Verwertung zu als der medizinischen (roten) Biotechnologie. Die meisten der Unternehmen in Deutschland, die ausschließlich auf Biotechnologie spezialisiert sind, sind schwerpunktmäßig in der roten Biotechnologie aktiv. 63 dedizierte Biotechnologieunternehmen, fast ausschließlich KMUs, haben in Deutschland ihren Schwerpunkt eindeutig in der industriellen Biotechnologie (BIOCOM 2017). Diese Anzahl ist in den letzten Jahren recht konstant geblieben. Kleine und mittelständische Unternehmen in diesem Bereich haben Probleme, ertragreiche Geschäftsmodelle zu entwickeln. Besonders bei Massenprodukten (z.B. bei biotechnologischen Grundchemikalien oder Biokunststoffen) kommt ihnen aufgrund des hohen Kapital- und Ressourcenbedarfs in der Regel nur die Rolle des Forschungs- und Entwicklungsdienstleisters oder Zulieferers zu. Nur wenige Unternehmen haben in bedeutenderem Maße eigene Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten (vgl. Aichinger et al. 2017). In den genannten Zahlen zur industriellen Biotechnologie sind keine Biotechnologie-Forschungseinrichtungen bzw. Unternehmen enthalten, die biotechnologische Produkte nur weiterverarbeiten oder etablierte Verfahren einsetzen. Auch große Unternehmen, für die Biotechnologie nur ein Teil der Geschäftsgrundlage ist, sind darin nicht enthalten. Aber gerade unter den Großunternehmen der chemischen Industrie hat eine erhebliche Anzahl strategische Schwerpunkte in der industriellen Biotechnologie gesetzt und baut ihre Aktivitäten in diesem Bereich aus (z.B. BASF, Evonik, Wacker), wenngleich ihr Kerngeschäft nach wie vor in der klassischen Chemie besteht. Wie sieht die Zukunft aus? Gibt es einen Übergang zur Bioökonomie? Der Umsatz und Anteil biotechnologischer Produkte und Verfahren an allen produzierten Gütern ist nach wie vor gering. Immerhin gibt es auch einige Hemmnisse bei der Verbreitung der industriellen Biotechnologie: Neben der bereits erwähnten kritischen Haltung der Verbraucher gegenüber biotechnologischen und gentechnischen Produktionsverfahren z.B. bei Lebens- und Futtermitteln sind hier v.a. die häufig höheren Kosten und Preise im Vergleich zu konventionellen Produkten zu nennen. Weiterverarbeitende Unternehmer sowie Verbraucher sind oftmals nicht bereit, mehr für diese Produkte zu zahlen. Expertenschätzungen zufolge wird es aber eine deutliche Steigerung in den kommenden Jahren geben (BIO TIC 2015). Großes Potenzial ergibt sich für die Industrielle Biotechnologie durch ihren möglichen Beitrag beim Übergang zu einer Bioökonomie, die auf nachwachsenden Rohstoffen anstatt auf fossilen Rohstoffen basiert. Ein solcher Übergang zur Bioökonomie wird als eine der zentralen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte angesehen. In Deutschland und vielen anderen Ländern wurden in den letzten Jahren strategische Forschungsprogramme und Politikstrategien verabschiedet, die die Grundlagen für eine nachhaltige, biobasierte Wirtschaft schaffen sollen (z.B. "Nationale Forschungsstrategie 2030" sowie "Politikstrategie" der Bundesregierung). Im Frühjahr 2017 hat die deutsche Bundesregierung zudem eine Agenda zur "Biologisierung der Produktion" angekündigt (bioeoekonomie.de 2017). Dabei steht häufig nicht mehr allein die Ersetzung von fossilen durch pflanzliche Rohstoffe im Vordergrund. Auch die Beiträge zur Erreichung von Klima- und Umweltschutzzielen und den "Sustainable Development Goals" der UN gewinnen an Bedeutung und Legitimationskraft für die Bioökonomieförderung (Hüsing et al. 2017). Biotechnologische Verfahren können in der Bioökonomie einer Vielzahl von Produktsegmenten (Massenchemikalien, Fein-/Spezialchemikalien, Biokraftstoffe) zu einer wirtschaftlichen und nachhaltigen Produktionsweise beitragen. Im Gegensatz zu vielen herkömmlichen chemischen Verfahren, für die mehrheitlich fossile Rohstoffe verwendet werden, basieren biotechnologische Produktionsverfahren im Allgemeinen auf pflanzlichen und somit nachwachsenden Rohstoffen. Außerdem verspricht der Einsatz von biotechnologischen Verfahren, maßgeblich zum Klimaschutz beizutragen: Der Energiebedarf bei biotechnologischen Verfahren ist häufig geringer als bei chemischen Synthesen und es fallen geringere CO2-Emissionen an. Somit können striktere Umweltauflagen in der Produktion teilweise durch biotechnologisch hergestellte Produkte eingehalten werden. Es besteht allerdings immer wieder die Sorge, dass künftig Nahrungs- und Futtermittelproduktion, energetische und industrielle Nutzung verstärkt um Agrarrohstoffe konkurrieren werden und die Agrarflächen zu intensiv und wenig nachhaltig bewirtschaftet werden. Für die nächsten Jahre bestehen die Herausforderungen also darin, die Biomasseproduktion für energetische und industrielle Zwecke auszuweiten, ohne aber zugleich die Nahrungs- und Futtermittelproduktion zu gefährden, die Umwelt zu belasten, Naturräume zu zerstören oder zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise beizutragen. Auch hierbei wird der industriellen Biotechnologie ein großes Potential zugeschrieben, da beispielsweise mit Hilfe biotechnologischer Verfahren nicht-essbare Pflanzenteile nutzbar gemacht werden können oder Pflanzen verwertet werden können, die auf minderwertigen Anbauflächen wachsen, welche ohnehin nicht für die Nahrungsmittelproduktion geeignet sind. Um die zur Verfügung stehenden nachwachsenden Rohstoffe möglichst vollständig nutzen zu können, wird es in Zukunft wahrscheinlich sogenannte Bioraffinerien geben – dies sind große Fabriken, die pflanzliche Biomasse zu einer Vielzahl von Chemikalien und Zwischenprodukten, zu Energieträgern, Futter- und Düngemitteln verarbeiten und dann weiterverarbeitende Betriebe mit diesen Produkten beliefern (Bundesregierung, 2012; BMBF 2016). Bei der Verarbeitung der Biomasse werden unter anderem auch biotechnologische Verfahren zum Einsatz kommen: Beispielsweise können Mikroorganismen oder Enzyme für den Aufschluss der Biomasse eingesetzt werden. Die derzeit existierenden Verfahren sind allerdings noch zu teuer und ineffizient, sodass die Entwicklung und Verbesserung der Verfahren zentrale Herausforderungen der kommenden Jahre sein werden. Dabei wird es auch die Aufgabe der industriellen Gentechnik sein, große Mengen an hocheffizient arbeitenden Enzymen und Mikroorganismen zu einem geringen Preis zur Verfügung zu stellen. Referenzen Aichinger, H., Hüsing, B., Wydra. S. (2016): Industrielle Biotechnologie: Verfahren, Anwendungen, Ökonomische Perspektiven. TAB Arbeitsbericht, Berlin: Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Bioökonomie.de (2017): Biologisierung auf Politikagenda, Meldung vom 31.07.2017, http://biooekonomie.de/nachrichten/biologisierung-auf-politikagenda. BIOCOM (2017): The German Biotechnology Sector 2017. Bio-TIC (2015): Overcoming hurdles for innovation in industrial biotechnology in Europe - BIO-TIC Market Roadmap BMBF (2016): Weiße Biotechnologie – Chancen für eine biobasierte Wirtschaft. Externer Link: Bundesregierung (2012) Roadmap Bioraffinerien im Rahmen der Aktionspläne der Bundesregierung zur stofflichen und energetischen Nutzung nachwachsender Rohstoffe. BMELV, BMBF, BMU, BMWi (Hrsg.). Berlin. Hüsing, B.; Kulicke, M.; Wydra, S.; Stahlecker, T.; Aichinger, H.; Meyer, N. (2017): Evaluation der "Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030". Wirksamkeit der Initiativen des BMBF - Erfolg der geförderten Vorhaben - Empfehlungen zur strategischen Weiterentwicklung Externer Link: KET Observatory (2015): KETs Observatory Newsletter, Issue 4. Enzyme sind Proteine (Eiweiße), die biochemische Reaktionen katalysieren. Enzyme sind nicht nur in Zellen aktiv, sondern können isoliert und aufgereinigt werden, um dann für technische Reaktionen in vitro ("im Reagenzglas") eingesetzt zu werden. Enzyme sind zentrale Werkzeuge in der Biotechnologie. Gleichzeitig stellen Enzyme wichtige biotechnologische Produkte dar. Technische Enzyme finden beispielsweise in der Lebensmittelherstellung oder in Waschmitteln in großem Maßstab Verwendung
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Sven Wydra, Heike Aichinger, Bärbel Hüsing
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-10-06T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/33741/weisse-gentechnologie/
Weiße Gentechnologie? Darunter versteht man den Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen, Zellkulturen oder Enzyme für die industrielle Herstellung verschiedener Produkte wie Vitamine, Lebensmittel oder Biogas.
[ "Bioethik", "Ethik", "Gentechnik", "Technologie", "Produktion", "Industrie" ]
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Wahlen in der Türkei: Opposition hofft auf Machtwechsel | Hintergrund aktuell | bpb.de
Hinweis Der Artikel behandelt die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023. Die jüngsten Entwicklungen können Sie Externer Link: in der europäischen Presseschau euro|topics verfolgen. (Stand: 29.05.2023) Der Artikel behandelt die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023. Die jüngsten Entwicklungen können Sie Externer Link: in der europäischen Presseschau euro|topics verfolgen. (Stand: 29.05.2023) Am 14. Mai 2023 wurde in Interner Link: der Türkei ein neues Parlament sowie der Staatspräsident gewählt. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan regiert mit seiner Partei, der AKP, seit 21 Jahren und liegt laut Wahlbehörde beim ersten Wahlgang mit knapp unter 50 Prozent vorn. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, Parteichef der größten Oppositionspartei CHP, wird von einem Bündnis aus sechs Oppositionsparteien unterstützt und liegt bei knapp 45 Prozent. In der Stichwahl am 28. Mai hatte Erdoğan sich mit 52,2 Prozent gegen Oppositionsführer Kılıçdaroğlu (47,8 Prozent) durchgesetzt. Aktuelles Staatsoberhaupt des 85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Landes ist Interner Link: Recep Tayyip Erdoğan. Der 69-jährige AKP-Politiker bestimmt die politischen Geschicke des Landes seit über zwei Jahrzehnten. 2003 wurde er erstmals Ministerpräsident. Seit 2014 steht er als Staatspräsident an der Spitze des Landes. Lange galt Interner Link: Erdoğan als Reformer. So beschnitt er die Kompetenzen des einst übermächtigen Militärs. Im vergangenen Jahrzehnt wurde seine Politik jedoch zunehmend autokratisch. Unterdrückte politische Opposition Erdoğan verhält sich seinen politischen Gegnerinnen und Gegnern gegenüber äußerst repressiv. Ab 2015 wurde die linke und prokurdische Interner Link: Halkların Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker) zunehmend kriminalisiert. Nach dem Interner Link: gescheiterten Putsch 2016 von Teilen des türkischen Militärs kam es im Militär und zudem im öffentlichen Dienst zu Interner Link: Massenentlassungen und -verhaftungen, denn die Regierung beschuldigen neben dem Militär auch Fethullah Gülen, den Umsturzversuch mit Anhängern der Gülen-Bewegung im Staatsdienst geplant und durchgeführt zu haben. Erdoğan und die islamistische Interner Link: Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die von 2002 bis 2018 fast durchgehend über die alleinige Mehrheit im Parlament verfügte, begannen während des Ausnahmezustands, Teile der Opposition massiv zu verfolgen. Neben Anhängerinnen und Anhängern der Gülen-Bewegung, gerieten auch Kurdinnen und Kurden sowie in den vergangenen Jahren zunehmend auch die kemalistisch-säkular orientierte Interner Link: Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei) in das Visier Erdoğans. Unter den zehntausenden Verhafteten und Entlassenen waren viele oppositionelle Politikerinnen und Politiker. Im Zuge des Ausnahmezustandes wurden so zum Beispiel die meisten demokratisch gewählten Bürgermeister und Abgeordnete der HDP durch Mitglieder der Verwaltung ersetzt. In Massenprozessen machte die vornehmlich regimetreue Staatsanwalt- sowie Richterschaft Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Journalistinnen und Journalisten sowie vielen Oppositionspolitikerinnen und -politikern den Prozess. Bis heute sind in der Türkei viele Regierungsgegnerinnen und -gegner inhaftiert oder werden angeklagt. Presse und Justiz weitgehend unter Kontrolle der Regierung Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht "gravierende Mängel" Interner Link: im türkischen Justizsystem. Oppositionspolitiker und -politikerinnen sowie Journalistinnen und Journalisten müssten mit fadenscheinigen Ermittlungen, strafrechtlicher Verfolgung und Schuldsprüchen rechnen. Ein Großteil der Presse und des Rundfunks sowie der Online-Medien stehen Interner Link: unter der Kontrolle der Regierung. Im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen belegte die Türkei im vergangenen Jahr Platz Externer Link: 149 von 180. Die türkische Regierung versucht auch, die Sozialen Medien einzuschränken – insbesondere mit einem sogenannten Desinformationsgesetz. Ungleiche Wahlkampfvoraussetzungen Erdoğan und die AKP setzen im Wahlkampf, laut Experten aus der Wissenschaft, auch den Staatsapparat für sich ein: Erdoğan hat Zugriff auf staatliche Mittel im Wahlkampf und profitiert vom Einfluss und den Erfahrungen seiner 21-jährigen Regierungszeit. Oppositionelle Parteien werden in ihrer Arbeit und im Wahlkampf massiv behindert. Im Dezember 2022 hatte ein türkisches Gericht gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu ein Politikverbot verhängt. Auch wurde er wegen einer Beleidigung zu einer Haftstrafe verurteilt. Der in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung populäre CHP-Politiker galt lange als potenzieller Erdoğan-Herausforderer. Prominente Vertreter der HDP, wie der frühere Co-Parteichef Selahattin Demirtaş, sitzen bereits im Gefängnis. Vorgezogene Wahlen Ursprünglich sollten die Wahlen erst am 18. Juni 2023 stattfinden. Erdoğan ließ diese allerdings um einen Monat, auf den 14. Mai 2023, vorziehen. Der Staatspräsident wird von den Bürgerinnen und Bürgern der Türkei direkt und für eine Dauer von fünf Jahren gewählt, ebenso wie die zeitgleich zu wählende Große Nationalversammlung. Abstimmen dürfen alle wahlberechtigten Türkinnen und Türken ab 18 Jahren – im In- und Ausland. Zum Staatspräsidenten oder -präsidentin gewählt ist, wer im ersten Wahlgang mindestens die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte. Kommt kein Kandidat oder Kandidatin auf mehr als 50 Prozent, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten statt. Aufgrund einer Interner Link: Verfassungsreform von 2017 sind die Machtkompetenzen des Staatspräsidenten in der Türkei mittlerweile immens. Das türkische Präsidialsystem Das Staatsoberhaupt hat aufgrund der per Referendum 2017 beschlossenen Verfassungsreform sehr weitreichende Kompetenzen. Das Amt der Ministerpräsidentschaft wurde aufgehoben. Der Staatspräsident oder die -präsidentin kann die Mitglieder der Regierung nach eigenem Ermessen ernennen und entlassen. Das Staatsoberhaupt kann Verordnungen erlassen und bestimmt über die Besetzung einer Vielzahl an wichtigen Positionen im Staatsapparat, auch der Justiz. Gegen Gesetze des Parlaments kann das Staatsoberhaupt ein Veto einlegen, welches jedoch von einer Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament zurückgewiesen werden kann. Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 Für diese Wahl hat Erdoğan Interner Link: seine Allianz ausgebaut. Neben der MHP wird er von kleineren islamistischen Parteien unterstützt und bildet die "Volksallianz" mit der Yeniden Refah Partisi (YRP, Neue Wohlfahrtspartei) und der kurdischen Interner Link: Hür Dava Partisi (Partei der freien Sache). Dennoch hat die Opposition Beobachterinnen und Beobachtern zufolge erstmals bei der Interner Link: Präsidentschaftswahl gute Chancen, Erdoğan zu besiegen. Ein Interner Link: Bündnis aus sechs Parteien hat sich jüngst auf den CHP-Politiker Kemal Kılıçdaroğlu (74) als gemeinsamen Kandidaten geeinigt: Diese "Nationale Allianz" setzt sich aus der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei), Interner Link: İyi Parti (İP, Gute Partei), Demokrasi ve Atılım Partisi (DEVA, Partei für Demokratie und Fortschritt), Interner Link: Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit), Gelecek Partisi (GP, Zukunftspartei) und Interner Link: Demokrat Parti (DP, Demokratisch Partei) zusammen. In diversen Umfragen lag Kılıçdaroğlu bislang vorne. Der zur Interner Link: religiösen Minderheit der Aleviten und Alevitinnen gehörende Kılıçdaroğlu kann auch mit der Unterstützung vieler Wählerinnen und Wähler der prokurdischen HDP rechnen. Letztere gehört dem Bündnis nicht offiziell an, unterstützt dieses jedoch indirekt, in dem sie keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellt. Im Parlament dürfte die AKP Umfragen zufolge zwar mit deutlich mehr als 30 Prozent erneut stärkste Kraft werden. Die CHP könnte Meinungsforscherinnen und -forschern zufolge mit 20 bis 30 Prozent wohl zweitstärkste Partei werden. Während jedoch die İP und die HDP laut Umfragen mit zuletzt niedrigen zweistelligen Werten den Sprung in Nationalversammlung schaffen dürften, könnte die MHP an der Siebenprozenthürde scheitern. Wahlergebnisse 2018 Die Präsidentschaftswahl 2018 hatte Erdoğan den offiziellen Ergebnissen zufolge mit knapp 53 Prozent gewonnen. Die AKP hatte bei den Parlamentswahlen mit rund 43 Prozent der Stimmen ihre absolute Mehrheit verloren, konnte jedoch mit der ultranationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung, damals 11 Prozent) weiterregieren. Stärkste Oppositionspartei wurde 2018 mit 23 Prozent die CHP. Änderung des Wahlgesetzes Dem seit der Reform ebenfalls für eine Legislaturperiode von fünf Jahren gewählten Parlament gehören 600 Abgeordnete an. Für die Parlamentswahl 2023 senkte das türkische Parlament die Sperrklausel Externer Link: von 10 Prozent auf 7 Prozent herab. Die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Provinzen erfolgt im Verhältnis ihrer Bevölkerungszahl. Die Sitzverteilung im Parlament kann seit der Reform vom vergangenen Jahr – anders als noch 2018 – nicht mehr auf Grundlage von Wahlbündnissen erfolgen. Nur, wenn eine Partei selbst auf mindestens 7 Prozent der Stimmen kommt, zieht sie in die Nationalversammlung ein. Kleinere Parteien werden dadurch benachteiligt. Ihre Kandidatinnen und Kandidaten können nur noch über Listen ihrer Bündnispartnerinnen und -partner ins Parlament einziehen. Große Verantwortung bei eventuellen Unstimmigkeiten oder Annullierungen von Wahlen kommt dem mit AKP-Anhängerinnen und -anhängern besetzen Hohen Wahlausschuss zu. Gegen seine Entscheidungen können keine Rechtsmittel eingelegt werden. Wirtschaftspolitik und Zuwanderung Lange konnte die AKP auf die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der ersten Regierungsjahre und den massiven Ausbau der Infrastruktur in den vergangenen beiden Jahrzehnten verweisen. Doch insbesondere die CHP hofft nach den erfolgreichen Kommunalwahlen 2019 nun auch auf einen Sieg auf Landesebene. Im Wahlkampf spielen neben der Wirtschaftspolitik auch die Interner Link: Zuwanderung sowie die Interner Link: Aufarbeitung des verheerenden Erdbebens im Februar eine wichtige Rolle. Nachdem die Türkei zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs die Grenzen öffnete und syrischen Geflüchteten Schutz gewährte, ist es nun mit knapp 4 Millionen Geflüchteten und Asylsuchenden das Land, das mit am meisten Geflüchtete weltweit aufgenommen hat. Beide Allianzen sprechen sich im aktuellen Wahlkampf für Rückführungen der Geflüchteten aus. Krisenmanagement nach Erdbeben Es herrscht massive Unzufriedenheit vieler Türkinnen und Türken mit dem unzureichenden Krisenmanagement nach dem Erdbeben im Südosten des Landes Anfang Februar. Bis Mitte April verzeichneten die türkischen Behörden rund 50.000 Tote nach der Jahrhundert-Katastrophe. Rasch wurden massive Vorwürfe gegen zuständige Behörden und die Regierung in Ankara laut. Für die Erdbebenvorsorge gedachten Finanzmittel, wie eine Erdbebensteuer, sollen in den vergangenen Jahren zweckentfremdet worden sein. Eine Reihe von Anträgen der Opposition, die Erdbebensicherung in der Vergangenheit voranzutreiben, wurde von der Regierungsmehrheit im Parlament abgelehnt. Zugleich hatte Erdoğan zuvor eine Amnestie für fehlerhafte Bauten verkündet. In den ersten Wochen nach dem Beben gab es zahlreiche Berichte, dass Hilfslieferungen von Nichtregierungsorganisationen oder Oppositionsparteien von den Behörden gestoppt oder behindert wurden. "Ich habe den Eindruck, dass die Regierung versucht, ihre Schwachstellen und die eigene Verantwortung zu verdecken, indem sie alternative Hilfen einschränkt oder zu ihren eigenen umetikettiert", sagte Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Mitte Februar im Interner Link: bpb-Interview. Eine mangelhafte Erdbebenvorsorge und eine fehlende effektive Katastrophenhilfe mache es Erdoğan "unmöglich, sich als Krisenmanager zu stilisieren", so der Experte. Hohe Inflation Auch die bisherige Geld- und Wirtschaftspolitik Ankaras könnte die Opposition stärken. Schon seit längerem leidet das Land unter einer hohen Jugendarbeitslosigkeit von 20 bis 25 Prozent. Die Opposition hofft nicht zuletzt auf die Stimmen vieler Erstwählerinnen und Erstwähler. Einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2021 zufolge, wollen etwa 73 Prozent der 18- bis 25-Jährigen Türkinnen und Türken am liebsten im Ausland leben. Auch die Interner Link: wirtschaftliche Rezession macht dem Land zu schaffen. Gelitten hat die Popularität des Präsidenten nicht zuletzt unter den stark steigenden Preisen. Im vergangenen Oktober lag die Inflation in der Türkei bei offiziell über 85 Prozent. Bereits im Vorjahr hatten sich vor allem Grundnahrungsmittel drastisch verteuert, was viele Menschen in die Armut trieb. In den vergangenen Monaten hatte sich die Inflation offiziellen Zahlen zufolge zwar abgeschwächt, blieb jedoch bei 46 Prozent. Unabhängige Expertinnen und Experten kommen in ihren Berechnungen ohnehin auf weit höhere Preissteigerungsraten. Eine Ursache für die Rekordinflation waren insbesondere die stark gestiegenen Preise zahlreicher Rohstoffe und Vorprodukte infolge der Corona-Pandemie sowie des Angriffskriegs auf die Ukraine Doch auch die Zinspolitik spielte nach Ansicht von Beobachterinnen und Beobachtern eine wichtige Rolle. Erdoğan gilt als Gegner eines hohen Leitzinses, der jedoch ein überaus wichtiges Instrument der Inflationsbekämpfung wäre. Umworbene Deutsch-Türkinnen und Türken Großes Augenmerk legen die Parteien und Kandidaten im Wahlkampf auch auf die im Ausland lebenden türkischen Staatsbürgerinnen und -bürger. Denn bei einem knappen Wahlausgang könnten deren Stimmen entscheidend sein. Allein in Deutschland sind rund 1,4 Millionen Türkinnen und Türken wahlberechtigt. Alle Parteien von der HDP über die CHP bis zur AKP betreiben einen enormen Aufwand. Insbesondere die AKP wendet hohe Mittel auf, denn in der Bundesrepublik haben Erdoğan und seine Partei besonders viele treue Anhängerinnen und Anhänger. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 konnte Erdoğan in Deutschland nahezu 65% der Stimmen auf sich vereinen, während er in der Türkei selbst nur auf 52,6 Prozent der Stimmen kam. Ähnlich gut schnitt er hierzulande auch beim Referendum über das von ihm eingeführte Präsidialsystem ab. Ein Grund dafür: In den 1960er- und 1970er-Jahren waren vor allem Türkinnen und Türken aus heutigen AKP-Gebieten als Interner Link: sogenannte Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in die Bundesrepublik eingewandert. EU-Beitrittsverhandlungen ruhen Die Türkei-Wahlen sind auch für die Europäische Union von Bedeutung. Das Land ist NATO-Mitglied und pflegt sowohl zum Westen als auch zu Russland und China bedeutsame Beziehungen. Lange Zeit galt Erdoğan als Befürworter eines proeuropäischen Kurses. 2005 hatte Ankara unter Erdoğan offizielle Interner Link: Beitrittsverhandlungen mit der EU begonnen. Seit 2020 sind diese jedoch laut EU-Kommission zum "Stillstand" gekommen – ein Grund dafür ist nicht zuletzt die äußerst kritische Menschenrechtssituation in dem Land. In den vergangenen Monaten hatte die Türkei darüber hinaus seine westlichen Bündnispartner irritiert, als sich Erdoğan dem Beitrittswunsch Schwedens und Interner Link: Finnlands in die NATO widersetzt hatte. Hinsichtlich dem Beitritt Finnlands hat die Türkei mittlerweile Zustimmung gegeben, woraufhin das Land dem Verteidigungsbündnis am 4. April betreten konnte. Mehr zum Thema: Interner Link: Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 (Dossier Türkei, 2023) Interner Link: Putschversuch in der Türkei (Hintergrund aktuell, 2021) Interner Link: Die Türkei nach der Wahl (Hintergrund aktuell, 2018) Das Staatsoberhaupt hat aufgrund der per Referendum 2017 beschlossenen Verfassungsreform sehr weitreichende Kompetenzen. Das Amt der Ministerpräsidentschaft wurde aufgehoben. Der Staatspräsident oder die -präsidentin kann die Mitglieder der Regierung nach eigenem Ermessen ernennen und entlassen. Das Staatsoberhaupt kann Verordnungen erlassen und bestimmt über die Besetzung einer Vielzahl an wichtigen Positionen im Staatsapparat, auch der Justiz. Gegen Gesetze des Parlaments kann das Staatsoberhaupt ein Veto einlegen, welches jedoch von einer Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament zurückgewiesen werden kann. Die Präsidentschaftswahl 2018 hatte Erdoğan den offiziellen Ergebnissen zufolge mit knapp 53 Prozent gewonnen. Die AKP hatte bei den Parlamentswahlen mit rund 43 Prozent der Stimmen ihre absolute Mehrheit verloren, konnte jedoch mit der ultranationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung, damals 11 Prozent) weiterregieren. Stärkste Oppositionspartei wurde 2018 mit 23 Prozent die CHP.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-06-05T00:00:00"
"2023-05-11T00:00:00"
"2023-06-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/520918/wahlen-in-der-tuerkei-opposition-hofft-auf-machtwechsel/
Am 14. Mai wurde in der Türkei gewählt: Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) lag laut Wahlbehörde beim ersten Wahlgang knapp unter 50 Prozent vorn. Die Opposition und somit sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) lag bei knapp 45
[ "Türkei", "Türkei-Wahl", "Präsidentschaftswahl Türkei", "Parlamentswahl", "Erdoğan", "Präsident Erdoğan", "Kilicdaroglu", "AKP", "CHP", "Erdbeben", "Inflation in der Türkei", "Flüchtling" ]
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Politik, Recht und Verwaltung | Digitalisierung | bpb.de
Auf dem Digital-Gipfel in der Dortmunder Westfalenhalle besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel (2. v. l.) am 29. Oktober 2019 den Stand der Deutschen Telekom. In ihrer Begleitung (v. l.) Achim Berg, Präsident des Bundesverbandes Bitkom e. V., Thomas Jarzombek, Beauftragter für Digitale Wirtschaft im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie Gerd Buziek, Esri Deutschland GmbH (© Bundesregierung – B 145 Bild-00439921/Guido Bergmann) Die fortschreitende Digitalisierung beeinflusst die Politik und das Regieren sowohl in Bezug auf Inhalte und Themenfelder, als auch in Zusammenhang damit, wie Recht wirkt und wie politische Debatten geführt werden. Das legt beispielsweise die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann in ihrer Publikation "Politik in der digitalen Gesellschaft" dar. Während in den vorigen Kapiteln politische Aspekte angesprochen wurden, die für das jeweilige Thema spezifisch waren, gibt dieses Kapitel einen Überblick darüber, welche grundlegenden und übergeordneten Veränderungen in den drei Bereichen Politik, Recht und Verwaltung stattfinden. Vertiefungen anhand von Beispielen helfen dabei, komplexe Zusammenhänge und Sachverhalte zu veranschaulichen und verständlich zu machen. Inhalte der Digitalpolitik Digital- oder auch Netzpolitik speist sich historisch aus unterschiedlichen Zweigen: der Telekommunikations-, der Medien- und der Kulturpolitik. Sie umfasst alle gesellschaftlichen Bereiche und Themen, die von der Digitalisierung betroffen sind. Digitalpolitik bedeutet damit auch, dass sich die Gesellschaft öffentlich über die Veränderungen verständigt, die diese Technologien mit sich bringen, über ihre rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen sowie den politisch-gesellschaftlichen Umgang damit. Die digitalpolitische Debatte beinhaltet, angelehnt an die Digitale Agenda der Bundesregierung (siehe auch unten), insbesondere folgende, sich teilweise überschneidende Themenbereiche: Schutz der Grund- und Menschenrechte online (z. B. Wahrung der Privatsphäre durch Datenschutz) Digitale Infrastruktur und ihr Ausbau (z. B. Breitbandausbau) Digitale Wirtschaft und digitales Arbeiten (z. B. Regulierung von Sharing-Anbietern, Wettbewerbsrecht) Digitale Transformation des Staates und der öffentlichen Verwaltung (z. B. Dienste von Bürgerämtern online) Forschungspolitik (z. B. Forschungsförderung) Digitale Bildung (z. B. verpflichtende Erweiterung des Konzepts von Medienkompetenz um Bildung in der Digitalisierung in den Lehr- und Bildungsplänen) Kultur- und Medienpolitik (z. B. Umgang mit gezielter Desinformation, Urheberrechtsschutz) Sicherheitspolitik im und durch das Internet (z. B. Überwachung, IT-Sicherheit). Digitalpolitik stellt damit eine Schnittmenge verschiedener Politikfelder dar. Historischer Überblick Das Internet und andere Themen der Digitalisierung waren nicht immer fester Bestandteil der politischen Debatte. Das liegt daran, dass digitalpolitische Themen vergleichsweise neu sind – aber auch daran, dass die Politik das Thema lange vernachlässigte. Mit seinen Ursprüngen in der Wissenschaft und der Privatwirtschaft herrschte im Internet lange Zeit eine gewisse Freizügigkeit: Als globales und auch von privaten Unternehmen aufgebautes Netzwerk regulierte es sich zunächst vergleichsweise unabhängig von staatlichen Akteuren. Der US-amerikanische Netzaktivist John Perry Barlow trieb diesen Anspruch 1996 am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos mit seiner "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" auf die Spitze, in der er sich für eine libertäre, post-staatliche Struktur im Netz aussprach. Doch die Bedeutung der Digitalisierung für die Gesellschaft kam nach und nach auch im bestehenden Politikbetrieb an. 2010 setzte der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" ein, die sich erstmalig mit den Folgen und Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik und Gesellschaft beschäftigte. Die Bundesregierung erarbeitete daraufhin zwischen 2014 und 2017 eine Digitale Agenda. Diese gibt ein politisches Programm vor, um die Chancen der Digitalisierung herauszustellen und positiv zu nutzen. Im Zuge dessen beschloss das Bundeskabinett 2014 zum Beispiel das Regierungsprogramm "Digitale Verwaltung 2020", um digitale Potenziale in der Verwaltung zu nutzen und bürokratische Prozesse zu vereinfachen (siehe auch Interner Link: Digitale Verwaltungsprozesse). Die gesellschaftliche Debatte zur Digitalisierung wurde 2013 von den Enthüllungen durch den ehemaligen Mitarbeiter der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) Edward Snowden und den damit zusammenhängenden Skandal, eine globale Überwachungs- und Spionageaffäre, geprägt. Die Themen Überwachung, IT-Sicherheit und Datenmissbrauch im digitalen Raum rückten dadurch auf die Tagesordnung. Solche Debatten forderten die Politik auf, sich stärker mit netzpolitischen Themen zu beschäftigen. Dies ist beispielsweise auf europäischer Ebene durch das Inkrafttreten der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) im Mai 2018 geschehen. Sie schafft europaweite Standards für Datenschutz (siehe auch Interner Link: EU-Datenschutz-Grundverordnung). In den vergangenen Jahren wurde von mehreren Seiten der Wunsch nach einer stärkeren Koordinierung der Digitalpolitik laut. Seit der Regierungsbildung im März 2018 sitzt dafür eine Staatsministerin für Digitales im Bundeskanzleramt. Darüber hinaus richtete die Bundesregierung kurze Zeit später den Kabinettsausschuss "Digitalisierung" sowie diverse weitere Gremien ein. Ein Thema, das die Digitalpolitik auch in den kommenden Jahren weiter beschäftigen wird, ist das Themenfeld algorithmische Systeme und Interner Link: Künstliche Intelligenz (KI). So hat die Bundesregierung Mitte November 2018 eine Strategie "Künstliche Intelligenz" verabschiedet. Damit einher geht das Ziel, Deutschland zu einem weltweit führenden Standort für KI zu machen. Außerdem wurde eine Datenethikkommission einberufen, die im Oktober 2019 ihren Bericht ablieferte. Die Enquete-Kommission "Internet und Digitale Gesellschaft" war das erste Gremium des Deutschen Bundestags, das sich dezidiert mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft beschäftigte. Die Kommission arbeitete in zwölf Projektgruppen zu unterschiedlichen Themen der Digitalisierung: von Interner Link: Medien- und Digitalkompetenz  über digitale Wirtschaft und freie Software bis hin zu Interner Link: Internet Governance. Im Zuge der dreijährigen Arbeit veröffentlichte die Kommission bis 2013 mehrere Zwischenberichte und Arbeitspapiere sowie einen Schlussbericht. Neben den 17 Abgeordneten und 17 Sachverständigen wurden auch die Internetnutzerinnen und -nutzer beteiligt: In Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein Liquid Democracy entwickelte die Kommission eine spezielle Beteiligungsplattform. Weitere Enquete-Kommissionen, die sich mit Digitalthemen beschäftigten, sind die 2018 eingerichteten Gremien "Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale" sowie "Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt". Die fünf Handlungsfelder der Digitalstrategie (© Bundesregierung; www.bundesregierung.de/breg-de/themen/digitalisierung/diedigitalstrategie- der-bundesregierung-1549554) Akteure der Digitalpolitik Grundsätzlich wirken bei der Digitalpolitik vier Gruppen von Interessensvertretungen, sogenannte Interner Link: Stakeholder, zusammen: Staaten entscheiden als traditionelle Regulierungsinstanzen über Gesetze und Richtlinien in vielen Bereichen und tragen hierbei weiterhin einen Großteil der Verantwortung. Sie sehen sich mit zahlreichen neuen Herausforderungen konfrontiert (siehe auch Interner Link: Regulierung und Recht). Auch die Privatwirtschaft spielt eine große Rolle in der Digitalpolitik. Multinationale Unternehmen sind es, die das Internet maßgeblich aufbauen und prägen. Dazu gehören beispielsweise die ISPs oder Webplattformen wie Facebook, Amazon, Apple, Google, Microsoft, Tencent und Alibaba. Unternehmen sind dabei nicht nur Ziel staatlicher Regulierung. Durch die Regeln, die sie selbst beispielsweise für ihre Plattformen festlegen, bestimmten sie maßgeblich darüber mit, wie Nutzerinnen und Nutzer die Digitalisierung erleben. Die wissenschaftliche und technische Community, wie Universitäten sowie Akademikerinnen und Akademiker, ist die dritte Stakeholdergruppe der Digitalpolitik. Sie entwickelt teilweise eigenständig technische Protokolle weiter oder erforscht neue digitale Technologien, die sich wiederum auf Gesellschaft und Politik auswirken. Zudem ist die Zivilgesellschaft ein Akteur der Digitalpolitik. Neben den Staaten vertreten Vereine, Interessengruppen oder politische Initiativen die Interessen der Nutzerinnen und Nutzer, achten verstärkt auf den Schutz von Grund- und Menschenrechten sowie von Minderheiten. Für zivilgesellschaftliche Akteure ergeben sich durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten der Beteiligung (siehe auch Kapitel Interner Link: Gesellschaft, Kultur und Bildung). Um sich mit den Herausforderungen und Chancen der digitalen Gesellschaft zu beschäftigen, bildeten sich neue, spezialisierte Organisationen heraus. So wurden im parteinahen Bereich Vereine gegründet, die die Netzpolitik der einzelnen politischen Strömungen vorbereiten und begleiten. Ihr Ziel ist es, öffentliche Debatten um die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Digitalisierung und die digitalpolitischen Positionen der jeweils nahestehenden Partei mitzugestalten. Seit 2011 entstanden die Vereine D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt (SPD-nah), Cnetz – Verein für Netzpolitik (Unionsnah) und LOAD – Verein für liberale Netzpolitik (FDP-nah). In anderen Parteien gibt es spezialisierte Arbeitskreise. Darüber hinaus setzen sich parteinahe Stiftungen mit digitalen Themen auseinander. Auch unabhängig von der Parteipolitik sind in der Zivilgesellschaft viele digitalpolitische Organisationen aktiv. Sie haben sich auf die digitale Gesellschaft spezialisiert. Auf diese Weise verbinden sie die von Informatikerinnen und Informatikern geprägte technische Community mit Politik- und Gesellschaftsinteressierten. Eigene Darstellung (© bpb) Digitalisierung als Thema der Europäischen Union (EU) Europa ist kulturell und wirtschaftlich stark vernetzt – online wie offline. Die EU als regionaler Staatenverbund spielt eine wichtige Rolle dabei, Regulierungen, Förderungsmöglichkeiten und Standards festzulegen. Die EU betrachtet digitalpolitische Maßnahmen bislang insbesondere aus wirtschaftlicher Perspektive. Zentrales Ziel ist dabei, einen sogenannten digitalen Binnenmarkt zu schaffen – einen einheitlichen Wirtschaftsraum in Europa, in dem Daten und digitale Leistungen grenzüberschreitend fließen können. Gleichzeitig gilt es, durch gemeinsame Regeln für die Digitalwirtschaft und den Schutz der EU-Bürgerinnen und -Bürger möglichst einheitliche Rechtsstandards festzusetzen. Ein erster Rahmen dafür wurde 2010 mit der Digitalen Agenda für Europa geschaffen. Inhaltlich ist die EU zu verschiedenen Digitalthemen aktiv. Bei der Wettbewerbsregulierung arbeitet sie daran, Unternehmen des europäischen Marktes im globalen Wettbewerb zu stärken und möglichen Monopolisierungstendenzen entgegenzuwirken. In den USA ist die Verfügbarkeit von Risikokapital hoch, Regulierung liberal und die Unternehmenskultur für Innovationen besonders offen, weshalb digitale Technologien insbesondere von dort ansässigen Unternehmen geprägt werden. Dazu zählen insbesondere Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft. Auch chinesische Unternehmen der Digitalbranche, wie Alibaba, Baidu und Tencent, wachsen stark und nehmen Einfluss. Die größten Internet-Konzerne (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 686 485; Quelle: Bloomberg) Die EU stärkt ihre Digitalwirtschaft unter anderem durch Förderprogramme sowie durch Harmonisierung und Regulierung. Um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen, setzt die EU-Kommission zudem das entsprechende Wettbewerbsrecht streng durch: Unternehmen, die in der Vergangenheit ihre Marktdominanz missbräuchlich ausnutzten, belegt sie mit Strafen. Zudem wird Forschung zu digitalen Fragestellungen finanziert. Das größte und wichtigste Rahmenprogramm ist dabei "Horizon 2020", über das die EU bis Ende 2020 fast 80 Milliarden Euro ausschüttet. Eigene Darstellung (© bpb) Andere Themen, die insbesondere in jüngerer Zeit auf der Agenda stehen, sind die vertrauenswürdige Regulierung von Künstlicher Intelligenz, die Potenziale der Digitalisierung für den Klimaschutz sowie das übergeordnete Ziel, eine gemeinsame digitale europäische Gesellschaft zu schaffen. Regulierung und Recht Durch die Digitalisierung sind neue Lebensbereiche entstanden, die einer Regulierung bedürfen. Klassisches Instrument der Regulierung ist das Recht. Aufgrund der Beschaffenheit digitaler Technologien, insbesondere des Internets, ergeben sich dabei besondere Herausforderungen. Hervorzuheben sind insbesondere zwei Aspekte: Erstens führen die Globalität des Internets und die weltumspannenden digitalen Entwicklungen die ursprünglich vor allem nationalstaatliche Politik an ihre Grenzen. Staatliche Regulierung kann einerseits nur bedingt Einfluss nehmen auf globale Themen, andererseits kann sich die Regulierung eines Staates auf die ganze Welt auswirken, etwa aufgrund eines dort ansässigen, global aktiven Internetkonzerns. Diese Herausforderungen sind eng mit der Globalisierung verknüpft, die auch außerhalb des Internets stattfindet. In der EU führt das zu Bemühungen, sich stärker zu koordinieren und nationales Recht anzupassen, um eine einheitliche europäische Netzpolitik im digitalen Binnenmarkt zu betreiben. Eigene Darstellung. Quelle: Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet; Externer Link: www.divsi.de/wp-content/uploads/2013/08/DIVSI-Braucht-Deutschland-einen-Digitalen-Kodex.pdf, S. 13 ff. (© bpb) Zweitens hat sich das Internet trotz seiner Wurzeln in Militär, Wissenschaft und Privatwirtschaft zu einem öffentlich stark genutzten Raum entwickelt. Die Gesellschaft erwartet auch online einen Schutz ihrer Grundrechte und einen fairen Zugang mindestens zu elementaren Anwendungen, obwohl diese privatwirtschaftlich organisiert sind. Während wir beispielsweise bei einem Hotel das Hausrecht anerkennen würden, einen Gast auszuschließen, reagieren manche Personen deutlich kritischer, wenn jemand eines sozialen Netzwerks verwiesen wird. Insofern stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis private Akteure wie Internetdienstanbieter (Interner Link: Internet Service Provider, ISPs) und Plattformen zu staatlichen Institutionen auf Landes- und Bundesebene, zu internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen und der EU sowie zu den Nutzerinnen und Nutzern stehen: Wer soll hier welche politische und regulatorische Rolle erfüllen? Wenn Plattformanbieter in die Pflicht genommen werden, beispielsweise rechtswidrige Inhalte zu löschen, sind sie direkt dafür verantwortlich, Recht durchzusetzen. Kritikerinnen und Kritiker aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, wie der Jurist Johannes Köndgen, sprechen in diesem Zusammenhang von einer Privatisierung des Rechts. Gleichzeitig sehen sich staatliche Institutionen nicht dazu in der Lage, beispielsweise rechtswidrige Inhalte online eigenständig zu verfolgen. Aus ihrer Sicht ist Recht durch die Zusammenarbeit mit privatwirtschaftlichen Akteuren besser durchzusetzen. Die drei nachfolgend dargestellten Rechtsbereiche veranschaulichen diese Herausforderungen und erlauben einen Einblick darin, wie Digitalisierung rechtlich reguliert wird. Datenschutz und Privatheit Alles, was wir online machen, erzeugt Daten. Zudem werden sowohl zu Hause am Computer als auch im öffentlichen Raum viele Aktivitäten durch Kameras und Sensorik digital erfasst und gespeichert. Das Bundesverfassungsgericht begründete 1983 das informationelle Recht auf Selbstbestimmung – wie das Datenschutzrecht auch genannt wird – als Grundrecht auf Basis der Menschenwürde: Wir alle entscheiden demnach als Ausdruck unseres Persönlichkeitsrechts selbst und souverän, wann und innerhalb welcher Grenzen wir persönliche Lebenssachverhalte offenbaren. Das ermöglicht private Geheimnisse, unterstützt die Identitätsprägung sowie den sozialen Austausch und ist Voraussetzung dafür, dass wir Beziehungen eingehen können. Eng damit verbunden ist das 2008 ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht begründete Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Demnach ist nicht nur die Verletzung der Vertraulichkeit persönlicher Daten rechtlich relevant. Darüber hinaus gilt es, die Vertraulichkeit und Integrität bereits an einem früheren Punkt sicherzustellen: Entsprechende technologische Schutzmaßnahmen müssen von Anfang an in ein System eingearbeitet sein. Durch das Sammeln von Daten werden private Informationen gespeichert, verarbeitet und anderen zugänglich gemacht. Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch die Rede von Überwachung. Das ist nicht per se negativ: Jede Ärztin und jeder Arzt erhebt Daten und verarbeitet sie. Auch bestimmte Geschäftsmodelle entstehen erst dadurch, dass die entsprechenden Anbieter Daten sammeln und verarbeiten, wie das bei Kaufempfehlungen auf Online-Marktplätzen der Fall ist. Big Data – Datenmengen und Datenquellen (Siemens Stiftung 2019) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de Doch wenn Überwachung zu stark in die Privatsphäre eindringt, kann sie zu einem Werkzeug sozialer Kontrolle werden (siehe auch Kapitel Interner Link: Kriminalität, Sicherheit und Freiheit). Außerdem ist es möglich, gesammelte Daten von Staaten oder großen Unternehmen zu nutzen, um menschliches Verhalten zu steuern. Wenn autoritäre Regierungen ihre Bevölkerung überwachen, dann können sie gesammelte Daten nutzen, um beispielsweise Dissidentinnen und Dissidenten einzusperren und Proteste zu verhindern. Der Datenschutz will die Balance zwischen diesen Chancen und Gefahren sicherstellen. EU-Datenschutz-Grundverordnung Die Datenschutz-Grundverordnung der EU (DSGVO) schafft seit Mai 2018 einheitliche Regeln für den Schutz von Daten in der EU. Sie entstand unter dem Eindruck der fortschreitenden Digitalisierung und den damit für notwendig erachteten einheitlichen Regeln sowie dem Wunsch nach einem stärkeren Schutz der Privatsphäre. Die DSGVO gilt auch für Unternehmen aus dem EU-Ausland, die ihre Produkte und Dienstleistungen europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchern anbieten, wie zum Beispiel Google oder Facebook (sogenanntes Interner Link: Marktortprinzip). Der Schutz umfasst alle Informationen, die mit einer Person in Verbindung stehen, sogenannte personenbezogene und personenbeziehbare Daten, zu denen unter anderem Namen, Geburtsdatum und Adresse gehören. Besonders geschützt sind sensible Daten, die Rückschlüsse auf sexuelle Orientierung, Gesundheitszustand, Religion oder politische Überzeugung zulassen. Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung nach DSGVO Art. 6 (1) (© bpb) Das Erheben und Verarbeiten Interner Link: personenbezogener Daten  unterliegt laut DSGVO strengen Vorgaben: Es muss entweder eine Einwilligung, ein Gesetz oder ein berechtigtes Interesse vorliegen. Alternativ kann es erforderlich sein, bestimmte Daten zu erheben und zu verarbeiten, um einen Dienst zu erfüllen, beispielswiese eine App. Für die Nutzerinnen und Nutzer solcher Dienste muss dies nachvollziehbar sein. Dafür ist die Datenschutzerklärung da, die zusammenfasst, wer welche Daten zu welchem Zweck erhebt. Die Daten dürfen nur zu diesen Zwecken genutzt werden und nur so lange wie unbedingt nötig (Zweckbindung und Datenminimierungs-Prinzipien). Die Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, Auskunft darüber zu erhalten, welche Daten über sie gespeichert wurden. Die nationalen Datenschutzbehörden und der europäische Datenschutzausschuss setzen diese Regeln um und überwachen sie. Bei Verstoß können Bußgelder in Höhe von bis zu 20 Millionen Euro – oder im Fall eines Unternehmens bis zu vier Prozent des gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes – fällig werden. Der Schutz der Privatsphäre wurde mit der DSGVO europaweit auf ein hohes Niveau gesetzt. Weltweit gilt sie als Vorbild für den Datenschutz im digitalen Zeitalter. Viele andere Staaten orientieren sich mit eigenen Gesetzen oder Richtlinien daran. Urheberrecht und Nutzungsrecht Das Urheberrecht schützt originäre Werke von Menschen, wie beispielsweise Fotos, Musik oder auch Texte. Das soll verhindern, dass diese ohne Wissen und Zustimmung der Schöpferinnen und Schöpfer verbreitet oder vervielfältigt werden und mögliche Profite ausbleiben. Digitale Technologien machen es sehr leicht, das Urheberrecht zu umgehen, etwa Werke zu kopieren, zu vervielfältigen und über Plattformen im Internet zu teilen. Diese Entwicklungen sowie neue Geschäftsmodelle führten zu einer Reform des Urheberrechts in der EU. Die entsprechende Richtlinie wurde 2019 verabschiedet. Die EU-Mitgliedsländer müssen ihre Gesetzgebung bis Ende März 2021 an die neue Richtlinie anpassen. Ähnlich wie bei anderen Maßnahmen, beispielsweise beim Bekämpfen terroristischer Inhalte online, stehen hierbei insbesondere die großen Plattformanbieter in der Pflicht: Sie sind gesetzlich dafür verantwortlich, wenn Nutzerinnen und Nutzer Inhalte über ihre Dienste verbreiten. Die Reform bleibt umstritten, beispielsweise hinsichtlich der teilweisen Schlechterstellung von individuellen Urheberinnen und Urhebern gegenüber Verbänden. Kritik aus der Zivilgesellschaft, wie von der Initiative "Safe the Internet", bezieht sich darauf, dass die Plattformen jegliche hochgeladenen Daten vor der Veröffentlichung durch einen Upload-Filter kontrollieren müssen. Vereinigungen von Rechteinhaberinnen und Rechteinhabern wie die "Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte" (GEMA) entgegnen: Nur so ist sicherzustellen, dass Nutzerinnen und Nutzer geschützte Inhalte nicht willkürlich teilen sowie die Urheberinnen und Urheber eine angemessene Beteiligung erhalten, wenn andere ihre Werke weiterverbreiten. Um Werke trotz dieser gesetzlichen Regelungen ohne Verstöße verbreiten zu können, haben Rechteinhaberinnen und -inhaber die Möglichkeit, ihre Urheberrechte im Rahmen von Lizenzen teilweise oder vollständig abzutreten. Viele entscheiden sich bewusst dafür, dass andere ihre Werke frei teilen und anpassen können. Dabei helfen entsprechende Lizenzmodelle wie die "Creative Commons Lizenz". Sie erlaubt es, Werke zu teilen, die unter dieser Lizenz stehen. Es existieren unterschiedliche Versionen, die das Weiterverbreiten an Bedingungen knüpfen, wie etwa die Urheberinnen und Urheber zu nennen oder das Werk in seinem Originalzustand zu teilen. Schutz der Netzneutralität Das Prinzip der Netzneutralität soll garantieren, dass kein Inhalt oder keine Tätigkeit bedeutsamer behandelt wird als eine andere – ob Nutzerinnen und Nutzer Videos anschauen oder beruflich Daten versenden, spielt demnach keine Rolle: Alle Daten werden gleich behandelt. Das beinhaltet, dass alle Zwischenstationen, wie etwa Router, die Datenpakete mit der gleichen Priorität behandeln und weiterleiten. Diejenigen, die sich für Netzneutralität einsetzen, insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen, sehen sie als zentrales und zugleich schützenswertes Prinzip des Internets an. Internet Service Provider (ISPs) jedoch streben an, zwischen Daten zu unterscheiden und entsprechend gestaffelte Preise für die Übertragung zu verlangen. Das würde ihre Kosten für den Infrastrukturausbau eindämmen, zugleich aber die Netzneutralität verletzen. Für eine schnelle Verbindung zu bestimmten Websites müssten Nutzerinnen und Nutzer zusätzliche Gebühren entrichten. Auch einige staatliche Akteure möchten bestimmte Daten priorisieren. So sollte beispielsweise die Kommunikation zwischen Rettungsdiensten bevorzugt mit der schnellsten und stabilsten Verbindungsgeschwindigkeit erfolgen. Dafür müsste das Prinzip der Netzneutralität Ausnahmen enthalten. Die Netzneutralität ist rechtlich in unterschiedlichen Ländern individuell geregelt. In den USA war sie bis vor kurzem noch unter dem "Telecommunications Act" fest verankert. Mit dem Übergang zur Trump-Regierung veränderte sich auch in diesem Bereich die Politik der USA. Die Federal Communications Commission, die für die Aufsicht über die Netzneutralitätsregeln verantwortlich ist, hat in der Folge die einschlägigen Prinzipien zurückgenommen. Die ISPs können so bestimmte Dienste bevorzugt behandeln. In Europa wurde die Netzneutralität 2015 durch eine EU-Verordnung festgeschrieben, die es ISPs verbietet, zwischen der Relevanz der Daten zu unterscheiden. Die Verordnung erlaubt jedoch Ausnahmen. Eine ist die Bevorzugung sogenannter spezialisierter Dienste. Die ISPs können ausgewählte Zusatzangebote bevorzugt behandeln und Interner Link: Bandbreite  für sie bereitstellen, die anderen Diensten nicht zur Verfügung steht. Weil die Formulierung ungenau ist, bleibt offen, welche Formen der Privilegierung und Drosselung ("throttling") erlaubt sind und ob neben Telemedizin auch Videostreaming als "spezialisierter Dienst" gilt. Digitale Verwaltungsprozesse Das Aufgabengebiet der öffentlichen Verwaltung ist vielfältig. Sie nimmt Steuern von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Unternehmen ein, verteilt Sozialleistungen, wie das Arbeitslosen- oder das Elterngeld, plant und beaufsichtigt Infrastrukturmaßnahmen wie das Einrichten von Fahrradwegen und den Ausbau von Autobahnen. Viele dieser Aufgaben richten sich an Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen oder andere Organisationen, wodurch sie in Kontakt mit der Verwaltung kommen. Diese sieht sich angesichts der fortschreitenden digitalen Transformation mit der Erwartung konfrontiert, ihre Prozesse zu digitalisieren, wie der Branchenverband Bitkom 2019 bei einer Umfrage feststellte. Die Kundschaft möchte etwa Anträge nicht mehr in Papierform einreichen, sondern digital übermitteln. Das digitale Angebot von Verwaltungen wird auch als Interner Link: E-Government  bezeichnet. QuellentextEstland – Vorreiter bei der Digitalisierung […] Estland ist schon lange bekannt für seine Vorreiterrolle in Sachen Digitalisierung, vor allem Bürgerdienste hat die Baltenrepublik schon vor Jahren ins Internet verlegt. In "E-Estonia", wie sich das Land gerne selbst nennt, sind nahezu alle Behördenangelegenheiten bequem mit ein paar Klicks von zu Hause aus zu erledigen. Mehr als 3000 Dienstleistungen – von Behörden und Unternehmen – können digital erledigt werden. Als Schlüssel zu den digitalen Möglichkeiten dient die Bürgerkarte, die gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte und mehr ist. Und das Angebot wächst weiter. […] Künftig sollen nicht mehr die Bürger ihre digitalen Behördengänge erledigen müssen – vieles soll stattdessen automatisiert funktionieren. Zum Beispiel bei einer Geburt: Das Krankenhaus meldet den Nachwuchs sofort bei den Behörden an. Damit einher geht die Anmeldung bei der Krankenversicherung (in Estland gibt es nur eine) sowie die Registrierung von Sozialleistungen wie Kindergeld und weitere Zuschüsse. Die Eltern des Neugeborenen werden in einer E-Mail darüber informiert, auf welche Leistungen sie Anspruch haben. Die Nachricht brauchen sie nur noch zu bestätigen, die Antragstellung bei den Behörden, die bisher nach der Geburt nötig war, entfällt. […] Weitere Dienste sollen folgen. Nach den Formalitäten rund um die Geburt ist gerade das Thema Rente in der Diskussion. Bis zum Jahresende 2020 sollen aber zunächst insgesamt sieben Dienste rund um verschiedene Lebensereignisse auf die neue Art und Weise verwaltet werden. [...] In Deutschland klingt das noch nach Zukunftsmusik. Bis zum Jahr 2022 wollen Bund, Länder und Kommunen 575 Verwaltungsleistungen vom Antrag für einen Personalausweis oder Führerschein bis hin etwa zu dem für Elterngeld überhaupt erst einmal nach einheitlichen Standards online anbieten. […] In Estland laufen derweil 99 Prozent aller staatlicher Verwaltungsleistungen übers Internet. […] Nur bei drei Diensten ist dies nicht möglich: Eheschließungen und Scheidung haben die Esten ausgenommen – aus ethischen Gründen. Auch beim Kauf einer Immobilie ist tatsächlich ein Gang zum Amt erforderlich sowie der Beglaubigung eines Notars auf Papier. Dafür können die Esten seit 2005 sogar online wählen. […] Die Automatisierung der Verwaltungsleistung ist die vorerst letzte Stufe der Entwicklung, die mit einfacher Online-Information und Interaktion begann. Die Digitalisierung wird bereits seit den 90er Jahren vorangetrieben – mit dem Regierungsprogramm "Tiigrihüppe", Tigersprung. Dabei stand nicht eine große Affinität fürs Digitale im Vordergrund, sondern in erster Linie die Notwendigkeit im Land: Mit 1,3 Millionen Einwohnern leben in Estland in etwa gleich viele Menschen wie in München – allerdings auf einer Fläche, die so groß ist wie Niedersachsen. Außerhalb der Hauptstadt und Regionalzentren ist die kommunale Versorgung nur mit großem Verwaltungsaufwand zu bewerkstelligen. […] Auch in Estland wissen die Nutzer um die Gefahren und Probleme, doch das Vertrauen in Technik und Regierung überwiegt. Mit wenigen Klicks kann jeder genau sehen, wer wann zu welchem Zweck auf Daten zugegriffen hat. Jede Behörde hat streng festgelegte Zugriffsrechte, welche Informationen sie überhaupt abrufen darf. Wer sich unberechtigterweise Zugang verschafft, muss mit Strafen rechnen. […] Gefahren lauern dennoch. Das zeigten nicht nur die schweren Cyberangriffe im Jahr 2007, die viele Internetdienste zeitweise lahmlegten. Zuletzt Ende November [2019] waren mehrere Online-Angebote für Bürger nicht erreichbar – weil Ratten ein Erdkabel zwischen zwei staatlichen Datenzentren in Tallinn angenagt hatten. Transparenzhinweis: Die Reise fand auf Einladung der Organisation Enterprise Estonia statt. Oliver Bilger, "Willkommen in E-Estonia", in: Frankfurter Rundschau vom 13. Januar 2020 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt Die öffentliche Verwaltung teilt sich aufgrund des Föderalismus in Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung auf. Da alle drei Ebenen von der Herausforderung der digitalen Transformation betroffen sind, wurde 2010 der IT-Planungsrat gegründet. Dieser koordiniert gemeinsame Digitalisierungsvorhaben des öffentlichen Sektors über föderale Ebenen hinweg. Der IT-Planungsrat steuert konkrete E-Government-Projekte und beschließt übergreifende Standards für Sicherheit und Interoperabilität von IT-Systemen. Zudem koordiniert und entwickelt er das informationstechnische Verbindungsnetz des Bundes und der Länder. Zu diesem Zweck beschloss er 2010 eine Nationale E-Government-Strategie. Die Verwaltungsdigitalisierung lässt sich in drei Bereiche unterteilen. Erstens betrifft die digitale Transformation die Beziehung zwischen Verwaltung und Bürgerinnen und Bürgern – auch "Government-to-Citizen" genannt. Besonders zentral ist hier die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Dieses wurde 2017 auf Bundesebene verabschiedet, um E-Government-Angebote zu entwickeln und zu stärken. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen sollen ein Zugangskonto erhalten, mit dem sie über einen Portalverbund auf hunderte digitale Verwaltungsleistungen von verschiedenen Behörden zugreifen können. Einige solcher Dienste sind schon seit geraumer Zeit digital verfügbar: So wurde 1999 die Elster-Software als Verfahren eingeführt, um die Einkommensteuererklärungen elektronisch zu übermitteln. Zudem sind Angebote für Bürgerinnen und Bürger teilweise verknüpft mit dem Personalausweis. Sie können ihn über ein entsprechendes Gerät für eine bisher begrenzte Zahl an Diensten nutzen. Bekanntheit und Nutzung von Bürgerinformationsdiensten. Umfrage "eGovernment Monitor 2019" der Initiative D21; https://initiatived21.de/app/uploads/2019/10/egovernment-monitor-2019.pdf, S.13 (© bpb) Zweitens verändert die Digitalisierung die Prozesse zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichem Sektor – auch unter dem Schlagwort "Government-to-Business" bekannt. Hierzu gehören insbesondere Online-Authentifizierungsverfahren, mit deren Hilfe Unternehmen verifiziert mit der Verwaltung interagieren können. So erfolgt beispielsweise der Schriftverkehr zwischen Gerichten und Anwaltskanzleien verstärkt digital. Auch der Handel mit Emissionszertifikaten findet online mit elektronischer Signatur statt. Drittens sind Prozesse innerhalb der Verwaltung und zwischen öffentlichen Institutionen betroffen. Dieser Bereich wird mit "Government-to-Government" bezeichnet. Perspektivisch sollen mithilfe einer elektronischen Akte, der E-Akte, Antragsprozesse digitalisiert werden. Sie erfasst Informationen digital und ersetzt eine Akte in Papierform. Zudem koordiniert der IT-Planungsrat die Modernisierung der öffentlichen Register. Dies sind die Voraussetzungen dafür, dass Behörden die für Verwaltungsleistungen erforderlichen Nachweise direkt und digital untereinander austauschen können. Sind Daten über Bürgerinnen und Bürger amtsübergreifend verknüpft, kann beispielsweise der Antrag auf das Eltern- und Erziehungsgeld gleichzeitig mit der Geburtsanzeige erfolgen. Dadurch sollen, so die Bundesregierung, Antragsprozesse verschlankt und zugänglicher gestaltet werden. Beispiele für umgesetzte teildigitale Antragsprozesse auf Bundesebene sind der Kinderzuschlag oder das Elterngeld. Das 2013 durch den Deutschen Bundestag verabschiedete Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung (E-Government-Gesetz) ermöglicht solche Digitalisierungsprozesse. Auch einige Landesparlamente beschlossen vergleichbare Regeln. Mit dem E-Government-Gesetz wurden die Behörden des Bundes verpflichtet, bis 2020 die E-Akte einzuführen. Perspektivisch kann sie Verwaltungsprozesse verbinden und optimieren. Außerdem würde das datenbasierte Arbeiten es vereinfachen, Daten auszuwerten und Angebote des öffentlichen Sektors auf ihre Wirksamkeit hin zu evaluieren. Umsetzungsstrukturen zur Digitalisierung der Verwaltung bis 2022 (© bpb) Auf dem Digital-Gipfel in der Dortmunder Westfalenhalle besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel (2. v. l.) am 29. Oktober 2019 den Stand der Deutschen Telekom. In ihrer Begleitung (v. l.) Achim Berg, Präsident des Bundesverbandes Bitkom e. V., Thomas Jarzombek, Beauftragter für Digitale Wirtschaft im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie Gerd Buziek, Esri Deutschland GmbH (© Bundesregierung – B 145 Bild-00439921/Guido Bergmann) Die fünf Handlungsfelder der Digitalstrategie (© Bundesregierung; www.bundesregierung.de/breg-de/themen/digitalisierung/diedigitalstrategie- der-bundesregierung-1549554) Eigene Darstellung (© bpb) Die größten Internet-Konzerne (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 686 485; Quelle: Bloomberg) Eigene Darstellung (© bpb) Eigene Darstellung. Quelle: Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet; Externer Link: www.divsi.de/wp-content/uploads/2013/08/DIVSI-Braucht-Deutschland-einen-Digitalen-Kodex.pdf, S. 13 ff. (© bpb) Big Data – Datenmengen und Datenquellen (Siemens Stiftung 2019) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung nach DSGVO Art. 6 (1) (© bpb) […] Estland ist schon lange bekannt für seine Vorreiterrolle in Sachen Digitalisierung, vor allem Bürgerdienste hat die Baltenrepublik schon vor Jahren ins Internet verlegt. In "E-Estonia", wie sich das Land gerne selbst nennt, sind nahezu alle Behördenangelegenheiten bequem mit ein paar Klicks von zu Hause aus zu erledigen. Mehr als 3000 Dienstleistungen – von Behörden und Unternehmen – können digital erledigt werden. Als Schlüssel zu den digitalen Möglichkeiten dient die Bürgerkarte, die gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte und mehr ist. Und das Angebot wächst weiter. […] Künftig sollen nicht mehr die Bürger ihre digitalen Behördengänge erledigen müssen – vieles soll stattdessen automatisiert funktionieren. Zum Beispiel bei einer Geburt: Das Krankenhaus meldet den Nachwuchs sofort bei den Behörden an. Damit einher geht die Anmeldung bei der Krankenversicherung (in Estland gibt es nur eine) sowie die Registrierung von Sozialleistungen wie Kindergeld und weitere Zuschüsse. Die Eltern des Neugeborenen werden in einer E-Mail darüber informiert, auf welche Leistungen sie Anspruch haben. Die Nachricht brauchen sie nur noch zu bestätigen, die Antragstellung bei den Behörden, die bisher nach der Geburt nötig war, entfällt. […] Weitere Dienste sollen folgen. Nach den Formalitäten rund um die Geburt ist gerade das Thema Rente in der Diskussion. Bis zum Jahresende 2020 sollen aber zunächst insgesamt sieben Dienste rund um verschiedene Lebensereignisse auf die neue Art und Weise verwaltet werden. [...] In Deutschland klingt das noch nach Zukunftsmusik. Bis zum Jahr 2022 wollen Bund, Länder und Kommunen 575 Verwaltungsleistungen vom Antrag für einen Personalausweis oder Führerschein bis hin etwa zu dem für Elterngeld überhaupt erst einmal nach einheitlichen Standards online anbieten. […] In Estland laufen derweil 99 Prozent aller staatlicher Verwaltungsleistungen übers Internet. […] Nur bei drei Diensten ist dies nicht möglich: Eheschließungen und Scheidung haben die Esten ausgenommen – aus ethischen Gründen. Auch beim Kauf einer Immobilie ist tatsächlich ein Gang zum Amt erforderlich sowie der Beglaubigung eines Notars auf Papier. Dafür können die Esten seit 2005 sogar online wählen. […] Die Automatisierung der Verwaltungsleistung ist die vorerst letzte Stufe der Entwicklung, die mit einfacher Online-Information und Interaktion begann. Die Digitalisierung wird bereits seit den 90er Jahren vorangetrieben – mit dem Regierungsprogramm "Tiigrihüppe", Tigersprung. Dabei stand nicht eine große Affinität fürs Digitale im Vordergrund, sondern in erster Linie die Notwendigkeit im Land: Mit 1,3 Millionen Einwohnern leben in Estland in etwa gleich viele Menschen wie in München – allerdings auf einer Fläche, die so groß ist wie Niedersachsen. Außerhalb der Hauptstadt und Regionalzentren ist die kommunale Versorgung nur mit großem Verwaltungsaufwand zu bewerkstelligen. […] Auch in Estland wissen die Nutzer um die Gefahren und Probleme, doch das Vertrauen in Technik und Regierung überwiegt. Mit wenigen Klicks kann jeder genau sehen, wer wann zu welchem Zweck auf Daten zugegriffen hat. Jede Behörde hat streng festgelegte Zugriffsrechte, welche Informationen sie überhaupt abrufen darf. Wer sich unberechtigterweise Zugang verschafft, muss mit Strafen rechnen. […] Gefahren lauern dennoch. Das zeigten nicht nur die schweren Cyberangriffe im Jahr 2007, die viele Internetdienste zeitweise lahmlegten. Zuletzt Ende November [2019] waren mehrere Online-Angebote für Bürger nicht erreichbar – weil Ratten ein Erdkabel zwischen zwei staatlichen Datenzentren in Tallinn angenagt hatten. Transparenzhinweis: Die Reise fand auf Einladung der Organisation Enterprise Estonia statt. Oliver Bilger, "Willkommen in E-Estonia", in: Frankfurter Rundschau vom 13. Januar 2020 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt Bekanntheit und Nutzung von Bürgerinformationsdiensten. Umfrage "eGovernment Monitor 2019" der Initiative D21; https://initiatived21.de/app/uploads/2019/10/egovernment-monitor-2019.pdf, S.13 (© bpb) Umsetzungsstrukturen zur Digitalisierung der Verwaltung bis 2022 (© bpb)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-12T00:00:00"
"2020-11-03T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/digitalisierung-344/digitalisierung-344/318137/politik-recht-und-verwaltung/
Mit der Digitalen Agenda formulierte die deutsche Bundesregierung unter Beteiligung von Privatwirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ein wegweisendes Programm für zentrale Politikbereiche. Weitere Strategien wie die zur Künstlichen Intelligen
[ "Digitalisierung" ]
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Impressum | Rheinland-Pfalz 2021 | bpb.de
Der Wahl-O-Mat zur Landtagswahl Rheinland-Pfalz 2021 ist ein Produkt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz. Thesen und Inhalte des Wahl-O-Mat wurden von einem Redaktionsteam aus Jungwählerinnen und -wählern aus Rheinland-Pfalz, Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Journalismus und Bildung sowie den Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz entwickelt. Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2021 Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling E-Mail Link: schilling@bpb.de Projektleitung für die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Pamela Brandt Martin Hetterich Lea Schrenk Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-0 Fax: +49 228 99515-405 E-Mail: E-Mail Link: info@wahl-o-mat.de Internet: Externer Link: www.bpb.de Sie haben Fragen? Treten Sie mit unserem Bürgerservice in Kontakt: Tel.: 0228 99515-0 Fax: 0228 99515-113 E-Mail: E-Mail Link: info@bpb.de Twitter: @frag_die_bpb Pressekontakt bpb Journalistinnen und Journalisten wenden sich bitte an die Pressestelle. Projektleitung für die Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz Dr. Sarah Scholl-Schneider Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz Am Kronberger Hof 6 55116 Mainz Telefon: 06131 16 2970 Telefax: 06131 16 17 2970 E-Mail: E-Mail Link: lpb.zentrale@politische-bildung-rlp.de Internet: Externer Link: www.politische-bildung-rlp.de Inhalt und Redaktion Jungwählerinnen und -wähler Max Aehle, Nathalie Irini Anagnostou, Johannes Ammon, Elisabeth Gold, Christopher Groß, Verona Haucke, Antonia Heser, Henning Kröger, Hannah Leisch, Gloria Margarete Leo, Niklas Otto, Nahum Taye Mulugeta, Pirmin Scheel, Franziska Schmitgen, Eva Thomsen Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Journalismus und Bildung Tanja Binder, Karin Dauscher, Wolf Dittmayer, Prof. Dr. Manuela Glaab, Samuel Groesch, Daniel Hagemann, Prof. Dr. Uwe Jun, Markus Jung, Prof. Dr. Stefan Marschall Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz Franzi Bach, Jessica Maron, Lion Merten, Dr. Sarah Scholl-Schneider Bundeszentrale für politische Bildung Pamela Brandt, Martin Hetterich, Lea Schrenk Umsetzung, Gestaltungskonzept & Design 3pc GmbH Neue Kommunikation, Berlin E-Mail: E-Mail Link: info@3pc.de Internet: Externer Link: https://3pc.de Programmierung GLAMUS GmbH E-Mail: E-Mail Link: santo@glamus.de Internet: Externer Link: https://www.glamus.de Nach einer Idee von Externer Link: ProDemos - Huis voor democratie en rechtsstaat Den Haag/Niederlande Die Vervielfältigung, Verbreitung und die öffentliche Wiedergabe des Wahl-O-Mat ist nicht gestattet. Der Wahl-O-Mat ist urheberrechtlich geschützt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-02-10T00:00:00"
"2021-01-29T00:00:00"
"2021-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wahl-o-mat/rheinland-pfalz-2021/326312/impressum/
Der Wahl-O-Mat zur Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 2021 ist ein Produkt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz.
[ "bpb Wahl-O-Mat" ]
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Zukunftsszenario: Feministische Ökonomie | Jugendkongress 2016 - BEWEGT WAS. | bpb.de
(© bpb) Wir sind im Jahr 2050: Vieles in der Welt hat sich verändert – auch das mehreren Wirtschaftstheorien zugrundeliegende Menschenbild. Der Homo Oeconomicus, der sich als rationales und egoistisches Wesen definiert, wird als überholtes Modell ökonomischer Praxis angesehen. Arbeit dreht sich längst nicht mehr nur um die Produktion und Verarbeitung von Gütern, sondern vor allem um den Umgang mit Menschen und Zeit. Gemeinsam wollen wir untersuchen, welche Vorteile und Nachteile die feministische Ökonomie für die Wirtschaft und das Leben von Arbeiternehmer/innen birgt und von verschiedenen Standpunkten diskutieren, wie sich die Wirtschaft im Jahr 2050 konkret gestalten könnte. Der Workshop wurde von Vera Katzenberger und Julia Schöfer (beide YEPs) entwickelt. In der herunterladbaren Datei findet ihr die Ergebnisse des Zukunftsszenarios. Themenstrang : Nachhaltiger Lebensstil PDF zum Herunterladen: Interner Link: Feministische Ökonomie (© bpb)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-08T00:00:00"
"2016-12-01T00:00:00"
"2021-11-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/youko/238326/zukunftsszenario-feministische-oekonomie/
Wir sind im Jahr 2050: Vieles in der Welt hat sich verändert – auch das mehreren Wirtschaftstheorien zugrundeliegende Menschenbild. Der Homo Oeconomicus, der sich als rationales und egoistisches Wesen definiert, wird als überholtes Modell ökonomische
[ "Jugenkongress 2016", "Workshops" ]
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Prognosen, Hochrechnungen, Umfragen | Wahlen in Deutschland: Grundsätze, Verfahren, Analysen | bpb.de
Die empirische Wahlforschung hat eine Reihe von Methoden entwickelt, um die Wahlabsicht sowie die tatsächliche Wahl am Wahltag kurzfristig ermitteln zu können. Zu unterscheiden sind hierbei erstens Umfragen vor dem Wahltermin, zweitens die Prognose am Wahlabend um 18 Uhr sowie drittens die Hochrechnungen des tatsächlichen Abstimmungsverhaltens (Karl-Rudolf Korte/Arno von Schuckmann, 2021). Im Vorfeld überregionaler Wahlen geben bei den Meinungsforschungsinstituten insbesondere Parteien und Medien Umfragen in Auftrag, um aktuelle Stimmungsbilder von den Wahlabsichten zu erhalten. Umfrageergebnisse beruhen je nach Kostenrahmen auf 1.000 bis 2.000 repräsentativ ausgewählten Befragten. Deren Auswahl erfolgt nach der Zufalls- oder (seltener) nach der Quotenauswahl. Die Befragten werden entweder telefonisch, persönlich (face to face) oder schriftlich (durch Anschreiben) befragt. Für aktuelle Stimmungsbilder genügen etwa 800 bis 1.200 Personen, die telefonisch über ihre Wahlabsicht Auskunft geben. Es ist wichtig, die methodischen Besonderheiten von Umfragen zu kennen. Sie messen immer nur aktuelle Verhaltensabsichten. Zudem unterliegen die Ergebnisse den statistischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Fehlertoleranz beträgt je nach Umfang und Methode der Erhebung etwa zwischen zwei und vier Prozent. Die Wahlprognosen, die von den Meinungsforschungsinstituten mit der Schließung der Wahllokale um 18 Uhr im Fernsehen verkündet werden, beruhen auf sogenannten exit polls, das heißt auf Befragungen, die während des gesamten Wahltags direkt vor repräsentativ ausgesuchten Wahllokalen durchgeführt werden. Die Meinungsforschungsinstitute betreiben einen hohen Aufwand, um ihre Leistungsfähigkeit immer wieder öffentlich unter Beweis zu stellen. Die das Wahllokal verlassenden Personen bzw. ein zufällig ausgewählter Teil davon werden beim Wahlprognoseverfahren gebeten, noch einmal ihre Stimme für die Urne des Meinungsforschungsinstituts abzugeben. Zudem werden sozialstatistische Merkmale wie zum Beispiel Bildung, Geschlecht, Alter, Beruf und Konfession erfasst. Die Vorteile dieser exit polls liegen auf der Hand: Zunächst werden hierbei – anders als bei Bevölkerungsumfragen – nur tatsächliche Wählerinnen und Wähler befragt. Weiterhin liegen die Zeitpunkte von Wahl und Befragung nur wenige Minuten auseinander, die Befragten können sich also mit hoher Sicherheit noch richtig erinnern. Darüber hinaus wird bei diesem Verfahren eine wesentlich größere Anzahl von Personen befragt (bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft 2020 befragte die Forschungsgruppe Wahlen am Wahltag 15.537 Wählerinnen und Wähler), was die Fehlertoleranz verkleinert. Die Hochrechnungen des Wahlabends beruhen im Gegensatz zu den Meinungsbildern der vorangegangenen Tage und auch der Prognose um 18 Uhr auf dem tatsächlichen Wahlverhalten. Hierbei werden die Ergebnisse repräsentativ ausgewählter Stimmbezirke hochgerechnet. Die Stimmbezirke sind so ausgewählt, dass sie in ihrer Gesamtheit das Ergebnis der vorangegangenen Wahl exakt abbilden. Es bleiben allerdings auch nach den ersten Hochrechnungen noch Unsicherheiten, die aber bei zunehmender Verbreiterung der Basis abnehmen. Wenn der Stimmenanteil einer Partei jedoch sehr nahe an der Fünfprozenthürde liegt (wie etwa bei der Bundestagswahl 2013 die Prognose für die FDP) oder zwei Parteien oder Lager sich ein Kopfan-Kopf-Rennen liefern (SPD und CDU bei der Bundestagswahl 2002 oder Rot-Grün und Schwarz-Gelb bei der Landtagswahl 2013 in Niedersachsen), muss trotz aller ausgefeilten Hochrechnungstechniken die vollständige Auszählung abgewartet werden. Ergebnisse können statistisch immer nur mit einer möglicherweise durchaus geringen Fehlertoleranz vorhergesagt werden. Wenn die politisch entscheidenden Unterschiede jedoch innerhalb dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen Toleranzen liegen, hilft auch die Mathematik nicht weiter.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2021-06-28T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/wahlen-in-deutschland/335663/prognosen-hochrechnungen-umfragen/
Face to face, telefonisch oder schriftlich durch Anschreiben ermitteln Meinungsforschungsinstitute die Wahlabsicht im Vorfeld der Wahl sowie die tatsächliche Wahl am Wahltag.
[ "Empirische Wahlforschung", "Meinungsforschungsinstitut", "Prognose", "Hochrechnung", "Umfrage" ]
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Wie beeinflusst der Schulabschluss die Mitgliedschaft in Vereinen und Organisationen? (2010) | Bildung | bpb.de
In vielen Vereinen und Organisationen sind Personen mit einem höheren Schulabschluss stärker vertreten als Personen mit einem niedrigem oder gar keinem Schulabschluss. So etwa in den Bereichen Kultur, Sport und Naturschutz. Für Wohltätigkeitsvereine und Bürgerinitiativen gilt dies aber z.B. nicht: hier sind alle Abschlussgruppen gleichermaßen vertreten. Diese Grafik finden Sie im Text Interner Link: "Die ungleiche Bürgergesellschaft – Warum soziale Ungleichheit zum Problem für die Demokratie wird" von Sebastian Bödeker.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-13T00:00:00"
"2014-08-28T00:00:00"
"2022-01-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/190590/wie-beeinflusst-der-schulabschluss-die-mitgliedschaft-in-vereinen-und-organisationen-2010/
Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen und Organisationen nach Schulabschluss, 2010
[ "Bildungsabschluss", "Schulabschluss", "Vereine", "Organisation" ]
440
Fazit und Ausblick | Datenreport 2021 | bpb.de
Jeder vierte Mensch in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Diese Bevölkerungsgruppe ist überdurchschnittlich jung. Sie wird in Zukunft durch Zuwanderung und Geburten voraussichtlich tendenziell weiterwachsen. Personen mit Migrationshintergrund haben häufiger keinen allgemeinbildenden Schulabschluss oder berufsqualifizierenden Abschluss, sind eher erwerbslos und sind deutlich häufiger armutsgefährdet als Personen ohne Migrationshintergrund. Auch am Wohnungsmarkt zeigen sich Unterschiede – so leben Menschen mit Migrationshintergrund seltener in Eigentum, haben weniger Wohnfläche pro Kopf zur Verfügung und zahlen durchschnittlich eine höhere Miete. Auch wenn sich seit 2005 die Lage in mancher Hinsicht – etwa auf dem Arbeitsmarkt – verbessert hat, so existieren weiterhin deutliche Nachteile gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Diese Nachteile haben direkten Einfluss auf die Entwicklungschancen der Kinder. So besuchen Kinder mit Migrationshintergrund insgesamt häufiger die Hauptschule und seltener das Gymnasium. Bei einer anhaltend hohen Nettozuwanderung wird sich in den kommenden Jahren die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund – wie Annahmen der Bevölkerungsvorausberechnungen zeigen (siehe Interner Link: Kapitel 1.1.4) – weiter erhöhen. Insbesondere der Zuzug der Schutzsuchenden dürfte innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zu weiteren demografischen und sozioökonomischen Verschiebungen führen. Solche Veränderungen sind im Mikrozensus 2019 noch nicht vollständig sichtbar. Das liegt auch daran, dass Schutzsuchende im Mikrozensus unterrepräsentiert sind, da seit dem Mikrozensus 2017 nur für die Bevölkerung in Privathaushalten alle Merkmale erhoben werden. Für Schutzsuchende, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, sind daher beispielsweise keine Informationen zur Bildung oder zur Erwerbstätigkeit verfügbar. Allerdings zeichnen sich in den Integrationsindikatoren Effekte ab, die auf die Zuwanderung der Schutzsuchenden zurückzuführen sind. Beispielsweise steigt seit 2014 der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund ohne Schulabschluss wieder an. Das zeigt einmal mehr, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund keine homogene Gruppe darstellt. Ohne dieses Wissen wäre ein flüchtiger Blick auf die Statistik verzerrt. Auch deshalb ist eine differenzierte Betrachtung dieser Thematik so wichtig.
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Anja Petschel
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/bevoelkerung-und-demografie/329532/fazit-und-ausblick/
Jeder vierte Mensch in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Diese Bevölkerungsgruppe ist überdurchschnittlich jung. Sie wird in Zukunft durch Zuwanderung und Geburten voraussichtlich tendenziell weiterwachsen.
[ "Datenreport", "Zukunft durch Zuwanderung und Geburten", "Nettozuwanderung", "demografische Verschiebungen", "sozioökonomische Verschiebungen" ]
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Elbfahrt vor Erinnerungslandschaft | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Mählich-stoisches Vorwärtsschaufeln Bei diesem Anblick verzeiht man der Stadt alle Fehltritte. Und ist ganz bei denen, die in Dresden zahlreicher und verbissener als anderswo die Zeit anhalten wollen. Denn hier am Terrassenufer scheint sie tatsächlich stehen geblieben zu sein. Zur Rechten die Brühlsche Terrasse, der Interner Link: Balkon Europas mit der eklektizistischen Kunstakademie, schon zu Lipsius´ Zeiten vor mehr als hundert Jahren ein Anachronismus. Zur Linken wie an einer Straße, eben der Bundeswasserstraße, geparkt jene einmalige Flotte, die ich unwillkürlich immer noch die "weiße" nennen will. Nicht minder zeitlose Schwimmzeugen, die längst Bestandteil eines feststehenden Ensembles geworden sind, das wiederum zum Kanon Dresdner Unverzichtbarkeiten gehört. So, als hätten sie sich seinerzeit vor Canalettos malerischem Blick lediglich hinter der Augustusbrücke versteckt. Jeder Vergleich mit einem Yachthafen verbietet sich, der mit Venedig würde hinken. Es scheint, als sei die Bestimmung dieser Flotte, die sich zwecks Unterscheidung von anderen weißen nun die "Dresdner Flotte" nennt, zuerst eine dekorative in einer lieblichen und dennoch erhabenen Kulisse. Und sie bewegt sich doch! Man weiß es, aber nach Fahrplanschluss oder im Winter liegen die Schiffe brav hintereinander am Elbufer, Perlen der Beschaulichkeit aufgereiht an einer unsichtbaren Schnur. Wer sich in ihren Anblick verliebt hat, kann jeden Tag eine Flottenparade genießen, nicht nur zur Saisoneröffnung am 1. Mai oder beim Stadtfest. Diese Dampfer lassen sich nicht auf ihre Funktion als Wasserfahrzeuge reduzieren. Sie sind auch nicht allein technische Denkmale, in denen sich eine ansonsten verschwundene Antriebsart behauptet. Sie sind wie der ruhende Stein im Hintergrund Zeugen, ja Instrumente der Entschleunigung. Wer sich dem exterritorialen Gebiet ihrer Planken anvertraut, verzichtet bewusst auf den kürzesten Weg zum Ziel und liefert sich dem mählich-stoischen Vorwärtsschaufeln der Ausflugsdampfer aus. Er erklärt überhaupt den Weg zum Ziel und denkt weniger an die Ankunft. Die Dresden oder die Leipzig sind schließlich keine Lastkähne. Geschwindigkeit ist keine Kategorie auf Schiffen dieser Art, die vor allen Kulissen des Elbtals zwischen Diesbar und Bad Schandau eher zum statischen Accessoire der Postkartenansichten geraten. Die historische Flotte zeigt mit ihren orthogonalen Formen auch keinerlei Attribute der Geschwindigkeit oder weist mit konstruktiven Elementen auf etwa zu überwindende Widerstände hin. Insofern sind die streitbaren Neubauten August der Starke oder Gräfin Cosel ganz Kinder ihrer Zeit. Schräge Holme suggerieren Tempo, auf das es nicht ankommt, und ein schnittiger Bug kontrastiert mit der Gelassenheit der älteren Schwestern. Modernität scheint unvereinbar mit der schönen Zweckfreiheit, von der selbstverständlich auch das angebrochene neue Jahrhundert träumt. Insofern können die still vor sich hinschnaufenden Kleinodien aus dem späten 19. Jahrhundert gar nicht veralten. Ich vermisse die alten Kästen Im Winter aber hat der geneigte Elbschifffahrgast keine Wahl. Es dampft nicht, es dieselt nur zur Schlösserfahrt. Eine Fahrt, die im vorweihnachtlichen Frühwinter des Jahres 2010 von jedem Flussfahrzeug aus den mildesten Augentrost spenden muss. Das weiße Schneepuder, das sich über Wochen zu massivem Zuckerguss verdichtet hat, uniformiert die Landschaft keineswegs. Es betont vielmehr die Harmonie, in der sich das sanfte Tal und seine Bebauung wiegen. Mit Ausnahmen. Die Cosel ist ein Neubau aus dem Jahre 1994. (Gunnar Richter/Namenlos.net; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Hat man erst einmal seinen Aussichtsplatz auf der wohlgeheizten Gräfin Cosel gefunden und seinen Grog angeschlürft, schwindet auch die leichte Fremdheit, die sich beim Betreten der beiden Salonschiffe immer noch einstellt. Mittschiffs, wo bei den historischen Dampfern unter dem Kasten die Schaufelräder ins Wasser klatschen, empfängt den Gast eine geräumige und in ihrer Vornehmheit Distanz schaffende Lounge. Ein nobles schwimmendes Hotel, das den Gast überdies vor den rauen Einflüssen des Elbtal-Klimas weitgehend abschirmt. Fände nicht das Auge an den milden, später schroffen Hängen jenseits der Ufer seine Umarmung, das Gefühl der Sterilität schwände nie ganz. Man vermisst die verbindende Enge der "alten Kästen", vermisst die Präsenz ihrer aufs Peinlichste gepflegten öffentlichen Antriebsaggregate. Wie die regelmäßigen Atemstöße bei einer Bergwanderung hört man die beiden Dampfzylinder ihre Arbeit verrichten, gutwillig, aber energisch, mit einer den menschlichen Bewegungsrhythmen sehr verwandten Frequenz. Die Kraft ist zu spüren, und das Feuer, das sie erzeugt, wird beim gelegentlichen Öffnen der Klappe sichtbar. Viele Fahrgäste genießen nicht nur die Gegend, sondern suchen diesen Blick ins Unterdeck bewusst, um angesichts dieser sinnlich-sympathischen und so gar nicht primitiven Maschine zu meditieren. Auf der Cosel hingegen bleibt die Maschine ganz und gar anonym. Nicht einmal das von Fähren oder Kreuzfahrtschiffen bekannte Vibrieren des Großdiesels ist zu spüren, wenn die Carolabrücke passiert ist und der Blick fragend hinüber zur Staatskanzlei schweift, ob denn der Herr Ministerpräsident in umgekehrter Richtung soeben auch Beruhigung und Erbauung beim Blick auf den Strom suche. Stromaufwärts mit Senioren Stromaufwärts folgt nach Albertbrücke und Flohmarkt-Ufer wenig Romantisches unter der Dominanz der Johannstädter Hochhäuser, so dass das Interesse kurzzeitig den Fahrgästen gelten kann. Wochentags um die Mittagszeit die üblichen Verdächtigen, Senioren also, die Gnade der rechtzeitigen Geburt genießend und ihre noch auskömmliche Rente in einer geselligen Flussfahrt anlegend. Sie ausgerechnet bringen ein wenig Hektik ins Bordrestaurant. Was ihnen trotz Gehhilfe an physischer Mobilität fehlt, kompensieren sie über ein hochmobiles Mundwerk und vorgetäuschte Geschäftigkeit. Keineswegs schweigend genießt auch eine Kategorie Fahrgäste, auf deren verspäteten Bus beim Ablegen noch gewartet wurde. Zum babylonischen Sprachgewirr der Holländer, Briten oder Franzosen fehlte noch die slawische Kompenente. "Wonderful", "Merveilleuse", "Prekraßno" demonstriert das Elbtal ausgerechnet in Sichtweite der nahenden Waldschlösschenbrücke seine Weltoffenheit. Die Mitnahme von Rollstühlen, Fahrrädern oder Kinderwagen sei "eingeschränkt möglich", lautet eine Information. Anekdoten kommen in Erinnerung, wie eingeschränkt oder verblüffend uneingeschränkt die Mitnahme solcher Rollzeuge auf das gleitende Wasserfahrzeug sein kann. So mussten wir einmal im Gewitterregen schon am Blauen Wunder von Bord des Dampfers gehen, weil es nach Angaben des Schiffspersonals am Terrassenufer keine Möglichkeit gab, einen Kinder-Fahrradanhänger an Land zu bringen. Andererseits machten die Schiffsleute in Radebeul zu unserer Freude und zum Gaudi der übrigen Fahrgäste Unglaubliches möglich. Als 2007 unsere jährliche singende Vagantentour in Bauernkluft über den Elb-Weinwanderweg führte, hievten wir mit vereinten Kräften den "Leitkarren" und mehrere Handwagen auf das Hinterschiff. Auf dem Rückweg zum Ausgangspunkt Diesbar-Seußlitz bedankten wir uns auf dem Oberdeck mit Volksliedern und Instrumentaleinlagen. Jenseits des gleichfalls mit manchen musikalischen Erinnerungen verbundenen Johannstädter Fährgartens steuert das Schiff auf die unvermeidliche neue Brücke zu. Sie duckt sich, als schäme sie sich, denn nun, da der Brückenzug am Waldschlösschen im Wesentlichen steht, erscheint er real noch ein bisschen hässlicher als imaginiert. Ein rohes Monument der Hybris, des Starrsinns und der Einfallslosigkeit. Ausdruck der dominierenden Einäugigkeit in dieser Stadt, der nicht nur an dieser exponierten Stelle das zweite Auge fehlt zu erkennen, was harmoniert und was nicht. Die nahenden Elbschlösser zur Linken versöhnen auf erlösende Art. Griebel, das Original Sprecher "Matz" Griebel und die Sächsische Dampfschifffahrt scheinen die unfreiwillige Ironie noch nicht bemerkt zu haben, wenn nun in Höhe der Saloppe der Kommentar aus der bordeigenen Tonkonserve einsetzt und verkündet, man habe eine "völlig intakte Flusslandschaft durchfahren". Vielleicht setzt deshalb Griebels Elbtal-Führung aus dem Lautsprecher auch erst nach Passieren der Waldschlösschenbrücke ein. Zumindest das Sächsisch dieses sächsischen Originals und langjährigen Stadtmuseumsdirektors ist völlig intakt und von jener bemühten Affektiertheit frei, die Bühnen- oder Filmauftritte anderen Sächsisch-Imitatoren abverlangen. Einen Grundkurs in Sächsischer Sprache streut Matthias Griebel auf sympathische Weise in die sachlichen Informationen ein, die Bauwerken und der vorüber gleitenden Landschaft gelten. Nicht nur der Tourist lernt etwas über die slawische Herkunft der Ortsnamen, die auf -witz oder -nitz enden. Auch die Eingeborenen wissen meist nicht mehr, dass ihre Bäbe, der beliebte Napf-Rührkuchen, von der Baba, der Großmutter, kommt. Das bestätigende, manchmal penetrante "nu" hängt mit dem tschechischen "ano" zusammen, und die "Hitsche" kennt der Schlesier als die "Ritsche". Vor allem aber weckt die Stimme Matz Griebels in dieser Umgebung Erinnerungen an jene "Kulturfahrten" zu Wasser und zu Lande, die in den späten achtziger Jahren vom Dresdner Orgelbauer Kristian Wegscheider initiiert und organisiert wurden. Ich höre den backenbärtigen Barden gemeinsam mit Wasja Götze noch in einem der Salons unter Deck jene schlüpfrigen Lieder zur Klampfe schmettern, die mir ausgerechnet aus Studentengemeindekreisen wohlbekannt waren. 1987 hatte er durchaus glaubwürdig die Gestalt des vielfach imitierten starken Augusts angenommen, näherte sich in Pillnitz mit einem eigenen Schiff, um dann vom Balkon des Wasserpalais aus eine Rede zu halten, in der er letztlich einen Bastelbogen der Jungen Pioniere anpries. Ein Jahr zuvor war der omnipräsente August den Wasserfahrern schon einmal in Begleitung des Hofnarren Fröhlich und des legendären Geigers Pisendel erschienen, ausstaffiert vom Fundus der Semperoper. Griebel war nur eines der Originale, einer der zahlreichen Typen, die sich auf dem Dampfer einfanden. Nicht alle kannten sich untereinander, aber einer gewissen Bohéme außerhalb der staatlich organisierten Kultur fühlten sich alle zugehörig. Und nicht alle wussten, mit welcher Mischung aus Witz und Dreistigkeit Kristian Wegscheider diese Fahrten überhaupt ermöglicht hatte. Seine Inspiration rührte tatsächlich von einem Schiff her, Fellinis Film "Schiff der Träume" nämlich. Aus zweiter Hand, denn im Original zu sehen bekam Wegscheider den Film in der DDR nicht. Aus erster Hand wiederum stammten seine Erfahrungen mit Dampferfahrten der feier- und faschingswütigen Studenten der Kunsthochschule. Wie wir die weiße Flotte kaperten Wie aber als Privatperson ein ganzes Schiff mieten, und sei es in friedlichster Absicht die zwischenzeitlich in "Weltfrieden" umbenannte "Pillnitz"? Wegscheider spielte sich ein bisschen in die Rolle des "Organisators einer Incognito-Kulturorganisation" hinein, wie er rückblickend scherzt. Und er spielte auf seine Weise mit dem "subjektiven Faktor" im System, mit dem Lavieren des an sich gutwilligen Subjekts in den Rastern des Apparats nämlich. Dem damaligen Chef der Weißen Flotte gegenüber trat er zunächst als ein Mann von der Komischen Oper Berlin auf, wo seine erste Frau Tänzerin war. Als der noch um eine amtliche Absicherung bat, beschaffte er sich beim Rat für Museumswesen im Ministerium für Kultur ein Schreiben, das die Fahrt einer Restauratorengruppe befürwortete. Zehn Restauratoren plus ungezählte Verwandtschaft, damit der Dampfer voll werde. Die Stasi kam zu spät dahinter. Vier Fahrten gab es, die erste am Tag der Tschernobyl-Katastrophe 1986. Die zweite ein Jahr später bildete den Auftakt zu einer Fahrt mit der Weißeritztal-Kleinbahn am Folgetag, die ebenfalls unvergessen bleibt. An der Spechtritzmühle wurde ein Klavier in den Packwagen geladen. Dort gab´s Boogie-Woogie, in der Zugmitte spielte unsere Oldtime-Country-Band, im Salonwagen ein Streichquartett. In Obercarsdorf übefielen Indianer den Zug, und am Ziel in Kipsdorf tanzten wir auf Bahnsteigen und Gleisen zum Gebläse einer Feuerwehrkapelle. Diese "Kulturfahrten" kannten überhaupt nur Aktive und keine Konsumenten. Im gleichen Jahr 1987 lud Wegscheider auch alle Orgelbauer der DDR auf einen Dampfer ein. Die eigentliche Sensation bestand in der Druckgenehmigung einschließlich Papierkontingent für eine vierzigseitige Broschüre, in der sich alle Firmen darstellen konnten. 1988 sollte es mit der überall dominierenden Farbe Lila und dem Lied von der "Lila Tilla" den sprichwörtlichen letzten Versuch geben. Danach wollte der Orgelbauer eigentlich in den Westen "abhauen". Trotz des frischen Gorbatschow-Windes und des spürbaren Aufbruchsgeistes eines bürgerschaftlichen Engagements, wie wir heute formulieren würden, der auch solche Privatfahrten auf der Elbe möglich machte. Wegscheider blieb und etablierte bald seine Firma in Hellerau. Geblieben sind Erinnerungen an heitere Kunst und selbstgemachten Jux auf höchstem Niveau. An eine Carmen-Parodie beispielsweise, die Wegscheider und die Altistin Britta Schwarz letztlich zusammenführte, an Peter Damm mit dem Alphorn, an ein Konzert unterwegs in der Wehlener Kirche, an Sinti-Swing auf dem Dampfer. Spätere Stars wie der Sänger René Pape oder der Dirigent Rainer Mühlbach brachten ihre außerordentlichen Fähigkeiten ein. Die Fahrtroute war wegen der Attraktionen am Ufer zeitlich sorgfältig geplant. "Nicht alle auf eine Seite – das Schaufelrad sitzt auf!" musste das Schiffspersonal deshalb die Schaulustigen auf dem Dampfer warnen. Wer den Bogen über Jahrzehnte schlagen kann, sucht nach Konstanten. Das Blaue Wunder, unter dem die Cosel nun hindurchgleitet, assoziiert selbstverständlich "Blue Wonder", und von dieser neben den Elb Meadow Ramblers wohl dienstältesten Dresdner Jazzband ist es gedanklich nicht weit zu den nach wie vor stattfindenden Dixieland-Fahrten auf der Elbe. Die Reihe "Jazz auf der Elbe" entsprang einer studentischen Initiative zu einer Zeit, als der Jazz zwar nicht mehr als dem Sozialismus wesensfremd verteufelt wurde, aber immer noch als eine eher mäandernde denn linientreue musikalische Ausdrucksform galt. Hans-Peter Lühr erinnert daran, dass die Staatsmacht sogar hinter diesen Elbfahrten latente Aufsässigkeit vermutete. 1977 erlebte er bei der Ankunft einer dieser Fahrten am Terrassenufer, wie offensichtlich ein abschreckendes Exempel statuiert werden sollte. Polizei hatte mit Blaulicht an den Wagen die Straße abgesperrt und erwartete die Studenten. Vorwände für Festnahmen fanden sich dennoch nicht, weil der Bierhahn auf dem Dampfer schon in Pirna versiegte und sich jedermann soweit in der Gewalt hatte, um nicht auf Provokationen hereinzufallen. Erst später machte sich auf dem Rückmarsch in Höhe der Bautzner Straße die Wut mit einem Pfeifkonzert Luft. Wiesen, Schlösser und Traktorenreifen Schloss Pillnitz war das Wasserpalais der sächsischen Könige. (Kolossos; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Lange hat sich das Auge weiden können an den unversehrten Elbwiesen zur Rechten, auf denen nun im energischen Winter die Ski-Langläufer ihren Auslauf haben, und an der Harmonie von Hang und Bebauung zur Linken. Das Geschaffene im Respekt vor dem Vorgefundenen, eine selten gewordene Eintracht, und man begreift, warum diese Landschaft einmal dem Welterbe zugerechnet wurde und ihm im Grunde weiterhin angehört. Die singulären Punkte sind seit vielen Jahren vertraut, und so pendelt man sinnierend zwischen der aktiven Uferzone und dem schwimmenden Auge des Betrachters. Altwachwitz, Elbterrasse, Niederpoyritz. Das Tal weitet sich gen Hosterwitz, und nach dem Wasserwerk kommt das Kirchlein "Maria am Wasser" ins Blickfeld, das seit 2002 treffender "Maria am Hochwasser" heißen sollte. Pillnitz ist der Wendepunkt der winterlichen Schlösserfahrt und zugleich Ort einer weiteren ganz persönlichen Erinnerung. Es war Ende der neunziger Jahre, als unser selbstgebautes Floß auf Traktorreifenbasis am Himmelfahrtstag hier von der Wasserpolizei endgültig aufgebracht wurde. Von Rathen heranströmend, waren schon vor Pirna Warnungen und Aufforderungen an uns ergangen, das Gefährt aus dem Wasser zu nehmen. Nun, kurz nach dem Wasserpalais, kreisten uns Beamte zu Wasser und zu Lande ein. Der Hinweis auf unsere nachweisliche Seetüchtigkeit im Vergleich zu zahlreichen Volltrunkenen auf allerdings zugelassenen Schlauchbooten blieb unerhört. Das Ermittlungsverfahren wegen unbefugten Benutzens einer Bundeswasserstraße wurde aber erwartungsgemäß nach wenigen Wochen eingestellt. "Früher war das die Elbe, jetzt ist es eine Bundeswasserstraße", giftete ich damals unter Hinweis auf die allerorts kreativitätslähmende Verrechtlichung. Zwänge haben gewechselt, aber der Reiz der legalen Elbdampferei blieb unbeeinträchtigt. Geht es bei Wehlen in den großen Elbe-Doppelbogen, werden andere großartige Erinnerungen geweckt. Hier leerte sich einst in den sechziger und siebziger Jahren am ersten Juliwochenende schlagartig der Konzertdampfer "Dresden". Die da lärmend von Bord gingen, hatten in den Dresdner Studentengemeinden so etwas wie eine zweite Familie gefunden. In selbstverständlicher ökumenischer Eintracht – man war darin schon einmal weiter als heute – feierten wir den Semesterabschluss mit einer an Ritualen reichen Dampferfahrt. Das Problem einer offiziellen Anmeldung oder gar eines Charterschiffes umgingen wir, indem Strohmänner und -frauen morgens unmittelbar nach Kassenöffnung kurzerhand bis zu 250 Karten aufkauften. Der 9-Uhr-Konzertdampfer sollte es schon sein, wir legten Wert auf die Blaskapelle Hans Knoderer. In deren Pausen sangen wir selbst oder schwangen erste Reden. Von Wehlen kraxelten wir in der Regel über den Steinernen Tisch und die Schwedenlöcher zum Amselsee bei Rathen. Den Tageshöhepunkt bildete dort die kultische Taufe der Sprecher und Vertrauensstudenten. Drei Jahre trat ich dort als Wiedertäufer auf, und die wahrscheinlich prominentesten der von mir Beredeten und Übergossenen waren der spätere sächsische Innenminister Horst Rasch oder der Thüringer Minister und Staatskanzleichef Klaus Zeh. Weil einige dieser Teilnehmer als Philister in der Dresdner Akademikerseelsorge aktiv blieben, muss auch ein Akademikerfasching erwähnt werden, der zwar auf dem Festland stattfand, aber ganz in Elbschifffahrtsromantik schwelgte. Die Jahrestagstagskampagnen der DDR parodierend, zogen wir 1979 ganz groß den außerordentlichen 142. Jahrestag der Oberelbischen Dampfschiffahrt auf. "142 Jahre Auf und Ab", lautete das Motto im Ratskeller Alttrachau. Die Einladung gab das Königliche Schifffahrts-Privileg von 1836 wieder. Jeder Tisch bildete eine Schiffsbesatzung, Kapitänspatente konnten an Ort und Stelle erworben werden. Neben dem Jux vermittelten Beiträge auch viel Informatives zu den Anfängen der Elbschifffahrt im Industriezeitalter. Andererseits bleibt eine Dampferfahrt immer auch eine individuelle Gelegenheit, innezuhalten, still zu werden, gar zu träumen. Es gelingt vor der aus dieser Perspektive so narbenfrei und geglättet erscheinenden Kulisse der Stadt ebenso wie mit dem Raunen der bewaldeten Hänge des Elbsandsteingebirges im Ohr. Einstimmung auf eine kontemplative Wandertour oder auf inspirierenden Weingenuss in einer der Straußwirtschaften zwischen den nahen Weinbergen. Das Ufer, das man rückkehrend wieder betritt, ist nach einer Flussfahrt nie dasselbe. Die Cosel ist ein Neubau aus dem Jahre 1994. (Gunnar Richter/Namenlos.net; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Schloss Pillnitz war das Wasserpalais der sächsischen Könige. (Kolossos; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
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Michael Bartsch
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-05-08T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/159847/elbfahrt-vor-erinnerungslandschaft/
Manchmal ist Schwärmen nicht verkehrt. Und auch nicht das Schwelgen in der Vergangenheit. Besonders wenn man auf einem alten Raddampfer der Dresdner Flotte unterwegs ist.
[ "Elbe", "Fluss", "Dampfer", "Raddampfer", "Dresden" ]
442
Sozialversicherung: Lohnersatzleistungen stärken und sachgerecht finanzieren | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de
Ausbau des Sozialschutzes Die Geldleistungen in der Sozialversicherung werden nach dem (modifizierten) Äquivalenzprinzip berechnet. Danach hängt die (relative) Höhe der Ansprüche aus der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung unmittelbar von der Höhe des individuellen versicherungs- und beitragspflichtigen Arbeitsentgelts ab. Zwischen Zahlbetrag und Einkommens- bzw. Beitragshöhe, zwischen Leistung und Gegenleistung also, besteht ein Entsprechungsverhältnis. Ein hohes Arbeitsentgelt führt zu relativ hohen, ein niedriges zu relativ niedrigen Versicherungsleistungen. Die Höhe des Haushaltseinkommens oder Maßstäbe von Bedarf und Bedürftigkeit spielen bei der Leistungsberechnung keine Rolle. Die Geldleistungen der Sozialversicherung haben damit eine Lohnersatzfunktion und sollen gewährleisten, dass die durch das Arbeitsentgelt erzielte Einkommensposition zumindest weitgehend beibehalten werden kann. Ob jedoch dieser Lohnersatz tatsächlich erreicht wird und die Leistungen oberhalb des Grundsicherungsbedarfs liegen, hängt maßgeblich vom Sicherungsniveau ab. Die Abweichungen zwischen den einzelnen Versicherungszweigen sind groß: Beim Krankengeld werden 70 Prozent des letzten Bruttoeinkommens abgedeckt. Beim Arbeitslosengeld I sind es hingegen nur 60 bzw. 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens und begrenzt auf eine maximale Bezugsdauer von einem Jahr (für Ältere ab 50 Jahren auf bis zu 2 Jahre). Die Höhe der Rente wiederum berechnet sich nicht nach einem festen Prozentsatz, sondern hängt von der durchschnittlichen Einkommensposition im Verlauf des Versicherungslebens und von der Dauer der Beitragszahlung ab. Wie die gruppenspezifischen Armutsgefährdungsquoten zeigen, ist aktuell keinesfalls sichergestellt, dass die Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Erwerbsminderung sowie im Alter armutsfest sind. Knapp zwei Drittel aller (registrierten) Arbeitslosen ist auf Leistungen der Grundsicherung (Hartz IV) angewiesen (vgl. "Interner Link: Hartz IV: Grundsicherung für Arbeitsuchende"), und die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung steigt seit Jahren an (vgl. "Interner Link: Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung"). Um diese Trends zu brechen, wird von vielen vorgeschlagen, die Dauer des Arbeitslosengeldbezugs zu verlängern und die Bezugsvoraussetzungen zu erleichtern (im Überblick Knuth 2018). Bei der Alterssicherung steht zur Diskussion, bei der Rentenberechnung (unter der Bedingung langjähriger Versicherungszeiten) niedrige Einkommenspositionen aufzuwerten (Stichwort "Grundrente") und bei der Grundsicherung Rentenfreibeträge einzuführen, so dass Personen, die Beiträge geleistet haben, besser gestellt werden als Personen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen. Zudem ist es entscheidend, dass Rentenniveau zu stabilisieren, da bei einer (weiteren) Absenkung des Rentenniveaus immer mehr Versicherungsjahre erforderlich werden, um eine Renten in Höhe des Gesamtbedarfs der Grundsicherung zu erreichen . Offensichtich ist allerdings auch, dass Lohnersatzleistungen ins "Leere" laufen, wenn es um die Absicherung von Niedriglöhnen, von nur kurzen Erwerbs- und Versicherungsverläufen, von Minijobs und von nicht versicherungspflichtigen Selbstständigen geht. Denn unter diesen Bedingungen werden keine oder nur sehr geringe Anwartschaften erworben. Sachgerechte Finanzierung Die Zweige der Sozialversicherung finanzieren sich im Wesentlichen durch lohnbezogene Beiträge. Im Unterschied zur Privatversicherung werden die Beiträge aber nicht nach der individuellen Risikowahrscheinlichkeit (risikoäquivalente Beiträge) bemessen, sondern machen bei allen Versicherten den gleichen Prozentsatz vom versicherungspflichtigen Einkommen aus. Die Belastung erfolgt damit einkommensproportional (vgl. "Interner Link: Nettoverdienste"). Bemessungsgrundlage für die Beitragserhebung ist das versicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt. Andere persönliche Einkommen wie Gewinne, Mieten oder Vermögenseinkünfte bleiben außerhalb der Bemessungsgrundlage. Im Unterschied zur Tarifgestaltung der Einkommensteuer unterliegt das Bruttoarbeitsentgelt bereits ab dem ersten Euro voll der Beitragspflicht; einen Grundfreibetrag oder die Berücksichtigung von Werbungskosten und speziellen Freibeträgen kennt das Beitragsrecht nicht. Der Teil der Arbeitsentgelte, der oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, bleibt allerdings beitragsfrei. Aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze fällt die relative Einkommensbelastung umso geringer aus, je mehr das Arbeitsentgelt den Grenzwert überschreitet. Die Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge wirkt dadurch tendenziell regressiv. Die Verteilungswirkungen von Sozialversicherungsbeiträgen und Einkommensteuern unterscheiden sich insofern stark. Grundelemente des Einkommensteuerrechts wie Erfassung sämtlicher Einkommen, Eingangssteuersätze, Spitzensteuersätze und progressiv ausgestaltete Grenzsteuersätze kennt die Sozialversicherung nicht (vgl. "Interner Link: Nettoverdienste"). Dennoch müssen die Verteilungs- und Belastungswirkungen von Beiträgen und Steuern unterschiedlich bewertet werden: Beiträge fließen nicht in den allgemeinen Staatshaus-halt, sondern sind zweckgebunden. Leistungen wie auch Anwartschaften sind eigentumsrechtlich geschützt, auf sie besteht ein unabdingbarer Anspruch. Zudem kommt es auf die zeitliche Perspektive an. Im Lebensverlauf relativiert sich das Problem einer regressiven Verteilungswirkung, da die Beitragsbemessungsgrenze bei den Geldleistungen dazu führt, dass auch die Leistungsansprüche nach oben hin begrenzt sind. Bei den Sach- und Dienstleistungen der Sozialversicherung hingegen, die unabhängig von der Beitragshöhe, also nach dem Bedarfs- und nicht nach dem Äquivalenzprinzip, vergeben werden, greift diese Leistungsbegrenzung nicht. Hier kommt es in der Kranken- und Pflegeversicherung auf der Finanzierungsseite tatsächlich zu einer Besserstellung von Versicherten mit einem hohen Einkommen. Für die Situation in Deutschland ist es nun geradezu typisch, dass zwar niedrige Arbeitseinkommen nur gering (erst oberhalb des Grundfreibetrags) durch direkte Steuern belastet werden, dass aber die Beiträge zur Sozialversicherung in vollem Umfang bereits vom ersten Einkommenseuro an greifen. Eine Absenkung der Einkommensteuer durch höhere Grundfreibeträge und/oder durch eine Abflachung des Tarifverlaufs geht damit an der Einkommenslage von Niedrigverdienern vorbei. Die Devise "Mehr Netto vom Brutto" greift dann nur für den mittleren und höheren Einkommensbereich. Diese Konstellation gibt immer wieder Anlass, auf Veränderungen bei den Sozialversicherungsbeiträgen zu drängen: So werden Modelle diskutiert, die Einkommenslage im unteren Beschäftigungssegment nicht nur von der Bruttoseite (Mindestlöhne und Tarifentgelte) sondern auch von der Abgabenseite her zu verbessern. Vorgeschlagen werden Freibeträge bei der Beitragsberechnung oder aber einkommensabhängige, progressiv gestaffelte Arbeitnehmerbeitragssätze, die im unteren Einkommensbereich niedrig ansetzen und die reguläre Höhe erst bei Erreichen einer Schwelle oberhalb der Zone von Niedrigeinkommen erreichen . Da die Finanzierung der Sozialversicherung im Umlageverfahren erfolgt und die Rücklagen bzw. Reserven lediglich dazu dienen, kurzfristige Schwankungen bei Ein- und Ausgaben aufzufangen, würde eine Absenkung der Beitragssätze unter sonst gleichen Bedingungen unmittelbar zu Mindereinnahmen bei den Sozialversicherungsträgern führen. Ein zentrales Problem ist deshalb, wie die Einnahmeverluste ausgeglichen werden, um das angesichts fehlender bzw. minimaler Rücklagen/Reserven unmittelbar entstehende Risiko der Zahlungsunfähigkeit zu verhindern. Bei einer sozialverträglichen Lösung müssten die Mindereinnahmen durch gezielte Steuerzuschüsse des Bundes ausgeglichen werden. Je breiter der Kreis der zu begünstigenden Niedrigverdiener gesteckt wird (Ab welchem Einkommen muss der reguläre Beitragssatz gezahlt werden?), umso kostenintensiver wird das Ganze. Wenn die Einkommensungleichheit bekämpft werden soll, ist es zudem begründungsbedürftig, warum bei der Entlastung nur eine Einkommensart, nämlich die Löhne Berücksichtigung finden. Der reduzierte Arbeitnehmerbeitragssatz kann ja durchaus Personen begünstigen, die individuell und/oder im Haushaltskontext über ein hohes Einkommen verfügen, während Beschäftigte, deren Arbeitsentgelt oberhalb der Progressionszone liegt und bei denen das individuelle Arbeitsentgelt die einzige Einkommensquelle ist, voll belastet werden. Eine progressive steigende Belastung bei der Steuer macht hingegen Sinn, weil bei der Leistungsbemessung das gesamte Einkommen berücksichtigt wird. Demgegenüber begrenzen sich progressive Beitragssätze nur auf einen Teil der individuellen Einkommen und sind verteilungspolitisch fragwürdig. Wenn die Verbesserung der Situation von Niedrigverdienern angestrebt wird, reicht es jedoch nicht aus, allein die Beitragssätze zur Sozialversicherung ins Blickfeld zu nehmen. In den letzten Jahren haben die Einkommensbelastungen vor allem durch Zuzahlungen, Leistungsausgrenzungen, Gebühren und Zusatzbeiträge ein immer stärkeres Gewicht gewonnen. Davon sind vor allem Beschäftigte bzw. Haushalte im unteren Einkommenssegment betroffen. Und bei den sich ausbreitenden privaten Versicherungen, so etwa bei Krankenzusatzversicherungen oder auch Lebensversicherungen, spielt die Lohnhöhe bei der Beitragsberechnung überhaupt keine Rolle. Die Tarife richten sich hier allein nach dem individuellen Risiko und dem vereinbarten Absicherungsniveau. In allen Zweigen der Sozialversicherung wird das versicherungsförmige Äquivalenzprinzip durch Elemente des sozialen Ausgleichs ergänzt. Die Frage ist, ob diese Leistungen des Sozialausgleichs zum originären, versicherungstypischen Aufgabenspektrum einer Sozialversicherung zählen, oder ob es sich um allgemeine Staatsaufgaben handelt. Ist das letztere der Fall, ist eine Finanzierung dieser "versicherungsfremden" Aufgaben aus Beitragsmitteln problematisch. Zur berücksichtigen ist nämlich, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten nur einen Teil der Bevölkerung erfasst, die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer*innen, während andere – in der Regel besser verdienende – Beschäftigtengruppen (wie Beamte, Selbstständige in verkammerten Berufen) eigenständige Sicherungssysteme aufweisen, nicht beitragspflichtig und von daher auch nicht in den Solidarausgleich eingebunden sind. Infolge der Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung kommt es überdies dazu, dass Beschäftigte im höheren Einkommensbereich zwischen Sozialversicherung und Privatversicherung wählen und sich - wenn es für sie vorteilhaft ist - dem Solidarausgleich entziehen können. Aus ordnungs- und verteilungspolitischen Gesichtspunkten wäre es geboten, allgemeine Staatsaufgaben auch durch die Allgemeinheit, d.h. durch Steuerzuschüsse zu finanzieren. Das angemessene Finanzierungsinstrument wäre die Einkommensteuer, da diese alle Personen und Einkommen erfasst und die Belastung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgt. Weitergehend ist die Forderung nach einer Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung: Durch eine Verallgemeinerung der Versicherungspflicht und durch die Ausweiterung der Beitragsbemessung auf das gesamte Einkommen würde damit die Bevölkerung insgesamt in den Schutz und zugleich Solidarausgleich der Sozialversicherungssysteme eingebunden (vgl. dazu ausführlich "Interner Link: Dossier Rentenpolitik"). Vgl. Bäcker 2020, S. 25 ff. Vgl. im Überblick Bäcker/Jansen 2012; s. 173 ff.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2021-01-11T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/325374/sozialversicherung-lohnersatzleistungen-staerken-und-sachgerecht-finanzieren/
Die Geldleistungen der Sozialversicherung (vor allem Renten und Arbeitslosengeld) sind aktuell nur begrenzt in der Lage, beim Eintritt sozialer Risiken einen Ersatz für das ausgefallene Arbeitseinkommen zu gewährleisten, den Lebensstandard zu sichern
[ "Verteilung Armut Reichtum", "Sozialversicherung", "Lohnersatzleistungen", "Sozialschutzleistungen", "Beitragsfinanzierung" ]
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Info 05.02 "Eine unbequeme Wahrheit" (Dokumentarfilm, USA 2006) | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de
Der ehemalige Vize-Präsident und spätere Präsidentschaftskandidat Al Gore zieht durch die U.S.A., mit einer multimedialen Präsentation über die globale Erwärmung und ihren Folgen, mit der er seinen Landsleuten die Augen öffnen und sie zum Handeln auffordern möchte. Der Film begleitet Gore auf seiner Reise durch das Land. Nach der Wahl 2000 hat er sich ganz der Umweltpolitik verschrieben, die ihm schon immer am Herzen lag. Tabellen, Cartoons, animierte Grafiken, die verschiedene Gesichtspunkte des Klimawandels erläutern, wechseln sich ab mit persönlichen Geschichten, die uns erklären sollen, wieso dieser Mann sich für den Klimaschutz einsetzt. Man sieht Al Gore die meiste Zeit in einem Vortragsraum mit Zuschauern, vor einer großen Leinwand. Die deutsche Synchronstimme verkündet teilweise sehr schleppend und pathetisch – eben "amerikanisch" - seine "unbequeme Wahrheit". Den Film vollständig im Unterricht zu zeigen, ist wahrscheinlich langatmig (Gesamtdauer: ca. 93 min) und überfordernd, da viele Aspekte gleichzeitig angesprochen werden. Allerdings werden einzelne Themen durchaus anschaulich dargestellt und leicht verständlich erklärt, z.B. "Grundlegende Fakten zur globalen Erwärmung". Ein dazu gehörender Comic könnte vor allem bei älteren Schülern eingesetzt werden (Kap. 3 u. 4). Hier wird auf ironische Weise zusätzlich die Klimapolitik (der U.S.A.) thematisiert. Al Gore erklärt die meiste Zeit, wie sich etwas verhält und wie sich Dinge im Laufe der Zeit verändert haben, auf die Ursachen geht er nicht wirklich ein. Um Zustände und mögliche Folgen zu erklären, ist der Film in Auszügen, meiner Meinung nach, geeignet (z. B. Kap. 20 u. 21 zur Eisschmelze und dem Anstieg des Meeresspiegels oder Kap. 23 "Bevölkerungszunahme und ihre Folgen"). Allerdings sollte man einzelne Grafiken auch kritisch betrachten, wenn etwa der globale CO2-Anstieg anhand einer Grafik verdeutlicht wird, die ohne Achsen und Beschriftung auskommt. In der Sekundarstufe II bietet der Film vielleicht auch die Möglichkeit, sich kritisch mit der medialen Darstellung des Klimawandels zu beschäftigen. Kapitelübersicht 1. Der Fluss 2. Kontinentaldrift 3. Grundlegende Fakten zur globalen Erwärmung 4. Zeichentrickfilm: Globale Erwärmung 5. Professor Revelle 6. CO2-Messungen seit 1958 7. Das Zurückweichen der Gletscher 8. Eiskerne 9. CO2-Werte vor 650 000 Jahren 10. Alberts Unfall 11. Steigende Temperaturen 12. Hurrikane 13. Die Wahl 2000 14. Niederschlagsmenge und Verdunstung 15. Die Farm der Gores 16. Die Arktis 17. Das große Marine Förderband 18. Widerstand gegen den Wandel 19. Bedrohliche Anzeichen 20. Die Antarktis 21. Anstieg des Meeresspiegels 22. China 23. Bevölkerungswachstum 24. Alte Gewohnheiten und neue Technologien 25. Tabakanbau 26. Gibt es eine Kontroverse? 27. Wissenschaftlicher Betrug 28. Gleichgewicht von Ökonomie und Umwelt 29. Stadt für Stadt 30. Die Lösung liegt in unseren Händen 31. Sind wir fähig, Großes zu vollbringen? 32. Unser einziges Zuhause Weiterführende Links: Artikel "Eine unbequeme Wahrheit" in Wikipedia mit einer sehr ausführlichen Beschreibung des Inhalts: Externer Link: Pressespiegel mit Berichten zum Film auf www.film-zeit.de: Externer Link: http://www.film-zeit.de/home.php?action=result&sub=film&info=cinema&film_id=17519
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134844/info-05-02-eine-unbequeme-wahrheit-dokumentarfilm-usa-2006/
Neben einer Übersicht zu den einzelnen Inhalten wird der Oscar-prämierte Film kritisch betrachtet und es werden Hinweise für einen möglichen Einsatz in der Schule gegeben.
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Entwicklung in der DDR bis Ende der 80er Jahre | Deutsche Teilung - Deutsche Einheit | bpb.de
Einleitung Einweihung der dreimillionsten Neubauwohnung im Oktober 1988. Mit seinem Amtsantritt 1971 hatte Erich Honecker ein umfassendes Bau- und Sanierungsprogramm beschlossen - doch die Wohnungsnot wurde nur langsam gelindert. (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-1012-409, Foto: Link, Hubert) Als Walter Ulbricht (1893–1973) am 3. Mai 1971 offiziell den Rücktritt von seinem Amt als Erster Sekretär der SED erklärte, vollzog sich in der DDR nicht nur ein Macht-, sondern auch ein Generationswechsel, der unter seinem Nachfolger Erich Honecker zu einer gravierenden Änderung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik führen sollte. Machtwechsel Allerdings hatte sich Ulbrichts Ablösung keineswegs so glatt und reibungslos vollzogen, wie es die Propaganda vorgab. Vielmehr waren ihr mehrjährige Konflikte in der Parteispitze, insbesondere um die Wirtschafts- und Sozial-, aber auch um die Deutschlandpolitik vorausgegangen, die schließlich in den Jahren 1969 bis 1971 kulminierten (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Grund war vor allem das Scheitern der Wirtschaftsreformen in den sechziger Jahren gewesen (1963 Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft/NÖSPL, ab 1968 "Ökonomisches System des Sozialismus"/ÖSS), die Ulbricht energisch vorangetrieben hatte, ohne jedoch die erwünschte Effizienzsteigerung der sozialistischen Planwirtschaft zu erzielen. Auch seine Auffassung, trotz weiterbestehender fundamentaler Unterschiede in der Deutschlandpolitik zwischen Bonn und Ost-Berlin am deutsch-deutschen Dialog festzuhalten, obwohl die neue sozialliberale Ostpolitik die DDR in die Defensive zu drängen begann, wurde in der Parteispitze mehrheitlich abgelehnt. Und schließlich war die sowjetische Führung auch über den zunehmend selbstherrlichen Führungsstil Ulbrichts innerhalb des Ostblocks indigniert, sodass sie schließlich bei dessen Entmachtung entscheidend mitgewirkt und Erich Honecker (1912–1994), dem Anführer einer Gruppe von Gegnern Ulbrichts in der SED-Spitze, die Machtübernahme zugesichert hatte. Nach seiner Ablösung wurde der einst "starke Mann" der DDR systematisch aus allen Positionen und Funktionen herausgedrängt. Bereits Mitte der siebziger Jahre, nur kurze Zeit nach seinem Tod am 1. August 1973, schien es, als hätte es Walter Ulbricht in der DDR nie gegeben. Innen- und Gesellschaftspolitik Die weiterhin bestehenden und durchaus gravierenden Probleme der DDR, vor allem in Bezug auf die Wirtschaft und die Deutschlandpolitik, wurden jedoch durch den Wechsel an der Führungsspitze nicht gelöst. Vielmehr musste der zukünftigen Ausrichtung der Politik "nach Ulbricht" essenzielle, weil existenzielle Bedeutung für die Zukunft des SED-Staates zukommen. Obwohl selbst kein Wirtschaftsfachmann, sondern ein Spezialist für ideologische Erziehung, Kaderausbildung und innere Sicherheit, hielt Honecker die Verbesserung der Versorgungslage sowie die Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung für unerlässlich, insbesondere nach den Mangelerscheinungen und Engpässen der letzten Ulbricht-Jahre, die noch jüngst im harten Winter von 1970/71 beispielsweise in zeitweisen Stromabschaltungen kulminiert waren. Tatsächlich verknüpfte sich mit einer Steigerung sozialpolitischer Leistungen durchaus die Chance, sich weiterhin zumindest die Loyalität einer Bevölkerungsmehrheit sichern zu können. Wesentlich stärker als zuvor wurde daher das Konsumbedürfnis breiter Bevölkerungsschichten ernst genommen. Es fand ausdrückliche Berücksichtigung im Programm der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", das Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verkündete. Kernpunkt war die "weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität" (Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands – SED –, 15.–19. Juni 1971 in Berlin). Maßnahmenbündel Ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen wurde beschlossen und als "Kernstück" die Verbesserung der Wohnbedingungen durch ein umfassendes Bau-, Renovierungs- und Sanierungsprogramm vorgesehen. Weiterhin gehörten dazu: die Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestrenten; die Arbeitszeitverkürzung für Frauen, besonders für solche mit Kindern, einschließlich verlängertem Mutterschaftsurlaub und Geburtenbeihilfe, um Berufstätigkeit und Mutterschaft besser zu vereinbaren; großzügige, zum Teil zinslose Kredite sowie bevorzugte Wohnungszuteilung bei Eheschließungen; die Verbesserung der medizinischen Versorgung und Betreuung sowie schließlich Ausbau und Ausweitung des Erholungswesens. Hinter diesen umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen verbargen sich indes auch bevölkerungspolitische Absichten. Seit 1965 war die Geburtenentwicklung in der DDR vor allem infolge der bis 1961 erfolgten massenhaften Abwanderung in die Bundesrepublik rückläufig und drohte das ohnehin knappe Arbeitskräftepotential weiter auszudünnen. Im Hinblick darauf sollte das weitgefächerte Sozialprogramm deshalb eine Wende herbeiführen. Doch mussten die darin enthaltenen Leistungen auch finanziert werden können. Und genau hierin lag die entscheidende Problematik. Denn das Konzept, durch Intensivierung des Arbeitseinsatzes und des Produktionsprozesses – "sozialistische Rationalisierung" genannt – den erhöhten Finanzbedarf abzudecken, war mit einem enormen Risiko behaftet. Bereits im Herbst 1971, nur ein halbes Jahr nach der Machtübernahme Honeckers, musste die Staatliche Plankommission feststellen, dass der geplante Warenexport in westliche, devisenbringende Länder aller Voraussicht nach um circa 390 Millionen Mark verfehlt werden würde, Importe in die DDR hingegen um 100 Millionen Valutamark, also in westlichen Devisen, über dem Plan lägen. Dies war ein erstes Alarmsignal, das allerdings kaum Beachtung fand. Stattdessen deckte man vorderhand das entstandene und zudem anwachsende Defizit durch Kredite aus westlichen Staaten ab. Dass Honecker mehr Ideologe als Wirtschaftsfachmann war, erwies sich auch ein Jahr nach seiner Machtübernahme im Frühjahr 1972, als die Verstaatlichung der in der DDR noch bestehenden rund 11.400 mittelständischen Betriebe durchgeführt wurde. Zwar besaßen diese, unter ihnen circa 6.500 halbstaatliche Betriebe, nur noch etwa 10 Prozent Anteil an der Gesamtproduktion, aber in der Textil- und Bekleidungsindustrie, mithin bei Erzeugnissen, die vor allem für die breite Bevölkerung wichtig waren, nahmen sie mit circa 30 Prozent der Produktion noch immer eine beachtliche Position ein. Das galt auch für Dienstleistungen. Das Ziel einer verbesserten Versorgung durch Unterstellung dieser Betriebe unter die staatliche Planung wurde indes nicht erreicht; denn fast durchweg kam es bei den häufig in kurzer Zeit verstaatlichten und in größere Volkseigene Betriebe (VEB) integrierten Betrieben zu Produktionsrückgängen sowie einem erheblichen Zuwachs an Bürokratie. Ebenfalls vornehmlich ideologisch motiviert waren neue Bestimmungen im Bildungs- und Schulbereich. "Richtiger" sozialer Herkunft und gesellschaftlichem Einsatz wurden nun wieder, vor allem beim Übergang in die Erweiterte Oberschule (EOS), als Voraussetzung für ein akademisches Studium stärkeres Gewicht beigemessen. Das bedeutete die erneute Bevorzugung von "Arbeiterkindern" und die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern aus anderen, insbesondere "bürgerlichen" Schichten bzw. christlichen Familien oder solchen, die eine Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) abgelehnt hatten. Zudem wurde der Stellenwert einer umfassenden polytechnischen, zehnklassigen (Aus-)Bildung verstärkt. "Hervorragend ausgebildete Facharbeiter [...] und kluge Sozialisten mit den Eigenschaften revolutionärer Kämpfer" sollten aus ihr hervorgehen, wie es Margot Honecker, die Ehefrau des neuen Parteivorsitzenden, als Ministerin für Volksbildung in klassischem Propagandastil formulierte. In diesen ideo- logisch-pädagogischen Zielvorstellungen kam deutlich zum Ausdruck, was die SED wünschte: einen möglichst frühen, qualifizierten Arbeitseinsatz sowie den "ideologisch gefestigten Klassenstandpunkt" der nachwachsenden Generation. Die Frage indes, ob und inwieweit sich das mit den Vorstellungen, Wünschen und Zielen der Jugend in der DDR selbst deckte, wurde kaum gestellt. Honeckers wirtschafts- und sozialpolitischer Kurskorrektur folgten in der Tat zunächst die "goldenen Jahre" der DDR, zumindest in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der Lebensstandard der Bevölkerung erhöhte sich spürbar und mit ihr auch die Akzeptanz des sozialistischen Systems. Dennoch blieb die DDR auch in den siebziger Jahren von unübersehbaren Widersprüchen geprägt. Eine zweifellos verbesserte Versorgung – wenngleich Warteschlangen nach wie vor zum Alltag gehörten – fand ihre Kehrseite in einer steil ansteigenden Verschuldung bei den westlichen Industriestaaten, über deren tatsächliches Ausmaß die Bevölkerung nicht die geringste Kenntnis besaß. Gleichwohl blieb der westdeutsche Konkurrenzstaat, trotz permanenter politisch-ideologischer Verteufelung durch die Propaganda, für die Bevölkerung sowie für die Staatsführung der DDR selbst die entscheidende Richtgröße. Denn nicht der Vergleich mit den übrigen sozialistischen "Bruderstaaten" bildete den Maßstab, zumal die DDR hinsichtlich industrieller Entwicklung und erreichtem Wohlstand hier ohnehin an der Spitze stand, sondern der Vergleich mit der Bundesrepublik, der im nun nicht mehr verbotenen "Westfernsehen" täglich gezogen werden konnte (vgl. auch Seite 33). Außen- und Deutschlandpolitik Durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn wurde die SED zudem erstmals zunehmend in die Defensive gedrängt (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Sie konnte nicht völlig ignorieren, dass einer breiten Mehrheit von DDR-Bürgern die nationale Frage noch keineswegs durch die "Klassenfrage" gelöst erschien. Tatsächlich war es gerade die hinhaltende Politik der SED in der Deutschlandfrage, die gegenüber den ost- und deutschlandpolitischen Initiativen der neuen Bundesregierung von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung als hinderlich, kompromisslos und defensiv angesehen wurde. Doch gerade vor diesem innenpolitischen und psychologisch keineswegs unwirksamen Hintergrund im eigenen Staat selbst sah sich die SED gezwungen, die Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik stärker zu forcieren. Dieser Zielsetzung standen indes nicht nur die in Bewegung geratene internationale Lage vor allem auf dem Gebiet der Ost-West-Beziehungen entgegen, sondern auch die Interessen der sozialistischen Vormacht Sowjetunion. Das hatte der Versuch Ulbrichts, eine (DDR-)eigene Deutschlandpolitik zu betreiben, deutlich vor Augen geführt. Nachdem es Bonn drei Monate nach Kassel gelungen war, mit der UdSSR am 12. August 1970 einen Vertrag über gegenseitigen Gewaltverzicht abzuschließen, war damit der entscheidende Durchbruch erzielt worden. Im Dezember desselben Jahres folgte ein Vertrag mit Polen. Daraufhin sah sich die SED-Führung gezwungen, mit der Bundesregierung in bilaterale Verhandlungen einzutreten, wollte sie nicht Gefahr laufen, als "Bremserin" der Entspannungspolitik angesehen und isoliert zu werden. Somit hatte sich die Führung der DDR nicht nur der durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik in Bewegung geratenen internationalen Lage anzupassen, sie musste auch essenzielle eigene Interessen denen der Sowjetunion unterordnen. Erschwerend kam hinzu, dass das vorrangige deutschlandpolitische Ziel der SED, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik zu erhalten, von der sowjetischen Vormacht keineswegs in der Weise unterstützt wurde, wie man dies erwartet hatte. Vielmehr musste die DDR mit der Bundesregierung nun in intensive Verhandlungen treten, ohne dass sich Bonn der gewünschten Vorbedingung beugen musste, sie auch als völkerrechtlich souveränen Staat anzuerkennen. Gutnachbarliche Beziehungen Nachdem schließlich die Westmächte und die Sowjetunion am 3. September 1971 das Berlin-Abkommen unterzeichnet und damit ihre gemeinsame und zugleich übergeordnete Verantwortung für Deutschland und Berlin bekräftigt hatten, konnte zwischen beiden deutschen Staaten als erste bilaterale Vereinbarung am 17. Dezember 1971 das "Transitabkommen" geschlossen werden, mit dem der Verkehr zwischen Berlin (West) und dem Bundesgebiet geregelt wurde. Im Mai 1972 folgte ein umfassendes Verkehrsabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Schließlich wurde im Dezember 1972 der "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen" geschlossen, in dem sich beide Staaten dazu verpflichteten, "gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung" zu pflegen. Der Abschluss dieses Vertrages war allerdings nur möglich geworden, weil sich Bonn und Ost-Berlin zu weitreichenden Kompromissen durchgerungen hatten. So erkannte die Bundesregierung zwar die staatliche Existenz der DDR an, versagte ihr aber jedwede völkerrechtliche Anerkennung, da sie an der Auffassung festhielt, dass die beiden deutschen Staaten füreinander kein Ausland darstellen könnten, wie dies bei allen anderen nichtdeutschen Staaten der Fall sei. Diese Haltung, zusammen mit dem Ziel, die Wiederherstellung der Einheit auf friedlichem Wege zu erreichen, brachte sie im "Brief zur deutschen Einheit" zum Ausdruck, der dem "Grundlagenvertrag" beigegeben wurde. Die DDR wiederum hatte durch diesen deutsch-deutschen Vertrag die internationale Anerkennung erhalten; bis Ende der siebziger Jahre nahmen fast alle Staaten der Welt offizielle diplomatische Beziehungen mit ihr auf. Zudem wurden beide deutsche Staaten am 18. September 1973 in die UNO aufgenommen. Insgesamt schuf der "Grundlagenvertrag" die Basis dafür, dass trotz nach wie vor bestehender Teilung menschliche Erleichterungen ermöglicht wurden und der Besuchsverkehr zwischen beiden deutschen Staaten ausgebaut werden konnte. Die jetzt durch internationale sowie bilaterale Verträge erreichte Öffnung der DDR war allerdings für den SED-Staat selbst keineswegs unproblematisch. Vielmehr musste die Führung in Ost-Berlin nicht zu Unrecht eine beträchtliche, existenzielle Gefährdung gerade in dem Umstand erblicken, dass mit dieser Öffnung unweigerlich politische, ideologische und kulturelle Sickereinflüsse des "Klassenfeindes" verbunden waren. Zwar war letztlich die durch die "Ostpolitik" erzwungene Öffnung auf Seiten der DDR marginal, weil, abgesehen von Rentnerinnen und Rentnern, bis zum Jahr 1980 nur 42.000 jüngere Menschen aus der DDR die Erlaubnis erhielten, in die Bundesrepublik zu reisen. Aber bereits Ende 1973 hatten nahezu vier Millionen Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin die DDR besucht. Wirksame Abgrenzung wurde für den SED-Staat daher zur existenzsichernden Maxime. Ein massiver, personeller und struktureller Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie verbesserte, präventive Überwachungs- und Einwirkungsmethoden waren die Reaktion des Honecker-Regimes. Bis Mitte der siebziger Jahre stieg die Zahl der "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) auf 180.000 (1968 noch knapp 100.000). Gleichzeitig wurden zunehmend subtile, "weiche" Repressionsmechanismen angewandt, die auch Formen ausgeklügelten Psychoterrors – in der Sprache der Staatssicherheit "Zersetzungsmethoden" – einschlossen. In diesen Jahren entwickelte sich die DDR zum Staat mit der höchsten Dichte an Geheimpolizisten (vgl. Hubertus Knabe). QuellentextInterview mit Honecker [...] Frage: "Das deutsche Volk wurde nach einem immensen Weltkrieg geteilt, in dem das faschistische Dritte Reich zerstört wurde. [...]. Glauben Sie an ein Zusammenkommen in der Zukunft – nicht im Sinne einer Wiedervereinigung von etwas, das einmal war, sondern einer Vereinigung zweier jetzt völlig unabhängiger Staaten, die ein immer noch eng verbundenes Volk regieren?" [...] Antwort: "Das faschistische Dritte Reich ist im Feuer des II. Weltkrieges untergegangen, damit haben Sie recht. Es entstanden zwei voneinander unabhängige deutsche Staaten mit grundlegend verschiedener Gesellschaftsordnung. Das war ein Prozess, den niemand mehr rückgängig machen kann und an dem auch kulturelle Traditionen und familiäre Beziehungen nichts zu ändern vermögen. Selbstverständlich existieren Traditionen, und so weit sie progressiv sind, erfahren sie in unserem Staat alle Pflege. Familiäre Beziehungen, die natürlich schon allein durch das Heranwachsen neuer Generationen lockerer werden, brauchen nicht zu verkümmern. Verwandtschaftliche Beziehungen brauchen nicht belastend zu sein für die Entwicklung gut nachbarlicher Beziehungen zwischen zwei voneinander unabhängigen und souveränen Staaten [...]. Sie sind keinesfalls hinderlich, sondern von Vorteil. Aber Tatsache ist nun einmal: Es gibt zwei Staaten, die sozialistische DDR und die kapitalistische BRD, die sich grundverschieden entwickeln, und es gibt Bürger der DDR und Bürger der BRD. Normale Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten können nur solche der friedlichen Koexistenz sein. Auf ihrer soliden Grundlage gestalten sich die Dinge zum Nutzen der Menschen. Heute über das zu sprechen, was Sie ein Zusammenkommen in der Zukunft nennen, ist müßig. Fest steht: Sozialismus und Kapitalismus lassen sich nicht unter ein Dach bringen. Im übrigen haben auch Politiker westlicher Staaten mehrfach betont, dass sie derselben Ansicht sind. Für die DDR gibt es kein Zurück zum Kapitalismus, und der Weg zum Sozialismus in der BRD ist eine innere Angelegenheit unseres Nachbarlandes ..." Frage: "Teilen Sie die Auffassung des neuen Bundeskanzlers Schmidt, dass trotz Erschwernissen die Bemühungen um Ost-West-Entspannung, insbesondere die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, verstärkt werden sollen?" Antwort: "[...] Insgesamt, so denke ich, ist die weltpolitische Großwetterlage heute so, dass es zur friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung keine Alternative gibt. [...]" Interview Erich Honeckers mit AP am 4. Juni 1974 in: Archiv der Gegenwart, Bd. 7, Sankt Augustin 2000, S. 6250 f. Verfassungsänderungen Wie sehr die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel die DDR unter Honecker heraus- und dementsprechend "erhöhte Wachsamkeit" erforderte, illustrierte eine für die Bevölkerung völlig überraschend vorgenommene, erneute Verfassungsänderung im September 1974, obwohl erst sechs Jahre zuvor eine neue Verfassung die noch aus dem Jahre 1949 stammende ersetzt hatte. Im revidierten Verfassungstext wurde nunmehr jegliche Bezugnahme auf Deutschland und eine gemeinsame deutsche Nation getilgt, doch stattdessen in Artikel 6 eigens festgeschrieben, dass die DDR "für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet" bleibe. Die Unterscheidung zwischen "Staatsbürgerschaft – DDR, Nationalität deutsch" fußte auf der Behauptung, die deutsche Frage sei durch die angeblich so unterschiedliche "soziale Existenzform" der Menschen in beiden deutschen Staaten aufgrund der gegensätzlichen Herrschafts-, Staats- und Gesellschaftssysteme in beiden deutschen Staaten nicht mehr existent. Normalisierungsversuche In finanzieller Hinsicht indessen konnte die DDR aus den deutsch-deutschen Verträgen und Abkommen beträchtliche Vorteile ziehen. Bis zum Herbst 1989 nahm der SED-Staat durch die Transitpauschale knapp acht Milliarden DM ein, für die Erneuerung bzw. den Ausbau von Autobahnen von der Bundesrepublik nach West-Berlin wurden der DDR zwei Milliarden DM überwiesen. Auch sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Bundesrepublik seit 1963 für den "Freikauf" von über 33.000 in der DDR inhaftierten politischen Häftlingen bis Ende 1989 circa 3,4 Milliarden DM aufgewendet hat, die dem SED-Staat in der begehrten westlichen Valuta ausgezahlt wurden. Zudem befand sich das SED-Regime aufgrund der Tatsache, dass es letztendlich über die Kontrolle der "Transitwege" verfügte, in einer politisch durchweg vorteilhafteren Position. Trotz aller bundesdeutschen Versuche zur "Normalisierung" der innerdeutschen Beziehungen blieb die Deutschlandpolitik jedoch ein für beide Staaten brisantes, hochsensibles Feld. Das lag zunächst in den gegensätzlichen Zielsetzungen begründet. Während die Politik aller Bundesregierungen darauf gerichtet war, letztlich die Wiedervereinigung herbeizuführen, musste das SED-Regime, schon aus Gründen des Machterhalts, dies mit allen Mitteln verhindern. Dabei schreckte Ost-Berlin auch nicht vor Maßnahmen zurück, die die in-nersten Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik tangierten. So stellte die Enttarnung des persönlichen Referenten von Bundeskanzler Willy Brandt, Günter Guillaume, der im April 1974 als Spion der DDR verhaftet wurde, eine schwere Belastung der deutsch-deutschen Beziehungen dar, die am 6. Mai 1974 zum Rücktritt Brandts, des Architekten und Promotors der "Ostpolitik", führte (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Dennoch trug der schwer wiegende Vorfall nicht zu einem Abbruch der von westdeutscher Seite aus fortgesetzten Entspannungspolitik bei. Zu groß war das beidseitige Interesse, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus, die Vorteile zu erhalten, die aus den Verträgen resultierten. Der Abgrenzungspolitik der SED-Führung war angesichts der erzwungenen Öffnung der DDR auf Dauer kein durchschlagender Erfolg beschieden. Vielmehr ergab sich aus dem innerdeutschen Vertragswerk ein allmählich wachsender Austausch vielfältiger, gegenseitiger Kontakte, der wiederum in seiner subtilen Einwirkung auf die Bevölkerung in der DDR auch durch den massiven Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nie völlig unterdrückt oder gar ausgeschaltet werden konnte. Somit befand sich die DDR auch in dieser Hinsicht in einer ambivalenten Situation. KSZE-Schlussakte Ohne Frage bedeutete die Unterzeichnung der Schlussakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) am 1. August 1975 in Helsinki nicht nur für die Parteiführung, sondern auch für viele Menschen in der DDR ein sichtbares Zeichen internationaler Anerkennung. Honeckers Präsenz unter den führenden Staatsmännern der Welt schien ein Stück endlich errungener, staatlicher Normalität widerzuspiegeln. Allerdings wurde die vor allem von der sowjetischen Führung und dem SED-Regime gewünschte und von den westlichen Staaten auch bestätigte Anerkennung der "territorialen Integrität", nämlich die Akzeptanz der nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere in Mittel- und Osteuropa – entstandenen Grenzen, zugleich an die weltweite "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit" gekoppelt. Mit seiner Unterschrift hatte sich der SED-Chef somit auch zur Anerkennung der "universellen Bedeutung" der verbrieften Rechtsgarantien verpflichtet und gelobt, "die universelle und wirksame Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern" (Dieter Blumenwitz). Ihm schien diese Verpflichtung allerdings, wie den übrigen sozialistischen Staaten auch, nur Beiwerk. Für die innere Entwicklung der DDR sah man in diesem Vertragsabschnitt keine Gefahr. Daher wurde der Vertragstext von Helsinki auch im SED-Organ "Neues Deutschland" in voller Länge veröffentlicht und konnte somit von allen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gelesen werden. Zweifellos stand Honecker in außen- wie in innenpolitischer Hinsicht Mitte der siebziger Jahre auf dem Höhepunkt seiner Macht: Nur ein dreiviertel Jahr nach der KSZE-Konferenz bestätigte der IX. Parteitag der SED im Mai 1976 seine unangefochtene Führungsposition, die in der Ernennung zum SED-Generalsekretär ihren Ausdruck fand. Im Oktober desselben Jahres wurde er Staatsratsvorsitzender und übernahm zusätzlich das Amt des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Das ökonomische und sozialpolitische Konzept, das er seit seinem Machtantritt mit der Losung von der "untrennbaren Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" verfolgt hatte, wurde sogar ins neue Parteiprogramm aufgenommen. Auch in der Sicht nicht weniger Bundesbürger schien der SED-Staat, zumal die meisten ihn nur von außen kannten, einen Hort der Stabilität und der sozialen Sicherheit zu verkörpern. QuellentextKSZE-Schlussakte – Auszug – [...] Die Teilnehmerstaaten, Unter Bekräftigung ihrer Verpflichtung zu Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit und zur stetigen Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit; [...] Erklären ihre Entschlossenheit, die folgenden Prinzipien [...] zu achten und in die Praxis umzusetzen: I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. [...] II. Unverletzlichkeit der Grenzen Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben. [...] V. Friedliche Regelung von Streitfällen Die Teilnehmerstaaten werden Streitfälle zwischen ihnen mit friedlichen Mitteln auf solche Weise regeln, dass der internationale Frieden und die internationale Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. [...] VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten Die Teilnehmerstaaten werden sich ungeachtet ihrer gegenseitigen Beziehungen jeder direkten oder indirekten, individuellen oder kollektiven Einmischung in die inneren oder äußeren Angelegenheiten enthalten, die in die innerstaatliche Zuständigkeit eines anderen Teilnehmerstaates fallen. [...] VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen. In diesem Rahmen werden die Teilnehmerstaaten die Freiheit des Individuums anerkennen und achten, sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion oder einer Überzeugung in Übereinstimmung mit dem, was sein Gewissen ihm gebietet, zu bekennen und sie auszuüben. [...] Auf dem Gebiet der Menschenrechte und Grundfreiheiten werden die Teilnehmerstaaten in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handeln. Sie werden ferner ihre Verpflichtungen erfüllen, wie diese festgelegt sind in den internationalen Erklärungen und Abkommen auf diesem Gebiet, so weit sie an sie gebunden sind, darunter auch in den Internationalen Konventionen über die Menschenrechte. [...] IX. Zusammenarbeit zwischen den Staaten Die Teilnehmerstaaten werden ihre Zusammenarbeit miteinander und mit allen Staaten in allen Bereichen gemäß den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen entwickeln. [...] Sie werden sich bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit als Gleiche bemühen, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen untereinander, internationalen Frieden, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit zu fördern. Sie werden sich gleichermaßen bemühen, bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit das Wohlergehen der Völker zu verbessern und zur Erfüllung ihrer Wünsche beizutragen, unter anderem durch die Vorteile, die sich aus größerer gegenseitiger Kenntnis sowie dem Fortschritt und den Leistungen im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen, sozialen, kulturellen und humanitären Bereich ergeben. Sie werden Schritte zur Förderung von Bedingungen unternehmen, die den Zugang aller zu diesen Vorteilen begünstigen; sie werden das Interesse aller berücksichtigen, insbesondere das Interesse der Entwicklungsländer in der ganzen Welt, Unterschiede im Stand der wirtschaftlichen Entwicklung zu verringern. [...] Der Text der vorliegenden Schlussakte wird in jedem Teilnehmerstaat veröffentlicht, der ihn so umfassend wie möglich verbreitet und bekannt macht. [...] Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit vom 1. August 1975 in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, Band 208, Drucksache 3867. Innere Konflikte Dennoch ist um die Mitte der siebziger Jahre zugleich auch der Wendepunkt anzusetzen, welcher der weiteren Entwicklung der DDR die entscheidende Prägung geben sollte. Noch im Jahr des KSZE-Vertragsabschlusses hatten 13.000, im Folgejahr 1976 20.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger einen Ausreiseantrag gestellt. Als "rechtswidrige Übersiedlungsersucher" diffamiert, beriefen sie sich trotz meist massiver persönlicher, familiärer und beruflicher Repressalien ausdrücklich auf das von Honecker unterzeichnete und in der KSZE-Schlussakte zugesicherte Recht auf Freizügigkeit. Partei und Staatssicherheit gelang es nicht, den anschwellenden Strom von Ausreisewilligen zu stoppen, die hartnäckig auf dieses Recht pochten. Die Aufsehen erregende Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz von Zeitz am 18. August 1976, der nach jahrelanger Schikanierung durch die Behörden und innerkirchlichen Konflikten mit seinem verzweifelten Akt darauf aufmerksam machen wollte, dass die freie Ausübung religiöser Überzeugung in der DDR fast durchweg mit persönlichen und beruflichen Nachteilen verbunden war, demonstrierte ebenfalls drastisch, dass die "Achtung von Religions- oder Überzeugungsfreiheit" im Sinne der KSZE-Schlussakte vom SED-Staat keineswegs gewährleistet wurde. Kritische Intellektuelle Doch vor allem die Ausbürgerung des überzeugten Sozialisten, Regimekritikers, Dichters und Liedermachers Wolf Biermann nach einem Konzert in Köln im November 1976 markierte mehr als nur eine bloße Wende in der Kulturpolitik. Ihr folgte die Anordnung permanenten Hausarrests für den bekannten reformkommunistischen Systemkritiker, den Naturwissenschaftler Robert Havemann, der mit Biermann eng befreundet war. Die Maßnahme erfolgte ohne Rücksicht darauf, dass diese Zwangsausbürgerung notwendigerweise zum deutsch-deutschen Medienereignis werden musste. Ihr eigentlicher Zweck, "Kulturschaffende" wieder auf linientreuen Kurs zu bringen und Kritik am SED-Staat so weit wie möglich zu unterbinden, zog nicht nur innen- und kulturpolitisch schwere Konflikte nach sich, der die Partei nur mit Mühe Herr wurde. Sie trug auch zu einem markanten Stimmungsumschwung in der DDR bei. Binnen weniger Jahre führte die Solidarisierung namhafter Autorinnen und Autoren sowie Kunstschaffender mit Biermann zu massiven Gegenmaßnahmen der Partei. So wurden unter anderem Sarah Kirsch und Jurek Becker aus der Partei ausgeschlossen, Jürgen Fuchs, Christian Kunert und Gerulf Pannach wurden in die Bundesrepublik abgeschoben. Kritisch eingestellte Intellektuelle werteten das Vorgehen der SED zu Recht als Symptom einer allgemeinen politisch-ideologischen Verhärtung, zumal die Kette solcher Vorfälle nicht abriss. Als der Marxist Rudolf Bahro im Frühjahr 1977 sein Buch "Die Alternative", eine fundierte, systemkritische Analyse des SED-Staates in der Bundesrepublik veröffentlichte, wurde er noch im August desselben Jahres verhaftet und im Juni 1978 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ebensolches Aufsehen erregte die Veröffentlichung eines "Manifests der Opposition" im westdeutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Januar 1978. Die hier geäußerte massive Kritik am existierenden "Realsozialismus" in der DDR prophezeite dessen ökonomischen Ruin und forderte eine tatsächlich und nicht nur propagandistisch auf Wiedervereinigung abzielende Politik. Alle diese Vorgänge illustrierten, dass sich hinter der permanent geschönten Fassade der DDR tief greifende Konflikte in nahezu allen Bereichen verbargen. Auch wenn die breite Masse der Bevölkerung in der DDR häufig nur in unterschiedlichem Maße über derartige Vorfälle im Einzelnen informiert war bzw. dafür Interesse zeigte, wurde jedoch von allen sozialen Schichten sehr wohl registriert, dass sich die Versorgungslage in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder spürbar zu verschlechtern begann. QuellentextAusbürgerung Biermanns Biermann hatte mit seinen Liedern die Regierenden bis zum Äußersten gereizt, die beobachten mussten, wie sehr seine Texte die Kritik multiplizierten. Aber auch die Aufmerksamkeit für den Liedermacher im Westen war für die SED-Führung unangenehm. Lieblingsthema der SED im ideologischen Streit um die Menschenrechte waren die Berufsverbote für Kommunisten in der Bundesrepublik. So traf sie der Vorwurf, selbst Berufsverbote zu verhängen, besonders hart. Als sich im Frühjahr 1976 eine Initiativgruppe "Freiheit der Meinung – Freiheit der Reise für Wolf Biermann, Wolf Biermann nach Bochum" an der Bochumer Universität bildete, die mehrere zehntausend Unterschriften sammeln konnte, auch von prominenten Politikern und Publizisten, kam die SED-Führung in eine schwierige Lage. Sie konnte die Einladung Biermanns für Konzerte, die teilweise im Rahmen eines Jugendmonats der IG Metall im November stattfinden sollten, nicht mehr wie in den Vorjahren ignorieren. Sie genehmigte die Reise. Am 13. November 1976 gab Biermann in der Kölner Sporthalle ein von Rundfunk und Fernsehen übertragenes Konzert. Die Erwartungen an dieses Konzert in Ost und West waren groß. Von Anfang an stand die Frage im Raum, ob Biermann wieder in die DDR zurückreisen durfte, war doch bekannt, dass die SED-Führung ihn loswerden wollte und ihm die Ausreise schon angeboten hatte. Aber es schien unwahrscheinlich, dass sich die SED mit einer Ausweisung, die als eine zynisch gestellte Falle erscheinen musste, vor der Weltöffentlichkeit bloßstellen würde. Doch die "verdorbenen Greise" im Politbüro, wie sie Biermann in einem seiner Lieder nannte, entschieden sich für die Ausweisung. Am 17. November verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN die Meldung: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen." (Komittee 1977, 87) Mit einer solchen Formulierung sollte suggeriert werden, dass der Liedermacher eigentlich ein Westdeutscher sei, dessen Aufenthalt in der DDR nun beendet würde. Am folgenden Tag legte Günter Kertzscher im Neuen Deutschland nach und stempelte ihn als Feind der DDR ab. [...] Doch dies verschlimmerte die Situation nur und ließ die gesamte Affäre zu einer schweren politischen Niederlage der SED werden, da Biermann eine breite Solidarisierung in Ost und West erfuhr. [...] Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Bonn 1997, S. 226 f. Ökonomische Dauerkrise Der wirtschafts- und sozialpolitische Kurswechsel von 1971 hatte es nicht vermocht, die DDR auf ein solides ökonomisches Fundament zu stellen. Vielmehr hatte die seither erfolgte Zurücknahme von Investitionen in der Industrie zugunsten erhöhter, sozialpolitischer Leistungen für die Bevölkerung zu Einbrüchen in der Produktion hochwertiger Industrieprodukte geführt. Zugleich hatte sich der Abstand zu westlicher Hochtechnologie nicht verringert, sondern erhöht. Ebenso war das Konzept, wirtschaftliches Wachstum vornehmlich durch Intensivierung, Effizienzsteigerung und Einsparungen zu erzielen, einerseits an der veralteten Industrieausrüstung, andererseits an den weltweit sprunghaft gestiegenen Rohöl- und Rohstoffpreisen gescheitert. Die überstürzt eingeleitete Förderung der Mikroelektronik und Datenverarbeitung ab Juni 1977 entzog der Leistungssteigerung anderer Industriezweige weitere, dringend benötigte Investitionen. Die volkswirtschaftlich notwendige Reduzierung der erheblichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, Mieten und Sozialleistungen, die Mitte der achtziger Jahre bereits mehr als ein Viertel des Staatshaushaltes ausmachen sollten, aber auch des kostspieligen Wohnungsbauprogramms, war aus sozialpolitischen Gründen kaum möglich. Honecker lehnte sie jedenfalls aufgrund der letztlich zutreffenden Befürchtung ab, eine spürbare Reduzierung der sozialpolitischen Leistungen könne zu Unruhen in der Bevölkerung und damit eventuell zur Gefährdung der eigenen Machtposition führen. Ein so aufmerksamer Beobachter wie der DDR-Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski notierte daher im November 1979 in sein Tagebuch: "Auf keinem Gebiet haben wir eine Konzeption. Wir leben von der verwelkten Hand in den zahnlosen Mund". Tatsächlich hatte sich die wirtschaftliche Lage der DDR zu Beginn der achtziger Jahre erneut verschärft. Die Ursachen hierfür ergaben sich teils systembedingt aus der ineffizienten Planwirtschaft selbst, teils waren sie Folge des verfehlten wirtschaftspolitischen Kurses seit 1971, teils resultierten sie aus der allgemeinen Verteuerung der Rohstoff- und Energiepreise auf dem Weltmarkt. Das Konzept, durch Kredite von westlichen Staaten die eigene Wirtschaft mit gezielten Investitionen zu modernisieren, war nicht aufgegangen. Die strikte Verfolgung der "Hauptaufgabe", nämlich die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zu realisieren, hatte weniger zu dringend benötigten Investitionen in die eigene Industrie als zum Import von Rohstoffen und Nahrungs- bis hin zu Futtermitteln geführt. Das begann sich zu Beginn der achtziger Jahre erstmals negativ auszuwirken. Binnen einer Dekade waren die Verbindlichkeiten der DDR gegenüber westlichen Banken auf 24,2 Milliarden DM (1981) gestiegen. Mangelnde Investitionen zur umfassenden Modernisierung der eigenen Industrie wiederum ließen die Arbeitsproduktivität stagnieren. 1983 belief sie sich bereits auf weniger als die Hälfte (47 Prozent) im direkten Vergleich mit der Bundesrepublik. Auch der seit Mitte der siebziger Jahre forcierte Export vor allem in den "nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich" mit der Zielsetzung, westliche Devisen um jeden Preis hereinzubringen, hatte das Anwachsen der Verschuldung bei westlichen Gläubigerstaaten nicht verhindern können. Stattdessen waren damit ebenfalls negative Entwicklungen einhergegangen: Der Export hatte vor allem bei hochwertigen Produkten zu einer für die Bevölkerung spürbaren Verschlechterung der Versorgungslage geführt. Die Palette der Mangelwaren reichte dabei von Motorrädern, Durchlauferhitzern, Heißwasserspeichern und Schreibmaschinen bis hin zu Lederschuhen. Die "Werktätigen" in den Betrieben frustrierte es, dass die von ihnen hergestellten und benötigten Industriewaren von vornherein für den Export in den "Westen" bestimmt waren und nicht für den eigenen Bedarf zur Verfügung standen. Ebenso registrierten Arbeiter und Angestellte zunehmend, dass Produktionsanlagen und Maschinen allmählich veralteten und verschlissen – eine Folge ungenügender oder gänzlich ausbleibender Investitionen. Häufig konnte nur mit geschickter Improvisation dem drohenden Totalausfall begegnet werden. Aus der unüberbrückbaren Kluft zwischen der ständig propagierten Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsordnung und den konkreten Erfahrungen im Betriebsalltag erwuchsen Frustration und Zynismus, was wiederum der Arbeitsmotivation abträglich war. Devisenbeschaffung Wie sehr die Staatsführung inzwischen unter dem Druck stand, buchstäblich um jeden Preis westliche Devisen hereinzubringen (die zum Teil sogleich wieder für die Schuldentilgung ausgegeben werden mussten), zeigte sich auch am forcierten Ausbau der bereits 1966 gegründeten "Kommerziellen Koordinierung" (KoKo), die unter der Leitung des Staatssekretärs im Außenhandelsministerium und zugleich Offiziers im besonderen Einsatz (OibE) des MfS, Alexander Schalck-Golodkowski, stand. Über diese rein marktwirtschaftlich(!) operierende Institution im real existierenden Sozialismus wurden unter anderem Verkäufe von zumeist aus Enteignungen stammenden Antiquitäten und Kunstgegenständen ins westliche Ausland organisiert – ebenso wie von Waffen und Blutkonserven. Immerhin gelang es mit dieser teilweise illegal und kriminell agierenden Institution bis 1989, insgesamt circa 25 Milliarden DM zu "erwirtschaften" (Rainer Eppelmann). Der "Verkauf" politischer Häftlinge an die Bundesrepublik, der in der Honecker-Ära ebenfalls zu einer finanziell keineswegs unbedeutenden Möglichkeit der Devisenbeschaffung ausgebaut wurde, ist in dieser Summe nicht einmal enthalten. Hinzu kamen "legale" Erlöse in westlicher Hartwährung aus dem innerdeutschen Transithandel und dem Zwangsumtausch für Besucher aus der Bundesrepublik bzw. West-Berlin. Auch durch den Ausbau der Intershop-Läden und den Genex-Versandhandel, über die westliche Industrieprodukte von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gegen West-Valuta erworben werden konnten, versuchte das Regime, hochwertige Konsumgüter ins Land zu schaffen und Devisenbestände bei der eigenen Bevölkerung abzuschöpfen. Allerdings führte auch dies zu kontraproduktiven Effekten. Wer "West-Verwandtschaft" besaß oder sonst irgendwie an "West-Geld" herankam, war eindeutig besser gestellt als jene DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die nicht über diese Möglichkeiten verfügten. Zur tatsächlich vorherrschenden inneren Spaltung der angeblich klassenlosen Gesellschaft in der DDR zwischen der Minderheit, die über Macht und Privilegien verfügte und der Mehrheit, die daran keinen Anteil hatte, kam somit eine weitere Teilung: Eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" mit und ohne westliche Devisen. Zu welchen Absurditäten das Preissystem der DDR tatsächlich führen konnte, hat der damalige Chef der zentralen staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, an zwei Beispielen nach der "Wende" deutlich gemacht: "Lieferte ein Züchter ein Kaninchen an den Staat, erhielt er dafür 60 Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und ausgenommen bei der Staatlichen Handelsorganisation (HO) zurück, kostete es trotz der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark." Analoges galt für Hightech-Produkte, etwa für die Entwicklung und Herstellung eines in der DDR selbst produzierten Mikrochips: "Die Selbstkosten für einen Chip betrugen 536 Mark. Der Verkaufspreis war in der DDR auf 16 Mark festgelegt." (Der Spiegel vom 15. November 1999) Hohe Verschuldung Eine grundlegende Änderung der sich zuspitzenden Wirtschaftsmisere war aber kaum möglich. Zum einen gelang es der DDR immer weniger, hochwertige Industriegüter herzustellen und in den "Nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich" zu exportieren; zum anderen war sie aufgrund vielfältiger und meist langfristiger ökonomischer Vertragsverpflichtungen fest in den "Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) eingebunden. Als die Sowjetunion aufgrund massiver eigener ökonomischer Schwierigkeiten im Jahre 1981 ihre Erdöllieferungen von jährlich 19 auf 17 Millionen Tonnen reduzierte, verringerte sich dadurch auch die Möglichkeit der DDR, durch Veredelung von Rohölprodukten westliche Devisen zu erwirtschaften, dramatisch. Honecker war sich der kritischen wirtschaftlichen wie politischen Lage voll bewusst, als er bei Breschnew anfragen ließ, "ob es zwei Millionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu destabilisieren"? Doch die Sowjetunion beließ es bei dieser Entscheidung. Nur ein Jahr später reagierte die Bank für internationalen Zahlungsausgleich, als nach den Zahlungsunfähigkeitserklärungen Polens und Rumäniens gegenüber der DDR ebenfalls ein Kreditstopp verhängt wurde, auch wenn dies gleichzeitig eine politisch motivierte Vorsichtsmaßnahme darstellte. Der Kreditstopp durch westliche Gläubigerbanken war die Folge. Die erneut forcierte Erhöhung von Westexporten bei gleichzeitiger rigider Drosselung von Westimporten bedeutete jedoch keine Abhilfe. Vielmehr wurden die dringend modernisierungsbedürftige Industriestruktur und das Produktionspotenzial weiter geschwächt. Erst zwei vom bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß vermittelte Kredite in den Jahren 1983 und 1984 in Höhe von insgesamt 1,95 Milliarden DM, für welche die Bundesrepublik Deutschland eine Garantie übernahm, stellten – ohne dass sich die weiter bestehenden gravierenden Wirtschafts- und Finanzprobleme grundlegend änderten – die Kreditwürdigkeit der DDR wieder her. Dennoch war die aufgelaufene Verschuldung in westlicher Valuta nicht mehr abzugleichen. Seit 1981 pendelte das Schuldenvolumen bis zur "Wende" von 1989/90 zwischen 15 und 25 Milliarden DM. Auch die kleinste noch bestehende Chance auf Besserung der katastrophalen Wirtschaftssituation schwand 1986, als ein rascher Einbruch der Rohölpreise und somit auch der Preise für Erdölprodukte erfolgte. 1989 vermochten Devisenerlöse der DDR-Ökonomie nur noch zu 35 Prozent Westimporte, Zinsen und Tilgung abzudecken. Wohnungsbaupolitik Gleichwohl propagierte die SED-Führung weiterhin unentwegt die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, obwohl sie ihre Unzulänglichkeit längst sichtbar unter Beweis gestellt hatte. Dabei schreckte das Regime auch nicht vor Fälschungen zurück. Als Erich Honecker am 12. Oktober 1988 im Rahmen des Wohnungsbauprogramms, des "Kernstücks der Sozialpolitik der SED", die angeblich dreimillionste Wohnung in Ost-Berlin an ein junges Ehepaar mit Kind offiziell übergab, handelte es sich tatsächlich erst um die zweimillionste seit seinem Machtantritt 1971. Auch wenn die DDR-Bevölkerung sehr wohl die Verschlechterung der ökonomischen Lage am eigenen Leib verspürte, so hatten doch solche gezielten Täuschungen durchaus den Effekt, dass der bevorstehende Bankrott des SED-Staates um die Jahreswende 1989/90 vielen völlig unglaubhaft erschien, ja einen Schock bedeutete. QuellentextWirtschaft und Konsum in der DDR Wie es tatsächlich um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bestellt ist, illustriert die Episode des 64 Kilobit-Chips. 1981 teilte der zuständige Minister mit, dass die DDR gemeinsam mit der Sowjetunion an der Entwicklung des elektronischen Bausteins arbeite. 1984 sollte der Chip auf den Markt kommen. Im April 1986 wurde schließlich mitgeteilt, dass der technologische Durchbruch gelungen sei und der Chip tatsächlich produziert werde. Wie verheerend für die Wirtschaft der DDR diese durchaus üblichen Verzögerungen bei der Entwicklung und Produktion neuer Techniken sind, zeigt die Entwicklung des Preises für den 64 Kilobit-Chip. Als ihn die Japaner auf den Markt brachten, bekamen sie für jeden Chip 125 Dollar. Als die DDR damit herauskam, kostete er nur noch 30 Cent und war auf den Wühltischen von Elektronikläden zu haben. Die DDR ist in den vergangenen Jahren technisch vermutlich weiter zurückgefallen. Heute liegt sie etwa vier bis sieben Jahre hinter der Entwicklung der führenden westlichen Industriestaaten zurück – beim Tempo des technischen Wandels ein immenser Abstand, der nur bei Konzentration aller Kräfte auf die modernen Schlüsseltechniken aufzuholen ist. Peter Christ, "Mächtig stolz auf die eigene Leistung", in: Die Zeit Nr. 28 vom 4. Juli 1986. Ende August entdeckte ich im Einrichtungshaus unserer Stadt eine wunderschöne Wohnzimmerschrankwand Modell "Anklam" (4936,– Mark). Viel Geld auf den ersten Blick, aber sie sollte unsere Familie für den Rest des Lebens erfreuen, denn so bald kauft man keine neue Anbauwand. Und wir hatten Glück, für den Monat September konnte das Geschäft für zehn Schrankwände eine Vornotierung durchführen und wir wurden Nummer zehn. Nun begann die tägliche Nachfrage zwecks Lieferung, denn der genaue Termin konnte nicht festgelegt werden. Heute nun kam der Hammer, ich erhielt die Mitteilung, dass die Schrankwand nicht mehr geliefert werden kann. Sie würde nur noch für den Export und Genex gefertigt bzw. nach Berlin geliefert. Bei allem Respekt für die zu erbringenden oben genannten Lieferungen, aber auch wir in der Provinz möchten gern schön wohnen. Eingabe an das Büro Jarowinsky beim ZK der SED, Bundesarchiv SAPMO DY 30/37988. Gesellschaftliche Krisenerscheinungen Erwies sich somit Ende der siebziger Jahre die ökonomische Lage der DDR für die SED zunehmend als schwierig, so zeigten sich parallel dazu auch in der Gesellschaft vermehrt Krisensymptome. In diesem Zeitraum kamen allmählich kleine Zirkel und Gruppen auf, die im Umkreis und unter dem Schutz der Kirchen als einzige nichtsozialistische und staatsfreie Großorganisationen zu wirken begannen. Ihr Zustandekommen entsprang unterschiedlichsten Motiven. Die Tatsache, dass öffentliche Diskussionen über Probleme in Staat und Gesellschaft nicht möglich waren, stellte eine wichtige, vielleicht die wichtigste Ursache dar. Auch die sich wieder verschärfende internationale Lage trug zu ihrer Entstehung bei: Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1979, die sowjetische Stationierung von Mittelstreckenraketen in Osteuropa und der DDR, die Androhung der Stationierung analoger Waffensysteme in Westeuropa und der Bundesrepublik infolge des NATO-Doppelbeschlusses, sowie schließlich das Aufbrechen der langangestauten Krise in Polen 1981 – dies alles ließ den Wunsch nach Frieden durch Abrüstung laut werden. Indirekte Unterstützung erfuhr die Entstehung solcher Gruppen in der DDR auch durch die Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Vornehmlich stellte die Bildung solcher Gruppen indes eine Reaktion auf bestehende Probleme und Unstimmigkeiten des SED-Staates dar. Sie drückten sich in der permanenten Selbststilisierung der DDR als Friedensstaat aus, die im krassen Widerspruch zur ständig forcierten Militarisierung von Staat und Gesellschaft stand. Das wachsende Engagement für eine sauberere Umwelt ergab sich wiederum aus den zunehmenden, täglich erfahrbaren Belastungen von Erde, Luft und Wasser, hervorgerufen durch die extensive Wirtschaftspolitik seit Mitte der siebziger Jahre. Das Eintreten für Menschen- und Bürgerrechte schließlich resultierte aus der im SED-Staat in diesem Bereich tatsächlich defizitären Situation. Es war bestärkt worden durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte und die von tschechischen Oppositionellen formulierte Charta '77. Verhältnis Kirche und Staat Trotz eines umfassenden Meinungsaustausches zwischen Staat und Kirchen am 6. März 1978 blieb das beiderseitige Verhältnis problematisch. Dies zeigte sich, nur ein halbes Jahr später, bei der Einführung des Wehrkundeunterrichts als Pflichtschulfach der Polytechnischen Oberschulen zum 1. September 1978. Der Erlass hierzu war bereits fünf Wochen vor dem Gespräch mit den Kirchen durch das Ministerium für Volksbildung am 1. Februar 1978 ergangen und sah zudem eine verstärkte vormilitärische Erziehung vor. Wenngleich erfolglos, so kam es dennoch in zahlreichen Schulen zu Unterschriftenlisten gegen die "Sozialistische Wehrkunde". Die Kirchenleitungen ihrerseits beschlossen ein Studien- und Aktionsprogramm "Erziehung zum Frieden" mit einem jährlichen Veranstaltungskalender. Schon im November 1981 konnten 100.000 der vom sächsischen Jugendpfarrer Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" verteilt werden. Massive Versuche, die meist jugendlichen Träger des Abzeichens von staatlicher Seite zu drangsalieren und zu gängeln, setzten deren Engagement genauso wenig ein Ende wie die von der FDJ organisierte Gegenbewegung unter dem Motto "Der Frieden muss verteidigt werden – der Frieden muss bewaffnet sein!" Dennoch führten die vornehmlich, aber nicht ausschließlich im kirchlichen Umkreis entstehenden Gruppen nach wie vor ein Randdasein in der Gesellschaft. Denn "die Opposition" hat es auch angesichts der sich verschärfenden politischen und ökonomischen Dauerkrise in den achtziger Jahren in der DDR nicht gegeben. Die Masse der Bevölkerung blieb, wie dies Friedrich Schorlemmer charakterisiert hat, "stimmlos-stumm" (vgl. Gisela Helwig, Rückblicke auf die DDR). Das war die millionenfache, durchaus "natürliche" Abwehrreaktion auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das beanspruchte, bis in das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger hineinzuwirken und bei dissidentem oder oppositionellem Verhalten nicht vor Repression und Gewalt zurückschreckte. QuellentextSchwerter zu Pflugscharen Der Staatssekretär für Kirchenfragen hatte der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen für den 7. April 1982 ein Sachgespräch zu Erläuterung des neuen Wehrdienstgesetzes und des Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR angeboten. Auf Wunsch der Konferenz wurden in dieses Gespräch die Belastungen einbezogen, die für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche durch die staatliche Entscheidung gegen das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen"* entstanden sind. Die Vertreter der Konferenz haben [...] folgende Positionen vertreten: Die Friedensbemühungen der DDR erübrigen nicht den kirchlichen Abrüstungsimpuls.Die Kirche betreibt eine eigenständige Friedensarbeit.Sie ist nicht einfach Verstärker der Außenpolitik des Staates. Die Konferenz hat unterstrichen, dass sie in der staatlichen Entscheidung gegen das Symbol der Friedensdekade eine Einschränkung des öffentlichen Zeugnisses der Kirche und eine Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit sehen muss. Sie hat unter Nennung einer Fülle konkreter Fälle dagegen Einspruch erhoben, dass das eigenständige christliche Friedenszeugnis als Bildung einer "unabhängigen Friedensbewegung" verdächtigt wird;dass das Tragen des Friedenssymbols "Schwerter zu Pflugscharen" als Bestreitung der Friedenspolitik der DDR und als Versuch der Schwächung der Verteidigungsbereitschaft angesehen wird;dass das Friedenssymbol als im Westen hergestellt und illegal in die DDR eingeführt ausgegeben wird;dass seitens der Sicherheitsorgane den Trägern dieses Symbols unterschiedslos missbräuchliche Absichten unterstellt und sie durch weithin unangemessene Maßnahmen kriminalisiert, in ihrer persönlichen Würde verletzt und in ihrem Vertrauen nachhaltig beeinträchtigt werden [...]. Die Konferenz hat ihre Betroffenheit darüber zum Ausdruck gebracht, dass bei Eingriffen keine klare Auskunft über die rechtliche Grundlage gegeben wird. * Das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" wurde mit der Gebetswoche, der Friedensdekade, 1981 eingeführt und auf einem bedruckten runden Stoffaufnäher ausgegeben, den bis zu 100.000 Menschen trugen. Die Staatsorgane verboten den Aufnäher und erzwangen häufig durch die Polizei seine Entfernung. Das Motiv war die stilisierte Wiedergabe des Bibelwortes Micha 4.3. nach einem Denkmal eines sowjetischen Künstlers. Konflikte um das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" (7. April 1981), in: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 396 f. Zunahme der Ausreiseanträge Sehr wohl nahm die Bevölkerung allerdings die so genannten "Antragsteller" wahr, deren Zahl sich zwischen 1980 (21.500) und 1989 (125.000) versechsfachte, zumal sie häufig nicht nur Arbeits- und Berufskollegen, sondern auch Nachbarn und Freunde waren. Die ihnen gegenüber sehr oft praktizierte Isolierung und Diskriminierung, hatten sie einmal den Antrag auf Ausreise gestellt, erlebte man oft aus nächster Nähe mit und wurde Zeuge ihres Leidensweges, der sich manchmal über Jahre hinzog. Die angestrebte Übersiedelung in die Bundesrepublik, die zugleich ja auch das Verlassen der Heimat bedeutete, war indes keineswegs nur politisch motiviert. Eine Befragung unmittelbar nach der "Wende" ergab, dass die Unzufriedenheit mit den politischen Bedingungen in der DDR zwar den Hauptgrund darstellte, der niedrige Lebensstandard jedoch gleich an nächster Stelle rangierte. Hierzu gehörte auch der Unmut über die desolate Wirtschaftslage, die wachsende Umweltproblematik, die unbefriedigenden Wohnbedingungen und nicht zuletzt über die Beschränkung der Reisefreiheit. Auch das indoktrinäre Erziehungs- und Bildungssystem sowie mangelnde Freizeitmöglichkeiten, ungenügende Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse und eine unzureichende Gesundheitsversorgung wurden als Gründe für den Ausreisewunsch genannt. Ein weiteres Motiv für die Ausreise stellten die schlechten und zum Teil gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen dar (vgl. Dieter Voigt/Hannelore Belitz-Demiriz/Sabine Meck). Im Unterschied zu den oppositionellen Gruppen wuchs die Gruppe der Antragsteller im Verlauf der achtziger Jahre allmählich zu einer Massenbewegung an, auch wenn bis 1983 jedes Übersiedlungsersuchen als rechtswidrig eingestuft wurde und bis 1989 keine rechtlich wirksame Anerkennung dieses Grundrechts erfolgte. Aufgrund des rapiden Ansteigens der Zahlen entschlossen sich die Behörden, 1984 erstmals circa 30.000 Antragstellern die Übersiedelung zu gestatten, 1988 folgte eine zweite Welle mit 25.300 Genehmigungen. Während solche Maßnahmen extern gleichzeitig Bestandteil deutsch-deutscher Verhandlungen – etwa über Kreditwünsche der DDR – waren, verfolgten sie intern vor allem den Zweck, ein Unruhepotenzial zu beseitigen. Doch dieses Ziel wurde letztlich nur vordergründig erreicht, da die erteilten Ausreisegenehmigungen viele weitere DDR-Bürgerinnen und -Bürger ermutigten, jetzt ihrerseits einen Antrag zu stellen. Das Problem ließ sich jedenfalls nicht grundlegend lösen. Zudem sorgten Ausreisewillige immer wieder spektakulär für Aufsehen. So kam es 1983 in Jena und 1988 in Leipzig, Dresden und Berlin zu Demonstrationen von Selbsthilfegruppen, und 1984 gelang einigen von ihnen über die amerikanische Botschaft und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin die Übersiedelung in die Bundesrepublik. Der Konflikt zwischen den oppositionellen Gruppen und Antragstellern ergab sich gleichsam zwangsläufig aus den gegensätzlichen politischen und individuellen Lebensvorstellungen. Denn während die Gruppenmitglieder fast durchweg eine Reform des "real existierenden Sozialismus" anstrebten, zumindest mehrheitlich einen besseren, tatsächlich "demokratischen" Sozialismus verwirklichen wollten, hatten die Antragsteller jegliche Hoffnung auf einen solchen aufgegeben. Sie zogen es trotz der massiven Hindernisse und Widrigkeiten vor, dem SED-Staat den Rücken zu kehren, um in der Bundesrepublik endlich die erhofften Lebens- und Arbeitsbedingungen zu finden. Von Seiten der Gruppen traf sie daher zumeist ein doppelter Vorwurf: Sie waren nicht nur nach dem Verlassen der DDR für die Opposition unwiderruflich verloren und schwächten dadurch das Widerstandspotenzial, sondern verfolgten nach Meinung der Zurückbleibenden rein egoistische, "unpolitische" Ziele. Entsprechend kam es selten zu engerer Zusammenarbeit. QuellentextGegen Wehrerziehung Schreiben des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 22. Mai 1981 an das Ministerium für Volksbildung. Auf der Grundlage Ihres Schreibens [...] haben die Direktoren der Schulen mit allen Eltern, deren Kinder nicht am Wehrunterricht teilnehmen, Aussprachen geführt. Das sind in unserem Bezirk 59 Schüler aus 17 Kreisen und einem Stadtbezirk von Karl-Marx-Stadt. In sieben Kreisen und zwei Stadtbezirken von Karl-Marx-Stadt nehmen alle Schüler am Wehrunterricht teil. Die betreffenden Eltern wurden aktenkundig darüber belehrt, dass sie mit ihrer Entscheidung gegen die Schulpflichtbestimmungen und die Verfassung der DDR verstoßen. Die Reaktion der Eltern in diesen Gesprächen war unterschiedlich. In fünf Fällen konnte eine Änderung der Haltung zum Wehrunterricht erreicht werden. [...] Drei Eltern gestatteten ihren Kindern, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen, aber nicht am ZV-Lehrgang. [...] Drei weitere Eltern wollen ihre Entscheidung nochmals überdenken. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt aber noch keine neue Meinungsäußerung vor. 48 Eltern lehnen nach wie vor die Teilnahme ihrer Kinder am Wehrunterricht ab. Schreiben des Pfarrkonvents des Kirchenkreises Magdeburg vom 23. Juli 1986 an das Ministerium für Volksbildung. Vor einigen Tagen haben wir das neue "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten" im Buchhandel gekauft und gelesen. [...] Es ist uns aufgefallen, dass in allen Kindergartengruppen, im Bekanntwerden mit dem gesellschaftlichen Leben, ein klares Freund-Feind-Denken entwickelt werden soll.Es wird eindeutig auf unterschiedliche politische Lager bezogen ("die große Sowjetunion und andere sozialistische Länder unsere Freunde" und "Feinde, die uns Schaden zufügen wollen". Konkret: "Ausbeuter und Faschisten [...] wie zum Beispiel in der BRD").Es werden Kinderängste geweckt, indem ohne politische Notwendigkeit und ohne konkrete Differenzierung "Kinder [...] erfahren [sollen], dass es Menschen gibt, die unsere Feinde sind und gegen die wir kämpfen müssen, weil sie den Krieg wollen". [...]Wir empfinden es als fehlgeleitetes Spiel, wenn fünfjährige Kinder ausdrücklich [...] dazu angehalten werden [sollen], [...] Spielideen und -themen aus dem Bereich der "bewaffneten Organe" nachzugestalten. [...] Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 472 u. 479. Oppositionelle Gruppen Gleichwohl haben die Antragsteller zum Zusammenbruch des SED-Staates mindestens so viel beigetragen wie die oppositionellen Gruppen; denn letztlich konnte die DDR-Führung dieses Dauerproblem nicht lösen. Das enorme Anschwellen der Ausreiseanträge im Jahr 1989, zusammen mit der Massenflucht über Ungarn bzw. die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau, ihre Sogwirkung auf weitere Menschen in der DDR, und nicht zuletzt die weltweite Übertragung dieser Bilder in den Medien sollten zur völligen internationalen Diskreditierung des SED-Regimes führen und seinen Kollaps einleiten. Doch ein so rasches Ende der DDR schien in den achtziger Jahren noch völlig irreal und wurde von niemandem erwartet. Stattdessen demonstrierte die "Staatsmacht" immer wieder ihre Stärke, indem es ihr wiederholt gelang, die meist im Umkreis der Kirchen angesiedelten Gruppen zu zerschlagen oder in ihrer Wirkungstätigkeit stark einzuschränken. Mundtot machen konnte sie diese Opposition jedoch nicht. Die Gruppen fuhren fort, Alternativen zu politisch wie ideologisch vorgegebenen Auffassungen zu artikulieren. Darin lag ihre eigentliche Attraktivität besonders für die junge Generation. Vor diesem Hintergrund hatten der Reformkommunist Robert Havemann (1910–1982) und der systemkritische Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann am 25. Januar 1982 gemeinsam ihren "Berliner Appell verfasst. QuellentextBerliner Appell Der "Berliner Appell" vom 25. Januar 1982 ist, wie Robert Havemann, der 1982 verstorbene Wortführer der sozialistischen Kritiker des SED-Staates, in einem Interview sagte, "in gewisser Weise ein Pendant zum Krefelder Appell der BRD". Der Aufruf stammt aus der Feder des evangelischen Pfarrers Rainer Eppelmann. Er wurde zunächst von 35 DDR-Bürgern unterzeichnet und im Westen veröffentlicht. Eine Unterschrift bedeutete in der DDR die bewusste Konfrontation mit den Staatsorganen und führte zu repressiven Maßnahmen – von der Überwachung durch die Staatssicherheit, dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Relegierung von der Schule oder der Universität bis zur Ausbürgerung. Wenn wir leben wollen, fort mit den Waffen! Und als Erstes: Fort mit den Atomwaffen! Ganz Europa muss zur atomwaffenfreien Zone werden. Wir schlagen vor: Verhandlungen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten über die Entfernung aller Atomwaffen aus Deutschland. Das geteilte Deutschland ist zur Aufmarschbasis der beiden großen Atommächte geworden. Wir schlagen vor, diese lebensgefährliche Konfrontation zu beenden. Die Siegermächte des 2. Weltkrieges müssen endlich die Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten schließen, wie es im Potsdamer Abkommen von 1945 beschlossen worden ist. Danach sollten die ehemaligen Alliierten ihre Besatzungstruppen aus Deutschland abziehen. [...] Wir schlagen vor, in einer Atmosphäre der Toleranz und der Anerkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung die große Aussprache über die Fragen des Friedens zu führen [...]. Wir wenden uns an die Öffentlichkeit und an unsere Regierung, über die folgenden Fragen zu beraten und zu entscheiden: Sollten wir nicht auf die Produktion, den Verkauf und die Einfuhr von so genanntem Kriegsspielzeug verzichten?Sollten wir nicht anstelle des Wehrkundeunterrichts an unseren Schulen einen Unterricht über Fragen des Friedens einführen?Sollten wir nicht anstelle des jetzigen Wehrersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer einen sozialen Friedensdienst zulassen?Sollten wir nicht auf alle Demonstrationen militärischer Machtmittel in der Öffentlichkeit verzichten und unsere staatlichen Feiern statt dessen dazu benutzen, den Friedenswillen des Volkes kundzutun? [...] Wolfgang Büscher u.a. (Hg.), Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982, Hattingen 1982, S. 246 ff. Im selben Jahr bildete sich in Reaktion auf das Gesetz über den Wehrdienst vom März 1982 und die darin enthaltene Bestimmung, dass bei Mobilmachung sowie im Verteidigungsfall künftig auch Frauen der Wehrpflicht unterworfen sein sollten, die von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe gegründete Gruppe "Frauen für den Frieden". Der "Friedensgemeinschaft Jena" wiederum gelang es, bis zu ihrer späteren, brutalen Zerschlagung, mit gewaltlosem Widerstand, öffentlichen Demonstrationen und bewusster Aufnahme von Kontakten zu westlichen Medien, neue Methoden in der Auseinandersetzung mit SED, MfS und den Sicherheitsorganen zu entwickeln. Konfliktsituationen Schon Ende der siebziger, vermehrt aber Anfang der achtziger Jahre, waren, ebenfalls im Schutze der Kirchen, "sozialethische Gruppen" entstanden; so zum Beispiel in Berlin, Leipzig und Schwerin, die sich vornehmlich mit Umweltfragen, aber auch mit Problemen der Entwicklungsländer befassten. Besonders der 1983 in Berlin-Lichtenberg gegründete "Friedens- und Umweltkreis" gewann an Bedeutung. Durch ihn entstand 1986 die Umweltbibliothek in der Zionskirche, welche die Untergrundzeitschrift "Umweltblätter" herausgab und dadurch zu einem Kristallisationspunkt vor allem der Berliner Gruppen wurde, der Ausstrahlung auf die gesamte DDR hatte. Insbesondere die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 und die nachfolgende Desinformationskampagne der DDR-Behörden verschafften der Bewegung weiteren Zulauf. Einen bewussten politischen Schritt, der für die nach wie vor im Schutz der Kirchen agierenden Gruppen ein völlig neues Vorgehen bedeutete, leitete die im Januar 1986 gegründete "Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM) ein, welche erstmals öffentlich auftrat und dabei namentlich unterzeichnete Appelle herausgab, unter anderem mit der Forderung nach umfassenden demokratischen Reformen. Die Gruppen existierten trotz gelegentlicher Unterstützung durch prominente Politiker der "Grünen" aus der Bundesrepublik am Rande der DDR-Gesellschaft und wurden von dieser auch nur marginal wahrgenommen. Sie rückten jedoch insbesondere in Berlin ab der zweiten Jahreshälfte 1987 nicht zuletzt durch die Berichterstattung westdeutscher Medien stärker in den Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit. Im zeitlichen Kontext mit dem gemeinsam von der SPD und SED erstellten Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" im August 1987, besonders aber mit dem Honecker-Besuch in Bonn einen Monat später, konnten diese Gruppen von einer vorübergehenden deutschlandpolitisch motivierten Zurückhaltung der "staatlichen Organe" profitieren. Wenig später jedoch legte das Regime wieder eine härtere Gangart ein und spitzte damit die latent weiter bestehende Konfliktsituation zu. Mit der Stürmung der Berliner Umweltbibliothek durch das MfS in der Nacht vom 24./25. November 1987 und der Verhaftung ihrer Mitarbeitenden wurde eine neue Eskalationsstufe auf beiden Seiten erreicht; denn die Mitglieder und Sympathisanten der Gruppen begegneten diesem Vorgehen im Schutze der kirchlichen Bannmeile mit öffentlichen Mahnwachen und Protestkundgebungen, um die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen. Als diese tatsächlich drei Tage später erfolgte, um einen internationalen Imageverlust zu vermeiden, bedeutete dies eine Niederlage der "Staatsmacht". QuellentextSchlag gegen die Umweltbibliothek in Berlin In der Nacht vom 24. zum 25. November wurde zwischen 0.00 Uhr und 2.30 Uhr die Umweltbibliothek des Friedens- und Umweltkreises der Zionskirchgemeinde von etwa 20 Mitarbeitern des Generalstaatsanwalts der DDR und des Ministeriums für Staatssicherheit durchsucht. Unter Berufung auf eine anonyme Anzeige gegen die Umweltbibliothek, deren Inhalt nicht bekannt wurde, und unter Auslassung der konkreten Rechtsgrundlagen drangen Einsatzkräfte in die Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers, Herrn Simon, ein. Es wurden sieben Personen festgenommen, Vervielfältigungsgeräte, Matrizen und Schriftmaterial beschlagnahmt. [...] Die Räume der Umweltbibliothek gehören zur Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers. Das Beschlagnahmeprotokoll wurde vom beauftragten Staatsanwalt nicht unterschrieben. Diese Vorgänge stellen einen eklatanten Rechtsbruch dar. Wir sehen in dieser Aktion gegen die Umweltbibliothek einen Angriff auf alle Gruppen der Unabhängigen Friedensbewegung, auf die Ökologie- und Menschenrechtsgruppen. In der Zionskirche begann am 3. September dieses Jahres die 1. unabhängige Demonstration der Basisgruppen. [...] Diese anscheinend hoffnungsvolle Entwicklung, die der DDR auch international gut zu Gesicht stand, wurde durch die jüngsten Vorgänge in Frage gestellt. Während sich gestern in Genf die Außenminister der UdSSR und der USA auf ein wichtiges Abrüstungsabkommen einigten, bereiteten in der DDR die Vertreter des harten Kurses nach altem Muster einen Angriff auf die Friedensbewegung vor. Dies war der vorläufige Höhepunkt eines zunehmenden Drucks auf politisch Engagierte nach dem Honecker-Besuch in der BRD. Wir fordern: Die unverzügliche Freilassung der Festgenommenen;Die Offenlegung der Verdachtsgründe;Die sofortige vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Umweltbibliothek;Die Einstellung jeglicher Repressionen gegen politisch Engagierte. [...] Die Umweltbibliothek, Kirche von unten, Initiative Frieden und Menschenrechte, Friedenskreis Friedrichsfelde, Frauen für den Frieden, Gegenstimmen, Glieder der Zionsgemeinde, Solidarische Kirche Öffentliche Erklärung vom 25. November 1987, in: Dokumenta Zion. Dokumentationsgruppe der Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde, Dezember 1987, Ormigabzug, Samisdat. Als sich Mitglieder der 1987 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Staatsbürgerschaft", ein Zusammenschluss von Oppositionellen und Ausreisewilligen, mit eigenen Transparenten und Plakaten an der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988 beteiligten, nahmen sie bewusst den Konflikt mit dem Regime in Kauf. Trotz Behinderungen durch die Stasi gelang es westdeutschen Fernsehteams, entscheidende Szenen festzuhalten und die Nachricht darüber zu einer erstrangigen Meldung zu machen. Besonders das große Medieninteresse, das die unterschiedlichen Protestveranstaltungen in vielen Kirchen Berlins, aber auch anderswo fanden, ließ die Gruppen erstmals stärker aus ihrem gesellschaftlichen Randdasein herauswachsen und machte sie einer breiteren Öffentlichkeit in Ost und West bekannt. Die Existenz oppositioneller Gruppen in der DDR ließ sich damit nicht mehr länger leugnen. Gleichzeitig kam unter ihnen allmählich eine engere Vernetzung zustande. Auswirkungen von Gorbatschows Politik In die ab Mitte der achtziger Jahre um sich greifende Frustration über die spürbare Erstarrung des "Systems", die auch in Teilen der SED virulent wurde, fiel der überraschende Machtwechsel in der Sowjetunion im Frühjahr 1985. Der neue Parteivorsitzende der KPdSU, Michail Gorbatschow, verkündete ein Reformprogramm mit den Schlagworten "Glasnost" und "Perestroika" (Offenheit und Umgestaltung), mit dem eine tief greifende Modernisierung des "real existierenden Sozialismus" in der Sowjetunion durchgeführt werden sollte. Diese Initiative wurde von vielen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern wie ein unerwarteter Lichtschein in tiefer Dunkelheit empfunden. Besondere Überraschung rief hervor, dass nach der unübersehbaren Stagnation, die das Breschnew-Regime und seine Epigonen hinterlassen hatten, ausgerechnet aus den Reihen der KPdSU selbst ein Reformansatz kam. Das breite, zum Teil euphorische Interesse an Gorbatschows Politik und Persönlichkeit wurde verstärkt durch die Reaktionen der SED-Führung selbst. Diese sah instinktiv und zugleich durchaus realistisch die fundamentalen Konsequenzen einer sozialistischen Reformpolitik für die eigene Machtposition voraus. Entsprechend distanzierte sie sich vorsichtig, geriet aber dadurch in eine nach jahrzehntelanger Verkündung unverbrüchlicher Freundschaft mit der Sowjetunion ("Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!") unglaubwürdige Verteidigungsposition. Die defensive, ablehnende Haltung der Parteispitze kam symptomatisch in der berühmt gewordenen Formulierung Kurt Hagers vom April 1987 zum Ausdruck, der in einem "Stern"-Interview sagte: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Diese Äußerung verstärkte auch bei einigen SED-Mitgliedern eine bisweilen schon früher eingetretene innerliche Distanzierung von der Partei und ihrer Führung. Tatsächlich hatte sich auch in der SED infolge der immer spürbarer werdenden Mängel des Systems seit Mitte der achtziger Jahre ein Teil von Funktionären und Mitgliedern in eine Art innerer Opposition begeben, ohne allerdings selbst konkrete Reformvorstellungen zu entwickeln bzw. diese offen zu äußern. Häufig mit den Problemen und Frustrationen der Menschen in Alltag und Betrieb persönlich konfrontiert, hatten sie Positionen zu vertreten, die angesichts der Realität unhaltbar waren. Allenfalls waren sie nach Aussage eines Parteimitglieds Ausdruck "der systemisch bedingten Verknöcherung, Innovationsfeindlichkeit, Reformverweigerung und damit fehlenden Überlebensfähigkeit des Realsozialismus" (Rainer Land/Ralf Possekel). Damit schwand, von der Bevölkerung sensibel registriert, die Geschlossenheit der Partei. Die Reformwilligen vermissten jedoch einen "DDR-Gorbatschow", der – und das war die vorherrschende Auffassung – den erforderlichen, umfassenden Reformprozess durch eine "Revolution von oben" hätte herbeiführen können, zumal eine grundlegende, gar revolutionäre Transformation des "real existierenden Sozialismus" von unten ohnehin undenkbar erschien. Der politische Dissens zwischen der SED-Führung und dem Reformkurs Gorbatschows kam offen zum Ausbruch, als die Parteiführung die sowjetische Monatszeitschrift "Sputnik" im November 1988 von der Bezugsliste strich. In ihr waren erstmals bisherige Tabuthemen sowjetischer Politik und Geschichte, wie zum Beispiel der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffspakt von 1939, der "Hitler-Stalin-Pakt", aufgegriffen und breit diskutiert worden. Diese über eine Zensur weit hinausgehende Maßnahme stieß in der Bevölkerung, aber auch unter vielen Parteimitgliedern auf Unverständnis und Entrüstung und verstärkte die Kritik an der Parteiführung, insbesondere an den als vergreist empfundenen Politbüro-Mitgliedern. Einer wachsenden Mehrheit von Menschen in der DDR wurde zunehmend bewusst, dass die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse langfristig so nicht bleiben konnten und der SED-Staat auf eine Krise zusteuerte. Getrennte Entwicklung – innere Bezogenheit Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander und der in ihnen lebenden Menschen in diesem Zeitraum war von beträchtlicher Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der obersten Ebene der Deutschlandpolitik lagen völlig unterschiedliche Positionen und Zielsetzungen vor. Während die SED-Führung daran interessiert war, durch strikte Abgrenzungspolitik die deutsch-deutschen Beziehungen auf allen Gebieten, abgesehen von den ökonomischen und finanziellen, möglichst zu begrenzen, war es das Ziel der Bundesregierungen, die Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern auf allen Ebenen zu fördern und zu intensivieren. Grundlage dieser Politik war die 1969 von dem sozialliberalen Regierungsbündnis Brandt/Scheel begonnene "Ost- und Deutschlandpolitik", die im Rahmen internationaler Verträge und Abkommen die SED-Führung zu einer begrenzten Öffnung zwang. Dennoch erreichte die DDR nie die völkerrechtliche Anerkennung seitens der Bundesrepublik Deutschland. Das galt auch für die DDR-Staatsbürgerschaft – eine Forderung, die Honecker bei einer Rede in Gera am 13. Oktober 1980 neben weiteren noch einmal massiv erhoben hatte. Immerhin entwickelte sich trotz internationaler Krisen und Konflikte zwischen Bonn und Ost-Berlin so etwas wie eine informelle Sicherheitspartnerschaft, zumal man sich in dem Bestreben einig war, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Die weitgehend unveränderte Fortsetzung dieser Politik nach dem Regierungswechsel von 1982 durch Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher bis zur "Wende" von 1989/90 führte auf Seiten der DDR nicht nur zu einer stetig steigenden Zahl von Begegnungen (1972: 1,09 zu 1987: 5,09 Millionen Reisen aus der DDR in die Bundesrepublik). Das persönliche Kennenlernen der Bundesrepublik durch eine wachsende Anzahl von Menschen aus der DDR trug auch zu verstärkter Skepsis gegenüber dem eigenen Staat bei. Insofern wirkten sich die von der SED-Führung und dem MfS befürchteten "westlichen Sickereinflüsse" tatsächlich negativ auf das sozialistische Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus und haben zweifelsohne ebenfalls zu dessen Destabilisierung beigetragen. Deutsch-deutsche Kommunikation Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die jahrzehntelange Trennung und die unterschiedlichen Sozialisationsprozesse, welche die Deutschen in beiden deutschen Staaten zwangsläufig durchliefen, auch zu gegenseitiger Entfremdung sowie Miss- und Unverständnissen führten. Das vielzitierte Klischee vom arroganten, reichen Westdeutschen und vom verschüchterten, armen Ostdeutschen ist keineswegs nur ein bloßes Stereotyp. Auch dürfen die millionenfachen Besuche und Begegnungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gegenseitige Interesse unterschiedlich intensiv war und sich in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend auseinanderentwickelte; das zeigen auch die nachlassenden Besucherzahlen von westdeutscher Seite aus (1972: 6,26 zu 1987: 5,50 Millionen Reisen aus der Bundesrepublik und West-Berlin in die DDR). Während in der Bundesrepublik, vor allem unter der jüngeren Generation, das Interesse an der DDR auch und nicht zuletzt deshalb zunehmend schwand, weil Reisen in westliche Länder interessanter als in den "Polizeistaat DDR" erschienen und zudem preiswerter waren, blieb die DDR-Bevölkerung wie im Übrigen auch die SED unverändert auf den "Westen" fixiert. Bei genauerer Kenntnis des DDR-Alltags, konstatiert Stefan Wolle, sind "der westliche Konsum, die Freizügigkeit, der politische Pluralismus [...] für die DDR-Bürger immer der Maßstab ihres eigenen Lebens gewesen" (Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow, S. 209). Es waren vor allem das westdeutsche Fernsehen und der Rundfunk, die von den Menschen in der DDR regelmäßig gesehen und gehört worden sind und damit täglich den weiterbestehenden Zusammenhang der Nation wie kein anderes Medium unter Beweis stellten. Da die Einfuhr von Zeitungen und Zeitschriften aus dem "Westen" weitgehend unterbunden werden konnte, präsentierten Rundfunk und Fernsehen eine ständige Alternative und zugleich einen primären Vergleichsmaßstab auf allen Ebenen. Und dies, obwohl es bis in die siebziger Jahre hinein Versuche gab, den Empfang westdeutscher Fernsehsender in der DDR zu unterbinden und obwohl die Bundesrepublik in der Propaganda durchweg negativ als "Gegner" oder "Feind" kolportiert wurde. Für diejenigen DDR-Bürgerinnen und -Bürger – und das war die Mehrheit –, die "den Westen" aus eigener Anschauung nicht kannten, blieb das Bild der Bundesrepublik jedoch letztlich eindimensional und ohne Tiefenschärfe, weil der Fernsehschirm nicht die konkrete Realität widerspiegelte und es an persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen mit dieser Welt fehlte. Der "Westschock" nach der Maueröffnung belegt dies eindrucksvoll. So verkörperte der westdeutsche Konkurrenz- und Vergleichsstaat ein Wunsch- wie Zerrbild zugleich. Darüber hinaus hat es bei einer Mehrheit der DDR-Bevölkerung durchaus auch eine Bindung an den Staat der SED gegeben. "Solche Werte wie Arbeitsplatzsicherheit, niedrige Preise des Grundbedarfs und Unentgeltlichkeit des Gesundheitswesens haben die Loyalitätsbereitschaft großer Kreise der Bevölkerung viel stärker getragen, als es der Glaube an die parteiliche Wahrheit der ideologischen Doktrin jemals vermochte. Je länger, um so mehr waren es gerade solche sozialpolitischen Stützbalken, auf denen die Last des Legitimationsanspruches der zweiten deutschen Diktatur beruhte. Die mangelnde Legitimität der politischen Grundordnung, die schwache ökonomische Effizienz der SED-Herrschaft, das Wohlstandsgefälle beim Blick auf die westdeutsche Vergleichsgesellschaft verstärkten zusammen die kompensatorische Last, welche die 'sozialen Errungenschaften' – als die wirksamste und zuletzt wohl einzige Loyalitätsstütze – zu tragen hatten" (Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr, S. 536). Gründe für den Zusammenbruch Die DDR, der Staat der SED, ist aus mehreren, unterschiedlichen Gründen zusammengebrochen. Hier muss zwischen äußeren und inneren Faktoren differenziert werden. Tatsächlich veränderten sich die Existenzbedingungen der DDR durch die Politik Gorbatschows grundlegend. Der von ihm eingeschlagene Weg zu einer Reform des "real existierenden Sozialismus" im Zeichen von Perestrojka und Glasnost stieß bei der Führungsspitze der SED auf Ablehnung und damit zu einer auch für die DDR-Bevölkerung unübersehbaren Distanzierung von der Sowjetunion, die bis dahin, zumindest in der Propaganda, den primären Maßstab und Bezugspunkt gebildet hatte. Die Betonung der Eigenständigkeit der DDR und damit des "Sozialismus in den Farben der DDR" (Erich Honecker auf dem 7. Plenum des ZK der SED) ließ den SED-Staat aber auch gegenüber den reformbereiten "sozialistischen Bruderstaaten" Polen und Ungarn auf Distanz gehen. Damit zeigte er nur um so krasser die eigene Erstarrung und Reformunfähigkeit auf. Noch entscheidender war aber, dass mit dem fundamentalen Politikwechsel in der UdSSR durch Gorbatschow die bis dahin existente Bestandsgarantie der DDR durch die Sowjetunion aufgegeben wurde; damit stand erstmals ihre eigenstaatliche Existenz zur Disposition. Das Nichteingreifen sowjetischer Streitkräfte während der Revolution von 1989/90 in der DDR besiegelte faktisch ihr Ende. Die internen Gründe des Zusammenbruchs des SED-Staats sind noch vielfältiger. Zu keiner Zeit war das mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht von der KPD/SED errichtete Herrschaftssystem demokratisch legitimiert. Zudem war und blieb die DDR immer nur ein Teilstaat einer Nation und stand mit dem anderen deutschen Teilstaat Bundesrepublik Deutschland in fortwährender Konkurrenz, der wiederum für die Partei wie für die Bevölkerung auf allen Ebenen Vergleichsmaßstab blieb. Ebenso wenig gelang es, ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem zu errichten, das international wettbewerbsfähig war und mehr als nur die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen konnte. Aus dieser ökonomischen Ineffizienz resultierte spätestens ab Mitte der siebziger Jahre eine gleich bleibend hohe Verschuldung, die mit eigener Kraft nicht mehr zu bewältigen war, auch und nicht zuletzt deshalb, weil die zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr finanzierbaren sozialpolitischen Leistungen beibehalten wurden. Mit den wachsenden Wirtschafts- und Versorgungsproblemen nahm auch der innenpolitische Druck zu. Ab Mitte der achtziger Jahre klafften Anspruch und Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus in der DDR immer mehr auseinander, die Ideologie des Marxismus-Leninismus verlor rapide an Überzeugungskraft. Die spürbare Erstarrung des Systems wurde in allen Bevölkerungsschichten bis in die SED hinein registriert. Die Zahl oppositioneller Gruppen im Schutz der Kirchen wuchs, noch mehr nahm die Zahl der Ausreisewilligen zu. Mit dem massenhaften Exodus von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, die ihr Land im Spätsommer 1989 verließen und verlassen wollten, war letztlich das Ende des SED-Staats besiegelt – ein Staat, dem die eigenen Menschen davonliefen, besaß keine Existenzgrundlage mehr. aus: Deutschland in den 70er/80er Jahren, Informationen zur politischen Bildung (Heft 270) Einweihung der dreimillionsten Neubauwohnung im Oktober 1988. Mit seinem Amtsantritt 1971 hatte Erich Honecker ein umfassendes Bau- und Sanierungsprogramm beschlossen - doch die Wohnungsnot wurde nur langsam gelindert. (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-1012-409, Foto: Link, Hubert) [...] Frage: "Das deutsche Volk wurde nach einem immensen Weltkrieg geteilt, in dem das faschistische Dritte Reich zerstört wurde. [...]. Glauben Sie an ein Zusammenkommen in der Zukunft – nicht im Sinne einer Wiedervereinigung von etwas, das einmal war, sondern einer Vereinigung zweier jetzt völlig unabhängiger Staaten, die ein immer noch eng verbundenes Volk regieren?" [...] Antwort: "Das faschistische Dritte Reich ist im Feuer des II. Weltkrieges untergegangen, damit haben Sie recht. Es entstanden zwei voneinander unabhängige deutsche Staaten mit grundlegend verschiedener Gesellschaftsordnung. Das war ein Prozess, den niemand mehr rückgängig machen kann und an dem auch kulturelle Traditionen und familiäre Beziehungen nichts zu ändern vermögen. Selbstverständlich existieren Traditionen, und so weit sie progressiv sind, erfahren sie in unserem Staat alle Pflege. Familiäre Beziehungen, die natürlich schon allein durch das Heranwachsen neuer Generationen lockerer werden, brauchen nicht zu verkümmern. Verwandtschaftliche Beziehungen brauchen nicht belastend zu sein für die Entwicklung gut nachbarlicher Beziehungen zwischen zwei voneinander unabhängigen und souveränen Staaten [...]. Sie sind keinesfalls hinderlich, sondern von Vorteil. Aber Tatsache ist nun einmal: Es gibt zwei Staaten, die sozialistische DDR und die kapitalistische BRD, die sich grundverschieden entwickeln, und es gibt Bürger der DDR und Bürger der BRD. Normale Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten können nur solche der friedlichen Koexistenz sein. Auf ihrer soliden Grundlage gestalten sich die Dinge zum Nutzen der Menschen. Heute über das zu sprechen, was Sie ein Zusammenkommen in der Zukunft nennen, ist müßig. Fest steht: Sozialismus und Kapitalismus lassen sich nicht unter ein Dach bringen. Im übrigen haben auch Politiker westlicher Staaten mehrfach betont, dass sie derselben Ansicht sind. Für die DDR gibt es kein Zurück zum Kapitalismus, und der Weg zum Sozialismus in der BRD ist eine innere Angelegenheit unseres Nachbarlandes ..." Frage: "Teilen Sie die Auffassung des neuen Bundeskanzlers Schmidt, dass trotz Erschwernissen die Bemühungen um Ost-West-Entspannung, insbesondere die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, verstärkt werden sollen?" Antwort: "[...] Insgesamt, so denke ich, ist die weltpolitische Großwetterlage heute so, dass es zur friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung keine Alternative gibt. [...]" Interview Erich Honeckers mit AP am 4. Juni 1974 in: Archiv der Gegenwart, Bd. 7, Sankt Augustin 2000, S. 6250 f. – Auszug – [...] Die Teilnehmerstaaten, Unter Bekräftigung ihrer Verpflichtung zu Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit und zur stetigen Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit; [...] Erklären ihre Entschlossenheit, die folgenden Prinzipien [...] zu achten und in die Praxis umzusetzen: I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. [...] II. Unverletzlichkeit der Grenzen Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben. [...] V. Friedliche Regelung von Streitfällen Die Teilnehmerstaaten werden Streitfälle zwischen ihnen mit friedlichen Mitteln auf solche Weise regeln, dass der internationale Frieden und die internationale Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. [...] VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten Die Teilnehmerstaaten werden sich ungeachtet ihrer gegenseitigen Beziehungen jeder direkten oder indirekten, individuellen oder kollektiven Einmischung in die inneren oder äußeren Angelegenheiten enthalten, die in die innerstaatliche Zuständigkeit eines anderen Teilnehmerstaates fallen. [...] VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen. In diesem Rahmen werden die Teilnehmerstaaten die Freiheit des Individuums anerkennen und achten, sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion oder einer Überzeugung in Übereinstimmung mit dem, was sein Gewissen ihm gebietet, zu bekennen und sie auszuüben. [...] Auf dem Gebiet der Menschenrechte und Grundfreiheiten werden die Teilnehmerstaaten in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handeln. Sie werden ferner ihre Verpflichtungen erfüllen, wie diese festgelegt sind in den internationalen Erklärungen und Abkommen auf diesem Gebiet, so weit sie an sie gebunden sind, darunter auch in den Internationalen Konventionen über die Menschenrechte. [...] IX. Zusammenarbeit zwischen den Staaten Die Teilnehmerstaaten werden ihre Zusammenarbeit miteinander und mit allen Staaten in allen Bereichen gemäß den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen entwickeln. [...] Sie werden sich bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit als Gleiche bemühen, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen untereinander, internationalen Frieden, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit zu fördern. Sie werden sich gleichermaßen bemühen, bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit das Wohlergehen der Völker zu verbessern und zur Erfüllung ihrer Wünsche beizutragen, unter anderem durch die Vorteile, die sich aus größerer gegenseitiger Kenntnis sowie dem Fortschritt und den Leistungen im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen, sozialen, kulturellen und humanitären Bereich ergeben. Sie werden Schritte zur Förderung von Bedingungen unternehmen, die den Zugang aller zu diesen Vorteilen begünstigen; sie werden das Interesse aller berücksichtigen, insbesondere das Interesse der Entwicklungsländer in der ganzen Welt, Unterschiede im Stand der wirtschaftlichen Entwicklung zu verringern. [...] Der Text der vorliegenden Schlussakte wird in jedem Teilnehmerstaat veröffentlicht, der ihn so umfassend wie möglich verbreitet und bekannt macht. [...] Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit vom 1. August 1975 in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, Band 208, Drucksache 3867. Biermann hatte mit seinen Liedern die Regierenden bis zum Äußersten gereizt, die beobachten mussten, wie sehr seine Texte die Kritik multiplizierten. Aber auch die Aufmerksamkeit für den Liedermacher im Westen war für die SED-Führung unangenehm. Lieblingsthema der SED im ideologischen Streit um die Menschenrechte waren die Berufsverbote für Kommunisten in der Bundesrepublik. So traf sie der Vorwurf, selbst Berufsverbote zu verhängen, besonders hart. Als sich im Frühjahr 1976 eine Initiativgruppe "Freiheit der Meinung – Freiheit der Reise für Wolf Biermann, Wolf Biermann nach Bochum" an der Bochumer Universität bildete, die mehrere zehntausend Unterschriften sammeln konnte, auch von prominenten Politikern und Publizisten, kam die SED-Führung in eine schwierige Lage. Sie konnte die Einladung Biermanns für Konzerte, die teilweise im Rahmen eines Jugendmonats der IG Metall im November stattfinden sollten, nicht mehr wie in den Vorjahren ignorieren. Sie genehmigte die Reise. Am 13. November 1976 gab Biermann in der Kölner Sporthalle ein von Rundfunk und Fernsehen übertragenes Konzert. Die Erwartungen an dieses Konzert in Ost und West waren groß. Von Anfang an stand die Frage im Raum, ob Biermann wieder in die DDR zurückreisen durfte, war doch bekannt, dass die SED-Führung ihn loswerden wollte und ihm die Ausreise schon angeboten hatte. Aber es schien unwahrscheinlich, dass sich die SED mit einer Ausweisung, die als eine zynisch gestellte Falle erscheinen musste, vor der Weltöffentlichkeit bloßstellen würde. Doch die "verdorbenen Greise" im Politbüro, wie sie Biermann in einem seiner Lieder nannte, entschieden sich für die Ausweisung. Am 17. November verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN die Meldung: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen." (Komittee 1977, 87) Mit einer solchen Formulierung sollte suggeriert werden, dass der Liedermacher eigentlich ein Westdeutscher sei, dessen Aufenthalt in der DDR nun beendet würde. Am folgenden Tag legte Günter Kertzscher im Neuen Deutschland nach und stempelte ihn als Feind der DDR ab. [...] Doch dies verschlimmerte die Situation nur und ließ die gesamte Affäre zu einer schweren politischen Niederlage der SED werden, da Biermann eine breite Solidarisierung in Ost und West erfuhr. [...] Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Bonn 1997, S. 226 f. Wie es tatsächlich um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bestellt ist, illustriert die Episode des 64 Kilobit-Chips. 1981 teilte der zuständige Minister mit, dass die DDR gemeinsam mit der Sowjetunion an der Entwicklung des elektronischen Bausteins arbeite. 1984 sollte der Chip auf den Markt kommen. Im April 1986 wurde schließlich mitgeteilt, dass der technologische Durchbruch gelungen sei und der Chip tatsächlich produziert werde. Wie verheerend für die Wirtschaft der DDR diese durchaus üblichen Verzögerungen bei der Entwicklung und Produktion neuer Techniken sind, zeigt die Entwicklung des Preises für den 64 Kilobit-Chip. Als ihn die Japaner auf den Markt brachten, bekamen sie für jeden Chip 125 Dollar. Als die DDR damit herauskam, kostete er nur noch 30 Cent und war auf den Wühltischen von Elektronikläden zu haben. Die DDR ist in den vergangenen Jahren technisch vermutlich weiter zurückgefallen. Heute liegt sie etwa vier bis sieben Jahre hinter der Entwicklung der führenden westlichen Industriestaaten zurück – beim Tempo des technischen Wandels ein immenser Abstand, der nur bei Konzentration aller Kräfte auf die modernen Schlüsseltechniken aufzuholen ist. Peter Christ, "Mächtig stolz auf die eigene Leistung", in: Die Zeit Nr. 28 vom 4. Juli 1986. Ende August entdeckte ich im Einrichtungshaus unserer Stadt eine wunderschöne Wohnzimmerschrankwand Modell "Anklam" (4936,– Mark). Viel Geld auf den ersten Blick, aber sie sollte unsere Familie für den Rest des Lebens erfreuen, denn so bald kauft man keine neue Anbauwand. Und wir hatten Glück, für den Monat September konnte das Geschäft für zehn Schrankwände eine Vornotierung durchführen und wir wurden Nummer zehn. Nun begann die tägliche Nachfrage zwecks Lieferung, denn der genaue Termin konnte nicht festgelegt werden. Heute nun kam der Hammer, ich erhielt die Mitteilung, dass die Schrankwand nicht mehr geliefert werden kann. Sie würde nur noch für den Export und Genex gefertigt bzw. nach Berlin geliefert. Bei allem Respekt für die zu erbringenden oben genannten Lieferungen, aber auch wir in der Provinz möchten gern schön wohnen. Eingabe an das Büro Jarowinsky beim ZK der SED, Bundesarchiv SAPMO DY 30/37988. Der Staatssekretär für Kirchenfragen hatte der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen für den 7. April 1982 ein Sachgespräch zu Erläuterung des neuen Wehrdienstgesetzes und des Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR angeboten. Auf Wunsch der Konferenz wurden in dieses Gespräch die Belastungen einbezogen, die für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche durch die staatliche Entscheidung gegen das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen"* entstanden sind. Die Vertreter der Konferenz haben [...] folgende Positionen vertreten: Die Friedensbemühungen der DDR erübrigen nicht den kirchlichen Abrüstungsimpuls.Die Kirche betreibt eine eigenständige Friedensarbeit.Sie ist nicht einfach Verstärker der Außenpolitik des Staates. Die Konferenz hat unterstrichen, dass sie in der staatlichen Entscheidung gegen das Symbol der Friedensdekade eine Einschränkung des öffentlichen Zeugnisses der Kirche und eine Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit sehen muss. Sie hat unter Nennung einer Fülle konkreter Fälle dagegen Einspruch erhoben, dass das eigenständige christliche Friedenszeugnis als Bildung einer "unabhängigen Friedensbewegung" verdächtigt wird;dass das Tragen des Friedenssymbols "Schwerter zu Pflugscharen" als Bestreitung der Friedenspolitik der DDR und als Versuch der Schwächung der Verteidigungsbereitschaft angesehen wird;dass das Friedenssymbol als im Westen hergestellt und illegal in die DDR eingeführt ausgegeben wird;dass seitens der Sicherheitsorgane den Trägern dieses Symbols unterschiedslos missbräuchliche Absichten unterstellt und sie durch weithin unangemessene Maßnahmen kriminalisiert, in ihrer persönlichen Würde verletzt und in ihrem Vertrauen nachhaltig beeinträchtigt werden [...]. Die Konferenz hat ihre Betroffenheit darüber zum Ausdruck gebracht, dass bei Eingriffen keine klare Auskunft über die rechtliche Grundlage gegeben wird. * Das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" wurde mit der Gebetswoche, der Friedensdekade, 1981 eingeführt und auf einem bedruckten runden Stoffaufnäher ausgegeben, den bis zu 100.000 Menschen trugen. Die Staatsorgane verboten den Aufnäher und erzwangen häufig durch die Polizei seine Entfernung. Das Motiv war die stilisierte Wiedergabe des Bibelwortes Micha 4.3. nach einem Denkmal eines sowjetischen Künstlers. Konflikte um das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" (7. April 1981), in: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 396 f. Schreiben des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 22. Mai 1981 an das Ministerium für Volksbildung. Auf der Grundlage Ihres Schreibens [...] haben die Direktoren der Schulen mit allen Eltern, deren Kinder nicht am Wehrunterricht teilnehmen, Aussprachen geführt. Das sind in unserem Bezirk 59 Schüler aus 17 Kreisen und einem Stadtbezirk von Karl-Marx-Stadt. In sieben Kreisen und zwei Stadtbezirken von Karl-Marx-Stadt nehmen alle Schüler am Wehrunterricht teil. Die betreffenden Eltern wurden aktenkundig darüber belehrt, dass sie mit ihrer Entscheidung gegen die Schulpflichtbestimmungen und die Verfassung der DDR verstoßen. Die Reaktion der Eltern in diesen Gesprächen war unterschiedlich. In fünf Fällen konnte eine Änderung der Haltung zum Wehrunterricht erreicht werden. [...] Drei Eltern gestatteten ihren Kindern, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen, aber nicht am ZV-Lehrgang. [...] Drei weitere Eltern wollen ihre Entscheidung nochmals überdenken. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt aber noch keine neue Meinungsäußerung vor. 48 Eltern lehnen nach wie vor die Teilnahme ihrer Kinder am Wehrunterricht ab. Schreiben des Pfarrkonvents des Kirchenkreises Magdeburg vom 23. Juli 1986 an das Ministerium für Volksbildung. Vor einigen Tagen haben wir das neue "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten" im Buchhandel gekauft und gelesen. [...] Es ist uns aufgefallen, dass in allen Kindergartengruppen, im Bekanntwerden mit dem gesellschaftlichen Leben, ein klares Freund-Feind-Denken entwickelt werden soll.Es wird eindeutig auf unterschiedliche politische Lager bezogen ("die große Sowjetunion und andere sozialistische Länder unsere Freunde" und "Feinde, die uns Schaden zufügen wollen". Konkret: "Ausbeuter und Faschisten [...] wie zum Beispiel in der BRD").Es werden Kinderängste geweckt, indem ohne politische Notwendigkeit und ohne konkrete Differenzierung "Kinder [...] erfahren [sollen], dass es Menschen gibt, die unsere Feinde sind und gegen die wir kämpfen müssen, weil sie den Krieg wollen". [...]Wir empfinden es als fehlgeleitetes Spiel, wenn fünfjährige Kinder ausdrücklich [...] dazu angehalten werden [sollen], [...] Spielideen und -themen aus dem Bereich der "bewaffneten Organe" nachzugestalten. [...] Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 472 u. 479. Der "Berliner Appell" vom 25. Januar 1982 ist, wie Robert Havemann, der 1982 verstorbene Wortführer der sozialistischen Kritiker des SED-Staates, in einem Interview sagte, "in gewisser Weise ein Pendant zum Krefelder Appell der BRD". Der Aufruf stammt aus der Feder des evangelischen Pfarrers Rainer Eppelmann. Er wurde zunächst von 35 DDR-Bürgern unterzeichnet und im Westen veröffentlicht. Eine Unterschrift bedeutete in der DDR die bewusste Konfrontation mit den Staatsorganen und führte zu repressiven Maßnahmen – von der Überwachung durch die Staatssicherheit, dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Relegierung von der Schule oder der Universität bis zur Ausbürgerung. Wenn wir leben wollen, fort mit den Waffen! Und als Erstes: Fort mit den Atomwaffen! Ganz Europa muss zur atomwaffenfreien Zone werden. Wir schlagen vor: Verhandlungen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten über die Entfernung aller Atomwaffen aus Deutschland. Das geteilte Deutschland ist zur Aufmarschbasis der beiden großen Atommächte geworden. Wir schlagen vor, diese lebensgefährliche Konfrontation zu beenden. Die Siegermächte des 2. Weltkrieges müssen endlich die Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten schließen, wie es im Potsdamer Abkommen von 1945 beschlossen worden ist. Danach sollten die ehemaligen Alliierten ihre Besatzungstruppen aus Deutschland abziehen. [...] Wir schlagen vor, in einer Atmosphäre der Toleranz und der Anerkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung die große Aussprache über die Fragen des Friedens zu führen [...]. Wir wenden uns an die Öffentlichkeit und an unsere Regierung, über die folgenden Fragen zu beraten und zu entscheiden: Sollten wir nicht auf die Produktion, den Verkauf und die Einfuhr von so genanntem Kriegsspielzeug verzichten?Sollten wir nicht anstelle des Wehrkundeunterrichts an unseren Schulen einen Unterricht über Fragen des Friedens einführen?Sollten wir nicht anstelle des jetzigen Wehrersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer einen sozialen Friedensdienst zulassen?Sollten wir nicht auf alle Demonstrationen militärischer Machtmittel in der Öffentlichkeit verzichten und unsere staatlichen Feiern statt dessen dazu benutzen, den Friedenswillen des Volkes kundzutun? [...] Wolfgang Büscher u.a. (Hg.), Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982, Hattingen 1982, S. 246 ff. In der Nacht vom 24. zum 25. November wurde zwischen 0.00 Uhr und 2.30 Uhr die Umweltbibliothek des Friedens- und Umweltkreises der Zionskirchgemeinde von etwa 20 Mitarbeitern des Generalstaatsanwalts der DDR und des Ministeriums für Staatssicherheit durchsucht. Unter Berufung auf eine anonyme Anzeige gegen die Umweltbibliothek, deren Inhalt nicht bekannt wurde, und unter Auslassung der konkreten Rechtsgrundlagen drangen Einsatzkräfte in die Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers, Herrn Simon, ein. Es wurden sieben Personen festgenommen, Vervielfältigungsgeräte, Matrizen und Schriftmaterial beschlagnahmt. [...] Die Räume der Umweltbibliothek gehören zur Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers. Das Beschlagnahmeprotokoll wurde vom beauftragten Staatsanwalt nicht unterschrieben. Diese Vorgänge stellen einen eklatanten Rechtsbruch dar. Wir sehen in dieser Aktion gegen die Umweltbibliothek einen Angriff auf alle Gruppen der Unabhängigen Friedensbewegung, auf die Ökologie- und Menschenrechtsgruppen. In der Zionskirche begann am 3. September dieses Jahres die 1. unabhängige Demonstration der Basisgruppen. [...] Diese anscheinend hoffnungsvolle Entwicklung, die der DDR auch international gut zu Gesicht stand, wurde durch die jüngsten Vorgänge in Frage gestellt. Während sich gestern in Genf die Außenminister der UdSSR und der USA auf ein wichtiges Abrüstungsabkommen einigten, bereiteten in der DDR die Vertreter des harten Kurses nach altem Muster einen Angriff auf die Friedensbewegung vor. Dies war der vorläufige Höhepunkt eines zunehmenden Drucks auf politisch Engagierte nach dem Honecker-Besuch in der BRD. Wir fordern: Die unverzügliche Freilassung der Festgenommenen;Die Offenlegung der Verdachtsgründe;Die sofortige vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Umweltbibliothek;Die Einstellung jeglicher Repressionen gegen politisch Engagierte. [...] Die Umweltbibliothek, Kirche von unten, Initiative Frieden und Menschenrechte, Friedenskreis Friedrichsfelde, Frauen für den Frieden, Gegenstimmen, Glieder der Zionsgemeinde, Solidarische Kirche Öffentliche Erklärung vom 25. November 1987, in: Dokumenta Zion. Dokumentationsgruppe der Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde, Dezember 1987, Ormigabzug, Samisdat.
Article
Günther Heydemann
"2021-12-22T00:00:00"
"2011-11-29T00:00:00"
"2021-12-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43675/entwicklung-in-der-ddr-bis-ende-der-80er-jahre/
Mit dem Amtsantritt Erich Honneckers 1971 vollzog sich in der DDR nicht nur ein Macht-, sondern auch ein Generationswechsel. Der Autor gibt einen Überblick über die Entwicklung bis zum Ende der achtziger Jahre, über Innen- und Außenpolitik, die ökono
[ "DDR", "Erich Honecker", "Wohnungsbau", "Plattenbau", "Walter Ulbricht", "Deutschland" ]
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Kriminalitätsfurcht | Innere Sicherheit | bpb.de
Soziale und personale Kriminalitätsfurcht Kriminalitätsfurcht bezeichnet das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen. Diese Furcht ist grundlegend in zwei Formen zu unterscheiden: Die soziale Kriminalitätsfurcht richtet sich auf die Wahrnehmung von Bedrohungen des Gemeinwesens und kann sich in Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zu Strafe, dem Strafsystem und Institutionen der strafrechtlichen Kontrolle widerspiegeln. Sie erfasst, in welchem Ausmaß sich die Bürgerinnen und Bürger Sorgen über die Entwicklung der inneren Sicherheit und der Kriminalität im Allgemeinen machen. Die personale Kriminalitätsfurcht hingegen bezeichnet die individuellen Befürchtungen der Bürgerinnen und Bürger, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Hier soll also erfasst werden, in welchem Ausmaß sich der Einzelne durch Kriminalität bedroht fühlt . Dabei werden drei Elemente der personalen Kriminalitätsfurcht zusammengefasst: die emotionale Reaktion auf antizipierte, als bedrohlich empfundene kriminelle Ereignisse (affektiv), die Einschätzung des persönlichen Risikos, Opfer einer Straftat zu werden (Viktimisierungsangst) (kognitiv) und das Verhalten zur Vermeidung oder zum Schutz vor Kriminalität (konativ). Vor allem die erlebte persönliche Unsicherheit kann die Lebensqualität senken, zu einem Rückzug der Bürgerinnen und Bürger aus öffentlichen Räumen führen und damit die informelle Sozialkontrolle verringern . Politische, polizeiliche und soziale Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der subjektiven Sicherheit der Bürger abzielen, sind demnach sinnvoll, wenn übersteigerte Viktimisierungsängste zu realistischen Risikoeinschätzungen reduziert werden können. Ein absolutes Gefühl der Sicherheit kann jedoch niemals erreicht werden. Es ist wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger ein Furchtniveau erreichen, das dem tatsächlichen Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, angemessen ist . Messprobleme Die Erfassung von Kriminalitätsfurcht ist methodenabhängig und auf vielfältige Weise möglich. So überschätzt der weit verbreitete Standardindikator, der mit nur einer Frage das individuelle Sicherheitsempfinden erhebt ("Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit allein in Ihrer Wohngegend unterwegs sind?"), die tatsächliche personale Kriminalitätsfurcht generell als auch für bestimmte Teilgruppen wie Ältere und Frauen . Weitere Kritiken betreffen den fehlenden expliziten Bezug zu Kriminalität, den immer wieder nur hypothetischen Bezug auf Simulationen von Abläufen oder vorgestellten Situationen als auch das uneinheitliche Verwenden verschiedener Antwortformat (Häufigkeitsabfragen, Intensität des Furchtgefühls, Rangbewertungen). Um diese Messprobleme abzumildern wird empfohlen, Kriminalitätsfurcht deliktspezifisch zu erfassen und z.B. auf Einbruch, Raub, sexuelle Übergriffe etc. zu beziehen. Auch bei der Erhebung der sozialen Kriminalitätsfurcht zeigt sich die teilweise Abhängigkeit der Ergebnisse von der Messmethode. So wird Kriminalität häufiger als wichtiges politisches Problem angesehen, wenn es auf einer Liste mit anderen Problembereichen zur Bewertung vorgegeben wird. Ist das Antwortformat offen und sollen die wichtigsten Problembereiche der Politik durch die Befragten selbst frei genannt werden, reduziert sich die wahrgenommene Wichtigkeit von Kriminalität als gesellschaftliches Problem bedeutsam . Kriminalitätsfurcht in Deutschland auf historischem Tiefstand Nach Angaben des zweiten periodischen Sicherheitsberichts des Bundesinnenministeriums aus dem Jahre 2006 nimmt die Kriminalitätsfurcht in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre stetig ab und erreicht aktuell einen historischen Tiefstand seit der Wiedervereinigung. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich zunehmend sicherer. Sowohl die soziale als auch die personale Kriminalitätsfurcht in Deutschland liegen im Vergleich unter dem europäischen Durchschnitt. Nach den Ergebnissen internationaler Studien ist Deutschland hinsichtlich der Risikoeinschätzung in der Bevölkerung, selbst Opfer einer Straftat zu werden, eines der sichersten Länder Europas . Anstelle der Kriminalität rücken andere Sorgen wie Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung und die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung in den Vordergrund. Diese erreichen jedoch nur teilweise das Niveau der Kriminalitätsfurcht. Eine aktuelle Studie des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekts "Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt" kann das hohe subjektive Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bestätigen. Bei der Befragung von knapp 4.000 Menschen zeigte sich, dass sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sowohl tagsüber als auch nachts sicher fühlt. Die Befragten gaben jedoch ein leicht reduziertes Sicherheitsgefühl in der Nacht gegenüber dem Sicherheitsgefühl am Tag an (Abbildung 1). Bei der deliktspezifischen Auswertung der Kriminalitätsfurcht stellte sich zudem heraus, dass die Befragten vor keiner speziellen Straftat Angst haben (Abbildung 2, Bornewasser & Köhn, 2010). Wie entsteht Kriminalitätsfurcht? Das gesellschaftliche Phänomen der Kriminalitätsfurcht ist komplex; bei seiner Erklärung sind vielfältige Ursachen zu berücksichtigen. Verschiedene Theorien haben aus unterschiedlichen Perspektiven versucht, das Entstehen von Kriminalitätsfurcht zu erforschen. Gegenwärtig lassen sich drei Erklärungsansätze auf der Individualebene (Mikroebene), im Nachbarschaftskontext (Mesoebene) und auf der gesellschaftlichen Ebene (Makroebene) unterscheiden. Opfer haben größere Kriminalitätsfurcht Die auf der Individualebene verankerte Viktimisierungstheorie beruht auf der Annahme, dass Kriminalitätsfurcht in der persönlichen Opferwerdung begründet ist. Im Mittelpunkt stehen das Opfer und seine Angst- sowie Verhaltensreaktionen. Nach dieser Theorie entwickeln Menschen, die selbst Opfer einer Straftat geworden sind, eine höhere Kriminalitätsfurcht als Nicht-Opfer. Betroffene Personen werden daher versuchen, ähnlichen Erlebnissen durch Schutz- und Vermeidungsverhalten vorzubeugen . Auf der Grundlage von empirischen Studien sind die Effekte der indirekten Opferwerdung (hier wird eine nahe stehende Person Opfer einer Straftat) besser belegt als die der direkten Opferwerdung. Studien differenzierten ferner auf der Seite der abhängigen Variable zwischen den verschiedenen Dimensionen des subjektiven Sicherheitsempfindens und rückten somit die kognitive und die konative Komponente der personalen Kriminalitätsfurcht in den Vordergrund. Auf diesem Weg konnten starke Zusammenhänge zwischen Opfererfahrungen und der Einschätzung des persönlichen Viktimisierungsrisikos sowie der Beurteilung der Kriminalitätsentwicklung im direkten Wohnumfeld nachgewiesen werden . Es zeigte sich, dass Opfer von Kriminalität die Wahrscheinlichkeit wieder Opfer einer Straftat zu werden, höher einschätzten und auch angaben, dass ihrer Meinung nach die Kriminalität in ihrem Wohngebiet gestiegen ist . Ein weiterer Faktor, der zur Erklärung von Kriminalitätsfurcht herangezogen wird, ist die subjektive Einschätzung der persönlichen Verletzbarkeit (Vulnerabilität). Sie geht einher mit als gering wahrgenommenen körperlichen Abwehrfähigkeiten, vorhandenen Einschränkungen und Behinderungen sowie niedrigem Selbstvertrauen. Hierbei fokussiert die Verletzbarkeitshypothese eher die subjektiv wahrgenommene Selbsteinschätzung als die tatsächlich vorhandene Fähigkeit, sich in einer gefährlichen Situation verteidigen zu können . Nehmen Menschen aufgrund ihres Alter, ihres Geschlechts, ihrer körperlichen Kondition oder als gering wahrgenommenen Bewältigungsfähigkeiten an, dass sie in hohem Maße verletzbar sind, so geben sie eine höhere Kriminalitätsfurcht an. Diese Annahme konnte durch mehrere Studien empirisch bestätigt werden und wird zur Erklärung des Kriminalität-Furcht-Paradoxons herangezogen, dem zufolge vor allem die Personengruppen − Frauen und Ältere −, die statistisch ein geringes Viktimisierungsrisiko aufweisen, die höchste Kriminalitätsfurcht angeben. Kriminalitätsfurcht als Folge fehlender sozialer Kontrolle im Stadtteil Auf der Mesoebene wird versucht, Ursachen für Kriminalitätsfurcht mit dem Verlust der sozialen Kontrolle innerhalb eines Stadtteils zu begründen. Grundannahme der Theorie der sozialen Kontrolle ist, dass Desorganisation in einem Wohngebiet (Graffitis, zerstörte Telefonzellen, herumliegender Müll und leer stehende, verfallende Häuser) sowohl das Ausmaß der Kriminalität erhöht als auch die Anwohner verunsichert . Anzeichen von Verwahrlosung wie zerbrochene Fensterscheiben dienen den Bürgerinnen und Bürgern als Hinweis, dass die soziale Ordnung im Wohngebiet gefährdet und die eigenen Kontrollmöglichkeiten gering sind (Broken-Windows-These) . Subjektiv macht sich dieser Zustand bei den Bürgerinnen und Bürgern durch erhöhte Kriminalitätsfurcht bemerkbar. Als Reaktion darauf wurde versucht, die Kriminalitätsfurcht durch Videoüberwachung in Städten zu reduzieren; diese Maßnahme brachte jedoch keinen Erfolg . So zeigte Bornewasser in seiner Studie in verschiedenen Städten Brandenburgs, dass durch Videoüberwachung zwar ein Rückgang an Kriminalität zu verzeichnen ist (für Diebstahl und Sachbeschädigung; nicht für Rohheitsdelikte wie Körperverletzung und Raub), jedoch keine Reduzierung der Kriminalitätsfurcht erzielt werden konnte. Kriminalitätsfurcht als Ausdruck allgemeiner Verunsicherung Auf der Makroebene geht die Theorie der sozialen Probleme davon aus, dass der Kriminalitätsfurcht Unsicherheiten und Ängste zugrundeliegen, die ihre Ursachen in anderen Bereichen haben: Wahrgenommene Probleme im sozialen oder politischen Bereich zeigen sich demnach in erhöhter Kriminalitätsfurcht. Kriminalitätsfurcht ist somit Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung . Im Rahmen dieser Theorie wurde auch geprüft, inwieweit die Kriminalitätsberichterstattung in den Medien zu einer verzerrten Wahrnehmung des tatsächlichen Kriminalitätsgeschehens beiträgt. Der Bürger entwickelt seine Vorstellungen über Kriminalität selten aufgrund persönlicher Erfahrung, da statistisch gesehen nur eine Minderheit Opfer von Straftaten wird. Vielmehr ist es so, dass sich der Bürger zur Konstruktion seiner Wirklichkeit auf die Medien verlässt, und diese berichten oft über Kriminalität . Medien tragen jedoch durch die Art, das Ausmaß und die Platzierung von Kriminalitätsberichten zu einem stark verzerrten Kriminalitätsbewusstsein der Bürger bei . In überregionalen Darstellungen von Kriminalität, sei es im Fernsehen, in Zeitungen oder in Zeitschriften kommt es häufig zu einer Überrepräsentation von Gewaltdelikten, die in der Realität einen sehr geringen Anteil an der Polizeilichen Kriminalstatistik ausmachen und zu einer Unterrepräsentation von Diebstahldelikten, obwohl diese zu der Mehrzahl aller Straftaten zählen. Bei der regionalen Berichterstattung hingegen "normalisiert" sich das dargestellte Bild der Kriminalitätsbedrohung . Die bisherigen Forschungsergebnisse können eine direkte Auswirkung der medialen Berichterstattung auf die Kriminalitätsfurcht jedoch nicht abschließend bestätigen. Eine Verstärkerfunktion der Medien ist jedoch wahrscheinlich. Es wird vermutet, dass bei der Darstellung von Kriminalität in den Medien der Effekt der indirekten Viktimisierung einsetzt, da sich der Zuschauer mit den Opfern in Kriminalitätsberichterstattungen identifizieren kann. Legt man die Wirkung der indirekten Viktimisierung dem Einfluss der Medien zugrunde, so muss auch angenommen werden, dass sich die Wirkung von Medienberichten ebenso wie die der indirekten Opferwerdung auf die kognitive und konative Dimension der personalen Kriminalitätseinstellungen auswirkt . Dies erklärt unter Umständen auch die fehlenden empirischen Nachweise einer Verbindung von Kriminalitätsberichterstattung in den Medien und der Ausprägung von Kriminalitätsfurcht als affektive Dimension der Kriminalitätsfurcht. Maßnahmen zur Verbesserung des Sicherheitsempfindens Die Fülle an Erklärungsansätzen und die uneinheitliche Forschungslage machen es schwierig, klare Maßnahmen zur Verbesserung des subjektiven Sicherheitsempfindens zu empfehlen. Folgende Maßnahmen können eine Grundlage für gelingende Prävention schaffen: Eine differenzierte Forschung, die sich auf konkrete Situationen bezieht, in denen bestimmte Straftaten begangen werden, eine schnelle und bessere Erfassung von Kriminalität (Rapid Assessment) ; städtebauliche Prävention mit dem Ziel, Plätze und Straßen so zu gestalten, dass es kein Vermeidungsverhalten gibt (z.B. beleuchtete Straßen, Fluchtmöglichkeiten, verbesserte Überschaubarkeit von Örtlichkeiten) . Ziel der Forschung ist es im Wesentlichen eine sichere Vorhersage über Entstehungsbedingungen und Ausmaß der Kriminalitätsfurcht bei den Bürgerinnen und Bürgern treffen zu können. Aus den Erkenntnissen sollen dann sinnvolle Sicherheitsmaßnahmen abgeleitet werden. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig zu wissen, welche Faktoren das subjektive Sicherheitsempfinden bzw. die Kriminalitätsfurcht beeinflussen. Eine nach Straftaten differenzierte Forschung scheint erfolgversprechend. So könnte man sich beispielsweise darauf konzentrieren, die Furcht vor Rohheitsdelikten im öffentlichen Raum zu untersuchen. Dies würde dann die Entstehung, die reale und wahrgenommene Auftretenswahrscheinlichkeit, das daraus resultierten Schutz- und Vermeidungsverhalten sowie die Auswirkung auf die Ausprägung der Kriminalitätsfurcht der Bürger für Rohheitsdelikte im Speziellen umfassen. Bei diesem Vorgehen kommt es zu Einschränkungen hinsichtlich des Gültigkeitsbereichs der Vorhersage von Kriminalitätsfurcht im Allgemeinen, da sich die Untersuchungsergebnisse nur noch auf die einzeln erhobene Straftat beziehen. Die Vorhersage wird jedoch aufgrund der Differenzierung genauer. Eine schnelle und genauere Datenerfassung kann zudem helfen, sich an wandelnde Strukturaspekte von Kriminalität (z.B. demografiebedingt, regional, deliktisch) anzupassen. Die Methode des Rapid Assessment kann gegenüber den kosten- und zeitaufwendigen kriminologischen Regionalanalysen innerhalb weniger Wochen Ergebnisse erzielen. Die Ergebnisse können dann für Planung, Monitoring und Evaluation von Sicherheits- und Präventionsmaßnahmen eingesetzt werden. Weitere wichtige Faktoren sind die Ausrichtung der Maßnahmen an den Sicherheitsbedürfnissen verschiedener Personengruppen (Männer und Frauen, Junge und Alte) und die Entdramatisierung von Kriminalitätsrisiken in den Medien bei gleichzeitiger Kommunikation von Fortschritten bei der Kriminalitätsbekämpfung. vgl. Boers, K. (1991): Kriminalitätsfurcht – Über den Entstehungszusammenhang und die Folgen eines sozialen Problems. Pfaffenweiler. Gabriel, U. & Greve W. (2003): The Psychology of Fear of Crime: Conceptual and Methodological Perspective. British Journal of Criminology. 43. 600-614. vgl. Boers (1991) Görgen, T. (2011): Subjektives Sicherheitsempfinden als Handlungsmaxime? Vortrag auf der Meilensteinkonferenz des BMBF-geförderten Projekts "Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt" 13./14.Juli 2011. Münster. vgl. Greve, W., Hosser, D. & Wetzels, P. (1996): Bedrohung durch Kriminalität im Alter. Baden Baden; Sutton, R. M. & Farrall, S. (2005): Gender, Socially Desirable Responding and the Fear of Crime. Are Women Really More Anxious about Crime? British Journal of Criminology. 45. 212–224. Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz (Hg.) (2006): Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht. Berlin. Eurobarometer (http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.html), Angststudie der R+V Versicherung (http://www.ruv.de/de/presse/r_v_infocenter/studien/aengste-der-deutschen.jsp) vgl. Boers (1991) ebd. Hough, 1985; Kerner, 1980, Winkel, 1998 Bals, N. (2004): Kriminalität als Stress – Bedingungen der Entstehung von Kriminalitätsfurcht. Soziale Probleme. 15 (1). 54-76. Lewis, D. A. & Salem, G. (1986): Fear of Crime: Incivility and the Production of a Social Problem. New Brunswick. nach Wilson, J., Q. & Kelling, G., L. (1982): The Police and the Neighbourhood Safety: Broken Windows. The Atlantic Monthly. 3. 29-39. Bornewasser, M. (2010). Was weiß man über die Wirksamkeit der Videoüberwachung im öffentlichen Raum? Ergebnisse der kriminologischen Evaluationsforschung. In Schwarzenegger, C. & Müller, J. (Hrsg.), Drittes Zürcher Präventionsforum – Videoüberwachung als Prävention? Zürich, 21.04.2010. Zürich. Hirtenlehner, H. (2006): Kriminalitätsfurcht – Ergebnis unzureichender Coping-Ressourcen? Monatschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. 89 (1). 1-23. Reuband, K.-H. (1998): Kriminalität in den Medien: Erscheinungsformen, Nutzungsstruktur und Auswirkungen auf die Kriminalitätsfurcht, in Soziale Probleme, 9 (2): 1998, S. 125 - 153. vgl. Boers (1991) vgl. Ostermann (1985), S. 150 vgl. Boers (1991) Beebe, J. (1995): Basic Concepts and Techniques of Rapid Appraisal. Human Organization. 54 (1). 42-51. Bornewasser, M., Weitemeier, I. & Dinkel, R. (2008). Demografie und Kriminalität: Eine Prognose zur Kriminalitätsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern. Frankfurt am Main Görgen, T. (2011). Subjektives Sicherheitsempfinden als Handlungsmaxime? Vortrag auf der Meilensteinkonferenz des BMBF-geförderten Projekts "Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt" 13./14.Juli 2011. Münster.
Article
Anne Köhn / Manfred Bornewasser
"2022-02-11T00:00:00"
"2012-03-09T00:00:00"
"2022-02-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/innere-sicherheit/dossier-innere-sicherheit/76648/kriminalitaetsfurcht/
In Deutschland nimmt die Kriminalitätsfurcht seit vielen Jahren ab. Dennoch gibt es zahlreiche Überlegungen, wie das subjektive Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung verbessert werden kann.
[ "Sicherheit", "innere Sicherheit", "Kriminalität", "Politik", "Innenpolitik", "Freiheit", "Verbrechen", "Überwachung", "Überwachungsstaat", "Bundesrepublik Deutschland" ]
446
Modul "Wie zeigt sich Antisemitismus?" | Bewegtbild und politische Bildung | bpb.de
Antisemitismus ist mehr als nur ein Problem von Neonazis: Antisemitische Haltungen finden sich in vielen gesellschaftlichen Milieus und reichen bis in die Populärkultur hinein. In diesem Unterrichtsmodul geht es darum, Jugendliche auf Phänomene und Folgen von Antisemitismus aufmerksam zu machen und ihre Urteilskraft und Handlungskompetenz gegenüber antisemitischen Vorurteilen zu stärken. Zum Download: Interner Link: Modul 'Antisemitismus' - als PDF zum Ausdrucken
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2016-08-16T00:00:00"
"2016-08-03T00:00:00"
"2016-08-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/tv-formate/zeit-fuer-helden/232038/modul-wie-zeigt-sich-antisemitismus/
Antisemitismus ist mehr als nur ein Problem von Neonazis: Antisemitische Haltungen finden sich in vielen gesellschaftlichen Milieus und reichen bis in die Populärkultur hinein. Im Unterrichtsmodul geht es darum, Jugendliche auf Antisemitismus aufmerk
[ "Zeit für Helden" ]
447
Glossar | Digitalisierung | bpb.de
Agenda Setting das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird Algorithmus eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Anthropomorphismus Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden Bandbreite auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann Big Data große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken binär Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. Black-Hat-Hackerin /-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen Bring your own Device (BYOD) bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen Chatbot technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Client-Server-Kommunikation Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. Cloud IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden Crowdworkerinnen/-worker selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien Cyberkrieg kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Cyberkriminalität Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden Cybersicherheit auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit Cyberspionage das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen Darknet nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Datenhoheit Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. digital divide auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren digital literacy / Medien- und Digitalkompetenz Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen DDoS-Attacke Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt Doxing das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen E-Government Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Feed Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites Filterblase auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Gig-Economy Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Hack / Hacking Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren Hackathon leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen Hackerin / Hacker ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Hardware Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. Hassrede, Online-Hassrede auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Homeschooling Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden HTTP (Hypertext Transfer Protocol) Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden Hybride Kriegsführung feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen Industrie 4.0 verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Influencerin und Influencer Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. interaktives Whiteboard weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht Intermediäre auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. Internet der Dinge auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen Internet Governance im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. Internet Protocol (IP) weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. Internet Service Provider (ISPs) auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind IT-Forensik Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Kritische Infrastruktur Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Künstliche Intelligenz (KI) Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. Malware schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Marktortprinzip Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Medienpädagogik Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Microtargeting Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden MOOC Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Open Educational Resources Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen PC, Desktop-PC, Personal Computer (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen Peer-to-Peer (P2P)-Kommunikation kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind personenbezogene Daten Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen Phishing E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Picker Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Plattformökonomie Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht Quantified Self auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Robotik Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Scoring Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Server Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Sharing-Economy Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Smart Cities Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Smart Objects Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Smartwatches Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen Social Bot (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Social Web Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Software Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Stakeholder Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist Streaming gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Technikdeterminismus Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Tracking Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden Trojaner heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Überwachungskapitalismus Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden Wearables technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Whistleblower Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken White-Hat-Hackerin/-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können World Wide Web über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Zivilcourage, digitale Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-12T00:00:00"
"2020-11-16T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/digitalisierung-344/digitalisierung-344/318924/glossar/
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[ "IZPB", "Digitalisierung" ]
448
Vor 50 Jahren: Watergate-Affäre | bpb.de
Guten Morgen! Heute vor 50 Jahren, am 17. Juni 1972, begann die Watergate-Affäre – und stürzte die US-amerikanische Demokratie in eine schwere Krise. Rückblick Juni 1972: In den USA geht gerade der US-Präsidentschaftswahlkampf in seine heiße Phase (Wahl im November 1972). Für die Republikaner tritt der amtierende US-Präsident Richard M. Nixon an. Die Demokraten nominieren einen Monat später Senator George McGovern. 17. Juni 1972: Fünf Männer brechen in das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäude in Washington D.C. ein. Das Ziel: Kompromittierende Informationen gegen den politischen Gegner sammeln. Ihr Einbruch Wochen zuvor war unbemerkt geblieben. Diesmal werden sie festgenommen, während sie eine Abhörwanze austauschen und sensible Dokumente abfotografieren. Aufdeckung Nixon verharmlost die Tat und bestreitet, davon gewusst zu haben. Die US-Präsidentschaftswahl im November gewinnt er deutlich gegen McGovern. (520:17 Wahlleute) Aber: Durch mediale Enthüllungen, Anhörungen vor dem Senat und Abgeordnetenhaus sowie Gerichtsverhandlungen werden immer mehr Details über die Einbrüche und die Rolle Nixons bekannt. 1974 werden auf richterliche Anordnung Tonbandmittschnitte aus dem Oval Office freigegeben, aus denen hervorgeht, dass Nixon versuchte, die Ermittlungen zu vereiteln. Rücktritt Im August 1974 tritt Nixon als bisher einziger US-Präsident zurück, auch um einer möglichen Amtsenthebung (Impeachment) zuvor zu kommen. Die zwei Investigativ-Journalisten der Washington Post, die maßgeblich an der Aufdeckung des Skandals mitgewirkt haben, werden mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Das Suffix "gate" steht seitdem für politische Skandale, Korruption und Vertuschung. ➡️ Mehr zu den Ereignissen damals und ihren Folgen liest du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1153 Viele Grüße Deine bpb Online-Redaktion
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-01-30T00:00:00"
"2022-06-17T00:00:00"
"2023-01-30T00:00:00"
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Heute vor 50 Jahren, am 17. Juni 1972, begann die Watergate-Affäre – und stürzte die US-amerikanische Demokratie in eine schwere Krise.
[ "Deine tägliche Dosis Politik", "Watergate-Skandal", "Richard Nixon", "Rücktritt", "Impeachment" ]
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Podcast: Netz aus Lügen – Die Briefwahl (2/8) | Digitale Desinformation | bpb.de
Interner Link: 00:00 – Einstieg – die Panne der ARD Interner Link: 03:00 – Um was geht es in der zweiten Folge? Interner Link: 06:05 – Vorwurf der Briefwahl-Manipulation bei der Landtagswahl Sachsen-Anhalt Interner Link: 10:47 – Strafverfolgen bei Wahlbetrug Interner Link: 15:31 – Die Arbeit von Fact-Checkerinnen und Fact-Checkern Interner Link: 19:27 – Unterschied zwischen Verschwörungsmythen und Desinformation Interner Link: 22:50 – Welche Rolle spielt der "Cognitive Bias" bei der Wirkungsmacht von Faktenchecks? Interner Link: 26:35 – Was hat Desinformation mit gesellschaftspolitischen Fragen zu tun? Interner Link: 32:59 – Ausblick Folge 3 Podcast Abonnieren Jetzt auch anhören bei Externer Link: Apple Podcasts, Externer Link: Amazon Music, Externer Link: Deezer, Externer Link: Spotify und bei Externer Link: YouTube. Transkript von "Netz aus Lügen – Die Briefwahl (2/7)" [00:00] Es ist der 24. September 2021. Der Freitag vor der Bundestagswahl. Ein langer Wahlkampf liegt beinahe hinter uns. In den letzten Monaten ging es um Laschets Lacher, Baerbocks Buch, Scholz’ Staatsanwaltschaftsbesuch. Irgendwann ging es nicht mehr darum, wirklich noch über Politik zu diskutieren, sondern sich gegenseitig Phrasen um die Ohren zu hauen, die über Monate auf den Marktplätzen der Republik geschliffen wurden. Aber jetzt, am Freitag vor der Wahl, ist das meiste vorbei. Da passiert der ARD eine sehr peinliche Panne. In der Freitagsausgabe von "Gefragt Gejagt” will Showmaster Alexander Bommes gerade herausfinden, wie viele Punkte die beiden Kandidatinnen erreichen können. Es geht hagelt Fragen um Schnittbohnen, Pyramiden und Klassiker des Deutschunterrichts. Zuspieler (ZSP) "Gefragt Gejagt" Und dann läuft unten ein Texteinblendung durch. "Bundestagswahl Hochrechnung 17:46 Uhr Union 22,1 % SPD 22,7 % AfD 10,5%”. Die Einblendung ist nur ein paar Sekunden zu sehen und trotzdem sofort im Internet. Schließlich ist "Gefragt Gejagt” auch eine der erfolgreichsten Sendungen im Ersten, laut Fernsehquoten sahen 2,36 Millionen Menschen zu. Sofort geht die Mär vom Wahlbetrug um. Auf Twitter sind Sätze zu lesen wie: ZSP "Daran sieht man doch, dass die Wahl gefälscht ist. Diesen linksgrünen Medien, traue ich keinen Millimeter." Das Erste stellt inzwischen auf Twitter klar - alles halb so wild. Hier ging nur ein Test für die Wahlsendung am Sonntag versehentlich live. Die Ergebnisse der Parteien sind frei erfunden. Vermutlich hätte diese Panne vor zehn Jahren niemanden interessiert. Sie wäre getwittert worden, mit einem ironischen Kommentar versehen worden, à la "Na, wissen die schon mehr als ich?” Aber niemand hätte ernsthaft geglaubt, dass die ARD am Freitagabend schon die Ergebnisse der Wahl vom Sonntag hat. Heute ist das anders. In einschlägigen Facebook-Gruppen oder Youtube-Channels geht es seit Monaten um kaum etwas anderes als Wahlmanipulation. Wahlbetrug. Angst vor der Briefwahl. Und diese Angst, verändert unser Verhältnis zu politischen Institutionen. ZSP Jaursch "Und da ist, glaube ich mittlerweile in den vergangenen drei bis vier Jahren zumindest aus meiner Sicht die Erkenntnis gereift, dass Plattformen nicht der Grund oder der Auslöser sind für Desinformation. Die gab es doch schon vorher. Desinformation gab es in der Zeitung, die gab es in Büchern, die gab's im Fernsehen. Aber dass wir eben aufgrund der riesengroßen Reichweite, der Schnelligkeit, der algorithmischen Verbreitung von Nachrichten, von Informationen, von Content im Netz, dass wir dadurch halt einfach Desinformation auf einem ganz anderen Niveau haben, in einem ganz anderen quantitativen und qualitativen Umfang und damit umzugehen, das ist, glaube ich, eine der der großen Fragen." Jingle: "Netz aus Lügen - Die globale Macht der Desinformation" - ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 2 – Die Briefwahl Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und ihr hört "Netz aus Lügen”. Wichtig, bei uns bauen alle Folgen aufeinander auf - wenn ihr also die erste Folge noch nicht gehört habt, drückt kurz auf Stopp und hört sie. Denn wir machen nahtlos weiter. In der letzten Folge haben wir über die Gefahr aus dem Ausland gesprochen - genauer über die Operation "Ghostwriter”, von der inzwischen auch das Auswärtige Amt sagt: Russland versucht die Accounts von Politikern und Politikerinnen zu hacken. Kleines Update dazu: Nachdem zuletzt die deutsche Regierung deutlich gegen Russland wurde, stimmt jetzt auch die Europäische Union mit ein. Sie fordert Russland dazu auf, sich an die Regeln eines verantwortungsvollen Verhaltens im Cyberspace zu halten. Über weitere Schritte werde nun nachgedacht. Aber so viel zu Desinformation aus dem Ausland. [03:00] In dieser Folge soll es um Desinformation aus dem Inland gehen. Denn auch ohne Eingriff aus dem Ausland gibt es hier sehr viele Lügen im Netz. Als Beispiel haben wir dafür eine Falschbehauptung herausgesucht, die im Vorfeld der Wahl, immer wieder zu hören war: Die Briefwahl sei nicht sicher. Ein Angriff auf die politische Institution. Und nachdem wir erklärt haben, wieso das nicht stimmt, gehen wir eine Ebene tiefer. Wie kann es eigentlich sein, dass wir jeden Tag mit so viel Desinformation konfrontiert sind, dass jeden Tag so viel Quatsch ins Internet geschrieben wird? Und warum glauben das so viele Menschen? PAUSE ZSP Thiel "Erlauben Sie uns zum Schluss noch einen Satz zur Briefwahl." Das ist Georg Thiel, der Bundeswahlleiter. ZSP Thiel "Die Briefwahl gibt es seit 1957 und es hat seit all den Jahren keinen Hinweis auf großflächige Manipulationen gegeben, die auch im Entferntesten in den Bereich hineingekommen wären, wo die Wahl nicht sicher und valide abgelaufen wäre. Es ist so, dass die Wahl, dass die Urnen für die Briefwahl genauso behandelt werden wie die Urnen für die normale Urnenwahl. Da geht häufig durchs Netz: Das würde unterschiedlich behandelt, das wäre nicht transparent. Nein, das ist nicht so." Die Tonaufnahmen stammen übrigens aus derselben Pressekonferenz Anfang Juli, die wir schon in der ersten Folge gehört haben. Der Innenminister, der Verfassungsschutzpräsident, der Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik und eben der Bundeswahlleiter - die vier Männer haben diese Pressekonferenz einberufen, um zu versichern: Die Sicherheit der Bundestagswahl ist nicht gefährdet. Weder von außen noch von innen. Dass Georg Thiel von der Briefwahl spricht, hat zwei Gründe: zum einen ist da die pandemische Lage. ZSP Thiel "Wir stellen uns selbstverständlich darauf ein, dass angesichts der jetzt wieder neu sich abzeichnenden Pandemie-Lage die Briefwahl-Beteiligung steigen wird. Aber wir haben das gut bei den Landtagswahlen die Kollegen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gut gemanagt, dass sie fast verdoppelte Zahlen hinbekommen haben, das zu managen. Und da gehen wir davon aus, dass uns das gesamt auch bei der bei der Bundestagswahl am 26. September gelingen wird." PAUSE Der zweite Grund sind die immer lauter werdenden Stimmen, die vor einer Briefwahl warnen. [06:05] Wie das so abläuft, kann man an einem konkreten Beispiel recht deutlich zeigen. Denn wir hatten dieses Jahr ja nicht nur eine Bundestagswahl, sondern auch mehrere Landtagswahlen, unter anderem in Sachsen-Anhalt. Es ist ein Twitter-User mit dem klingenden Namen Buttergott_1, der am Nachmittag des 06. Juni für viel Verwirrung sorgt. In Sachsen-Anhalt wird an diesem Tag gewählt und so wirklich weiß niemand, wie es ausgeht. Bei den Meinungsforschungsinstituten Civey und Insa liefern sich die CDU und AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei Infratest Dimap und der Forschungsgruppe Wahlen liegt die CDU deutlich vorn. Die AfD hofft in Sachsen-Anhalt stärkste Kraft zu werden. Und dann kommt Buttergott_1. Um 11:47 twittert der ein Bild aus einem vermeintlichen Wahllokal. Viele Zettel liegen auf dem Tisch, Plexiglasscheiben sind zum Covid-Schutz aufgestellt worden. Und darüber schreibt er: ZSP Buttergott_1 "Heute als Wahlhelfer in #SachsenAnhalt. Macht euch keine Sorgen, unser ganzes Team ist darauf vorbereitet der AfD keine Chance zu lassen und gegebenenfalls die Stimmen zu entwerten. Wählt Grün, denn nur so geht Demokratie und Umweltschutz." Der Tweet wird schnell vom ehemaligen AfD-Politiker André Poggenburg geteilt. Die Aufregung unter AfD-Wählerinnen und Wählern ist verständlicherweise groß. Nur: Das Foto stammt gar nicht aus einem Wahllokal in Magdeburg oder Halle, sondern aus den USA. Aus Washoe County, Nevada. Auch der Account Buttergott_1 ist ein Troll, wurde im Februar 2021 angelegt, inzwischen ist er gesperrt. Die Reaktionen, die der Tweet hervorrufen sollte, sie waren bewusst provoziert. Aber die Nachricht der vermeintlichen Wahlmanipulation? Die ist in der Welt. Der Tweet wurde am Wahlabend 143 Mal geteilt und erreichte ein prognostiziertes Publikum von 2,5 Millionen Usern. Das findet später eine Studie heraus. Und auch über diesen Tweet hinaus, wird die Legitimität der Wahl von einer lauten Minderheit stark angezweifelt. Die Vorwürfe werden unter anderem von der Partei "Die Basis” erhoben. Die Partei stammt aus dem Umfeld der Corona-Proteste im Jahr 2020. Mitglieder der Partei fallen immer wieder mit antisemitischen und den Holocaust relativierenden Äußerungen auf. Am 5.07.2021 taucht auf Youtube ein Video auf. ZSP Fuellmich "Reitschuster hat auch berichtet und es gibt noch ein paar Leute meinen, das kann nicht sein, dass diese Wahl, die kurz kurz bevor die Wahl losging, ein Kopf an Kopf Rennen mit der AfD zwischen AfD und der CDU vorhergesagt hat. Und dann am Ende gewinnt die CDU mit 10 prozent Vorsprung. Das halten wir für ziemlich ausgeschlossen." Das sagt Reiner Fuellmich, Spitzenkandidat der Partei "Die Basis” für die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Bei der Bundestagswahl trat er übrigens als Kanzlerkandidat an - die Partei erreichte bundesweit 1,4 Prozent. "Die Basis” hat Einspruch gegen die Wahl eingelegt. Wie in anderen Bundesländern auch, kann man in Sachsen-Anhalt bis zu einem halben Jahr nach Bekanntmachung des amtlichen Ergebnisses Einspruch einlegen - dieser wird dann vom Wahlausschuss geprüft. Die Vorwürfe begründet Fuellmich mit der Diskrepanz zwischen Umfragen und Ergebnis. Und damit, dass die Wahlbeteiligung zwischen 16 und 18 Uhr stark anstieg. ZSP Fuellmich "Und dafür, dass hier etwas gedreht wurde, spricht ja auch dass, ich glaube Minuten vor Schluss der Wahllokale plötzlich aus einer Wahlbeteiligung von knapp 40 Prozent 60 Prozent wurde. Also diese 20 Prozent, die da aus dem Nichts auftauchten. Die muss man sich angucken. Wir gehen davon aus, dass das Briefwahlstimmen sind und wir gehen davon aus, dass das in großem Umfang getürkt worden ist, weil die Leute, die es gemacht haben, sich angeguckt haben: Wer hat die letzten 5-6 Jahre nicht gewählt? Ach, die werden wohl diesmal wieder nicht wählen. Also machen wir mal schön was für die. Wir machen Briefwahl. Es fiel auf, weil einige der Leute, die nicht gewählt hatten, doch plötzlich wählen wollten. Und denen wurde gesagt: 'Geht aber nicht. Du hast ja schon gewählt.' Also da werden wir sicherlich noch ein paar Überraschungen erleben. Ich kann es nicht sagen, aber es wird vor der Bundestagswahl noch sehr viel ans Licht kommen, auch zu diesem Wahlbetrug. Und das wird uns, denke ich, helfen." Es gibt gleich mehrere Probleme an der Erzählung: Da wäre zum einen die Sache mit der Wahlbeteiligung zwischen 16 Uhr und 18 Uhr: das liegt daran, dass Briefwahlstimmen noch am Wahltag abgegeben werden konnten. So gingen sie erst spät in die Erhebung der Wahlbeteiligung mit ein. Und zum anderen: Nicht jedes Institut hat ein Kopf-an-Kopf-Rennen prognostiziert. Civey und Insa stützen sich vor allen Dingen auf Online-Daten, die von Freiwilligen stammen, die sich gemeldet haben. Der Politikwissenschaftler Achim Goerres bezeichnet diese Umfragetechnik in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk als "Kreisklasse der Umfragetechnik”. PAUSE Wir könnten übrigens ewig so weitermachen - uns einzelne Fälle anschauen, wo behauptet wird: "Es wird einen großen Betrug bei der Bundestagswahl geben”, nur um dann zu erklären, wieso das nicht so ist. Zum Beispiel die Behauptung, dass auch Stimmen von toten Menschen gezählt werden. Also dass beispielsweise die Grünen in die Todesanzeigen schauen und merken: "Mhm, Herbert Meier aus Bad Münster am Stein…. der wählt dieses Jahr grün”. Das ist so gut wie unmöglich - oder nur mit sehr großer krimineller Energie schaffbar. Da wäre zum einen das Wählerverzeichnis, das von den Kreisen aktuell gehalten wird. Und selbst wenn Herber Meier tatsächlich eine Wahlbenachrichtigung erhalten sollte - dann braucht er ja immer noch einen Wahlschein. Und den für einen Toten zu beantragen ist eine Straftat, die mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt ist. [10:47] ZSP Hellmann "Die Strafverfolgungsbehörden sind, soweit ich das mitbekommen habe, sehr dahinter her, wenn es Hinweise oder bloß den Anfangsverdacht auf Briefwahl-Betrug oder in irgendeiner Art und Weise Wahlbetrug gibt. Das wird meines Wissens nach sehr stringent auch geahndet, wenn es da in irgendeiner Art und Weise zu Unstimmigkeiten kommen könnte." Das sagt Daniel Hellmann vom Institut für Parlamentarismusforschung. Er hat Wahlmanipulationen untersucht und sagt, flächendeckende Manipulation gibt es nicht. Was passiert, das sind Einzelfälle. Und die gab es auf kommunaler Ebene. "Eine andere Konstellation, die etwas problematisch ist und wo wir dann wahrscheinlich auch zum Thema Wahlbetrug in Stendal kommen, ist eben die Beantragung von Briefwahlunterlagen. Sie haben die Möglichkeit, auch für andere Personen in Vertretung Briefwahlunterlagen zu beantragen." Stendal. Inzwischen ein Standard-Beispiel, wenn geraunt wird, dass die Wahl in Gefahr ist. Was ist passiert? Bei der Kommunalwahl 2014 schnitt ein CDU-Abgeordneter per Briefwahl deutlich besser ab als in der Wahlkabine. Journalisten und Journalistinnen recherchierten und fanden heraus: Für den CDU-Mann wurden viel mehr Stimmzettel abgeholt als erlaubt - normalerweise sind es vier. ZSP Hellmann "Das hat eigentlich den Sinn, dass Sie für Personen, die aus anderen Gründen, beispielsweise weil sie gerade zum Arbeiten irgendwo anders sind oder? Ja, weil sie krank und gebrechlich sind, nicht selbst die Briefwahlunterlagen beantragen können, dass sie das für andere mitmachen können. Das ist eigentlich begrenzt auf vier Personen, für die sie das machen können." In Stendal waren es 70. Und die auch nur auf eine der Bevollmächtigten. Insgesamt wurde der Abgeordnete für Wahlfälschung in 300 Fällen zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Ähnliches passierte übrigens auch bei der Kommunalwahl in Niedersachsen. 2016 haben vier Politiker der Linkspartei in Quakenbrück in einem Stadtteil mit hohem Migrationsanteil Wahlberechtigte zu Hause besucht. Für diese Menschen wurden dann Briefwahlunterlagen angefordert. Die Stimmzettel wurden dann teils durch die Politiker ausgefüllt und unterschrieben. In anderen Fällen füllten die Wähler die Wahlzettel zwar selbst aus - wurden aber in der Stimmabgabe beeinflusst. Der Betrug ist aufgeflogen, die Kandidaten und Kandidatinnen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Im Rahmen der Ermittlungen wurde dann auch gegen eine Politikerin der FDP Anklage erhoben. Ihr fragt euch jetzt bestimmt: Wie passt das jetzt zusammen? Erst erzählen wir, dass es keine systematische Manipulation gibt und liefern dann die Gegenbeispiele gleich mit. Wer sagt mir, dass bei der Bundestagswahl nicht auch massenhaft Stimmen falsch abgegeben wurden? Die Antwort liegt im Wahlrecht. Und in der Größe der Wahl. Spielen wir das doch einmal durch. Wie viele Stimmen brauche ich, um die Kommunalwahl in Quakenbrück zu meinen Gunsten zu entscheiden? Die Stadt hat rund 12.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Wahlberechtigt sind rund 10.000 . Und bei einer Wahlbeteiligung von 50 % sind das eben 5000 Stimmen, die abgegeben werden. Wenn ich meine Partei 5 % besser abschneiden lassen will, brauche ich nur 250 Stimmen. Und weil bei der Kommunalwahl kumulieren und panaschieren erlaubt ist, kann ich sogar auf einem Wahlzettel mehrere Stimme an eine Person geben - dann kann das für einzelne Kandidaten und Kandidatinnen schon verlockend sein. Aber 250 Stimmen - die bekommt man eben nicht so einfach. Man braucht Mitwissende, Komplizinnen und Komplizen. Und je mehr Leute beteiligt sind, desto größer ist die Chance, dass Leute plappern. Ganz davon abgesehen, dass Medien misstrauisch werden, wenn ein Hinterbänkler wie der CDU-Mann in Stendal plötzlich erstaunlich gut bei der Wahl abschneidet. Oder eine Partei wie die Linke die Zahl ihrer Mandate plötzlich verdoppelt - wie in Quakenbrück. Auf Bundesebene ist das Ganze dann noch komplizierter. Denn durch das Verhältniswahlrecht ist es höchstens möglich einer Partei insgesamt einen Sitz oder mehr im Bundestag zu verschaffen. Würde ich versuchen wollen, die Wahl in ganz Deutschland zu manipulieren, bräuchte ich Mitwissende in beinahe jedem Wahlkreis. Kurz: eine Verschwörung in einer Größenordnung, gegen die selbst "Die Amerikaner haben die Mondlandung gefaked” mickrig wirkt. PAUSE [15:31] Wir sind jetzt hier in dieser Folge in einer Situation, in der sich Fact-Checkerinnen und Fact-Checker oft befinden. Irgendwo wird ein Vorwurf erhoben, der schnell sehr viele Menschen erreicht. Das Video mit den Mitgliedern von der Partei "Die Basis” zur Landtagswahl wurde zum Beispiel mehr als 100.000 Mal abgerufen. Für ein beliebtes Musikvideo wäre das eher wenig. Für ein deutschsprachiges Video dieser Art ist das recht viel. Aber wenn man sich die Vorwürfe dann anschaut, merkt man schnell: wirkliche Beweise für den Wahlbetrug gibt es nicht. Was bleibt ist ein Raunen. Ein Raunen, das uns auf den fauligen Kern von Desinformation stößt. Denn Ziel von Desinformation ist ja nicht, die Wahrheit herauszufinden oder sie zu verbreiten - sich ernsthaft auf diese Suche nach Wahlbetrug zu machen. Es geht darum, das Vertrauen in unsere Wahlen - und noch tiefer gehend - in objektive, faktenbasierte Wahrheiten zu zerstören. Und dieses Raunen über die Briefwahl, das wird lauter. Zwar wurde die Briefwahl in den letzten fünfzig Jahren immer wieder kritisiert - aber so heftig wie heute noch nie. Bei einer repräsentativen Umfrage vom Think-Tank Reset-Tech mit mehr als 3000 Befragten kam vor wenigen Wochen heraus: Deutsche denken zwar, dass ihnen Desinformation nichts anhaben kann, viele glauben sie dann aber trotzdem. Zum Beispiel glauben 28 % der Befragten die völlig erfundene Behauptung, dass die Grünen das Autofahren verbieten wollen. Was ebenfalls 23 % der Befragten glauben: Briefwahl ist besonders anfällig für Manipulation. Wieso glauben das so viele Leute? Gucken wir mal eine Ebene tiefer. ZSP Jonas "Es gibt so typische Themen der Desinformation, sagen wir immer, die sehr beliebt sind, sozusagen, wozu Falschmeldungen verbreitet werden. Das sind so Sachen wie Klimawandel, Migration oder auch Migration und Einwanderung und auch Gesundheit. Schon immer schon vor Corona und aber auch. Sachen, die behauptet werden, Zitate, die angeblich irgendwelche bekannten Persönlichkeiten, sei es Politikerinnen oder Sportler innen oder sonst wer behauptet haben." Das ist Uschi Jonas vom Factchecking-Portal Correctiv. Wenn eine Berufsgruppe weiß, welche Lügen im Netz verbreitet werden, dann sind es Factchecker und Factcheckerinnen. ZSP Jonas "Im Prinzip schauen wir immer morgens vor allem, was kursiert in sozialen Netzwerken Facebook, Twitter, Instagram, WhatsApp und so weiter an Behauptungen, die irgendwie sehr viral sind und wo man irgendwie das Gefühl hat, da könnte irgendeine falsche Information dahinterstecken. Da ist vielleicht irgendwas nicht richtig und dann recherchieren wir da hinterher und machen Faktenchecks dazu." Correctiv ist eins der bekanntesten Recherchezentren Deutschlands. Die Faktenchecks, die man auf ihrer Webseite findet, tragen Überschriften von "Nein, es wird nicht durch "geheime Planspiele" versucht, Saskia Esken zur Kanzlerin zu machen" bis "Nein, Annalena Baerbock hat nicht gesagt, dass es mehr Glasfaser geben müsse, um E-Autos auf dem Land zu laden”. Ziel der Factchecking-Abteilung ist es, Falschmeldungen so zu widerlegen, dass man es danach wirklich versteht. Und idealerweise kann man den Text von Correctiv dann einfach in eine Whatsapp-Gruppe packen, wenn mal wieder eine Falschinformation herumgereicht wird. Manche Behauptungen lassen sich aber gar nicht widerlegen. ZSP Jonas "Es kommt im Zweifel so ein bisschen darauf an, was für eine Art von Behauptung das ist, weil manche Behauptungen… Man muss ja schon so ein bisschen unterscheiden bisschen zwischen Falschinformation und Verschwörungstheorien, dann auch im Zweifel. Manche Sachen sind einfach so eine große Verschwörung, die man teilweise auch gar nicht widerlegen kann." Verschwörungsmythen lassen sich schwerer aus dem Weg räumen, weil es fast immer um angebliche Geheimpläne geht. Und wer an Verschwörungsmythen glaubt, ist oft nicht durch einen Faktencheck allein zu erreichen. Denn für sich genommen kann man jede Behauptung recht schnell aus dem Weg räumen. Auf Einzelfälle hinweisen, auf die Schwierigkeiten einer bundesweiten Umsetzung. Habe ich aber ohnehin das Vertrauen in die Demokratie verloren und glaube daran, dass die Wahl manipuliert wird, wird der Faktencheck nicht verfangen. [19:27] Das ist übrigens ein guter Zeitpunkt den Unterschied zwischen Verschwörungsmythen und Desinformation zu erklären. Die Grenzen sind da nämlich oft fließend. Nehmen wir die Behauptung "in Sachsen-Anhalt wurde die Wahl manipuliert”. Das ist eine Behauptung, die sich überprüfen lässt und wenn es keine Beweise für die Behauptung gibt, kann man diese zurückweisen. Der Wahlausschuss kann zum Beispiel den Einspruch ablehnen, wenn ihm die Indizien nicht genügen. Das Problem an Verschwörungsmythen ist, dass die, die daran glauben, sich durch das geschlossene Weltbild nur schwer von Fakten beeindrucken lassen. Nehmen wir an, mein bester Freund ist davon überzeugt, dass die Erde eine Scheibe ist. Selbst wenn ich ihn zu einem Heißluftballonflug einladen würde, um ihm die Krümmung der Erde zu zeigen, könnte es gut sein, dass er mir nicht glaubt. Immerhin könnte ich Teil der Verschwörung sein. Und selbst wenn sie widerlegt werden, wird diese Widerlegung in ein schon geschlossenes Weltbild wieder eingerückt. ZSP Pizzagate Ein Beispiel: Teil der sogenannten Pizzagate-Verschwörung war es, dass hochrangige Mitglieder der Demokratischen Partei der USA, inklusive der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, im Keller einer Pizzeria Kinder gefangen halten und missbrauchen. Am 4. Dezember 2016 stürmte ein bewaffneter Mann die Pizzeria um die Kinder aus dem Keller zu holen - nur um dann festzustellen, dass diese keinen Keller hat. PAUSE Denen, die an Pizzagate glauben, war das aber egal: Für die Gläubigen war der Sturm Teil einer Vertuschungskampagne. Selbst der Bewaffnete, der den Keller stürmte, glaubte danach weiter fest an Pizzagate. Erreicht man solche Menschen überhaupt noch mit Factchecking? Nö. Dazu kommt, dass wir es auch mit einem sich selbst befeuernden System zu tun haben. Eine Studie des MIT - dem Massachusetts Institute of Technology, einer DER Top-Unis der USA, hat gezeigt, dass Falschmeldungen auf Twitter sich deutlich schneller verbreiten als die Wahrheit. Sie können kaum noch durch Faktenchecks eingefangen werden. "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.” Das Zitat, das - apropos Faktencheck - fälschlicherweise Mark Twain in die Schuhe geschoben wird, es stimmt empirisch gesehen. Das bestätigen auch andere Studien. Sollten wir dann jetzt eigentlich diese Folge hier beenden? Aufhören über Desinformation zu sprechen? Ne. Natürlich nicht. Denn natürlich sind Factchecks auch sinnvoll. Zum Beispiel, wenn Menschen wirklich unsicher sind und eine Handreichung brauchen, meint Uschi Jonas von Correctiv. ZSP Jonas "Und wir sagen auch immer: man erreicht einfach mit Faktenchecks Leute, die wirklich verunsichert wegen irgendeiner Sache sind. Und die wirklich interessiert sind, dass irgendjemand, dass jemand da ist, der für sie recherchiert: Was stimmt denn jetzt und was nicht? Und das sind dann auch Leute, die rückmelden: Boah, danke. Danke. Okay, jetzt weiß ich Bescheid. Das hat mir total geholfen. Ich war mir einfach unsicher." Und nicht nur für diese Menschen ist Factchecking wichtig. Es kann auch Menschen helfen, die tagtäglich mit Verschwörungsgläubigen zu tun haben. Kann Argumentationsmunition im Kampf um Fakten sein - allein deshalb lohnt es sich schon, Dinge so aufzuschreiben, wie sie wirklich sind. Und nicht so, wie sie manche fühlen. Trotzdem denken rund zwanzig Prozent der Deutschen, wenn man der Reset-Tech-Studie folgt, dass die Wahl gefährdet sei. Ein Erklärungsversuch, wieso Faktenchecks oft nicht verfangen; wieso die Sorgen um Wahlmanipulation trotzdem geteilt werden, ist, sich anzuschauen, in welchem Kontext solche Desinformation stattfindet. Denn in den seltensten Fällen wandert eine Lüge von einem Lager in das andere. Fans der Grünen werden eher weniger an Falschmeldungen über angeblich geplante Verbote glauben, weil sie sich tendenziell mehr mit den Inhalten und Forderungen der Partei auseinander gesetzt haben. Desinformationen wird aber auch dort geteilt, wo Menschen ohnehin schon Vorurteile haben, die dann durch Falschmeldungen bestätigt werden. Hier spielen Dienste wie Telegram und Whatsapp natürlich eine enorme Rolle. Beispiel: Die fünf größten Kanäle auf Telegram in Deutschland stammen aus dem Lager der Corona-Protestbewegung und Verschwörungstheoretiker. In kürzester Zeit konnten hier enorme Reichweiten aufgebaut werden - Kanäle, die von bis zu 180.000 Menschen abonniert werden. Und in diesen Kanälen wird inzwischen nicht nur Content geteilt, der mit Corona zu tun hat, sondern eben auch andere Desinformation. Gezielte Falschinformationen, die schaden sollen. ZSP Jonas "Da werden schon so Räume geschaffen, die da irgendwie weiter genutzt werden. Ein vielleicht gutes Beispiel ist vielleicht tatsächlich die Querdenken-Bewegung auch von der Seite, wo ja auch so ein paar schillernde Persönlichkeiten existieren, die sehr viel Desinfo zur Corona irgendwie verbreitet haben, die dann auch angefangen haben, bei den Hochwassern quasi Desinformation zu verbreiten." Wovon Uschi Jonas hier spricht, hat es sogar in die internationale Presse geschafft. Der Guardian oder die Nachrichtenagentur Associated Press berichteten darüber, wie die Protestbewegung Querdenken sich die Hochwasser-Situation in West-Deutschland zu nutze machte. Auf den einschlägigen Telegram-Kanälen wurde zum Beispiel behauptet, dass die Rettungskräfte absichtlich abgezogen und behindert würden. Und diese Lüge erscheint in einem Umfeld, das ohnehin schon voller Falschmeldungen zu Corona-Impfungen und -Beschlüssen ist. [22:50] Das ist eine gute Stelle, um über ein Phänomen aus der Psychologie zu sprechen. Es erklärt uns, warum es manchmal so schwer ist, mit Faktenchecks gegen Desinformation anzukommen. Cognitive bias, kognitive Verzerrung, heißt es. Wir glauben, unser Denken wäre rational, dabei ist es das gar nicht. Zum Beispiel wäre da der Confirmation Bias. Die Bestätigungsverzerrung, die seit den 60er Jahren erforscht wird. Unser Gehirn glaubt nämlich viel eher die Dinge, die unserem bisherigen Weltbild entsprechen. Ein Beispiel vom Bundestagswahlabend: Auf Twitter ärgerte sich ein User, dass die AfD im Wahlkreis Würzburg zwar 6,6 Prozent der Zweitstimmen erhalten habe, aber keine einzige Erststimme. Er sprach von Wahlbetrug. Eine schnelle Recherche hätte ergeben, dass wegen eines Formfehlers die AfD keinen Spitzenkandidaten für den Wahlkreis aufgestellt hatte. Aber wer ohnehin glaubt, dass ein Wahlbetrug stattfinden wird, der sucht nach den kleinsten Indizien. Auch Wählerinnen und Wähler aus dem grünen Milieu sind nicht vor der Bestätigungsverzerrung gefeit: Als im Sommer 2021 das Hochwasser Teile NRWs und Rheinland-Pfalz wegspülte, ging ein Foto durchs Netz. Klassische Falschinformation. Ein in der Flut versunkener BMW hatte auf der Rückseite den Aufkleber: "Fuck You Greta”. Das Foto wurde zehntausende Mal geliked, war aber eine Fotomontage. Auch hier ist der Confirmation Bias am Werk - wir glauben das, was wir glauben wollen. Ok. Wir haben uns angesehen, warum es für die Befürchtungen zur Briefwahl keine konkreten Belege gibt. Und dass Factchecking-Plattformen aber nicht bei allen Menschen durchdringen, wenn sie sagen: Hey, das ist aber falsch. Schicht für Schicht haben wir uns zum Kern des Problems vorgearbeitet. PAUSE [26:35] Bei Desinformation geht es ganz oft um unsere Gesellschaft. um die Sorgen, Nöte und Ängste, die wir gerade haben. Und diese werden mit Hilfe von Technik weiter vergrößert und gefüttert. ZSP Jaursch "Der andere Trend, der sich aber seit 2016 ziemlich gezeigt hat, ist, dass es in den Medien, in der Politik, in der Zivilgesellschaft und teilweise auch in der Wissenschaft so einen Fokus gibt auf die Plattformen, auf große Online-Plattformen von Facebook über Twitter bis hin zu heute Tiktok, Snapchat oder so. Und gefragt wurde: Was spielen die für eine Rolle? Und überlegt wurde: Sind das jetzt wirklich die Desinformationsschleudern?" Das ist Julian Jaursch von der Stiftung Neue Verantwortung. Den haben wir ganz am Anfang schon mal gehört Die Stiftung ist... ZSP Jaursch "... ein Think Tank für die Gesellschaft im technologischen Wandel. Das heißt, wir behandeln ganz unterschiedliche Themen, die alle irgendwie mit Digitalisierung, mit technologischem Wandel zu tun haben, z.B. Cybersicherheit, künstliche Intelligenz in der Außenpolitik und eben auch z.B. Desinformation und wie wir mit Plattformen umgehen." Und in seiner Arbeit beschäftigt Julian Jaursch genau eine Frage: Welche Wechselwirkungen gibt es zwischen uns - also der Gesellschaft - und der Technik. ZSP Jaursch "Und da ist, glaube ich mittlerweile in den vergangenen drei bis vier Jahren zumindest aus meiner Sicht die Erkenntnis gereift, dass Plattformen nicht der Grund oder der Auslöser sind für Desinformation. Die gab es doch schon vorher. Desinformation gab es in der Zeitung, die gab es in Büchern, die gab's im Fernsehen. Aber dass wir eben aufgrund der riesengroßen Reichweite, der Schnelligkeit, der algorithmischen Verbreitung von Nachrichten, von Informationen, von Content im Netz, dass wir dadurch halt einfach Desinformation auf einem ganz anderen Niveau haben, in einem ganz anderen quantitativen und qualitativen Umfang und damit umzugehen, das ist, glaube ich, eine der der großen Fragen." Wir werden uns übrigens noch in einer eigenen Folge nur mit den Plattformen auseinandersetzen. Denn die haben schon einen erheblichen Einfluss auf die Lügen, die wir jeden Tag im Netz sehen. Julian Jaursch erzählt uns, dass es natürlich schon immer Desinformation gab. Früher hätte man vieles, was man heute im Netz liest, am Stammtisch gehört. Oder von autoritären Herrschern gehört. Wenn wir aber den Sprung ins Digitale machen, tritt da plötzlich eine Plattform zwischen uns, die so designt ist, das größtmögliche Engagement - also Interaktion - zu erreichen. Und hier gelten dann schnell: Wer die aufsehenerregendste Geschichte zu erzählen hat, der gewinnt. Julian Jaursch glaubt, dass... ZSP Jaursch "Dass es ein ein großes Interesse und eine große Sorge und Angst gibt, dass ausländische Staaten in Deutschland eingreifen, das ist auch eine berechtigte Sorge, die ist da, aber das vielleicht immer noch nicht so richtig angekommen ist, die Desinformation, die die meiste Desinformation, die wir haben in Deutschland, kommt wahrscheinlich eher aus dem Inland und das sind einfach Menschen, die hier sind und ihre Ansichten, ihre politischen Positionen, teilweise ihre Verschwörungsmythen verbreiten wollen." Und wieso tun sie das? Da hat Julian Jaursch ein ganzes Bündel an Antworten parat. Zum einen, weil die Desinformation mit ihren Überzeugungen und politischen Ansichten übereinstimmt. Ob die Menschen dabei aus dem rechten oder linken Spektrum kommen, ist unerheblich - die meisten von uns haben einen blinden Fleck, bei dem wir nicht soooooo genau hinschauen, ob die Erzählung jetzt stimmt. Stichwort Confirmation Bias. Wobei es aber auch Studien gibt, die zumindest für die USA andeuten, dass das Verhältnis zwischen Linken und Konservativen nicht 50/50 ist. Zum Beispiel fanden Forscher und Forscherinnen der University of California heraus, dass Konservative leichtgläubiger sind. Aber nicht weil sie dümmer sind, sondern weil sie eher davon überzeugt sind, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist - und in einer gefährlichen Welt, lohnt es sich, Informationen über Gefahren ernst zu nehmen. Das erklärt vielleicht auch, dass eine anderen Studie aus den USA herausfand, dass die größten Falschbehauptungen im Netz eher auf der konservativen Seite verbreitet werden. Wie die US-Desinfo-Sphäre funktioniert, schauen wir uns übrigens auch noch in einer späteren Folge an. Und dann… dann ist da noch ein Punkt, den wir im Hinterkopf behalten sollten, wenn es um Desinformation geht. Erinnern wir uns noch einmal an die Dauerbrenner der Desinformation, die die Factcheckerin Uschi Jonas eben aufgezählt hat. ZSP Jonas "Es gibt so typische Themen der Desinformation, sagen wir immer, die sehr beliebt sind, sozusagen, wozu Falschmeldungen verbreitet werden. Das sind so Sachen wie Klimawandel oder auch Migration und Einwanderung und auch Gesundheit." Diese Themen haben eine große gesellschaftliche Relevanz und eine direkte Auswirkung auf unser Leben - es sind Dinge, über die man streiten kann, wirklich große Probleme, die es anzupacken gilt. Das haben wir in der letzten Folge ja auch schon bemerkt. In Polen wird über Schwangerschaftsabbrüche gestritten. Bei uns über Zuwanderung. Und hier sieht Julian Jaursch auch ein großes Potential für einen langfristigen Ansatz gegen Desinformation. ZSP Jaursch "Wie gestalten wir unsere Migrationspolitik noch darunter liegend? Wie gehen wir mit strukturellen Rassismus um? Aber das sind halt Probleme, die nicht mit einem Gesetz, mit einer Medienkompetenz, Maßnahmen, mit einer Maßnahme der Plattform gelöst werden können. Das sind langfristige strukturelle Aufgaben. Aber um Ihre Frage einfach zu beantworten Ja, das sind genau die Probleme, die angegangen werden müssen, um Desinformation im Kern zu adressieren." Überträgt man das auf die Zweifel an der Briefwahl, dann könnte das bedeuten: Nicht die Briefwahl an sich ist das Problem, sondern dass sich manche Menschen von der Politik nicht repräsentiert fühlen. Menschen, die oft auch nicht wählen, weil sie den Eindruck haben: "die da oben machen das eh ohne mich aus, wählen lohnt sich nicht.” Über fehlende Repräsentation nachzudenken und dementsprechend zu handeln, könnte ein Hebel von vielen sein, um etwas gegen Desinformation zu unternehmen. In Wahrheit ist alles natürlich viel komplexer. Ein Teil der 20 %, die befürchten, dass die Wahl manipuliert werden könnte, hat vielleicht gar kein Interesse mehr an repräsentativer Demokratie - oder ist nicht an Erklärungen interessiert, wie genau jetzt die Briefwahl funktioniert. Studien wie die Mitte-Studie oder die Leipziger Autoritarismus-Studie zeigen immer wieder, dass eine signifikante Gruppe nicht mehr an die Legitimität der Demokratie glaubt. Und diese Akteure verbreiten auch im eigenen Interesse Desinformation zur Briefwahl. PAUSE [32:59]Als wir diese Folge hier schreiben, gibt es übrigens ein kleines Beben in der deutschen Desinformationslandschaft. Denn eine der größten Quellen für Desinformation, der Youtube-Kanal RT Deutsch des russischen Staatssenders Russia Today wird von Youtube gesperrt. RT Deutsch hatte mehr als 600.000 Abonnenten und Abonnentinnen. Die Videos wurden insgesamt mehr als fünfhundert Millionen Mal geklickt. Der Kanal ist Teil einer großflächigen Sperrung - Youtube will alle Videos, die Falschinformation zur Corona-Impfung beinhalten von der Plattform haben. Aber auch im Bereich Wahlmanipulation war RT Deutsch sehr aktiv - die Gefragt-Gejagt-Geschichte war dort zum Beispiel auch zu lesen. Der Text ist ein typischer RT-Text. Faktisch nicht falsch, aber in seiner Tonalität und Kontext dann doch maximal verzerrend. ZSP Spahn "Ich denke das mit Abstand bedeutendste Medium ist RT DE. Hier beobachte ich seit Jahren rasant steigende Nutzerzahlen. Mittlerweile haben sie auf den wichtigsten Social Media Plattformen mehr als 1,2 Millionen Nutzer. Das ist ein beachtliches Ergebnis. Sputnik ist weniger einflussreich, rangiert eher in der mittleren Liga. Aber sehr aktiv sind auch die zwei Social Media Kanäle, redfish und maffick.Während RT DE sich eher in eine rechte Richtung entwickelt hat, sieht man ganz klar, dass hier ein Ausgleich geschaffen wurde mit Redfish, der mit sozialkritischen Themen ein eher linkes Publikum erreicht." Aber um all das… geht es erst in der nächsten Folge. Denn da schauen wir nach Ost-Europa. Wir sehen uns Russlands Medienstrategie an, besuchen die Ukraine und lernen, wie Desinformation vor dem Internet-Zeitalter ausgesehen hat. Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Simone Hundrieser und Sebastian Dreßel. Fact-Checking: Karolin Schwarz. Produktionshilfe: Lena Kohlwees. Vielen Dank an die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt - sie hat Daniel Hellmann interviewt. "Netz aus Lügen - die globale Macht der Desinformation” ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns doch unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Bis nächstes Mal! Anmerkung: der Originaltweet spricht von "#fckafd” Anmerkung der Redaktion: Um das Beispiel im der Folge leichter nachvollziehbar zu machen, wurden die Daten gerundet. Die vollständigen Zahlen zur Kommunalwahl in Quakenbrück 2016 finden Sie hier: Externer Link: http://wahlen.artland.de/Wahlen/Komwahl2016/459101_000053/index.html Vgl. Pörksen, Bernhard (2019). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Carl Hanser Verlag.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-31T00:00:00"
"2021-10-05T00:00:00"
"2022-03-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/desinformation-der-globale-blick/341408/podcast-netz-aus-luegen-die-briefwahl-2-8/
Die Briefwahl gewinnt immer mehr an Bedeutung: Bei den Landtagswahlen und der Bundestagswahl stimmten 2021 so viele Menschen wie noch nie so ab. Gleichzeitig wird eine Minderheit, die das Narrativ der Briefwahl-Manipulation in reichweitenstärken Soci
[ "Netz aus Lügen", "Podcast", "Briefwahl", "Demokratie", "Desinformation", "Bundestagswahl", "Landtagswahl Sachsen-Anhalt", "Wahlbetrug", "Fake News" ]
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Deutsche Außenpolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel | Sicherheitspolitik | bpb.de
Einleitung Im Unterschied zur Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung, die kurz nach Amtsantritt 1998 mit Krisen und Kriegen konfrontiert wurde, erscheinen die ersten zehn Monate der Großen Koalition vergleichsweise ruhig. Eine schwere außenpolitische Bewährungsprobe ist ihr bislang erspart geblieben. Doch dieser Blick täuscht: Neue Herausforderungen, zum Teil erst auf den zweiten Blick erkennbar, dynamisieren die Weltpolitik und verändern auch die internationalen Rahmenbedingungen für Deutschland. Sie seien stichwortartig kurz skizziert. Die postmoderne Welt, zu der vor allem die Staaten der Europäischen Union gehören, die auf Demokratie, Frieden, Wohlstand und Integration stolz sind, "schwächelt". Erweiterung und gleichzeitige Vertiefung der Integration entpuppen sich als Lebenslüge der Europapolitik. Das klassische Feld der Weltpolitik, auf dem Machtstaatenkonkurrenz vorherrscht, ist unübersichtlicher und unsicherer geworden, seitdem neue globale Probleme, Konflikte und Kriege zunehmen. In der dritten Weltzone, fast identisch mit der Dritten Welt, ist die Entwicklung noch dramatischer: Staaten zerfallen, auch im Zuge von Armut, Krankheit, Korruption und organisierter Kriminalität. Weil die Armenhäuser der Welt zunehmen, erscheint Globalisierung nicht mehr nur hell und fortschrittlich, sondern wird außerhalb der OECD-Welt zum Synonym für Armut, Identitätsverlust und Rückständigkeit. Seit dem 11. September 2001 hat die Wirkung des Terrorismus auf die Weltpolitik dramatisch zugenommen. Auch hat er mittlerweile Europa erreicht und könnte Deutschland treffen. Die krisengeschüttelte Region des Nahen und Mittleren Ostens steht am Vorabend neuer dramatischer Entwicklungen: Der Krieg Israels mit der Hisbollah im Libanon hat die Aussicht auf Frieden weiter geschwächt. Das Vertrauen in die USA als Ordnungsmacht ist weltweit drastisch gesunken. Sie werden zudem nicht mehr als zivilisatorisches Vorbild bewundert, nicht mehr als sanfter Hegemon geduldet, sondern vielerorts als neo-imperiale und selbstgerechte Angriffsmacht kritisiert. Der neue Primat der Energiesicherheit, die neue machtstaatliche Konkurrenz um Rohstoffe, kollidiert zunehmend mit der Forderung nach einem gemeinsamen Kampf gegen den Terror, der allzu oft auf Kosten demokratischer Opposition in autoritären Regimen geführt wird. Die weltpolitische Lage hat sich also drastisch verschärft: Die Ausweitung von Terror, der Ansehensverlust der US-Regierung unter George W. Bush, Spaltung und Schwäche des Westens, Frustrationen in der muslimischen Welt, neues energiepolitisches Machtbewusstsein autoritärer Regimes und das diffuse Gefühl, dass diese und andere Konfliktlinien sich synergetisch aufladen könnten, lassen die Weltpolitik bedrohlicher denn je erscheinen. Wie reagiert die Große Koalition in Berlin auf diese neuen internationalen Entwicklungen? Welche Schlussfolgerungen werden für Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt gezogen? Merkels erste außenpolitischen Initiativen Zunächst ergriff die Bundeskanzlerin schnell nach Amtsantritt die außenpolitische Initiative und suchte Deutschlands Rolle in der atlantischen Welt zu festigen. Vor allem bemüht sie sich um die Wiederherstellung guter Beziehungen zu den USA. Bei ihren Reisen nach Washington und bei Präsident Bushs Besuch in Stralsund gelang es ihr, frühere Irritationen zu beseitigen und neues Vertrauen zu schaffen. Ihr Angebot einer "Partnership in Leadership", das schon Präsident Bush senior den Deutschen 1989 gemacht hatte, überrascht, doch biedert sich Angela Merkel, wie mancher befürchtete, Präsident Bush nicht an; vielmehr hält sie klug Distanz und mit Kritik nicht zurück. Bei ihrem ersten USA-Besuch sprach sie die Problematik des Gefangenenlagers Guantánamo offen an, und Anfang Mai 2006 warnte sie vor Aggressivitäten gegenüber dem Iran. Doch ist der Ton zwischen Washington und Berlin seit dem Amtsantritt von Merkel insgesamt konzilianter und verständnisvoller geworden. Bei aller Kritik bleibt der Schulterschluss gewahrt. Man stelle sich vor, Präsident Bush und Bundeskanzler Gerhard Schröder wären ähnlich geschmeidig in der Irakkrise miteinander umgegangen. Präsident Bush betonte in Stralsund, ganz im Gegensatz zum Irakkonflikt 2003, die konstruktive Rolle Berlins und räumte freimütig ein, dass Merkel ihn zu direkten Gesprächen mit Teheran aufgefordert habe. Doch kann dieser Wandel von imperialer Arroganz zu offensivem Charme nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen schwieriger geworden sind. Doch will Merkel im Unterschied zu ihrem Amtsvorgänger die traditionelle Balancerrolle Deutschlands und die strategische Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten wieder beleben. Bald könnte sich die Bundeskanzlerin zur wichtigsten Verbündeten der USA auf dem europäischen Kontinent entwickeln. Denn nach den Wahlen in Frankreich und einem möglichen Rücktritt von Tony Blair in Großbritannien, im Zuge der europäischen Ratspräsidentschaft im Januar 2007 und als G8-Vorsitzende könnte sie zur Seniorchefin in Europa werden, die allerdings mit folgendem Grundproblem wird leben müssen: Unter Präsident Bush sind die USA nicht mehr die anerkannte Weltordnungsmacht, sondern Teil einiger weltpolitischer Probleme geworden. Kein Wunder, dass in Deutschland und Europa für mehr Distanz gegenüber den USA plädiert wird. Für grundsatztreue Atlantiker sind dies schwierige Zeiten, denn mit dieser Regierung in Washington lässt sich nur schwer vertrauensvolle, berechenbare und im Gemeinschaftsgeist geführte Politik durchsetzen. Wird Berlin Präsident Bush "aussitzen" und darauf hoffen, mit seinem Nachfolger zu altbewährten Beziehungen zurückzukehren, oder werden die Beziehungen zu den USA grundsätzlich distanzierter oder gar an Bedeutung verlieren? Dies ist vermutlich die Schlüsselfrage zukünftiger deutscher Außenpolitik. Das Duo Merkel-Steinmeier lässt klugerweise zunächst alle Optionen offen und sucht eine Balance zwischen Distanz und nützlicher Interessenpolitik. Berlin bleibt auf beide Entwicklungen eingestellt, um Handlungsspielräume zu bewahren, das heißt, zunächst nicht in den Sog amerikanischer Fehler und Versäumnisse zu geraten. Europa wird auf sich selbst zurückgeworfen, doch betont Merkel den grundsätzlichen Wert eines atlantisch verankerten Europas, sucht aber auch wirtschaftliche Erneuerung, damit der Kontinent im Zeitalter von Globalisierung wieder wettbewerbsfähig wird, auch gegenüber den USA. Doch als Wertegemeinschaft und als weltpolitischer Akteur bleibt Europa schemenhaft. Erst wenn es seine Interessen gemeinsam bündelt und dementsprechend handelt, kann es sich in dieser turbulenten und konfliktgeladenen Welt behaupten, ordnungspolitisch handeln und ein ernstzunehmender Faktor werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Wiederbelebung des Verfassungsprozesses eher als zweitrangig. Merkel weiß, dass die Schlüsselfragen der Integration wohl erst nach möglichen Regierungswechseln in Paris und London angepackt werden können. Gegenüber Paris bekräftigt die Bundeskanzlerin die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen, griff allerdings Jacques Chiracs Formel von der deutsch-französischen Achse mit Bedacht nicht auf. Doch auch mit Blick auf London hält die Bundeskanzlerin klug Abstand, denn sie will sich nicht vereinnahmen lassen. Distanz heißt für sie nicht Isolation oder nationaler Alleingang, sondern ist Voraussetzung für Handeln und Verhandeln im ausgleichenden Sinne, wie sie im Disput über den EU-Haushalt erfolgreich zeigen konnte. Obwohl sie geschickt verhandelte und sogar für Polen zusätzlich 100 Millionen Euro zur Verfügung stellte, waren die Wirkungen auf Polen begrenzt, die Beziehungen bleiben abgekühlt. Im Zuge polnischer Polemik gegenüber der geplanten deutsch-russischen Ostseepipeline und neuen energiepolitischen Vereinbarungen zwischen Berlin und Moskau werden die Beziehungen Berlins zu Warschau vorerst schwerlich auftauen, so dass sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier sogar veranlasst sah, öffentlich auf die Irritationen zwischen den beiden Nachbarn hinzuweisen. Auch stößt Lech Kaczynskis Plan einer Energie-NATO in der Großen Koalition auf Kritik. Berlin befürwortet vielmehr seit dem russisch-ukrainischen Gaskonflikt eine energiepolitische Kooperationsstrategie, die vor allem auf Wunsch Steinmeiers nach dem Vorbild der KSZE/OSZE entwickelt und damit auf deutsch-russische Zusammenarbeit ausgerichtet wird, während Polen seit der Irak-Krise zum Pfeiler amerikanischer Interessen in Europa geraten ist - mit antirussischer und nun auch antideutscher Spitze. Es könnten also Interessengegensätze auftreten, die über den bilateralen Bereich hinausführen und strukturelle Grundfragen für die deutsche Außenpolitik aufwerfen. Auch bei der Diskussion um den Beitritt der Türkei zur EU könnte deutsche Zurückhaltung zu Problemen mit den USA führen. Doch wird Bundeskanzlerin Merkel vermutlich mit geringerem Zeitdruck und mehr Distanz das Beitrittsanliegen der Türkei behandeln. Wie die Große Koalition grundsätzlich den europäischen Integrationsprozess im Spannungsfeld von Vertiefung und Erweiterung in Zukunft handhaben wird, wird erst die europäische Ratspräsidentschaft der Deutschen 2007 zeigen. Doch Deutschland ist nicht mehr die Lokomotive Europas. Die Kriterien des Stabilitätspaktes werden erst für 2007 wieder eingehalten. Die ambitionierten wirtschaftspolitischen Ziele der Großen Koalition müssen also auch im europäischen Rahmen nüchtern gesehen werden. Deshalb muss Deutschland seine wirtschaftliche Schwäche schnellstens überwinden, sonst wirken forsche Töne und hochgesteckte Ziele unglaubwürdig. Es bleibt zu hoffen, dass die Große Koalition die wirtschaftspolitischen Herausforderungen konsequenter anpackt als die Vorgängerregierung. Doch die von Frau Merkel favorisierte Lissabon-Strategie als politisches Projekt betont Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum lediglich als freiwillige Selbstverpflichtung, taugt also nur begrenzt als integrationspolitisches Leitbild oder gar als europäisches Finalitätsszenario. Ein Schwerpunkt deutscher Integrationsbemühungen wird vermutlich der Ausbau der GASP/ESVP sein. Das ursprünglich heftig kritisierte Engagement im Kongo und der geplante deutsche Einsatz im UNO-Rahmen im Libanon-Konflikt zeigen hoffnungsvolle Ansätze, geben aber noch zu wenig Aufschluss über Europas neue Rolle in der Weltpolitik. Neuer Konfliktschwerpunkt Nahost Während Bundeskanzler Gerhard Schröder erst nach einigen Jahren Israel besuchte, betonte Bundeskanzlerin Merkel mit ihrem frühen Antrittsbesuch die Bedeutung Israels fürDeutschland. Sie verstärkt damit die Kontinuitätslinien deutsch-israelischer Freundschaft und Aussöhnung, wie sie von Konrad Adenauer begründet wurden. Ihr beherztes Eintreten für Israels Interessen hat die Sympathien für Deutschland in Israel belebt, doch ist seit dem Wahlsieg der Hamas in Palästina und im Zuge des Libanonkrieges die deutsche Nahostpolitik auch gegenüber Israel schwieriger geworden. Eine ausgewogene Nahostpolitik Deutschlands und der UNO darf nicht auf die Forderung nach Israels Rückzug aus den besetzten Gebieten verzichten. Nach wie vor gelten die UNO-Resolutionen 242 von 1967 und die gemeinsame Erklärung der EU von Venedig vom Juni 1980, an deren Zustandekommen maßgeblich der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher beteiligt war. Der Libanonkrieg im vergangenen Sommer hat eine intensive Diskussion über ein militärisches Engagement Deutschlands entfacht. Die Entscheidung über die Teilnahme deutscher Soldaten an der UNO-Militärmission im Libanon durfte nicht allein vom deutsch-israelischen Verhältnis abhängig gemacht werden, sondern muss die vitalen Interessen Deutschlands mit Blick auf die gesamte Region berücksichtigen. Wenn Deutschland sich militärisch engagiert, muss es einen moderierenden Einfluss auf alle Beteiligten durchsetzen. Es muss seine Streitkräfte daher mit Fähigkeiten und Befugnissen ausstatten, welche die Einhaltung der vereinbarten Normen notfalls auch militärisch erzwingen. Grundsätzlich spricht nichts gegen ein deutsches Engagement, ob es allerdings klug ist, ist eine andere Frage. Die Art und Weise, wie Israel im Libanonkrieg sein Recht auf Selbstverteidigung ausgeübt hat, stößt nicht nur in der Region auf Unverständnis, obgleich die Hisbollah israelische Soldaten auf dem Staatsgebiet Israels angegriffen hatte, einige von ihnen getötet und zwei als Gefangene in den Libanon verschleppt hatte. Trotz dieser Tatsache war Israels Kriegsführung militärisch hochproblematisch und dazu völkerrechtswidrig, denn überwiegend wurde die Zivilbevölkerung getroffen, und vitale Lebensgrundlagen des Libanon wurden zerstört. Die Unverhältnismäßigkeit im Einsatz der Mittel bleibt ein schweres Vergehen. Kann und darf unter diesen Umständen die Bundeswehr zur Schlichtung dieses Konfliktes eingesetzt werden? Deutschland ist frei von kolonialen Altlasten, sowohl von Israel als auch von den arabischen Staaten anerkannt und hat sich stets um Frieden und Ausgleich bemüht. Die im September ausgelaufenen Marineeinheiten können ihre Aufgabe erfüllen, mit Fregatten und Schnellbooten sollen die Flanken, die Grenze nach Syrien und die Mittelmeerküste gesichert werden. Alle, auch Deutschland, haben ein Interesse an der Einhegung islamischer Milizen, auch, um Irans Einfluss zu mindern und um einen souveränen Libanon, vor allem gegenüber Syrien und dem Iran, zu stärken. Notwendige Voraussetzung für den UNO-Einsatz war die Zustimmung der Beteiligten und ein völkerrechtlich tragfähiges und robustes Mandat. Wie schon beim Einsatz im Kongo, so wirkt im Libanonkonflikt der Sog der Weltpolitik auch auf Deutschland ein. Doch wird die katalysierende Wirkung zerfallender Staaten Deutschland und Europa zu verstärktem Engagement in der Welt animieren. Oder könnten sich Deutschland und Europa dabei übernehmen? Selbst der Weltmacht USA ist es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen, den Nahen Osten zu befrieden. Unter der Führung von George W. Bush haben die USA dort weiter an Einfluss und Prestige verloren. Heute verfolgt die Welt deshalb mit Besorgnis nicht nur Irans nukleare Ambitionen, sondern auch Amerikas militante Rhetorik. Auch hier sucht Deutschland mit anderen Europäern zusammen zu vermitteln. Doch bislang ist der entscheidende Durchbruch ausgeblieben. Der Iran lenkt nach wie vor nicht ein. Angesichts Israels Scheiterns im Libanon und angefeuert durch das Durchhalten der Hisbollah zeigt sich Teheran selbstbewusst, auch im Atomkonflikt. Kann der Iran noch mit nichtmilitärischen Mitteln von seinen Nuklearambitionen abgehalten werden? Sanktionen nach Kapitel 7 der UNO-Satzung, insbesondere Wirtschaftssanktionen, erscheinen unglaubwürdig, vor allem weil Russland und China aufgrund ihrer engen Beziehungen zum Iran kein Embargo unterstützen würden. Beide Länder sind über die Öl- und Waffenwirtschaft mit Teheran eng verflochten. Nach dem israelischen Desaster im Libanon werden die USA wohl kaum die Zerstörung der Forschungsanlagen des Irans durch Luftangriffe oder eine Bodenoffensive ins Auge fassen. Da Wirtschaftssanktionen zweischneidig sind und ein Militärschlag rechtswidrig wäre, mit gravierenden Folgen für die Nahostregion und für das Verhältnis zwischen muslimischer und westlicher Welt, kann der Iran allenfalls mit ökonomischen Anreizen zum Einlenken bewegt werden. Kann und darf der Westen dem Iran überhaupt ein ziviles Atomprogramm vorenthalten? Der Atomwaffensperrvertrag von 1968 erlaubt jedem Staat, auch dem Iran, die Nutzung der Kernenergie zu zivilen Zwecken, solange auf den Erwerb von Atomwaffen verzichtet wird. Das Dilemma liegt in der engen zeitlichen und technischen Parallelität der friedlichen und militärischen Anwendung der Kernenergie. Es gibt keine Beweise, dass der Iran gegen die IAEO-Regeln verstößt, aber Hinweise, dass der Iran vertragswidrig militärische Absichten verfolgt: Kann die Staatenwelt heute davon ausgehen, dass der Iran als Nuklearmacht ein rational kalkulierbarer Akteur bleibt und Atomwaffen lediglich als Abschreckungswaffe ansieht? Wenn Israel als Atommacht geduldet und sein Verhalten wie z.B. im Libanon von den USA hingenommen wird, kann dann noch ein atomar bewaffneter Iran verhindert werden? Oder sollte der Nahe Osten insgesamt zur atomwaffenfreien Zone gemacht werden? Nicht nur mit Blick auf Israels Sicherheitsinteressen muss sich Deutschland seiner besonderen Verantwortung im Nahen Osten bewusst sein, es gilt auch, die Interessen der anderen nachhaltiger zu berücksichtigen. Die Beziehungen zu Russland Während Bundeskanzler Schröder mit Kritik gegenüber der Regierung Bush nicht sparte, aber Russlands Präsident Wladimir Putin zum "lupenreinen Demokraten" adelte, stellt Bundeskanzlerin Merkel die Außenpolitik gegenüber den beiden Weltmächten zwar nicht gleich vom Kopf auf die Füße, aber manches wird relativiert. Allerdings halten die Bundeskanzlerin und der Außenminister am Konzept einer strategischen Partnerschaft mit Russland fest. Doch vor dem Hintergrund der früheren "Männerfreundschaft" zeigt Merkel gegenüber Putin eine betont sachorientierte Einstellung, zumal die neue energiepolitische Abhängigkeit Deutschland und Europa irritieren. Verführen die enormen Öl- und Gaseinnahmen Moskau zu altbekannten Weltmachtträumen? Nach den postsowjetischen Wirren und vorübergehender Öffnung gegenüber dem Westen knüpft Putin mit seiner Vision einer "souveränen Demokratie" an Großmachtmythen des 19. Jahrhunderts an. So, wie in der russischen Innenpolitik oft demokratische Attrappen herhalten müssen, wirkt auch Putins Bekenntnis zur außenpolitischen Kooperation wenig glaubwürdig. Russland sucht vor allem Prestige, Vormacht, eigenen Vorteil und einseitige Abhängigkeiten. Zwar steht nicht die Wiedergeburt der Sowjetunion unter Putin auf der politischen Tagesordnung, aber der Westen, Europa und insbesondere Deutschland sollten kühle Interessenpolitik betreiben. Die Verbindung von Repression, Korruption, wirtschaftlicher Rückständigkeit, autoritärer Staatsführung und mangelhaftem internationalem Verantwortungsbewusstsein haben negative Auswirkungen auf Russlands Rolle in der internationalen Politik. Es mangelt dem Land nicht nur an "softpower", sondern an dem Willen, in weltpolitischen Ordnungsdimensionen zu handeln. Die Politik von Putin folgt einer historischen Logik und wird Europa und die Welt noch lange beunruhigen, zumal Russlands Auftrumpfen durch Stagnation der europäischen Integration, durch Spaltung des Westens und durch Fehler der USA begünstigt wird. Während die USA im postsowjetischen Raum die offene Kritik und Konfrontation mit Russland nicht scheuen, sucht Deutschland eher vermittelnd und kooperativ eine Osteuropastrategie, die Russland einbindet. Hier liegen Chancen und Risiken für Berlin. Unter Rot-Grün wurde über Äquidistanz hinaus sogar Gegenmachtbildung an der Seite Russlands praktiziert, um die USA weltweit einzudämmen. Hiervon rückt Kanzlerin Merkel ab. Doch Außenminister Steinmeier scheint der Logik der Äquidistanz vieles abzugewinnen. Während also Frau Merkel die deutschen Interessen europäisch einbetten und trotz aller Widrigkeiten aus Washington transatlantisch verankert möchte, setzt ihr Außenminister gegenüber Moskau andere Akzente. Steinmeier reklamiert offenkundig für sich die Zuständigkeit für die deutsche Russlandpolitik. "Annäherung durch Verflechtung" soll die neue Losung lauten. Der historische Bezug zu Egon Bahrs Politik "Wandel durch Annäherung" deutet auf eine sozialdemokratische Traditionslinie, der sich Steinmeier verpflichtet sieht. Das Auswärtige Amt sucht noch mehr Kooperation, noch mehr Energiepartnerschaft für die deutsch-russische und sogar für die europäisch-russische Zukunft. Skepsis und Bedenken gegenüber der russischen Staatsführung scheinen an Bedeutung zu verlieren. Eine solche Umorientierung deutscher Außenpolitik ist sehr riskant. Die USA werden sich im Innern und in der Außenpolitik erneuern. Die Politik des Kreml hingegen ist strukturbedingt und lässt wenig Hoffnung aufkommen, dass ausgewogene Annäherung durch Verflechtung Realität werden könnte. Der neue Primat der Energiesicherheit Deutschland wird sich zunehmend seiner hochgradigen Energieabhängigkeit bewusst. Doch nicht nur Russlands, auch Chinas lautlose, aber effektive Energiepolitik lässt weltweit aufhorchen. Dazu erscheint der Iran nicht nur als Staat mit Nuklearambitionen, sondern auch als wichtiger Energieproduzent. Aus Lateinamerika droht ebenfalls Ungemach, falls die Präsidenten von Venezuela und Bolivien mit der Verstaatlichung der Öl- und Gasexporte ernst machen und nicht davor zurückschrecken sollten, Konflikte um Öl und Gas anzufachen. Große und kleine Energiemächte suchen auf rücksichtslose Weise ihren Interessen durchzusetzen. Diesen Ansinnen kann Deutschland allein mit gut gemeinter Kooperation und multilateralen Beschwichtigungsvorschlägen nur unzureichend begegnen. Diese neue energiepolitische Front von undemokratischen Regimen erfordert einen neuen Selbstbehauptungswillen der freien Welt. Gerade für Deutschland sind Erpressungstaktiken, Machtrivalitäten und die Drohung neuer energiepolitischer Abhängigkeiten völlig neue Erfahrungen, erfordern also schnelle Lernfähigkeit. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier nach einer neuen Energiepolitik dringlich, aber auch eine Neubesinnung auf die Kernkraft ist geboten. Die Große Koalition sollte über eine modernisierte Kernenergienutzung sine ira et studio diskutieren. Solange sich die überwältigende Mehrheit von Staaten und Unternehmen Nutzen von der Kernkraft versprechen, können die Einwände gegen die friedliche Nutzung des Atoms nicht überzeugen. Deutschland sollte nicht erneut, diesmal in der Energiepolitik, auf einem Sonderweg beharren. Während alle anderen G8-Staaten auf dem Gipfel in St. Petersburg die Kernenergie zum Fundament für Energiesicherheit erklären, lehnt Deutschland als einziger Staat die Kernenergie weiter ab. Damit steht Deutschland auf verlorenem Posten. Selbst die neue linksorientierte italienische Regierung befürwortet die Nutzung der Kernenergie. Konsequenterweise würden weniger Energieabhängigkeit von Russland und eine positive Bewertung der Atomkraft Deutschland energiepolitisch stärken, europäisch gemeinschaftlich aufrichten und seine weltweit führende Rolle im Bereich der Energietechnologien sichern. Innenpolitische Grundlagen der Außenpolitik Nach dem Grundsatz "Außenpolitik beginnt zu Hause" will Bundeskanzlerin Merkel vor allem die wirtschaftspolitische Leistungsfähigkeit und damit das deutsche Selbstvertrauen wiederherstellen. Das ergibt Sinn, denn die Überwindung der ökonomischen Schwächeperiode ist Grundvoraussetzung für eine kraftvolle Außenpolitik. Doch die bisherigen wirtschaftspolitischen Reformansätze reichen dafür nicht aus. Deutschlands Wirtschaft schwächelt weiter, und die Staatsverschuldung steigt, wenn auch weniger schnell. Außerdem findet Außenpolitik nicht die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihr im Lande zukommen müsste. Sprachen sich bis 2001 noch mehr als die Hälfte der Befragten für eine aktive Außenpolitik aus, so waren es 2005 nur noch 24 Prozent. In keinem anderen westlichen Land ist die Skepsis gegenüber militärischen Lösungen von Konflikten so groß wie in Deutschland. Diese militärische Zurückhaltung muss nicht unbedingt negativ gesehen werden, doch nimmt sich Deutschland damit die Chance auf politischen Einfluss. Die Betonung von "softpower" ist wichtig und richtig, doch darf sich Außenpolitik nicht auf internationale Sozialhilfe beschränken. Streitkräfte sind auch ein politisches Instrument der Außenpolitik. Ihre Entsendung aus eigener Initiative, eingebettet in eine kluge außenpolitische Strategie und Interessenpolitik, kann ebenso sinnvoll sein wie die Umsetzung von wirtschaftlichen, finanziellen oder diplomatischen Fähigkeiten in politischen Einfluss. Die Bundeswehrsoldaten stehen nicht nur militärisch ihren Mann, doch fehlen nach wie vor ein kluges Konzept und der Wille, ihren Einsatz im Rahmen einer langfristigen Interessenpolitik zu nutzen. Der Einklang von Außen- und Sicherheitspolitik, das Zusammenspiel zwischen militärstrategischen Überlegungen und politischer Interessensetzung, muss verbessert werden. Fazit und Perspektiven Kluge Machtpolitik der USA sowie kraftvolle Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union, diese beiden Fixpunkte früherer deutscher Außenpolitik drohen wegzubrechen. Deshalb wird die Große Koalition unter viel komplizierteren europäischen internationalen Bedingungen die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt sichern und ausbauen müssen. Die Außenpolitik Deutschlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss also nach Maßgabe der Veränderungen und Herausforderungen mitwachsen. Merkelmacht sich um die Wiederherstellung dertransatlantischen Beziehungen verdient, Steinmeiers umsichtige Krisendiplomatie im Nahen Osten nötigt Respekt ab. Aber übernimmt sich Deutschland nicht im Nahen Osten? Guter Wille allein reicht nicht aus. Selbst die USA haben den Nahen Osten mit besten Absichten und ganz anderen Machtmitteln als Deutschland in Jahrzehnten nicht befrieden und den arabisch-israelischen Konflikt nicht lösen können. Da verwundert es nicht, dass erfahrene Außenpolitiker wie Hans-Dietrich Genscher unüberhörbar davor warnen, sich im Nahen Osten militärisch zu engagieren. Umfragen bestätigen ihn: Rund 80 Prozent lehnen ein militärisches Engagement dort ab. Lässt sich daraus ein grundsätzlicher außenpolitischer Isolationismus ableiten? Wohl kaum, aber Vorsicht ist geboten. Was sich schon im Zuge des Engagements im Kongo abzeichnete, wird jetzt zwingend: Berlin muss endlich eine außenpolitische Strategie und ein sicherheitspolitisches Konzept entwickeln, das die eigenen Interessen verdeutlicht und zugleich zur Aufrechterhaltung einer stabilen Weltordnung beiträgt. Außenpolitische Schwerpunkte und Prioritäten müssen selbst gesetzt werden. Nur wer sich aus eigenem Antrieb überzeugend engagiert, kann bei anderen Anfragen, z.B. nach militärischem Engagement, selbstbewusst Nein sagen. Das Gefühl der Sicherheit ist spätestens seit dem 11. September 2001 verflogen: Alle Industrienationen sind mit neuen Herausforderungen konfrontiert, doch Eliten und Bevölkerung, vor allem in Deutschland, wiegen sich nach wie vor in fadenscheiniger Sicherheit. Die Probleme auf dem Balkan sind ungelöst, Afghanistan könnte am Vorabend einer gefährlichen "Irakisierung" stehen, und der Irak steht vor dem Bürgerkrieg. Jahrzehntelange Partner der USA wie Deutschland gehen auf Distanz, denn sie müssen darauf achten, nicht durch die verfehlte Politik Washingtons international in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Feinde und Gegner der USA dagegen, wie Al-Qaida, Taliban, Hisbollah, Staaten wie Syrien, Venezuela, der Iran und andere profitieren von Amerikas neuer Schwäche. Die historisch und machtpolitischen Rivalen wie Russland, China und andere ziehen Schlussfolgerungen, die nicht selten auf Kosten der USA und des Westens gehen. Der Iran wird immer mehr zum Brennpunkt einer Krise, welche die Nahostregion erschüttern könnte. Hinzu kommt, dass die Entwicklungen im Energiesektor das Staatensystem revolutionieren und gerade die großen Mächte zu neuer Rücksichtslosigkeit verführen. Europa, das zeigt nicht nur das EU-Verfassungsdebakel, kann sich allein als zivilisatorisches Vorbild nicht behaupten, zumal der vorbildliche Gemeinschaftsgeist zunehmend zu zerfransen droht. Immer mehr Hypernationalismus, zum Teil religiös aufgeladen, drängt in die Weltpolitik. Die Konflikte erhalten zusehends eine religiöse Dimension, die, wie der Karikaturenstreit und die Kritik an Papst Benedikts Rede in Regensburg im September 2006 angedeutet haben, unverhofft wieder akut werden könnte. In dieser Situation ist eine besonnener Ausgleich zwischen Toleranz und Selbstbehauptung gefragt. Dazu gehört, dass man sich der eigenen Werte und Interessen bewusst wird angesichts einer Machtpolitik in Peking, Moskau, Teheran, Minsk und anderswo. Deshalb muss Deutschland mehr selbst gestalten, um eine kluge Balance zwischen nationalem Interesse, europäischem Gemeinschaftsbewusstsein, transatlantischer Verpflichtung und globaler Verantwortung neu herzustellen. Vgl. Robert Cooper, Gibt es eine neue Weltordnung?, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Frieden machen, Frankfurt/M. 1997, S. 102; Ulrich Menzel, Comeback der drei Welten: Der amerikanische Sonderweg und die Alternativmacht Europa, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik, (2003) 12, S. 1453 - 1462. "Auch beim Kampf gegen den Terrorismus darf der Zweck nicht die Mittel heiligen. Der Einsatz geheimer Gefängnisse der CIA sind nicht mit meinem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit vereinbar", so Merkel in: Süddeutsche Zeitung vom 11. 9. 2006, S. 1. Vgl. Alice Neuhäuser, Von der Entfremdung zur Wiederannäherung: zum Bestand der transatlantischen Beziehungen, in: Politische Meinung, 44 (2006), S. 40. Vgl. Eine Krise - sorgsam verhüllt, warum die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau in einer Sackgasse stecken, in: Süddeutsche Zeitung vom 11. 9. 2006, S. 2. Vgl. Hartmut Mahold, Deutsche Europapolitik nach dem Regierungswechsel 2005, in: Integration, (2006) 1, S. 20. Vgl. Sven-Olaf Berggötz, Nahostpolitik in der Ära Adenauer. Möglichkeiten und Grenzen (1949 - 1963), Düsseldorf 1998; Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion, Düsseldorf 2002. Merkels Auftreten auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2006, als sie dem stellvertretenden iranischen Außenminister deutlich machte, dass der Iran "mutwillig die rote Linie überschritten hat". Vgl. Muriel Asseburg, Nach den palästinensischen Parlamentswahlen, SWP Aktuell, Februar 2006. Vgl. Und was kommt nach der Waffenruhe?, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 18. 8. 2006, S. 26. Vgl. Jochen Bittner, Soll die Bundeswehr in den Libanon?, in: Die Zeit vom 24. 8. 2006, S. 2. Vgl. Hans Rühle, Der Atompate hält schützend die Hand über Teheran, Russland und Iran - Die Geschichte einer fatalen Nuklearbeziehung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 27. 4. 2006, S. 7. "Ahmadinedschad ist mit seinem unkontrollierten Temperament und seinen aggressiven Reden sicherlich gefährlich. Das hat aber mit der atomaren Frage wenig zu tun. Die Iraner haben schon seit längerer Zeit nach ziviler Nutzung des Atoms gestrebt; dazu sind sie als Partner des Nichtverbreitungsvertrages berechtigt. Für eine denkbare Entwicklung nuklearer Waffen würden sie noch mehrere Jahre benötigen. Diese Frage sollte man nicht mit der Person des iranischen Präsidenten vermischen", Interview von Helmut Schmidt, in: Hamburger Abendblatt vom 23. 4. 2006, S. 4. Vgl. FAZ vom 17. 2. 2006, S. 2. Vgl. Barbara von Ow-Freytag, Zwischen neuer Macht und alten Mythen, in: Internationale Politik (IP), (2006) 7, S. 53. Vgl. Lilia Schewzowa, Putins Vermächtnis, in: IP, (2006) 7, S. 43. Der Spiegel vom 5. 9. 2006, S. 32f. Vgl. Frank Umbach, Energie für das 21. Jahrhundert, in: IP, (2006) 2, S. 8 f. Vgl. Stefan Dietrich, Unverantwortliche Energiepolitik, in: FAZ vom 8. 7. 2006, S. 1. Vgl. Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr zum Thema sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbildung in Deutschland; vgl. auch NZZ vom 28. 7. 2006. Vgl. Hanns Maull, Nationale Interessen! Aber was sind sie?, in: IP, (2006) 10, S.62 ff. Vgl. Christian Hacke, Mehr Bismarck, weniger Habermas: Die große Koalition bringt einen neuen Realismus in die deutsche Außenpolitik, in: IP, (2006) 6, S. 68ff.
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Hacke, Christian
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29462/deutsche-aussenpolitik-unter-bundeskanzlerin-angela-merkel/
Unter Kanzlerin Merkel hat eine behutsame Umorientierung deutscher Außenpolitik eingesetzt. Das Verhältnis zu den USA hat sich erheblich gebessert. Die großen Herausforderungen des Westens können nur in Kooperation gelöst werden.
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Konsequenzen internationaler Mobilität für die individuelle Lebenssituation | Datenreport 2021 | bpb.de
Eine gesonderte Betrachtung der international mobilen Bevölkerung zeigt, dass die Mehrheit dieser Personen ihre Situation im Ausland besser bewertet als unmittelbar vor der Auswanderung. Das galt für den Lebensstandard (55,9 %), das persönliche Einkommen (57,3 %), das Haushaltseinkommen (59,2 %) sowie die Wohngegend (54,9 %). Durchgehend über ein Viertel der Personen berichtete sogar über "viel bessere" materielle Lebensbedingungen. International mobile Deutsche berichten auch über positive Veränderungen ihrer gesundheitlichen und sozialen Lebensbedingungen. So gaben 34,7 % der ins Ausland gewanderten Deutschen eine Verbesserung ihrer Gesundheit im Vergleich zu vor der Auswanderung an. Von einer Verschlechterung berichtete mit 9,3 % eine deutliche Minderheit. Gesundheit bezieht sich hier sowohl auf physische als auch psychische Aspekte und berücksichtigt daher gesundheitliche Veränderungen, die beispielsweise mit der individuellen Ernährung, mit dem Gesundheitsverhalten (Sport oder Alkoholkonsum) oder mit Stress zusammenhängen. Bei der Mehrheit der Deutschen verbesserte sich außerdem die familiäre Situation. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass viele Paare separate Haushalte durch die Auswanderung zusammenführen. So gaben 38,7 % der ins Ausland gewanderten Deutschen eine Verbesserung des Familienlebens unmittelbar nach der Auswanderung an, während lediglich 16,8 % von einer Verschlechterung berichteten. Im Gegensatz zur besseren Familiensituation im Ausland berichtete die Mehrheit der international mobilen Deutschen von einer schlechteren außerfamiliären Situation. 35,9 % gaben eine schlechtere Situation innerhalb ihres Freundes- und Bekanntenkreises an, während lediglich 21,6 % von einer verbesserten Situation berichteten. Ähnlich verhält es sich mit den Kontakten zur Nachbarschaft: 30,1 % der ins Ausland umgezogenen Deutschen berichteten von einer Verschlechterung, während nur 24,3 % eine Verbesserung angaben. Die persönlichen Einschätzungen international mobiler Deutscher zur Veränderung ihrer materiellen Lebensbedingungen zeigen sich in der Einkommensmobilität im Rahmen der Auswanderung. Tabelle 3 liefert dazu Angaben in Form des mittleren Nettoeinkommens von Erwerbstätigen unmittelbar vor und nach ihrem Umzug ins Ausland. Betrug das mittlere Monatsnettoeinkommen von Deutschen vor ihrer Auswanderung noch 2.700 Euro, so stieg es mit ihrem Umzug um ein Drittel an und lag nach der Auswanderung bei 3.600 Euro. Für rund 72 % der deutschen Erwerbstätigen mit Einkommensangaben war die internationale Mobilität mit einer Verbesserung des Monatsnettoeinkommens verbunden. Ähnlich verhält es sich beim Nettostundenlohn. Dieser stieg im Mittel um über die Hälfte an (von 14 Euro auf 21,50 Euro). Insgesamt profitieren international mobile Deutsche also auch unabhängig von ihrer Wochenarbeitszeit, da diese bereits im Nettostundenlohn berücksichtigt ist. Ein tieferer Blick in die Daten zeigt außerdem, dass die Mehrheit jener, die einen Anstieg im persönlichen Einkommen verzeichneten, keinen Anstieg in der wöchentlichen Arbeitszeit aufwiesen. Die Lohnsteigerungen im Zuge der Auswanderung sind im Durchschnitt also nicht auf erhöhte Arbeitsstunden zurückzuführen. Die Anstiege sind auch dann höher, wenn man sie mit den Lohnsteigerungen nicht mobiler Deutscher mit ähnlichen soziostrukturellen Merkmalen im gleichen Zeitraum vergleicht. Kausalität Im Kapitel werden einige Aussagen über Veränderungen im Rahmen internationaler Mobilität, zum Beispiel beim Einkommen, getroffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass Veränderungen im Leben von international mobilen Personen nicht ohne Weiteres auf ihre Auswanderung zurückgeführt werden können. Zum einen unterscheidet sich die international mobile Bevölkerung von der international nicht mobilen Bevölkerung hinsichtlich bestimmter Merkmale, die bereits vor der Auswanderung unterschiedlich verteilt waren. Veränderungen im Leben von international mobilen Personen können auf solche Merkmale und nicht auf die Auswanderung selbst zurückzuführen sein. Dazu zählen beispielsweise soziodemografische Merkmale, wie das Alter und der Beruf, oder auch motivationale Merkmale, wie Ehrgeiz oder Produktivität. Zum anderen können Veränderungen im Leben von international mobilen Personen durch Ereignisse ausgelöst werden, die auch bei international nicht mobilen Personen vorkommen. Internationale Mobilität muss damit nicht zwingend alleiniger Auslöser für individuelle Veränderungen sein. Ein Beispiel dafür sind die mit der internationalen Mobilität häufig verbundenen Arbeitsgeberwechsel, die jedoch auch innerhalb Deutschlands mit Einkommensgewinnen einhergehen. Die vorliegenden Ergebnisse berücksichtigen allein Unterschiede in den soziodemografischen Merkmalen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen (Selektivität). Daher wird in diesem Kapitel nicht davon ausgegangen, dass die hier diskutierten Veränderungen im Leben von international mobilen Personen ausschließlich auf deren Auswanderung zurückzuführen sind (Kausalität). Wenngleich die Auswanderung gemessen an der Einkommensmobilität häufig mit deutlichen Aufstiegen verbunden ist, findet bei der großen Mehrheit der ins Ausland umgezogenen, durchgehend erwerbstätigen Deutschen kein sozialer Klassenwechsel statt. Dies lässt sich durch die im vorherigen Abschnitt dargestellten Befunde erklären, dass international mobile Deutsche mehrheitlich aus gut gestellten Elternhäusern stammen und auch selbst überwiegend der hoch qualifizierten und beruflich erfolgreichen Bevölkerungsgruppe angehören. Abbildung 3 zeigt die mit der Auswanderung verbundenen Übergänge zwischen den sozialen Klassen von durchgehend erwerbstätigen Deutschen. Die linke Seite der Abbildung zeigt den Anteil erwerbstätiger Deutscher je Klasse vor der Auswanderung. Die rechte Seite zeigt den Anteil erwerbstätiger Deutscher je Klasse nach der Auswanderung. Die Verknüpfung der Anteile vor und nach dem Umzug veranschaulicht, wie sich Erwerbstätige mit der Auswanderung zwischen den sozialen Klassen bewegen. Das Ausmaß dieser sozialen Mobilität lässt sich am besten mit Blick auf die beiden Dienstklassen ermitteln. Die obere Dienstklasse beinhaltet beispielsweise leitende Angestellte und höhere Beamtinnen und Beamte. In der unteren Dienstklasse finden sich hoch qualifizierte Angestellte und gehobene Beamtinnen und Beamte. 9,2 % der durchgehend Erwerbstätigen stiegen mit dem Umzug ins Ausland in die obere Dienstklasse und 3,5 % in die untere Dienstklasse auf. Ferner stiegen mit der Auswanderung 8,2 % der durchgehend Erwerbstätigen von der oberen Dienstklasse in eine tiefere Klassenposition ab. Nur 2,7 % stiegen aus der unteren Dienstklasse ab. Im Kapitel werden einige Aussagen über Veränderungen im Rahmen internationaler Mobilität, zum Beispiel beim Einkommen, getroffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass Veränderungen im Leben von international mobilen Personen nicht ohne Weiteres auf ihre Auswanderung zurückgeführt werden können. Zum einen unterscheidet sich die international mobile Bevölkerung von der international nicht mobilen Bevölkerung hinsichtlich bestimmter Merkmale, die bereits vor der Auswanderung unterschiedlich verteilt waren. Veränderungen im Leben von international mobilen Personen können auf solche Merkmale und nicht auf die Auswanderung selbst zurückzuführen sein. Dazu zählen beispielsweise soziodemografische Merkmale, wie das Alter und der Beruf, oder auch motivationale Merkmale, wie Ehrgeiz oder Produktivität. Zum anderen können Veränderungen im Leben von international mobilen Personen durch Ereignisse ausgelöst werden, die auch bei international nicht mobilen Personen vorkommen. Internationale Mobilität muss damit nicht zwingend alleiniger Auslöser für individuelle Veränderungen sein. Ein Beispiel dafür sind die mit der internationalen Mobilität häufig verbundenen Arbeitsgeberwechsel, die jedoch auch innerhalb Deutschlands mit Einkommensgewinnen einhergehen. Die vorliegenden Ergebnisse berücksichtigen allein Unterschiede in den soziodemografischen Merkmalen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen (Selektivität). Daher wird in diesem Kapitel nicht davon ausgegangen, dass die hier diskutierten Veränderungen im Leben von international mobilen Personen ausschließlich auf deren Auswanderung zurückzuführen sind (Kausalität). Insgesamt waren mit der Auswanderung durchgehend erwerbstätiger Deutscher etwas mehr soziale Aufstiege (13,2 %) als soziale Abstiege (11,5 %) verbunden. Entsprechend gehören Personen der Dienstklassen innerhalb der international mobilen Bevölkerungsgruppe nicht nur international, sondern auch sozial gesehen zu den mobilsten durchgehend Erwerbstätigen. Die Mehrheit der Personen (75,1 %) hatte ihre Klassenposition mit der Auswanderung allerdings nicht verändert. Die überwiegend hoch qualifizierten Erwerbstätigen besetzen demnach auch im Ausland attraktive Berufspositionen.
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Andreas Ette, Andreas Genoni, Nils Witte
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/sozialstruktur-und-soziale-lagen/330091/konsequenzen-internationaler-mobilitaet-fuer-die-individuelle-lebenssituation/
Eine gesonderte Betrachtung der international mobilen Bevölkerung zeigt, dass die Mehrheit dieser Personen ihre Situation im Ausland besser bewertet als unmittelbar vor der Auswanderung. Das galt für Lebensstandard, persönliches Einkommen, Haushaltse
[ "Datenreport", "internationale Mobilität und Sozialstruktur", "Konsequenzen", "Situation im Ausland", "Auswanderung", "Lebensstandard", "persönliche Einkommen", "Haushaltseinkommen", "materielle Lebensbedingungen", "Familiensituation im Ausland", "außerfamiliäre Situation", "Einkommensmobilität" ]
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Was ist DEKOS? | Demokratiekosmos Schule | bpb.de
In sämtlichen Schulformen erleben Lehrkräfte politische Provokationen und diskriminierende Situationen wie z.B. die Verbreitung rassistischer Parolen, Äußerungen von Vorurteilen gegenüber Minderheiten, die Ausgrenzung von Geflüchteten, rechts- oder linksextreme Positionierungen, den Gebrauch von nationalsozialistischen Symbolen oder religiöse Intoleranz. Deshalb unterstützt die Bertelsmann Stiftung im Projekt „Demokratiekosmos Schule“ (DEKOS) Lehrkräfte im wirksamen Umgang mit antidemokratischen Situationen im Alltag. Das Projekt zeigt Wege auf, wie sich Schulen diesen Herausforderungen stellen können und wie Pädagog:innen in Situationen, die mit unseren demokratischen Werten in Konflikt stehen, sicher und angemessen reagieren können. Inhaltlicher Fokus und Aufbau Das digitale Unterstützungsangebot greift zunächst zwei Fallbeispiele aus den Bereichen Antisemitismus und Rechtsextremismus auf. Wir stellen Selbstlernprozesse und die pädagogische Praxis von Lehrkräften in den Mittelpunkt: Bei jedem der schulischen „Normalität“ entlehnten Beispielen steht das exemplarische Lernen im Fokus. Durch eine inhaltliche Zuspitzung regen wir zur Reflexion an und fördern die Entwicklung angemessener pädagogischer Strategien. Dabei stellen wir kurz-, mittel- und langfristige Handlungsoptionen für Schule und Unterricht vor. Wir favorisieren das exemplarische Lernen auf Basis multiperspektivischer Fallbetrachtungen. Das Angebot ist modular aufgebaut und ermöglicht den Nutzer:innen, einen individuellen Lernpfad einzuschlagen. Nach den eigenen Bedürfnissen kann zwischen Wissensbausteinen, Handlungsempfehlungen, Leitfäden, Checklisten sowie unterrichtsunterstützenden Materialien ausgewählt werden. Fachexpertise Neun Fachleute aus schulnahen pädagogischen Beratungsstellen und aus dem universitären Kontext unterstützen die Entwicklung von DEKOS. Sie haben die Fallbeispiele aus ihrer Praxis eingebracht und diese gemeinsam mit dem Projektteam der FU Berlin, der Bertelsmann Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung didaktisch und methodisch aufbereitet. DEKOS entsteht unter der wissenschaftlichen Federführung von Professorin Dr. Sabine Achour. Sie hat den Lehrstuhl für Politikdidaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin inne. Ihre Forschung bezieht sich auf Herausforderungen für die politische Bildung in einer zunehmend diverseren Gesellschaft. Schwerpunkte sind dabei der Umgang mit Ideologien der Ungleichwertigkeit, Flucht und Migration, Inklusion, durchgängige Sprachbildung und religiöse Pluralität.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-09-09T00:00:00"
"2022-04-08T00:00:00"
"2022-09-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dekos/507115/was-ist-dekos/
In sämtlichen Schulformen erleben Lehrkräfte politische Provokationen und diskriminierende Situationen. Deshalb unterstützt die Bertelsmann Stiftung im Projekt "Demokratiekosmos Schule" (DEKOS) Lehrkräfte im wirksamen Umgang mit antidemokratischen Si
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Mafia in Deutschland heißt Neonazismus | Rechtsextremismus | bpb.de
Rechtsextremismus in Deutschland und Europa ... und der Widerstand der Bürgergesellschaft Wie viele Nazis gibt es hier? Es gibt Örtlichkeiten in Deutschland, wo diese Frage sehr gut passt, Örtlichkeiten, an denen diese Frage betretenverlegene Heiterkeit auslöst. "Wie viele Nazis gibt es hier?" Wenn man diese Frage irgendwo in der ostdeutschen Provinz einer Plattenbauschule in einer Plattenbausiedlung stellt, dann erntet man Gelächter. "Wie viele Nazis gibt es hier?" Die Klasse grinst, ein Junge sagt leicht spöttisch: "Die kann man hier gar nicht zählen, die stehen doch hier überall herum!" Und daher geht man in etlichen Gegenden, zumal in Ost-Deutschland, eben nicht auf Stadtfeste und nicht in bestimmte Stadtteile, die den Nazis "gehören". Der Soulsänger Xavier Kurt Naidoo aus Mannheim hat vor einiger Zeit, als er zu Besuch in einer Schule in Anklam war, mit seiner Frage nach den Nazis beklommene Heiterkeit ausgelöst. "Und wie ist es im Jugendclub", hat er die Klasse weiter gefragt. "Da sind überwiegend Nazis", erklärt ihm eines der Mädchen, "aber wir gehen trotzdem da hin. Wenn man die nicht blöd anmacht, sind die doch ganz normal". "Und wenn ich da hinkommen würde?", hakt der Soulsänger nach. Ungläubiges Hüsteln in der Klasse: "Na, dann gäbe es sicher Stress!" Der Sänger bohrt weiter: "Und wenn ihr Zeugen eines Überfalls werdet, holt ihr da wenigstens die Polizei?" "Die Polizei?" fragt eine Dunkelhaarige zurück, "die haben doch selbst Angst vor denen und machen nichts". Neonazis in Lichtenberg Anfang Dezember 2008. Foto: Kulick Die Nazi-Jugendkultur ist in Ostdeutschland und zunehmend in Westdeutschland allgegenwärtig. Und Nazi-Gewalt ebenso, nicht erst seit den Messerstichen auf Passaus Polizeipräsident Mannichl im Dezember 2008 war Zeit, das zu begreifen. Die rechte Szene ist längst keine Randgruppe mehr, sondern eine Massenbewegung – in Deutschland, in ganz Europa. Es gibt Nazi-Konzerte mit bis zu 2000 Leuten. Es gibt 200 Abgeordnete rechtsextremistischer Parteien in deutschen Landtagen. Es gibt vier Landtage, in denen Rechtsextremisten sitzen. Es gibt eine ansteigende braune Gewalt. Es gibt jedes Jahr ein neues "Rekordjahr" (wie es dann in den Zeitungen heißt) mit rechtsradikalen Übergriffen. 2007 wurden 600 Menschen bei Neonazi-Attacken verletzt. Und 2008 sogar noch einmal mehr. Laut einer Zählung der Amadeu Antonio Stiftung wurden seit der Wiedervereinigung 1990 mehr als 140 Menschen von Neonazis totgeschlagen, totgetrampelt, angezündet. Ja, es gibt auch Programme gegen rechtsextreme Gewalt. Sie leiden unter Geldmangel und unter einer staatlichen Bürokratie, die ihnen immer weniger Zeit und Kraft zum engagierten Arbeiten lässt. "Exit", die Organisation, die den Ausstieg von Nazis aus ihrer Szene unterstützt, steht deshalb – zur Häme der Neonazis – immer wieder vor dem Aus. Es gibt Leute, die beschwichtigen, abwinken, wenn es um die Rechtsextremen in Deutschland geht. Schaut doch nach Österreich, heißt es dann – dort haben die Rechtspopulisten von Haider & Co bekanntlich mit ihren zwei Parteien dreißig Prozent der Stimmen erzielt. Aber das ist etwas anderes: Die Parteien in Österreich sind rechtspopulistisch, nicht gewaltaufgeladen rechtsextrem. Österreich hat ein Rechtsaußen-Problem, aber kein Neonazi-Problem. Deutschland als braunes Versuchsfeld in Europa In Deutschland findet etwas noch sehr viel Gefährlicheres statt: Deutschland ist ein Versuchsfeld für ganz Europa, Deutschland ist ein Feld, auf dem eine explosive Symbiose zu beobachten ist: Hier findet in der NPD eine atemberaubend-gefährliche Vereinigung statt: Das sind zum einen die proletarisierten nationalrevolutionären Gruppen, die gewalttätigen Skinheads, wie es sie überall in Osteuropa gibt – der unverdaute Totalitarismus in ihren Ländern hat die Brutalo-Bewegungen befördert. Die NPD in Deutschland hat die Vernetzung, die Verbindung, die Symbiose geschafft – sie deckt das gesamte Rechtsaußen-Spektrum ab, das bürgerlich-rechtspopulistische und das antibürgerlich-rechtsrevolutionäre; dort sammeln sich Rechtspopulisten und nationale Sozialisten. Es gibt politische Wetterbeobachter, die sehen das Problem so: Rechtsaußen-Parteien kommen von Zeit zu Zeit über die Staaten Europas wie das dreckige Wetter. Dunkle Wolken ziehen auf, das Licht wird fahl, die Welt schaut bedrohlich aus; es donnert und blitzt, es schüttet wie aus Kübeln. Aber das dauert dann nicht lange, dann klart es wieder auf, und alles ist wieder friedlich und schön. Das wäre ein beruhigendes Modell. Es hat aber den Nachteil, dass es nicht stimmt. Es stimmt schon deswegen nicht, weil sich in der NPD, wie geschildert, ein Dauer-Bedrohungspotential auflädt. Trotzdem wird für die Gewitter-Theorie gern die BRD als Exempel genommen. Das geht so: Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre war die rechtsradikale NPD mit 61 Abgeordneten in sieben Landtagen vertreten, bei der Wahl in Baden-Württemberg im Jahr 1968 erhielt sie 9,8 Prozent der Stimmen. "Neonazis rüsten fleißig für ein neues 33." Aufkleber mit dieser Parole pappten damals warnend an den Türen von Schulen und Hochschulen. Mit dem "neuen 33", mit der zweiten Machtergreifung, kamen die NPD-Leute aber nicht weit. Bei der Bundestagswahl von 1969 erzielten sie zwar mit eineinhalb Millionen Stimmen (4,3 Prozent) das beste Wahlergebnis einer antidemokratischen Partei nach 1945 in der Bundesrepublik. Das war jedoch damals schon der Anfang vom schnellen Ende, das von innerparteilichen Kämpfen beschleunigt wurde. Bald spielte die NPD für lange Zeit keine Rolle mehr. Ähnlich erging es anderen rechtsradikalen Parteien, den Republikanern und der DVU, später auch wieder der NPD. Sie kamen und gingen und tauchten wieder auf. Wenn in den Landtagen Rechtsextreme sitzen, was das nach deren Theorie wieder der vorrübergehende Durchgang von dreckigem Wetter. Das ist erstens grob verharmlosend, weil in ganz Ostdeutschland zu beobachten ist, wie die Parlamentarisierung der NPD zu einer institutionellen Gewöhnung führt. Und das ist zum anderen falsch, von einer jeweils nur temporären demokratischen Störung durch Rechtsaußen-Parteien zu reden. Warum? Seit Mitte der 80er-Jahre, seit der französischen Front National unter seinem Führer Jean-Marie Le Pen erste größere Erfolge erzielte, sind rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien zu festen politischen Größen in Europa geworden. Die Grenzen zwischen rechtspopulistischem und rechtsradikalem Gedankengut verschwimmen. In vielen Ländern erzielen Rechtsrechts-Parteien auf nationaler Ebene regelmäßig Wahlergebnisse zwischen zehn und 20 Prozent, oft noch mehr. Sie sind nicht mehr vorwiegend anachronistisch, sondern liegen immer öfter im Trend, der, je nach Land, ein je ganz anderer sein kann. Es gibt Rechtsaußen-Parteien mit antimodernen und es gibt solche mit libertären Zügen. Was verbindet die Rechts- und Rechtsrechtsparteien in Europa? Was verband den 2008 tödlich verunglückten Jörg Haider in Österreich, der vor 20 Jahren mit seiner damaligen FPÖ zunächst einen radikalliberalen wirtschaftspolitischen Kurs für Freiberufler und Selbständige führte, sich aber dann mit seiner Partei den Arbeitern zuwandte und protektionistische Maßnahmen forderte, was verband diesen alten und neuen Haider mit sich selbst und einem Le Pen und seinem Front National? Was verbindet Le Pen mit dem Vlaams Blok in Belgien? Was verbindet den Vlaams Block mit der norwegischen wohlstands-chauvinistischen und antieuropäischen Fortschrittspartei des Carl I. Hagen? Was verbindet Hagen mit dem Schweizer Christoph Blocher, der keine neue Partei gegründet, sondern die alte, seit Jahrzehnten etablierte Schweizer Volkspartei rechtsgewendet hat? Was verbindet Blocher mit Umberto Bossi und seiner lombardischen Lega Nord, die als Partei der Handwerker und Kleinunternehmer die Abspaltung von Italien und ein ultraliberales Wirtschaftskonzept verficht? Was verbindet Bossi mit der dänischen Volkspartei DF, die bei Wahlen 2005 erneut zur drittstärksten Partei wurde (13,2 Prozent). Und was verbindet sie mit dem Ungarn Viktor Orban und seiner Fidesz-Partei? Der gemeinsame Nenner ist die aggressive Agitation gegen Einwanderer und gegen Flüchtlinge. Gemeinsam ist allen die Islamphobie, die den Islam mit islamistischem Fundamentalismus gleich setzt. Gemeinsam ist eine Sündenbock-Polemik gegen Ausländer als Basso continuo ihrer Politik. Alle rechtspopulistischen Parteien in Europa schüren Überfremdungsängste – sie reden aber nicht, wie das die klassisch rechtsextremen Parteien tun, vom Schutz der Rasse, sondern vom Schutz der kulturellen und nationalen Identität. Ihre Chefs agieren als angebliche Saubermänner mit dem eisernen Besen. Sie stellen üblicherweise auch nicht die Demokratie als solche in Frage, sie agieren aber gegen ihre Werte: Sie richten sich gegen den Gleichheitsgrundsatz, sie propagieren die Ausgrenzung "der Anderen", der Ausländer, der Einwanderer, der Muslime, sie propagieren das Recht auf den Unterschied, auf das Anders- und Besser-Sein. Die meisten der genannten Rechtsaußenparteien schrecken davor zurück (zu den Ausnahmen gehört FN von Le Pen), sich exzessiv rechtsextrem zu gebärden; sie nehmen aber kräftige Anleihen im argumentativen Fundus, sind aber nicht militant. Es geht ihnen um nationale und kulturelle Identität. Die deutsche NPD ist, wie gesagt, etwas Anderes, noch viel Gefährlicheres: Dort finden sich Elemente des genannten rechtskonservativ-populistischen Gedankenguts und des gewaltbereit national-sozialistischen Milieus mit ihren geheimbündlerischen Kameradschaften. Seit dem 11. September 2001, seit den Attentaten islamistischer Fundamentalisten in New York und Washington, hat sich das Klima für Rechtsrechts-Parteien noch einmal erwärmt – und die Debatte über die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen tut noch einmal ihren Teil. Klima kommt vom griechischen "klimatos", "Neigung", und meint den Einstrahlwinkel der Sonne. Seitdem die Angst der Menschen wächst, wächst auch die Neigung, den autoritären Rechtsaußen-Parteien und ihrer binären Politik zu vertrauen. Der politische Ton hat sich verschärft, die Fremdenangst hat zugenommen, das innerpolitische Klima in vielen europäischen Ländern ist giftiger geworden. Auffallend ist, dass es einen Rechtspopulismus auch ohne Einwanderung gibt, wo wie es seit jeher einen Antisemitismus ohne Juden gab. In Deutschland erzielen die fremdenfeindlichen Parteien DVU und NPD ihre größten Erfolge dort, wo es am wenigsten Ausländer gibt: Im Osten, in Brandenburg, in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Wie bekämpft man Rechtsextremismus? Wie bekämpft man Rechtsextremismus? Wie bekämpft man Rassismus und Fremdenfeindlichkeit? Es gibt einen merkwürdigen Glauben daran, auch bei aufrechten Demokraten, dass es, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus geht, genügt, die richtige Gesinnung zu haben. Aber: Moral allein genügt noch nicht. Es genügt auch nicht ein neuer Verbotsantrag gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht. Manche Leute glauben, so ein Verbotsantrag funktioniert wie die Fernbedienung beim Fernsehen: Man drückt drauf – und schon hat man ein neues Bild und ein neues, besseres Programm. So einfach ist es nicht. Was braucht man wirklich, um Rechtsextremismus zu bekämpfen? Was braucht man wirklich, um Visionen zu entwickeln für eine gute Zukunft der demokratischen Gesellschaft Man braucht Leute, die sich trauen, und die in mühseliger Alltagsarbeit in die Schulen gehen, in die Jugendzentren, in die Behörden und zur Polizei – Leute, die es nicht akzeptieren, wenn abgewiegelt und abgewimmelt wird. Man braucht Leute und Projekte, die "Wehret den Anfängen" heißen, oder "Buntes Leben", man braucht die Leute, die Workshops, Demonstrationen, Konzerte, Aufklärungskampagnen machen, man braucht Leute, die einer braunen Alltagskultur offensiv entgegentreten. Man braucht eine diskursive Gesellschaft, man braucht staatliche und stattlich geförderte Gegenstrategien, man braucht, vor allem, mutige Bürgerinnen und Bürger, denen nicht gleichgültig ist, wenn sich die Gesellschaft braun verfärbt, wenn Neonazis den öffentlichen Raum zu dominieren versuchen. Dabei dürfte es den Leuten, die dagegen aufstehen, die sich also etwas trauen, manchmal so ergehen, wie es in einem berühmten Film-Buchtitel steht: "Allein gegen die Mafia." In dieser Situation zu bestehen ist ein Akt hoher Zivilcourage. Wo die Mitte der Gesellschaft braun schillert, gilt oft als Nestbeschmutzer nicht der, der das Nest beschmutzt, sondern der, der es säubert. Allein gegen die Mafia? Der Vergleich ist nicht abwegig Die Mafia. Lassen Sie mich einen kleinen gedanklichen Ausflug machen. Vor zwei Wochen durfte ich in Köln eine Laudatio für Leoluca Orlando halten, den früheren Bürgermeister von Palermo, den berühmten Kämpfer gegen die Mafia. Er bekam den Konrad-Adenauer-Preis der Stadt Köln. Vor gut zehn Jahren bin ich mit diesem Leoluca Orlando dem damaligen Bürgermeister von Palermo und Gründer der Anti-Mafia-Partei La Rete, durch Sizilien gefahren. Er hat mir nicht nur sein Land, sein Palermo, gezeigt: Er hat mir gezeigt, was Bürgersinn ist – und was Beharrlichkeit, Unbeirrbarkeit und Mut vermag. Ich mag Ihnen das erzählen, weil es auch für unser Thema lehrreich ist. Er hat mir Kirchen gezeigt, die auch nachts geöffnet sind, er hat mir die Oper gezeigt, die er wiedereröffnen wollte – was mittlerweile auch geschehen ist. Er hat mich mit stillem, unbändigem Stolz durch die nächtlichen Gassen geführt hin zur Santa Maria dello Spasimo, zu jener gotischen Kirchenruine, in der Unerhörtes geschehen ist: Palermo hat sich dort selbst ausgegraben. Mehr als 1500 Lastwagen waren es, mit denen Freiwillige den Schutt aus der Ruine abtransportiert haben. Aus einem Trümmerhaufen, einem Rattenloch, ist ein Zentrum der Kultur, eine Heimstatt der schönen Künste geworden. Und dort, zwischen Baum und einem der Strebebögen haben Sie mir, es war schon Mitternacht, von der "Wiedergeburt Palermos" erzählt. Und als ich fragte, was ich mir darunter vorstellen sollte, zeigten Sie um sich und erzählten: "Als ich mit meiner politischen Tätigkeit begann, war Palermo nur physisch eine Stadt; niemand fühlte sich für sie verantwortlich. Niemand fühlte sich für die Straßen und Plätze, für den Markt, für die öffentlichen Anlagen oder das Theater verantwortlich. Die Geschichte einer Stadt, nehmen Sie Freiburg oder Köln oder Florenz, ist immer die Geschichte ihrer gemeinsamen Werte und Sachen – eine solche Geschichte gab es in Palermo nicht. Die Verantwortung des Einzelnen endete an der Grenze des eigenen Besitzes, es gab keinen Gemeinsinn. Als aber die Mafia anfing, exzessiv zu morden, als sie die beliebten Richter und Polizisten tötete, da bekamen die Menschen Angst – sie sind auf die Straßen und Plätze gegangen und haben entdeckt, das es eine Stadt gab, die außerhalb ihrer eigenen Häuser existierte." Ich verstand. Er meinte die Wiederentdeckung der Zivilcourage, des Gemeinsinns und der Zivilgesellschaft. Seitdem haben diese Wörter für mich einen sizilianischen Klang. Bei der Stadtführung zeigte er mir eine Kirche, die er soeben wieder eingeweiht hatte; sie war fünfhundert Jahre alt. Den Hafen hatte er auch wieder eingeweiht, er ist tausend Jahre alt und den zweihundertjährigen Park auch. In Deutschland, so sagten Sie, würde man solche Renovierung und Restaurierungen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den Bürgermeister und ein paar Baufirmen bezeichnen – aber: "In Wahrheit handelt es sich um eine Revolution." Revolution – das bedeutet den Umsturz der alten Verhältnisse. Und die alten Verhältnisse – das waren Korruption, mafiose Bürgermeister, katzbuckelnde Stadträte, unterwürfige Architekten und käufliche Stadträte, die die ganze Bauwirtschaft der Stadt kontrollierten. Die alten Verhältnisse: Da war der Verfall der Altstadt, der der mafiösen Sippschaft gar nicht schnell genug gehen konnte, weil sie am liebsten alles niedergewalzt hätte, um auch dort noch Wohntürme hochzuziehen. Die alten Verhältnisse: Das waren die Jahre, in denen selbst die Straßenlaternen nur leuchteten, wenn die Mafia es wollte. In diesen alten Verhältnissen gab es in Palermo an die 250 Morde im Jahr, die auf das Konto der Mafia gingen. Am Ende seiner Amtszeit als Bürgermeister gab es in Palermo noch acht Morde im Jahr – und diese ohne Beteiligung der Mafia. Palermo wurde unter seiner Ägide zur sichersten Stadt Italiens. Es war eine internationale Anerkennung dieser Leistung, dass in dieser Stadt im Dezember 2000 die UN-Konferenz zur Unterzeichnung der Konvention gegen das länderübergreifende organisierte Verbrechen stattfand. Die alten Verhältnisse: Das Ende dieser alten Verhältnisse begann auch damit, dass Letizia Battaglia, die weltberühmte Fotografin, die Leoluca, zur "Stadträtin für Lebensqualität" ernannt hatten, auf Plätzen und an Uferstreifen Palmen pflanzte und Marmorbänke aufstellte. Das war der erste zaghafte Frühling von Palermo – der dann in dem baugrubengroßen Krater verschwand, den das Mafia-Kommando 1992 beim Anschlag auf den Richter Giovanni Falcone in die Autobahn zum Flughafen sprengte. Die Mafia-Morde an den Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino waren anders als hundert stille Morde früher: Sie waren laut, und sichtbar. Leoluca Orlando stand als nächster auf der Todesliste. Als das in einem Zeitungsinterview angedeutet wurde, boten sich Tausende von Frauen aus Palermo in einer Unterschriftenliste an, Orlando künftig mit ihren Kindern in dessen Dienstwagen zu begleiten. Denn die Mafia, die, so Orlando, "unsere Werte, unsere Kultur benutzt und pervertiert, um zu töten", habe größere Angst und größeren Respekt vor den Frauen und Kindern gehabt als vor den Waffen der Polizei. Die alten Verhältnisse endeten mit dem Wieder-Erwachen von Zivilcourage und Gemeinsinn in Palermo. Gemeinsinn: In Deutschland fragt man neuerdings immer öfter – etwa dann, wenn es um die Wirtschaft und ihr Management geht – was dieses Wort bedeutet und wozu es verpflichtet. Im Palermo des Leoluca Orlando war es so: Schulklassen übernahmen die Patenschaft für Kulturdenkmäler, Betriebe adoptierten einen bestimmten Platz. Sie kümmerten sich darum, entrissen Denkmäler und Plätze dem Niemandsland und der Verwahrlosung. In diesen beginnenden neuen Verhältnissen war jede Kunstausstellung, jede restaurierte Säule, jedes neue Straßencafe ein Sieg. Hunderte Cafes und Restaurants stellten ihre Tische auf die Straße, fünf Jahre zuvor hatte das kaum ein Wirt gewagt. Die Stadtverwaltung schickte mehr Polizisten auf die Straße, der Müll wurde getrennt und regelmäßig abtransportiert, die neuen Busse fuhren pünktlich. Auch so sehen neue Zeiten aus. Noch eine letzte Erzählung von diesem Mann: Er lief mit mir, es war im Herbst 1996, durch das berühmte Mafia-Nest Corleone, seinem Geburts- und Heimatort. Soeben hatte in Florenz der Prozess gegen die Corleonesi begonnen. Sie liefen nach dem Essen mit mir hinauf zum Franziskaner-Kloster, das wie eine Bastion auf dem höchsten Felsvorsprung von Corleone sitzt, zu Fra Paolo und den Patres. Die Leibwächter, so schien es mir, waren sehr nervös, sie hatten den gepanzerten Wagen stehen lassen, liefen den Berg hoch durch die steilen Gassen, als wollten Sie mit ein Fitnessprogramm absolvieren. Sie schauten auf dem Weg hier in eine Kneipe, dort in einen Friseursalon, sie suchten, so dachte ich mir, gerade zu manisch den Kontakt mit den Leuten. Man müsse, sagten sie, zeigen, dass man sich nicht fürchtet, dass man keine Angst hat, dass man den öffentlichen Raum nicht "denen" überlässt. Nicht "denen" – das waren die, die ein paar Jahre vorher ihre Freunde Borsellino und Falcone ermordet hatten. Man darf nicht zeigen, dass man Angst hat. Man darf den öffentlichen Raum "nicht denen" überlassen. Diese Sätze Leoluca Orlandos fallen mir ein, wenn ich über die Neonazis in Deutschland nachdenke. Wege zur Rückeroberung des öffentlichen Raums In Ostdeutschland sind es rechte Kameradschaften, die den öffentlichen Raum besetzen. In ganzen Kleinstädten ist der Rechtsextremismus zur dominanten Jugendkultur geworden. Die NPD und die DVU sitzen in den Stadträten und die rechten Cliquen sitzen in den Kneipen und an den Tankstellen, bei Sportveranstaltungen und Stadtfesten. Wenn Neonazis "ausländerfreie" oder "national befreite" Zonen proklamieren, dann sagt das sehr genau, worum es gehen muss: Um die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz. In Sizilien heißt das, was das Gemeinwesen zerstört, Mafia. In Deutschland heißt es Neonazismus. Es heißt Antisemitismus. Es heißt Ausgrenzung. Es heißt Desintegration. Es heißt auch Jugendarbeitslosigkeit. Es heißt Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Mafia in Deutschland hat also andere Namen, eine andere Geschichte, sie funktioniert anders – aber sie richtet vergleichbares Unheil an: Hier wie dort macht sie Gesellschaft und Kultur kaputt. Und hier wie dort wird oder wurde geleugnet, dass es Mafia gibt: "Mir ist nicht bekannt, das es bei uns Rechtsradikale gibt", sagen Bürgermeister in Deutschland nicht selten. Leoluca Orlando kennt diesen Satz, man sagte ihn über die Mafia auch. Gern heißt es auch: "Das war doch keine Hetzjagd, das war doch nur eine Wirtshausschlägerei!" Es ist dies, wie Juristen sagen würden, eine Protestatio facto contraria – eine Leugnung von Fakten also, die offenkundig sind. Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz: Das gilt nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Die besonderen Probleme in Ostdeutschland verleiten im Westen bisweilen dazu, sich sehr pharisäerhaft zu gerieren – als ob Zivilcourage und Verantwortungsgefühl nicht auch hier Mangelware wären. Der Westen unseres Landes braucht den Sauerteig Zivilcourage so sehr wie der Osten: "Viele sahen zu. Niemand half." Es gibt viele solcher Situationen. Man sitzt dann nicht mir Bier und Erdnüssen vor dem Fernsehen, wo Gewalt und Gemeinheit anmoderiert und von Werbeblöcken unterbrochen werden. Live ist es anders: Man müsste oft schreien, einschreiten, oder wenigstens die Notbremse ziehen, sich mit anderen, die auch herumstehen, verständigen. Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz: Da helfen die klassischen Methoden der Mafia-Bekämpfung und die klassischen Methoden der Bekämpfung von organisierter Kriminalität nicht sehr viel weiter. Mit Kronzeugenregelungen, mit Opferhilfsprogrammen, mit den Mittel und Methoden des starken Staats ist es da nicht getan – da braucht man Leute und Initiativen wie Sie: Es geht um Demokratie-Coaching, es geht darum, notfalls den Behörden und der Öffentlichkeit die Augen immer wieder zu öffnen, ihnen zu zeigen, wer sich hinter nur vermeintlich harmlosen Vereinen verbirgt; es geht darum, das Vertrauen der Jugendlichen in den Rechtsstaat wieder zu gewinnen, wenn sie ungute, schockierende Erfahrungen mit Neonazis und fehlendem Polizeischutz gemacht haben. Es gibt die Fälle, bei denen Jugendliche von einer Horde Neonazis durch die Stadt gejagt werden, sich gerade noch in die Wohnung flüchten können, bei der Polizei anrufen – und dann zu hören bekommen, auch wenn die Nazis noch vor der Tür stehen: "Dann bist Du doch jetzt in Sicherheit, dann ist doch alles in Ordnung!" Nichts ist in Ordnung. In so einem Fall bricht die Geborgenheit im Rechtsstaat zusammen. Es braucht oft viel Zivilcourage, um für Geborgenheit im Demokratischen Rechtsstaat zu sorgen. Die Pest der freiheitlichen Gesellschaft Angstmache nicht nur im Osten: Neonazis in Passau am 3.1.2009. (© Reuters) Neonazismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus: Das ist die Pest für eine freiheitliche Gesellschaft. Es ist, wenn es etwa gegen den Antisemitismus geht, nicht damit getan, Auschwitzlüge und Volksverhetzung unter Strafe zu stellen, die Synagogen zu bewachen, ein paar als verrückt apostrophierte Neonazis aus dem Verkehr zu ziehen und den Zentralrat der Juden zu beruhigen. Der Antisemitismus ist nämlich nicht nur eine Angriff auf eine Minderheit in Deutschland, auf eine, der man aus historischen Gründen besonders verpflichtet ist. Er ist ein Angriff, der die Gesellschaft insgesamt bedroht. Der Antisemitismus ist kein Minderheitenthema, kein Thema, bei dem es nur um das Verhältnis zu den mittlerweile wieder hunderttausend Juden in Deutschland geht; er ist ein zentrales Thema der deutschen Gesellschaft. Es ist sicher so, dass sich das offizielle Deutschland bemüht. Es gab Wiedergutmachung, schon unter Adenauer. Es gibt die Woche der Brüderlichkeit, Jahr für Jahr ist der Bundespräsident ihr Schirmherr. Christlich-jüdische Gesellschaften sind entstanden, Synagogen restauriert, jüdische Gemeinden neu- und wiedergegründet worden. Gedenkstätten werden gepflegt, Denkmäler errichtet. Spitzenpolitiker schreiben Grußworte zu den jüdischen Feiertagen und bei den Gedenkfeiern der Republik sitzen die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in der ersten Reihe. Das offizielle Deutschland fühlt sich in der Rolle des ehemaligen Alkoholikers, der weiß, was passiert, wenn er wieder zur Flasche greift. Abseits der offiziösen Anlässe dagegen, und zwar nicht nur an den Stammtischen, greift man immer wieder zum alten Fusel. Man hat sich hierzulande daran gewöhnt, dass jüdische Einrichtungen ausschauen müssen wie Festungen und dass fast tagtäglich jüdische Gräber geschändet werden. Soll man sich jetzt auch noch daran gewöhnen müssen, das Kindern in der S-Bahn der Davidstern vom Halskettchen gerissen wird – und die Politik Israels als Entschuldigungsgrund herhalten muss? "Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher", hat Hannah Arendt voller ironischem Pessimismus gesagt. Das gilt für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit genauso. Vor Rassismus und Ausländerfeinlichkeit ist man nur noch auf dem Monde sicher. Umso wichtiger sind die Versuche, denn Mond auf die Erde zu holen. Damit, mit diesen Versuchen, sind wir bei der Arbeit der Netzwerke für Demokratie, bei den Aktionen für Zivilcourage, bei der Arbeit der Bürgergesellschaft – zu der auch diese Tagung der Schwarzkopf-Stiftung gehört. Verfassungsschutz ist nämlich nicht, jedenfalls nicht nur und nicht in erster Linie, das, was sich in einer Bundesbehörde oder einer Landesbehörde dieses Namens etabliert hat. Der vitale Verfassungsschutz lebt in den Initiativen gegen Rechtsextremismus und gegen rechtsradikale Gewalt. Zivilgesellschaft ist gebündelte Zivilcourage. Zivilcourage ist es, den Opfern rechtsextremer Gewalt zu helfen, sie zur Polizei zu begleiten. Zivilcourage ist es, das Feld nicht denen zu überlassen, die sich "Sturmfront" oder "White Power" ans Autofenster kleben, nicht denen, die sich "Sturm 34" nennen. Zivilcourage ist es zu versuchen, den Mond auf die Erde zu holen, immer und immer wieder. Demokratie muss die Auseinandersetzung mit braunem Gedankengut nicht scheuen. In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die Heimat sein kann für alle Menschen, die in ihr leben? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die sich darauf besinnt, was Demokratie eigentlich ist – nämlich, und das ist die schönste Definition, die ich kenne: eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Miteinander gestaltet! Miteinander! Damit verträgt es sich nicht, wenn immer mehr Menschen ausgegrenzt werden: Arbeitslose, sozial Schwache, Ausländer, Flüchtlinge, Einwanderer. Die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie brauchen, um Bürgerin und Bürger sein zu können, Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte Existenz, sie müssen frei sein können von Angst. Das gilt für die Alt- und für die Neubürger, das gilt für Deutsche und Zuwanderer. Ein Patriot ist der, der dafür sorgt, dass Deutschland Heimat bleibt für alle Altbürger und Heimat wird für alle Neubürger. Das nennt man Integration und das ist das Gegenteil von Ausgrenzung. Multikultur schmeckt hierzulande allen – so lange man sie essen kann. Wäre der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ein Gradmesser für die Integration der Ausländer in dieser Gesellschaft – es könnte keine besseren Werte geben. Indes: Integration ist nicht die Addition aller Döner-Buden in den deutschen Fußgängerzonen, Integration ist mehr als das In-Sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem schmecken und die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht. Als ich Jura studiert habe, und wir im strafrechtlichen Seminar die Probleme diskutiert haben, die sich den Diebstahlsparagrafen im Strafgesetzbuch ergeben, da sagte mein Professor über einen Dieb, der Nahrungsmittel stiehlt und sie sofort verputzt, den schönen Satz: "Die Insichnahme ist die intensivste Form der Ansichnahme." Würde dieser Satz auch für die Einwanderungsgesellschaft gelten – dann wären wir schon erheblich weiter. Einwanderung darf nicht nur in Gaststätten und Einwohnermeldeämtern statt finden. Aneignung von Einwanderung sieht anders aus: Sie findet statt an den Schulen, sie zeigt sich in den Lehrplänen aller Schularten, sie zeigt sich auf den Spielplänen der Theater – und sie zeigt sich, am allermeisten, in einem selbstverständlichen, alltäglichen Miteinander. 'Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit' Wenn ich die Arbeit der Initiativen und Projekte gegen Rechtsextremismus studiert habe, ist mir das Wort "Widerstand" eingefallen. Diese leisten Widerstand gegen die Verbräunung und Verrohung unserer Gesellschaft. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort Widerstand anders benutzt. Widerstand hierzulande wird meist reduziert auf die letzte Chance, auf die letzte Notwehrmaßnahme gegen eine verbrecherische Obrigkeit. Ich glaube, das nicht ganz richtig. Die Worte aus den Flugblättern der Weißen Rose haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit, also auch in der gegenwärtigen: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt." Und: "Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keine anfangen!" Jeder und jede muss für sich nachdenken, was ihm und was ihr das heute sagt und wozu es ihn und sie verpflichtet – und das Ergebnis dieser Pflicht kann man Widerstand nennen. Ein Ergebnis dieses Nachdenkens sind Initiativen wie "Bunt statt Braun" oder "Exit". Es gibt sie zahlreich, aber sie werden finanziell ausgetrocknet. Wir müssen sie stärken, fördern, ermutigen. Widerstand in der Demokratie heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang Widerstand – das war 1944 der Widerstand gegen das verbrecherische Naziregime. Widerstand, das waren auch die Montagsdemonstrationen in der DDR. Staatsrechtler und Rechtsphilosophen mögen diesen Widerstand gegen ein illegitimes Regime als den einzig legitimen, als den großen Widerstand bezeichnen. Das mag in der juristischen Wissenschaft so richtig sein. In der Wirklichkeit ist es anders. Widerstand ist auch in der Demokratie, auch im Rechtsstaat notwendig. Dieser Widerstand heißt nur anders: Er heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang, er heißt zum Beispiel "Netzwerk für demokratische Kultur" oder "Arche Nova". Es ist Widerstand, wenn Selbstverteidigungskurse für Jugendliche organisiert werden, die sich von rechten Schlägern nicht mehr einschüchtern lassen wollen. Man mag das den "kleinen" Widerstand nennen. Für diejenigen, die ihn leisten, ist es ein, ganz subjektiv, ein ganz großer. Er erfasst die ganze physische und psychische Existenz. Bürgerprotest in Passau am 3.1.2009. (© dpa) Das alles ist Widerstand – aber nicht als Ultima ratio, sondern als Prima ratio: Solcher Widerstand ist Ratio der Demokratie. Solcher Widerstand ist Ratio der Demokratie, ihr Lebensnerv. Widerstand bedeutet heute: Nicht wegsehen, wenn Unrecht geschieht, wachsam bleiben, wachsam handeln, den Rechtsextremisten nicht das Feld zu überlassen. Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann, mein Lehrer, hat einmal davon gesprochen, "dass dieser 'kleine' Widerstand beständig geleistet werden muss, damit der große Widerstand entbehrlich bleibt". So ist es. Widerstand mag in vielen Fällen auch und vor allem der Widerstand gegen die eigene Angst sein, gegen die eigene Bequemlichkeit, gegen das Angepasstsein. "Alleine kann man ohnehin nichts bewirken" – "So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht" – "Nach mir die Sintflut." In uns allen stecken manchmal solche Sätze. Da beobachtet eine Deutsche, wie im Bus ein älterer ausländischer Mann von einigen Jugendlichen angepöbelt wird. Lohnt es sich denn, aufzustehen? Der sogenannte "kleine" Widerstand lebt oft von kleinen Schritten – oft von der Selbstüberwindung. Der kleine Widerstand ist nicht nur wichtig für andere, nicht nur für die Opfer, nicht nur für unser Land, nicht nur für die Demokratie. Im Kern ist er wichtig für jeden Einzelnen – für die eigene Selbstachtung nämlich. Die Arbeit gegen Rechtsextremismus und Intoleranz beginnt mit der Überwindung der eigenen Bequemlichkeit und Angst. Ich habe Ihnen viel von Leoluca Orlando erzählt, von seinen Kämpfen gegen die Mafia. Leoluca Orlando hat ein Credo, es ist ein Credo der Aufklärung. Und dieses Credo ist sehr anschaulich niedergelegt in seinem Nachwort zum Buch "Ich sollte der Nächste sein": "Den islamischen Terrorismus bekämpft man, indem man die islamische Kultur erneuert; den Nationalsozialismus bekämpft man, indem man die deutsche Kultur erneuert; und das beste Mittel gegen die Gewalttaten der Katholiken in Nordirland ist es, die Kultur der nordirischen Katholiken zu erneuern. Diesen Zusammenhang habe ich begriffen aufgrund der Erfahrungen, die wir in Sizilien gemacht haben. Was ich auch begriffen habe: Veränderungen sind möglich. In Sizilien ebenso wie in Afghanistan – oder in Deutschland." Diese Sätze lehren, was Aufklärung heute bedeutet. Aufklärung ist nicht eine historische Epoche, sie ist nicht einfach da und bleibt einfach da. Aufklärung ist eine Aufgabe für jede Generation, für jede und jeden, immer wieder. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Nicht in einer braunen, sondern in einer bunten, einer freien, einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft. Also brauchen wir neue, phantasievolle Formen der demokratischen Solidarität, phantasievolle Projekte des Widerstands gegen den Rechtsextremismus, wir brauchen eine Gegenbewegung von unten, eine Gegenbewegung gegen die gefährlichen Extremismen, mitten in den Kommunen, an der Basis. Wie also geht diese Arbeit der Eroberung des öffentlichen Raums für die Demokratie weiter? Märchen beflügeln die Phantasie. Deshalb soll diese Laudatio für die Zivilgesellschaft, soll die Anstiftung zum Widerstand mit einem Märchen enden. Es ist, wie Märchen es oft sind, sehr drastisch – aber es handelt davon, wie sich vermeintlich Schwache gegen eine Gefahr verteidigen und wie man das miteinander schafft. Es ist ein Märchen für alle, die unter oft schwierigsten Umständen soziale Arbeit leisten müssen. Es ist ein ziemlich unbekanntes Märchen der Brüder Grimm. Die Gefahr, gegen die sie sich verteidigen, wird verkörpert durch einen Herrn Korbes. "Da taten sich also Hähnchen und Hühnchen, der Mühlstein, ein Ei, eine Ente, eine Stecknadel und eine Nähnadel zusammen: Wie sie zu dem Herrn Korbes seinem Haus kamen, war der Herr Korbes nicht da. Die Mäuschen fuhren den Wagen in die Remise, das Hähnchen flog mit dem Hühnchen auf eine Stange, die Katze setzte sich in den Kamin, die Ente in die Bornstande, die Stecknadel setzte sich auf ein Stuhlkissen, die Nähnadel ins Kopfkissen im Bett, der Mühlenstein legte sich über die Türe und das Ei wickelte sich in ein Handtuch. Da kam der Herr Korbes nach Hause, ging an den Kamin und wollte Feuer anmachen. Da warf ihm die Katze Asche ins Gesicht. Er ging geschwind in die Küche und wollte sich abwaschen. Wie er an die Bornstande kam, spritzte ihm die Ente Wasser ins Gesicht. Als er sich abtrocknen wollte, rollte ihm das Ei aus dem Handtuch entgegen, ging entzwei und klebte ihm die Augen zu. Er wollte sich ruhen und setzte sich auf den Stuhl, da stach ihn die Stecknadel. Darüber wurde er ganz verdrießlich und ging ins Bett. Und wie er den Kopf aufs Kissen legte, da stach ihn die Nähnadel. Da war es so bös und toll, dass er zum Haus hinauslaufen wollte. Wie er aber an die Tür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot." Das ist nun freilich ein etwas befremdliches Ende. Die Fabel soll auch nicht als Aufruf zur Gewalt für einen guten Zweck missverstanden werden. Es geht in diesem Märchen um den Wert der gemeinsamen Aktion. Der Herr Korbes, er ist die Verkörperung der Gefahren, die einer demokratischen Gesellschaft drohen. Und die Geschichte zeigt, wie man sich gemeinsam dagegen wehrt, was solidarische Aktion vermag. Schreiben wir das Ende des Grimmschen Märchens um: Der Herr Korbes soll bitte nicht erschlagen, er soll nur vertrieben werden aus dem Haus der Demokratie – vertreiben wir die Entsolidarisierung, vertreiben wir die Rücksichtslosigkeit, die den Rassismus, den Ausländerhass, die Intoleranz, vertreiben wir den Neonazismus. Aber wer ist mit seinen Möglichkeiten eher die Stecknadel, eher das Ei oder die Ente? Die eigene Rolle und die eigene Aufgabe zu finden, damit fangen der Widerstand und die gemeinsame Aktion an. Neonazis in Lichtenberg Anfang Dezember 2008. Foto: Kulick Angstmache nicht nur im Osten: Neonazis in Passau am 3.1.2009. (© Reuters) Bürgerprotest in Passau am 3.1.2009. (© dpa)
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Heribert Prantl
"2022-02-09T00:00:00"
"2011-11-17T00:00:00"
"2022-02-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/41267/mafia-in-deutschland-heisst-neonazismus/
Parteien am rechten Rand gibt es in ganz Europa. Aber keine ist so gefährlich wie die deutsche NPD, warnt der Journalist Heribert Prantl. Rechtsextremismus zu bekämpfen vergleicht er mit dem Kampf gegen die Mafia. Es ist ein Kampf, der die Eroberung
[ "Rechtsextremismus", "Nazi", "Schüler", "Deutschland", "Europa", "Bewegung" ]
454
Über „Mit Satire gegen Rechtsextremismus“ | Ausprobiert | bpb.de
Humorvoll gegen Rechts? Das Unterrichts-Kit zur Rechtsextremismus-Prävention nutzt zwei- bis dreiminütige Clips aus der Rubrik "NNN – Neueste Nationale Nachrichten" der NDR-Satiresendung extra 3, um sich in der schulischen (Sek I) und außerschulischen Bildung mit dem Thema Rechtsextremismus zu beschäftigen. Rechtsextreme und Neonazis werden in den Clips mithilfe überarbeiteter historischer Filmaufnahmen Adolf Hitlers aufs Korn genommen: Während die tatsächliche Mimik und Gestik Hitlers erhalten bleiben, werden die Filmsequenzen mit satirischen Texten neu versehen und eingesprochen. Die Clips sollen in erster Linie amüsieren und den Zuschauenden die Absurdität des Handelns der rechtsextremen Szene vor Augen führen. Gleichzeitig informieren sie über aktuelle Entwicklungen in der Szene und sollen durch die Offenlegung des rassistischen und menschenverachtenden Charakters zum Nachdenken und im besten Fall zum Engagement gegen Rechtsextremismus anregen. Das verwendete Filmmaterial stammt zum größten Teil aus dem NS-Propagandafilm "Triumph des Willens", der 1934 von Leni Riefenstahl gedreht und 1935 ausgestrahlt wurde. Bei der in der Reihe "Neueste Nationale Nachrichten" verwendeten Schlussszene handelt es sich um US-amerikanisches Filmmaterial, das die Zerstörung des NSDAP-Parteitagsgeländes durch die US-Armee zeigt. Das Format "NNN – Neueste Nationale Nachrichten" wurde 2012 in der Kategorie "Unterhaltung / Spezial" für den Grimme-Preis nominiert. DVD-Edition und umfangreiches Zusatzmaterial Das Material der bpb besteht aus einer DVD mit 15 Filmclips. Das Begleitmaterial zu den Kurzfilmen enthält neben Basisinformationen zu den Themen Rechtsextremismus und Satire zusätzlich Arbeitsblätter als Kopiervorlagen sowie Planungsinformationen für die pädagogischen Fachkräfte, in denen Hintergrundinformationen sowie didaktische und methodische Hinweise bereitgestellt werden. Die jeweiligen Themenfelder der Filmclips können so vertiefend in etwa 45 Minuten bearbeitet werden. Das Material richtet sich in erster Linie an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-05-24T00:00:00"
"2016-01-08T00:00:00"
"2022-05-24T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/218335/ueber-mit-satire-gegen-rechtsextremismus/
Das Bildungsmaterial der bpb „Mit Satire gegen Rechtsextremismus“ nimmt Satire als Ausgangspunkt, um sich mit der Weltanschauung und den Strategien des Rechtsextremismus zu befassen.
[ "Ausprobiert", "Satire", "Rechtsextremismus" ]
455
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (GRÜNE) | Landtagswahl Hessen 2018 | bpb.de
Gründungsjahr Landesverband 1979* Mitgliederzahl in Hessen 5560* Landesvorsitz Angela Dorn und Kai Klose* Wahlergebnis 2013 11,1 Prozent *nach Angaben der Partei Der hessische Landesverband von "Bündnis 90/DIE GRÜNEN" (GRÜNE) wurde am 16. Dezember 1979 gegründet. Die Ursprünge der hessischen GRÜNEN gehen auf die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre zurück, vor allem auf die Anti-Atom-, Friedens-, Frauen- und Ökobewegung. Proteste gegen die hessische Atompolitik (Biblis C) und den Ausbau der Startbahn West bildeten wichtige Ausgangspunkte des Protests, der sich in den beiden vergleichsweise erfolglosen Vorläuferparteien "Grüne Liste Hessen" und der "Grünen Aktion Zukunft" ausdrückte. Im Herbst 1982 zogen die GRÜNEN mit 8 Prozent der Stimmen erstmals in den Hessischen Landtag ein. 1985 einigten sich GRÜNE und SPD auf die Bildung der ersten rot-grünen Koalition in einem deutschen Bundesland und damit wurde Joschka Fischer erster grüner Landesminister. Seither waren die GRÜNEN in Hessen an vier Regierungen beteiligt und damit insgesamt 14 Jahre Regierungspartei. Tarek Al-Wazir und Priska Hinz gehen als Spitzenkandidaten ins Rennen. Die GRÜNEN sind offen für unterschiedliche Koalitionsmodelle. Das Wahlprogramm ist von den Zielen geprägt, dass Hessen ökologischer, sozialer und vielfältiger werden müsse. Der programmatische Schwerpunkt der GRÜNEN liegt auf Klima- und Umweltschutzzielen. Hessen soll Öko-Modell-Region in Deutschland werden. Bis 2030 sollen 55 Prozent weniger schädliche Treibhausgase ausgestoßen werden. Die ökologisch bewirtschaftete Fläche soll von den jetzigen 13 auf 25 Prozent erweitert werden. Ein Verbot von Glyphosat und von Gentechnik werden angestrebt. In der Sozialpolitik fordert die Partei den sozialen Arbeitsmarkt, die Kinderbetreuung und den sozialen Wohnungsbau stärker zu fördern. Es soll möglichst bald ein Bürgerticket als Jahreskarte für ganz Hessen zu bezahlbaren Preisen angeboten werden, um damit auch die Verkehrswende voranzutreiben. Gründungsjahr Landesverband 1979* Mitgliederzahl in Hessen 5560* Landesvorsitz Angela Dorn und Kai Klose* Wahlergebnis 2013 11,1 Prozent *nach Angaben der Partei
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Wolfgang Schroeder
"2018-10-02T00:00:00"
"2018-09-04T00:00:00"
"2018-10-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/hessen-2018/275296/buendnis-90-die-gruenen-gruene/
Die GRÜNEN entstanden 1979 aus der Umwelt- und Friedensbewegung sowie der Anti-Atom und Ökobewegung. Seit 1984 waren die GRÜNEN in Hessen mit Unterbrechungen an vier Regierungen beteiligt - so auch aktuell. Sie fordern, dass Hessen ökologischer, sozi
[ "Grüne", "Bündnis 90", "Landesverband", "Hessen" ]
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Warum und wie ich auch als Weißer über Rassismus rede – Essay | (Anti-)Rassismus | bpb.de
Im Februar 2014 veröffentlichte die britische Journalistin Reni Eddo-Lodge auf ihrem Blog einen Beitrag mit dem Titel "Why I’m No Longer Talking to White People About Race". Der Beitrag bekam große Aufmerksamkeit und sorgte dafür, dass Eddo-Lodge im Jahr 2017 eine Polemik mit dem identischen Titel – im Deutschen "Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche" – in Buchform veröffentlichte, die sich zu einem Bestseller entwickelte. Eddo-Lodges Statement hat sich inzwischen zu einem geflügelten Wort entwickelt. Und es beschreibt die Wahrnehmung der Fronten in den Debatten um Rassismus recht zutreffend: Auf der einen Seite stehen die Opfer von Rassismus, die es satt haben, ihr Leben lang Aufklärungsarbeit leisten zu müssen, auf der anderen Seite diejenigen Mitglieder der weißen Mehrheitsgesellschaft, die nicht begreifen können oder wollen, dass die Gesellschaft ein Rassismusproblem hat. Die Frage ist nur: Was ist mit all jenen, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite stehen? Zu genau dieser Gruppe gehöre ich. Ich bin weiß. Nachteile aufgrund meiner Hautfarbe oder Herkunft hatte ich in Europa nie. Diskriminierung – rassistische, sexistische, antisemitische, homophobe und auch behindertenfeindliche – habe ich zwar immer wieder beobachtet, aber nie am eigenen Leib erfahren müssen. Ich bin also kein Betroffener. Ebenso wenig bin ich jemand, der nicht akzeptiert, dass auch Deutschland ein Rassismusproblem hat, das weit über marodierende Nazibanden hinausgeht. Ich bin davon überzeugt, dass struktureller Rassismus in deutschen Behörden existiert. Ich sehe und höre, dass viele Menschen von vielen anderen Menschen noch lange nicht als gleichwertige Bürger dieses Landes akzeptiert werden, nur weil sie einen deutschen Pass haben. Und ich halte das Gerede von "Passdeutschen" und "echten Deutschen" nicht nur für diskriminierend, sondern auch für gesellschaftlichen Sprengstoff. Ich habe oft genug erlebt, dass Freunde von mir an Türen abgewiesen wurden, an denen ich freundlich begrüßt und ansonsten nicht weiter beachtet wurde. Immer und immer wieder. Weil ich weiß bin und sie nicht. Weil ich nicht in einer Gesellschaft leben möchte, in der all das schulterzuckend akzeptiert wird, engagiere ich mich. Doch welche Rolle hat unsere Zeit für Menschen wie mich vorgesehen? Ich bin davon überzeugt, dass die Realität in der Regel komplexer ist, als es ein paar zugespitzte Formulierungen abbilden können. Womit wir zurück bei Reni Eddo-Lodge wären. Sie ließ dem Titel ihres Blogbeitrags die Aussage folgen, dass dieser nicht auf alle weißen Menschen bezogen sei, sondern nur auf diejenigen, die sich weigerten, die Existenz von strukturellem Rassismus und seiner Symptome zu akzeptieren. Eddo-Lodge differenziert also durchaus. Doch was bleibt von ihren Gedanken wirklich hängen? Die Überschrift natürlich – der Rest geht in der weiteren Debatte häufig verloren, und zwar sowohl bei denen, die die Aussage im Kern unterstützen, als auch bei denjenigen, die sie fundamental ablehnen. Der Diskurs wird dann relativ schnell von radikalen Positionen dominiert. Für nachdenkliche Stimmen ist kaum noch Platz, ob die Autorin das nun will, oder nicht. Monolithische Blöcke statt heterogene Erfahrungen Auch in der deutschsprachigen Debatte zum Thema Rassismus ist die Tendenz zu Verkürzungen leider zu beobachten. "Für Rassismus gibt es unterschiedliche Definitionen", schreibt etwa die Journalistin Alice Hasters in ihrem Buch "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen". Unter anderem führt sie eine Definition des Historikers Ibram X. Kendi an, der formulierte, Rassismus sei "jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet". Nur einen Absatz später erklärt sie allerdings, dass sie nur eine Definition für relevant hält, in der es um einen "wirkungsvollen, systemischen Rassismus" geht, weil dieser letztlich nicht ohne die Idee der white supremacy, der "weißen Vorherrschaft", auskomme. Das Problem daran ist einmal mehr, dass kein Platz mehr für die alltägliche Fehlbarkeit des Menschen vorgesehen ist. Wer etwas sagt oder tut, was man als rassistisch verstehen kann, ist in dieser Lesart automatisch Teil eines rassistischen Unterdrückungssystems. Im Zweifel auch, ohne davon etwas zu wissen. Darunter geht es nicht mehr. Dabei – auch da differenziert Eddo-Lodge wieder – müsste allen Wohlmeinenden daran gelegen sein, zu akzeptieren, "dass es einen Unterschied zwischen Unwissen und Bösartigkeit gibt – obwohl ersteres sich wie letzteres anfühlen (und dazu werden) kann". Wer, außer radikalen Kräften, die eher am Konflikt als an einem wirklichen Miteinander interessiert sind, kann daran Interesse haben, jemanden, der ohne Hintergedanken aus reiner Unwissenheit das N-Wort sagt, mit jemandem in einen Topf zu werfen, der dies gezielt tut, um zu provozieren und zu verletzen? Noch dazu ist die negative Eigenschaft, andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens zu diskriminieren, nicht allein weißen Menschen vorbehalten. Die Islamwissenschaftlerin und Journalistin Nabila Abdel Aziz etwa stellte in einem Beitrag im Bayerischen Rundfunk fest: "Abwertung und strukturelle Ausgrenzung von Schwarzen [ist] ein Problem, das auf der ganzen Welt existiert, in asiatischen und arabischen Ländern genauso wie in Europa." Warum ich das hervorhebe? Ganz sicher nicht, um rassistisches Handeln durch weiße Menschen zu relativieren. Es geht vielmehr darum, deutlich zu machen, dass Rassismuserfahrungen sich durchaus unterscheiden können. Menschen mit Migrationsgeschichte sind höchstens abstrakt eine Gruppe mit ähnlichen Erfahrungen. Ein schwarzer Mann, eine türkischstämmige und eine asiatischstämmige Frau machen möglicherweise alle gleichermaßen rassistische Erfahrungen. Im Detail unterscheiden sich diese allerdings enorm. Wer glaubt, mit dem im deutschen Diskurs noch recht frischen Begriff "People of Color" aus allen nicht weißen Menschen einen monolithischen Block formen zu können, der im nächsten Schritt auch noch eine gemeinsame Sicht auf die Dinge entwickelt, bewegt sich in eine kollektivistische Sackgasse. Eine, wohlgemerkt, in der die Vereinigten Staaten, von wo die meisten dieser Debatten nach Europa herübergetragen werden, längst stecken. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment, einmal gemeinsam innezuhalten und sich bewusst zu machen, dass die Gesellschaftsstrukturen und die geschichtlichen Aufladungen sich dies- und jenseits des Atlantiks doch recht deutlich unterscheiden. Sonst wird sich kaum vermeiden lassen, dass unter dem Begriff "Colorism" bald die nächste Debatte auch in Deutschland geführt wird, die hier eigentlich nicht hergehört. Denn wenn nun auch noch Schattierungen des Schwarzseins definiert werden, mit denen unterschiedlich heftige Diskriminierungserfahrungen verknüpft werden, ist das ein weiterer Schritt in eine Richtung, die dem persönlichen Erleben von Individuen, ihren eigenständigen Ableitungen und ihre individuellen Reaktionen keinerlei Raum mehr lässt und nur noch Gruppenzugehörigkeiten kennt. Ob man nun zur jeweiligen Gruppe gehören will, oder nicht. Gibt es Rassismus gegen Weiße? Wer nur noch Gruppen und Herrschaftsstrukturen sieht, muss fast zwangsläufig zu dem Schluss kommen: "Rassismus gegen Weiße gibt es nicht". Dieser Satz erlebte in der Hochzeit der Debatte in den USA, nachdem ein Polizist den Afroamerikaner George Floyd bei einem Einsatz getötet hatte, eine überraschende Konjunktur. Vom "Tagesspiegel" bis hin zum Onlinemagazin "ze.tt" waren Kommentare zu lesen, deren Autorinnen und Autoren genau das behaupteten. Auch in den Kommentarspalten der Onlinemedien und in den Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter war dieses Statement immer wieder zu lesen. Und die Reaktionen darauf waren hitzig, um es vorsichtig auszudrücken. Anstatt nun auch an dieser Stelle die Diskussion zu vertiefen, ob diese Aussage denn nun richtig oder falsch ist – ich halte sie für Letzteres –, bietet es sich an, darüber nachzudenken, welchen Nutzen der Streit in diesem Fall überhaupt haben kann. Was lässt sich mit der Debatte zum Positiven wenden? Mir fällt auch nach langem Nachdenken nichts ein. Vielmehr kommt mir der Streit wie ein Aufeinanderprallen verschiedener Denkschulen vor, die sich zumindest in einer Sache einig sind: Wer die Deutungshoheit über Begrifflichkeiten für sich gewinnt, gewinnt am Ende auch die Debatte. Was dabei allerdings nicht berücksichtigt wird: In einer Demokratie kommt man nicht weit, wenn man Debatten unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit ausficht. Genau das tut man aber, wenn man die Debatten selbst so sehr verengt, dass sich für einen Großteil der Gesellschaft keine Anknüpfungspunkte mehr in deren Lebensrealität findet. Der Streit darum, ob es sich bei abwertendem Verhalten gegenüber weißen Menschen nun um Rassismus handelt oder "nur" um Diskriminierung ist genau so eine Debatte. Denn selbst wenn sich – was utopisch klingt – am Ende alle Expertinnen und Experten auf eine Sichtweise verständigen könnten, hielte diese akademische Definition noch lange keine Lösungsansätze für das bereit, was Menschen unterschiedlichster Hautfarben in diesem Land passiert. Ist eine Diskriminierung plötzlich weniger schmerzhaft, nur weil sie als nicht rassistisch angesehen wird? Ich glaube nicht. Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich sind nicht weiße Menschen in diesem Land deutlich häufiger von diskriminierenden Worten und Handlungen betroffen als weiße Menschen. Wer das zu relativieren versucht, indem er oder sie reflexartig auf jede Schilderung von erlebtem Rassismus mit einem "Aber es gibt auch Rassismus gegen Weiße" antwortet, will eine wichtige Debatte beenden. Entweder, weil sie ihm unangenehm ist, oder aus einem rassistischen Weltbild heraus. Die kluge Antwort darauf kann allerdings nicht sein, selbst zu relativieren und auf Differenzierung zu verzichten. Die Debatte darüber, ob es Rassismus gegen Weiße überhaupt geben kann, steht sinnbildlich für diesen Fehler. Gefährliche Unterkomplexität Dreht man diesen Diskurs nun noch ein Stück weiter, wird es noch dazu gefährlich. Im Juli 2020 konzipierte und moderierte ich für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit eine fünfteilige Reihe von Webtalks mit dem Titel "Rassismus in Deutschland im Fokus". Schon vor der Abschlussveranstaltung dieser Reihe gab es in den Sozialen Medien Vorwürfe, das Podium sei wieder einmal typisch dafür, was herauskomme, "wenn weiße Menschen eine Gesprächsrunde zum Thema Rassismus zusammenstellen". Denn: "Drei Nicht-Betroffene und ein Betroffener sollen über Rassismus reden", war ein Kommentator überzeugt. Nun ist solche Kritik erst einmal zulässig. Und in manchen Fällen bewirkt sie tatsächlich etwas. Man denke nur an die Kritik an der Besetzung einer Sendung von Sandra Maischberger zum Thema rassistische Polizeigewalt, für die zunächst keinerlei Betroffene als Gäste eingeplant waren. Erst als Reaktion auf heftigen öffentlichen Druck wurde noch die afroamerikanische Germanistikprofessorin Priscilla Layne eingeladen. Im Fall der von mir konzipierten Reihe zeigt die Kritik allerdings eher, wie schmal der Grat ist, auf dem diese an sich notwendige Debatte gerade wandelt. Denn es ist wahr – nur einer der Teilnehmer an der beschriebenen Diskussionsrunde hatte eine durch seine Hautfarbe und seinen Namen offensichtliche Migrationsgeschichte. Ein weiterer Diskutant allerdings war zwar weiß. Aber er war Jude und hatte aufgrund seiner Erfahrungen in diesem Land einiges zur Debatte beizutragen. Ein Diskurs, der als Antwort auf Rassismus selbst wieder die Bewertung von ethnischer Zugehörigkeit auf Basis von Augenschein propagiert, ist gefährlich, auch wenn der zitierte Kommentator dies sicherlich nicht beabsichtigt hat. Wut als schlechter Ratgeber Natürlich kann ich die Wut verstehen, die viele Menschen spüren, die immer und immer wieder rassistisch motiviert angegriffen, beleidigt oder anderweitig diskriminiert werden. Es ist eines der Dinge, das uns Menschen ausmacht: Wir können uns bis zu einem gewissen Maße in andere hineinversetzen, Empathie spüren, Gefühle verstehen. Und zwar auch dann, wenn wir selbst nie in derselben Situation waren. Ich kann auch als jeweils Nichtbetroffener verstehen, dass eine Vergewaltigung mehr als ein körperliches Trauma ist, oder dass Eltern, die ein Kind verlieren, durch die Hölle gehen. Ich muss mit niemandem die Narben auf der Seele teilen, um zu verstehen, dass sie schmerzen. Doch auch wenn ich all das verstehe: Wut ist kein guter Ratgeber. Wer wütend auf eine als rassistisch empfundene Mehrheitsgesellschaft ist, mag davon träumen, "die Weißen" einmal ihre eigene Medizin kosten zu lassen. Doch wie sähe eine solche Gesellschaft in Zukunft aus? Und vor allem: Wäre sie dann lebenswerter als die heutige? Ich glaube nicht. Vielleicht hilft es, sich ab und an die Überlegungen des Soziologen Aladin El-Mafaalani vor Augen zu halten, der in seinem Buch "Das Integrationsparadox" schreibt, "dass das Glas noch nie so voll oder so wenig leer (…) wie gegenwärtig" war. Dass Rassismus inzwischen sichtbar ist, dass er als solcher benannt wird, wo früher noch kaum jemand gezuckt hätte, dass Stimmen von unterschiedlichsten Minderheiten lauter werden und noch dazu immer häufiger auch gehört werden, ist eine gute Entwicklung. Und zwar eine, die vor wenigen Jahrzehnten noch kaum denkbar gewesen wäre. Hinter viele grundsätzliche Erkenntnisse, die der liberalen und offenen Gesellschaft zugrunde liegen, gibt es für die Mehrheit der Menschen in Deutschland längst kein Zurück mehr. Das gilt für die "Ehe für alle" ebenso wie für die Feststellung, dass Deutsch natürlich auch sein kann, wer einen türkischen oder arabischen Nachnamen hat und wessen Eltern ihre Wurzeln auf anderen Kontinenten haben. Das gilt aber auch für manche sprachliche Entwicklung. In meiner Jugend in der westdeutschen Provinz waren Redewendungen wie etwa "Feiern bis zur Vergasung" oder Sprüche nach dem Motto, die Welt wäre ein N-Dorf, gängig und wurden kaum problematisiert. Heute hört man diese Sätze nur noch von sehr alten Menschen. Oder eben von Menschen mit einem eindeutig antisemitischen oder rassistischen Weltbild. Der Großteil der deutschen Gesellschaft ist längst klüger. Darüber sollten auch gerade in den Sozialen Netzwerken immer wieder getätigte homo- oder transphobe Äußerungen oder ein übertriebenes Nachbohren à la "Wo kommst Du wirklich her?" nicht mehr hinwegtäuschen. Umso mehr wird nun um die Details des Umgangs miteinander gestritten. Das ist an sich gut. Nur sollte man dabei eben erstens nicht vergessen, was schon erreicht wurde, und zweitens, dass die nächsten Schritte nicht erfolgreich gegangen werden können, wenn diejenigen, die ein gemeinsames Ziel teilen – nämlich eine möglichst diskriminierungsfreie Gesellschaft –, sich in Schützengräben zurückziehen, die entlang ihrer ethnischen Zugehörigkeit verlaufen, und sich gegenseitig verbal die Köpfe einschlagen. Ich beanspruche als Weißer in diesem Land keine Sonderrechte. Ich will, dass in Deutschland lebende Ausländer, Deutsche mit Migrationsgeschichte und Deutsche ohne Migrationsgeschichte neugierig aufeinander sind, miteinander ins Gespräch kommen, sich aber auf keinen Fall gegenseitig aufgrund ihrer Geschichte oder ihres Aussehens herabwürdigen. Ich beanspruche nicht, mit meinem Blick für alle weißen Menschen in diesem Land zu sprechen. Ich spreche nur für mich selbst, auch wenn ich aus vielen Gesprächen weiß, dass zumindest viele der Menschen, mit denen ich persönlich zu tun habe, dies ähnlich oder genauso sehen. Was ich aber beanspruche, ist ein Platz an dem Tisch, an dem die wichtigen gesellschaftlichen Diskussionen geführt und die Leitplanken für die Gesellschaft, in der auch meine Kinder aufwachsen werden, definiert werden. Und zwar auch dann, wenn ich nicht direkt Betroffener von Diskriminierung bin. Das ist kein weißes Privilegiendenken, sondern vielmehr eine Selbstverständlichkeit in einer liberalen Demokratie, die sich selbst ernst nimmt. Reni Eddo-Lodge, Why I’m No Longer Talking to White People About Race, 22.2.2014, Externer Link: http://renieddolodge.co.uk/why-im-no-longer-talking-to-white-people-about-race. Reni Eddo-Lodge, Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche, Stuttgart 2019. Zur Debatte siehe auch Michael Martens, Deutsche und Passdeutsche, 29.7.2018, Externer Link: http://www.faz.net/-15712646.html. Zit. nach Alice Hasters, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten, München 2019, S. 16. Ebd., S. 17. Eddo-Lodge (Anm. 2), S. 235. Nabila Abdel Aziz, Hat die nicht-weiße Community ein eigenes Rassismusproblem?, 12.6.2020, Externer Link: http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/rassismus-in-der-schwarzen-community-100.html. Vgl. z.B. "Rassismus hat übrigens nichts mit der Hautfarbe zu tun." Interview mit Maureen Maisha Auma, 27.7.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/campus/2020-07/maureen-maisha-auma-erziehungswissenschaftlerin-colorism-schwarze-community-rassismus. Vgl. Hannes Soltau, Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße, 7.6.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25893440.html. Vgl. Celia Parbey, Warum es keinen Rassismus gegen Weiße gibt, 2.6.2020, Externer Link: https://ze.tt/warum-es-keinen-rassismus-gegen-weisse-gibt-usa-polizeigewalt-george-floyd. Vgl. Inga Barthels, Dann doch mit Afroamerikanerin – das machte es nicht wesentlich besser, 4.6.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25885830.html. Zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus siehe auch den Beitrag von Naika Foroutan in dieser Ausgabe (Anm.d.Red.). Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox, Köln 2018, S. 10.
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, Christoph Giesa
"2021-12-07T00:00:00"
"2020-10-07T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316758/warum-und-wie-ich-auch-als-weisser-ueber-rassismus-rede-essay/
In den Debatten um Rassismus scheinen die Fronten verhärtet: Auf der einen Seite stehen Betroffene, auf der anderen Seite die, die nicht begreifen können oder wollen, dass die Gesellschaft ein Rassismusproblem hat. Was ist mit jenen, die auf keiner d
[ "Rassismus", "Diskriminierung", "Colorism", "Menschenrassen", "Polizei", "Grundgesetz", "White Supremacy", "Rassifizierung", "Meinungsfreiheit", "Antisemitismus", "Black Lives Matter" ]
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Blended Learning: Tipps und Kniffe für einen Lernzyklus | Digitale Didaktik | bpb.de
Der Distanzunterricht im Zuge der Corona-Krise hat dem Thema "Hybrides Lernen" bzw. "Blended Learning" (BL) große Aufmerksamkeit beschert. Dabei geht es mittlerweile weniger darum, ob digitales Lernen an Schulen (bzw. Universitäten) eine feste Anwendung in der Lehre findet. Die Kernfragen drehen sich stärker um die Art und Weise, wie man innerhalb des Lernprozesses sogenannte Kompetenzen des 21. Jahrhunderts verankern kann, nicht zuletzt damit Lernende und Studierende besser auf die Arbeitswelt vorbereitet werden. Warum Blended Learning? Die folgenden Beispiele orientieren sich an einem Blended-Learning-Modell, das im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts Externer Link: CreatINNES erarbeitet wurde. Im Mittelpunkt stand dabei die Umsetzung eines zielgruppenorientierten, lernzielorientierten und kontextspezifischen Lernprogramms (bzw. Schulungsprogramms). Auch wurde untersucht, in welchen Kontexten BL-Modelle vorwiegend zur Anwendung kommen. Das von einer Forschungsgruppe um Petyo Budakov entwickelte Modell fördert dem Projektleiter zufolge in der außerschulischen Bildung, insbesondere in der Erwachsenenbildung, spürbar die projektbezogene Arbeit. Bei der Entwicklung konnte die Gruppe auf Erfahrungen aus dem Unternehmensbereich zurückgreifen. So sind Technologie-Unternehmen schon länger mit dem hybriden Arbeiten vertraut. Gleichzeitig hat die Corona-Krise offengelegt, dass Unternehmen mit traditionellen Geschäftsmodellen größere Schwierigkeiten haben, sich an neue Technologien wie Digitalisierung, Virtualisierung oder Künstliche Intelligenz anzupassen. Diese Firmen mussten wendiger und schneller werden, um die Selbstorganisation und Eigeninitiative ihrer Mitarbeitenden zu stärken und um diese laufend weiterzubilden. In ähnlicher Weise lassen sich diese Herausforderungen auf die Situation des bisweilen noch traditionell arbeitenden Bildungssektors (von Grundschulen bis hin zu Hochschulen und Universitäten) übertragen. Blended Learning kann hier Abhilfe schaffen. Beim Blended Learning werden digitale und analoge Verfahren miteinander verkoppelt, um so vor allem digitale Kompetenzen zu fördern. In dem hier entwickelten BL-Modell steht der Präsenzunterricht weiterhin an zentraler Stelle. Die Bedeutung der Online-Phase hängt wiederum stark von der Strukturierung der Aufgaben ab. Ausgangspunkt ist der Aufbau in Form von Lernzyklen, die sich an dem 5-Stufen-Modell von Gilly Salmon orientieren (Abb.1). Es beruht auf Tätigkeiten, die den Ansprüchen einer konstruktivistisch orientierten Lernumgebung gerecht werden, d.h. auf Lernerfahrungen, die Intelligenz, Verstand, Gebrauch von Sprache sowie logisches und rationales Denken fördern. Zwei Dinge sind dabei essenziell: Zum einen werden wie beim Design Thinking alle Lösungen aus der Nutzerperspektive gedacht. Man soll zunächst verschiedene Lernprofile von Nutzerinnen und Nutzern identifizieren und Rückschlüsse auf das jeweilige Lernverhalten und die Lernbedürfnisse der Zielgruppe zulassen. Zum anderen sollte sich Blended Learning bestenfalls an dem Prinzip der 4K orientieren – Kommunikation, Kreativität, Kollaboration und kritisches Denken (Abb. 2). Diese vier Kompetenzen sind etwa nach Auffassung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die wichtigsten Lernziele, die in Gegenwart und Zukunft erreicht werden sollten. Waren die 4K, in denen Wissen, Können und Wollen enthalten sind, in der schulischen Bildung bislang von nachrangiger Bedeutung, sollten sie bei der Entwicklung eines BL-Modells immer mit berücksichtigt werden. Der Entwurfsprozess eines Blended-Learning-Zyklus in drei Phasen Die Erstellung eines Blended-Learning-Zyklus gliedert sich grundsätzlich in drei Phasen:
 Sorgfältige Planung des Zyklus Entwicklung von Unterrichtsmaterialien Hochladen der entwickelten Materialien auf eine E-Learning-Plattform Mit Hilfe von Leitfäden muss der oder die Lehrende zunächst Richt-, Grob- und Feinlernziele sowie Lern- und Lehrmethoden mit den Auswertungskriterien präzisieren. In dieser ersten Phase lohnt es sich, die folgenden Fragen zu beantworten: Welches Lernziel soll vermittelt werden? Welche Zielgruppen sollen in die BL-Arbeit einbezogen werden? Welche Art von BL-Modell (das Rotationsmodell, das Flexmodell, das eigene Blend, das angereicherte Modell) möchten wir durchführen und wie können wir das jeweils didaktisieren? Welche Erfahrungen (falls vorhanden) haben die Lernenden mit neuen Technologien im Lernumfeld? Auf welche Art und Weise werden die Lernenden Online-Ressourcen nutzen? Wie kann man die Leistungen der Lernenden überprüfen?
 Die zweite Phase ist am zeitaufwändigsten und eintönigsten – denn es muss viel Zeit für die Analyse, Auswahl und ggf. auch den Entwurf geeigneter technologiebasierter Unterrichtsmaterialien aufgewandt werden. Man sollte zunächst den Anteil der Aktivitäten im Klassenzimmer und in Online-Phasen betrachten: welche von ihnen sollten eine dominierende Rolle spielen und in welchem Umfang? Dann sollte man daran denken, dass die Lernenden unterschiedliche Vorlieben für Lernstile und -strategien haben. Die meisten Studierenden, die ich tagtäglich unterrichte, gehören der Generation Z (1996 bis 2010 geboren) an. Sie möchten fast ausschließlich mittels digitaler Geräte lernen und erwarten, dass Lernressourcen jederzeit und überall verfügbar sind. Die Lernenden bevorzugen das sogenannte "Microlearning", also das Lernen in kleineren Abschnitten. Darüber hinaus sollten Materialien und Übungen für das BL-Modell in verschiedenen Formaten entwickelt werden. Es empfiehlt sich der Einsatz verschiedener Plattformen  – einschließlich Social Media. Materialien können sein: Ein einfaches Handy-Video, ein Slidecast oder ein schriftlicher Steckbrief. Die wichtigsten Techniken sind der Austausch von Materialien, Telefon, Chat sowie Forenarbeit und Einzel-Rückmeldungen sowie Tools, die unter freien Lizenzen  (z. B. E-Workbooks, Learning-Apps) oder als kommerzielle Materialien von Verlagen zur Verfügung gestellt werden. Mit der richtigen Didaktisierung können auch Schulungen eingebunden werden, die von Schulen, Universitäten, E-Learning-Abteilungen und Lehrerfortbildungszentren entwickelt wurden. Bei der dritten Phase, dem Upload der Materialien und Übungen auf die Lernplattform, gilt es folgende Schritte zu beachten: Festlegung klarer Regeln für die Lernenden in Bezug auf die Arbeit über die Plattform Bereitstellung des Unterrichtsprogramms für die Lernenden in Form von Papier und/oder digital Verständigung über Kommunikationsmethoden mit Lernenden, z. B. E-Mail, Chat, Videokonferenz, die einen Kontakt Lehrer/-in-Schüler/-in und Schüler/-in-Schüler/-in bei Fragen oder Zweifeln sowie bei unvorhergesehenen Problemen (kein Internetzugang) gewährleisten Lernende mit dem Einloggen auf der Plattform vertraut machen 
Wir kratzen mit diesen Methoden letztlich nur an der Spitze des Eisberges. Zumal die aktuellen Corona-Zeiten neue Stolpersteine schaffen und BL-Modelle Gefahr laufen, beispielsweise technisch schlechter ausgestattete Lernende oder solche, deren Eltern im Home Office zum Multitasking gezwungen sind, auszugrenzen. Das alles bildet sich innerhalb der Online-Umgebungen nur als "Schwarzes Loch" ab. Wir müssen daher einen Weg finden, ungeachtet dieser Herausforderungen digitale Inputs und Gruppenarbeit zu ermöglichen. Technische Tools und digitale Kompetenzen stellen hierfür nur die Grundlage dar. Die Digitalisierung der Bildung wird weiter fortschreiten und Blended Learning kann als Erweiterung des Präsenzunterrichts zukünftigen didaktischen Herausforderungen gerecht werden. vgl. Charles Fadel, Maya Bialik, Bernie Trilling: Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen. Übersetzt von Jöran Muuß-Merholz, Hamburg 2017. Vgl. 2. SpreeTalk der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Die Debatte wurde zum Thema: Wie hat sich das Arbeiten durch die Corona-Pandemie verändert?” am 29. Oktober 2020 organisiert. Pressemitteilung hier: Externer Link: https://www.htw-berlin.de/einrichtungen/zentrale-referate/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilungen/wie-werden-wir-arbeit-in-zukunft-gestalten-die-htw-berlin-laedt-zur-debatte-bei-ihrem-zweiten-spree-talk-ein/ Design Thinking ist eine lösungsorientierte Herangehensweise an komplexe Probleme. Der Mensch steht dabei im Fokus. Mehr zum Thema online unter: Externer Link: https://hpi.de/school-of-design-thinking/design-thinking/was-ist-design-thinking.html In dem Buch "Die vier Dimensionen der Bildung: Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen" von Charles Fadel, Maya Bialik, Bernie Trilling und einem Vorwort von Andreas Schleicher wurden die Schlüsselkompetenzen ausgewählt und definiert. Mehr zum Thema online unter: Externer Link: https://www.oecd.org/education/Global-competency-for-an-inclusive-world.pdf Die Schülerinnen und Schüler wechseln in einem festen Rhythmus zwischen unterschiedlichen Lernformen, darunter auch die Möglichkeit des Online-Lernens. Mehr zum Thema online unter: Externer Link: https://www.lmz-bw.de/aktuelles/aktuelle-meldungen/detailseite/blended-learning-das-beste-aus-zwei-welten/ Der Unterricht erfolgt überwiegend online. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in ihrer eigenen Geschwindigkeit und erhalten von der Lehrkraft bei Bedarf Unterstützung. Mehr zum Thema online unter: Externer Link: https://www.lmz-bw.de/aktuelles/aktuelle-meldungen/detailseite/blended-learning-das-beste-aus-zwei-welten/ Lernende nehmen neben dem Präsenzunterricht auch online an Unterrichtsstunden teil, die sie in der Schule oder von zu Hause aus besuchen können. Die Kursinhalte können flexibel durchgeführt werden. Die Schülerinnen und Schüler entscheiden selbst darüber, in welchem Tempo sie die Inhalte bearbeiten. Mehr zum Thema online unter: Externer Link: https://www.lmz-bw.de/aktuelles/aktuelle-meldungen/detailseite/blended-learning-das-beste-aus-zwei-welten/ Erweiterung eines Online-Kurses um Präsenztermine. Mehr zum Thema online unter: Externer Link: https://medienkompass.de/was-ist-blended-learning-definition/
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2021-04-16T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/329146/blended-learning-tipps-und-kniffe-fuer-einen-lernzyklus/
Hybrides Lernen, Blended Learning – in der Diskussion um zeitgemäße Unterrichtsszenarien tauchen diese Begriffe zuletzt immer wieder auf. Ewelina Basińska forscht an der HU Berlin zu Blended Learning und erklärt, was bei der Vorbereitung und Durchfüh
[ "Blended Learning", "Hybridlernen", "Digitaler Unterricht", "Fernunterricht" ]
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Die Pleinairs | Autonome Kunst in der DDR | bpb.de
Georg Brühl, der Karl-Marx-Städter Leiter der Interner Link: Galerie Oben, hatte als Erster die Idee. Im Winter 1975 organisierte er gemeinsam mit dem Ostberliner Kunsthistoriker und Leiter der Interner Link: Galerie Arkade, Klaus Werner, im DDR-Künstlerort Ahrenshoop das erste sogenannte Pleinair. Die Tradition der französischen Impressionisten, unter freiem Himmel zu arbeiten, wurde aufgenommen, um sich jeweils etwa zehn Tage ungestört und im kollektiven Austausch neuen Impulsen experimenteller Kunstformen zu widmen. Es entstanden Installationen und Videos, dazu gab es Vorträge über internationale Kunst, Filme und Exkursionen. Bildergalerie zu den "Pleinairs" Insgesamt organisierten Klaus Werner und Thomas Ranft, Mitbegründer der Interner Link: "Clara Mosch“ in Karl-Marx-Stadt, bis 1986 neun Pleinairs in Mecklenburg, an der Ostsee und in Thüringen. Finanziert wurden die Unternehmungen von der Genossenschaft bildender Künstler, der die beiden Galerien Arkade und Oben gehörten, den Künstlern selbst und von 1976 bis 1979 mit Unterstützung des Staatlichen Kunsthandels. Zum engeren Kreis der Teilnehmer gehörten neben den Berlinern Manfred Butzmann und Dieter Goltzsche die "Mosch“-Künstler, die Leipziger Künstler um das "Tangente“-Projekt sowie die Dresdner Eberhard Göschel, Max Uhlig, Claus Weidensdorfer und Werner Wittig. Das Pleinair in Leussow 1977, dessen Ergebnisse – Originalgrafiken, Fotos und ein Multiple aus vier Reagenzgläsern mit der Asche verbrannter Installationen – im berühmt gewordenen "Leussow-Recycling“-Koffer enthalten waren, wurde noch elf Jahre später auf dem IX. Kongress des Verbandes Bildender Künstler als Beispiel für einen ungehörigen Kunstbegriff jenseits "irgendwelcher künstlerischer Kriterien“ (Willi Sitte) gewertet. Das zweite wichtige Pleinair in Gallentin 1981 hatte weniger harmlose Folgen: Zum ersten interdisziplinären Treffen kamen nicht nur bildende Künstler an den Schweriner See, sondern auch die Schriftsteller Christa und Gerhard Wolf, Stefan Döring, Eberhard Häfner, Bert Papenfuß-Gorek und Sascha Anderson. Mit Klaus Staeck reiste zum ersten Mal ein Künstler aus Westdeutschland an. Klaus Werner filmte mit einer über Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR beschafften Videokamera die Aktion Michael Morgners "M. überschreitet den See bei Gallentin“. Von Anfang an waren die Begegnungen vom "Mosch“-Fotografen Ralf-Rainer Wasse für die Staatssicherheit dokumentiert worden. Diesmal schrieb auch Sascha Anderson Berichte. Die "illegale Beschaffung“ geriet Klaus Werner so zum Verhängnis – er wurde im selben Jahr als Leiter der Galerie Arkade entlassen. Quellen / Literatur Klaus Werner: Für die Kunst. Hrsg. von der Stiftung NEUE KULTUR Potsdam/Berlin. Köln 2009. Klaus Werner: Für die Kunst. Hrsg. von der Stiftung NEUE KULTUR Potsdam/Berlin. Köln 2009.
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Uta Grundmann
"2022-04-01T00:00:00"
"2012-01-20T00:00:00"
"2022-04-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/autonome-kunst-in-der-ddr/55823/die-pleinairs/
Bei den sogenannten Pleinairs in der Tradition der französischen Impressionisten tauschten sich Künstler unter freiem Himmel über experimentelle Kunstformen aus.
[ "Kunst", "Kultur", "Impressionismus", "DDR", "Karl-Marx-Stadt", "Chemnitz" ]
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Chronik "Umwelt, Klima und Mensch" | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de
bis zum Jahr 0 unserer Zeitrechnung 8 bis 6 Mio. Jahre v. Chr. Ein Klimawandel löst die Evolution des Menschen aus. Als das gesamte Erdklima sich abkühlt, spalten sich die Hominiden von den Menschenaffen ab und erobern neuen Lebensraum. 2 Mio. v. Chr. Durch den Klimawandel entstehen auch im südlichen Eurasien Savannenlandschaften. In Kaltphasen sinkt der Meeresspiegel. Vor rund 18 000 Jahren Höhepunkt der letzten Eiszeit (Würm/Weichseleiszeit) Die Temperaturen liegen acht bis zehn Grad unter den heutigen Werten. Das Inlandeis hat seine größte Ausdehnung: Breite Teile Europas, Asiens und Nordamerikas liegen unter einer Eisschicht von mehreren Tausend Metern Dicke. Die Gletscher Skandinaviens reichen südlich bis Berlin, die Alpengletscher erreichen München. Durch das im Eis gebundene Wasser fällt der Meeresspiegel um rund 120 Meter. (Ausführliche Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 8000 bis 4000 v. Chr. Klimaoptimum: die wärmsten Jahre der Nacheiszeit (Holozän). Die Temperatur liegt etwa ein bis zwei Grad höher als heute und das Klima ist erheblich feuchter. Das Abschmelzen des Inlandeises führt zu einem Anstieg des Meeresspiegels. In der Sahara wachsen Oliven, Zypressen und Lorbeer, der Wasserspiegel des Tschadsees am Südrand der Sahara liegt 40 Meter höher als heute. Die Induskultur erreicht in dieser Zeit ihren Höhepunkt. In Mitteleuropa herrscht Wärme liebender Eichenwald vor. (Ausführliche Informationen finden Sie Externer Link: hier.) Etwa 2500 v. Chr. Sintflut: Als Sintflut wird im 1. Buch Mose der Bibel eine große weltumspannende Flut bezeichnet, mit der Gott die Menschen für ihr sündiges Leben bestraft haben soll. Gemäß dem biblischen Bericht im Alten Testament soll die Sintflut 40 Tage und 40 Nächte gedauert haben. Der Zeitpunkt der Sintflut wurde vom irischen Theologen James Ussher im 17. Jahrhundert berechnet. Einer These der amerikanischen Wissenschaftler William Ryan und Walter Pitman zufolge ist die überlieferte Geschichte der "Sintflut" in der Bibel eine Folge des Anstiegs des Meeresspiegels nach der letzten Eiszeit und die dadurch ausgelöste Überschwemmung der Schwarzmeer-Region durch Wasser aus dem Mittelmeer. Ähnliche Berichte gibt es auch aus anderen Teilen der Welt bzw. in anderen Kulturen und Religionen, z.B. im Chinesischen Altertum, in Indien oder im Judentum. (Ausführliche Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 2100 bis 600 v. Chr. Entstehung und Überlieferung des Gilgamesch-Epos. Der König Gilgamesch und sein Freund, der Held Enkidu, dürften um 2650 v. Chr. als historische Gestalten gelebt haben. Eine Interpretation des Epos ist der frühzeitliche Hinweis auf die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Waldes. Gilgamesch-Epos: babylonisches Heldenepos über Gilgamesch, den König von Uruk. Es gilt als die erste Dichtung, welche das Lösen von den Göttern, zugleich aber auch die Angst vor der Vergänglichkeit des Lebens zeigt. Seit der Mensch sich seiner selbst bewusst ist und damit die "Unschuld" der Natur hinter sich lässt, beginnen die existentiellen Ängste. Gilgamesch gilt daher auch als das erste existentialistische Werk der Menschheit. Quellen und weitere Links: Scinexx – Das Wissensmagazin: Eine kurze Geschichte des Klimas... Externer Link: Jahr 1 n.Chr. bis 1945 900 bis 1300 n. Chr. "Kleines Klimaoptimum": Warmphase mit trockenen Sommern und milden Wintern im frühen Mittelalter, die Temperaturen liegen etwa ein Grad über den heutigen. Grönland ist tatsächlich grün und wird besiedelt, in Schottland ist sogar Weinanbau möglich. 1362 und 1634 Sturmfluten an der Nordseeküste. 1400 bis 1850 "Kleine Eiszeit": Nach der relativ warmen Periode setzte eine Klimawende ein: Die Temperaturen fielen deutlich und lagen etwa 1 bis 1,5 Grad unter den heutigen. Die Gletscher rückten weiter in die Täler vor. Kalte Winter und nasse Sommer führten zu Missernten, Hungersnöten und einer Häufung von Sturmfluten und Überschwemmungen. (Weiterführende Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 1872 Erstmals wird am 25. April 1872 der "Tag des Baumes" (in Nebraska/USA) begangen. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt der US-amerikanische Journalist und Farmer Julius Sterling Morton, sein Anwesen im baumarmen Bundesstaat Nebraska konsequent aufzuforsten. Bereits nach kurzer Zeit stellen sich erste Erfolge ein. Die Bodenerosion vermindert sich, die Artenvielfalt in der Gegend nimmt zu. Daraufhin beantragt Morton, einen "Tag des Baumes" einzuführen, um auf die Versteppung der USA und die mögliche Rettung der Umwelt durch das Wurzelwerk von Buchen, Fichten oder Eichen hinzuweisen. (Weiterführende Informationen finden Sie Externer Link: hier.) Um 1900 Der Mensch beginnt, in die sensible Balance zwischen natürlichem Treibhauseffekt und Sonneneinstrahlung im Zuge der beginnenden Industrialisierung (bspw. durch die vermehrte Nutzung fossiler Brennstoffe) einzugreifen. (Nähere Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 1913 Erste Internationale Naturschutzkonferenz im Parlamentsgebäude von Bern, an der 17 Staaten teilnehmen und die Aufgaben des Weltnaturschutzes festlegen. 1925 Erster Deutscher Naturschutztag in München mit Initiativen zum Alpenschutz und Gründung des "Deutschen Ausschusses für Naturschutz". Die Fachtagung des Bundesverbandes Beruflicher Naturschutz e. V. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Naturschutzring e. V. und dem Bundesamt für Naturschutz findet alle zwei Jahre statt. 1941 Hermann Flohn erkennt in dem in der "Zeitschrift für Erdkunde" veröffentlichten Artikel "Die Tatigkeit des Menschen als Klimafaktor", dass der Klimawandel nicht nur natürlich bestimmt ist. Flohn (1912-1927) gilt als der älteste Vertreter der deutschen Klimaforschung. Quellen und weitere Links: Scinexx – Das Wissensmagazin: Eine kurze Geschichte des Klimas... Externer Link: 1946 bis 1985 1952 Der "Tag des Baumes" wird von nun an jedes Jahr im April auch in Deutschland mit Feierstunden begangen und soll die Bedeutung des Waldes für Menschen und Wirtschaft im Bewusstsein halten. Am 25. April pflanzen Bundespräsident Theodor Heuss und der Präsident der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Bundesminister Robert Lehr, im Bonner Hofgarten einen Ahorn. 1961 Am 28. April fordert Willy Brandt in seiner Rede im Ruhrgebiet: "Blauer Himmel über der Ruhr". Er macht damit als erster deutscher Politiker das Thema Umweltverschmutzung im "Pott" zum Wahlkampfthema. 1961 Gründung der Naturschutzorganisation World Wildlife Fund, heute World Wide Fund For Nature (WWF) am 11. September in der Schweiz. Das globale Netzwerk ist in mehr als 100 Ländern der Erde aktiv und setzt sich gegen die weltweite Umweltzerstörung ein. 1962 In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 bricht über die deutsche Nordseeküste die schwerste Sturmflut seit über 100 Jahren herein. Orkanböen mit Geschwindigkeiten bis zu 200 Kilometern pro Stunde und meterhohe Fluten lassen zahlreiche Deichabschnitte an der Küste, der Unterelbe und der Weser brechen. Am schlimmsten trifft die Flutkatastrophe das über 100 Kilometer von der Küste entfernt gelegene Hamburg. Ganze Stadtteile stehen unter Wasser. Über 60.000 Bewohner südlich der Elbe werden obdachlos. Strom, Gas und Wasser fallen in der Millionenstadt aus. 1962 Rachel Carson veröffentlicht den ersten "Umweltroman" und erklärt damit erstmals einem großen Publikum, was Ökologie ist. (Nähere Informationen finden Sie unter Interner Link: Literatur sowie Externer Link: hier.) 1968 Gründung des "Club of Rome". Ziel: Identifikation der brennendsten Probleme, denen sich die Menschheit gegenübersieht, deren Analyse, die Suche nach zukünftigen alternativen Lösungen und das Entwickeln von Zukunftsszenarien. Die Arbeit des Club of Rome wird von drei sich ergänzenden Prinzipien bestimmt: Globale Betrachtungsweise, Ganzheitliches Denken und Interdisziplinärer, langzeitlicher Lösungsansatz. 70er Jahre Der zu dieser Zeit im Kabinett Brandt für diesen Aufgabenbereich zuständige Innenminister Hans-Dietrich Genscher führt das Wort "Umweltschutz" als Übersetzung des anglo-amerikanischen Begriffs "environment protection" in die deutsche Sprache ein und bezeichnet diesen als "eine staatliche Aufgabe von gleichem Rang wie die soziale Frage im letzten Jahrhundert". 1970 Der Europarat designiert auf britische Initiative das erste "Europäische Naturschutzjahr" und veranstaltet im Februar in Straßburg eine Konferenz zum menschlichen Einfluss auf die Umwelt. 1971 Am 15. September macht sich eine kleine Gruppe von Friedensaktivisten des "Don't Make a Wave Committee" mit der "Phyllis Cormack" auf den Weg zu den Aleuten-Inseln. Vor der Küste Alaskas wollen sie einen US-amerikanischen Atomtest verhindern. Für die Aktion finden die Organisatoren einen Namen, der das Programm der Expedition verdeutlicht: Green + Peace = Greenpeace. 1972 Die 1. UN-Konferenz über die menschliche Umwelt findet in Stockholm statt und gilt als der eigentliche Beginn der internationalen Umweltpolitik. Das politische Hauptinteresse der Industrieländer liegt darin, Maßnahmen zur Begrenzung industrieller Umweltverschmutzung und zum Schutze von Ökosystemen zu vereinbaren, um eine drohende Umweltkatastrophe abzuwenden. Dazu wird auch das United Nations Environmental Programme (UNEP) eingerichtet. Das Abfallbeseitigungsgesetz dehnt die rechtlichen Befugnisse auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung aus (unter Innenminister Genscher). 1974 Mit dem Bundesimmissionsschutzgesetz wird ein weiteres der wichtigsten umweltrechtlichen Gesetze geschaffen. 1974 Genscher setzt die Gründung des Umweltbundesamtes in Berlin durch, was zu Konflikten mit der DDR und der Sowjetunion führt. Heute befindet sich der Dienstsitz des UBA in Dessau. 1974 Die Chemiker Frank Sherwood Rowland und Mario J. Molina finden heraus, dass FCKW unter bestimmten Bedingungen Ozon zerstören kann. Daraufhin reagiert die Welt nur halbherzig. Die EG-Staaten wollen die Verwendung von FCKW um 1/3 reduzieren. (Nähere Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 1976 Umweltkatastrophe: Seveso, Italien – Das Sevesounglück war der bisher größte Chemieunfall Europas. Die Umweltkatastrophe ereignete sich am 10. Juli 1976 in der chemischen Fabrik Icmesa S.p.A (Tochterunternehmen von Givaudan, wiederum eine Tochter von Roche) in Meda, 20 Kilometer nördlich von Mailand. Das Firmengelände berührte das Gebiet von vier Gemeinden, unter ihnen Seveso, das Namensgeber des Unglücks wurde. Dabei wurden große Mengen des hochgiftigen Dioxins TCDD (umgangssprachlich auch nur Dioxin oder Sevesogift genannt) freigesetzt. Die Anzahl der Todesopfer ist unbekannt. Untersuchungen dokumentieren aber einen Anstieg von verschiedenen Krebsarten in der betroffenen Region. 1977 Jimmy Carter fordert im April in einer Fernsehansprache an die Nation seine Landsleute u. a. dazu auf weniger Strom zu verbrauchen und sparsamere Autos zu fahren (aufgrund der schwindenden Öl- und Gasvorräte der USA). Zwei Tage später präsentiert er dem Kongress seine Idee, die Energieversorgung des Landes bis 2050 komplett auf erneuerbare Energien umstellen zu wollen. (Nähere Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 1978 Der Blaue Engel – ein Prüf-/Gütesiegel für besonders umweltschonende Produkte und Dienstleistungen – wird erstmalig vergeben. 1982/83 El Niño (= das Auftreten ungewöhnlicher, nicht zyklischer, veränderter Strömungen im ozeanographisch-meteorologischen System des äquatorialen Pazifiks) ist stark und ungewöhnlich ausgeprägt. Auf drei Vierteln der Erde ändern sich die Wettermuster und verursachen Überschwemmungen entlang der westlichen Küsten Süd- und Nordamerikas und Dürren im südlichen Afrika, in Südostasien und Australien. Es kommt zu einem Massensterben von Fischen, Seevögeln und Korallen; die Zahl der verletzten und toten Menschen wird auf mehr als 1.000 beziffert. 1984 Das bisher größte Giftgasunglück ereignet sich am 03. Dezember im indischen Bophal. Aus einem Leck der Chemiefirma Union Carbide strömt Methyl-Isocyanidgas, 2000 Menschen sterben noch in derselben Nacht. Mehrere Tausend Opfer werden in den darauf folgenden Tagen durch die Chemikalie vergiftet. Umweltorganisationen sprechen von ungefähr 20.000 Toten, viele andere leiden ihr Leben lang unter den Spätfolgen. 1985 Mit der Rainbow Warrior hilft Greenpeace im Mai rund 300 Einwohnern der schwer strahlenverseuchten kleinen Pazifikinsel Rongelap bei der Umsiedelung auf eine andere Insel. Auf der Rainbow Warrior bereiten Greenpeace-Aktivisten die Friedensflotte zum Moruroa-Atoll vor, wo Frankreich gerade neue Atomtests vorbereitet. Doch zu dieser Reise kommt es nicht mehr. Am 10. Juli wird das Greenpeace-Flaggschiff Rainbow Warrior vom französischen Geheimdienst versenkt. 1985 Britische Polarforscher der Station Halley Bay entdecken ein Ozonloch über der Antarktis. Sie stellen fest, dass die Ozonsäule, wie sie jeweils im Frühjahr über der Station gemessen wird, von 1977 bis 1984 um über 40 Prozent abgenommen hat. Quellen und weitere Links: Scinexx – Das Wissensmagazin: Eine kurze Geschichte des Klimas... Externer Link: 1986 bis 2000 1986 Am 26. April ereignet sich im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine (damals Sowjetunion) als Folge einer Kernschmelze und Explosion im Kernreaktor Tschernobyl Block IV eine der größten Umweltkatastrophen überhaupt. Sie gilt als die zweitschwerste nukleare Havarie. 1986 Am 6. Juni wird das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gegründet. Die Bundesregierung will mit diesem Schritt die Zuständigkeiten auf diesem Sektor unter einem neuen Minister zusammenfassen, um den neuen umweltpolitischen Herausforderungen besser entgegentreten zu können. Vorher war der Umweltschutz auf die Ressorts von Innen-, Landwirtschafts- und Gesundheitsministerium verteilt. 1987 Am 24. August geht der erste kommerzielle Windpark Deutschlands ans Netz. An der Nordseeküste im Ditmarschen Kreis drehen sich 32 Windräder, deren Leistung zwischen 10 und 25 Kilowatt beträgt. Heute (2007) sind moderne Anlagen 200-mal so leistungsfähig. (Quelle: Externer Link: taz, 24.08.07) 1988 Der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), dem tausende Forscher aus aller Welt zuarbeiten, beginnt das globale Wissen über die Veränderungen unserer Atmosphäre zu sammeln. Das IPCC betreibt selbst keine Wissenschaft, sondern trägt die Ergebnisse der Forschungen in den verschiedenen Disziplinen zusammen, darunter besonders der Klimatologie. Es bildet eine kohärente Darstellung dieses Materials in Berichten ab, den "IPCC Assessment Reports". Die Veröffentlichung des Vierten Sachstandsberichts beginnt am 2. Februar 2007 mit der Herausgabe einer "Kurzfassung für Entscheidungsträger" (Summary for Policymakers, SPM) der Arbeitsgruppe 1 – die SPMs der Arbeitsgruppen 2 und 3 folgen im April bzw. Mai 2007. 1989 Inkrafttreten des Montrealer Protokolls zum weltweiten Verbot der FCKW-Herstellung und -Vertreibung. (Nähere Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 1989 Der Tanker "Exxon Valdez" läuft am 24. März im Prinz-William-Sund auf Grund. 40.000 Tonnen Öl fließen bei dem Unglück ins Meer und verseuchen die Küste auf einer Länge von 2000 Kilometern. Die Bilder verklebter Seevögel und Robben gehen um die Welt. Dass diese "kleinere" Ölpest im Gedächtnis verbleibt, ist vor allem auf die Reaktion des amerikanischen Konzerns Exxon zurückzuführen. Erst Wochen nach dem Unglück bemüht sich der Konzernchef nach Alaska, die Reinigungsarbeiten an den verschmutzten Stränden bezeichnet er als "Kleinigkeiten". Das Krisenmanagement des Konzerns versagt völlig, die Äußerungen des Managements lassen eine skrupellose Einstellung zu der Umweltverschmutzung erkennen. Auch mehr als ein Jahrzehnt nach der Havarie ist der Prinz-William-Sund immer noch verseucht, die Tier- und Pflanzenwelt hat sich noch nicht von dem Unglück erholt. 1990 Der bisher umfassendste Bericht zum Problem der globalen Erwärmung wird vom IPCC vorgelegt und stellt fest, dass anhaltende von Menschen verursachte Emissionen von Treibhausgasen den Treibhauseffekt verstärken. Daraufhin wird ein internationaler Verhandlungsausschuss gegründet (INC, Intergovernmental Negotiating Committee). 1992 Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Zusammenarbeit (UNCED) in Rio de Janeiro: 154 Staaten unterzeichnen die Klimarahmenkonvention. 1993 Gründung des Bundesamtes für Naturschutz sowie Integration von Teilen des Bundesamtes für Ernährung und Forstwirtschaft und des Bundesamtes für Wirtschaft. 1993 Erstmals wird in Osnabrück der Deutsche Umweltpreis verliehen. Im ersten Jahr wird die mit 1 Mio. DM dotierte Auszeichnung von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) für die Entwicklung des weltweit ersten FCKW- und FKW-freien Kühlschranks sowie für die Popularisierung des Naturschutzes vergeben. Die DBU prämiert Leistungen, die entscheidend und vorbildhaft zum Erhalt und Schutz der Umwelt beigetragen haben oder noch zu einer deutlichen Verminderung der Umweltbelastung führen werden. Der Deutsche Umweltpreis ist heute die höchstdotierte Umweltauszeichnung Europas. 1995 Auf der ersten Klimakonferenz der Vertragsstaaten von Rio geht es in Berlin darum, die Verpflichtungen der Konvention fortzuentwickeln und zu verschärfen. 1997 El Niño tritt in vergleichbarem Ausmaß auf wie schon 1982/83 1997 Wissenschaftler des amerikanischen Forschungsinstitutes MIT entwickeln ein neues dreiteiliges Klimamodell. 1997 Das Kyoto-Protokoll wird am 11. Dezember auf der 3. Weltklimakonferenz verabschiedet. Das 2005 in Kraft tretende und 2012 auslaufende Abkommen schreibt erstmals verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen fest, welche die hauptsächliche Ursache der globalen Erwärmung sind. Das Protokoll sieht vor, den jährlichen Treibhausgas-Ausstoß der Industrieländer bis zum Zeitraum 2008-2012 um durchschnittlich 5,2% gegenüber 1990 zu reduzieren. Quellen und weitere Links: Scinexx – Das Wissensmagazin: Eine kurze Geschichte des Klimas... Externer Link: 2001 bis heute 2002 Jahrhundertflut in Deutschland, Österreich und Tschechien: Starkes Tauwetter in den Mittelgebirgen am Oberlauf der Elbe löst eines der stärksten je gemessenen Hochwasser aus. 2004 Nachdem Russland die Vereinbarung ratifiziert hat, tritt die Klimaschutzvereinbarung von Kyoto im November 2004 in Kraft. Einige Staaten wie die USA, Australien und Kroatien unterzeichnen zwar das Protokoll, kündigen dann aber an es nicht ratifizieren zu wollen. Bis 2007 treten 170 Staaten dem Kyoto-Protokoll entweder bei, ratifizieren es oder stimmen dem Protokoll formell zu. 2004 Am 26. Dezember gibt es einen Tsunami im Indischen Ozean. Etwa 230.000 Menschen fallen dem Seebeben zum Opfer. 2005 Hurrikan "Katrina" im Golf von Mexiko: Im August richtet der tropische Wirbelsturm in den südöstlichen Teilen der USA enorme Schäden an und tötet etwa 1.800 Menschen. 2006 Seit diesem Jahr wird auf Satellitenbildern erneut das Phänomen von El Niño aus den Jahren 1982 und 1997 deutlich. 2006/2007 Dieser Winter ist der wärmste seit Messbeginn: Die mittlere Temperatur liegt etwa 4 Grad höher als im langjährigen Klimamittel von 1961 bis 1990; die Mitteltemperatur der bisherigen Rekordwinter (1974/75 und 1989/90) wird um 0,7 Grad übertroffen. 2007 Der Orkan Kyrill richtet am 18. Januar in weiten Teilen Europas große Schäden an und fordert 34 Todesopfer, davon 13 in Deutschland. 2007 Am 02. Februar veröffentlicht der IPCC den ersten Teil des vierten Sachstandsberichts, die Kurzfassung für politische Entscheidungsträger der Arbeitsgruppe I über die "Physikalischen wissenschaftlichen Grundlagen". 2007 Der wärmste, sonnigste und trockenste April seit Beginn der flächendeckenden Aufzeichnung der Wetterdaten ist für viele ein Grund zur Freude, lässt jedoch Fachleute Alarm schlagen, schadet der Landwirtschaft und erhöht die Waldbrandgefahr. 2007 06. April: Im zweiten Teil des IPCC-Berichts folgt die Zusammenfassung des Berichts der Arbeitsgruppe II über "Auswirkungen, Anpassung und Anfälligkeit". Eine Zusammenfassung des Gesamtberichts wird im November 2007 erscheinen. 2007 Am 04. Mai verabschiedet der Weltklimarat IPCC den dritten und letzten Teil seines vierten Klimaberichtes. Im Mittelpunkt stehen dabei Klimaschutzmaßnahmen, ihre Wirksamkeit und die Kosten. Nachdem im zweiten Teil des Berichts der Mensch als Verursacher des Klimawandels explizit herausgestellt worden war, konzentriert sich der dritte Teil auf das, was gegen die fortschreitende Erwärmung getan werden kann. Fazit des IPCC dabei: Gehandelt werden muss schnell und auf breiter Front. Nicht eine Strategie oder Technologie bringt die Lösung, sondern nur noch das Zusammenwirken vieler Ansätze. Eine große Rolle spielen dabei jedoch erneuerbare Energien und eine höhere Energieeffizienz. (Weiterführende Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 2007 Bundesumweltminister Gabriel verweigert am 12. Mai im Namen der EU dem Schlussdokument zur UN-Konferenz über Klimaschutz seine Zustimmung. 2007 Die große Koalition macht im Juni den Weg frei für die Versteigerung von Verschmutzungsrechten zugunsten von mehr Klimaschutz. 2007 In Heiligendamm findet Anfang Juni unter deutscher Präsidentschaft der G8-Gipfel statt. Ein Ziel ist die Verstärkung der Bemühungen zur Minderung von Treibhausgasemissionen und zum Ausbau erneuerbarer Energien; die globalen CO2-Emissionen sollen bis 2050 um mindestens die Hälfte reduziert werden. Dieses Ziel soll gemeinsam in einem UN-Prozess umgesetzt werden. Die Berichte des IPCC und seine Forderungen werden ausdrücklich akzeptiert. (Nähere Informationen finden Sie Externer Link: hier.) 2007 Auf der Weltklimakonferenz in Bali soll eine Nachfolgeregelung für das Kyoto-Protokoll vereinbart werden. Die Umweltminister des UN-Klimarahmenabkommens werden über die Einzelheiten zur Erreichung der globalen Reduktionsziele verhandeln. Das Kyoto-Protokoll, das 2012 ausläuft, soll schon bereits 2009 durch diese Nachfolgevereinbarung ersetzt werden. 2007 Bei der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg legt die Bundesregierung im August die Schritte zur nationalen Umsetzung der Beschlüsse von Heiligendamm fest. 2007 Mit der Ehrung der Leistung von Al Gore für seinen Film "Eine unbequeme Wahrheit" und des UN-Klimarates in Person von Rajendra K. Pachauri (als Vorsitzender des IPCC) wird die Definition von Frieden um die Dimension des Umweltschutzes erweitert. Quellen und weitere Links: Scinexx – Das Wissensmagazin: Eine kurze Geschichte des Klimas... Externer Link: http://www.scinexx.de/index.php?cmd=focus_detail2&f_id=35&rang=7
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/135058/chronik-umwelt-klima-und-mensch/
Chronik "Umwelt, Klima und Mensch" zum GrafStat-Projekt "Umweltbewusstsein und Klimaschutz" zeigt die Entwicklung des Weltklimas unter Berücksichtigung des menschlichen Einflusses.
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Es gab viele Mauern in der DDR | Deutschland Archiv | bpb.de
I. Am 17. Juni 2011 überreichte der polnische Staatspräsident Bronisław Komorowski in der polnischen Botschaft in Berlin posthum das Kommandeurkreuz des Verdienstordens der Republik Polen an Ludwig Mehlhorn (1950–2011) (© Ev. Akademie zu Berlin ) Ludwig Mehlhorn. Die Ehrung nahm in Anwesenheit zahlreicher deutscher und polnischer Freunde und Weggefährten – darunter als Zeichen besonderer Wertschätzung der Teilnehmer am Warschauer Aufstand, Häftling des deutschen KZ Auschwitz, Häftling im kommunistischen Polen und ehemalige polnische Außenminister, der bekannte Historiker und Politiker Władysław Bartoszewski – Heimgard Mehlhorn für ihren am 3. Mai 2011 verstorbenen Ehemann entgegen. Er war nur 61 Jahre alt geworden. Der frühe Tod Mehlhorns ist in Polen stärker beachtet und seine Persönlichkeit öffentlich wirksamer gewürdigt worden als in Deutschland. Mehlhorn hatte sich seit den späten Sechzigerjahren für die deutsch-polnische Versöhnung eingesetzt – bis zu seinem Tod. Er galt in der DDR-Opposition als der "Polenexperte". Viele Anregungen, die aus Polen in die DDR-Opposition, insbesondere seit 1976 (Gründung von KOR), einflossen und von dieser aufgenommen wurden, hatte Ludwig Mehlhorn vermittelt. Er zählte ab Mitte der Achtzigerjahre zu den prägenden Köpfen der Ost-Berliner Opposition. Dabei war er eben nicht nur "Polenexperte", sondern auch einer der entschiedensten und klügsten Köpfe, die intellektuell und politisch Grenzen überwinden und abbauen wollten. So wie Mehlhorn zeitlebens für die deutsch-polnische Aussöhnung und Verständigung eintrat, so hat er sich – was eben in Deutschland viel zu wenig gewürdigt wurde – für den deutsch-deutschen gesellschaftlichen Dialog engagiert. Ihn schmerzte die Mauer wie so viele andere. Aber anders als viele andere konnte er diesen Schmerz auch intellektuell verarbeiten und die Folgen der Abgrenzung, die der Mauerbau und die Mauer symbolisierten, benennen. Im letzten Jahr haben wir viel über den Mauerbau 1961 und seine Folgen gehört, diskutiert, erfahren. Insgesamt kam dabei die gesellschaftspolitische und -geschichtliche Dimension für die DDR – meine ich – deutlich zu kurz. So spielte zum Beispiel in dieser Erinnerung an den Mauerbau und dessen Folgen die "Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" (ab 1986/87), Die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck (Region Ost) und Martin Kruse (Berlin-West), 1989. (© epd-bild, Foto: Andreas Schölzel) aus der im Spätsommer 1989 die Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" hervorging, praktisch keine Rolle. Einer der wichtigsten Initiatoren war Ludwig Mehlhorn. Einen Ausgangspunkt für diese Initiative bildete ein Brief, den er am 27. August 1986 an die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Martin Kruse (Berlin-West) und Gottfried Forck (Region Ost), gerichtet hatte. Mehlhorn reagierte auf einen Notenaustausch der beiden, von ihm sehr geschätzten Bischöfe. Dieser Brief Mehlhorns stellt eines der eindrücklichsten Zeugnisse dar, wie viele Menschen in der DDR dachten, lebten, litten – selbst wenn sie dies so nicht formuliert hätten, nicht so hätten artikulieren können. Wenn es um Mauern in der DDR geht, sollte, muss dieser Brief beachtet werden. Er wird deshalb hier mit einigen Grundaussagen wiedergegeben – Bischof Forck hat diesen übrigens nicht nur als wichtig erachtet, hat den Aussagen nicht nur zugestimmt, sondern hat sich mit Ludwig Mehlhorn auch zu mehreren Gesprächen getroffen. Darin heißt es unter anderem: "Mit Interesse habe ich Ihren Briefwechsel zum 13. August 1986 gelesen. Ihre Aussagen sind in die Form persönlicher Briefe gefasst. Aus der Tatsache der Veröffentlichung darf man aber schließen, dass es sich um eine quasi-offizielle Stellungnahme der Kirche zu einigen Aspekten handelt, die mit diesem Datum unserer jüngsten Geschichte verbunden sind. Deshalb habe ich mich entschlossen, von der Freiheit eines Christenmenschen einmal Gebrauch zu machen und Ihnen gemeinsam zu schreiben. (...) Ohne die verbrecherische 'Politik' der Nazis gegenüber den europäischen Völkern einschließlich des deutschen, das freilich der braunen Diktatur mehrheitlich zugestimmt hatte, wäre es nicht nötig gewesen, dass sich Europa bis zur Elbe von der Roten Armee und von der anderen Seite durch westliche alliierte Armeen befreien lassen musste. (...) Aber dennoch können wir nachdenken über eine Zukunft, 'in der eine Mauer nicht mehr sein wird', auch an der Perspektive der Einheit festhalten. Diese 'Einheit' braucht man sich nicht im nationalstaatlichen Sinne vorzustellen. Aber über die Stufen Entmilitarisierung und vertraglich gesicherte Neutralität könnte sie eines Tages auf friedlichem Wege erreicht werden, ohne Bedrohungsängste bei unseren Nachbarvölkern hervorzurufen. Hier sollten gerade kirchliche Kreise, die wissen und glauben, 'dass Gott die Welt nicht so lässt wie sie ist', den Mut haben, auch tabuisierte Fragen aufzunehmen. (...) Welche Folgen der Mauerbau für den Westen hatte, kann ich schwer einschätzen. Nach meinem möglicherweise sehr oberflächlichen Eindruck ist die Mauer für viele Menschen im Westen trotz gegenteiligen Bekundens nie ein wirkliches Problem gewesen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein (...) Auch hier gilt: 'Deine Sprache verrät dich': von Europa wird geredet, wenn man die [Europäischen Gemeinschaften] EG meint. Im Empfinden vieler Menschen führt das wahrscheinlich dazu, dass wir hier gar keine richtigen Europäer mehr sind – von den Völkern weiter östlich ganz zu schweigen. (...) Für die DDR waren und sind die Folgen gänzlich anderer Art. (...) Im Schutz und im Schatten der Mauer ließ sich trefflich eine Politik der Abgrenzung und Abschottung realisieren, an deren Folgen unser gesamtes gesellschaftliches Leben schwer – und viele, die weggehen, meinen: tödlich – erkrankt ist. Grenzen und Mauern sind geradezu eine Grunderfahrung für meine Generation geworden. Nahezu jedes Schlüsselerlebnis ist mit den Phänomenen Grenze und Abgrenzung verbunden. Ich kann gut verstehen, dass 'Mit der Teilung leben' – um an Müller-Gangloffs Buch zu erinnern – ein notwendiges Lernziel der 60er Jahre war, weil es eine Perspektive jenseits von Verbitterung und Illusionen geben musste. Aber heute braucht uns das niemand mehr zu sagen. Wir haben nie etwas anderes gekannt. Wir – das ist inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung. (...) Zweimal stand ich, mit gültigen Reisepapieren versehen, an der Grenze, ohne durchgelassen zu werden: zunächst im Juni 1981 in Frankfurt/Oder, dann im Juli 1983 in Berlin-Schönefeld mit dem Reiseziel Budapest. (...) Es ist trotzdem schön, wenn es heute in Berlin-Friedrichstraße 'gelassener, menschlicher' zugeht, wenn sogar 'kritische Rückfragen' und 'scherzhafte Bemerkungen' gemacht werden können. Auch mir erklärten die uniformierten Beamten an der Grenze in keineswegs unfreundlichem Ton, dass ich leider nicht weiterreisen könne. Sie waren ganz gelassen. Nur ich fraß Gefühle in mich hinein, die wahrscheinlich in einer Mischung aus unchristlichem Hass und heiligem Zorn bestanden. (...) Sie nennen die Menschen, die unter der Mauer am meisten gelitten haben, nämlich diejenigen, 'die durch die Aufrichtung dieser Grenzen lange Zeit von ihren Angehörigen und Freunden getrennt wurden'. Und – so möchte ich ergänzen – die ihr Leben oder einen nahestehenden Menschen an der Mauer verloren haben: Flüchtlinge, Grenzsoldaten und wohl auch Menschen, die aus eigenem Entschluss nicht mehr weiterleben wollten, weil die Mauer ihre Lebensläufe zerschnitten hatte. Aber zur Wahrhaftigkeit beim Reden über die Mauer gehört auch die Abgrenzung nach außen und innen, die ohne Mauer so nicht möglich wäre: die fast geschlossene Oder-Neiße-Grenze, Reiseverbote nach osteuropäischen Ländern für eine große Anzahl von DDR-Bürgern, Einreiseverweigerungen für Personen aus dem westlichen und östlichen Ausland, Kontaktverbote oder Kontaktmeldepflichten in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft. Selbst eine so positive Entwicklung wie die seit jüngster Zeit praktizierte Erleichterung des Reisens in dringenden Familienangelegenheiten [in die Bundesrepublik] hat ihre Schattenseiten: sie schafft im inneren neue Grenzen zwischen denen, die Verwandte haben und den anderen. (...) Dieser Katalog setzt sich bei den unsichtbaren Grenzen fort. Ich könnte vieles erwähnen, z.B. die Grenze um Bücher und Zeitschriften, Informationen und geistige Güter. Hier äußert sich die Abgrenzungs- und Abschottungspolitik als Zensur, die wie ein Krebsgeschwür in alle gesellschaftliche Bereiche, vor allem Kultur und Bildung, vordringt und das geistige Leben lähmt. (...) Wenn es nicht trotz Mauer und Abgrenzung hin und wieder Einflüsse von draußen gäbe, müssten wir am Mief der Provinzialität ersticken. (...) Und was soll ich, sehr geehrter Herr Bischof, von Ihrer Formulierung halten, 'daß es in den vergangenen Jahren sehr schwierig war, eine Reisegenehmigung in das westliche Ausland zu bekommen'? Sehr schwierig – das heißt doch: immerhin möglich?! (...) War es nur mein Unvermögen, gewisse bürokratische Hemmnisse findig – pfiffig zu überwinden? Oder mangelnder Mut? Bin ich selbst Schuld, wenn ich noch nicht in Paris war, um ins Museum zu gehen oder auch nur, um ein paar Freunde aus verschiedenen ost- und westeuropäischen Ländern zu treffen, die seit Jahren aus wer weiß was für Gründen keine Einreise in die DDR bekommen? (...) Nein, dieses 'sehr schwierig' ist kein Euphemismus mehr, sondern schlicht die Unwahrheit! (...) Zur Frage des Ausreisens für immer will ich mich hier nicht äußern – das ist ein weites Feld. Aber eins scheint mir sicher: für Christen gibt es keine Sonderargumente, weder fürs Bleiben noch fürs Gehen. Es ist ja nicht Christenverfolgung, worüber wir zu klagen haben. Darum ist es ein Verlust für unsere Gesellschaft, wenn Menschen weggehen, die sich der Mauerkrankheit entgegengestellt haben – und ab irgendeinem individuell je verschiedenen Punkt nicht mehr weiter konnten. Ob es sich dabei um Christen handelt oder nicht, ist unerheblich. Das vielleicht bitterste Kapitel wird in dieser Hinsicht die Literaturgeschichte, nicht die Kirchengeschichte zu schreiben haben. Nicht nur für Christen, auch für die Kirche als ganzes – wenn sie sich wirklich im Bonhoefferschen Sinne als Da-Sein für andere versteht – ist es ein Verlust, dass Jurek Becker und Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Günter Kunert, Thomas Brasch und Jürgen Fuchs nicht mehr da sind. (...) 'Was hat die Kirche zum 13. August 1986 zu sagen?' – so lautete die Ausgangsfrage Ihres Briefwechsels. Sie hätte meines Erachtens nicht nur die 'billige Anpassung an die gegebenen Verhältnisse' und den 'grundsätzlichen Widerspruch' zu den Realitäten zu verwerfen. Und sie dürfte die 'kritische Mitverantwortung für alles, was bei uns geschieht', nicht nur postulieren. Sie müsste diese Mitverantwortung auch ganz konkret wahrnehmen, indem sie sich eindeutig und unmissverständlich gegen Geist und Logik der Abgrenzung öffentlich ausspricht. Eine solche Formel würde heute nicht mehr die Illusion wachrufen, die Mauer – von der Mauerkrankheit zu schweigen – könnte von heute auf morgen verschwinden. Aber sie würde deutlich machen, dass es in einer Zeit, in der das atomare Massengrab allenthalben als apokalyptisches Menetekel beschworen wird, prinzipiell keine Rechtfertigung dafür gibt, Menschen durch sichtbare und unsichtbare Mauern gegen ihren Willen voneinander zu trennen und ihre grenzüberschreitende Kommunikation zu behindern. Und schließlich hätte eine sich an dieser Erkenntnis orientierende, den an Mauern und Mauerkrankheit leidenden Menschen zugewandte Seelsorge eine gewisse Chance, zur Heilung der verwundeten Herzen und zur Gesundung gestörter sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen. Eine solche Seelsorge wäre wohl auch geeignet, 'Verantwortung zu wecken, Lethargie und Selbstsucht zu überwinden'. Ob wir stark genug sein werden, weitere 25 Jahre Ab-, Aus- und Eingrenzungen zu überleben, ohne weiteren Schaden zu nehmen an Geist und Seele? Gott allein weiß es." Nur wenige Jahre später durchbrachen die DDR- und die ostmitteleuropäischen Gesellschaften das krankmachende Monstrum. Die Mauer wurde nicht einfach geöffnet, sondern ihr Fall von den Gesellschaften erzwungen. Sie wird uns noch lange beschäftigen, nicht nur in Gedenk- und Jubiläumsjahren. II. Der Potsdamer Romanist Ottmar Ette sieht in Grenzen auch sprachliche Konstrukte, die hochgradig arbiträr, also letztlich willkürlich, von subjektiven Wahrnehmungen abhängig, sind: "Sie sind im Sinne Roland Barthes' insoweit Mythen, als sie Natur zu sein vorgeben, wo sie in der Tat aus geschichtlichen Prozessen hervorgingen." Tatsächlich ist jedwede Geschichte von "Grenzen" und "Begrenzungen" charakterisiert. Und die Geschichte der Grenzen ist eine Geschichte von Konstruktionen, von Erfindungen des Eigenen und des Fremden, des Drinnen und Draußen, von Dazugehören und Nichtdazugehören. Der Migrationsforscher Klaus Bade formulierte einmal pointiert, dass sich "nicht nur Menschen über Grenzen, sondern auch Grenzen über Menschen" bewegen. Auf eine wichtige Ambivalenz in der politischen Semantik der geografischen Grenze, die auf andere Dimensionen von Grenzen übertragbar ist, weist der Historiker Karl Schlögel hin: "Grenzen sind die wichtigste Raumerfahrung, ebenso wie ihr Gegenteil: die Grenzenlosigkeit. Sie besagen: hier hört etwas auf, hier fängt etwas an. Sie gliedern Territorien, die sonst nur formloser, leerer Raum wären. Sie geben etwas Gestalt. Wir können ohne Grenzen nicht leben. Ohne Grenze wären wir verloren." Und doch kann Grenze nicht gedacht werden, ohne nicht zugleich auch ihre Beschränkungen und Einschränkungen zu berücksichtigen. "Grenze ist ein Codewort für Unfreiheit, für Barriere, für Enge, während Grenzüberschreitung, Grenzenlosigkeit, gar Entgrenzung einen semantischen Mehrwert enthält" und positiv konnotiert sei, so Schlögel. Grenzen motivieren geradezu dazu, sie zu überwinden, zum Grenzverletzer/zur Grenzverletzerin zu werden. Das kann im metaphorischen Sinne ebenso gefährlich sein wie im physischen. Die "Grenzen von Diktaturen", zum Beispiel, lassen sich interpretieren als beschränkte Reichweite der Macht innerhalb der staatlichen Grenzen. Eigenständiges Denken oder nonkonformes Verhalten setzen wiederum Grenzen innerhalb der Diktatur selbst, auch wenn diese sie auf ihre eigene unnachahmliche Art ahndet. Zugleich versprechen die "Grenzen einer Diktatur" Hoffnungen, dieser mit der Überwindung der Grenzen entfliehen zu können Die Berliner Mauer war zu einem solchen weltweiten Symbol für solche freiheitsversprechenden Grenzen, die es unter Todesgefahr zu überwinden galt, geworden. Die Grenze ist jedoch keine Erfindung der Diktatur. Typologisch unterscheiden sich andere Grenzanlagen von den Diktaturgrenzen dadurch, dass sie nicht nach Innen verriegeln, sondern das Land gegenüber Außen und den "anderen" kulturellen und sozialen Gruppen abschotten sollen. Die gegenwärtigen Außengrenzen der Europäischen Union stellen dafür ein besonders beredtes Beispiel dar: Sie riegeln eine mächtige Wirtschaftsunion nach Außen ab, während innerhalb der Schengen-EU gleichzeitig die Grenzen weitgehend obsolet geworden scheinen. Dieses Beispiel deutet zugleich die Polysemie, die Bedeutungsvielfalt der Grenzen an, die – um nochmals beim Beispiel der EU-Grenzen zu bleiben – von Geschäftsleuten, Akademikern, Asylsuchenden oder Arbeitssuchenden, von EU-Europäern, US-Amerikanern, Angolanern, Romas oder Indern jeweils ganz anders erfahren und erlebt werden. Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaften, aber das Thema meiner Ausführungen kurz einordnenden Ausführungen wird zweierlei ersichtlich. Erstens haben wir es bei Systemgrenzen tatsächlich mit einer Vielzahl von Erscheinungen zu tun, die sich womöglich im Einzelnen auch noch gegenseitig ausschließen. Zweitens wiederum lassen sich Systemgrenzen kaum objektivieren, sondern unterliegen einer subjektiven Empfindung, die man im Konkreten abtun, als irrelevant oder gar lächerlich bezeichnen kann, die aber wiederum Ausdruck einer Vielfalt gesellschaftlicher Prozesse darstellen, die es eben auch im kommunistischen Gesellschaftsprojekt gab. Nicht einmal die Mauer ist in der DDR von allen gleichermaßen als bedrohliche oder bedrohende Grenze wahrgenommen worden, als Symbol für ein System, das strikt und strikte Grenzen zu setzen versuchte und Grenzverletzer/innen sanktionierte, im schlimmsten Fall erschoss. Dass die Mauer zugleich eine Außengrenze und innere Systemgrenzen symbolisierte, eine unzertrennliche Einheit, die gerade nur in dieser Dialektik von innerer und äußerer Abschottung Sinn ergab, war weder vor noch nach 1989 ein selbstverständliches Allgemeingut der im System lebenden bzw. gelebt habenden Menschen. III. Wenn wir Grenzen der DDR in den Blick nehmen, dann fallen zuerst die Zäsuren 1952/53 und 1961 auf. Zunächst beginnt programmatisch und mit vielfältigen, häufig analysierten Begleiterscheinungen die offensive Etablierungsphase des Systems, die mit dem 17. Juni 1953 kein abruptes Ende, aber eine deutliche Kurskorrektur erfährt. Allen waren die vielfältigen Systemgrenzen drastisch vor Augen geführt worden. Das Regime schwenkte nicht um, aber es organisierte seine Etablierung und Stabilisierung neu. Die Gesellschaft besaß neben bedingungsloser Unterstützung, bereitwilligem Mittun, missmutiger Loyalität, antikommunistischen Widerstand oder Flucht eine weites Spektrum von Handlungsoptionen, das auch deshalb zur Verfügung stand, weil erstens historische Erfahrungen aus der Zeit vor 1933 noch mehrheitlich lebensgeschichtlich verankert waren, weil zweitens die Erfahrungen von 1933 bis 1945 als Handlungs- und Positionierungsantriebe abrufbar waren und weil drittens die Bundesrepublik als reale Alternative ganz unmittelbar greifbar war und als Vergleichsfolie für die eigenen Lebensvorstellungen unmittelbar einwirkte. Als 1961 ein neuer Volksaufstand zu drohen schien – alle Anzeichen deuteten darauf hin, die entscheidenden gesellschaftlichen Parameter ähnelten denen von 1952/53 auffällig – zeigten die Herrscher, dass sie aus 1953 gelernt hatten. Sie vollendeten ihre "innere Staatsgründung" – wie ich diesen historischen Prozess von 1952 bis 1961 bezeichne – und schotteten mit der Mauer das Land endgültig ab, zeigten Grenzen auf und symbolisierten so auch – über das Todeswerk hinaus –, dass das System auf die Einhaltung innerer Begrenzungen unbedingten Wert lege. Äußere und innere Mauern gehörten zum Kommunismus als immanenter Bestandteil der Herrschaftssicherung und Unterdrückung überall dazu. Die Berliner Mauer war "lediglich" die berühmteste. Zwar standen der Gesellschaft nun noch immer genügend Handlungsoptionen zur Verfügung, aber diese waren nun nicht nur klarer umrissen, zugleich musste die Gesellschaft sich selbst neu erfinden, weil sich die Handlungsräume erheblich verändert hatten. Das führte unter anderem zu dem Paradox, dass das System in den folgenden etwa 15 Jahren zusehends an Stabilität und Prestige gewann, zugleich aber durch die starren Begrenzungen fast zwangsläufig zur finalen Grenzüberwindung beitrug. Denn, wie ich ganz am Anfang schon zitierte, Grenzen wohnt nun einmal der Traum ihrer Überwindung immanent inne. Wachtturm an der Berliner Mauer 1981 (© picture-alliance/akg) Der gesellschaftliche Schock vom 13. August 1961 führte zu mindestens drei längerfristig wirkenden Ergebnissen. Ein größerer Teil der Gesellschaft begab sich (nun, da Flucht eine noch gefährdetere Option geworden war) ins innere Exil und lebte strikt nach offiziellem und privatem Leben getrennt; das war nicht schizophren, vielmehr begegnen uns hier multiple Persönlichkeiten, die sich mit dem Offenbaren arrangierten und zugleich vom Undenkbaren träumten. Ein ganz kleiner, geradezu verschwindend geringer Teil der Gesellschaft hielt an Opposition und Widerstand fest. Gerade Jüngere sind hier in den 1960er-Jahre durch grenzüberschreitende Einflüsse neuer Jugendkulturen erheblich beeinflusst und motiviert worden. Drittens schließlich wuchsen nach 1961 Kinder und Jugendliche heran, die vor eine ganz neue Herausforderung gestellt wurden: nämlich die vorhandenen Grenzen des Systems nicht als naturgegeben hinzunehmen, sondern als menschengemacht und damit kritikfähig und überwindungsfähig überhaupt anzuerkennen. Anders als in den Jahren bis 1961 kam auf dem Spektrum zwischen unbedingter, überzeugter Unterstützung und rigider Ablehnung nun also noch hinzu, die Grenzen als überwindungsfähig überhaupt wahrzunehmen. Medien, Bildungswesen, Erziehungsziele, Lehrpläne, öffentliche Propaganda, Militarisierung oder inszenierte Massenaufmärsche sollten die historisch-gesetzmäßige Endgültigkeit des Systems belegen und untermauern. Wer sich damit nicht abfinden mochte, für den stand ein breites Instrumentarium an Verfolgungs-, Disziplinierungs- und Abschreckungsmitteln bereit, die von Mord an der Mauer bis hin zur kollektiven Demütigung wegen individueller Selbstbehauptung oder Zweifel an der Richtigkeit des Marxismus-Leninismus reichten. Die inneren Systemgrenzen waren zwar omnipräsent, aber zugleich tabuisiert, was wiederum ihre diskursive Verhandlung verhinderte. Die Frage ist ja nicht so sehr, was zu den inneren Grenzen gehörte und welche besonders nachhaltig funktionierten. Auch dass die Grenzwahrnehmungen von individuellen politischen, kulturellen, sozialen, religiösen, ideologischen und nicht zuletzt habituellen Momenten beeinflusst waren, ist zunächst unspektakulär. Mir scheint viel interessanter zu sein zu fragen, wie Grenzüberschreitungen im Inneren aussahen und wie sie motiviert wurden. Dazu ist zunächst wohl festzuhalten, dass die totalen Ansprüche der kommunistischen Herrscher von vornherein selbst verhinderten, ein ihren Regeln entsprechendes Leben führen zu können. Die totale Regelanmaßung implizierte permanente Grenzüberschreitungen, es ging gar nicht anders, als die inneren Grenzen ständig zu verletzen. Die für die Herrschenden aber letztlich entscheidende Frage war die nach dem politischen Gehalt der Grenzüberschreitung. Und hier stand ihnen mit der Evangelischen Kirche eine Institution gegenüber, die bei aller Kritik im Einzelnen einen Gegenentwurf zur parteistaatlichen Praxis, Räume für anderes Denken, Handeln und Leben anbot. Es ist daher kein Zufall, dass die organisierte Opposition der 1980er-Jahre zu einem ganz großen Teil aus der Evangelischen Kirche entwuchs. Dass diese Opposition dann 1989 zur Keimzelle einer breiten Bürgerbewegung wurde und die Kirchen – die erst Schwierigkeiten hatten, die Opposition hereinzulassen; 1989 wollte sie sie dann teilweise nicht herauslassen – verließen, steht am Ende dieser Geschichte. In den 1970er- und 80er-Jahren stehen wir im Gegensatz zu den 1950er-Jahren – die 60er nehmen eine Art Zwischenstellung ein – vor dem Phänomen, dass zwar die Legitimität des Systems, der Zuspruch zum System und die überzeugte, aktive Unterstützung des Systems nicht signifikant zugenommen hatten, aber zugleich der politisch offene Widerspruch, die organisierte politische Opposition, der Zeichen setzende Symbolwiderstand deutlich marginalisiert war. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt außenpolitische Entwicklungen und die offiziellen politischen deutsch-deutschen Gespräche. Ist aber dieser Befund gleichbedeutend damit zu sehen, dass Opposition und Widerstand auch gesellschaftlich marginalisiert waren? Hier möchte ich doch ein großes Fragezeichen setzen. IV. Die Kommunisten haben ihre Gesellschaft als eine Gemeinschaft der Gleichen und des Gleichen verstanden und propagiert und diese zugleich als Endpunkt der Geschichte markiert. Richtmaß für alles und jeden war das Kollektiv, das zwar ominös und undeutlich blieb, aber doch klar genug konturiert war, um Individualität als störend zu kennzeichnen, um Individualität als überkommenen Wert dastehen zu lassen. Wer dennoch seine Individualität bewahrte, geriet schnell zum Außenseiter, der oft genug gar nicht vom Staat drangsaliert werden musste, weil diese Aufgabe die Gesellschaft reflexartig übernahm. "Reflexartig" bedeutet auch, hier ging es weniger um politische oder ideologische Absichten. Vielmehr folgte dieser Reflex kulturellen, sozialen und habituellen Inspirationen, oft genug wollte das Kollektiv einfach nur seine Ruhe haben. Die Motivationen für das Ausbrechen aus dem Kollektiv und das oppositionelle Engagement – was wiederum sehr breit gefächert aussehen konnte und hier durchaus von offen gezeigten Normenabweichungen wie der Kleidung und den Frisuren bis hin zu organisierter politischer Opposition reichte – lassen sich ebenfalls kaum auf einen Nenner bringen. Bestimmte Grunderfahrungen, die immer wieder als Motivation für oppositionelles Handeln angeführt werden – etwa erlebte Repressionen in der Familie oder im Bekanntenkreis -, lassen sich nicht generalisieren, weil so etwas viel mehr Menschen erlebten, als dann tatsächlich in der Opposition aktiv waren. Hier kommt man methodisch auch nicht durch immer neue Interviews weiter, weil eine entsprechende Mitläuferforschung für die DDR bislang gänzlich fehlt. Vielleicht ist das auch nicht zu lösen, weil sich bestimmte individualpsychologische Grundkomponenten nicht entschlüsseln lassen. Man kann meines Erachtens gut erklären, warum jemand mitmacht, warum jemand überzeugt mitmacht, warum jemand mitläuft, sich abduckt, man kann auch ganz gut erklären, wie oppositionelle Gruppen in sich funktionieren und wie sie ihre Stellung in und zur Gesellschaft und zu anderen Gruppen definieren, aber genau der Übergang in eine solche Gruppe lässt sich nur biografisch erzählen und erklären, jede Typologie hätte das Manko einer Zwangsläufigkeit, die es ja nun gerade nicht gab. Das führt mich nun zu meinem letzten Punkt, nämlich der Stellung der Oppositionsgruppen innerhalb der Gesellschaft. Über ihre Marginalisierung ist viel geschrieben und debattiert worden. Das scheint auf den ersten Blick auch plausibel, gerade weil sie nach 1961 bis weit in die Blick nach Ost-Berlin über die Mauer entlang der Bernauer Straße, 1980. (© picture-alliance/AP, Foto: Elke Bruhn-Hoffmann) Achtzigerjahre hinein kaum sichtbar waren. Allerdings kann mit neueren Forschungen ja nicht nur gezeigt werden, dass die gesellschaftliche Grundstimmung gegenüber den Herrschenden latent konfrontativ blieb und sich auch immer wieder offen zeigte, nicht nur 1968 oder 1976 oder dann ab 1985, zugleich wird immer deutlicher, dass die Interaktionsverhältnisse zwischen Gesellschaft und Oppositionsgruppen – die natürlich Teil dieser Gesellschaft waren – eher die These aufwerfen, dass die Oppositionsgruppen aus der Mitte der Gesellschaft heraus argumentierten. Zwar symbolisierten sie mit ihren Vorstellungen nur einen Teil der Gesellschaftskritik, aber Flüchtlings- und Ausreisebewegung wiederum standen für den programmatisch systemüberwindenden Kritikansatz. Es gab darüber hinaus Gruppen – wie etwa die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) oder die Initiative "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" – die idealtypisch als Klammer zwischen beiden Kritikansätzen (systemimmanent versus systemüberwindend – was beides auf dasselbe historisch hinauslief!) gelten können. Zum einen hilft also die Beschäftigung mit den vielen Systemgrenzen, einer möglichen Starrheit historischer DDR-Bilder vorzubeugen bzw. diese abzubauen, und deutet meines Erachtens den Weg hin zu einer Gesellschaftsgeschichte, die gerade vermeintliche Widersprüche, die vielen Brüche und die Handlungsalternativen betont. Zum anderen gehört die Geschichte von Opposition und Widerstand als integraler Bestandteil in eine solche Gesellschaftsgeschichte. Bislang werden Opposition und Widerstand zumeist separat abgehandelt, was einem dynamischen Gesellschaftsbild eher abträglich ist. Insofern müssen auch Forscher und Forscherinnen Grenzen überschreiten, die sie sich selbst auferlegt haben. V. Acht Jahre nach dem Mauerbau schrieb Wolf Biermann das Lied "Enfant perdu". Darin beklagte er, dass ein Sohn seines von der SED verfolgten Freundes Robert Havemann in den Westen gegangen war: "Jetzt ist er meine Trauer / Jetzt hockt er hinter der Mauer / und glaubt, dass er vor ihr sitzt." Biermann war damals glühender Kommunist, der ebenso glühend gegen die SED-Diktatur andichtete. In der siebenten Strophe des Lieds "Enfant perdu" sang er: "Die DDR, auf Dauer / Braucht weder Knast noch Mauer / wir bringen es so weit! Zu uns fliehn dann in Massen / Die Menschen, und gelassen / sind wir drauf vorbereit'." Wolf Biermann bei seinem legendären Konzert am 14. November 1976 in Köln. (© picture-alliance/AP) Am 13. November 1976 trat Wolf Biermann vor Tausenden Zuschauern in der Kölner Sporthalle auf. Drei Tage später verfügte die SED-Führung seine Ausbürgerung. Biermann hätten den ganzen Abend, wie er später einmal erklärte, "Hänschen klein" singen können, er wäre dennoch nicht zurückgelassen worden. Der WDR fasste sich ein Herz und strahlte in der Nacht vom 19./20. November 1976 das Konzert in voller Länge – 4:30 Stunden – aus. Hunderttausende Zuschauer auch aus der DDR hörten und sahen zu. Es war ein Fernsehereignis von historischem Rang: Ein deutscher Kommunist durfte 270 Minuten lang kommunistische Propaganda im Westfernsehen verbreiten. Es fielen dabei auch unsägliche Worte über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, wonach dieser "schon ein demokratischer Arbeiteraufstand und noch ein faschistischer Putsch" gewesen sei. Später distanzierte sich Biermann von solchen und anderen Äußerungen. Er blieb kein Kommunist. Der schärfste ostdeutsche Kritiker der SED sang in Köln auch "Enfant perdu". Als er die Strophe mit der "DDR auf Dauer" vortrug, brandete tausendfacher Beifall in Köln auf. Als Biermann das Lied beendet hatte, erklärte er, dass er in dem Lied nur verurteilen würde, aber nicht erklärte, warum so viele Menschen aus der DDR weg wollten. Das sei nicht richtig und politisch falsch. Über die Zeile mit "Knast und Mauer" sagte er kein Wort. Wie vielen anderen Linken schwebte Wolf Biermann eine freiheitliche DDR vor, die sich auf sozialistischen Idealen gründe. Biermann war 1976 fest davon überzeugt, dass in der DDR historisch das überlegene Gesellschaftssystem existiere. Er artikulierte eine Zukunftsvision, die nicht nur viele teilten, sondern die sich so einfach wie schön anhörte und doch von neuen diktatorischen Gedanken getragen war. Biermann gehörte wie viele andere Kommunisten tatsächlich zu jener ostdeutschen Minderheit, die "die Mauer als Hoffnungsträger für innere Befreiung" verstanden. Es war aber eben keine ostdeutsche Mainstream-Binnensicht, sondern die Sicht jener, die die Macht hatten und/oder vom Systemsinn überzeugt waren. Diese Vision verbreitete auch Biermanns Lied "Enfant perdu". Er setzte wie seine Peiniger auf "Bewusstseinsbildung", auf "Klassenbewusstsein", elementare Bedürfnisse der Menschen sah er als manipuliert an. Er teilte nicht das Menschenbild der herrschen Kommunisten, sehr wohl aber hing Biermann ebenfalls einem "Menschenbild" an, das erst "erzogen", "geformt" und "herausgebildet" werden müsse – notfalls gegen den Willen des Einzelnen. Die bürgerliche Gesellschaft erwies sich als Hauptfeind. Die DDR war keine angedachte Vision oder unerfüllt gebliebene Utopie. Der SED-Staat hat tatsächlich die historische Chance genutzt und ein System etabliert, das politisch den Vorstellungen und planökonomisch den Vorgaben entsprach. Die Mauer gehörte immanent letztlich dazu. Der Mauerbau 1961 stabilisierte nicht nur die bipolare Weltordnung, sondern auch die inneren Verhältnisse in der DDR. Die Diktatur verfeinerte ihre Herrschaftstechniken. Der brachialsten Methoden entledigte sie sich und ging zum "lautlosen Terror" (Jürgen Fuchs) über. Der SED-Staat konnte erst jetzt, nach seiner Abschottung, viel deutlicher die Züge eines Orwellschen Überwachungsstaates annehmen. Die Abschottung bedingte zugleich paradoxerweise die politische Öffnung. Die diplomatische Anerkennung der DDR wiederum bewirkte eine größere Akzeptanz des DDR-Staates auch im Inneren, nicht seiner Verhältnisse. Den Menschen blieb auch nichts weiter übrig, denn das Provisorium namens DDR etablierte sich auf internationalem Parkett als Dauergast. Bis 1989 zweifelte kaum jemand daran, dass die deutsche Teilung von Dauer sein würde, jedenfalls die eigene Lebenszeit überdauernd. Auch das zeitigte Rückwirkungen auf die ostdeutsche Bevölkerung. Wer nicht ausreisen oder fliehen wollte, richtete sich ein, bei den meisten verbunden mit einem Rückzug ins Private. Auch vieles Private kollektivierte die SED, aber es blieben genug Räume, die einen "normalen Alltag" garantierten. Der Historiker Stefan Wolle drückt diesen Zusammenhang so aus: "denn die Gartenzwergidylle der DDR und ihre politische Friedhofsruhe bedingten einander. (...). Die sauber geharkten Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenzen und die gepflegten Vorgärten bildeten keinen Widerspruch, sondern zwei Seiten desselben Systems. Das Kleinbürgerglück, das so viele westliche Beobachter bewunderten, existierte nicht neben, sondern als ein Teil der totalitären Herrschaft." Die SED-Führung schaffte es nur, die Körper der Menschen zu mobilisieren, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash einmal beobachtete, aber nicht de¬ren Herzen und Gedanken. Diese Beobachtung war letztlich für die DDR existenziell. Denn die Menschen waren gezwungen, sich einzurichten. Zugleich benötigte die SED-Führung Mauer und politisches Strafrecht, um das System aufrecht erhalten zu können. Die diesem entgegengebrachte Loyalität der meisten Menschen war nicht erkauft oder erhandelt, sondern durch Stacheldraht erwirkt. Sie waren dazu gezwungen, wollten sie "normal" leben. In der Diktatur existiert der Zwang, die Normalität unter anormalen Verhältnissen zu suchen. Wer sie nicht findet, stößt rasch an die Grenzen. Mauer und Zuchthäuser waren immanenter Teil dieser "Spielregeln". Eine "partizipatorische Diktatur", wie sie Historiker wie Mary Fulbrook, Martin Sabrow oder Thomas Lindenberger zu entdecken glaubten, gab (und gibt) es nicht. Wer solche Begriffsungetümer prägt, wer von "Ehrenämtern" in der Diktatur spricht, wer die Normalität in der Diktatur mit "bürgerlichen Begriffen" sucht, trägt nicht zur wissenschaftlichen Erhellung von Diktaturen bei – und legt zugleich ganz nebenbei auch ein Demokratieverständnis offen, das nicht zur Stärkung offener Gesellschaften beiträgt. Das mag als geschichtspolitische Einlassung diffamiert werden – ist aber hinnehmbar, wenn – in welcher Stoßrichtung auch immer – akzeptiert wird, dass Geschichtsauseinandersetzung natürlich immer auch gegenwartsbezogen erfolgt. Und deshalb übrigens war ein Mann wie Ludwig Mehlhorn letztlich klarsichtiger als Wolf Biermann, der aber wieder weiß es längst besser als so manche Historiker/innen, die nach einer "Mauer als Hoffnungsträger für innere Befreiung" suchen. Ludwig Mehlhorn (1950–2011) (© Ev. Akademie zu Berlin ) Die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck (Region Ost) und Martin Kruse (Berlin-West), 1989. (© epd-bild, Foto: Andreas Schölzel) Wachtturm an der Berliner Mauer 1981 (© picture-alliance/akg) Blick nach Ost-Berlin über die Mauer entlang der Bernauer Straße, 1980. (© picture-alliance/AP, Foto: Elke Bruhn-Hoffmann) Wolf Biermann bei seinem legendären Konzert am 14. November 1976 in Köln. (© picture-alliance/AP) Der Beitrag basiert auf drei, thematisch aufeinander aufbauenden Vorträgen d. Vf. in Berlin, im Sept. 2010 auf dem Historikertag, im Juni 2011 auf einer Tagung der Gedenkstätte Berliner Mauer sowie im Sept. 2011 auf einer Konferenz des Instituts für Zeitgeschichte und des BStU. Vgl. einige Nachrufe und Würdigungen unter http://www.havemann-gesellschaft.de/index.php?id=30 [10.12.2011]. Zu Leben und Wirken vgl. jetzt: Stephan Bickhardt (Hg.), In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn, Leipzig 2012. Einige Texte auch in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989, Berlin 2002. Außerdem ist u.a. hinzuweisen auf: Ders., Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2. Aufl., München 2009; Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; sowie Ludwig Mehlhorn, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für die Bürgerbewegung in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. 7, S. 1409–1436. Vgl. zu dieser Kritik in polemischer Zuspitzung, Ilko-Sascha Kowalczuk: Irgendetwas musste damals passieren. Die Mauer war weder Zufall noch Irrtum, in: taz, 13./14.8.2011, S. 25; ungekürzt und unter dem ursprünglichen Titel "Kommunisten bauen immer Mauern" unter: http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/DDRGeschichte/MfS-und-Mauer/Folgen/kommunisten-bauen-mauern.html [10.12.2011].Zu Leben und Wirken vgl. jetzt: Stephan Bickhardt (Hg.), In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn, Leipzig 2012. Einige Texte auch in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989, Berlin 2002. Außerdem ist u.a. hinzuweisen auf: Ders., Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2. Aufl., München 2009; Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; sowie Ludwig Mehlhorn, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für die Bürgerbewegung in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. 7, S. 1409–1436. Vgl. dazu ausführlicher: Kowalczuk, Endspiel (Anm. 3). Der Brief ist erstmals vollständig dok.: Kowalczuk (Hg.), Freiheit (Anm. 3), S. 405–412; ebf. in: Bickhardt (Anm. 3). Am 18.5.1986 hatte Bischof Kruse sich aus Anlass des 25. Jahrestages des Mauerbaus an Bischof Forck gewandt, dieser am 26.6.1986 geantwortet; dok.: epd-Dokumentation, 33a/86. Gemeint ist die vieldiskutierte und einflussreiche Schrift von Erich Müller-Gangloff, Mit der Teilung leben, München 1965. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, S. 230. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 12. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 137. Siehe dazu die anregenden Essays in: Eva Horn u.a. (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die innere Staatsgründung. Von der gescheiterten Revolution 1953 zur verhinderten Revolution 1961, in: Ders./Torsten Diedrich (Hg.), Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR, Berlin 2005, S. 341–378. Vgl. neben Kowalczuk, Endspiel (Anm. 3), für die 1980er-Jahre, u.a. die überzeugende Studie für die 60er von Elke Stadelmann-Wenz, Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära, Paderborn 2009. Demnächst wird überdies im Rahmen eines Forschungsprojektes beim BStU eine erste diesbezügliche exemplarische Monografie erscheinen, die dieses Interaktionsverhältnis am Beispiel des Bezirkes Rostock 1949–1989 analysiert. Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln 1991, S. 218. So Martin Sabrows umstrittene These in: Ders., Monstrum und Mahnmal: Was die Mauer war und ist, in: Süddeutsche Zeitung, 8.8.2011, S. 8. Vgl. Sandra Pingel-Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1998, S. 229f. Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas, München/Wien 1990, S. 24f.
Article
Ilko-Sascha Kowalczuk
"2022-06-08T00:00:00"
"2012-02-01T00:00:00"
"2022-06-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/61489/es-gab-viele-mauern-in-der-ddr/
"Grenzen und Mauern sind eine Grunderfahrung für meine Generation geworden", schrieb Ludwig Mehlhorn 1986. Wer in der Diktatur lebte, war gezwungen, mit dieser Grunderfahrung umzugehen. Ein Beitrag über den Zwang, die Normalität unter anormalen Verhä
[ "Zeitgeschichte", "Widerstand", "SED", "Diktatur", "Nonkonformität", "Mauerfall", "Deutschland", "DDR" ]
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Der Präsident | Über uns | bpb.de
Thomas Krüger Thomas Krüger, geboren 1959, absolvierte zunächst in den Jahren 1976 bis 1979 eine Ausbildung zum Facharbeiter für Plast- und Elastverarbeitung und nahm dann ein Studium der Theologie auf, anschließend war er Vikar. (© bpb) Seine politische Karriere begann er 1989 als eines der Gründungsmitglieder der Sozialdemokraten in der DDR (SDP) und blieb bis 1990 deren Geschäftsführer in Berlin (Ost) und Mitglied der Volkskammer in der DDR. Als Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters in Ost-Berlin war er 1990 bis 1991 tätig sowie als Stadtrat für Inneres beim Magistrat Berlin und in der Gemeinsamen Landesregierung. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin. Als Mitglied des Deutschen Bundestages war er in den Jahren 1994 bis 1998 aktiv, bevor er eine zweijährige Erziehungspause nahm. Seit Juli 2000 ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Thomas Krüger war und ist auch im kulturellen und sozialen Bereich aktiv: Er ist seit 1995 Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes und zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) (2012-2022; Mitglied 2003-2022, stellvertretendes Mitglied seit 2022). Darüber hinaus ist er Beiratsvorsitzender der Stiftung Digitale Spielekultur (2016-2020); Mitglied im Rat für kulturelle Bildung (2018-2021) sowie Mitglied im Kuratorium „Kulturhauptstadt Dresden 2025“ (2018-2020). Von 2018 bis 2020 war Thomas Krüger Mitglied in der Sachverständigenkommission für den 16. Kinder- und Jugendbericht. Seit 2003 ist er Mitglied des Kuratoriums für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Außerdem ist der Präsident der bpb Mitglied des Forschungsbeirats des ifa-Forschungsprogramms „Kultur und Außenpolitik“ (seit 2013) und Mitglied des Kuratoriums der Kulturstiftung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) (seit 2014). Seit 2014 ist er Mitglied des Nutzerbeirats des Georg-Eckert-Instituts - Leibnitz-Institut für internationale Schulbuchforschung. Ebenso ist er Mitglied im Beirat für Weiterbildung des Deutschen Volkshochschulverbandes DVV (seit 2019) sowie Mitglied in Beirat der Stiftung Forum Recht (seit 2020). Des Weiteren ist Thomas Krüger Mitglied im Rat der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte (seit 2020) sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat und im Praxisrat des Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) (seit 2021). Interner Link: Hier finden Sie alle Reden des Präsidenten. (© bpb)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-02-27T00:00:00"
"2012-01-06T00:00:00"
"2023-02-27T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/organisation/51753/der-praesident/
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb wird durch den Präsidenten geleitet. Seit dem Jahr 2000 wird diese Aufgabe von Thomas Krüger übernommen.
[ "Präsident", "bpb", "Bundeszentrale für politische Bildung" ]
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Economic Governance in der Eurozone | Europa | bpb.de
Einleitung Seit die 2007 ausgebrochene Finanzkrise auch auf Europa übergriff, haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Eurozone Reformen auf den Weg gebracht, welche die Überwachung und Koordinierung nationaler Haushalts- und Wirtschaftspolitiken sowie die Finanzmarktaufsicht verändert haben. Darüber hinaus wurde die politische Zusammenarbeit in der Eurozone durch die Einführung von regelmäßigen Eurozonen-Gipfeln und die Schaffung eines administrativen Unterbaus vertieft. Noch immer sind die Reformen nicht abgeschlossen: Beim Europäischen Rat am 8. und 9. Dezember 2011 wurde vereinbart, die Eurozone 2012 mit einem sogenannten Fiskalpakt auszustatten, dem sich außer Großbritannien bis zu neun Mitgliedstaaten der Europäischen Union anschließen wollen. Doch auch darüber hinaus besteht weiterer Handlungsbedarf, denn der Weg aus der Verschuldungskrise ist noch nicht gewiesen und die Maßnahmen zur Ursachenbekämpfung sind noch nicht ausreichend. Einige Beobachter und Akteure schätzen den Reformbedarf als so weitreichend ein, dass sie die Gründung einer politischen Union fordern. Architektur der Eurozone Seit ihrer Gründung ist die Europäische Währungsunion asymmetrisch konstruiert: Der vergemeinschafteten Geldpolitik der unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB) wurde keine "Wirtschaftsregierung" und keine "haushaltspolitische Autorität" gegenüber gestellt. Auf einen Souveränitätstransfer in diesen für die Nationalstaaten so sensiblen Bereichen wurde verzichtet. Stattdessen wurde lediglich eine von Regeln geleitete Koordinierung der nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitiken vereinbart, obwohl hinlänglich bekannt war, wie groß die gegenseitigen Abhängigkeiten sind und wie leicht "Ansteckungseffekte" durch unkoordiniertes Handeln und unverantwortliche Politik auftreten können. Dies war insbesondere deshalb problematisch, da die Finanzmärkte über ein Jahrzehnt alle Länder der Eurozone mit einer Art "Zinsbonus" belohnten: Auch Staaten wie Griechenland, Italien und Spanien konnten sich zu geringen Zinsen Geld leihen, obwohl ihr Schuldenstand beziehungsweise die geringe Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften problematisch waren. Die Sanktionierung unverantwortlicher Politik durch die Märkte funktionierte über Jahre nicht - obwohl in den Vertrag von Maastricht ein Haftungsausschluss für die Verschuldung anderer Mitgliedstaaten aufgenommen worden war. Damit sollte verdeutlicht werden, dass es die Möglichkeit zum Staatsbankrott einzelner Mitgliedstaaten im Euroraum gibt, um die Eigenverantwortlichkeit der Regierungen zu unterstreichen und den Marktteilnehmern Anreize für vorsichtiges Investitionsverhalten zu geben. Nachdem die Strukturen und Prozesse der politischen Zusammenarbeit in der Währungsunion auch während des Verfassungskonvents 2002/2003 ergebnislos behandelt wurden, sind seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise verschiedene Reformen verabschiedet und weitere auf den Weg gebracht worden. Europäisches Finanzaufsichtssystem Eine unzureichende Finanzmarktregulierung und -aufsicht auf europäischer Ebene wurde als eine der Ursachen identifiziert, warum die EU so stark von der Finanzkrise erschüttert wurde. Die bestehenden nationalen Aufsichtsstrukturen hatten weder Instabilitäten in den Märkten identifiziert, noch waren sie geeignet, mit zumindest teilweise grenzüberschreitend integrierten Finanzmarktakteuren umzugehen. Der Eurozonen-Gipfel vom Oktober 2008 initiierte daher ein Gesetzgebungsverfahren, um europäische Finanzmarktaufsichtsstrukturen zu schaffen. Anfang 2011 nahm das Europäische Finanzaufsichtssystem seine Arbeit auf. Die Europäische Bankenaufsicht, die Europäische Aufsicht für das Versicherungswesen und die Europäische Wertpapieraufsicht haben seither die Aufgabe, die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Aufsehern zu verbessern und ein einheitliches Handeln der nationalen Behörden im Finanzbinnenmarkt sicherzustellen. Direkte Durchgriffsrechte haben sie indes nicht. Hinzu kommt der bei der EZB angesiedelte Europäische Ausschuss für Systemrisiken. Seine Aufgabe ist, die Stabilität des gesamten Finanzsystems zu überwachen, frühzeitig auf Risiken hinzuweisen und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu empfehlen. Der wichtigste Beitrag ist dabei die stärkere Verzahnung der nationalen Aufsichtsstrukturen. Kritiker hinterfragen allerdings, ob dies ausreicht, um ein einheitliches Regelwerk für den europäischen Finanzsektor und konsistente Aufsichtsstrukturen zu schaffen, und weisen insbesondere auf die mangelnden Durchgriffsrechte der europäischen Behörden in den nationalen Kontexten hin. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass für alle vier Behörden der neuen Finanzaufsicht eine regelmäßige Überprüfung durch die Europäische Kommission vorgesehen ist. Alle drei Jahre soll sie einen Bericht über deren Tätigkeiten und die festgelegten Verfahren veröffentlichen. Jährlich wird überdies überprüft, ob die Europäische Finanzaufsicht direkte Aufsichtsbefugnisse über Finanzinstitute oder Infrastrukturen mit europaweiter Bedeutung haben sollte. Durch diese vom Europäischen Parlament in die Gesetzestexte eingebrachten Überprüfungsklauseln ist eine Weiterentwicklung des Aufsichtssystems grundsätzlich angelegt. Stärkere Aufsichts- und Durchgriffsrechte dürften jedoch weiterhin auf nationalen Widerstand stoßen, insbesondere, wenn sie potenziell haushaltspolitische Auswirkungen haben. Van-Rompuy-Task-Force und Gesetzgebungsverfahren Die Schaffung der neuen Finanzaufsicht war nur der erste Schritt. Unter dem Eindruck der sich ausbreitenden Schuldenkrise beschloss der Europäische Rat am 25./26. März 2010, eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Europäischen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy einzurichten. Die 27 Finanzminister sollten zusammen mit Vertretern der Europäischen Kommission und der EZB einen Konsens über den Reformbedarf der Eurozone erarbeiten. Am 21. Oktober 2010 legte die Van-Rompuy-Task-Force Empfehlungen in vier Feldern vor: erstens die Stärkung der haushaltspolitischen Überwachung, zweitens die Einführung eines neuen Mechanismus zur wirtschaftspolitischen Überwachung, drittens die (zu dem Zeitpunkt bereits vollzogene) Einführung des "Europäischen Semesters" sowie viertens die Einrichtung eines Europäischen Krisenmechanismus zum Umgang mit Verschuldungskrisen. Die Europäische Kommission, die unter Druck geraten war, ihr gesetzgeberisches Initiativrecht zu verteidigen, legte in einer Art Wettlauf mit der Task-Force am 27. September 2010 ein Paket mit sechs Gesetzesvorschlägen vor. Das sogenannte Six-Pack befasste sich mit den ersten drei von der Task-Force identifizierten Themenfeldern. Die fünf Verordnungen und eine Richtlinie wurden im September 2011 beschlossen und traten am 13. Dezember 2011 in Kraft. Schärfere Kontrollen in der Haushaltspolitik Drei der Gesetze verschärfen den Stabilitäts- und Wachstumspakt, ein weiteres soll die Transparenz der mitgliedstaatlichen Haushaltsdaten verbessern und somit deren Manipulation verhindern. Beim Stabilitätspakt, dem wichtigsten Regelwerk zur Überwachung und Koordinierung der nationalen Haushaltspolitiken, wird die Drei-Prozent-Defizitobergrenze durch das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ersetzt. Das strukturelle Defizit soll 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen. Darüber hinaus wird ein kontrollierter Abbau des Schuldenstandes auf 60 Prozent des BIP vorgeschrieben. Auch die Gesamtschuldenrückführung wird einem neuen abgestuften Sanktionsverfahren unterliegen, in dem Beschlüsse auch gegen eine Mehrheit der Euroländer auf Vorschlag der Europäischen Kommission gefällt werden sollen. Die nationalen Haushaltsregeln müssen Mindeststandards hinsichtlich ihrer Transparenz und Verlässlichkeit erfüllen. Ein direkter Eingriff in die haushaltspolitische Souveränität ist indes weiterhin nicht vorgesehen. Am 8. und 9. Dezember 2011, bevor das Six-Pack überhaupt in Kraft trat, beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Eurozone zudem einen sogenannten Fiskalpakt. Alle anderen Regierungen außer Großbritannien wollen sich zunächst (vorbehaltlich parlamentarischer Ratifizierung in den Mitgliedstaaten) der Übereinkunft anschließen. Länder, die sich in einem Verfahren zur Vermeidung übermäßiger Defizite befinden, sollen demnach einen strukturellen Anpassungsplan vorlegen müssen, dessen Einhaltung von Kommission und Rat begutachtet wird. Schuldenbremsen sollen in allen Mitgliedstaaten eingeführt werden; der Europäische Gerichtshof soll die Umsetzung überprüfen. Die Mitgliedstaaten sollen überdies künftig im EU-Rahmen über geplante Anleiheausgaben berichten. Da Großbritannien verhinderte, dass die Maßnahmen im EU-Vertrag verankert wurden, soll der Pakt bis Frühjahr 2012 im Rahmen eines zwischenstaatlichen Vertrags vereinbart werden. Koordinierung nationaler Wirtschaftspolitiken Die Krise hat besonders deutlich gemacht, dass auch die wirtschaftspolitische Überwachung gestärkt werden muss. Mit dem Six-Pack wurde auch ein neues Verfahren zur Vermeidung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte eingeführt. Nun werden die Leistungsbilanzen überwacht, da diese die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften spiegeln und ein Indikator für die Auslandsverschuldung sind. Kumulierte negative Leistungsbilanzsalden ziehen eine übermäßig hohe öffentliche beziehungsweise private Verschuldung nach sich, die dann nur durch Abwertung, Insolvenzen, Inflation oder ähnliches abgebaut werden kann. Das neue Überwachungsverfahren soll makroökonomische Fehlentwicklungen frühzeitig identifizieren und sieht vor, dass Empfehlungen an die jeweiligen Mitgliedstaaten zur Korrektur gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte gerichtet werden. So hätte etwa die Blasenbildung im spanischen Immobiliensektor und im irischen Bankensektor frühzeitig entdeckt und abgeschwächt werden können, um zu verhindern, dass Stützungsmaßnahmen für die Privatwirtschaft eine derartige haushaltspolitische Schieflage herbeiführen. Nach dem neuen Verfahren wird bei übermäßigen Ungleichgewichten die Nicht-Befolgung der Empfehlungen sanktioniert. Die Überwachung erfolgt auf Grundlage eines sogenannten Score Boards, das eine Reihe von Indikatoren abbildet, die als Hauptquellen makroökonomischer Ungleichgewichte gelten. Die Diskussion um den Abbau von Ungleichgewichten und die Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit ist derzeit vor allem auf die Defizitländer mit geringer Wettbewerbsfähigkeit fokussiert. Aufgrund des Zusammenhangs zwischen Verschuldung und Leistungsbilanzen ist das in der Tat sehr wichtig. Allerdings werden immer stärkere Zweifel daran formuliert, dass die derzeitig verfolgte, asymmetrische Strategie funktionieren kann. Das Negativszenario ist, dass alle Länder mit defizitärer außenwirtschaftlicher Situation gleichzeitig - etwa durch eine Absenkung des Reallohns - real abwerten. Dies wäre nicht nur innenpolitisch eine schwierige Entwicklung, sondern kann auch zu einem Wirtschaftseinbruch und damit einem Anstieg der Verschuldungs- und Defizitquoten führen. Euro-Plus-Pakt Parallel zum Six-Pack-Gesetzgebungsverfahren vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Eurozone am 24. März 2011 den sogenannten Euro-Plus-Pakt. Nachdem einige Nicht-Euro-Staaten dieses Vorhaben massiv kritisiert hatten, weil sie eine weitere Entkopplung der Eurozone vom Rest der EU fürchteten, wurde es für alle EU-Staaten geöffnet. Alle Mitgliedstaaten außer Großbritannien, Schweden, der Tschechischen Republik und Ungarn schlossen sich an. Der Euro-Plus-Pakt soll die Mechanismen zur haushalts- und wirtschaftspolitischen Koordinierung ergänzen, indem sich die Staats- und Regierungschefs jährlich auf nationale Zielvorgaben verständigen und deren Umsetzung gemeinsam überwachen. Die Ziele, die er anstrebt, sind breit gefasst: Neben der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und der Verbesserung der Arbeitsmarktsituation soll auch die Steuerpolitik, die Stabilisierung des Finanzsektors und die Restrukturierung der Sozialsysteme koordiniert und evaluiert werden. Der Euro-Plus-Pakt baut auf den Prioritäten der Wachstumsstrategie Europa 2020 auf (Beschäftigung, Innovation, Klima, Energie, Bildung und soziale Inklusion). Die Umsetzung der Ziele erfolgt durch die Mitgliedstaaten und darf den Status quo und die Weiterentwicklung des Binnenmarktes nicht beeinträchtigen. Mit dem Pakt für den Euro verpflichten sich die Staats- und Regierungschefs überdies, sich bei größeren Reformen, die Auswirkungen auf die Partner in der Eurozone und der EU haben dürften, abzustimmen. Der Pakt ist weder EU-Recht, noch ist er ein völkerrechtliches Abkommen. Es gibt folglich keine Umsetzung in nationales Recht, keine direkte Beteiligung nationaler Parlamente und keine Beschwerdemöglichkeit gegenüber nationalen Gerichten. Ob diese weiche Form der Politikkoordination mittelfristig zur nationalen Umsetzung der Zielvorgaben führt, ist fraglich. Europäische Semester Im ersten Halbjahr 2011 wurde erstmals das "Europäische Semester" als Instrument vorbeugender Überwachung angewendet, um die wirtschafts- und haushaltspolitische Koordinierung zu intensivieren. Die nationalen Regierungen sollen so stärker in die Verantwortung genommen werden, um drohende Verstöße gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die Grundzüge der Wirtschaftspolitik von vornherein zu verhindern und den Zielen der Europa 2020-Strategie näher zu kommen. Die nationale Haushaltsplanung soll zeitlich besser mit den Koordinierungsprozessen in Brüssel abgestimmt werden. Auftakt zum jeweiligen "Europäischen Semester" ist der Jahreswachstumsbericht, der erstmals am 19. Januar 2011 von der Kommission vorgestellt wurde. Der Bericht analysiert die wirtschaftliche Ausgangslage für die gesamte EU. Daraufhin berät der Europäische Rat im März über die prioritären Maßnahmen für die EU. Pläne für die nationalen Haushalte werden der Kommission bis April von den Regierungen vorgelegt. Auf dieser Grundlage erarbeitet die Kommission bis Juni für jedes einzelne Land Empfehlungen, die anschließend vom Rat der Wirtschafts- und Finanzminister und dem Europäischen Rat verabschiedet werden. Die nationalen Parlamente sollen diese idealerweise in ihre Haushaltsberatungen einfließen lassen, ohne dass die Haushaltshoheit der Parlamente in Frage gestellt wird. Schaffung eines permanenten Krisenmanagementmechanismus Im Zuge der sich Anfang 2010 zuspitzenden Verschuldungskrise wurde erkannt, dass auch Eurozonen-Staaten in die Situation einer temporären Zahlungsunfähigkeit kommen oder gar Solvenzprobleme aufweisen können - mit als desaströs eingeschätzten Folgen für die Eurozone insgesamt. Die EU-Verträge sahen bislang nach Artikel 143 AEUV nur für Nicht-Eurozonen-Staaten die Möglichkeit vor, eine kurzfristige Finanzierung über sogenannte Zahlungsbilanzkredite zu bekommen. Mit den bilateralen Ad-Hoc-Hilfsmaßnahmen für Griechenland im April 2010 und der Schaffung des Rettungsschirms im Mai 2010 wurden indes befristete Kreditvergabemöglichkeiten für Eurozonen-Mitglieder geschaffen. Diese werden nun leicht verändert und ergänzt durch einen Rechtsrahmen zur Gläubigerbeteiligung im Falle von Umschuldungsnotwendigkeiten in einen permanenten Mechanismus, den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM), überführt. Eine Änderung des EU-Vertrags ist bereits beschlossen, wenn auch noch nicht ratifiziert, um Hilfskredite an Eurozonen-Staaten in Einklang mit der no-bail-out-Klausel zu bringen. Als wichtigste Komponente des Rettungsschirms wurde im Mai 2010 die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) eingerichtet, die zunächst bis 2013 Kredite an unter Druck geratene Mitgliedstaaten vergeben sollte. Im Gegenzug dazu stimmen die kreditnehmenden Staaten einem umfangreichen Reform- und Konsolidierungsprogramm zu, das von einer Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, der bislang an allen Hilfsprogrammen für Griechenland, Portugal und Irland beteiligt ist, überprüft wird. Kredite der EFSF erlauben es hoch verschuldeten Ländern, sich für einige Zeit nicht an den Märkten refinanzieren zu müssen, wenn sie in die Gefahr geraten, angesichts hoher Risikoaufschläge kein Kapital mehr aufnehmen zu können. Dank der Garantien der Euro-Staaten kann die EFSF Anleihen ausgeben, um mit dem eingenommenen Geld Notkredite an Euro-Länder zu finanzieren. Angesichts der um sich greifenden Verschuldungskrise wurden bereits mehrmals Maßnahmen zur Aufstockung des Kreditvolumens der EFSF beschlossen. Zunächst hatte sie bei einem Garantievolumen von 440 Milliarden Euro ein Kreditvolumen von rund 250 Milliarden Euro. Am 21. Juli 2011 wurde der Garantierahmen auf 780 Milliarden Euro aufgestockt. Mit dieser höheren Bürgschaft sollen auch die Bestnote bei der Kreditwürdigkeit von EFSF-Schuldpapieren und damit möglichst niedrige Zinsen gesichert werden. Um die Hilfen für hochverschuldete Länder weiter verstärken zu können, einigte sich der Eurozonen-Gipfel am 26. Oktober 2011 auf die Einführung von sogenannten Kredithebeln. Dies soll weitere Geldgeber - etwa Staatsfonds aus Asien oder den arabischen Staaten - für den Fonds gewinnen. Diese privaten Anleger würden Staatsanleihen von hochverschuldeten Staaten kaufen, wobei die EFSF garantiert, einen Teil des Verlustes zu ersetzen, falls ein Land das geliehene Geld nicht zurückzahlt. Ein weiteres Hebelinstrument, das laut Beschluss des Euro-Gipfels vom 21. Juli 2011 genutzt werden soll, ist ein neuer Co-Investment-Fonds (CIF), an dem sich private Investoren beteiligen sollen. Er ist als Untergesellschaft des EFSF geplant und soll Staatsanleihen der Krisenländer kaufen. Neben dem Kreditvolumen wurde auch das Instrumentarium der EFSF weiter entwickelt. Am 21. Juli 2011 wurde der Zinssatz für Hilfskredite von 4,5 Prozent auf 3,5 Prozent gesenkt. Das entspricht in etwa dem Satz, zu dem sich der Rettungsfonds das Geld selbst leihen muss. Außerdem bekommen die Länder mehr Zeit, um das Geld zurückzuzahlen. Die EFSF hat zudem die Möglichkeit bekommen, den Bankensektor eines Landes indirekt durch besondere Kredite an die betroffene Regierung zu stützen und kleinere Kreditpakete vorbeugend zu gewähren. Zudem soll der Fonds Staatsanleihen angeschlagener Länder auf dem Sekundärmarkt aufkaufen können, sofern die EZB feststellt, dass das Land in einer Notlage ist und die Stabilität der Eurozone gefährdet. Parallel zur Anwendung und Weiterentwicklung der zeitlich begrenzten EFSF wurde der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) verhandelt, der deren Aufgaben künftig übernehmen soll. Bereits im Sommer 2011 wurde eine Einigung über den ESM-Vertrag zwischen den Regierungen hergestellt - doch dieser wurde mit den Änderungsbeschlüssen zur EFSF obsolet, da die neuen Instrumente und das erhöhte Kreditvolumen für den künftigen Mechanismus Geltung haben sollten. Statt ratifiziert zu werden, wurde daher der ESM-Vertrag einer Überarbeitung unterzogen. Beim Europäischen Rat am 8. und 9. Dezember 2011 wurden weitere Beschlüsse zu den Hilfsmechanismen gefällt. Zunächst einmal soll die Hebelung der EFSF vorangetrieben werden, die sich bislang nur schleppend vollzieht. Der ESM soll bis Juli 2012 und damit früher als geplant in Kraft treten, sobald er von den Ländern ratifiziert wurde, die 90 Prozent des Kapitals repräsentieren. Im Mai 2012 soll die Obergrenze des Kreditvergabevolumens von 500 Milliarden Euro überprüft werden. Mit den Beschlüssen vom 8./9. Dezember 2011 wird von früheren Plänen zur privaten Gläubigerbeteiligung Abstand genommen, fortan orientieren sich die Collective Action Clauses (Umschuldungsklauseln) an den Statuten des Internationalen Währungsfonds. Überdies soll die EFSF schneller entscheidungsfähig sein: Vorbehaltlich der Zustimmung nationaler Parlamente soll das Einstimmigkeitsprinzip durch eine qualifizierte Mehrheit von 85 Prozent ersetzt werden, sofern die Europäische Kommission und die EZB feststellen, dass eine dringliche Situation eine rasche Entscheidung erfordert. Bereits in der frühen Phase der Verschuldungskrise wurde von einigen Beobachtern und Beteiligten ein Rettungsmechanismus gefordert, der so groß und umfassend gestaltet sein müsse, dass er eine "sich selbst erfüllende Finanzkrise" bremsen könne, indem er aus Sicht der Marktteilnehmer auch den schlimmsten anzunehmenden Fall abdecken könnte - und dessen Eintreten durch geänderte Markterwartungen allein aufgrund der Existenz eines solchen Rettungsmechanismus unwahrscheinlicher macht. Da die EFSF aber bislang trotz ihres gesteigerten Kreditvergabevolumens und erweiterten Instrumentariums nicht in der Lage war, die Krise einzudämmen, ist die EZB zum wichtigsten und kurzfristig handlungsfähigsten Krisenmanager avanciert, etwa indem sie die Liquiditätsbereitstellung für den Bankensektor massiv verstärkt hat und in großen Volumina an den Sekundärmärkten Staatsanleihen der hochverschuldeten Mitgliedstaaten aufkauft. Um langfristig ihre Unabhängigkeit und die Erreichung ihrer geldpolitischen Ziele sicherzustellen, sind die oben dargestellten Reformbemühungen im Bereich Haushalt, Wirtschaft und Finanzmärkte mit davon getrieben, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die EZB wieder auf ihr Kerngeschäft, eine stabilitätsorientierte Geldpolitik, konzentrieren kann. Nicht nur bei der Entwicklung des Krisenmechanismus, auch bei der Governance-Reform geht es überdies darum, das Vertrauen langfristig orientierter Anleger zurückzugewinnen, die im Zuge der Verschuldungskrise begonnen haben, Kapital aus vielen Eurozonen-Staaten abzuziehen. Krisenmanagement und Governance-Reform sind daher heute zwei eng verknüpfte Prozesse. Härterer Euro-Kern in der EU-27 Die bisherigen Änderungen an den Strukturen und an der Funktionsweise der Economic Governance-Mechanismen in der EU haben vor allem die Eurozone betroffen. Die Schaffung der Rettungsmechanismen im Zuge der Verschuldungskrise, die Bereitschaft, im Bereich der Haushalts- und Wirtschaftspolitik enger zusammen zu arbeiten, und die stärkere Institutionalisierung durch die Eurozonen-Gipfel haben die Integration in der Währungsunion deutlich voranschreiten lassen. Diese Maßnahmen stellen allerdings auch in ihrer Gesamtheit keinen Quantensprung an Integration dar, sondern sind eine schrittweise Weiterentwicklung bestehender Instrumente, teilweise auf Sekundärrechtsebene, teilweise in Form zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Bislang hat die Krise weder weitreichende Kompetenztransfers noch eine substanzielle Stärkung der supranationalen Ebene hervorgebracht. Im Gegenteil: Kritiker sehen in der Aufwertung des Europäischen Rats und der Verabschiedung von Pakten und Verträgen außerhalb des Gemeinschaftsrahmens die Gefahr, den supranationalen Gemeinschaftsrahmen zu schwächen. Je weiter die Diskussion um die künftigen Regierungsstrukturen der Eurozone voranschreitet, desto intensiver dreht sie sich um die Balance zwischen nationaler Souveränität und dem Stellenwert der supranationalen Ebene. Dabei stehen Befürworter der Gemeinschaftsmethode, die sich eine starke Rolle für die Europäische Kommission und das Europäische Parlament wünschen, denjenigen gegenüber, die aufgrund nationaler Souveränitäts- und Legitimationsbedenken eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf Regierungsebene bevorzugen. Was die Substanz der Reformen anbelangt, ist umstritten, ob die Maßnahmen ausreichen, um dreierlei zu leisten: erstens die Eurozone mittelfristig auf einen Pfad von Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit zu führen, zweitens Krisen künftig unwahrscheinlicher und die Eurozone weniger anfällig für externe Schocks zu machen und drittens das Vertrauen in die Eurozone insbesondere aus Sicht langfristig orientierter Anleger wieder zu stärken. Da die bislang beschlossenen Maßnahmen hierfür nicht ausreichen dürften, wird sich die Verschuldungskrise voraussichtlich weiterentwickeln. In diesem Fall sind auch die am 8./9. Dezember 2011 vereinbarte Verabschiedung eines zwischenstaatlichen Vertrags und das vorgezogenen Inkrafttreten des ESM nur Zwischenschritte in der Reform der Eurozone. Ohnehin sind weitere Entwicklungen im Gange. So hat die Europäische Kommission am 23. November 2011 zwei Gesetzesinitiativen vorgelegt, welche die haushalts- und wirtschaftspolitische Kontrolle weiter verschärfen sollen. Sie hat überdies ein Grünbuch zur Einführung von Eurobonds vorgelegt und damit die Diskussion um Potenziale, Gefahren und Voraussetzungen einer Finanzierungsunion gefördert. Im Bereich der Finanzaufsichtsstrukturen steht die erste größere Überprüfung neben der jährlichen Funktionsanalyse turnusmäßig Anfang 2014 an. Obgleich jeder substanziellere Integrationsschritt nationale Souveränitätsgrenzen berührt, könnten sich die Mitgliedstaaten unter dem Druck der Krise auf weiterreichende Integrationsschritte verständigen, die in Form einer Änderung des EU-Vertrags oder eines neuen Eurozonen-Vertrags (möglicherweise unter Beteiligung interessierter EU-Staaten, die noch nicht Mitglied in der Eurozone sind) vollzogen werden. In diesem Zuge sollten auch grundlegende Fragen der Legitimität des sich entwickelnden Entscheidungssystems in der Eurozone aufgeworfen werden. Bislang dominiert der Ansatz, nationale Haushalts- und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene zu regeln und technokratisch zu überwachen. Dies dürfte Konflikte mit nationalen Parlamenten provozieren, sobald diese gezwungen werden, demokratisch legitimierte Entscheidungen zu revidieren. Insgesamt ist durch die Krise deutlich geworden, dass die Mitgliedstaaten durch den Entzug wesentlicher Instrumente der makroökonomischen Politik im Zuge der Währungsintegration verwundbarer geworden sind, ohne dass auf europäischer Ebene entsprechende Handlungsfähigkeit hergestellt wurde. Dies wirft Legitimations- und Demokratiedefizite auf, die durch die aktuellen Reformen nicht bearbeitet werden. Die sogenannte no-bail-out-Klausel in Art. 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Einen guten Überblick bietet: Bundesministerium der Finanzen, Die Reform der europäischen Finanzaufsichsstrukturen. Die Errichtung eines Europäischen Finanzaufsichtssystems, in: Monatsbericht digital, Dezember 2010, online: www.bundesfinanzministerium.de/nn_118570/DE/BMF__Startseite/Publikationen/Monatsbericht__des__BMF/2010/12/inhalt/Monatsbericht-Dezember-2010,templateId=raw,property=publicationFile.pdf (15.12.2011), S. 37ff. Häufig wird der englische Begriff European Systemic Risk Board (ESRB) verwendet. Vgl. Strengthening economic governance in the EU. Report of the Task Force to the European Council, 21 October 2010, online: www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/117236.pdf (15.12.2011). Ein Überblick über den aktuellen Stand der Abstimmungsmechanismen findet sich online: http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_governance/index_en.htm (15.12.2011). European Commission: EU Economic governance "Six-Pack" enters into force, MEMO/11/898, 12 December 2011, online: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/898 (15.12.20119). Dabei gilt die Regel, dass ein Land, das ein Schulden/BIP-Verhältnis von mehr als 60 Prozent aufweist, seine Schulden um ein Zwanzigstel des Prozentsatzes pro Jahr verringert, um den es den Grenzwert (60 Prozent) übersteigt. Eine qualifizierte Mehrheit muss sich gegen den nächsten Schritt im Verfahren aussprechen, um diesen zu verhindern. Vgl. Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Eurowährungsgebiets vom 11. März 2011, online: www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/119824.pdf (15.12.2011). European Commission, Annual Growth Survey 2012, Brüssel, 23.11.2011, online: http://ec.europa.eu/europe2020/pdf/ags2012_en.pdf (15.12.2011). Gesetzentwurf KOM(2011) 82: http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/president/news/documents/pdf/regulation_1_de.pdf (15.12.2011); Gesetzentwurf KOM(2011) 819: http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/president/news/documents/pdf/regulation_2_de.pdf (15.12.2011). Vgl. Fritz W. Scharpf, Monetary Union, Fiscal Crisis and the Preemption of Democracy, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 9 (2011) 2, S. 163-198.
Article
, Daniela Schwarzer
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/59762/economic-governance-in-der-eurozone/
Seit die Finanzkrise auf Europa übergriff, sind zahlreiche Reformen verabschiedet worden, um die Economic Governance zu stärken. Der Weg aus der Verschuldungskrise aber ist auch nach dem Beschluss zu einem "Fiskalpakt" noch nicht gewiesen.
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Professional Kultur®evolution inna Germany | Afrikanische Diaspora in Deutschland | bpb.de
Flight to Canada, Ishmael Reed "77 Seiten nur. Sie war nur kurz , aber sie war sein. Seine geschichte. Es war alles, das er hatte. Die Geschichte eines Menschen ist sein kris-kris, wisst ihr. Und dann wandern menschliche Körper durch die Straßen der Städte, ihre Augen leer, ihre Seele hat sie verlassen. Jemand hat ihre Geschichten gestohlen." Afro-deutsches Bewusstsein ist schwarzes Bewusstsein in der Diaspora und in einer einzigartigen Position, nämlich derjenigen, keine gemeinsame nationale Geschichte, keinen gemeinsamen kulturellen, geographischen, religiösen oder ethnischen Background zu haben. Was auch immer wir sein mögen, Vielfalt ist unser Name. Diese Vielfalt der Geschichten gilt es zu fördern und vor allem in die Öffentlichkeit zu tragen. Sowohl in die schwarze Öffentlichkeit, als auch in die weiße, um so eigene Strukturen für "Selfempowerment" aufzubauen. "Wenn die Gruppe zu spielen anfängt, haben wir keinerlei Konzept davon, wie sich das Ganze entwickeln wird. Jeder Musiker hat die Freiheit zu jedem Augenblick das einzubringen, was er assoziiert. Wir haben kein vorgefasstes Konzept von dem Ergebnis, das wir erzielen werden." (aus: Ornette Coleman über Free Jazz) Postkoloniale Inseln Die Geschichte der schwarzen Existenz in Deutschland hat viele Aspekte. Ich möchte hier auf den kulturellen eingehen. Deutschland hat lange Zeit ein Umfeld geboten, dass, ähnlich wie Berlin innerhalb Deutschlands, eine Art isolierte Inselexistenz im internationalen postkolonialen Kontext darstellte. Nach der Aufgabe der deutschen Kolonien waren "People of African Descent" in Deutschland anders als in England, Frankreich und den USA nur als das andere, das von Außen kommende, das Besuchende, das Nicht-deutsche denkbar. Inzwischen lassen schwarze Präsenz durch Migration und Geburten in Deutschland einerseits sowie die aus den Gender und Ethnic Studies ausgehenden Diskurse andererseits es nicht mehr zu, dass der Mainstream über Schwarze Existenz in Deutschland hinweg sieht. Ob nun als rechte Abwehrreaktion oder als liberale Begrüßung – Schwarz hat in den Post-MTV- und VIVA-Generationen den öffentlichen Raum ein für allemal, wenn auch durch die Hintertür, betreten. Und langsam geht das kulturelle Definitionsrecht für uns auf uns selber über. www.sprachetrifftmultimedia.net Kultur kann allgemein als die Pflege, Ausbildung, Vervollkommnung eines verbesserungs- und veredelungsfähigen Gegenstands durch den Menschen, besonders seiner eigenen Lebenstätigkeit definiert werden. Die schwarze orale Tradition hat sich aufgrund der Unterdrückung durch die weiße Nicht-Kultur als Gegenkultur und als Basis des kulturellen Überlebens erhalten und als Medium des Widerstandes eine spezifische Tradition in den global-urbanen Kontexten herausgebildet. Sprache als Zeichensystem zur Formierung der Gedanken dient als Medium des Austausches der Gedanken und emotionalen Erlebnisse, als Ort der Fixierung und Aufbewahrung des erworbenen Wissens. Sprache in diesem Sinne liegt nahe an der Definition von modernen Datenbanken. Der Gegensatz von weißer "literate culture" als raum-unabhängiges schriftlich fixiertes Signal stand bisher im Gegensatz zu schwarzer "orale culture". Sprache stand als zeitunabhängiges Signal und unmittelbarer Kommunikationsakt immer der Musik nahe. Der durch die technologische Entwicklung möglich gewordene internationale Austausch über das Internet und der Trend zu Multimedia begünstigt eine Form der Kommunikation, die auf bizarre Weise mit "weißer Technik" eine neue Unmittelbarkeit, eine neue Öffentlichkeit generiert und das "Sampling" als zeitgemäßes "schwarzes Signifying", also als eine moderne Form des "call and response" im weißen Mainstream etabliert. Diese "neue" Form der Kommunikation ist vom Ansatz her transkulturell. Und die entstehenden Netzwerke haben eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Existenz der globalen schwarzen Diaspora, deren Überleben auf eben diesen globalen Netzwerken beruht. www.kultur®evolution.org Ich gebrauche den Ausdruck Evolution in Abgrenzung zu ®evolution als sprunghafte, oft blutige Veränderung. Weder besteht derzeit die notwendige kulturelle Infrastruktur zu kontinuierlicher Arbeit an der eigenen Identität des Überlebens in Deutschland. Noch sind wir zahlenmäßig bisher genug. Noch ist die soziale Brisanz nicht groß genug, um Ausbrüche wie in den USA, in UK und in SA zu zünden. Gil Scott Heron prägte den Satz "the revolution will not be televised" und begann damit ein neues Kapitel schwarzen Medienbewusstseins. Natürlich wird die Evolution nicht im Fernsehen stattfinden, jedenfalls nicht im weißen. Aber durch die bisherige zumindest im internationalen Kontext relative, soziale Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems besteht die Möglichkeit für uns Afros in Positionen zu gelangen, die eine verstärkte eigenständige Medienpräsenz ermöglichen. MTV und Hip-Hop haben die Grundlagen für eine größere Akzeptanz gerade im Bereich Jugendkultur geschaffen. Wir müssen die Bilder von uns durch eigene Produktionen (Musik, Film, Theater, Literatur, Multimedia) ändern und wirtschaftlich-politische Verantwortung übernehmen. Denn dann kann die politisch-wirtschaftliche Stellung der BRD als Multiplikator für nationale und internationale Einflussnahmen im panafrikanischem Sinn positiv genutzt werden. Evolution des Überlebens Wer im Cyberspace nicht digital existiert, wird auch nicht demokratisch repräsentiert. Darum ist die vorrangige Herausforderung des 21. Jahrhunderts der Versuch, angemessene Wege zu finden und Repräsentation der verletzlichen, sozialen Gruppen in der Gesellschaft zu entwickeln. Die Chance der Informationsrevolution sind Community-Netze, kulturelle Kreativität und Vielfalt zur Demokratisierung der Gesellschaft. Das Bewusstsein um diese Strukturen und ihre Umsetzung definiere ich als Willen zur Kultur(®)evolution. "cyberNomads": Die Geburt Zusammen mit meinem langjährigen Freund Abdel Rahman Satti aktualisierten wir im Frühjahr 2001 mein 1996er Konzept für eine Schwarze Deutsche Internetpräsenz. In dreimonatiger Klausur entwarfen wir ein Datenbank-Kultur-Konzept, das die ganzheitliche Darstellung der afrikanischen Diaspora in Deutschland in drei bis fünf Jahren zum Ziel hat. Unsere langjährigen Erfahrungen als Kulturaktivisten dienten als Pool und Basis für vielfältige Kontakte in Deutschland und Europa. "cyberNomads" war der Name, den Satti in der Saharawüste Mauretaniens an einem Internet-Café gesehen hatte und der am besten ausdrückte, wo wir uns befinden. Im Herbst 2001 entschied die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, einen Teil des Projekts, nämlich die digitale Architektur der Datenbank, als Pilotprojekt durch ISD Berlin e.V. zu ko-finanzieren. Wir fanden ein Büro in Berlin Mitte am Hackeschen Markt und begannen unsere Arbeit im Januar 2002. Im Frühjahr 2002 wählte die Bertelsmann Stiftung "cyberNomads" von über 600 Bewerbungen unter die 15 weltweit besten sozialen Business-Vorschläge. Im Sommer kauften wir ein professionelles Content-Management-System ein, das nun die Basis der Online-Datenbank www.cybernomads.net bildet. Unser Ziel ist es, eine Schwarze Deutsche Plattform zu etablieren, die die unterschiedlichen, weitgehend isolierten "Diaspora-Communities of African Descent" vernetzt. Das "Mothership-Archiv", wie wir es liebevoll nennen, ging im Herbst 2002 online. Im Januar 2003 mussten wir unsere Agenturräume aufgeben und arbeiten nun von zu Hause aus. Die notwendige Redaktionsarbeit leisten wir bisher als Community-Service und finanzieren uns mit Projekten und Aufträgen, die "cyberNomads" im Bereich Multimedia und Event Management realisieren. "cyberNomads": Die Vision Unser Ziel ist die Etablierung einer starken Lobby und Online-Plattform für das Überleben und den Austausch innerhalb der eurozentristischen "Power Structures". Es besteht eine große Nachfrage nach Innovation, "Best Practice" und die Notwendigkeit von "Networking" ist existentiell. "cyberNomads" arbeitet an der Visualisierung einer Schwarzen Kulturellen Agenda. Wir publizieren online und sind Ansprechpartner für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus der Community. Die Ideen von "cyberNomads" können erfolgreich sein aufgrund der vielen Studenten, Journalisten, Erzieher und Aktivisten, die ein lebendiger Teil und zugleich verantwortlich für das Wachstum der Datenbank sind. Diese Community etabliert so die Basis für einen Brainpool neuer Ideen. Die User verstärken wiederum den Austausch und verstehen die lebenswichtigen und komplexen Probleme unserer Community am besten. Viele sind stolz auf ihre Beiträge. "cyberNomads" existiert, um die kulturellen und spirituellen Aspekte von afrikanischer Diaspora in Deutschland zu entwickeln und die kreative Nutzung der Technologie des 21. Jahrhunderts zu unterstützen. Wir wollen unseren Usern geeignete Werkzeuge anbieten, um erfolgreich als kompetente und respektierte Community innerhalb des sich wandelnden Europas überleben zu können. Content-Acquisition für das "Mothership" Schon seit 2001 sind wir bundesweit zu einer Vielzahl von Events gereist, die für die Community in Deutschland wichtig waren. Wir haben Events auf Audio, Video (Mini-DV) und Mini-Disc dokumentiert. Das digitale Archiv unseres Schaffens wird online gestellt, sobald wir weitere Ressourcen schaffen, die es uns ermöglichen, diese wichtige Arbeit zu tun. So haben wir in den letzten zwei Jahren wahrscheinlich bundesweit das größte Archiv inklusive Multimedia-Input für "People of African Descent" in Deutschland geschaffen. "cyberNomads" wuchs aufgrund des aktuellen, hohen Bedarfs an professioneller, transkultureller Dienstleistung schnell über den Fokus Bildung/Politik hinaus, wie anhand der unten aufgeführten Projekte deutlich wird: Multimedia Spoken Word Performance Im Frühling 2003 hat "cyberNomads" im renommierten Martin-Gropius-Bau in Berlin eine "Afro-German Multimedia Spoken Word Performance" mit vielen bekannten Gesichtern aus der Community inszeniert. Und damit haben wir erstmalig afro-deutsche Künstlerinnen und Künstler auf einer Plattform der bpb positionieren können. Der Afro-German Media Bus Hierbei handelt es sich um ein mobiles Multimedia-Labor mit Internetzugang, das voraussichtlich von Mitte bis Ende 2004 zu Locations und Events in Deutschland reisen wird. Mit an Bord sind Fotos, Videos und Materialien von ISD, bpb und "cyberNomads". Logo des 3. "Black Media Congress 2004". (© cyberNomads) www.blackmediacongressberlin.de 2004 Berlin hatte bereits 2002 und 2003 einen Black Media Kongress und wird vom 29. bis 31. Oktober 2004 einen wichtigen Fokus auf die internationale Anbindung setzen. Es geht um historische Resultate der Berliner Afrika-Konferenz von 1884. Als Kooperationspartner haben wir bereits das "Haus der Kulturen der Welt" in Berlin gewinnen können. Schwarzer-Literatur-Preis 2004 Für den von uns in Zusammenarbeit mit der Community entworfenen "First German International Literary Prize For The African Diaspora" haben wir das "Haus der Kulturen der Welt" in Berlin gewonnen. Der Preis wird dort am 29. Oktober 2004 verliehen. Logo des 3. "Black Media Congress 2004". (© cyberNomads)
Article
Sun Leegba Love
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/afrikanische-diaspora/59509/professional-kultur-r-evolution-inna-germany/
Afro-deutsches Bewusstsein ist Schwarzes Bewusstsein in der Diaspora und in einer einzigartigen Position: keine gemeinsame nationale Geschichte, keinen gemeinsamen kulturellen, geographischen, religiösen oder ethnischen Hintergrund zu haben. Das Proj
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6. Stereotypen | Deutschland Archiv | bpb.de
Interner Link: Gesellschaftspolitischer Hintergrund – Ost und West Interner Link: Interview mit Maria Interner Link: Situativer Kontext und sprachlicher Kotext Interner Link: Mitschnitt des Interviews mit Maria und Transkription Interner Link: Interview mit Egon Interner Link: Situativer Kontext und sprachlicher Kotext Interner Link: Mitschnitt des Interviews mit Egon und Transkription Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Sprache Die Begriffe Ossi bzw. Wessi entstanden erst zu Wendezeiten, sie spiegelten den komplementären Ost-Westdiskurs wider (Dittmar, Bredel 1999, Roth 2005). Das Nachdenken über den Anderen dient ebenso wie Fremdzuschreibungen der Identitätskonstruktion (Paul, Roth in Dittmar /Paul 2019). Stereotype reduzieren Komplexität, auch deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Ossis und Wessis übereinander nachdenken und sich voneinander abgrenzen. Maria BW 15 (Ost) O über W Maria - Situativer Kontext und sprachlicher Kotext Maria, 41. Ostberliner Lehrerin, entwirft ein ganz klares, negatives Bild von der westdeutschen Distanziertheit und Fassade und entwirft ein Bild der Kälte und Unnahbarkeit. Maria zeichnet einen komplementären Kontrast: Die Anderen, die Westdeutschen, zeichnen sich durch kaltschnäuzigkeit aus und verschanzen sich hinter einer scheinwelt; die gehn unpersönlich die gehn unpersönlich und unnahbar und erst wenn man n bißchen an der schale rumjeklopft hat^ stellt man fest das da hinten hinter sojar n lebewesen. Das klare Gegenbild stellt die "Wir"-Gruppe der Ostdeutschen da, "weil wir noch zuviel herz in uns drinne ham". Mitschnitt des Interviews mit Maria und Transkription Die Begriffe Ossi bzw. Wessi entstanden erst zu Wendezeiten, sie spiegelten den komplementären Ost-Westdiskurs wider (Dittmar, Bredel 1999, Roth 2005). Das Nachdenken über den Anderen dient ebenso wie Fremdzuschreibungen der Identitätskonstruktion (Paul, Roth in Dittmar /Paul 2019). Stereotype reduzieren Komplexität, auch deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Ossis und Wessis übereinander nachdenken und sich voneinander abgrenzen. Maria, 41. Ostberliner Lehrerin, entwirft ein ganz klares, negatives Bild von der westdeutschen Distanziertheit und Fassade und entwirft ein Bild der Kälte und Unnahbarkeit. Maria zeichnet einen komplementären Kontrast: Die Anderen, die Westdeutschen, zeichnen sich durch kaltschnäuzigkeit aus und verschanzen sich hinter einer scheinwelt; die gehn unpersönlich die gehn unpersönlich und unnahbar und erst wenn man n bißchen an der schale rumjeklopft hat^ stellt man fest das da hinten hinter sojar n lebewesen. Das klare Gegenbild stellt die "Wir"-Gruppe der Ostdeutschen da, "weil wir noch zuviel herz in uns drinne ham". Maria: deswegen bin ick der meinung daß man nich sagen kann ossi und wessi und^ den wessi erkennt man an seiner kaltschnäuzigkeit dit muß ick och sagn * der wessi hat in seiner grundhaltung eh ne jewisse ablehnung in der ausstrahlung und ne kaltschnäuzigkeit die wir ossis noch nich produzieren könn * weil wir noch zuviel herz in uns drinne ham und viel sozialet wat wir empfinden * der wessi der jeht da so als struktur durch die gegend^ * meine persönlichkeit geht keen was an * meine persönlichkeit bin ich * und denn notfalls noch die familie aber außen in hat ihn nich zu intressiern wat ick denke und so gehn die auch die gehn unpersönlich die gehn unpersönlich und unnahbar und erst wenn man n bißchen an der schale rumjeklopft hat^ stellt man fest das da hinten hinter sojar n lebewesen is wat eh reagieren kann antworten kann und sojar * eh richtich schön empfinden kann ob herzlichkeit fröhlichkeit oder traurichkeit ja^ so aber man muß leider erst die schale entblättern und manchmal^ im im dahinleben nebeneinander hat man keene zeit zu entblättern und dann jibt det wiederum die andre seite wessis die sind so so uffdringlich überschwenglich die sind so ehm * so ehm so ich ich möchte gern^ und gebe gern^ * und sind denn so uffdringlich und dit sind denn die lästigen fliegen die wird man denn ni mehr los^ die wolln dann mehr oder wenjer auf andre kosten nur leben die sitzen dann im hause rum und essen dich kahl und dünn * und freun sich daß se n doofen jefunden ham der se über wasser hält ja^ und die machen nach außen hin so n scheinwelt * ja ick habe zum beispiel wie jesacht in der verwandtschaft die obere jesellschaft die mittlere und ick habe och den sozialfall drin ja^ und ick muß sagen * grade die die vo von der sozialhilfe leben^ * die wolln nach außen hin also wunderbar jeschält und jepellt schein^ xx Egon BW 47 (West) Egon - Situativer Kontext und sprachlicher Kotext Egon, 34,Westberliner Student, beschreibt das Verfahren der Stereotypenbildung, d.h. den Dreierschritt "Zuordnen – Zuschreiben – Bewerten" (Roth in Dittmar/ Paul 2019: 133), wobei er zur Verdeutlichung Stereotype wie die Ostdeutschen seien wehleidig, bittend, ungeschickt und selbtsmittleidig, die Westdeutsche arrogant anführt. Zudem führt er den Begriff besserwessi ein, der durch Ähnlichkeit zum Besserwisser oder auch durch das Kompositum selbst zur Bedeutung führt, der Wessi wisse alles besser. Diese Besserwisserei ergab sich auch grundsätzlich durch die hegemoniale Position Westdeutschlands, indem das gesamte politisch-gesellschaftliche System der DDR als hinfällig erklärt wurde. Stattdessen wurde das System der BRD übernommen; damit war klar, dass das Knowhow im Westen war und der Westn bestimmte, was zu tun war. Auf der anderen Seite ergab sich das Stereotyp des jammernden Ostdeutschen, der sowohl mit seiner DDR-Vergangenheit als auch mit der totalen Anpassung an ein neues soziales und Staatsgebilde unzufrieden war. Diese Unzufriedenheit rief dann eine gewisse Nostalgie nach der alten DDR hervor. Das wurde von den Westdeutschen kritisiert. So beschreibt auch Nico, westdeutscher Rechtsreferendar, dass er die "denkart" und insbesondere "diese ewije 'rum'jammerei" der Ostdeutschen, auch bei den durchaus verständlichen Schwierigkeiten, nicht nachvollziehen könne. Mitschnitt des Interviews mit Egon und Transkription Egon, 34,Westberliner Student, beschreibt das Verfahren der Stereotypenbildung, d.h. den Dreierschritt "Zuordnen – Zuschreiben – Bewerten" (Roth in Dittmar/ Paul 2019: 133), wobei er zur Verdeutlichung Stereotype wie die Ostdeutschen seien wehleidig, bittend, ungeschickt und selbtsmittleidig, die Westdeutsche arrogant anführt. Zudem führt er den Begriff besserwessi ein, der durch Ähnlichkeit zum Besserwisser oder auch durch das Kompositum selbst zur Bedeutung führt, der Wessi wisse alles besser. Diese Besserwisserei ergab sich auch grundsätzlich durch die hegemoniale Position Westdeutschlands, indem das gesamte politisch-gesellschaftliche System der DDR als hinfällig erklärt wurde. Stattdessen wurde das System der BRD übernommen; damit war klar, dass das Knowhow im Westen war und der Westn bestimmte, was zu tun war. Auf der anderen Seite ergab sich das Stereotyp des jammernden Ostdeutschen, der sowohl mit seiner DDR-Vergangenheit als auch mit der totalen Anpassung an ein neues soziales und Staatsgebilde unzufrieden war. Diese Unzufriedenheit rief dann eine gewisse Nostalgie nach der alten DDR hervor. Das wurde von den Westdeutschen kritisiert. So beschreibt auch Nico, westdeutscher Rechtsreferendar, dass er die "denkart" und insbesondere "diese ewije 'rum'jammerei" der Ostdeutschen, auch bei den durchaus verständlichen Schwierigkeiten, nicht nachvollziehen könne. 0117 EGON n westen komm als es gibt genuch leute die ausm westen komm und jetz im osten wohn und es gibt genau auch leute die ausm osten komm und in-nen westen komm also 0118 BL Ja 0119 EGON wer iss der ossi un wer iss der wessi und vor allen dingen ((Ausatmen)) denk ich dass so bestimmten worten eh dass den so bestimmte charaktereigenschaften angedichtet 0120 BL ne wertung 0121 EGON werden ne wertung 0122 BL auf jeden fall klar 0123 EGON nich der ostler der so eh wehleidich und faul na faul vielleicht nich so aba wehleidig und ((Ausatmen)) und eh bittend und eh bitt eh ungeschickt 0124 BL na ungeschickt son ja 0125 EGON ja und selbstmitleidich und so weita und so fort ((Ausatmen)) und der westler ebent ehm: ehm: ja weiß ich nich also arrogant und eh 0126 BL Hm 0127 EGON besserwessi ebent so-n typisches wort dafür Nico BW 29 (West) Jammerossi : "ewige Jammerei"
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2020-09-16T00:00:00"
"2019-12-17T00:00:00"
"2020-09-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/302531/6-stereotypen/
"Wer iss der Ossi un wer iss der Wessi?" Ist der eine sozialer, der andere kaltschnäuziger? Aus gegenseitig wahrgenommenen Unterschieden werden nach dem Mauerfall schnell verallgemeinernde Klischees, die das Zusammenwachsen früh erschweren. Auch die
[ "DDR" ]
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Vorbemerkung: Die russischen Dumawahlen vom 18. September 2016 | Russland-Analysen | bpb.de
Wahlen haben in Russland eine Bedeutung. Wenn es gelingt, die Mehrheit der Bevölkerung dazu zu bewegen, zur Wahl zu gehen und gar für die Regierungspartei "Einiges Russland" zu votieren, dann zeigt das, dass die Gesellschaft die Führung akzeptiert. Um diese Akzeptanz zu erreichen, unternehmen Regierung und Verwaltungsapparat erhebliche Anstrengungen bei der Vorbereitung und bei der Durchführung der Abstimmungsprozesse. Die Dumawahlen 2016 wurden auf der Basis einer geänderten Wahlgesetzgebung durchgeführt. Waren die Dumaabgeordneten 2007 und 2011 aufgrund von Listenwahlen nach dem Verhältniswahlrecht bestimm worden, kehrte man 2016 zu den Regelungen zurück, die bis 2003 galten: 225 Abgeordnete werden direkt in Einzelwahlkreisen gewählt, die übrigen über Parteilisten im Verhältniswahlrecht. Es handelt sich also um ein "Grabenwahlsystem", bei dem zwei unterschiedliche Wahlverfahren parallel angewandt werde, ohne das die Ergebnisse verrechnet werden (wie dies z. B. bei den Bundestagswahlen mit den Überhangmandaten der Fall ist). Die russische Zivilgesellschaft nimmt die Wahlen ernst – für sie sind Wahlen ungeachtet aller Eingriffe von oben ein demokratisches Instrument. Daher verfolgen die Wahlbeobachtungsorganisationen trotz aller Behinderungen genau, ob die Wahlen nach den Regeln der russischen Gesetzgebung durchgeführt werden. Eine der wichtigsten Wahlbeobachtungs-NGOs in Russland ist die Bewegung "Golos" ("Die Stimme") Externer Link: http://www.golosinfo.org/en. Ihre Berichte, die sich auf Berichte von Wahlbeobachtern aus den Regionen stützen, werden im folgenden dokumentiert. "Golos" arbeitet dabei mit der "European Platform for Democratic Elections" (EPDE) Externer Link: http://www.epde.org/en/ zusammen, die sich für ehrliche Wahlen überall in Europa einsetzt. "Golos" und "EPDE" haben die folgenden Texte zusammengestellt und die Übersetzungen ermöglicht.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-09-28T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-321/234713/vorbemerkung-die-russischen-dumawahlen-vom-18-september-2016/
Die Dumawahl stellt für Russland ein wichtiges Ereignis dar. Sie gibt Aufschluss über die Stimmung in der Bevölkerung und die Zufriedenheit mit der derzeitigen Regierung. Gleichzeitig versuchen Wahlbeobachtungsorganisationen, die Rechtmäßigkeit der P
[ "Dumawahl", "GOLOS", "Wahlbeobachtung", "Russland" ]
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Die Macht der Intellektuellen | Intellektuelle | bpb.de
Einleitung Intellektuelle haben keine Macht, wenn damit die Kompetenz bindenden Entscheidens gemeint ist. Was sie haben, ist mehr oder minder großer Einfluss, der sich nicht nur auf - wie Jean-Paul Sartre sagte - "missbrauchte" Berühmtheit oder Reputation und rhetorisches Geschick stützen kann, sondern auch auf die rationale Bindungskraft von Argumenten als Deckungsreserve zurückgreifen muss. Manchmal haben sie auch Einfluss auf politische Führer, manchmal können sie sogar breite Volksstimmungen herumreißen, wenn diese nur ambivalent genug sind. Dafür ist die französische Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts ein ebenso gutes Beispiel wie der deutsche Historikerstreit der 1980er Jahre. In beiden Fällen ist das Pendel zugunsten der Linken ausgeschlagen, aber das muss es natürlich keineswegs. Man denke nur an die neokonservative "Tendenzwende" Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik, die freilich von Intellektuellen ausgerufen wurde, die sich selbst als "Gegenintellektuelle" verstanden, oder die fast zeitgleiche, scharfe Wende der britischen und US-amerikanischen Politik nach rechts unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die von neokonservativen Intellektuellen und neoliberalen Ökonomen stark beeinflusst wurde und die ohnehin nie gebrochene, nach 1968 aber stark angeschlagene kulturelle Hegemonie der Konservativen mit frischem Blut versorgt und für eine bis dahin beispiellose Globalisierung fit gemacht hat. Das hat sogar zu dem bizarren Vorschlag geführt, die Tätigkeit der Intellektuellen, die immer - auch noch von den amerikanischen Neokonservativen - als Kritik verstanden wurde, völlig ins Affirmative zu wenden und durch "Preisen" (Hans Ulrich Gumbrecht) zu ersetzen. Revolution Nur in den "Drang- und Sturmperioden" (Karl Marx) der großen Revolutionen vermischen sich die Rollen von Intellektuellen und Machthabern zur Ununterscheidbarkeit, und Intellektuelle, die es bleiben, stürzen Ständeversammlungen (Abbé Sieyes), führen Armeen in Bürgerkriege (Leo Trotzki), verfassen Unabhängigkeits- und Rechteerklärungen und beschaffen ihnen die nötigen Mehrheiten (Abbé Sieyes, Thomas Jefferson). Sie wüten im Wohlfahrtsausschuss (Maximilien Robespierre), ohne aufzuhören, die Welt immer wieder neu zu interpretieren und ihnen ihre bessere Moral vorzuhalten oder die Verfassungstheorie weiterzuentwickeln (Abbé Sieyes). Wo sich die "dramatischen Effekte" "überbieten", "Menschen und Dinge in Feuerbrillanten gefasst" scheinen und "die Ekstase der Geist jedes Tages" ist, kommt sogar die Kunst für Augenblicke an die Macht, etwa der Schriftsteller Kurt Eisner in der Münchener Räterepublik 1918/19. "Aber sie (ist) kurzlebig" und hat, wie Marx wusste, "bald (...) ihren Höhepunkt erreicht". Dann ist es mit der allzu scheinhaften Herrschaft der Intellektuellen auch schon wieder vorbei, und "ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt." Auf Thomas Jefferson und James Madison folgte Andrew Jackson, auf Lenin Stalin, auf Robespierre und Napoleon I dessen Neffe Louis Bonaparte, auf die große Tragödie die Farce. Nur zu Beginn begünstigt die Revolution die Macht der Intellektuellen, und wenn sie auf Dauer Machthaber werden, müssen sie bei Strafe ihres Untergangs das Spiel der Macht betreiben und die intellektuelle Rolle vergessen. Statt intervenierend auf entzweiende Polemik müssen sie sich auf den Gebrauch schneidender Instrumente und aufs Memoirenschreiben verlegen, dem postintellektuellen Genre schlechthin; auch wenn sich gelegentlich jemand findet, der es für intellektuelle Zwecke missbraucht und die Erinnerung einen neuen Konflikt um öffentliche Angelegenheiten auslöst. Die plötzliche Verwirrung der Rollen des Intellektuellen und des Machthabers in den großen Revolutionen hängt eng mit der Differenz der revolutionären zur alltäglichen Politik eng zusammen. In den Revolutionen sind es nämlich die neuen Ideen, die Weichen künftiger Entwicklung stellen (Max Weber) und vor allem Möglichkeiten versperren, die zuvor problemlos verfügbar waren. In den wenigen Augenblicken der Geschichte, in denen grundlegende Legitimationsverhältnisse umgewälzt werden, wird Intellektualismus zur politischen Option und die gewaltlose Idee zur materiellen Gewalt. Die Revolution ist die Stunde des allgemeinen Intellektuellen (Jean-Paul Sartre) - und danach regrediert er nicht selten zum Nostalgiker der Revolution oder verschreibt sich, besonders nach scheiternden Revolutionen, als dienstbarer Geist der Realpolitik und stellt das Programm von Revolution auf Imperialismus um, ein häufiges Schicksal von Achtzehnhundertachtundvierzigern und Neunzehnhundertachtundsechzigern. Kommunikative Macht Intellektueller Einfluss und politische Macht sind trotz sporadischer Rendezvous grundsätzlich verschiedene Größen. Es kommt hier natürlich darauf an, was man unter Macht versteht: konventionell das, was aus den Gewehrläufen kommt und in der Verfügungsgewalt über Zwangsmittel besteht, also administrative Macht - oder unkonventionell die kommunikative Macht der Straße, auf der sich die Leute versammeln, um miteinander zu reden und gemeinsam zu handeln. Intellektuelle haben sich seit je zu beiden Formen der Macht verhalten, aber das moderne Verständnis des Intellektuellen, dessen Begriff sich erst Ende des 19. Jahrhunderts in der Dreyfus-Affäre - als positiv gewendetes Negativstigma - durchsetzte, ist der, zumindest indirekte, Bezug auf kommunikative Macht konstitutiv. Intellektuelle üben als Intellektuelle keine Macht aus, aber sie üben auch nicht einfach ihren gewöhnlichen Beruf als Rechtsanwalt, Schriftsteller, Musiker, Lehrer oder Wissenschaftler aus. Sie verhalten sich vielmehr als machtlose Akteure zur Macht, aber so, dass sie von den Kompetenzen, die sie in ihrer Berufspraxis erworben haben, öffentlichen Gebrauch machen. Das macht zum Beispiel ein Banker oder ein Autoschlosser, ein Industriearbeiter oder ein Kellner in der Regel nicht. Der öffentliche Gebrauch akademischer oder schriftstellerischer Kompetenzen war dem Philosophen eines revolutionären Zeitalters, Immanuel Kant, noch das ganze öffentliche Leben. Für ihn gab es nur eine intellektuelle Öffentlichkeit, die er sich, wie die meisten seiner Zeitgenossen, die wie er mit den Jakobinern sympathisierten, nur als exklusiven Meinungsstreit des gebildeten Publikums vorstellen konnte, als Freiheit der Feder und nicht des vorlaut dummen Mundwerks. Aber die Massendemokratie hat die bürgerliche aufgehoben, auf die Kant und die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts sie noch - durchaus das eigene materielle Klasseninteresse im Blick - beschränkt wissen wollten. Die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts hat die republikanische Freiheit des öffentlichen Lebens egalisiert, die verspäteten Privilegien der Bildung und der Profession (in Deutschland erst seit Beginn der jüngsten Globalisierung) beseitigt und die Elite in eine schäbige Pension verwandelt, die jedem offensteht. Das Bürgertum taugt seitdem nur noch für intellektuelle Nostalgien, und beim Stichwort Elite streitet sich die hoch bezahlte Elite der Talkshows, Journalisten mit ihrem handverlesenen Publikum, darüber, ob die weniger verdienenden Spitzenpolitiker oder die Spitzenbanker, die von allen am meisten verdienen, die neue Elite darstellen sollten, ohne dass noch jemand daran dächte, das selbstreferentiell geschlossene, elektronische System der Darstellung des Darstellens zu verlassen. Das alles befestigt die scheinbar unverbrüchliche kulturelle Hegemonie der Neokonservativen, ändert aber nichts daran, dass die Stimme des oder der Intellektuellen zu einer von vielen im undurchdringlichen Gewirr der Stimmen geworden ist. Auch wenn der öffentliche Gebrauch von Fachkompetenz, und sei es nur der, besser schreiben zu können als die meisten, ihr besonderes Merkmal ist: Die Intellektuellen haben mit den Resten des untergegangenen Paternalismus früherer Zeiten (Konrad Adenauer) jedes Privileg des Besserwissenden verloren. Öffentlichen Gebrauch oder "Missbrauch" (Jean-Paul Sartre) von ihrer Fachkompetenz machen die Intellektuellen, wenn sie die Macht adressieren, sei es die kommunikative der Straße, sei es die administrative des Büros. Als Gutachter, Experte und Berater vor Parlamentsausschüssen, in Regierungskommissionen oder vor Gericht haben Intellektuelle bisweilen einen direkten (aber meist überschätzten) Einfluss auf Leute, die Macht ausüben, indem sie bindend entscheiden. Hier ist ihre spezielle Fachkompetenz, mehr noch, ein der jeweiligen Macht brauchbares Ergebnis gefragt, auch wenn es nicht immer geliefert wird. Spätestens aber, wenn sie vor die laufenden Kameras treten oder, wie heute üblich, öffentlich angegriffen werden oder mit Gegengutachten konfrontiert sind, die andere Konjunkturdaten präsentieren oder längere Laufzeiten berechnen, machen sie den Schritt von der administrativ institutionalisierten Öffentlichkeit, die aufs bindende Entscheiden spezialisiert ist, zur diffusen, allgemeinen und verallgemeinernden Öffentlichkeit, in der kommunikative Macht spontan entsteht und wieder vergeht. Erst wenn ihre institutionelle Abschirmung zur allgemeinen Öffentlichkeit durchbrochen wird, wenn der Vortrag des Gerichtsgutachters oder das Papier des Bevölkerungsstatistikers öffentlich attackiert und zerrissen wird oder wenn andere Experten den institutionell geschützten Rollenspieler öffentlich herausfordern, werden Berater, Gutachter, Experten zu Intellektuellen. Spezielle und allgemeine Intellektuelle Das sind diejenigen, die Michel Foucault spezielle Intellektuelle genannt, denen er eine glänzende Zukunft versprochen und die er zum postmodernen Nachfolger von Sartres allgemeinem Intellektuellen erklärt hatte. Auch Niklas Luhmann ist auf diese Linie eingeschwenkt und sieht die neuen Aufgaben des Intellektuellen nicht mehr, wie sein Lehrer Talcott Parsons, in der "ideologischen" Vermittlung der universellen Gehalte der Kultur mit dem Alltagsleben und der Legitimation von Protestbewegungen, sondern in der diffusen Vermittlung und Verbreitung hoch spezialisierten Expertenwissens, das an sachlichen Umweltrisiken und nicht mehr, wie der allgemeine Intellektuelle, an den sozialen Strukturkrisen der Gesellschaft orientiert ist. Die Intellektuellenrolle, auch die des speziellen Intellektuellen, lebt von ihrer Berührung mit der kommunikativen Macht der Straße. Ihr Lebenselement ist nicht das Büro, sondern der Journalismus, ihr Adressat nicht der Machthaber, dem sie einflüstern, wo es lang gehen soll, sondern das allgemeine Publikum, in das sie plötzlich eintauchen oder, von hinten oder von der Seite attackiert, hineingestoßen werden, um sich wieder zu entfernen, wenn die Gelegenheit vorüber ist, zumindest so lange, bis sich eine neue bietet. Die Rolle der speziellen Intellektuellen war zuletzt gut beobachtbar nicht nur auf den vielen Umweltgipfeln und im neuen Protestpotential von Seattle und bei Attac, sondern auch in der jüngsten Affäre um den Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin, in der ein Artikel und ein Interview von Biologen, Genforschern, Statistikern, Entwicklungspsychologen und Begabungsforschern das andere jagte. Sie hatten mit einem Schlag die Rolle gewechselt, das Immunsystem der schwerfälligen und wortwörtlich schwergewichtigen, oft weit besser bezahlten Gutachten und Expertisen verlassen und sich zu speziellen Intellektuellen gemausert, die sich ins Getümmel stürzen, wo sie dem Streit der öffentlichen Meinung schutzlos ausgesetzt sind. Trotz des Votums von Foucault und Luhmann wirkt die intellektuelle Rede aber nach wie vor nicht nur speziell, sondern, indem sie sich ohne besondere Fachkompetenz dem Medium der öffentlichen Meinung anvertraut, auch unmittelbar auf die Bildung kommunikativer Macht ein. Indem sie den Variationspool der öffentlichen Meinung in laufenden Konflikten mit Unmengen immer wieder neuer, manchmal guter, manchmal schlechter Argumente versorgt, trägt sie zur intellektuell nicht mehr kontrollierbaren Bildung der öffentlichen Meinung ebenso bei wie zur autonomen Willensbildung einer Wählerschaft oder einer kämpfenden sozialen Klasse, die sich von allen intellektuellen Vorgaben emanzipiert hat. Aber im Streit um allgemeine Interessen, die das soziale Zusammenleben in nationalen, regionalen und globalen Gemeinschaften betreffen, nehmen Intellektuelle nicht als Psychologen, Soziologen, Philosophen, Schriftsteller, Musiker, Erziehungswissenschaftler, Kernforscher oder Mediziner teil, sondern als allgemeine, politisch redende und handelnde Akteure. Sie mischen sich inkompetent wie jeder andere auch, aber im Namen verallgemeinerbarer Interessen in laufende Konflikte ein oder treten sie gar los. In dieser Rolle handeln sie immer noch als allgemeine Intellektuelle, die glauben, ein krisenhaftes Symptom identifiziert zu haben und hoffen, die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung darauf lenken zu können. Auch Foucaults und Luhmanns große Wirkung verdankten sich nicht allein, oder überhaupt nicht ihrer Tätigkeit als spezielle, sondern als allgemeine Intellektuelle. Die allgemeinen Intellektuellen sind schon lange keine Parteiintellektuellen früherer Tage mehr, die etwa mit Georg Lukács' Abwandlung eines patriotischen Satzes von Winston Churchill sagen: "Right or wrong, my party." Auch die Zeiten endloser Unterschriftenlisten von Kulturschaffenden, in denen sich ein immer noch privilegiert verstandener, europäischer Geist paternalistisch den im Materiellen arbeitenden, Maschinen, Brot und Kohle schaffenden Massen zuwandte, sind vorbei, seit mehr als 30 Prozent der Bevölkerung (in den OECD-Ländern und zunehmend auch in den Schwellenländern) akademisch ausgebildet sind. Sowie sich jemand aus dem System kultureller Wissensproduktion, in dem er oder sie als Archivar, Professor, Künstler, Schriftsteller oder Kleriker eine hoch spezialisierte Tätigkeit verrichtet, an die diffuse Öffentlichkeit wendet, eine Polemik vom Zaun bricht, agitiert, Stellung zu irgendeiner öffentlichen Angelegenheit bezieht und sich dabei der Sprache des gebildeten Feuilletons, der Diktion der Boulevardpresse, der Rhetorik des Gerichtspublikums oder der Semantik der bildungsfernen Schicht der Berufspolitiker bedient, vermittelt der argumentative Gehalt der intellektuellen Rede zwar immer noch, wie vor mehr als zweitausend Jahren, zwischen Wissenschaft und Politik, Theorie und Praxis. Die Rolle der Intellektuellen, Theorie und Praxis im Medium öffentlicher Rede zu vermitteln, ist so alt wie die Hochkulturen der Achsenzeit, und die ersten Philosophen sind hier ebenso beispielhaft wie die alten Propheten. Aber es ist schon lange nicht mehr so, dass die Wissenschaft die guten Argumente oder die Religion die offenbare Wahrheit liefert und Politik nur noch die Panzer einsetzen oder die Gesetzgebungsmaschine anschmeißen müsste, um sie zu verwirklichen. Das hat schon bei Platon nicht geklappt und ist in Jahrhunderten intellektueller Fürstenerziehung von Thronfolger zu Thronfolger immer von Neuem gescheitert. Mittlerweile nötigen die Demokratisierung der Intellektuellenrolle und der öffentliche Dauerstreit der wissenschaftlichen Gutachter Wähler und Gewählte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Die Intervention des allgemeinen ist von der zunehmenden des oder der speziellen Intellektuellen keineswegs verdrängt worden, sie kommt nur von allen Seiten, und schon lange nicht mehr nur von denen, die nicht nur gut ausgebildet sind, sondern unmittelbar zur Produktion kulturellen Wissens beitragen. Sie kommt aus allen Richtungen und ist immer unberechenbarer geworden. Dadurch haben sich die alten, noch halb feudalen Asymmetrien zwischen dem Weisen und Seher und dem Staatenlenker ebenso verschliffen wie diejenigen zwischen "Zeit" und "Bild". Der Boulevard wird reflexiv und ironisch, und der Qualitätsjournalist zum populistischen Agitator, die Frau aus dem intellektuellen Feuilleton geht zur "Bild"-Zeitung, der Talkmaster wird Feuilletonchef, und im Internet mischen sich alle Diskurse; nur diejenigen bleiben draußen, die keinen Anschluss ans Netz haben. Die Intellektuellen haben in der Wissensgesellschaft trotz der sozial, sachlich und zeitlich höchst ungleichen Verteilung des Wissens kein Wissensprivileg mehr. In der deliberativen Demokratie, dort, wo sie halbwegs funktioniert, bedarf es nicht mehr der Intellektuellen, um die universellen Prinzipien der Moral und des Rechts gegen dumpfe Vorurteile zur Geltung zu bringen. Wenn nur lange und frei genug diskutiert wird und auch komplexe Argumente, die von jedem kommen können, vorgetragen und gehört werden, kommt von alleine genügend Intellektualität zum Zuge, so dass eine gute Chance besteht, dass die jeweils zur Diskussion stehenden Vorurteile schon von selbst zerfallen, um sich freilich an der nächsten Ecke neu zu bilden, mit oder ohne intellektuelle Anleitung. Aber beim nächsten Konflikt geht es wieder los, und wenn wir Glück haben, macht die Selbstaufklärung des nicht mehr besonders gebildeten Publikums dabei sogar Fortschritte. Die Stimme des Intellektuellen ist zwar zu einer unter vielen geworden, sie hat aber darüber ihre besonderen Qualitäten, das Bündeln von Argumenten, das Zuspitzen von Polemiken, das Aufspüren des Neuen, die ironische Zäsur, die welterschließende Kraft, den fanatischen Fundamentalismus, die brillante Rhetorik und die überzeugende Argumentation, nicht verloren. Aber das ist nicht mehr das Privileg einer bestimmten akademischen Klasse. Es hat sich von der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals soweit gelöst, dass niemand mehr auf die intellektuellen Stimmen hören muss und jede und jeder sich frei zu ihnen und ihren Argumenten verhalten kann. Die Leute haben es satt, sich von Politikern oder Intellektuellen wie Kinder behandeln zu lassen, oder wie es im immer wiederkehrenden Politikerjargon heißt, wie "Menschen draußen im Lande". Auch Intellektuelle haben dumpfe Vorurteile, und umgekehrt ist auch das Stammtischpublikum gebildet. Radikale Kritik Anders als die speziellen Intellektuellen, die sich bei der immer kontroverseren Einschätzung ganz auf ihre Fachkompetenz stützen und alle Fragen allgemeinen Interesses ausklammern müssen, gilt das Interesse der allgemeinen Intellektuellen der symptomatischen Wahrheit (Slavoj iek), die ein bloß verdrängtes und beschwiegenes gesellschaftliches Krisenphänomen sichtbar macht. Wenn alle, die den hegemonialen Konsens definieren, sich darauf geeinigt haben, dass - wie Joschka Fischer es nach seiner realpolitischen Wende immer ausdrückte - das Axiom aller Reformpolitik ist, dass alles geändert werden kann, aber am Kapitalverhältnis nichts zu ändern ist, erinnert die Stimme des allgemeinen Intellektuellen daran, dass es dann nur noch eine wirklich radikale Option gibt, dem Elend und der Verzweiflung, dem Unrecht und der Ausbeutung des globalen Kapitalismus überhaupt etwas entgegenzusetzen, und das ist die Wiederaufnahme der radikalen Kritik am Kapitalverhältnis. Was nämlich die bewusst betriebene Verdrängung, das silencing, das Zum-verstummen-Bringen jener Kritik übersieht, ist die symptomatische Wahrheit, dass alle Reformen scheitern müssen, die das Kapitalverhältnis jeder Kritik und jeder alternativen Option, und sei sie noch so immanent, entziehen. Beim Insistieren auf symptomatischer Wahrheit geht es indes nicht mehr um längst verblasste Revolutionsphantasien, ums letzte Gefecht oder den großen Plan der marxistischen Geschichtsphilosophie. Wohl aber kann die nurmehr negative Wahrheit des Symptoms das machtpolitische Scheitern intellektueller Figuren wie Fischer exemplarisch erklären. Wer - immerhin - die politische Einigung Europas bis zum französischen Verfassungsreferendum vorangetrieben hat, scheitert am Ende genau daran, dass sich die Europäische Bürgerschaft nicht vollends und ungefragt dem Kapitalverhältnis ausliefern wollte. Das Verdrängte kehrt zurück, und wenn wir Glück haben, verschieben sich diesmal die Gewichte zugunsten der vom Symptom befreiten Willensbildung von Europas Völkern, die längst eine Bürgerschaft sind, ohne es indes zu wissen. Bleiben wir beim Beispiel Europa. Die Strategie der Verdrängung und des silencing, das sich und uns die technokratische Europapolitik nach 2005 noch einmal erfolgreich verordnet hat, funktionierte schon in der Griechenland-Krise fünf Jahre später nicht mehr. Der hegemoniale Konsens, der auch diese Krise überlebt hat, sieht sich seiner symptomatischen Wahrheit konfrontiert, nämlich dass postnationale Foren, grenzüberschreitender Kosmopolitismus, die Verfassung ohne Staat, das Projekt eines europäischen Sozialstaats oder gar die abenteuerliche Idee einer globalen sozialistischen Basisdemokratie oder einer anderen Verteilung der Arbeit sich nicht mehr zugunsten der Hoffnung, das globale Kapital werde alles richten, wenn man es nur frei agieren lasse, verdrängen und verschweigen lassen. Das ist die symptomatische Wahrheit in der Parole "Peoples of Europe, Rise Up", die eine stalinistische Partei von gestern an das Athener Symbol des antiken Europa geheftet hatte: Die kühneren Antizipationen einer neuen europäischen und globalen Demokratie sind nicht für die Katz und ohne praktische Bedeutung. Sie liegen als Deutungsschemata bereit, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn aus ganz anderen Gründen, in Situationen ökonomischer und politischer Krisen und ohne den Intellektuellen noch einen besonderen Part zu lassen, eine neue, europäische Öffentlichkeit entsteht. In der Griechenland-Krise wurde bereits "in der europäischen Öffentlichkeit (...) richtig geholzt" und "auf dem Boulevard (...) regelrecht gehetzt", nicht nur gegen Griechenland, sondern auch "die Deutschen (haben) ihr Fett wegbekommen, von wegen Hegemoniestreben". Was der Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der wieder einmal vor zuviel europäischer Öffentlichkeit warnt, dabei übersah, war nicht nur, dass ohne Fett, Gehetze und Geholze die Demokratie stirbt, sondern dass - und auch das gehört zur Dialektik des öffentlichen Geholzes - nicht nur die europäische Solidarität von Deutschland fast aufgekündigt wurde, sondern zur gleichen Zeit im französischen Parlament und in den Meinungsumfragen eine sehr deutliche Mehrheit sich für die Solidarität mit der südlichen Peripherie aussprach. Wenn die Diskussion nicht verdrängt und zum Schweigen, sondern immer wieder angestachelt und zu Wort gebracht wird, kann sich der Knoten von alleine lösen und die Produktivkraft grenzüberschreitender Solidarität plötzlich entfesselt werden. Hier hätten die allgemeinen Intellektuellen Sartres immer noch einen Part, aber er hätte sich in eine vollends deliberativ gewordene Demokratie verflüssigt. Zwar wurde im grenzüberschreitend öffentlichen Diskurs der Griechenland-Krise die intellektuelle Hegemonie der neokonservativen Mixtur aus nationaler Politik und globalem Turbokapitalismus nicht gebrochen, aber alternative Deutungsmuster, die in der Krise überall durchgespielt und diskutiert wurden, vom Neo-Keynesianismus (Paul Krugman) bis zum Neo-Post-Neo-Leninismus (Slavoj iek), vom Kosmopolitismus (Ulrich Beck) bis zum Europäischen Sozialstaat (Claus Offe), könnten schon in der nächsten Krise, wenn die Staaten nicht mehr zahlen können, die Diskussion bestimmen. Europäische Debatten Plötzlich wird an immer mehr kontroversen Themen eine europäische Dimension erkennbar. Was Silvio Berlusconi noch ungestraft tun konnte und kann, wird beim französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy zum Problem. Eine durchsichtig populistisch inszenierte, mit wohl platzierten Kriminalstatistiken gut vorbereitete, wahltechnisch motivierte, rassistisch konnotierte Ausweisungskampagne gegen rumänische Sinti und Roma kommt ins Stocken, erfährt mehr und mehr Widerrede, gerät ins europarechtliche Zwielicht, wird vors europäische Parlament gezerrt und droht schon, sich wahltechnisch ins Gegenteil zu kehren, obwohl die Vorurteile gegen "Zigeuner" tief sitzen, weit verbreitet, durch unsere grandiose Erinnerungspolitik kaum gedämpft werden und diejenigen treffen, die - wie seinerzeit die Juden - am Ende der Skala derer stehen, für deren Schicksal Majoritäten sich erwärmen könnten. Warum? Einfach deshalb, weil die Debatte immer weiter geht, derweil die Zahl derer wächst, die in den Sinti und Roma ihr eigenes europäisches Recht auf Freizügigkeit bedroht sehen und die Rückkopplungseffekte zwischen nationaler und europäischer Öffentlichkeit nicht mehr kontrollierbar sind. Der Einfluss der Intellektuellen auf die kommunikative Macht, die sich hier als Gegenmacht aufbaut, besteht nur noch in zahllosen Zeitungsartikeln, Parlamentsinitiativen, Internetkampagnen und Appellen an den universalistischen Gehalt des europäischen Rechts und der faktischen Verfassung Europas. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar von Hauke Brunkhorst, Frankfurt/M. 2007, S. 13. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.8.2010.
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, Hauke Brunkhorst
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32489/die-macht-der-intellektuellen/
Intellektuelle haben keine Macht, wenn damit bindendes Entscheiden gemeint ist. Was sie haben, ist mehr oder minder großer Einfluss, der sich auf Reputation, rhetorisches Geschick und Argumente stützt.
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DER WILDE Arbeitsblatt | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de
USA 1953, R: László Benedek, FSK 16 Vor der Filmsichtung Sehen Sie sich die ersten 79 Sekunden des Filmes DER WILDE an. Beschreiben Sie, wie sich die Bildgestaltung von Ihnen bekannten Filmen abhebt, die jugendliche Lebenswelten beinhalten. Stellen Sie dar, mit welchen erzählerischen und filmgestalterischen Mitteln Spannung erzeugt wird. Sehen Sie sich die Anfangssequenz bis 0:03:24 an und analysieren Sie, wie die erzeugte Spannung gesteigert wird und welcher Konflikt sich andeutet. Beziehen Sie neben der Bild- und Tongestaltung auch die Kostüme und die Szenografie in ihre Untersuchung ein. Ordnen Sie die in der Anfangssequenz dargestellten Jugendlichen einer Jugendkultur zu. Was wissen Sie bereits über diese? Tragen Sie Merkmale im Plenum zusammen und halten Sie diese fest. Nutzen Sie gegebenenfalls folgenden Text von Vanessa Erstmann als Recherchequelle: Externer Link: http://www.historische-nienburg.de/vortraege/11.pdf Während der Filmsichtung Achten Sie darauf, wie Spannungen zwischen der Motorradbande und den Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen entstehen. Untersuchen Sie in diesem Zusammenhang, wie sich dabei Johnny Strabler und die Mitglieder seiner Bande unterscheiden. Beziehen Sie auch auf Körperhaltung und -spannung, Mimik, Gestik und Redeanteil ein. Halten Sie Ihre Beobachtungen stichpunktartig fest. Nach der Filmsichtung Tragen Sie Ihre Ergebnisse zusammen Recherchieren Sie zur Schauspiel-Methode des Method Actings und wie sich der Schauspieler Marlon Brando auf seine Rolle vorbereitete. Nutzen Sie folgende Links als Ausgangspunkt Ihrer Recherche: Externer Link: https://www.deutschlandfunkkultur.de/schauspiel-techniken-was-ist-eigentlich-method-acting.1396.de.html?dram:article_id=278862 Externer Link: https://www.spiegel.de/geschichte/method-acting-wie-film-schauspieler-in-rollen-eintauchen-a-1036932.html Teilen Sie sich in zwei Gruppen A und B. Sehen Sie sich die folgenden Szenen noch einmal an und stellen Sie exemplarische Auszüge daraus in einer kurzen Präsentation anschließend einander vor. Gehen Sie darauf ein, wie sich wesentliche Elemente aus Aufgabe d) wiederfinden. was sie über die Perspektive der Jugendlichen hinsichtlich Gesellschaft und Autorität, beziehungsweise umgekehrt, erfahren. welcher Moralkodex innerhalb der Motorradbande(n) existiert. Gruppe A: 0:18.31-0:26:22 Gruppe B: 0:26:22-0:34:40 Erläutern Sie vor diesem Hintergrund die Ursachen jugendlicher Rebellion. Beziehen Sie dabei auch Erkenntnisse aus den bpb-Artikeln "Die Halbstarken" (Interner Link: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/jugendkulturen-in-deutschland/36156/die-halbstarken) und "Vaterlose Jugend" (Interner Link: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/jugendkulturen-in-deutschland/36157/vaterlose-jugend) sowie Bezüge zur eigenen Lebensrealität mit ein. Verfassen Sie für die Schülerzeitung eine Filmkritik zu DER WILDE, in der sie die Ikonografie des jugendlichen Rebellen, vor allem durch Johnny Strabler verkörpert, herausarbeiten und die Gründe der Rebellion erläutern. Alternativ können Sie Ihre Kritik auch für einen Videoblog drehen, in dem Sie Bezüge zur heutigen Lebensrealität herstellen. Optional: Setzen Sie den Film zu DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN und/oder zu BERLIN – ECKE, SCHÖNHAUSER in Beziehung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-25T00:00:00"
"2020-05-25T00:00:00"
"2022-02-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/310504/der-wilde-arbeitsblatt/
Marlon Brando ist der Anführer einer Motorradgang von Jugendlichen. Die Lerngruppe recherchiert zum "Method Acting" und setzt sich mit der US-amerikanischen Jugendkultur der 1950er Jahre auseinander.
[ "Filmklassiker", "Jugend in den 1950ern", "Arbeitsblatt für Schüler/-innen", "DER WILDE" ]
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Jetzt bewerben: WIR IST PLURAL | Preis zur Stärkung der Demokratie | Presse | bpb.de
Ab heute und bis zum 20. Juni 2021 können sich Interessierte auf den WIR IST PLURAL | Preis zur Stärkung der Demokratie der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb bewerben. Das Bundesverfassungsgericht ist Partner. Die bpb vergibt den Preis anlässlich des 70. Geburtstags des „Hüters des Grundgesetzes“. Die 15 originellsten Projekte zur Leitfrage „Wie engagiert Ihr Euch für die demokratischen Werte des Grundgesetzes?“ werden mit bis zu 5.000 Euro und einem umfassenden Gewinn-Paket für mehr öffentliche Sichtbarkeit der Aktionen prämiert. Teilnahmeberechtigt sind u.a. überparteiliche Träger, Vereine, Initiativen und gewerbliche Einrichtungen, zum Beispiel aus dem Buchhandel, Einzelpersonen und Lokalmedien. Im Anschluss an die Bewerbungsphase sind vier Wochen lang die Bürger gefragt: Welches Projekt überzeugt und schafft es unter die Top 50? Aus dieser Vorauswahl kürt die Fachjury schließlich die 15 Preisträger des WIR IST PLURAL-Preises. In der Jury mit dabei sind u.a. die Unternehmerin Louisa Dellert, der Autor Jürgen Wiebicke („10 Regel für Demokratie-Retter“), die Lokaljournalistin Grit Baldauf von der Freien Presse Mittelsachsen und der Kabarettist Dave Davis („Ruhig, Brauner! - Demokratie ist nichts für Lappen“). Im Zeitraum vom 10. Mai bis zum 20. Juni 2021 können sich Interessierte mit einem Projekt bewerben. Nach den Anschlägen in Hanau und Halle zeigt auch die Corona-Pandemie, dass die Werte der Demokratie immer wieder gegen Verschwörungstheorien und antidemokratische Angriffe vertreten werden müssen. Dafür braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die für ihre Grundrechte – wie Menschenwürde, Diskriminierungsschutz und Meinungsfreiheit – einsteht. Kreative, originelle und spannende Projekte, die diese Grundrechte verteidigen und mit Herzblut und Leidenschaft vorangetrieben werden, haben die Chance mit dem WIR IST PLURAL-Preis 2021 ausgezeichnet zu werden. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Online-Bewerbung ab heute und bis zum 20. Juni 2021 unter Externer Link: www.wiristplural.de Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Pressemitteilungen der bpb abonnieren/abbestellen: Interner Link: www.bpb.de/presseverteiler
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-07-22T00:00:00"
"2021-05-07T00:00:00"
"2021-07-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/332782/jetzt-bewerben-wir-ist-plural-preis-zur-staerkung-der-demokratie/
Bundeszentrale für politische Bildung vergibt Preis für Projekte zur Stärkung der Demokratie und des Grundgesetzes // Ab heute bewerben auf www.wiristplural.de und bis zu 5.000 Euro gewinnen
[ "Demokratie", "Wettbewerb", "Bundesverfassungsgericht" ]
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Medienvertrauen in Krisenzeiten | Öffentlich-rechtlicher Rundfunk | bpb.de
Die gesellschaftliche Lage in Deutschland ist seit Jahren von Krisen geprägt. Unterbrochen von einigen Ruhephasen folgten mehrere Krisen aufeinander: Ab 2008 stand die Welt unter dem Eindruck des Zusammenbruchs von Lehman Brothers und der nachfolgenden Finanzkrise. Es folgten die Probleme rund um die griechischen Staatsschulden, die in die Eurokrise übergingen (2010–2013). Das medial allgegenwärtige Krisennarrativ wurde nach einer kurzen Ruhephase um die sogenannte Flüchtlingskrise ergänzt, in der das Unwort des Jahres 2014 von der "Lügenpresse" wieder auflebte. Parallel zur Debatte um die angebliche (Vertrauens-)Krise der Medien diskutierte die Öffentlichkeit – unter dem Eindruck des Brexit, Donald Trumps Präsidentschaft in den USA und der Wahlerfolge populistischer Parteien in Europa – auch über den Zustand der Demokratie auf dem Globus. Im Februar 2020 folgte mit der Corona-Pandemie die nächste gesellschaftliche Erschütterung. Als die Pandemie abklang, kündigte sich eine weitere Großkrise an: der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, gefolgt von einer Energiekrise in Europa und weltweiter Inflation. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeuteten die vergangenen Jahre vor allem eines: andauernde Unsicherheit. Üblicherweise geht mit Unsicherheit ein erhöhtes Informationsbedürfnis einher. Über viele Aspekte der genannten Krisen können sich die meisten Menschen nicht aus erster Hand informieren – sie sind auf die Medien angewiesen. Damit die Medien dieser Vermittlerrolle in demokratischen Gesellschaften gerecht werden können, spielt das Vertrauen in sie von jeher eine wichige Rolle. Denn sie sollen idealerweise sicherstellen, dass die Bevölkerung über hinreichend verlässliche Informationen verfügt, um (politische) Entscheidungen treffen zu können. Die zentrale Rolle von Medien für die Informationsversorgung kulminiert in Krisenzeiten, in denen vertrauenswürdige Informationen für die Menschen von größter Relevanz sein können – etwa, wenn es darum geht, das eigene Gesundheitsrisiko einzuschätzen oder das Energiesparverhalten zu optimieren. Dabei kann die Mediennutzung nicht nur im individuellen Verhalten Einfluss auf die Krisenbewältigung nehmen, sondern auch kollektiv: In der Corona-Pandemie trug die Nutzung etablierter Medien beispielsweise zu einem größeren Gefühl von Zusammenhalt bei, während die Nutzung alternativer Medien einen gegenteiligen Effekt zeigte. Eine herausragende Rolle bei der Informationsversorgung spielt in der deutschen Medienlandschaft der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er verfügte über Jahrzehnte, aller Kritik zum Trotz, über eine hohe Reputation und ein positives Image. Doch aktuell steht auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Zeichen des Krisennarrativs: Als Mittler und Interpret wird er von manchen Akteuren für seine Darstellungen der verschiedenen Krisenlagen kritisiert – etwa zur Flüchtlingskrise, zu Corona und zum Krieg. Selbst erzeugt er seine eigenen Krisen, wie die Diskussionen rund um den Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) und den Norddeutschen Rundfunk (NDR) im Jahr 2022 zeigten. Folglich ist die Frage relevant, wie sich in Deutschland das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Medien und in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk entwickelt hat. Dazu stellen wir Befunde aus einer Langzeitstudie vor, in der das Vertrauen der Deutschen in die Medien im Allgemeinen und in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Speziellen seit 2015 untersucht wird. Vertrauen in Medien und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Vertrauen in Medien wird als Beziehung zwischen zwei Interaktionspartnern verstanden: den Medien auf der einen Seite und den Nutzerinnen und Nutzern auf der anderen Seite. Das kann sich ganz allgemein auf "die Medien" beziehen; damit ist das System der medialen Informationsvermittlung als Ganzes gemeint, also die Nachrichtenmedien im Allgemeinen. Das Vertrauen bezieht sich hier auf die Medien als gesellschaftliche Institution. Medienvertrauen kann aber auch spezifischer sein und sich auf Mediengattungen beziehen, also den öffentlich-rechtlichen oder privaten Rundfunk, überregionale oder lokale Tageszeitungen oder auch reine Onlineangebote. Vertrauensobjekt ist dann eine spezifische Gruppe von Medienangeboten, die aufgrund der Zugehörigkeit zur selben Mediengattung als zusammengehörig betrachtet werden. In diesem Beitrag steht vor allem das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Fokus. Dieser hat in Deutschland die Aufgabe, vielfältige journalistische Angebote in einem Umfang bereitzustellen, den andere Anbieter nicht gewährleisten können. Er hat einen Informations- und Bildungsauftrag. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ist staatsfern konzipiert: Der Staat stellt zwar die Infrastruktur für den Rundfunk bereit, soll aber auf die Ausgestaltung des Programms und die Inhalte keinen Einfluss nehmen. Allerdings ist die praktische Umsetzung dieser Konzeption Gegenstand von Kritik. So wird etwa schon lange diskutiert, ob und in welcher Weise politische Parteien Einfluss auf die Programmgestaltung nehmen – entweder über die direkte Beeinflussung der Berichterstattung oder indirekt durch die Einflussnahme auf die Personalpolitik. Beispiele hierfür sind die Debatten um die Absetzung des ehemaligen ZDF-Intendanten Nikolaus Brender 2009 oder die vermeintlich zu große Nähe des NDR zur regionalen Politik in Schleswig-Holstein 2022. Auch wenn die Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland insgesamt hoch ist, ist er nicht unumstritten. So stehen unter anderem die Rundfunkgebühren beziehungsweise die Rundfunkbeiträge, die seit 2013 in Form einer Haushaltsabgabe erhoben werden, immer wieder in der Kritik. Auch werden regelmäßig Forderungen nach einer Abschaffung oder Zusammenlegung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beziehungsweise einzelner Sender vorgebracht – oder eine Reduktion seiner Strukturen und Angebote gefordert. Diese Kritik kommt oft, aber nicht ausschließlich, von populistischen Akteurinnen und Akteuren, zum Beispiel von der AfD oder aus der "Querdenker"-Bewegung. Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk tragen zum vielstimmigen Chor der Kritikerinnen und Kritiker bei: So stand 2022 der RBB im Fokus einer solchen Debatte. Seiner damaligen Intendantin Patricia Schlesinger, die schließlich ihr Amt aufgab, wurden Vetternwirtschaft, Vorteilsnahme und Verschwendung vorgeworfen – und schnell zog der Skandal Kreise und erfasste weitere Sendeanstalten. Nicht nur außerhalb, auch innerhalb der ARD und des öffentlich-rechtlichen Systems wurden die Rufe nach grundlegenden Reformen lauter. Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen Die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen wird am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt. Eine erste Pilotstudie fand 2008 statt, seit 2015 gab es jedes Jahr im Herbst/Winter eine Befragungsstudie zum Medienvertrauen. Im Jahr 2021 setzte die Datenerhebung einmalig aus. Die Studie ist wissenschaftlich unabhängig und wird seit der aktuellen Welle (2022) von der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt. Die Unterstützung dient dazu, die Kosten des Umfrage-Dienstleisters zu tragen. Konzeption und Auswertung der Studie liegen in Händen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Untersucht werden die Entwicklung, Ursachen und Folgen von Medienvertrauen. Für die Befragungswelle 2022 wurden im Dezember bundesweit 1200 Bürgerinnen und Bürger ab 18 Jahren in einer repräsentativen Telefonumfrage (CATI) durch das Meinungsforschungsinstitut Kantar befragt – ein kleiner Teil der Stichprobe wurde nach dem Jahreswechsel ergänzt (103 Interviews). Bei einer Sicherheitswahrscheinlichkeit von 95 Prozent beträgt die statistische Fehlertoleranz maximal 3 Prozentpunkte. Anlässlich der oben umrissenen Debatten über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk fragten wir in dieser Welle erstmals gezielt nach diesbezüglichen Einstellungen der Menschen. Medienvertrauen in Krisenzeiten Ganz allgemein gesprochen, gibt (und gab) es entgegen vielen mehr oder minder populären Mutmaßungen in Deutschland keine generelle Krise des Medienvertrauens. Im internationalen Vergleich rangiert das Vertrauen der Deutschen in ihre Medien nach wie vor auf einem hohen Niveau. Ende des Jahres 2022 stimmten 49 Prozent der Befragten der Aussage zu: "Wenn es um wirklich wichtige Dinge geht – etwa Umweltprobleme, Gesundheitsgefahren, politische Skandale und Krisen – kann man den Medien vertrauen" (Abbildung 1). In den Jahren vor der Pandemie schwankte der Wert zwischen 41 und 44 Prozent. Am Ende des Corona-Jahres 2020 hatte die Zustimmung bei 56 Prozent gelegen. Wie wir im Kontext der Pandemie vermuteten, war der damals gemessene Höchstwert eine Ausnahme: Im ersten Pandemie-Jahr war die Unsicherheit in der Bevölkerung immens. Die Corona-Krise stellte unter allen anderen Krisen eine Ausnahmesituation dar – das Ausmaß an Unsicherheit und persönlicher Betroffenheit war nie zuvor so hoch, und auch der Bedarf nach verlässlichen Informationen war so hoch wie nie zuvor. Die Bürgerinnen und Bürger nahmen die Informations- und Orientierungsleistung der Medien stärker als sonst in Anspruch und würdigten sie mit einem entsprechend gestiegenen Vertrauen. Nach dem Abklingen der Pandemie sank das Vertrauen jedoch nicht auf den Status quo ante zurück, sondern hielt sich deutlich über den langjährigen Werten der Jahre vor der Pandemie. Parallel dazu liegt der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die den Medien eher nicht oder gar nicht vertrauen, 2022 mit 20 Prozent etwas höher als im Corona-Jahr 2020. Aber auch hier wurde das vorpandemische Niveau von 2019 nicht erreicht. Dennoch hält knapp jede beziehungsweise jeder Fünfte die Medien für nicht vertrauenswürdig – der harte Kern der Kritikerinnen und Kritiker der Medien hat sich seit den Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise verfestigt und bleibt mehr oder weniger unverändert bestehen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Krisenzeiten Das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist trotz der jüngsten Diskussionen und Skandale hoch. Er rangiert im Ranking der vertrauenswürdigsten Mediengattungen nach wie vor auf Platz eins. Das Vertrauen ist 2022 gegenüber den Vorjahren jedoch zurückgegangen – ein Rückgang, der sich bei anderen Mediengattungen nicht gleichermaßen nachzeichnen lässt. Noch immer liegt der öffentlich-rechtliche Rundfunk vor den Lokalzeitungen sowie den überregionalen Zeitungen, der Abstand ist allerdings geringer geworden. 2022 hielten 62 Prozent der Deutschen das öffentlich-rechtliche Fernsehen (inklusive aller seiner im Internet verfügbaren Angebote) für sehr oder eher vertrauenswürdig (Abbildung 2) – 2020 waren es 70 Prozent, zuvor schwankte der Wert zwischen 65 und 72 Prozent. Zum Vergleich: Das private Fernsehen halten nur zwischen 17 und 29 Prozent der Befragten für sehr oder eher vertrauenswürdig. Da sich ansonsten keine deutlichen Verschiebungen beim Vertrauen in bestimmte Mediengattungen zeigen, lässt sich der Rückgang beim Vertrauen in das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Jahr 2022 vorsichtig als Reaktion auf die jüngsten Skandale und Reformdebatten deuten, die ein erheblicher Teil der Bevölkerung wahrgenommen hat. Konkret nach den "jüngsten Problemen und Skandalen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, beispielsweise um die rbb-Intendantin Schlesinger" gefragt, gab eine knappe Mehrheit (51 Prozent) an, sie hätte "viel" oder "sehr viel" von den Problemen und Skandalen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mitbekommen. Nur 14 Prozent sagten, sie hätten davon gar nichts mitbekommen, und 33 Prozent antworteten "nicht viel" (2 Prozent "weiß nicht"). Viele Bürgerinnen und Bürger artikulieren auf unsere Fragen hin Reformbedarf: 40 Prozent stimmten der Aussage zu, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei zu aufgebläht und bürokratisch. Ähnliche Zustimmungswerte erreichten die Aussagen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk verschwenderisch mit den Rundfunkbeiträgen umgehe (38 Prozent) und dass er zu eng mit der Politik verflochten sei (37 Prozent). 30 Prozent der Befragten waren "eher" oder "voll und ganz" der Ansicht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk streng genug kontrolliert werde, 40 Prozent wiederum meinten, dass er die Vielfalt der Meinungen in der Gesellschaft angemessen darstelle. Trotz solcher Kritik äußert eine große Mehrheit im Grundsatz Rückhalt: 72 Prozent stimmten der Aussage zu, dass die Informationsangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wichtig seien. 62 Prozent stimmten der Aussage zu, der öffentlich-rechtliche Rundfunk leiste einen wichtigen Beitrag zur Demokratie. 54 Prozent waren mit den Informationsangeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zufrieden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass eine Mehrheit den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Institution im Prinzip gutheißt und bewahren will, seine konkreten Strukturen und Profile allerdings auf mehr oder weniger starke Kritik stoßen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Wahrnehmung der Skandale die Bewertung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beeinflusst. Dazu stellen wir Personen, die angaben, von den Skandalen viel oder sehr viel mitbekommen zu haben, diejenigen Menschen gegenüber, die von sich sagten, nicht viel oder gar nichts von den Skandalen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mitbekommen zu haben (Tabelle 1). Die Rückmeldungen beider Gruppen unterscheiden sich zum Teil sehr deutlich: Während diejenigen, die viel von den Skandalen mitbekommen haben, zu 52 Prozent angaben, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei zu aufgebläht und bürokratisch, wurde dieser Kritikpunkt von nur 28 Prozent derjenigen geäußert, die wenig oder nichts von den Skandalen wussten. Bei der Zustimmung zur Aussage, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei zu eng mit der Politik verflochten, unterschieden sich die beiden Gruppen jedoch kaum (38 vs. 35 Prozent). Generell gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Skandale und der Einstellung zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk – in vielen Punkten äußerten gerade diejenigen, die die Skandale medial nachverfolgt haben, sogar eher positive Urteile. Um zu überprüfen, in welchen Fällen die Wahrnehmung der Skandale die Bewertung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks überzufällig und signifikant beeinflusst, haben wir zur statistischen Absicherung multivariate Regressionsanalysen gerechnet. Die jeweilige Bewertungsdimension (zum Beispiel "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist zu aufgebläht und bürokratisch") ging dabei jeweils als abhängige, also zu erklärende Variable in die Berechnung ein. Die Frage, ob die Menschen viel oder wenig/nichts von den Skandalen mitbekommen hatten, wurde als unabhängige Variable, also als Erklärvariable, in die Analyse aufgenommen. Als Kontrollvariablen wurden die Nutzungshäufigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sowie Alter, Bildung und Geschlecht einbezogen. Auf diese Weise ließ sich bei zwei der Bewertungsdimensionen in der multivariaten Kontrolle ein statistisch signifikanter Zusammenhang finden – und zwar bei den Aussagen "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist zu aufgebläht und bürokratisch" und "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird streng genug kontrolliert": Diejenigen, die mehr von den Skandalen mitbekommen hatten, bewerteten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinsichtlich der Einschätzung als "aufgebläht und bürokratisch" schlechter und bezüglich der Frage, ob er streng genug kontrolliert würde, besser. Tatsächlich ist es nicht ganz trivial, aus den zum Teil nur geringen Prozentwertunterschieden größere Unterschiede in den Wahrnehmungen des Publikums herauszulesen. Auch gilt es jeweils die multivariate Betrachtung zu berücksichtigen. Und schließlich treffen die verwendeten Statements inhaltlich sehr unterschiedliche Aussagen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: So sind vor allem die nicht signifikanten Aussagen eher genereller Natur und haben weniger mit der Wahrnehmung der konkreten Skandale zu tun. Aus den durchaus komplexen Anforderungen bei der Interpretation dieser Befunde folgt sicherlich weiterer Forschungsbedarf. Abschließend dürfte besonders die Frage von Interesse sein, welche Faktoren generell zu einer größeren Vertrauenszuschreibung an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk beitragen. Auch hier bietet sich eine multivariate Betrachtung im Rahmen einer Regressionsanalyse an: Auf diese Weise soll der Einfluss verschiedener möglicher Erklärungen auf das Entstehen eines hohen beziehungsweise niedrigen Vertrauens in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemeinsam betrachtet werden. Die Vertrauenswürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks war somit die abhängige Variable, unabhängige Variablen waren die Frage, wie viel die Menschen von den Skandalen mitbekommen haben, die Nutzungshäufigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sowie Alter, Geschlecht und Bildung. Die größte Erklärungskraft geht dabei von der Nutzung aus: Wer öffentlich-rechtliches Fernsehen häufiger nutzt, vertraut ihm auch stärker. Ebenfalls groß ist der Einfluss des Alters – jüngere Menschen haben ein größeres Vertrauen. Eine höhere formale Bildung führt ebenfalls zu mehr Vertrauen. Diese Befunde stehen im Einklang mit bisheriger Forschung zum Vertrauen in die Medien als gesellschaftliche Institution. Die Wahrnehmung der Skandale beeinflusst die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht, ebenso wenig wie das Geschlecht. Fazit In Krisenzeiten müssen sich die Menschen ganz besonders auf die Medien verlassen können. In Deutschland tun die Bürgerinnen und Bürger das auch zu einem großen Anteil – sowohl in ruhigeren Phasen, als auch in Hochphasen von Krisen haben sie das Gefühl, sich auf die Informationen aus den Medien verlassen zu können. Es hat sich jedoch über die Jahre ein harter und nicht zu vernachlässigender Kern an eindeutig misstrauischen Bürgerinnen und Bürgern verfestigt. Eine besondere Rolle spielt in der deutschen Medienlandschaft der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er genießt eine prinzipiell hohe Reputation und ein positives Image. Ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger findet ihn vertrauenswürdig und weiß seine besondere Informations- und Orientierungsfunktion in unserer Gesellschaft zu schätzen. Ein leichter Vertrauensrückgang im Jahr 2022 weist den Daten der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen zufolge zwar darauf hin, dass die Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht spurlos an diesem vorübergegangen sind. Einen wirklichen Vertrauenseinbruch gab es aber nicht – und die Wahrnehmung der Skandale beeinflusste die Bewertung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur zum Teil, etwa hinsichtlich der konkreten Kritikpunkte einer zu großen Bürokratie und fehlender Kontrolle, jedoch nicht im Hinblick auf seine grundlegende Legitimität oder Vertrauenswürdigkeit. Einen wesentlich größeren Einfluss auf die Bewertung und auf die Vertrauenseinschätzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben die Nutzungserfahrungen der Menschen. Jedoch gehört gerade bei den jüngeren Menschen der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht mehr standardmäßig zum Medienrepertoire. Zwar besteht für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland kein Grund zu umfassender Besorgnis – auf Vorschusslorbeeren ausruhen kann er sich jedoch nicht. Vgl. Peter Van Aelst et al., Does a Crisis Change News Habits? A Comparative Study of the Effects of COVID-19 on News Media Use in 17 European Countries, in: Digital Journalism 9/2021, S. 1208–1238. Vgl. Christina Viehmann/Marc Ziegele/Oliver Quiring, Communication, Cohesion, and Corona: The Impact of People’s Use of Different Information Sources on their Sense of Societal Cohesion in Times of Crises, in: Journalism Studies 23/2022, S. 629–649. Vgl. Eva Holtmannspötter/Angela Rühle, Medienleistungen in den Augen des Publikums, in: Media Perspektiven 9/2022, S. 446–456. Vgl. Nikolaus Jackob et al., Medienvertrauen in Deutschland, Bonn 2023. Vgl. Klaus Beck, Das Mediensystem Deutschlands. Strukturen, Märkte, Regulierungen, Wiesbaden 2018. Vgl. Jackob et al. (Anm. 4). Vgl. Christian Buß/Anton Rainer, Das Gift des Misstrauens, in: Der Spiegel, 17.9.2022, S. 76f. Vgl. Tom Buhrow, Wir müssen die große Reform wagen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.2022, S. 13; "Es braucht eine Umverteilung", Doppelinterview mit Eva-Maria Lemke und Olaf Sundermeyer, in: Journalist, Oktober 2022, S. 26–33; "Wenn wir das tun, wird es Halligalli geben", Spiegel-Gespräch mit Tom Buhrow und Kai Gniffke, in: Der Spiegel, 17.12.2022, S. 64ff. Vgl. Reuters Institute, Digital News Report 2022, Juni 2022, Externer Link: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2022-06/Digital_News-Report_2022.pdf. Vgl. Ilka Jakobs et al., Medienvertrauen in Krisenzeiten. Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen 2020, in: Media Perspektiven 3/2021, S. 152–162. Vgl. Tanjev Schultz et al., Medienvertrauen nach Pandemie und "Zeitenwende". Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen 2022, in: Media Perspektiven 8/2023, S. 1–17. Vgl. ebd. F(5,1144)=33860***; korrigiertes R-Quadrat=.125. Vgl. Ilka Jakobs et al., Welche Personenmerkmale sagen Medienvertrauen voraus? Der Einfluss von Charakteristika der Rezipientinnen und Rezipienten auf Vertrauen in Medien im Zeitverlauf, in: Publizistik 66/2021, S. 463–487. Vgl. Anne Schulz/David A.L. Levy/Rasmus Kleis Nielsen, Old, Educated and Politically Diverse: The Audience of Public Service News, Reuters Institute Report, Oxford 2019, Externer Link: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2019-09/The_audience_of_public_service_news_FINAL.pdf.
Article
Jakobs, Ilka | Jackob, Nikolaus | Schultz, Tanjev | Ziegele, Marc | Quiring, Oliver | Fawzi, Nayla | Schemer, Christian | Stegmann, Daniel | Viehmann, Christina
"2023-07-07T00:00:00"
"2023-06-14T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/oeffentlich-rechtlicher-rundfunk-2023/521979/medienvertrauen-in-krisenzeiten/
In Zeiten von Unsicherheit sind verlässliche Informationsquellen besonders wichtig. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk genießt hohes Vertrauen, Kritik und Skandale bleiben aber nicht völlig folgenlos.
[ "öffentlich-rechtlicher Rundfunk", "Medienvertrauen", "Informationsversorgung", "Kritik", "Reformdiskussion", "Krise", "Skandale", "öffentlich-rechtliches Fernsehen", "privates Fernsehen", "Medienlandschaft" ]
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Virtueller Jihad | Islamismus | bpb.de
Sie fuhren gern Auto - nicht etwa um mit wilden und schnellen Fahrten die Observationsteams abzuschütteln; sie wollten bei der elektronischen Verfolgungsjagd die Nase vorn haben. Und dafür waren die häufigen Autofahrten und ein paar technische Tricks, so glaubten sie, das einfachste Mittel. Die mutmaßlichen Terroristen, die im September 2007 im Sauerland beim Mischen einer Bombe verhaftet wurden, waren fest davon überzeugt, dass die Fahnder, die sie seit Monaten im Visier hatten, ihre wahren Absichten nicht kannten; dass ihre Pläne für Terroranschläge auf amerikanische Militäreinrichtungen, Flughäfen und Diskotheken verborgen geblieben waren. Hochkonspirativ, mit geheimdienstlichen Methoden, hatten sie kommuniziert und das Internet für ihre Zwecke genutzt. Bei den Autofahrten durch die Straßen von Ulm wählten sie sich per Laptop in ungesicherte Drahtlosnetzwerke von Anwohnern ein. Wenn die W-LAN-Verbindung zustande kam, hielten sie kurz an, öffneten ihr Email-Konto und wendeten eine clevere Methode an, derer sich schon der Chefplaner der Terroranschläge vom 11. September 2001, Khalid Sheikh Mohammed, häufig bedient hatte. Er richtete sich eine Email-Adresse bei einem großen Email-Dienst wie hotmail oder gmx ein. Dann schrieb er einen Entwurf für eine Nachricht, schickte sie aber nicht ab. Stattdessen gab er seine Email-Adresse und das Passwort in einem, ebenfalls mit Passwort geschützten, Chatroom an einen "Bruder" weiter. Der konnte sich damit auf dem Email-Server den Entwurf ansehen. Die Nachricht selbst wurde dabei niemals versendet und konnte deshalb auch nicht von den Computerexperten der Geheimdienste abgefangen werden. Nach dem Vorbild Khalid Sheikh Mohammeds eröffneten auch die Terrorverdächtigen in Deutschland häufig neue Email-Konten; so war es beinahe unmöglich für die Ermittler, die Kommunikation der Terroristen zu überwachen. Dass die Anschlagspläne dennoch vereitelt wurden, ist der Tatsache zu verdanken, dass die Verdächtigen im Gespräch in ihren verwanzten Wohnungen und Autos unvorsichtig waren. Neue Generation von Gotteskriegern Die neue Generation der Gotteskrieger ist mit modernsten Technologien aufgewachsen und hat die Multimedialität des Terrors perfektioniert. Das Internet wimmelt geradezu von ihren Produkten. Die Ideologie Al-Qaida und die ihr verbundenen Terrorgruppen präsentieren sich dort als hypermodernes Projekt zur Lösung der sozialen und politischen Probleme weltweit. Es ist eine Mischung aus dem ideologischen Fangnetz einer islamistischen Internationalen und einer Selbsthilfegruppe für orientierungslose Jugendliche, die ihrem Leben zwischen der sinnentleerten Spaßgesellschaft, der dumpfen Globalisierungsangst und der sozialen Ungerechtigkeit eine neue Richtung geben wollen. Quer durch Europa lassen sich junge Leute für diese Ideen begeistern, so war es bei den Terroranschlägen von London im Juli 2007 und Madrid im März 2004. An diesen Ereignissen, genau wie an den Vorfällen in Deutschland im September 2007, wird deutlich, wie diese Terrorbedrohung aussieht. Immer sind es lose Kennverhältnisse, die die Verdächtigen zusammenbringen. Sie kennen sich, vielleicht sogar aus gemeinsamen Aufenthalten in Trainingslagern (vgl. Chivers, C.J. und Rohde, David), und sie helfen sich gegenseitig, ohne groß Fragen zu stellen. Zusammengehalten wird dieses Netz von einer gemeinsamen Ideologie - und die nennen wir Al-Qaida, die eben keine Organisation mehr ist, sondern eine Weltanschauung, die Gewalt als Selbstverteidigung und Widerstand rechtfertigt. Nach Auskunft des Vorstehers der marokkanischen Gemeinde von Madrid, Herrn el-Khamouni, sei nach den Vorschriften des Koran der Jihad im Irak und Israel absolut gerechtfertigt, denn da würden Muslime ja unterdrückt und angegriffen, also müssten sie sich selbst verteidigen. Anschläge auf Zivilisten sind erlaubt. Schließlich töte die andere Seite ja auch Zivilisten, z. B. wenn israelische Panzer Häuser im Flüchtlingslager von Jenin platt walzen und dabei Frauen und Kinder sterben. Spenden für den heiligen Krieg sind sogar Pflicht, schließlich ist das Spenden eine der Säulen des Islam. Und in diese Gebiete zu ziehen und mitzukämpfen – Jihad-Tourismus – ist absolut in Ordnung, denn es gilt ja, den Unterdrückten innerhalb der Gemeinschaft zu helfen. Nicht in Ordnung aber sind Anschläge in westlichen Ländern. Warum nicht? Schließlich, so Herr el-Khamouni, werde man hier ja nicht angegriffen und unterdrückt, also habe man auch kein Recht zur Selbstverteidigung. Aber es gibt da zwei Probleme: Wenn Terror anderswo in Ordnung ist, dann wäre es doch nur ein winziger Schritt zu sagen: Vielleicht kann ich den Unterdrückten nur helfen und ein Ziel anderswo nur erreichen, wenn ich einen Anschlag hier verübe. Rechtfertigt dann nicht der Zweck die Mittel? Genau das ist in Madrid geschehen. Und das Schlimme dabei: Das Kalkül der Terroristen ist aufgegangen. Die pro-amerikanische Regierung Aznar wurde abgewählt und Nachfolger Zapatero zog die spanischen Truppen aus dem Irak ab – für die Terroristen ein Sieg auf der ganzen Linie. Absehbare Bedrohung Seitdem halten Islamisten quer über den Kontinent auch Anschläge in Europa für gerechtfertigt. Es war und ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis auch in Deutschland Bomben explodieren. Die fehlgeschlagenen Attacken der Kofferbomber 2006 und die vereitelten Pläne der Terrorzelle aus Ulm und Saarbrücken 2007 sind deutliche Warnungen. So wie das Video, das im Juni 2007 im Internet auftauchte. Eine Aussendungsfeier von Absolventen der Terrorlager in Pakistan. Eine der Abteilungen sollte – das geht aus dem Band hervor – den Auftrag haben, nach Deutschland einzusickern, um dort Anschläge zu verüben. Die Sicherheitsbehörden waren alarmiert, weil immer mehr junge Muslime, unter ihnen viele Konvertiten, aus Deutschland in die Trainingslager reisen. Im ersten Halbjahr 2007 wurden in der Region 13 Terrorverdächtige mit deutschem Pass oder anderem Deutschlandbezug festgenommen, ein Teil von ihnen war auf dem Rückweg nach Europa. Die Propaganda richtet sich immer stärker gegen die Bundesrepublik und das deutsche Engagement in Afghanistan. Die Medienkampagne von Taliban und Al-Qaida wird sogar in deutscher Sprache per Internet verbreitet. Wie eine Nachrichtensendung wandte sie sich an junge Männer in Deutschland selbst, um sie aufzustacheln. Zunächst zielten die Attacken noch auf deutsche Interessen in Afghanistan – zuletzt mit dem Selbstmordanschlag gegen Bundeswehrsoldaten in Kunduz, den Entführungen deutscher Staatsbürger und dem feigen Attentat auf die deutschen Polizeibeamten in Kabul. Internet: Werkzeug und Propaganda-Medium Das Internet ist zum wichtigsten Werkzeug der Al-Qaida für ihren heiligen Krieg geworden, denn es ist den Terroristen gelungen, die Funktion der Trainingslager in die virtuelle Welt zu übertragen. Durch das Internet wird bereits das Idealbild vorweggenommen, dass die selbsternannten Gotteskrieger in der Wirklichkeit mit Gewalt durchsetzen wollen: Eine virtuelle Ummah, eine weltumspannende islamische Idealgemeinschaft, an der jeder teilhaben kann, solange er Allah als seinen Gott anerkennt und gleichzeitig ein wenig Ahnung hat von Chatrooms, Modems und Message-Boards. Die Flut der Terrorpropaganda schwillt weiter an, dafür hat insbesondere der Irakkrieg gesorgt. In den vergangenen acht Jahren ist die Zahl der Internetseiten islamistischer Extremisten nach Angaben des Simon-Wiesenthal-Centers in Los Angeles von 12 auf 4.500 gestiegen. Die Terroristen im Irak und in Afghanistan dokumentieren täglich dutzende ihrer Anschläge und stellen die Bilder ins World Wide Web: Ein Militärfahrzeug mit US-Soldaten fährt eine Straße entlang. Es folgt eine Explosion und das Fahrzeug wird zerrissen. Ein Panzer rollt auf eine Gasbombe. Explosion.. Ein US-Soldat steht am Straßenrand. Explosion.. Eine Rakete ist neben ihm eingeschlagen. Manchmal filmen die Terroristen hinterher noch die zerfetzten Körper und die herumliegenden Gliedmaße. Manchmal zeigen sie uns, wie einer von ihnen mit einem sprengstoffgefüllten Auto in einen Checkpoint rast.. Manchmal drehen sie Überfälle auf Häuser, Massenerschießungen von irakischen Polizisten, Enthauptungen ausländischer Geiseln. Und alle paar Wochen schneiden sie das grausame Material zu einem "Best of" zusammen, die Highlights des selbsternannten Widerstands im Irak. Die Filme sollen jungen Muslimen weltweit wieder die doppelte Botschaft vermitteln: Wir tun was – in diesem Fall gegen die angebliche Unterdrückung von Muslimen im Irak. Und: Es ist cool mitzumachen, weil man der Supermacht Amerika endlich mal zeigen kann, wo es langgeht. Die Videos werden auf den sogenannten Dschihad- Webseiten oder in Chatrooms geparkt, so dass sie sich jeder Interessierte herunterladen kann. Mit im Angebot sind auch immer die passenden Lehrvideos für den heiligen Krieg: Man nehme zwei dünne, flexible Sprengstoffmatten, belege eine davon mit hunderten kleiner Metallkugeln. Dann wird die zweite Matte darauf gelegt und das Ganze an den Kanten rundherum säuberlich zugenäht. Man schiebe diese Sprengstoffplatte in eine Weste aus weißem Leinen. Dann wird noch der Zünder montiert. Auf dem Video sind sogar ein paar Probesprengungen mit der selbstgebastelten Weste für Selbstmordattentäter zu sehen. Ähnliche Anleitungen gibt es für den Bau von Rucksackbomben, Sprengfallen aller Art und auch für die Herstellung von chemischen und biologischen Kampfstoffen. Natürlich lassen sich die Baupläne als Schriftdatei herunterladen, z.B. für TATP, den Sprengstoff, den die Attentäter von London benutzten. Das Internet ist zu einer Art "Universität des Jihad" geworden. Osama bin Laden, der sich in seiner Videobotschaft zum 9/11-Jahrestag im September 2007 im Internet als Globalisierungskritiker inszeniert, dürfte an dieser Entwicklung seine helle Freude haben. Das Internet mit seinem fehlenden Respekt vor Grenzen und ethnischen Unterschieden ist zu einem Sammelplatz für eine "Regenbogenkoalition von Jihadisten" geworden. Das klingt harmlos, aber in Wirklichkeit formiert sich da ja eine neue Generation von Mördern und Terroristen, die die Dynamik der Bewegung im Internet vorantreibt, aber gleichzeitig auch von ihr getrieben wird – weil die Jihad- begeisterte Masse nach neuen Heldentaten zum Herunterladen giert. Die Terrorverdächtigen aus Deutschland, die zum Islam konvertierten, sich per Internet radikalisierten und ihre Anschläge planten, sind nur das jüngste Beispiel dafür. Literatur Dieser Artikel basiert zum großen Teil auf bisherigen Veröffentlichungen des Autors. Vgl. Theveßen, Elmar: Terroralarm. Deutschland und die islamistische Bedrohung. Rowohlt 2005. Vgl. Theveßen, Elmar: Schläfer mitten unter uns. Das Netzwerk des Terrors in Deutschland. Droemer 2004. Vgl. Chivers, C.J. und David Rohde: Al Qaeda´s grocery lists and manuals of killing. In: New York Times vom 17.03.2002.
Article
Elmar Theveßen
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-10-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36371/virtueller-jihad/
Die fehlgeschlagenen Attacken der Kofferbomber 2006 und die vereitelten Pläne der Terrorzelle aus Ulm und Saarbrücken 2007 sind deutliche Warnungen: Der Jihad der Extremisten hat Deutschland erreicht.
[ "Virtueller Jihad", "Jihad", "Deutschland", "Europa", "Islamismus", "Terrorismus" ]
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Analyse: Wandel durch Handel à la Onischtschenko - Wie Russlands oberster Verbraucherschützer/Sanitärarzt Außenpolitik betrieb | Russland-Analysen | bpb.de
Bei vielen seiner sogenannten "Handelskriege" gegen Georgien, die Republik Moldau, die Ukraine, die Europäische Union, die USA oder Litauen sind politische Motive deutlich erkennbar, wenngleich er sie immer abgestritten hat. Die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO, der Russland zum 22. August 2012 beigetreten ist, wird dem außenpolitisch motivierten, aggressiven Vorgehen von "Rospotrebnadsor" zusehends Grenzen setzen. Ob Onischtschenkos Abgang allerdings eine Entpolitisierung der russischen Handelspolitik bedeutet, ist noch offen. Der "Hygiene-Führer" Wer, fragen sich Spötter in Moskau, wird nach dem erzwungenen Rücktritt des Gennadij Onischtschenko künftig die Außenpolitik gestalten? Russlands oberster Arzt und Verbraucherschützer, zuständig für das "sanitär-epidemologische Wohlergehen der Bevölkerung" und die Rechte der Verbraucher, musste am 23. Oktober sein Amt aufgeben. Seit März 2004 ist er mehr als nur ein ministerieller Seuchenverwalter an der Spitze von "Rospotrebnadsor" gewesen. Unter graugesichtigen Staatsfunktionären stach er durch Showtalent und die Gabe hervor, originelle bis abstruse Redewendungen zu prägen. Eine Lachnummer war Onischtschenko allerdings nicht: Die Tabakindustrie und Alkoholproduzenten erschauerten vor dem Kämpfer für die Volksgesundheit. Onischtschenko schwankte zwischen Idealismus, Selbstgerechtigkeit und einem Dogmatismus, der ihm unter russischen Journalisten den Spitznamen "Hygiene-Führer" einbrachte. Als loyaler Helfer Wladimir Putins unterstützte Onischtschenko nicht nur im Inneren Russlands treu die Politik des Kremls, indem er im Sommer 2010 die Folgen der verheerenden Waldbrände kleinredete und im Winter 2012 "aus Gesundheitsgründen" von der Teilnahme an Demonstrationen der Opposition abriet. Er diente auch der russischen Außenpolitik. Die Liste seiner Importverbote für ausländische Waren seit 2006 liest sich wie ein Überblick über die außenpolitischen Verärgerungen der russischen Führung. Onischtschenko personifiziert die "Handelskriege" des erstarkten Russlands. Zwar gab es Handelsauseinandersetzungen schon früher, etwa im Jahr 2002, als Russland mit dem Verbot von Hühnerimporten aus den USA auf die geplante Erhöhung der amerikanischen Importzölle für Stahl reagierte. Aber sie waren vorwiegend ökonomisch begründet. Erst in der Amtszeit Onischtschenkos traten politische Motive in den Vordergrund. Moldau, Georgien, Transnistrien und Belarus Am 21. März 2006 verkündete Onischtschenko, dass georgische und moldauische Weine giftige Substanzen wie das Insektizid DDT enthielten. Vier Tage später besiegelte er ein totales Importverbot für Weine aus beiden Ländern – ein schwerer Schlag für deren Volkswirtschaften. Etwa 85 Prozent der moldauischen und 80 Prozent der georgischen Weinproduktion gingen damals nach Russland. Moldaus Budget beruhte zu 40 Prozent auf der Weinwirtschaft. . Der politische Subtext war offensichtlich: Kurz vor dem Wein-Bann hatten sich die Beziehungen Russlands zu Georgien und Moldau erheblich verschlechtert. Georgiens Präsident Michail Saakaschwili erklärte die Nato-Mitgliedschaft seines Landes als Ziel, was Russland nicht dulden wollte. Auch Moldaus Präsident Wladimir Woronin sprach von einer Integration in die Europäische Union und die Nato. Russlands Gazprom forderte als Gegenmaßnahme eine radikale Preiserhöhung für Gas ein und hatte sogar kurzzeitig die Lieferungen nach Moldau gestoppt. Die russisch-moldauischen Beziehungen verschlechterten sich zudem im Streit über die abtrünnige moldauische Republik Transnistrien, die von Russland unterstützt wird. Die "orangene" Regierung in der Ukraine hatte am 3. März zur Freude Moldaus das Grenzregime zu Transnistrien verschärft, um vor allem den für Transnistrien einträglichen Schmuggel zu unterbinden. Russland entschloss sich zum Weinboykott. Seine Hygiene- und Lebensmittelbestimmungen wurden zum Instrument der Außenpolitik. Der russisch-georgische Krieg im August 2008 brachte das bilaterale Verhältnis auf einen Tiefstand. Die diplomatischen Beziehungen wurden abgebrochen. Noch im August 2011 verkündete Onischtschenko misswillig, landwirtschaftliche Importe aus Georgien seien für Russland genauso interessant wie die aus Burkina Faso. Doch ein Jahr später änderte sich der Ton. Es zeichnete sich für die Parlamentswahl am 1. Oktober 2012 ein Wahlsieg des Oppositionsbündnisses "Georgischer Traum" von Bidsina Iwanischwili ab, der sich um einen Ausgleich mit Russland bemühen wollte. Mitte September verkündete Onischtschenko, dass der Kreml eine Wiederzulassung georgischer Weine erwäge. "Georgischer Traum" gewann die Mehrheit, und im Frühjahr 2013 endete nach gut sieben Jahren das Importverbot – aber nur auf Bewährung. Denn im Juli beschuldigte Onischtschenko die Vereinigten Staaten, in Georgien Biowaffen zu produzieren. Moskau könne, so Onischtschenko, als Reaktion auf diese Bedrohung gezwungen sein, die Einfuhr georgischen Weins zu beschränken. Der Weinimportstopp gegen Moldau wurde bereits im Oktober 2007 aufgehoben, nachdem es dem moldauischen Präsidenten Woronin gelungen war, das gestörte Verhältnis zu seinem Amtskollegen Putin zu verbessern. 2008 ging Woronin öffentlich auf Distanz zum Bündnis der westorientierten Ex-Sowjetrepubliken der GUAM-Organisation, der Moldau angehörte. Zum GUAM-Gipfeltreffen im georgischen Batumi im Juli reiste Woronin als freundschaftliche Geste gen Moskau gar nicht mehr an. Doch Importverbote blieben ständige Begleiter der Beziehungen Russlands zu Moldau. Im April 2010 erwog Onischtschenko öffentlich eine Überprüfung der "minderwertigen" Weine aus Moldau, nachdem der moldauische Präsident Mihai Ghimpu sich geweigert hatte, an der Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau teilzunehmen. Am 30. Juni kündigte Onischtschenko eine Verschärfung der Regeln für den Import moldauischen Weins an. Tage zuvor hatte Präsident Ghimpu Moskau verärgert, indem er den 28. Juni zum nationalen Trauertag über die sowjetische Annexion Moldaus 1940 erklärte und den Abzug der russischen Truppen aus Transnistrien forderte. Im Oktober 2011 kündigte Onischtschenko erneut ein Importverbot für Moldau an – diesmal allerdings hatte er Cognac aus Transnistrien im Visier. Dort bereitete sich der seit 20 Jahren herrschende Präsident Igor Smirnow auf eine weitere Amtszeit vor. Russland aber setzte auf einen jüngeren Kandidaten. Im Jahr 2009 wurde Belarus von einem Importstopp Onischtschenkos getroffen: Nach dem 6. Juni verbot Rospotrebnadsor wegen unzureichender Dokumente die Einfuhr von mehr als 500 Milchprodukten aus dem Nachbarland. Am Tag zuvor hatte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenka verkündet, Russland habe Belarus für die Anerkennung der Souveränität der abtrünnigen georgischen Republiken Abchasien und Südossetien einen Kredit über 500 Millionen Dollar geboten. Kurz davor wiederum hatte Moskau einen Kredit verweigert. Knapp zwei Wochen später beendete Russland den Bann auf belarussische Milchprodukte. Im August 2013 drohte Onischtschenko ihn jedoch erneut an. Zuvor hatte Minsk im Konflikt um das Auseinanderbrechen der Firmenkooperation zwischen Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali den Firmenchef von Uralkali verhaftet. "Lebensmittel-Patriotismus" und Außenpolitik Nicht immer verbot Onischtschenko die Einfuhr ausländischer Waren primär aus außenpolitischen Gründen. Es ging auch um ökonomische Vorteile und Binnenwirtschaftspolitik: Vom 1. Januar 2010 an verbot Russland die Einfuhr US-amerikanischer Hühnchen. Experten vermuteten Protektionismus als Hauptmotiv. Die Unterstützung einheimischer Produzenten hat Onischtschenko, der "Lebensmittel-Patriotismus" pries und Burger und Sushi als unrussisch ablehnte, immer am Herzen gelegen. Schon im September 2009 hatte er Milchproduzenten in Russland gescholten, weil sie den Importstopp für belarussische Produkte nicht genutzt hätten, um ihren Marktanteil zu erhöhen. Noch im Januar 2010 gab Premierminister Putin das Ziel aus, im Jahr 2015 ohne Hühnerimporte auszukommen. Onischtschenkos Einfuhrstopp half bei der Umsetzung: Neun Monate später stellte Putin zufrieden fest, dass die Hühner-Importe aus den USA von 1,5 Millionen auf 300.000 Tonnen gefallen seien. Die meisten der spektakulären Entscheidungen Onischtschenkos aber reagierten augenscheinlich auf außenpolitische Konflikte: Der EU-Russland-Gipfel im Juni 2011 ging als "Gurken-Gipfel" in die Geschichte ein. Russland hatte zuvor die Einfuhr von Gemüse aus der Europäischen Union wegen einer möglichen Verseuchung mit E. coli-Bakterien verboten. Obwohl Russlands Befürchtungen vor verseuchten Einfuhren verständlich war, spiegelte die drastische Maßnahme doch das schwierige Verhältnis der Partner wider: Die russische Regierung war verärgert über die Ignoranz, auf die Präsident Medwedews Initiative für eine europäische Sicherheitsarchitektur in Europa gestoßen war. Zudem hakten die Verhandlungen über ein vereinfachtes Visumsregime. Eine Resolution des Europaparlaments, die einen russischen Truppenabzug aus Abchasien und die Genehmigung von gay parades einforderte, spitzte den Konflikt noch zu. Im November 2011 schlug Onischtschenko vor, alle tadschikischen Gastarbeiter wegen der möglichen Verbreitung von Krankheiten aus Russland zu verbannen. Zuvor hatte ein Gericht in Tadschikistan einen russischen Piloten wegen angeblichen Schmuggels und illegalen Grenzübertritts zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Pilot kam bald darauf frei. Anfang Januar 2013 belegte Onischtschenko US-Fleischimporte mit einem Bann. Die antiamerikanische Stimmung in Russland hatte damals einen Höhepunkt erreicht, nachdem Präsident Barack Obama im Dezember 2012 die Magnizkij-Liste mit einem Einreiseverbot für gut ein Dutzend russische Staatsbürger, die Menschenrechte verletzt haben sollen, unterschrieben hatte. Russland reagierte mit einem Gesetz, das US-Bürgern die Adoption russischer Kinder verbot, und mit diesem Importstopp. Über mehr als ein Jahr lang warf zudem der Vilnius-Gipfel am 28./29. November seine Schatten voraus. In der litauischen Hauptstadt sollen mehrere frühere Sowjetrepubliken, darunter die Ukraine und Moldau, ein Assoziierungsabkommen mit der EU abschließen. Im September verbot Onischtschenko erneut die Einfuhr moldauischer Alkoholika. Anfang 2012 hatte er schon die Käseprodukte dreier ukrainischer Produzenten ausgesperrt. Ukrainische Politiker erkannten darin den Versuch, die Ukraine in Russlands Zollunion mit Belarus und Kasachstan zu treiben. Im Juli dieses Jahres verbot Onischtschenko Konfekt des ukrainischen Unternehmens "Roschen", zuerst wegen "Gesundheitsgefährdung", dann wegen einer angeblich unzureichenden Auflistung aller Bestandteile auf der Packung. Sogar Gipfelgastgeber Litauen, das dem EU-Rat vorsitzt, wurde mit einem Importstopp für Milchprodukte bedacht. Litauen hatte schon vor einem Jahr den Unwillen Moskaus mit der Entscheidung hervorgerufen, ein Gerichtsverfahren gegen Gazprom wegen überhöhter Gaspreise anzustrengen. Wegen Russlands Importverbot will die litauische Regierung die Welthandelsorganisation WTO anrufen. Onischtschenkos Ablösung Die Handelsverbote, die Onischtschenko anstrengte, wirkten zumeist wie spontane Maßnahmen, die keiner Strategie folgten und ohne eine Analyse ihrer Folgen getroffen wurden. Oft waren sie unklug und kontraproduktiv, da sie in den betroffenen Ländern eine Trotzreaktion auslösten. Doch das muss nicht der Grund für das abrupte Ende der Dienstzeit Onischtschenkos gewesen sein. Wie meist bei Moskaus Personalrochaden gibt es offiziell nur formelhafte Erklärungen. Manche Kommentatoren halten einen Konflikt hinter den Kulissen zwischen den konkurrierenden Aufsichtsbehörden Rospotrebnadsor und Rosselchosnadsor, das für die Veterinär- und Pflanzenkontrolle zuständig ist, für eine Erklärung. Andere spekulieren über ein gestörtes Verhältnis Onischtschenkos zum Regierungschef Medwedew. Onischtschenko habe nur auf Putin gehört und mit seinen Handelsattacken gegen andere Länder Medwedew aufgebracht. Manche Moskauer Analytiker setzen nun auf Onischtschenkos Nachfolgerin, seine frühere Stellvertreterin Anna Popowa. Doch die Hoffnung auf ein Ende der Vermischung von Sanitär- und Außenpolitik und eine Handelspolitik, die besser auf die Anforderungen einer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO angepasst ist, könnte trügerisch sein. Anfang Oktober, auf dem Höhepunkt der diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen den Niederlanden und Russland, profilierte sich bereits Onischtschenkos Konkurrenzbehörde Rosselchosnadsor ganz in seinem Geiste: Sie erwog plötzlich das Verbot holländischer Tulpen – wegen ihrer "unbefriedigenden Qualität".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-11-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/173414/analyse-wandel-durch-handel-a-la-onischtschenko-wie-russlands-oberster-verbraucherschuetzer-sanitaerarzt-aussenpolitik-betrieb/
Am 23. Oktober musste der Chef der föderalen Aufsichtsbehörde für Verbraucherschutz und Gesundheit ("Rospotrebnadsor"), Gennadij Onischtschenko, überraschend zurücktreten. Die Analyse zeigt, wie der 63-jährige Onischtschenko in den mehr als neun Jahr
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Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg: Wahl-O-Mat erzielt erneut Nutzungsrekorde | Presse | bpb.de
Die Bundesländer Sachsen und Brandenburg haben gewählt. Dabei haben die Bürger verstärkt den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb genutzt, um sich im Vorfeld über die Positionen der politischen Parteien zu informieren. Bei beiden Landtagswahlen wurde ein neuer Nutzungsrekord aufgestellt. In Sachsen haben sich die Nutzungszahlen des Wahl-O-Mat mehr als verdoppelt von 282.000 im Jahr 2014 auf 589.606 in diesem Jahr. Auch in Brandenburg gibt es mit 314.569 Nutzungen einen neuen Rekord. 2014 hatten rund 121.000 Nutzer den Wahl-O-Mat gespielt. Bei der Europawahl 2019 erzielte der Wahl-O-Mat eine Reichweite von über 9,8 Millionen Nutzungen, die sich im Vergleich zur Europawahl im Jahr 2014 mit 3,9 Millionen Nutzungen mehr als verdoppelt hat. Bereits seit 2002 gibt es den Wahl-O-Mat der bpb. Er hat sich seitdem zu einer festen Informationsgröße im Vorfeld von Wahlen etabliert. Die 38 zu beantwortenden Thesen werden von einem Team aus Jung- und Erstwählern der jeweiligen Bundesländer mit der Unterstützung von Wissenschaftlern, Journalisten und Pädagogen erstellt. Die Antworten werden direkt von den Parteien gegeben und autorisiert. Bisher wurde der Wahl-O-Mat insgesamt bereits über 80 Millionen Mal genutzt. Der nächste Wahl-O-Mat zur Wahl in Thüringen geht am 25. September 2019 online. Hintergrundinformationen zum Wahl-O-Mat sind zu finden unter: wwww.bpb.de/wahl-o-mat Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-12T00:00:00"
"2019-09-09T00:00:00"
"2021-08-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/296722/landtagswahlen-in-sachsen-und-brandenburg-wahl-o-mat-erzielt-erneut-nutzungsrekorde/
Die Bundeszentrale für politische Bildung zieht eine positive Bilanz für die vergangenen Landtagswahlen – fast 600.000 Nutzungen in Sachsen und über 300.000 in Brandenburg
[ "Landtagswahlen", "Wahl-O-Mat", "Sachsen", "Brandenburg" ]
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Von magischen Praktiken zu systemischen Risiken | Risikokompetenz | bpb.de
Unsicherheit ist ein Phänomen, das nicht nur Menschen betrifft. Auch Tieren kann es passieren, dass sie nicht recht wissen, was zu tun ist. Allerdings sind ihre Reaktionen instinktgesteuert und damit recht vorhersehbar. Bei Menschen hingegen ist die Instinktprägung nur noch in Schwundformen vorhanden. Zwar weist auch der Mensch in seinem Verhalten Automatismen auf. Aber sofern er grundsätzlich so oder auch anders handeln kann, ist er "weltoffen" und verfügt genau deshalb über eine grundsätzliche Erfahrung von Unsicherheit. Interessanter als diese existenzielle Unsicherheit (als Voraussetzung von Handlungsfähigkeit) ist freilich, dass der Umgang mit Unsicherheit bei uns Menschen keineswegs einheitlich ausfällt. Wie Menschen mit Unsicherheit umgehen, unterscheidet sich sowohl individuell wie gesellschaftlich. Oder anders formuliert: Was als Unsicherheit wahrgenommen wird, ist gesellschaftlich ebenso geprägt wie die Art und Weise, wie auf Unsicherheiten reagiert wird. Unsicherheitskonstruktionen Exemplarisch sei auf den von Mary Douglas und Aaron Wildavsky beschriebenen Fall der Lele verwiesen. Die Mitglieder dieses Stammes in der heutigen Republik Kongo haben eine relativ geringe Lebenserwartung und sind tagtäglich durch diverse Bedrohungen gefährdet. Diese reichen vom Schlangenbiss bis hin zu Infektionskrankheiten. Von der Vielzahl der Bedrohungen werden allerdings nur drei explizit wahrgenommen: Unfruchtbarkeit, die Möglichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, und Bronchitis. Die "Sicherheitsstrategien", also die Maßnahmen, mit denen sich die Lele vor Blitzschlag, Unfruchtbarkeit und Bronchitis zu schützen versuchen, entsprechen kaum den Rationalitätskriterien, wie sie für Mitglieder okzidentaler Kulturen üblich sind. So besteht die Bronchitisprävention nicht darin, sich um heilklimatische Bedingungen zu bemühen. Stattdessen kommen magische Praktiken zum Einsatz, wie Beschwörungen oder Amulette, und Ähnliches gilt für die Maßnahmen im Umgang mit Unfruchtbarkeit und Blitzschlag. Dies ist insofern naheliegend, als Bronchitis und Unfruchtbarkeit für die Angehörigen des Lele-Stammes keine "somatischen", den Körper betreffenden Ursachen haben; sie erklären sich vielmehr aus Verfehlungen der Einzelnen, die aus okzidentaler Perspektive eher diffus anmuten. Denn die potenziellen Verfehlungen sind nur ex post sichtbar und können den Handelnden kaum selber zugerechnet werden. Sie verweisen stattdessen auf das Wirken unheilvoller Kräfte, die permanent aktiv sind und gleichermaßen belohnen wie bestrafen können. Sie sind den aktiven Handlungsmöglichkeiten entzogen, und gerade deshalb kann man den Gefahren auch nur mit magischen Praktiken begegnen. Derartige magische Praktiken lassen sich nicht nur in Jäger- und Sammlergesellschaften beobachten. Im europäischen Mittelalter waren abergläubische Sicherungsstrategien ebenso verbreitet wie die traditionelle Naturfurcht, die erst mit der Aufklärung an Bedeutung verlor. Aber auch in modernen Gesellschaften sind magische Elemente verbreitet. Erinnert sei nur an die Beliebtheit des vierblättrigen Kleeblatts als Glücksbringer oder an die Christophorus-Plakette, die das Fahrzeug katholischer Autobesitzer vor Unfällen schützen soll. Andererseits sind Kleeblatt, Christophorus-Plakette und andere Glücksbringer nicht der Normalfall im Umgang mit Unsicherheit. Als typisch moderne Form kann vielmehr ein spezifisches Unsicherheitskonzept gelten, nämlich das des Risikos, das meist in Abgrenzung vom Konzept der Gefahr beschrieben wird. Risiko und Gefahr verweisen auf zwei unterschiedliche Formen der Konstitution und Handhabung von Unsicherheit, die es nebeneinander nur in der Moderne gibt. Oder am Beispiel formuliert: Die Lele kennen sehr wohl Gefahren, die "irgendwie" von außen kommen; sie kennen aber keine Risiken, da dieser Typus von Unsicherheit an ein modernes Welt- und Selbstverständnis gebunden ist. Risiko als Unsicherheitstypus der Moderne Dass Risiken im Vergleich zu Gefahren eine vergleichsweise junge Angelegenheit sind, zeigt ein Blick auf die Etymologie des Risikobegriffs. Die ist zwar selbst unsicher. Aber nachgewiesen und abgegrenzt von anderen Unsicherheitsmustern findet sich die Rede vom "Risiko" zunächst in den italienischen Stadtstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts. Genauer noch taucht sie im Kontext des Fern- und speziell des Seehandels auf. Dieser war eine ebenso aufwendige wie unsichere Angelegenheit und nicht immer von Erfolg gekrönt. Schiffe konnten untergehen oder gekapert werden, Wege unpassierbar sein, Waren verderben. Genau diese Unsicherheiten wurden freilich nicht als "Gefahren", sondern als "Risiken" bezeichnet. Der Kaufmann, der sie einging, war jemand, der etwas "riskierte", das heißt: "wagte" (ital. rischiare). Er unterwarf sich nicht den Unsicherheiten, sondern forderte sie kalkulierend heraus und spekulierte gleichzeitig auf ein Quäntchen Glück. Zwar blieb zunächst offen, ob die Kalkulation richtig und das Glück ihm hold war. Aber im Erfolgsfall konnte er sich mit Reichtümern schmücken; bei einem Misserfolg ging er hingegen pleite, wobei dies von den Zeitgenossen (und zähneknirschend auch von ihm selber) als letztlich normal akzeptiert wurde – wenngleich man sich gegen mögliche Misserfolge schon früh durch eine "Risikogemeinschaft" zu versichern versuchte. Eine risikoorientierte Einstellung gegenüber Unsicherheiten konnte erst zu einer bestimmten Zeit und unter angebbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen entstehen. Sie setzt das voraus, was Max Weber als "okzidentale Rationalisierung" und "Entzauberung der Welt" bezeichnet hat. Für Weber verwies die okzidentale Rationalisierung weniger auf "eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen", sondern "sie bedeutet etwas anderes: Das Wissen davon oder den Glauben daran, daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unsichtbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne." Zwar konnte der italienische Kaufmann der frühen Neuzeit ebenso wie seine Vorfahren weder dem Sturm Einhalt gebieten noch besaß er die Macht, Überfälle zu verhindern. Aber derartige Unsicherheiten wurden immer seltener als "schicksalhafte Bedrohung" angesehen. Stattdessen traten sie als zu- und berechenbare Wagnisse in den Blick, als Probleme, die sich nur dann negativ bemerkbar machten, wenn man falsch kalkulierte und keine Vorsichtsmaßnahmen traf. Der Gegensatz von "schicksalhafter Bedrohung" und "zurechenbarem Wagnis" verweist auf eine entscheidende Veränderung: Wenn jemand, wie für Deutschland seit dem 16. Jahrhundert bezeugt, etwas "uf unser Rysign" nimmt, so gibt er damit zu erkennen, dass er die infrage stehenden Unsicherheiten nicht als eine unbeeinflussbare Gefahr begreift, die durch Götter, Geister oder andere Mächte verursacht werden. Die Ungewissheit wird als eine durch ihn selbst hervorgerufene und ihm daher auch selbst zurechenbare Schwierigkeit wahrgenommen. Nicht mehr das unkalkulierbare Wirken kosmologischer Mächte bestimmt die Welt, sondern ausschlaggebend ist der Horizont der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Auf diese Weise können andere Wirklichkeiten entstehen – eben jene Ungewissheiten, die etwa der risikobereite Kaufmann eingeht. Denn diese wären gar nicht existent, wenn er nicht irgendeine Ware erlangen oder verkaufen wollte, wobei er im Vertrauen auf die eigenen Möglichkeiten davon ausgeht, die unsichere Situation bewältigen zu können. Entscheidungsbezogen, zurechenbar und kalkulierbar Dies verweist auf ein erstes Charakteristikum des Risikokonzepts, nämlich auf die Handlungs- und Entscheidungsbezogenheit von Risiken. Ungewissheiten vom Typus "Gefahr" existieren unabhängig von den Handelnden; Unsicherheiten vom Typus "Risiko" hingegen entstehen erst und nur im Lichte von Handlungsabsichten und deren Umsetzung. Oder anders ausgedrückt: Gefahren sind subjekt- und situationsunabhängig; Risiken setzen demgegenüber stets die subjektbezogene Entscheidung für eine Unsicherheit voraus. Dieser Punkt wird vor allem in der modernen Entscheidungstheorie betont, wie sie in verschiedenen Varianten von der betriebswirtschaftlichen Entscheidungslehre über die allgemeine Spieltheorie bis hin zu den Rational-Choice-Konzepten entwickelt worden ist. Aus diesem Blickwinkel werden Risiken zumeist als "Entscheidungen unter Unsicherheit" definiert, die als solche ganz anders bewertet werden als entscheidungsunabhängige Gefahren. Während Gefahren als subjektunabhängige Bedrohungen prinzipiell negativ bewertet werden, gilt dies für Risiken nicht. Gerade weil sie handlungsabhängig sind, erscheinen Risiken nicht nur als Bedrohung, sondern ebenso sehr als Chance. Sie einzugehen bedeutet, etwas qua Entscheidung auszuprobieren, das zwar auch schiefgehen, im Erfolgsfall aber erhebliche Vorteile bieten kann. Mit der Handlungs- und Entscheidungsbezogenheit eng verknüpft ist ein zweites Charakteristikum der Risiken, nämlich ihre Zurechenbarkeit und Verantwortbarkeit. Diese spielen auch bei der alltäglichen Abgrenzung von Risiko und Gefahr eine erhebliche Rolle. Als subjektunabhängige und letztlich unbeherrschbare Unsicherheiten können Gefahren nicht verantwortet werden. Bei Risiken hingegen sieht dies anders aus. Geht ein riskantes Unternehmen schief, dann kann (und muss) man einen Schuldigen finden. Oder am Beispiel des frühneuzeitlichen Kaufmanns formuliert: Zwar mag der Sturm von Gott gesandt sein, aber wer sich auf das Meer hinauswagt, der ist für diese Entscheidung zuständig und muss die damit verbundenen Probleme vom Sturm bis zu den Piraten selbst tragen und bewältigen. Er (oder eher selten: sie) hat die Folgen der eigenen Unsicherheitsentscheidung zu verantworten und muss für sie geradestehen. Als Versuch, etwas Neues zu erreichen, sind Risiken ein bewusstes Wagnis, für dessen Folgen die Handelnden, sofern sie als Handlungsträger identifizierbar sind, grundsätzlich haften müssen. Und dies heißt auch: Unsicherheiten werden nur dann als Risiken wahrgenommen, wenn sie qua sozialer Konstruktion zurechenbar gemacht werden können. Lässt sich diese Unterstellung, aus welchen Gründen auch immer, nicht sinnvoll machen, so erscheinen die jeweiligen Unsicherheiten als Gefahren beziehungsweise verwandeln sich in solche. Letzteres ist gar nicht so selten. Bei der Explosion der Challenger-Raumfähre 1986 beispielsweise war zunächst völlig unklar, warum es zur Explosion gekommen war, und solange hier keine Klarheit herrschte (ungefähr eine Woche lang), wurde durchaus erwogen, das Raumfahrtprogramm insgesamt abzubrechen – eben weil die mit ihm verknüpften Unsicherheiten nicht als zurechenbares und verantwortbares Risiko verstanden wurden. Zurechenbarkeit und Verantwortbarkeit sind als Konzepte allerdings nur dann sinnvoll, wenn man davon überzeugt ist, das jeweilige Risiko aktiv zu beherrschen. So waren die Fernkaufleute in der Regel weder verrückt noch tollkühn. Sie verfügten vielmehr über ein gesundes Selbstvertrauen und einen grundlegenden Glauben an die Berechenbarkeit der Welt, der seinen konkreten Ausdruck im Prinzip der rationalen Kalkulation fand. Als drittes Kennzeichen der Unsicherheiten vom Typus "Risiko" ist demnach die Unterstellung ihrer rationalen Beherrschbarkeit, oder genauer: ihrer Berechenbarkeit und Kalkulierbarkeit, zu nennen. Zwar hatte der Gottesglaube durchaus Bestand, und Unsicherheiten erschienen oftmals als gleichermaßen gestaltbar wie unbeeinflussbar. Aber auch, wenn das Wirken Gottes nicht ausgeschlossen wurde, vertrauten die Kaufleute zunächst und vor allem auf ihre eigenen Fähigkeiten und Kalkulationen. Positive und negative Risiken Der erfolgreiche Umgang mit Risiken galt ursprünglich als eine Art "Kunst", die auf individuellen Fähigkeiten, Glück, Erfahrung oder Charisma beruht. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit unsicheren Situationen setzte erst im 17. Jahrhundert ein. Den Ausgangspunkt bildete dabei die Frage nach den Gewinnmöglichkeiten bei Würfelspielen. Hiermit befassten sich unter anderem Blaise Pascal (1623–1662) und Jakob Bernoulli (1655–1705), dessen "Ars Conjectandi" eines der ersten Bücher zur Wahrscheinlichkeitsrechnung war. Das Beispiel des Glücksspiels verweist zugleich auf eine spezifische Perspektivsetzung. Im Vordergrund standen zunächst die Gewinnchancen und damit die positiven Risiken; die Verlustmöglichkeiten, also die negativen Risiken, rückten erst später ins Zentrum des Interesses. Im 20. Jahrhundert hat dieser Perspektivwechsel dann zu einer bemerkenswerten Verengung des Risikokonzepts geführt: Wie die heute geläufige Rede von den "Chancen und Risiken" einer Entscheidung, einer Technologie oder einer Entwicklung zeigt, werden die positiven und negativen Aspekte des Risikos heute kaum mehr zusammengedacht; sie erscheinen vielmehr als zwei unterschiedliche Aspekte, die mit verschiedenen Wörtern bedacht und strikt einander gegenübergestellt werden. Im "Risikomanagement" beispielsweise sind die Chancen in der Regel kein Thema. Ein eindrucksvolles Beispiel für die angedeutete "Negativierung" des Risikos ist die klassische Risikoformel, wie sie insbesondere in der Versicherungswirtschaft vorherrschend ist. Diese lautet: "Risiko = Schadenserwartung x Eintrittswahrscheinlichkeit". Die Gewinnerwartungen, wie sie zu jedem Risiko dazugehören sollten, kommen in dieser Formel nicht vor. Stattdessen steht die erwartete Schadenshöhe im Zentrum, die ihrerseits relativiert wird durch die Eintrittswahrscheinlichkeit. Mögliche Schäden mit einer geringen Wahrscheinlichkeit können dementsprechend eher in Kauf genommen werden als solche, die häufig eintreten. Und umgekehrt gilt: Je geringer die Eintrittswahrscheinlichkeit, desto eher erscheinen auch hohe potenzielle Schäden als akzeptabel. Für Versicherungen mit langjährigen Erfahrungswerten (wie etwa Kfz-Versicherungen) ist diese Risikoformel ohne Frage höchst brauchbar. Anders hingegen sieht es aus, wenn man über die Variablen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe empirisch streiten kann – wie etwa bei den Risikokonflikten der zurückliegenden Jahrzehnte (etwa im Kontext der Nutzung der Atomkraft), die sich nicht zuletzt durch eine wachsende Kritik an der klassischen Risikoformel auszeichnen. Beseitigen oder Akzeptieren von Unsicherheit Im Umgang mit Unsicherheit lassen sich in der Moderne zwei gegensätzliche Positionen ausmachen. Für die erste Position – und dies ist nach wie vor die Mehrheitsmeinung – steht unter anderem der amerikanische Soziologe Talcott Parsons. Für Parsons war Unsicherheit (uncertainty) eine menschliche Grunderfahrung, die er als prinzipiell negativ begriff. Denn Unsicherheit bedeutet Nichtwissen um die potenziellen Folgen des eigenen Tuns. Dieses Nichtwissen wiederum schafft Uneindeutigkeiten, setzt Grenzen und schränkt die Beherrschbarkeit der Welt ein. Zugleich ging Parsons aber auch davon aus, dass es dem Menschen im Verlauf der Evolution durch die wachsende Rationalisierung immer mehr gelinge, Unsicherheiten zu beseitigen und Sicherheiten herzustellen, wobei sich diese Entwicklung in einer wachsenden und letztlich immer besseren Beherrschung der äußeren und inneren Natur niederschlage. Ganz anders wird Unsicherheit aus einer zweiten Perspektive von vielen Ökonomen betrachtet. Ausgehend von der These "uncertainty generates flexibility" beschrieb der amerikanische Unsicherheitstheoretiker Ronald Heiner als einer der ersten Unsicherheit als ein vielleicht nicht im Alltag, wohl aber für die Menschheit insgesamt positives Moment. Ohne Unsicherheit und Abweichung vom Gewohnten seien weder Innovation noch gesellschaftliche Entwicklung denkbar. Oder anders ausgedrückt: Eine Gesellschaft bleibt nur dann entwicklungsfähig, wenn sie risikofreudig ist und ein gewisses "Unsicherheitsniveau" bewahrt. Gleichwohl trifft sich Heiner mit Parsons darin, dass der evolutionäre Fortschritt auf mehr Sicherheit hinausläuft – in seinen Augen allerdings nicht durch Abschaffung von Unsicherheit, sondern durch ihre bewusste Kultivierung und die Bewahrung angemessener Unsicherheitsniveaus. Weder Parsons noch Heiner lassen sich explizit über den Unsicherheitsbegriff aus. Aber beide verstehen Unsicherheit als handlungs- und entscheidungsbezogene Sachverhalte, die zugerechnet und verantwortet werden können. Es handelt sich also um Risiken, für die es im kollektiven Gedächtnis auch die entsprechenden personellen Leitbilder gibt. Letztere reichen von Christoph Kolumbus als dem "kühnen Seefahrer" über Ferdinand de Lesseps als dem "kühnen Ingenieur" bis hin zu Henry Ford als dem "kühnen Unternehmer" oder Reinhold Messner als dem "kühnen Bergsteiger". Ob diese "Kühnheitsbilder" im Einzelfall stimmen, sei dahingestellt. Aber es fällt auf, dass in dieser Ahnenreihe die Erfolgsgeschichten eindeutig überwiegen, und betrachtet man diese genauer, so handelt es sich nur in Ausnahmefällen um Personen, die nüchtern kalkulieren oder sich vor allem an der "Berechenbarkeit" im Sinne Webers orientieren. Kolumbus, de Lesseps, Ford oder Messner verkörpern vielmehr "Risikopersönlichkeiten", die im Moment höchster Unsicherheit "richtig" entscheiden – wobei sich die "richtige" Reaktion letztlich über ihren Erfolg erweist. Die Faszination für solche Risikopersönlichkeiten ist nach wie vor beträchtlich – aktuell sei etwa an Elon Musk erinnert, der es gegen alle Widerstände geschafft hat, in Rekordzeit ein Automobilwerk in Brandenburg auf die Beine zu stellen. Aber im Vergleich zur Anzahl der Risikoprobleme nehmen die erfolgreichen Risikopersonen eher ab, und dies ist nicht zufällig. Denn parallel zur wachsenden gesellschaftlichen Komplexität werden auch die Risikoprobleme komplexer. Sie lassen sich häufig nicht mehr so einfach als handlungs- und entscheidungsbezogene Unsicherheit rekonstruieren, die eindeutig zurechenbar, verantwortbar und klar kalkulierbar erscheint. Vielmehr wird der Zusammenhang von Handlungen und Handlungsfolgen unscharf, da die Handlungsfolgen von den Handlungen entkoppelt werden und Schwierigkeiten bei der Herstellung von Zurechenbarkeit entstehen. Zurechnungs-, Entkopplungs- und Entgrenzungsphänomene können grundsätzlich in drei Dimensionen auftreten: in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht. Von einer Entgrenzung in zeitlicher Hinsicht wäre etwa dann zu sprechen, wenn die Folgen zeitverschoben auftreten und die ursprünglichen Entscheidungsträger unter Umständen gar nicht mehr leben – als Beispiel sei auf die erst allmählich sichtbar werdende Gefährdung des Grundwassers nach jahrzehntelangem Gebrauch von Kunstdünger und Pestiziden verwiesen. Ein Auseinandertreten in sachlicher Hinsicht liegt vor, wenn sich Folgen in Bereichen bemerkbar machen, die ursprünglich nie damit in Zusammenhang gebracht wurden – wenn also etwa, wie bei der "Chip-Krise" 2021, in 169 Branchen Produktionsprobleme entstehen und deshalb selbst Schokoriegel vorübergehend nicht lieferbar sind. Eine Entgrenzung in sozialer Hinsicht schließlich ist dann gegeben, wenn die Grenze zwischen Entscheidern und Entscheidungsbetroffenen unscharf wird, die Negativfolgen also nicht mehr alleine die konkreten Entscheidungsträger betreffen, sondern alle mehr oder weniger gleichmäßig betroffen sind und es gewissermaßen egal wird, wer die Risikoentscheidungen getroffen hat. Systemische Risiken Die Entkopplung von Handlungen und Handlungsfolgen sowie die daraus resultierenden Probleme bei der Herstellung von Zurechenbarkeit lenken den Blick auf die Differenz von (einfachen) Risikohandlungen und (komplexen) Risikosystemen. Risikosysteme basieren zwar auf Risikohandlungen, sind aber in ihrer Funktionslogik auf diese nicht reduzierbar. Für Risikosysteme ist eine Ausdifferenzierung und strukturelle Vervielfältigung von Risikohandlungen kennzeichnend, durch die zwangsläufig neue, unerwartete Freiheitsgrade erzeugt werden. Es geht also nicht mehr um einzelne Entscheidungen unter Unsicherheit, sondern um unsichere "Handlungsnetze", die als solche nur in eine nicht abschließend definierbare Abhängigkeit voneinander treten können. Gerade dies erzeugt eine höhere Komplexität des Gesamtzusammenhangs, durch den die Gefahr von nichtintendierten Interaktionen und Folgen steigt. Der Output wird somit prinzipiell unsicherer, und dies gilt auch für die Zurechenbarkeit zu einzelnen Risikoentscheidungen. Grundsätzlich ließe sich zwar schon der frühneuzeitliche Fernhandel als ein Risikosystem beschreiben. Aber da die Folgen und Nebenfolgen dieses Systems in der Regel überschaubar waren und den jeweiligen "Risikopersönlichkeiten" zurechenbar blieben, wird dies eher selten getan. Dies änderte sich mit der Entstehung komplexer Hochrisikosysteme, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einer der ersten, der zwischen Risiko als Handlungs- und Systemproblem unterschied, war Charles Perrow mit seinen Untersuchungen zu "normal accidents". Unfälle in Hochrisikosystemen wie Kernkraftwerken, petrochemischen Anlagen oder Bergwerken, so seine Kernthese, sind in der Regel nicht auf menschliches Versagen und damit auf einzelne Risikohandlungen zurückzuführen. Sie haben vielmehr organisatorische Gründe und entstehen aufgrund unvorhergesehener Störungen, die sich wechselseitig verstärken und zu einem Versagen des Gesamtsystems führen. Ausschlaggebend hierfür sind "unerwartete Interaktionen" zwischen Teilen, Komponenten und Subsystemen, die in der Systemarchitektur nicht vorgesehen und erst im Nachhinein beschreibbar sind. Perrow beschäftigte sich im Wesentlichen mit technischen Risikosystemen, die zumeist klar abgegrenzt und in ihrer Uneindeutigkeit organisatorisch eindeutig beschreibbar sind. Anders akzentuiert ist demgegenüber der 2003 vorgestellte Ansatz der OECD in ihrem Projekt "Emerging Systemic Risks in the 21st Century". Dieses arbeitet mit der Vermutung, dass sich die Wahrscheinlichkeit eines Eintretens katastrophaler Ereignisse grundsätzlich erhöht hat und dies zu einer Gefährdung grundlegender gesellschaftlicher Teilsysteme führt. Der damit verknüpfte Begriff des "systemischen Risikos" ist primär gesellschaftlich akzentuiert, bleibt aber ansonsten eher vage und offen: "A systemic risk", so heißt es dort, "is one that affects the systems on which society depends – health, transport, environment, telecommunications, etc." 15 Jahre später liest sich das an anderer Stelle dann wie folgt: "Systemische Risiken bezeichnen die Möglichkeit, dass ein katastrophales Ereignis die lebenswichtigen Systeme, auf denen unsere Gesellschaft beruht, in Mitleidenschaft zieht." Hier wie dort bleibt freilich unklar, welche Systeme genau betroffen sind und warum diese jenseits des katastrophalen Outputs als Risikosysteme beschrieben werden sollen. Präziser waren demgegenüber Ortwin Renn und seine Kolleginnen und Kollegen, die vier Jahre später folgende Definition präsentierten: "Systematische Risiken beziehen sich somit auf hochgradig vernetzte Problemzusammenhänge mit schwer abschätzbaren Breiten- und Langzeitwirkungen, deren Beschreibung, Bewertung und Bewältigung mit erheblichen Wissens- und Bewertungsproblemen verbunden sind." Vier Merkmale charakterisieren derartige Systeme: Entgrenzung, Komplexität, Unsicherheit und Ambiguität. Demnach zeichnen sich systemische Risiken zunächst – hier knüpfen Renn et al. an Ulrich Beck an – durch eine "Entgrenzung in Zeit, Raum und Schadenskategorie" aus. Waren die alten, einfachen Risiken zeitlich, lokal und finanziell begrenzt, so gilt das für die neuen, systemischen nicht. Zweitens haben wir es mit einem hohen Maß an Komplexität zu tun. Dieses Stichwort knüpft weniger an Perrow an, der Komplexität als "Tendenz zu unvorhergesehenen (…) Interaktionen zwischen Betriebsstörungen oder -ausfällen" bestimmt hatte. Stattdessen verweisen Renn et al. darauf, dass systemische Risiken zumeist nicht durch lineare Modelle von Ursache- und Wirkungsketten beschreibbar sind, sondern eher stochastischen und chaotischen Wirkungsbeziehungen folgen. Zugleich sind sie eng vernetzt mit anderen Risiken. Als Folge der hohen Komplexität ist bei systemischen Risiken drittens zugleich ein "hohes Maß an Unsicherheit" zu konstatieren. Zwar sind Risiken grundsätzlich unsicher. Aber wie das Beispiel der Kfz-Versicherung zeigt, lassen sich einfache Risikosysteme wie das Autofahren in ihren Schadenspotenzialen ganz gut kalkulieren. Bei komplexen Systemen mit einem großen Potenzial an unerwarteten Interaktionen hingegen machen sich potenziell unentdeckte Risikofaktoren und das Problem des "Restrisikos" weit stärker bemerkbar. Viertens schließlich zeichnen sich systemische Risiken durch ein "hohes Maß an Ambiguität" aus. Die Ambiguität oder Mehrdeutigkeit bezieht sich nicht auf die Frage der Wahrscheinlichkeit von Schäden und deren Höhe. Stattdessen geht es um die "Variabilität von Risikointerpretationen". Denn im gesellschaftlichen Diskurs werden Risiken auch jenseits und vorab der klassischen Risikoformel unterschiedlich interpretiert und bewertet, wobei die Differenzen steigen, je höher Komplexität, Unsicherheit und die Entgrenzung des Outputs ausfallen. Vulnerabilität und Resilienz Zwar sind die genannten vier Merkmale in der Folgezeit kaum weiter diskutiert und entwickelt worden. Aber auch wenn das Verhältnis von Handlungs- und Systemaspekten des Risikos systematisch nach wie vor eher ungeklärt ist, macht sich die Erfahrung der neuen Risiken und ihrer Komplexität auch bei der Diskussion um die Risikoformel bemerkbar. Spätestens seit "Tschernobyl" und "9/11" hat die klassische Risikoformel in mancherlei Hinsicht an Bedeutung verloren. Zwar ist ihre Relevanz in den traditionellen Anwendungsgebieten (wie bei der Bestimmung von Kfz-Schäden) unverändert. Aber sie taugt nicht unbedingt zum Umgang mit den damit nicht erfassbaren Unsicherheiten. Dies ist insbesondere in der sogenannten Desaster-Forschung ("Disaster Research") zum Thema geworden, die sich mit Katastrophen, also außergewöhnlichen Schadensereignissen beschäftigt. Diese werden zunehmend als ein Risikofolgenproblem beschrieben, auch wenn sie mit der Formel "Schadenshöhe x Eintrittswahrscheinlichkeit" kaum zureichend begriffen werden können. Vor allem zwei Punkte sind hier neu: Zum einen rückt nach und durch "9/11" das Moment der Vulnerabilität in den Vordergrund. Während Perrow stets betont hatte, dass sich "normal accidents" vor allem aus unerwarteten Interaktionen im "Normalbetrieb" ergäben, deuten "Vulnerabilität" oder "Verwundbarkeit" auf extern verursachte Probleme, die heute eine mindestens ebenso große Rolle spielen wie die immanenten Schwierigkeiten. Zum anderen zeichnet sich ein Wechsel bei den Perspektiven zur Risikobewältigung ab: Während sich das klassische Risikoassessment an der Idee eines "Nullrisikos" orientierte, also an der Vorstellung, dass bei einer Berücksichtigung aller Faktoren Negativereignisse komplett verhindert werden könnten, setzt sich mittlerweile die Einsicht durch, dass dies nicht möglich ist. Denn wie die empirische Erfahrung zeigt, lassen sich nicht alle Risikofaktoren erfassen, geschweige denn vollständig kontrollieren. Es bleibt vielmehr stets ein Restrisiko. An die Stelle des Ideals einer stetigen Erhöhung des Sicherheitsniveaus tritt daher ein anderes Konzept, nämlich das der "Resilienz", das seit der Jahrtausendwende eine ungeahnte Karriere erfahren hat. Resilienz bedeutet Widerstandskraft oder Belastbarkeit. Steht dieser Aspekt im Zentrum, so geht es nicht um eine möglichst vollständige Beseitigung von Risikofaktoren. Stattdessen bedeutet Risikobewältigung die Herstellung von Widerständigkeit gegenüber Negativereignissen, die sich nicht vermeiden lassen, sondern mit denen jederzeit gerechnet und umgegangen werden muss. Neue Risikoformel? Die Stichworte "Vulnerabilität" und "Resilienz" haben sich auch in neueren Ansätzen für eine Risikoformel niedergeschlagen. So ist im Kontext der "United Nations International Strategy for Disaster Reduction" (UNISDR) eine Formulierung entstanden, die Risiko als eine komplexe Kombination aus Gefährdung, Verwundbarkeit und Bewältigungskapazität begreift. Stärker am klassischen Modell orientiert ist eine Formel aus dem Bereich der Finanzmarktforschung, die unter Risiken ein Produkt aus Gefährdung, Verwundbarkeit und Schadenshöhe versteht. Vulnerabilität wird hier, im Unterschied zur Eintrittswahrscheinlichkeit, als aktiv beeinflussbar begriffen. So kann die Gefahr, durch Regen nass zu werden, durch die Mitnahme eines Regenschirms erheblich reduziert werden. Zwar verändert der Regenschirm die Eintrittswahrscheinlichkeit des Regens in keiner Weise. Aber er erhöht die Handlungs- beziehungsweise Bewältigungsfähigkeit und damit die Resilienz. Auch wenn man über die Suche nach einer besseren Risikoformel streiten kann, so lassen die verschiedenen Versuche doch eines erkennen: Der Fortschritt der Risikoforschung führt nicht unbedingt zu mehr Eindeutigkeit und klareren Problemstellungen. Ging man noch in den 1960er Jahren davon aus, dass es durch kontinuierliche Forschung gelingen werde, immer mehr Risikofaktoren zu berücksichtigen und dementsprechend stetig mehr Sicherheit herzustellen, hat sich spätestens seit den 1980er Jahren gezeigt, dass diese Vorstellung in doppelter Hinsicht unrealistisch ist. Zum einen ist es schwierig, eine klare Hierarchie "objektiver" Risikofaktoren zu erstellen. Zum anderen hat sich gezeigt, dass die (subjektive) Risikowahrnehmung für die Einschätzung von und den Umgang mit Unsicherheit weit wichtiger ist. Ganz abgesehen davon, dass "Risikopersönlichkeiten" wie Kolumbus oder de Lesseps sich kaum an dem Programm einer systematischen Abarbeitung von Risikofaktoren orientiert hätten: Für den (erfolgreichen) Umgang mit Risiken ist deren Wahrnehmung und soziale Konstruktion letztlich von entscheidender Bedeutung. Hier hat die einschlägige Forschung gezeigt, dass Unsicherheiten, die freiwillig und aktiv eingegangen und als noch handhabbar eingeschätzt werden, weit eher akzeptabel (wenn nicht gar reizvoll) erscheinen als von außen aufgezwungene Unsicherheiten. Die Bedeutung der Risikowahrnehmung hat schließlich auch dazu geführt, dass Risikoprobleme in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend neu, nämlich zunächst und vor allem als Wahrnehmungs- und Kommunikationsproblem, diskutiert wurden. Das ist keineswegs überraschend. Denn als handlungs- und entscheidungsbezogene Unsicherheiten sind Risiken eben nicht subjektunabhängig (und in diesem Sinne "objektiv") bestimmbar. Gerade weil wir in einer Welt leben, in der Unsicherheiten als handlungs- und entscheidungsbezogen erlebt werden, geht es immer stärker um die Risikokommunikation, also um die Frage, welche Unsicherheiten für entscheidend und beeinflussbar gehalten werden. Oder anders ausgedrückt: In einer Welt, die zu einer "Weltrisikogesellschaft" geworden ist, tritt an die Stelle der "objektiven" Risikoanalyse zunehmend die Frage, welche Unsicherheiten wie und mit welchen Mitteln vorrangig bearbeitet werden können und müssen. Zu dieser Frage gibt es noch kaum systematische Antworten, wohl aber einen verstärkten Diskussionsbedarf – und ein Bewusstsein dafür, dass die Risikofrage unablässig an Bedeutung gewinnt. Vgl. Mary Douglas/Aaron Wildavsky, Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers, Berkeley 2010 [1983]. Vgl. Benjamin Scheller, Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin–München–Boston 2019, S. 2ff. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919, S. 16. Vgl. Scheller (Anm. 2), S. 10f. Vgl. z.B. Frank Romeike, Risikomanagement, Wiesbaden 2018. Vgl. Talcott Parsons, Health, Uncertainty and the Action Situation, in: Seymour Fiddle (Hrsg.), Uncertainty. Behavioral and Social Dimensions, New York 1980, S. 145–163. Ronald A. Heiner, The Origin of Predictable Behavior, in: American Economic Review 4/1983, S. 560–595, hier S. 564. Vgl. Charles Perrow, Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt–New York 1984. Vgl. OECD, Emerging Risks in the 21st Century. An Agenda for Action, Paris 2003. Ebd., S. 30. Romeike (Anm. 5), S. 206. Ortwin Renn et al., Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit, München 2007, S. 176. Vgl. ebd. sowie Ortwin Renn, Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Frankfurt/M. 2014, S. 330ff. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. Renn et al. (Anm. 12), S. 176. Perrow (Anm. 8), S. 17. Renn et al. (Anm. 12), S. 176. Ebd. Ebd., S. 165. Vgl. Wolfgang Bonß, Karriere und sozialwissenschaftliche Potenziale des Resilienzbegriffs, in: Martin Endress/Andrea Maurer (Hrsg.), Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen, Wiesbaden 2015, S. 15–31. Vgl. Daniel Aronson, Incomplete Risk Formulas Are Risky Business, 5.10.2020, Externer Link: https://sustainablebrands.com/read/new-metrics/incomplete-risk-formulas-are-risky-business. Vgl. Paul Slovic, The Feeling of Risk. New Perspectives on Risk Perception, London 2010. Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M. 2008.
Article
Bonss, Wolfgang
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-06-01T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/risikokompetenz-2022/508882/von-magischen-praktiken-zu-systemischen-risiken/
Die Begriffe "Risiko" und "Gefahr" verweisen auf unterschiedliche Formen der Handhabung von Unsicherheit in der Moderne. Heute stellen sich Risiken als ein Wahrnehmungs- und Kommunikationsproblem dar.
[ "Risiko", "Moderne", "Gefahr", "Etymologie", "Risikoperzeption", "Risikoformel", "systemische Risiken", "Risikogesellschaft", "Resilienz", "Vulnerabilität" ]
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M 03.01.04 Erol und die Schule | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de
Ich war ein super Schüler. Ich hatte ein super Verhältnis zu den Lehrern. Klar, ein paar beschissene Lehrer gibt es immer. In der Grundschule hatte ich fast nur gute Lehrer. Dann wurde mir das Gymnasium abgesprochen, obwohl ich die Noten für das Gymnasium hatte. Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch war, die Entscheidung für die Realschule. Die Noten waren immer gut, im Zweierbereich. Natürlich hab ich meine Fähigkeiten genutzt. Ich war umgänglich und hatte meine Freunde. Die konnte ich immer fragen, wenn ich Fragen hatte. Es gab aber auch sehr, sehr schlechte Lehrer. In der Realschulzeit hatte ich eine Frau, die hat mich gehasst wie die Pest. Die hat gesagt „Ey, ich weiß gar nicht, was du hier willst. Geh auf die Hauptschule.“ Und das bloß, weil ich meine Hausaufgaben vergessen hatte. Da war jetzt nicht so ein großes Trara drum zu machen, normalerweise. Aber gut. Auch das habe ich überwunden und durchgezogen. Ich hab an mich geglaubt. Ich habe an mich selber geglaubt. An das, was ich kann, oder an das, was ich werden will, oder an das, was ich sein will. Erol alias Rapper "Credibil" (© Mikis Fontagnier) Und dann, auf der letzten Schule, auf der Guttenbergschule, hatte ich eigentlich nur gute Lehrer. Nur, nur, nur. Und die haben auch bewundert, was ich schon an Musik mache, was ich an graphischen Dingern mache. Die haben mir Respekt gezollt. Die haben mich mit „Sie“ angesprochen. Da hat man sich gleich auf Augenhöhe getroffen. Dazu kam noch, dass ich diesen Schulzweig sehr bewundert habe. Ich fand es wichtig, dass man in eine Richtung lernt, die einem auch was bringt und die einen interessiert. Ich werde in meinem Leben keine Raketen bauen. Ich muss nicht wissen, wo die landet und wo die startet. Ist mir scheißegal. Aber ich will wissen, wie man fotografiert. Ich will Wissen über Tiefenschärfe. Ich will wissen, warum machen wir den Flyer so und nicht so? Das hat mir dann im Nachhinein etwas gebracht. Aber ich kann bis heute keine Rakete bauen und deren Kurvendiskussion aufstellen. An dieser Schule haben sie mir einfach gezeigt, dass ich Sachen entdecken kann, die mich auch interessieren. Wir haben auf einmal Bücher gelesen. Ich hasse Bücherlesen über alles, auch heute noch. Aber sie haben mir gesagt: „Digga, das ist nichts anderes, als ob Du deine Texte schreibst.“ Und die haben mir quasi im Unterricht gezeigt, dass das, was ich bei Azad oder bei Savas oder bei Materia so krass befürworte, in diesen Büchern steckt. Weil immer, wenn ich mich gemeldet habe, war der Lehrer baff. Ich hab denen von Metaphern erzählt. Das war auch das Schöne an Deutsch. Ich bin immer noch der schlechteste Rechtschreiber. Aber ich kann dir halt sagen, was für ein Gefühl mir die Farbe Lila gibt, warum der Horizont blau ist und wie man Sehnsucht in Worte packen kann. Und die Lehrer waren so: „Krass, woher weißt du das?“ „Nix Mann, seit zehn Jahren hör ich Musik. Und bei uns geht es um den krasseren Vergleich und die besseren Reime und wer gibt dir etwas, was dir der andere nicht geben kann.“ Quelle: Interview mit Erol Peker (Credibil) vom 08.03.2016, durchgeführt von Cornelius Knab Aufgaben: Erschließe anhand des Interviews, welche Rolle die Schule in Erols Sozialisation gespielt hat. Arbeite heraus, welche Relevanz die Lehrpersonen für Erols weiteren Lebensweg nach der Schule hatten. Erol sagt: „Ich habe an mich selber geglaubt, an das, was ich kann.“ Setze dich damit auseinander, welche Konsequenzen diese Einstellung für den weiteren Lebensweg von Erol gehabt hat. Nimm Stellung zu folgender These: „Die Schule ist ein Ort, an dem die Talente und Stärken von Kindern und Jugendlichen gefördert werden können.“ Beziehe dich dabei auf Erols Schilderungen und deine eigenen Erfahrungen. Das Arbeitsmaterial Interner Link: M 03.01.04 Erol Schule ist als PDF-Dokument abrufbar. Erol alias Rapper "Credibil" (© Mikis Fontagnier)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-05-31T00:00:00"
"2016-03-31T00:00:00"
"2022-05-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/223878/m-03-01-04-erol-und-die-schule/
Die Schule spielte in Erols Leben eine sehr widersprüchliche Rolle. Auf der einen Seite gab es Lehrerinnen und Lehrer, die ihn förderten und ihn in seinem künstlerischen Schaffen bestärkten. Auf der anderen Seite gab es aber auch Lehrende, die ihn au
[ "Grafstat", "Krise", "Sozialisation", "Resilienz" ]
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Deutschland für Anfänger - Eine deutsche Entdeckungsreise von A bis Z | Presse | bpb.de
Was ist "typisch deutsch"? Von A wie Arbeit, über C wie Currywurst und F wie Fußball bis hin zu Z wie Zukunft nimmt die Ausstellung "Deutschland für Anfänger" Schlagworte auf, die mit unserem Land verbunden sind. Das mit vielen privaten Erinnerungsstücken und interaktiven Elementen ausstaffierte "Musée Sentimental" entstand als Partnerprojekt des Goethe-Instituts und der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Eröffnet wird die Ausstellung am Freitag, dem 24. September, um 17 Uhr im Forum Willy Brandt, Unter den Linden 62-68, 10117 Berlin, durch Dr. Wolfram Hoppenstedt, Geschäftsführer der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Günter Piening, Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration, und Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Ausstellung richtet anhand von 26 plastischen Buchstaben einen unerwarteten Blick auf Deutschland und seine Menschen: unprätentiös, wissenschaftlich fundiert, aber auch augenzwinkernd und mit selbstironischer Schärfe. Buchstabe für Buchstabe fügt sich so ein Deutschlandbild wie ein Puzzle zusammen, das den Besucher auf unterhaltsame Weise aber auch den Spiegel vorhält. Wer bist Du? Wohin gehst Du? Wie wirst Du wahrgenommen? Sie ist auf Deutsch, Englisch und Türkisch konzipiert und richtet sich bewusst nicht nur an Deutsche. Die Ausstellung ist zu sehen vom 25.09.2010 bis 27.02.2011, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Unter den Linden 62-68, 10117 Berlin. Öffnungszeiten: Di - So 10-18 Uhr, der Eintritt ist frei. Öffentliche Führungen am Wochenende um 13 Uhr. Für Schulklassen werden Führungen mit Voranmeldung an E-Mail Link: info@bwbs.de angeboten, Unkostenbeitrag: 2 Euro pro Schüler (Mindestbeitrag: 30 Euro). Nähere Informationen unter Externer Link: www.bpb.de/veranstaltungen/C8WWR8 Kostenfreies Bildmaterial erhalten Sie unter Externer Link: www.bpb.de/presse/CDRORE,0,Exponate_der_Wanderausstellung_Deutschland_f%FCr_Anf%E4nger.html Interner Link: Pressemitteilung als PDF-Version (41 KB)Kontakt Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung - Forum Willy Brandt Berlin Julia Hornig Unter den Linden 62-68 10117 Berlin Tel +49 (0)30 787707-19 Fax +49 (0)30 787707-50 E-Mail Link: presse@bwbs.de Externer Link: www.willy-brandt.de Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49953/deutschland-fuer-anfaenger-eine-deutsche-entdeckungsreise-von-a-bis-z/
Eröffnung der Wanderausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung am 24.9.2010 im Forum Willy Brandt Berlin. Was ist "typisch deutsch"? Die Ausstellung "Deutschland für Anfänger" nimmt Schlagworte auf, die mit unserem Land verbunden sind.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Historical development | Brazil | bpb.de
Immigration Initially, numerous indigenous Indians were enslaved, predominantly to work on the sugar cane plantations. Enslavement, displacement and extermination led to the annihilation of many Indian peoples: of an estimated five to six million indigenous people at the time of the arrival of the first Europeans, only about 600,000 remained by the end of the colonial period. In the 16th century, Portuguese colonialists began to bring slaves from Africa to Brazil. They originated from territories known today as Guinea, Angola, Mozambique, Nigeria and more. In the 17th century the number of displaced Africans already exceeded that of the settled Europeans. Portugal relinquished its exclusive rights ("Pacto Colonial") to Brazil in 1808, when the Portuguese king, Dom João VI, fled there to escape Napoleon. The country´s harbours were opened to all friendly nations. As a result of a declaration made by João VI, 1818 saw the first official recruitment of European migrants with the aim of colonising Brazil. The slave economy was not in fact ended by Brazil until 1888. By the time the import of slaves was banned in 1850 about five million Africans had been transported to Brazil. European immigrants were now to take over the work of the slaves. The time of the so-called "big migration" to Brazil began in the second half of the 19th century. The first of three phases of mass immigration (1880 to 1909) lasted until the early years of the 20th century. The immigrants in this phase originated primarily from Europe. The strongest increase was firstly among the Italians with 1,188,883 immigrants (cf. Table 1). However, immigrants also came from Portugal (519,629), Spain (307,591), Germany (49,833), the Middle East (31,061) and, in smaller numbers, from various other countries such as Ukraine, Poland, Russia and Korea. The total number of immigrants in the period after the abolition of slavery was between 50,000 and over 200,000 per year. In this first phase of mass immigration, European migrants were needed above all as workers in the agricultural sector, for coffee cultivation in Southeast Brazil and later for the spread of industrialisation. The Brazilian upper classes were, moreover, anxious to bring themselves in line culturally, socially and ethnically with Europe through European immigration. In a second wave of immigration between 1910 and 1929 more than one and a half million migrants entered the country to be employed, once again, in agriculture. The immigrants again originated primarily from Portugal, Italy, Spain, Russia and Germany, many of them looking for a fresh start after the First World War. However, emigration to Brazil has also increased from Syria and Lebanon since the beginning of the 20th century. After Canada, the USA, Mexico and Argentina had tightened up their immigration conditions in the mid 1920s, Brazil became the main migration destination for the Japanese. By 1929, 86,577 Japanese had arrived in the country, assisted in their emigration by the government in Tokyo, which gave them financial support as well as helping to organise their emigration. The Japanese immigrants replaced the Italian immigrant workers who were predominantly employed in agriculture and whose numbers went into steady decline from the 1930s. Immigrants in Brazil by country of origin from 1880 to 1969 Portugal Italy Spain Germany JapanMiddle EastOthers 1880 -1909519.6291.188.883307.59149.83386131.061171.498 1910 -1929620.396245.003263.582101.70385.71679.102266.598 1930 -1969464.055142.334140.53856.606160.73530.301232.939 Total 1.604.0801.576.220711.711208.142247.312140.464671.035 in % 31% 30% 14% 4% 5% 3% 13% Source: Lesser, Jeffrey (1999): Negotiating National Identity. Immigrants, Minorities and the Struggle for Ethnicity in Brazil. Duke University Press, Durham & London; eigene Berechnung From 1930 President Getúlio Vargas operated an immigration policy that aimed primarily at assimilating Brazil's minorities and which made immigration more difficult. To "protect Brazilian identity" the use of foreign languages was forbidden in public life. Due to the fall in coffee sales in the incipient world economic crisis, it had anyway become difficult for immigrants to find work. The restrictive immigration policy was determined by a quota system introduced in 1934 whereby (with the exception of the Portuguese) only a very small number of immigrants were allowed to join the respective group of migrants who had already entered the country. Not until 1946 were the discriminatory laws repealed after the fall of the Vargas regime. The third wave of immigration (1930 – 1969) turned out smaller than those in the preceding decades. The largest group of new immigrants comprising 160,735 persons originated from Japan. For the newly emerged industrial sector, migrants were recruited from Syria and Lebanon in particular. The recruitment of foreign workers ended with the military coup in 1964. Now internal migration gained importance for the country's economic development. Internal migration Since the European settlement of Brazil there has repeatedly been immense migration within the country for economic reasons. When, in the 17th century, sugar cane production in the North East slowly subsided, a large part of the population moved towards the new economic centre, Minas Gerais, to work in the gold and diamond mines. Later, when the coffee trade gained momentum in the 19th century, thousands of job seekers followed the growing branch of the economy to Southeast Brazil. Industrialisation in the 1960s and 1970s brought new jobs and led to a mass exodus from the countryside to the big cities. In the space of a few decades the populations of all the big Brazilian cities exploded. This rural exodus – unique in Latin America in terms of size – was intensified by the great poverty of the peasant population. Strong population growth, agricultural modernisation and the ensuing reduction in job opportunities for farm workers reinforced this process. The situation was exacerbated in the 1980s by the lack of infrastructure and the hopelessness of acquiring a plot of land. The establishment of capital-rich agricultural companies further widened the gulf between big landowners and subsistence-oriented peasant farmers. The army of many thousands of landless people gave rise in 1984 to the "Landless Movement" (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) meanwhile relevant to the whole of society and which fights for radical land reform. Once industrialisation reached its limits, the major cities in the north, northeast, south and southeast were no longer able to absorb the many job seekers. The high levels of unemployment in the cities have led to the building of slums on their outskirts, which have grown rapidly in the last few decades. In 2006, 84% of the population was living in cities. Since the beginning of 2000 new movement has been observed from the southeastern cities of São Paulo and Rio de Janeiro to the medium-sized towns in the country's interior. Pull factors here are the better job opportunities, lower crime rates and better public service provision. However, the mass exodus from the country into the big cities continues. See Ribeiro (2002). See Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IGBE) (2008): See Memorial do Imigrante:"Entrada de imigrantes no Brasil 1870-1953": See Lesser (1999). For the individual countries grouped in Table A under "Middle East" and "Others" see also: Governo do Estado de SãoPaulo, Memorial do Imigrante: Externer Link: . See Masterson/ Funada (2003). See Seyfert (2001). Thus today the largest 10 % of concerns own almost 80 % of the available cultivable land, whereas about 60 % of concerns have to manage with 5 % of the cultivable land, see Kohlhepp (2003). See CEPAL (2007).
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Sabina Stelzig
"2022-01-18T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2022-01-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/58249/historical-development/
Brazil is characterised by centuries of immigration from all parts of the world: the systematic settlement of European invaders, in particular the Portuguese, but also Spaniards, the Dutch, the English and the French, began more than three hundred ye
[ "Brazil", "Brasilien", "Migrationsentwicklung", "Migration", "immigration" ]
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Deutschland | AV-Medienkatalog | bpb.de
Buch: Heinz Hemming, Manfred Rexin Produktion: Cinecentrum, Bundesrepublik Deutschland 1980 Format: je 45 Min. - VHS-Video - farbig Stichworte: DDR - Deutschland nach 1945 - Kommunismus - Marxismus - Politische Systeme FSK: 6 Jahre Kategorie: Fernsehdokumentation Inhalt: Die Filme geben einen Überblick über die Entwicklung der Deutschlandpolitik anhand wichtiger Ereignisse in der Zeit von 1945 bis etwa 1980. Teil 1: Die Teilung Inhalt: Der erste Teil der Dokumentationsreihe gibt einen Überblick über die Entwicklung der Deutschlandpolitik anhand wichtiger Ereignisse in der Zeit von 1945 bis zum Tode Stalins im Jahre 1953. Dargestellt wird der Wiederbeginn eines politischen Lebens im Nachkriegsdeutschland. Breiten Raum nimmt dabei vor allem die als gezielt eigenständig interpretierte Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone ein. Die weltpolitischen Gegensätze der Großmächte vertieften die deutsche Teilung und begünstigten die Bildung zweier deutscher Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Der Film möchte die Teilung der deutschen Nation als historischen Prozeß einsehbar machen, der von bestimmbaren nationalen und internationalen Gegebenheiten geprägt wurde. Plädiert wird für eine realistische und unsentimentale Einschätzung der Vergangenheit und der Zukunftsperspektiven. Der Film zeigt dokumentarisches Archivmaterial und enthält ausführliche Interviews mit den "Zeitzeugen" Wolfgang Leonhard und Johann Baptist Gradl, welche die geschilderten Ereignisse selbst erlebten. Die Darstellung bemüht sich deutlich um Ausgewogenheit und Objektivität und ermöglicht aufgrund ihrer chronologischen Gliederung die gesonderte Vorführung von Einzelsequenzen. Teil 2: Abgrenzung Inhalt: Im zweiten Teil der Dokumentationsreihe berichten Prof. Dr. Wilhelm G. Grewe, ehemals Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und deutscher Botschafter, sowie Heinz Brandt, ein früherer SED-Funktionär, aus ihrer Sicht über die historischen Ereignisse von 1953 bis 1966. Der Film schildert vor allem die zunehmende Konsolidierung beider Staaten, ihre Einbindung in verschiedene Paktsysteme sowie ihre Unfähigkeit zur praktischen Umsetzung ihrer fortbestehenden gesamtdeutschen Rhetorik, wie sie sich in den fünfziger und sechziger Jahren z.B. in ideologischer Starrheit und im Alleinvertretungsanspruch manifestierten. Teil 3: Kleine Schritte Inhalt: Der dritte Teil der Serie dokumentiert die seit dem Ende der sechziger Jahre beginnenden Versuche zur Überwindung der Sprachlosigkeit zwischen beiden Teilen Deutschlands, zur vertraglichen Regelung des wechselseitigen Verhältnisses und zur Schaffung von menschlichen Erleichterungen. Als Zeitzeugen erinnern sich Prof. Wolfgang Seiffert und Staatssekretär a. D. Paul Frank. Auch hier ermöglichen klare chronologische Strukturen die gesonderte Vorführung von Einzelsequenzen. Zur inhaltlichen Abrundung müßte die Dokumentation um den Fortgang der Ereignisse nach 1980 ergänzt werden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-10-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146388/deutschland/
Der erste Teil der Dokumentationsreihe gibt einen Überblick über die Entwicklung der Deutschlandpolitik anhand wichtiger Ereignisse in der Zeit von 1945 bis zum Tode Stalins im Jahre 1953. Im zweiten Teil der Dokumentationsreihe berichten Prof. Dr. W
[ "Deutschland nach 1945", "Kommunismus", "Marxismus", "politische Systeme", "DDR" ]
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Dokumentation: Quellen zum Text | Polen-Analysen | bpb.de
Quelle 1: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/6145 vom 9.6.2011 - Deutschland und Polen - Verantwortung aus der Geschichte, Zukunft in Europa Der Bundestag wolle beschließen: I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: (...) Polen und Deutschland betrachten heute die deutsche Minderheit in Polen und die polnischstämmigen Bürger in Deutschland als natürliche Brücken der Verständigung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk. Viele Menschen mit polnischen Wurzeln wurden im Laufe der Geschichte zu Deutschen und haben aktiven Anteil an der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung unseres Landes. Noch heute zeugen viele Familiennamen davon. In der Zeit des Nationalsozialismus aber wurden Angehörige der damaligen polnischen Minderheit in Konzentrationslagern umgebracht, ihre Organisationen verboten und enteignet. Der Bundestag will diese Opfer ehren und rehabilitieren. Wir sprechen uns deshalb für die Einrichtung einer Dokumentationsstelle zur Geschichte und Kultur der Polen in Deutschland aus. Wir bekräftigen zudem die Rechte zur Stärkung der kulturellen und sprachlichen Identität und befürworten die Förderung der Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten für die polnischstämmigen Bürger in Deutschland, einschließlich der Eröffnung eines Büros in Berlin. (...) 3. Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Kultur, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichem Austausch (...) Etwa 2,4 Millionen Polen lernen Deutsch. Deutsch ist damit nach Englisch die wichtigste Fremdsprache in Polen. Der Deutsche Bundestag befürwortet den Ausbau der Möglichkeiten zur Vermittlung der polnischen Sprache als Herkunfts- und Fremdsprache in Deutschland. (...) Wir wollen das bestehende Netz der engen zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit immer enger knüpfen und halten dafür besonders bei der Vermittlung der polnischen Sprache in Deutschland und beim Schüler- und Studentenaustausch weitere Anstrengungen für nötig. (...) II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf: (...) in enger Zusammenarbeit mit den Bundesländern das Interesse vor allem der jungen Generation in Deutschland an der polnischen Sprache und Kultur zu fördern (...) Berlin, 15. Juni 2011 Quelle: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/061/1706145.pdf Quelle 2: Übereinstimmende Erklärung der Deutschen und der Polnischen Regierung über den Schutz der beiderseitigen Minderheiten, veröffentlicht am 5. November 1937 Die Deutsche Regierung und die Polnische Regierung haben Anlaß genommen, die Lage der deutschen Minderheit in Polen und der polnischen Minderheit in Deutschland zum Gegenstand einer freundschaftlichen Aussprache zu machen. Sie sind übereinstimmend der Überzeugung, daß die Behandlung dieser Minderheiten für die weitere Entwicklung der freundnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen von großer Bedeutung ist und daß in jedem der beiden Länder das Wohlergehen der Minderheit um so sicherer gewährleistet werden kann, wenn die Gewißheit besteht, daß in dem anderen Land nach den gleichen Grundsätzen verfahren wird. Zu ihrer Genugtuung haben die beiden Regierungen deshalb feststellen können, daß jeder der beiden Staaten im Rahmen seiner Souveränität für die Behandlung der genannten Minderheiten nachstehende Grundsätze als maßgebend ansieht: Die gegenseitige Achtung deutschen und polnischen Volkstums verbietet von selbst jeden Versuch, die Minderheit zwangsweise zu assimilieren, die Zugehörigkeit zur Minderheit in Frage zu stellen oder das Bekenntnis der Zugehörigkeit zur Minderheit zu behindern. Insbesondere wird auf die jugendlichen Angehörigen der Minderheit keinerlei Druck ausgeübt werden, um sie ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit zu entfremden. Die Angehörigen der Minderheit haben das Recht auf freien Gebrauch ihrer Sprache in Wort und Schrift sowohl in ihren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen wie in der Presse und in öffentlichen Versammlungen. Den Angehörigen der Minderheit werden aus der Pflege ihrer Muttersprache und der Bräuche ihres Volkstums sowohl im öffentlichen wie im privaten Leben keine Nachteile erwachsen. Das Recht der Angehörigen der Minderheit, sich zu Vereinigungen, auch zu solchen kultureller und wirtschaftlicher Art, zusammenzuschließen, wird gewährleistet. Die Minderheit darf Schulen in ihrer Muttersprache erhalten und errichten. Auf kirchlichem Gebiet wird den Angehörigen der Minderheit die Pflege ihres religiösen Lebens in ihrer Muttersprache und die kirchliche Organisierung gewährt. In die bestehenden Beziehungen auf dem Gebiet des Bekenntnisses und der caritativen Betätigung wird nicht eingegriffen werden. Die Angehörigen der Minderheit dürfen wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit in der Wahl oder bei der Ausübung eines Berufes oder einer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht behindert oder benachteiligt werden. Sie genießen auf wirtschaftlichem Gebiet die gleichen Rechte wie die Angehörigen des Staatsvolkes, insbesondere hinsichtlich des Besitzes oder Erwerbs von Grundstücken. Die vorstehenden Grundsätze sollen in keiner Weise die Pflicht der Angehörigen der Minderheit zur uneingeschränkten Loyalität gegenüber dem Staat, dem sie angehören, berühren. Sie sind in dem Bestreben festgesetzt worden, der Minderheit gerechte Daseinsverhältnisse und ein harmonisches Zusammenleben mit dem Staatsvolk zu gewährleisten, was zur fortschreitenden Festigung des freundnachbarlichen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen beitragen wird. Quelle: http://clarysmith.com/scriptorium/deutsch/archiv/dokuvorgeschichte/dvk13.html#101 Quelle 3: Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1940, Teil I (S. 444) - Verordnung über die Organisationen der polnischen Volksgruppe im Deutschen Reich. - Vom 27. Februar 1940 § 1Die Tätigkeit der Organisationen der polnischen Volksgruppe im Deutschen Reich (Vereine, Stiftungen, Gesellschaften, Genossenschaften und sonstige Unternehmen) ist verboten. Neue Organisationen der polnischen Volksgruppe dürfen nicht gegründet werden. Die bisherigen Verwaltungsträger der Organisationen der polnischen Volksgruppe scheiden aus ihrem Amt aus. Sie können nicht über die Unternehmen der Organisationen und über diejenigen Vermögenswerte, die in einem rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem Unternehmen stehen, verfügen. Ob eine Organisation als Organisation der polnischen Volksgruppe anzusehen ist, entscheidet im Zweifel der Reichsminister des Inneren. § 2Der Reichsminister des Inneren wird ermächtigt, einen Kommissar für die Organisationen der polnischen Volksgruppen zu bestellen. Der Kommissar übt seine Tätigkeit nach den Weisungen des Reichsministers des Inneren aus und untersteht dessen Dienstaufsicht, er kann seine Befugnisse im Einzelfall übertragen. § 3Der Kommissar führt die Verwaltung der Organisationen der polnischen Volksgruppe mit dem Ziel ihrer Liquidation und ist befugt, mit Wirkung für und gegen die Organisation zu handeln. Der Kommissar ist befugt, die Organisationen der polnischen Volksgruppe aufzulösen. Aufgelöste Organisationen der polnischen Volksgruppe sind vom Kommissar abzuwickeln. Der Reichsminister des Inneren kann im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Justiz Richtlinien für die Abwicklung erlassen. In diesen Richtlinien kann von den allgemeinen Vorschriften über die Abwicklung abgewichen werden. Der Kommissar ist auf seinen Antrag bei Organisationen, die in öffentliche Register eingetragen sind, in das Register einzutragen. § 4 Der Kommissar ist nicht an Bestimmungen der Satzung oder Beschlüsse der Mitgliederversammlung (Gesellschaftsversammlung) einer Organisation gebunden, durch die die Geschäftsführung der Verwaltungsträger oder die Vermögensbewertung geregelt ist. § 5 Aus den auf Grund dieser Verordnung getroffenen Maßnahmen können Schadenersatzansprüche nicht abgeleitet werden. § 6 Wer sich entgegen dem § 1 an der Fortsetzung oder Neugründung einer Organisation der polnischen Volksgruppe beteiligt, wird mit Gefängnis und Geldstrafe oder einer dieser Strafen bestraft. § 7 Der Reichsminister des Inneren erlässt die zur Durchführung und Ergänzung dieser Verordnung erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften. § 8 Die Inkraftsetzung dieser Verordnung für die eingegliederten Ostgebiete einschließlich des Gebiets der bisherigen Freien Stadt Danzig sowie für das Protektorat Böhmen und Mähren bleibt vorbehalten. Berlin, den 27. Februar 1940. Der Vorsitzende des Ministerrats für die Reichsverteidigung Göring Generalfeldmarschall Der Generalbevollmächtigte für die Reichsverwaltung Frick Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Dr. Lammers Quelle 4: Arbeitspapier III der Kopernikus-Gruppe Zur Frage der Förderung der polnischsprachigen Gruppe in Deutschland (Auszug) (September 2001) (...) In Deutschland wohnen ca. 1,5 Mio. polnischsprachige Menschen - in dem deutsch-polnischen Partnerschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 bezeichnet als »Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder sich zur polnischen Sprache, Kultur und Tradition bekennen« (Art. 20). Diese Menschen könnten und sollten eine wichtige Mittler- und Brückenrolle in dem deutsch-polnischen Dialog spielen. Leider ist es nicht so, und dies ist eine der im letzten Jahrzehnt ungenutzten Chancen. Dieser Zustand, der keine Seite zufrieden stellen kann, wird von mehren Faktoren bestimmt. (...) Im wesentlichen besteht die Gruppe der 1,5 Mio. Polnischsprachigen aus den über 1 Mio. Personen, die in den 70er und 80er Jahren als Spätaussiedler zugewandert sind, also aus Personen, die sich unabhängig von einem komplizierten Zugehörigkeitsgefühl als Deutsche erklärt haben. Einen sehr wichtigen Teil dieser Gruppe bilden die Oberschlesier. Das sind zwar in ihrer großen Mehrheit nach ihrem Selbstverständnis keine Polen, aber mit Sicherheit Menschen, die mit der polnischen Sprache und Kultur verbunden sind, teilweise sogar Nachkommen der einstigen polnischen Minderheit im Deutschen Reich, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge polnischer Politik der Zwangsassimilierung zur deutschen Minderheit mutierten. (...) Ziel einer deutsch-polnischen Partnerschaft in Bezug auf die polnischsprachige Gruppe in Deutschland sollte es sein, die komplexe kulturelle Identität dieser Menschen zu bewahren. Natürlich bleibt die Frage der Identitätsfindung eine primär private Angelegenheit. Andererseits ist der Schlüssel zur Wahrung multikultureller Identität die Pflege der Mehrsprachigkeit. Dieses ist ein zentrales Problem des Schulwesens, der Bildungspolitik und somit des Staates. Zwei offene im Integrationsprozeß befindliche Gesellschaften sollten daran interessiert sein, dieses bikulturelle Potential der in Deutschland lebenden polnischsprachigen Menschen zu sichern. Personen, die mit der polnischen Kultur verbunden sind, sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Sprach- und Kulturkompetenz nutzbar zu machen. Diese Gemeinschaft sollte als natürliche Nachbarschaft, als Deutsche betrachtet werden, die etwas Besonderes über die polnischen, bis jetzt so wenig bekannten Nachbarn, zu sagen haben. Dies würde gewiß zum Überwinden von vielen der immer noch spukenden Stereotypen beitragen. (...) Den Schlüssel zur Vermittlung der polnischen Kultur könnte ein Programm zum Erlernen der polnischen Sprache darstellen, und zwar für Polnisch als Muttersprache und als Fremdsprache. Bisher gibt es zwei isolierte und begrenzte Experimente in Bremen und Nordrhein-Westfalen. Polnisch sollte aber im deutschen Schulsystem breit und systematisch angeboten werden. Eine größere Zahl von Polnischlehrern würde ein natürliches, die polnische Kultur und die Kontakte mit Polen förderndes Milieu bilden. Die Schule könnte dann ausgebildete Polonisten aufnehmen, die heutzutage oft umsonst Ausschau nach einer Einstellung in Deutschland halten. Der Bedarf an ausgebildeten Polnischlehrern könnte auch ein Impuls zur Belebung der Polonistik-Studien an deutschen Hochschulen sein. Es wird angeregt, dass der polnische Staat mit Unterstützung polnischer und deutscher privater Träger an deutschen Universitäten Lehrstühle für »Polish Studies« stiftet. (...) Quelle: http://www.deutsches-polen-institut.de/Projekte/Projekte-Aktuell/Kopernikus-Gruppe/dritte-sitzung.php
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-11-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/40860/dokumentation-quellen-zum-text/
Quellen zu "Deutschland und Polen - Verantwortung aus der Geschichte, Zukunft in Europa"; "Erklärung der Deutschen und Polnischen Regierung über den Schutz der beiderseitigen Minderheiten"; "Verordnung über die Organisationen der polnischen Volksgrup
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Chronik: 29. Januar – 11. Februar 2018 | Russland-Analysen | bpb.de
29.01.2018 Vertreter des Wahlkampfteams des amtierenden Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, haben der Zentralen Wahlkommission etwa 315.000 Unterschriften zur Unterstützung von Putins Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im März 2018 eingereicht. Als parteiloser Kandidat ist er verpflichtet, bis zum 30.01.2018 mindestens 300.000 Unterschriften aus 40 Regionen Russlands zu sammeln. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte das Wahlkampfteam berichtet, bereits etwa 1,6 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben. 29.01.2018 Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Andrew Parsons, gibt bekannt, dass etwa 30 bis 35 russische Athleten unter neutraler Flagge an den Paralympischen Winterspielen in Pyeongchang teilnehmen werden. Außerdem bestätigt das Komitee die Teilnahme von 169 russischen Athleten unter neutraler Flagge an den Olympischen Spielen. 29.01.2018 In einer ARD-Dokumentation beschuldigt der Kronzeuge der"Welt-Anti-Doping-Agentur" (WADA) und frühere Leiter des Moskauer Doping-Analyselabors, Grigorij Rodtschenkow, den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, der direkten Mitwisserschaft um Staatsdoping in Russland. Bisher konnte eine Beteiligung Putins nicht nachgewiesen werden. Das Internationale Olympische Komitee hatte unter anderem auf der Grundlage der Aussage Rodtschenkows das Nationale Olympische Komitee Russlands gesperrt. 29.01.2018 In Sotschi beginnt eine von Russland anberaumte Syrien-Friedenskonferenz. Das"Syrische Verhandlungskomitee", das die wichtigsten Oppositionsbündnisse vertritt, nimmt allerdings nicht an den Gesprächen teil. Es hatte auf die von der UNO geführten "Genfer Gespräche" verwiesen. Auch die USA verweisen auf die "Genfer Gespräche" und nehmen nicht am Gesprächsformat inSotschi teil. 29.01.2018 Über dem Schwarzen Meer nähert sich ein russisches Militärflugzeug vom Typ SU-27 einem Flugzeug der US-Marine bis auf 1,5 Meter. Die USA zeigten sich besorgt ob dieses Vorfalls. Das russische Verteidigungsministerium ließ hingegen verlautbaren, der russische Jet habe sich einem unbekannten Flugobjekt genähert, es identifiziert und es begleitet, um zu verhindern, dass dieses den russischen Luftraum verletze. 30.01.2018 Das US-Finanzministerium veröffentlicht eine Liste mit 210 russischen Geschäftsmännern und Politikern, den sogenannten "Kreml-Bericht". Aufgelistet werden Personen, deren Nettovermögen mindestens eine Milliarde US-Dollar beträgt, darunter unter anderem Premierminister Dmitrij Medwedew, Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow undOligarch Alischer Usmanow. Der Bericht hat zunächst keine rechtlichen Konsequenzen, könnte aber als Grundlage für weitere Sanktionen dienen. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, nennt die Veröffentlichung einen "feindlichen Akt". 31.01.2018 Ilja Schablinskij, Mitglied des Menschenrechtsrates des Präsidenten der Russischen Föderation, nennt das Verleihverbot für den Film "The Death of Stalin" einen "Akt der Zensur". Es gebe im Film keine Hinweise auf Extremismus, das Verbot sei lediglich Zeichen eines bestimmten "politischen Geschmacks". 31.01.2018 Der Journalist Pawel Nikulin wird nach der Durchsuchung seiner Wohnung in St. Petersburg zur Vernehmung durch den FSB vorgeladen. Nikulin hatte für das unabhängige Magazin "The New Times" im März 2017 ein Interview mit einem zum Islam konvertierten Mann aus Kaluga geführt, der sich in Syrien dem IS angeschlossen hatte. Bereits im Juni 2017 war "The New Times" wegen"Missbrauchs der Medienfreiheit" zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubel verurteilt worden. Nikulin selbst wird die "Ausbildung zum Zweck terroristischer Aktivitäten" (§ 205 Strafgesetzbuch der Russischen Föderation) vorgeworfen. 01.02.2018 Der Internationale Sportgerichtshof (CAS) hebt die vom Internationalen Olympischen Komitee verhängten lebenslangen Sperren für 28 russische Sportler auf. Laut CAS seien keine individuellen Verstöße gegen Anti-Doping-Regeln festgestellt worden. Die Aufhebung der Sperren bedeutet nicht automatisch, dass die Sportler an den Olympischen Winterspielen teilnehmen dürfen, da ihnen keine Einladung des IOC vorliegt. Sie müssen nun ihr Startrecht einklagen. Elf Sportler bleiben gesperrt. Das IOC erwägt, Einspruch gegen das Urteil einzulegen. 01.02.2018 Der liberale Oppositionspolitiker und ehemalige Gouverneur der Oblast Kirow, Nikita Belych, wird vom Presnenskij-Bezirksgericht in Moskau der Bestechlichkeit für schuldig befunden. Belych war im Juni 2016 festgenommen worden. Ihm wird vorgeworfen, Bestechungsgelder in Höhe von etwa 600.000 Euro angenommen zu haben. 03.02.2018 In der syrischen Provinz Idlib wird ein russischer Kampfjet des Typs Suchoj SU-25 abgeschossen. Dies meldet das russische Verteidigungsministerium. Der Pilot, der sich mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug retten konnte, soll sich kurz darauf mit einer Handgranate selbst getötet haben, um der Gefangennahme durch eine syrische Rebellenmiliz zu entgehen. 03.02.2018 Starke Schneefälle sorgen in Moskau für Chaos. Innerhalb weniger Stunden fällt laut Angaben des Hydrometrischen Zentrums in Moskau 23 Zentimeter Neuschnee. Durch umknickende Bäume gibt es fünf Verletzte, die Stromversorgung bricht zusammen. Etwa 40.000 Haushalte sind ohne Strom. 05.02.2018 Russland stationiert Iskander-Raketen in Kaliningrad. Dies bestätigt der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow. Die Stationierung der Raketen war seit langer Zeit geplant. Russland hatte dies als Reaktion auf den von der US-Regierung unter Präsident George W. Bush geplanten Raketenabwehrschirm im Jahr 2007 angekündigt. 05.02.2018 Das Internationale Olympische Komitee lehnt die nachträgliche Einladung 13 weiterer Sportler und ihrer Betreuer zu den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang ab. Eine nachträgliche Einladung war zuvor von einer unabhängigen Kommission geprüft worden, nachdem der Internationale Sportgerichtshof die lebenslangen Sperren der Sportler aufgehoben hatte. 05.02.2018 Die durch heftige Schneefälle unterbrochene Stromversorgung in der Region Moskau ist weitestgehend wieder hergestellt. 06.02.2018 32 russische Athleten klagen vor dem Schweizer Bundesgericht und dem Internationalen Sportgerichtshof gegen die Weigerung des Internationalen Olympischen Komitees, sie nachträglich zu den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang einzuladen. 06.02.2018 Dem am Samstag in der syrischen Provinz Idlib ums Leben gekommenen russischen Piloten, Roman Filipow, wird posthum der Titel"Held der Russischen Föderation" verliehen. Es ist der höchste Ehrentitel, der in Russland verliehen wird. 07.02.2018 13 Athleten und ihre Betreuer, deren nachträgliche Einladung zu den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang am Montag vom Internationalen Olympischen Komitee abgelehnt worden war, schließen sich der Klage ihrer Landsleute vor dem Internationalen Sportgerichtshof an. 07.02.2018 Die stellvertretende Gesundheitsministerin von Tatarstan, Jelena Schischmarewa, wird tot aufgefunden. Sie befand sich seit dem 03.02. unter Hausarrest wegen des Verdachts auf Betrug und Amtsmissbrauch. Die Umstände ihres Todes bleiben zunächst unklar. 09.02.2018 Der Internationale Sportgerichtshof lehnt die Klage von 45 russischen Sportlern und ihren Betreuern ab. Die Athleten hatten Klage gegen die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees eingereicht, sie trotz Aufhebung ihrer lebenslangen Sperre nicht zu den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang einzuladen. Bereits am Vortag hatte sich das Gericht im Fall der Klage von 13 weiteren Athleten für nicht zuständig erklärt. 11.02.2018 Ein Passagierflugzeug der russischen Fluggesellschaft"Saratov Airlines" stürzt kurz nach dem Start vom Moskauer Flughafen Domodedowo ab. An Bord befanden sich 65 Passagiere und die Besatzung. Ersten Meldungen des Katastrophenschutzes zufolge gibt es keine Überlebenden. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion der Russland-Analysen kann keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Alena Göbel und Hartmut Schröder Sie können die gesamte Chronik seit 1964 auch auf http://www.laender-analysen.de/russland/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-02-19T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-349/264916/chronik-29-januar-11-februar-2018/
Die Ereignisse vom 29. Januar bis zum 11. Februar 2018 in der Chronik.
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Editorial | Gesundheitspolitik | bpb.de
Notoperation Gesundheitsreform: Am 21. Juli 2003 gaben Bundesministerin Ulla Schmidt (SPD) und Unions-Fachmann Horst Seehofer (CSU) die Ergebnisse wochenlanger Verhandlungen bekannt. Die informelle Allparteienkoalition verfolgte als oberstes Ziel die Senkung der Beiträge für die gesetzlichen Krankenkassen und damit der hohen Lohnnebenkosten. Der Beitragssatz soll bis 2006 von jetzt 14,4 auf 13 Prozent gesenkt werden. Die 19-seitigen Kompromissvorschläge bedürfen in großen Teilen der Zustimmung des Bundesrates - daher war die Mitwirkung der Opposition bereits im Vorfeld nötig. Vorgesehen sind u.a. Gebühren für den Arztbesuch und die Ausgliederung des Zahnersatzes aus den Kassenleistungen. Flankiert werden die Kostendämpfungsversuche ab 2004 durch weitere Erhöhungen der Tabaksteuer. Ärzte, Apotheker und die Pharmaindustrie bleiben weitgehend verschont. Der Katalog solle, so Schmidt, eine verbindliche Arbeitsgrundlage für alle Fraktionen darstellen. Dass er allerdings "ungerupft" Bundestag und Bundesrat passieren wird, ist nicht zu erwarten. Die von allen Experten geforderte "Systemdebatte" - etwa über das Gutachten der Rürup-Kommission (SPD), die Vorschläge der Herzog-Kommission (Union) oder eine Bürgerversicherung, wie sie nicht mehr nur die Bündnisgrünen fordern - steht weiterhin aus. Verantwortlich für das Finanzdesaster des Gesundheitssystems sind neben der schlechten Wirtschaftslage vor allem die demographische Entwicklung und die erheblich verlängerte Lebenserwartung. An tief greifenden Reformen führt kein Weg vorbei. Trotz wachsenden Problemdrucks dürfe jedoch, so Jutta Hoffritz in ihrem Essay, nicht aus dem Blick geraten, dass Gesundheit kein Produkt wie jedes andere sei. Eine Zwischenbilanz der rot-grünen Gesundheitspolitik zieht Thomas Gerlinger. Zunächst habe die Regierung Schröder vor allem die Ausgabenbegrenzung in der gesetzlichen Krankenversicherung unter Beibehaltung eines einheitlichen Leistungskatalogs angestrebt. Nach der Bundestagswahl 2002 kam es zu einem Kurswechsel: Aufgrund der notwendigen Zusammenarbeit mit der Opposition müsse künftig von stärkeren Belastungen für Versicherte und Patienten ausgegangen werden. In einer politikwissenschaftlichen Analyse gelangt Nils C. Bandelow zu einem ermutigenden Befund: Auch wenn in unserer "Verhandlungsdemokratie" unzählige Interessen und Verbände an der Entscheidungsfindung mitwirkten, sei es doch möglich, zu einem Reformkonsens zu gelangen. Allerdings seien Gesundheitsreformen bisher nahezu ausschließlich auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen worden. Der Autor hält die Auflösung von Blockaden für eine nachhaltige Systemveränderung für unabdingbar. In einer zeithistorischen Skizze erläutert Ulrike Lindner die Genese eines Systems, das auf die Bismarck'schen Sozialreformen zurückgeht. Die überkommenen Strukturen des Gesundheitswesens hätten sich aufgrund der Beharrungskräfte seiner Akteure als außergewöhnlich reformresistent gegenüber politischen Steuerungsversuchen erwiesen. Abschließend ziehen Annette Riesberg, Susanne Weinbrenner und Reinhard Busse einen europäischen Vergleich der Gesundheitssysteme. Ein konstruktives Aufnehmen der im Entwurf einer EU-Verfassung verankerten "Methode der offenen Koordinierung" im Gesundheitssystem böte einen Ansatz zur gemeinsamen Gestaltung eines künftigen Sozial- und Wirtschaftsmodells.
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Hans-Georg Golz
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27457/editorial/
Hauptverantwortlich für das Finanzdesaster des Gesundheitssystems sind neben der schlechten Wirtschaftslage die demographische Entwicklung und der medizinische Fortschritt. Um zu einem Reformkonsens zu gelangen, ist der Abbau von Blockaden notwendig.
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ZDF-Staatsvertrag in Teilen verfassungswidrig | Hintergrund aktuell | bpb.de
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Externer Link: in seinem Urteil das Gebot der Staatsferne im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bekräftigt. Der Einfluss "staatlicher und staatsnaher Mitglieder" müsse konsequent begrenzt werden. Ihr Anteil dürfe "ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen". Zudem dürfen Regierungsvertreter keinen entscheidenden Einfluss mehr auf die Besetzung der Gremienmitglieder ausüben. Die entsprechenden Regelungen des Staatsvertrages zur Besetzung der Aufsichtsgremien des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) verstoßen nach Ansicht des Gerichtes gegen die in Interner Link: Artikel 5 des Grundgesetzes gewährleistete Presse- und Rundfunkfreiheit. Die Bundesländer, die den ZDF-Staatsvertrag untereinander ausgehandelt haben, müssen bis zum 30. Juni 2015 eine verfassungskonforme Neuregelung finden. Die Entsendung von Angehörigen der staatlichen Ebene in die Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hält das Gericht im Rahmen der Vielfaltsicherung weiterhin grundsätzlich für zulässig. Im Verwaltungs- und im Fernsehrat des ZDF liegt der Anteil von Partei- und Staatsvertretern derzeit bei mehr als 40 Prozent der Gremienmitglieder. Auch in den Aufsichtsgremien der neun öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der ARD und der Deutschen Welle sowie des Deutschlandradios sitzen Parteimitglieder und Politiker (Rundfunkrat). Entstehung der Klage Der ZDF-Staatsvertrag aus dem Jahr 1961 schreibt es vor: Der Intendant des ZDF leitet den Sender und verantwortet das Programm. Zwei Gremien wachen über ihn: der Fernseh- und der Verwaltungsrat. Im Jahr 2009 hatte die Nichtverlängerung des Vertrages des damaligen ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender eine öffentliche Kontroverse um parteipolitische Einflussnahme auf den Sender ausgelöst. Besonders Vertreter der Länder Bayern und Hessen hatten gegen die Verlängerung seines Vertrages plädiert. Zwei identische Anträge zur Normenkontrolle hatten die Länder Hamburg und Rheinland-Pfalz in Karlsruhe daraufhin eingereicht. Ihr Inhalt: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sollte prüfen, ob die Zusammensetzung der Gremien des öffentlich-rechtlichen Senders mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Zuvor hatte die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vorbereitet, die allerdings im Bundestag nicht genügend Unterstützer fand. Seit dem 5. November 2013 verhandelte der erste Senat des BVerfG in Karlsruhe die Klage. Normenkontrolle Mit ihrer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht haben die Bundesländer Hamburg und Rheinland-Pfalz eine so genannte "Normenkontrollklage" eingereicht. Unter "Normenkontrolle" versteht man die gerichtliche Überprüfung einer rechtlichen Regelung (in diesem Fall: die Regelungen im ZDF-Staatsvertrag) in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht (in diesem Fall: dem Grundgesetz). Einen Normenkontrollantrag kann eine Bundes- oder Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Er kann aber auch gestellt werden, wenn ein Viertel der Abgeordneten im Bundestag dafür stimmt. Die umstrittenen Gremien: Wie viel Einfluss hat der Staat beim ZDF? Der Fernsehrat 77 Mitglieder hat der Fernsehrat des ZDF. Sie formulieren allgemeine Programmrichtlinien, genehmigen den bereits beschlossenen Haushalt und wählen den Intendanten. Für die Wahl ist eine Mehrheit von drei Fünftel der Stimmen nötig. Vorsitzender ist derzeit der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz. Die Mitglieder des Fernsehrates setzen sich zusammen aus 16 Vertretern der Länder (je einer pro Land), drei Vertretern des Bundes und zwölf Vertretern der Parteien, entsprechend der Stärke ihrer Fraktionen im Bundestag. Dazu kommen fünf Vertreter von Glaubensgemeinschaften und 25 Vertreter von Verbänden, die gesetzlich festgelegt sind (u.a. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Zeitungsverleger und Journalisten, Kommunen, IHK). Diese 25 Vertreter werden von der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder ernannt. Zudem sitzen im Fernsehrat weitere 16 Mitglieder aus verschiedenen Berufsbereichen, die ebenfalls von der Ministerpräsidentenkonferenz berufen werden. Der Verwaltungsrat Der Verwaltungsrat beschließt unter anderem den Haushalt des Senders und überwacht die Tätigkeit des Intendanten. Direktoren, die in die Sendeleitung berufen werden, müssen durch eine Drei-Fünftel-Mehrheit im Verwaltungsrat bestätigt werden. Der Rat hat 14 Mitglieder: einen Vertreter des Bundes, fünf Vertreter der Länder und acht vom Fernsehrat gewählte Mitglieder. Vorsitzender ist der ehemalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck. Die Klage: Staatsvertreter bestimmen über Posten Die Aufsichtsgremien des ZDF werden von Vertretern staatlicher Institutionen dominiert und sind somit nicht ausreichend staatsfern. Das war zentraler Kritikpunkt der Kläger an der bisherigen Besetzungspraxis. Die aus Sicht der Kläger fehlende Staatsferne schreibt das Grundgesetz vor: Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) In der Praxis gehe ein zu großer Teil der Posten in den Aufsichtsgremien an unmittelbare Vertreter des Staates, so die Klageschrift. Allein im Fernsehrat seien dies 35 von 77 Personen. Auch die Berufung der restlichen Mitglieder erfolge durch die Ministerpräsidentenkonferenz und verhindere auch nicht die Besetzung der Posten durch Berufspolitiker, da die Regelung im Staatsvertrag diese nicht ausdrücklich ausschließt. Gegner der Klage Das ZDF und mit ihm Vertreter der Bundesländer Bayern, Hessen, Saarland und Sachsen hatten dieser Interpretation widersprochen: Das bisherige System stelle die föderale sowie parteipolitische Pluralität in den Gremien des ZDF durchaus sicher. Man dürfe die Politiker in den Gremien des ZDF nämlich nicht einfach zu einer Gruppe zusammenrechnen. Da die einzelnen Politiker aus unterschiedlichen Ländern kommen und unterschiedlichen Parteien angehören, würden sie auch nicht geschlossen auf die Entscheidungsfindung in den Gremien hinarbeiten. Im Ergebnis sei eine einseitige Beeinflussung daher ausgeschlossen. Außerdem liege der Anteil aller staatlichen Vertreter unter 50 Prozent. Geschichte des ZDF: BVerfG-Entscheidung schon vor Sendestart Schon seit seiner Gründung wird die politische Einflussnahme auf den Sender diskutiert. Vor dem Start des Senders stand ebenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Bundeskanzler Konrad Adenauer, von dem die Idee für einen zweiten Fernsehsender neben der ARD stammte, hatte ursprünglich eine zumindest teilweise vom Bund getragene Organisation anvisiert. Eine Klage der Bundesländer machte diese Pläne für eine Bund-Länder-Trägergesellschaft zunichte. Im Februar 1961 legten die Karlsruher Richter fest, dass zwar das Fernmeldewesen, nicht aber der Rundfunk im Verantwortungsbereich des Bundes liege. Der Staatsvertrag des ZDF trat am 6. Juni 1961 in Kraft – durch die Zustimmung der Länder, nicht des Bundes. Mehr zum Thema Deutsche Fernsehgeschichte: Aufgaben und Funktionen des Fernsehens Mit ihrer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht haben die Bundesländer Hamburg und Rheinland-Pfalz eine so genannte "Normenkontrollklage" eingereicht. Unter "Normenkontrolle" versteht man die gerichtliche Überprüfung einer rechtlichen Regelung (in diesem Fall: die Regelungen im ZDF-Staatsvertrag) in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht (in diesem Fall: dem Grundgesetz). Einen Normenkontrollantrag kann eine Bundes- oder Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Er kann aber auch gestellt werden, wenn ein Viertel der Abgeordneten im Bundestag dafür stimmt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-02T00:00:00"
"2014-03-25T00:00:00"
"2021-11-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/181313/zdf-staatsvertrag-in-teilen-verfassungswidrig/
Die derzeitige Besetzung der beiden Aufsichtsgremien des ZDF ist unvereinbar mit der Rundfunkfreiheit. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag (25. März) entschieden. Die Richter haben damit die Normenkontrollklage der Bundesländer Hamburg u
[ "ZDF", "BVerfG", "Normenkontrolle", "Rundfunkfreiheit", "Pressefreiheit in Deutschland", "Deutschland" ]
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Klimaschutz im Alltag | Klimawandel | bpb.de
Befragungen zeigen regelmäßig, dass weite Teile der Gesellschaft dem Klimaschutz eine sehr große Bedeutung beimessen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in der gesamten Europäischen Union. Über 90 Prozent sehen den Klimawandel als ein schwerwiegendes Problem. Und dreiviertel der Menschen wünschen sich, dass die Treibhausgase schnell verringert werden. Sie wünschen sich, dass die Externer Link: EU bis zum Jahr 2050 klimaneutral wird. Offenbar sind die Menschen über das Klimaproblem recht gut informiert und erwarten von der Politik, etwas gegen die Erhitzung des Klimas zu unternehmen. Doch die persönliche CO2 Bilanz zu verändern, fällt vielen Menschen schwer. In Schulen, Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehsendungen und sozialen Medien werden wir regelmäßig dazu aufgefordert. Und tatsächlich könnten die Menschen durch ihr Verhalten einen maßgeblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten (siehe unten Interner Link: Klimafreundlich leben). In der Theorie ist das richtig, doch in der Praxis sieht es eher so aus, dass die Menschen nur sehr ungerne ihre Gewohnheiten und Routinen dauerhaft ändern möchten. Noch schlechter sieht es mit Verzicht aus. Ganz im Gegenteil geht der Trend häufig zum "mehr" von klimaschädlichen Aktivitäten statt zum "weniger". Die durchschnittliche Wohnfläche ist heute Externer Link: zwölf Quadratmeter größer als im Jahr 1990. Diese zusätzliche neue Wohnfläche muss nicht nur beheizt werden, auch wird für den Bau neuer Häuser enorm viel Energie benötigt. Trotz der erzielten Energieeffizienz gehen die CO2-Emissionen in Interner Link: Klimaneutrale Gebäude kaum zurück. Noch schwieriger ist die Situation im Verkehr: Es werden immer mehr neue Autos in Deutschland zu gelassen. 2005 waren etwa 40 Millionen PKW zugelassen, 15 Jahre später waren es schon Externer Link: 48 Millionen PKW (vgl. Kraftfahrtbundesamt, Externer Link: www.kba.de, Stichtag 01.01.2021) Doch nicht nur die Zahl der Autos nimmt zu, auch deren Größe und Gewicht steigt. Auch der Flugverkehr wächst und durch den Onlinehandel hat der Straßengüterverkehr ebenfalls zugenommen. Im Ergebnis kam es im Interner Link: Sektor Verkehr zu keinerlei Minderung der CO2-Emissionen, verglichen zum Jahr 1990. Der Unterschied zwischen Bewusstsein und Verhalten In der Praxis gibt es viele systematische und psychologische Gründe dafür, dass Bewusstsein und Handeln nicht übereinstimmen, dass also die Menschen nicht tun, was zu den von ihnen als wichtig benannten Zielen wie Klimaschutz beitragen würde. Bus und Fahrrad helfen beim Klimaschutz im Alltag (© picture-alliance, photothek | Florian Gaertner) Menschen können sich z.B. benachteiligt fühlen, wenn sie "allein" auf den Flug oder das Auto verzichten oder sich einschränken. Wenn "die anderen", also die Freund*innen, Nachbar*innen und Kolleg*innen nicht mitmachen, stellt sich schnell das Gefühl ein, der persönliche Verzicht sei wirkungslos. Grundsätzlich ist es schwierig, Routinen oder das Konsumverhalten zu verändern. Die Menschen ändern nur ungerne ihre Gewohnheiten. Wie lässt sich diese Kluft zwischen Bewusstsein und Handel überbrücken? Oder anders gefragt: Was muss geschehen, "damit wir tun, was wir für richtig halten"? So lautet der Untertitel meines Interner Link: Buches "Ökoroutine". Dieser Begriff meint, dass ökologisch verantwortliche Handlungen überwiegend durch strukturelle Veränderungen zur Routine werden. Wenn sich also die Gegebenheiten und Rahmenbedingungen ändern, dann ändern sich auch die Menschen. Anders formuliert: Verhältnisse ändern Verhalten. Klimafreundlich leben Je nach sozialer Lage, gibt es zahlreiche Externer Link: Möglichkeiten die persönliche CO2 Bilanz zu verbessern. Einen enormen Einfluss haben beispielsweise die Zahl und Entfernung der Flüge, insbesondere zwischen Kontinenten. Wer seine Zimmertemperatur von 23 auf 21 Grad Celius verringert, spart rund 12 % Heizkosten. Weniger Fleisch essen und das Auto öfter stehen lassen oder bestenfalls abzuschaffen und stattdessen mit dem Fahrrad, Bahnen und Bussen zu fahren, ist wirkungsvoll. Auch weniger Dinge zu kaufen (hier unter "sonstiger Konsum" aufgeführt), ist ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz. Bus und Fahrrad helfen beim Klimaschutz im Alltag (© picture-alliance, photothek | Florian Gaertner) Auch nachhaltige Geldanlagen können den persönlichen CO2-Fußabdruck reduzieren. Wer mit Sparverträgen oder Erbe darauf achtet, dass zumindest keine Fossile Energieerzeugung im Portfolio enthalten ist, auf ohne großen Aufwand etwas für den Klimaschutz bewirken. CO2-Rechner des Umweltbundesamt Wer genau wissen möchte, wie es um den persönlichen Beitrag zum Klimaschutz bestellt ist, kann mit dem Externer Link: CO2-Rechner des Umweltbundesamtes seinen Fußabdruck überprüfen. Mit ihm lassen sich auch persönliche Verhaltensänderungen, wie zum Beispiel der Verzicht auf Interkontinentalflüge einfach überprüfen. Das Tool zeigt auch, wie schwierig es ist, die 2045 geltenden Ziele von maximal zwei Tonnen pro Kopf einzuhalten. Zumal bespielweise Mieter*innen keinen Einfluss auf den Energiestandard des Hauses haben. Umstrittene CO2-Rechner Der ökologische Fußabdruck, oder auch CO2-Bilanz, zählt die Ressourcen des Alltags und berechnet die Menge an Treibhausgasen, die durch den persönlichen Lebensstil entstehen. Der Nachhaltigkeitsindikator ist weitverbreitet, doch es gibt daran Kritik: Der Carbon Footprint Calculator (dt. CO2-Rechner) wurde 2004 als PR-Strategie vom britischen Ölkonzern BP (ehemals British Petroleum) verbreitet. Damit hielt eines der größten globalen Energieunternehmen Privatpersonen dazu an, die Auswirkungen ihres Alltags auf die Erderwärmung zu berechnen. Der CO2-Rechner wurde von vielen Akteur*innen – auch aus dem Klimaschutz – adaptiert. Denn es kann durchaus sinnvoll sein den eigenen CO2-Ausstoß zu berechnen, um sein individuelles Verhalten zu reflektieren. Doch CO2-Rechner können den Anschein erwecken, Individuen seien allein für den fortschreitenden Klimawandel verantwortlich. Diese Individualisierung ist eine Strategie, wie im Beispiel von BP, um von der gesellschaftlichen Verantwortung des Klimawandels abzulenken. Denn den größten CO2-Ausstoß verursachen nicht Privathaushalte, sondern Energiewirtschaft und Industrie . Fußnoten Externer Link: Mark Kaufman "The Carbon Footprint Sham" Zur Zeit verursacht eine Person in Deutschland im Durchschnitt jährlich fast elf Tonnen Kohlendioxid. Darin berücksichtigt sind Emissionen, die durch den Konsum von im Ausland hergestellten Produkten entstehen. Ein großer Teil entfällt auf den Bereich Wohnen. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie groß der Einfluss der Wohnungsgröße auf das Klima ist. Beispielsweise erhöht sich die CO2 Bilanz von Eltern spontan drastisch mit dem Auszug der Kinder. Junge oder arme Menschen haben oft eine vergleichsweise gute CO2-Bilanz, einfach weil sie sich nicht so große Wohnungen, Reisen und sonstige Dinge leisten können. Das heißt, mit steigendem Einkommen erhöht sich in der Regel auch der persönliche CO2-Ausstoß. Einkommen und Umweltbelastung Wie viele Treibhausgase ein Mensch verursacht, ist nicht allein mit dem individuellen Verhalten zu erklären, sondern viel mehr mit strukturellen Faktoren – wie der sozialen Lage eines Menschen. Beispielsweise sind Besserverdienende häufiger mit dem Auto und dem Flugzeug unterwegs und leben in größeren Wohnungen und Häusern. Mit dem Einkommen steigen also im Schnitt der Ressourcenverbrauch und damit auch die Umweltbelastung. Für die meisten Treibhausgase in Deutschland sind die Sektoren Energie, Industrie und Verkehr verantwortlich. Eine Externer Link: Studie (2021) des Umweltbundesamtes hat den Einfluss des Einkommens auf den Ressourcenverbrauch untersucht und kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass höheres Einkommen durch mehr Mobilität dem Klima schadet. "[…] Haushalte mit höherem Einkommen verursachen mehr Treibhausgasemissionen. Sowohl im Längsschnitt, d.h. im Vergleich der Anzahl an jährlichen Reisen eines Haushaltes zu zwei verschiedenen Messzeitpunkten, als auch im Querschnitt, also im Vergleich der im selben Jahr durch verschiedene Haushalte zurückgelegten Kilometer, zeigt sich eindeutig, dass höhere Einkommen stets zu höherem Konsum und somit Ressourcenverbrauch führen. Dies gilt insbesondere für die Nutzung des Pkws, wo steigende Einkommen mit dem größten Effekt auf die Emission von Treibhausgasen verbunden sind. Den zweitgrößten Effekt auf das Klima hat der Flugverkehr. Der ÖPNV ist das einzige untersuchte Transportmittel, das mit steigendem Einkommen weniger genutzt wird und somit auch weniger Umweltauswirkungen verursacht. Dies ist vor dem Hintergrund, dass der ÖPNV pro Personenkilometer deutlich geringere Umweltauswirkungen hat als Individualverkehr, mit Blick auf die Reduktion von Ressourcenverbrauch besonders kontraproduktiv. […]" Quelle: Externer Link: UBA (2021), S. 80 Der ökologische Fußabdruck, oder auch CO2-Bilanz, zählt die Ressourcen des Alltags und berechnet die Menge an Treibhausgasen, die durch den persönlichen Lebensstil entstehen. Der Nachhaltigkeitsindikator ist weitverbreitet, doch es gibt daran Kritik: Der Carbon Footprint Calculator (dt. CO2-Rechner) wurde 2004 als PR-Strategie vom britischen Ölkonzern BP (ehemals British Petroleum) verbreitet. Damit hielt eines der größten globalen Energieunternehmen Privatpersonen dazu an, die Auswirkungen ihres Alltags auf die Erderwärmung zu berechnen. Der CO2-Rechner wurde von vielen Akteur*innen – auch aus dem Klimaschutz – adaptiert. Denn es kann durchaus sinnvoll sein den eigenen CO2-Ausstoß zu berechnen, um sein individuelles Verhalten zu reflektieren. Doch CO2-Rechner können den Anschein erwecken, Individuen seien allein für den fortschreitenden Klimawandel verantwortlich. Diese Individualisierung ist eine Strategie, wie im Beispiel von BP, um von der gesellschaftlichen Verantwortung des Klimawandels abzulenken. Denn den größten CO2-Ausstoß verursachen nicht Privathaushalte, sondern Energiewirtschaft und Industrie . Fußnoten Externer Link: Mark Kaufman "The Carbon Footprint Sham" Externer Link: Mark Kaufman "The Carbon Footprint Sham" Wie viele Treibhausgase ein Mensch verursacht, ist nicht allein mit dem individuellen Verhalten zu erklären, sondern viel mehr mit strukturellen Faktoren – wie der sozialen Lage eines Menschen. Beispielsweise sind Besserverdienende häufiger mit dem Auto und dem Flugzeug unterwegs und leben in größeren Wohnungen und Häusern. Mit dem Einkommen steigen also im Schnitt der Ressourcenverbrauch und damit auch die Umweltbelastung. Für die meisten Treibhausgase in Deutschland sind die Sektoren Energie, Industrie und Verkehr verantwortlich. Eine Externer Link: Studie (2021) des Umweltbundesamtes hat den Einfluss des Einkommens auf den Ressourcenverbrauch untersucht und kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass höheres Einkommen durch mehr Mobilität dem Klima schadet. "[…] Haushalte mit höherem Einkommen verursachen mehr Treibhausgasemissionen. Sowohl im Längsschnitt, d.h. im Vergleich der Anzahl an jährlichen Reisen eines Haushaltes zu zwei verschiedenen Messzeitpunkten, als auch im Querschnitt, also im Vergleich der im selben Jahr durch verschiedene Haushalte zurückgelegten Kilometer, zeigt sich eindeutig, dass höhere Einkommen stets zu höherem Konsum und somit Ressourcenverbrauch führen. Dies gilt insbesondere für die Nutzung des Pkws, wo steigende Einkommen mit dem größten Effekt auf die Emission von Treibhausgasen verbunden sind. Den zweitgrößten Effekt auf das Klima hat der Flugverkehr. Der ÖPNV ist das einzige untersuchte Transportmittel, das mit steigendem Einkommen weniger genutzt wird und somit auch weniger Umweltauswirkungen verursacht. Dies ist vor dem Hintergrund, dass der ÖPNV pro Personenkilometer deutlich geringere Umweltauswirkungen hat als Individualverkehr, mit Blick auf die Reduktion von Ressourcenverbrauch besonders kontraproduktiv. […]" Quelle: Externer Link: UBA (2021), S. 80 Rolle des individuellen politischen Engagements Jede und jeder für sich hat also Möglichkeiten, den persönlichen CO2-Ausstoß zu verringern und damit etwas für den Klimaschutz zu tun. Dafür hilft es zu wissen, wo die großen Einsparungen möglich sind (siehe oben). Aber insgesamt fällt es uns allen offenkundig extrem schwer, das zu tun, was wir laut Befragungen für richtig halten. Dabei kämpfen wir oft gegen strukturelle Probleme an (Warum Bahnfahren, wenn Fliegen billiger ist?) und fühlen uns alleine ohnmächtig (Wenn ich weniger Auto fahre bringt es das noch nicht!). Von daher erscheint es maßgeblich, nicht nur auf das persönliche Verhalten und den daraus resultieren CO2 Ausstoß zu achten, sondern auch einen Beitrag zur Veränderung der politischen Rahmenbedingungen zu leisten. Politik kann Regeln ins Werk setzen, die dafür sorgen, dass Produkte in den Geschäften nachhaltiger werden, Häuser sparsamer und Fahrzeuge klimafreundlicher. Wenn die Produkte beim Discounter eines Tages genauso umweltfreundlich sind wie die beim Biosupermarkt, könnten die meisten Menschen gut damit leben. Ja, es kann sogar als Entlastung empfunden werden, wenn ich nicht ständig darüber nachdenken muss, was das ethisch richtige Produkt, was das korrekte Verhalten ist. Letztlich kommt es also auf die Politik an, sie muss dafür sorgen, dass es sich für Bürger*innen und Unternehmen lohnt, in umweltfreundliche Technologien zu investieren. Wind- und Solarkraft waren noch zu Beginn der 1990er Jahre extrem kostspielige Formen der Energieerzeugung. Die Politik hat dafür gesorgt, dass es sich trotzdem gelohnt hat, in den Bau von Windkraft zu investieren. Inzwischen ist Windstrom günstiger als jede andere Form der Stromerzeugung. Autos und Häuser stoßen heute – relativ betrachtet – weniger CO2 pro Quadratmeter aus als vor zehn Jahren, weil der Gesetzgeber entsprechende Vorgaben gemacht hat. Doch allein technische Veränderungen reichen nicht aus. Notwendig sind auch gesetzliche Regelungen wie ein allgemeines Tempolimit, strengere Grenzwerte für Pestizide, Wohnflächen, Starts- und Landungen von Flugzeugen und vieles mehr. Doch viele Reformen und besonders Grenzen und Limits kommen erst dann, wenn sich Bürger*innen dafür engagieren. Dies ist wahrscheinlich der mächtigste Hebel den wir als Individuen haben: uns politisch für den Klimaschutz zu engagieren. Hier gibt es viele verschiedene Möglichkeiten: Einen Verein, Verband oder Initiative unterstützen, eine Petition starten oder unterzeichnen, Briefe an Politiker*innen schreiben, Unterschriften sammeln und vieles mehr. Und natürlich kann man eine Partei unterstützen. Ein wichtiger Hebel sind sicherlich Demonstrationen. So hat die "Fridays vor Future" Bewegung nicht an die Bürger*innen appelliert, auf Flüge und Auto zu verzichten, sondern beispielsweise eine CO2-Steuer eingefordert – also systemische, strukturelle Vorschläge gemacht. Unzweifelhaft hatten diese Demonstrationen einen großen Einfluss auf die deutsche Klimapolitik. Quellen / Literatur Externer Link: Umweltbundesamt: Wirkungen veränderter Einkommen auf den Ressourcenverbrauch (2021) Bundesumweltministerium / Umweltbundesamt (2021): Umweltbewusstsein in Deutschland 2020. Berlin. URL: Externer Link: https://www.bmuv.de/publikation/umweltbewusstsein-in-deutschland-2020 Germanwatch (ohne Datum): Informationen für VerbraucherInnen. Meldungen, Publikationen und Service zu den Themen Klimaschutz und soziale Nachhaltigkeit URL: Externer Link: https://www.germanwatch.org/de/informationen-verbraucherinnen Interner Link: Kopatz, Michael (2018): Ökoroutine. Schriftenreihe bpb Externer Link: Umweltbundesamt: Wirkungen veränderter Einkommen auf den Ressourcenverbrauch (2021) Bundesumweltministerium / Umweltbundesamt (2021): Umweltbewusstsein in Deutschland 2020. Berlin. URL: Externer Link: https://www.bmuv.de/publikation/umweltbewusstsein-in-deutschland-2020 Germanwatch (ohne Datum): Informationen für VerbraucherInnen. Meldungen, Publikationen und Service zu den Themen Klimaschutz und soziale Nachhaltigkeit URL: Externer Link: https://www.germanwatch.org/de/informationen-verbraucherinnen Interner Link: Kopatz, Michael (2018): Ökoroutine. Schriftenreihe bpb Während die Vollkosten neuer Stein- und Braunkohleanlagen im Jahr 2021 inklusive staatlicher Förderungen im Mittel bis zu 33,3 ct/kWh bzw. 33,1 ct/kWh betragen, belaufen sich die Vollkosten neuer Onshore- Windenergieanlagen im Mittel auf 6,1 ct/kWh, jene neuer Offshore-Windenergieanlagen auf 9,7 ct/kWh und jene neuer PV-Anlagen auf 7,1 ct/kWh. Die Vollkosten neuer Atomenergieanlagen fallen mit bis zu 46,4 ct/kWh am höchsten aus. Schrems, Isabel (2021): Gesellschaftliche Kosten von Kohlestrom heute bis zu dreimal so teuer wie Kosten von Strom aus erneuerbaren Energien FACTSHEET (09/2021)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-26T00:00:00"
"2022-12-05T00:00:00"
"2023-04-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/klimawandel/dossier-klimawandel/515973/klimaschutz-im-alltag/
Für die meisten Treibhausgase in Deutschland sind Energiewirtschaft, Industrie und Verkehr verantwortlich. Auf letzteren können Einzelpersonen direkten Einfluss nehmen. Viele in der Bevölkerung finden Klimaschutz wichtig, doch oft hinkt die Umsetzung
[ "Klimaschutz", "Klimawandel", "Nachhaltigkeit" ]
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"Film in der DDR – die DDR im Film" | Kulturelle Bildung | bpb.de
Interner Link: Link zur Methode "filmpädagogische Arbeit an der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen" Konnte man im Osten Westfernsehen sehen? Sind alle DDR-Filme Schwarzweiß? Wurde da nicht alles zensiert? Solche und ähnliche Fragen tauchen im Workshop zur DDR-Filmgeschichte immer wieder auf. Der Workshop "Film in der DDR – die DDR im Film" richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen I und II, wobei ein Basiswissen der allgemeinen DDR-Geschichte vorhanden sein sollte. In einem entsprechend angepassten Zuschnitt ist der Workshop ebenso für außerschulische Bildungsträger und sogar Universitäten sowie Lehrkräfte und Multiplikatoren geeignet. Ein vorheriger Austausch des durchführenden Referenten mit den Lehrkräften über Vorwissen und evtl. Schwerpunktsetzung ist dabei essentiell. Während des Workshops wird ein umfassendes Bild der DDR-Filmgeschichte gegeben, wobei sie aus der oftmals verengten Perspektive auf Zensur und Propaganda gelöst wird. Die Darstellung der DDR sowie der Friedlichen Revolution wird hier anhand von Dokumentarfilmen, Spielfilmen und Fernsehsendungen aus Ost und West sowie weiterer Quellen untersucht. Die Herangehensweise ist multiperspektivisch, denn der zeitgenössische Blick von Filmschaffenden und dem DDR-Publikum auf die DDR und ihre politische Situation werden ebenso gezeigt wie die staatlich-offizielle Perspektive und der Blick aus dem Westen. Die Teilnehmenden beschäftigen sich sowohl mit den Ereignissen der "großen Politik" als auch mit der Alltagsgeschichte. Insgesamt wird der Versuch unternommen, ein breites Spektrum von DDR-Filmen vorzustellen und sie aus oft vorhandenen Wahrnehmungsverengungen zu lösen. Wie viele andere nationale Filmgeschichten präsentiert sich auch die DDR-Filmgeschichte als ausgesprochen vielseitig und dynamisch. Auf Phasen von größerer kultureller Freiheit folgten immer wieder tief greifende Eingriffe durch die Zensur, vor allem bezüglich der so genannten Gegenwartsfilme. Neben künstlerisch Bedeutungslosem stehen ästhetische Meisterwerke, neben Unterhaltung steht politische Instrumentalisierung. Ablauf des Workshops Einer Einführung im Seminarraum folgt eine erste Filmanalyse unter filmsprachlichen und zeitgeschichtlichen Aspekten. Anschließend werden im Museum die Workshop-relevanten Teile der Ausstellung vorgestellt, bevor sich mehrere Kleingruppen mit verschiedenen Arbeitsaufträgen die Ausstellung selbst erarbeiten. Zum Abschluss erfolgt eine Auswertung im Seminarrraum. Zur Einführung des dreistündigen Workshops sieht die gesamte Gruppe einen zehnminütigen Dokumentarfilm, der im Herbst 1989 von einem Filmteam der DEFA (Deutsche Film Aktiengesellschaft) gedreht wurde. In der anschließenden Analyse werden gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern verschiedene Aspekte der Filmsprache und des Inhalts herausgearbeitet. In diesem offenen Gespräch können unter anderem folgende Fragen aufgeworfen und gemeinsam beantwortet werden: Wie verhalten sich die Protestierenden bzw. Interviewten? Wie werden die Vertreter der Staatsmacht dargestellt? Was unterscheidet den Film von aktuellen Dokumentationen (z.B. statische Kameraführung, langsame Schnittfolge, kein Kommentar, dokumentarisch im eigentlichen Sinne)? Das offene Gespräch bietet zugleich die Möglichkeit, den Wissensstand der Schüler bezüglich der DDR-Geschichte im Allgemeinen einzuschätzen und ihnen Möglichkeiten der Filmbetrachtung aufzuzeigen. Es bieten sich Anknüpfungsmöglichkeiten zum heutigen Medienkonsum. Hierbei zeigt sich oftmals, dass die Schülerinnen und Schüler den Film als altmodisch und "verstaubt" wahrnehmen, da die Filmsprache im Vergleich zu den heute meist vorherrschenden schnellen Schnitten sehr langsam und irritierend wirken kann (so z.B. wenn ein Interviewter sekundenlang nur beim Nachdenken gezeigt wird). Dies bietet u.a. die Möglichkeit, generelle ästhetische Fragen des DDR-Films anzusprechen, ebenso wie technische Ausstattung, inhaltliche Vorgaben oder Innovationsfreude. Anschließend werden im Museum die relevanten Teile der Ständigen Ausstellung des Museums vorgestellt (Filmschaffen im Zeitraum 1945 bis in die Gegenwart). Anhand von Plakaten der publikumsstärksten Filme in Ost- und Westdeutschland wird eine kurze Einführung in die DDR-Filmgeschichte – auch im Vergleich zur Bundesrepublik – gegeben. Zur Sprache kommen dabei Themen wie Austausch und Inspiration zwischen Ost und West (z.B. anhand der sehr unterschiedlichen Indianerfilme mit ihrer oft ideologischen Ausrichtung in der DDR), Umgang mit Filmen aus dem jeweils anderen Deutschland (z.B. Verbot des DEFA-Films "Der Untertan" von 1951 in der Bundesrepublik), antifaschistische Filme uvm. Themenbezogene Arbeitsgruppen Je nach Größe der Gesamtgruppe beschäftigen sich im Anschluss bis zu fünf kleine Arbeitsgruppen mit verschiedenen Themen, die in ihrer Gesamtheit einen guten Überblick über das Filmschaffen in der DDR sowie die mediale Aufarbeitung der DDR-Geschichte geben. Einige Arbeitsgruppen verbleiben in der Ausstellung und beschäftigen sich intensiv mit dort gezeigten Filmausschnitten und dazugehörigen Ausstellungsstücken. Dabei konzentrieren sich die Gruppen u.a. auf folgende Themen: Filmstadt Berlin und antifaschistischer Film: Funktion der DEFA und Etablierung von Grenzkinos (Kinos in Westberlin nahe der Zonengrenze für das ostdeutsche Publikum).Zensur und staatliche Filmpolitik: Anhand zweier Filmbeispiele werden die verschiedenen Mechanismen der Zensurpraxis untersucht.Frauen in der DDR: Geschlechterrollen werden anhand von Filmausschnitten und zusätzlichen Quellen thematisiert.DDR im Spielfilm nach 1989: Umgang mit und Verarbeitung der DDR-Geschichte werden mittels zweier Filmbeispiele analysiert und die Frage nach den Bedingungen einer gelungenen filmischen Auseinandersetzung aufgeworfen.DDR und Friedliche Revolution im Spiegel der Medien: Arbeit mit den Beständen des Fernseharchivs der Deutschen Kinemathek (siehe Film- und Recherchetipps). Sendungen der "Tagesschau" und der "Aktuellen Kamera" (ak) des Tages nach dem Mauerfall werden inhaltlich und filmsprachlich verglichen. Ergänzend kommt die politische Instrumentalisierung von Nachrichtensendungen anhand der Sendung "Der schwarze Kanal" zur Sprache. In der Arbeit der Gruppen sind Film- und Fernsehausschnitte eine besonders wichtige Quelle, da sie viel über zeitgeschichtliche Themen verraten: Kleidung, Wohnformen, Sprache, Habitus, Alltagsprobleme, Werte usw. Gegebenenfalls kann die Darstellung vermeintlicher Realität im Film dabei auch mit anderen Quellen gegengelesen und gerade so eine Diskussion über "Wirklichkeitsabbildung" und Manipulierbarkeit angeregt werden. Neben einer Analyse der Filmsprache sind es gerade diese Elemente, die Film als wertvolle Erweiterung des sonst meist schriftlichen Quellenfundus auszeichnen. Ausstellungsstücke als Quellen Zentral ist bei der Workshoparbeit zudem eine Auseinandersetzung mit ergänzenden Ausstellungsstücken wie Briefen, Fotos, Drehbüchern oder Storyboards. Hierbei ist oft eine Hilfestellung zum Verständnis dieser Quellen nötig, da die Schülerinnen und Schüler teils Schwierigkeiten mit bürokratischer, ideologisch durchwirkter bzw. antiquierter Sprache in Dokumenten haben. Hinzu kommt Unkenntnis im Umgang mit historischen Quellen, die jedoch ebenfalls durch eine angemessene pädagogische Begleitung aufgefangen werden kann. In einer abschließenden Präsentation der Arbeits- und Rechercheergebnisse jeder Gruppe sowie der gemeinsamen Auswertung werden neben diesen Themenbereichen auch frühere Fragestellungen wieder aufgegriffen. Für die Jugendlichen ist es oft eine große Herausforderung, bei der Präsentation ihre individuellen Eindrücke der Filmausschnitte zu schildern und sich von einer reinen Faktenaufzählung oder Inhaltsangabe zu lösen. Gerade hier bietet sich die Kleingruppenarbeit an, um einen individuellen Zugang zu ermöglichen. Was der Workshop leisten kann Der Workshop ermöglicht mittels unterschiedlicher Quellen und intensiver Nutzung von Filmausschnitten einen Einblick in die Filmgeschichte der DDR sowie die filmische Auseinandersetzung mit der DDR nach 1989. Wiederholt wird ein Bezug zur Gegenwart und zur aktuellen Medienwelt hergestellt. Auch Schülerinnen und Schüler mit bisher wenig Erfahrung in der Auseinandersetzung mit Filmen erlernen erste Schritte eines kritischen Umgangs mit diesem Medium. Gerade die Interaktivität und das offene Gespräch sowie die angeleitete Kleingruppenarbeit ermöglichen eine individuelle Reflexion der Medienwahrnehmung und schaffen so Möglichkeiten einer Transferleistung zum eigenen Medienkonsum. Auch bieten sich immer wieder Anknüpfungspunkte an schulische Lerninhalte. Eine Vor- und Nachbereitung in der Schule ist dabei wünschenswert. Zum Workshop "Film in der DDR – die DDR im Film" und zahlreichen weiteren Filmbildungsangeboten finden Sie Informationen unter: Externer Link: http://www.deutsche-kinemathek.de/bildung InfoRecherche- und Filmtipps Das Fernseharchiv– ein großer Fundus bewegter Bilder Das Archiv, Bestandteil der Ständigen Ausstellung des Museums für Film und Fernsehen in Berlin, bietet eine Auswahl von mehreren tausend im Laufe der deutschen Fernsehgeschichte (Ost und West) ausgestrahlten Sendungen, aus denen Einzelbesucher ebenso wie Schulgruppen ihre Favoriten wählen und in voller Länge sichten können. Hinzu kommen Hintergrundinformationen zu der jeweiligen Produktion: zu Regisseuren, Autoren, Schauspielern und vielem mehr. Es finden sich neben Spielfilmen und Dokumentationen ebenso Informations- und Nachrichtensendungen. So kann beispielsweise die Friedliche Revolution 1989 mit Hilfe von deutsch-deutschen Nachrichtensendungen nachverfolgt, oder aber anhand der Bestände des Internet-Archivs Externer Link: www.wir-waren-so-frei.de aus einer nicht-offiziellen Perspektive betrachtet werden. Ehe im Schatten, Kurt Maetzig, 1947 einer der frühen formal anspruchsvollen antifaschistischen Filme über die Verfolgung des deutsch-jüdischen Filmschauspielers Joachim Gottschalk im NS. Spur der Steine, Frank Beyer, 1966 der bekannteste und ästhetisch innovative Verbotsfilm mit bekannten Schauspielern. Die Legende von Paul und Paula, Heiner Carow, 1973 ein unterhaltsamer und phantasievoller Alltagsfilm mit kontroversen Genderrollen. Das Fernseharchiv– ein großer Fundus bewegter Bilder Das Archiv, Bestandteil der Ständigen Ausstellung des Museums für Film und Fernsehen in Berlin, bietet eine Auswahl von mehreren tausend im Laufe der deutschen Fernsehgeschichte (Ost und West) ausgestrahlten Sendungen, aus denen Einzelbesucher ebenso wie Schulgruppen ihre Favoriten wählen und in voller Länge sichten können. Hinzu kommen Hintergrundinformationen zu der jeweiligen Produktion: zu Regisseuren, Autoren, Schauspielern und vielem mehr. Es finden sich neben Spielfilmen und Dokumentationen ebenso Informations- und Nachrichtensendungen. So kann beispielsweise die Friedliche Revolution 1989 mit Hilfe von deutsch-deutschen Nachrichtensendungen nachverfolgt, oder aber anhand der Bestände des Internet-Archivs Externer Link: www.wir-waren-so-frei.de aus einer nicht-offiziellen Perspektive betrachtet werden. Ehe im Schatten, Kurt Maetzig, 1947 einer der frühen formal anspruchsvollen antifaschistischen Filme über die Verfolgung des deutsch-jüdischen Filmschauspielers Joachim Gottschalk im NS. Spur der Steine, Frank Beyer, 1966 der bekannteste und ästhetisch innovative Verbotsfilm mit bekannten Schauspielern. Die Legende von Paul und Paula, Heiner Carow, 1973 ein unterhaltsamer und phantasievoller Alltagsfilm mit kontroversen Genderrollen.
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Jurek Sehrt, Stefan Zollhauser
"2023-02-17T00:00:00"
"2012-01-26T00:00:00"
"2023-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/60416/film-in-der-ddr-die-ddr-im-film/
Mit Film- und Fernsehbildern und historischen Ausstellungsstücken bietet der Workshop "Film in der DDR-die DDR im Film" den Teilnehmenden einen lebendigen und vielfältigen Einblick in Alltag und Filmgeschichte der DDR.
[ "DDR" ]
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Ernährungssicherung in China | China | bpb.de
„Wir müssen Chinas Ernährungssicherung gewährleisten, sodass wir immer die Kontrolle über unsere Lebensmittelversorgung haben“, ein Satz aus einer Rede Xi Jinpings wird derzeit in China häufig zitiert. Bislang verfolgt das Land eine zweigleisige Strategie um die Versorgung der Milliardenbevölkerung sicherzustellen: Während bei Grundnahrungsmitteln wie Reis und Weizen sowie Schweinefleisch die weitestgehende Selbstversorgung aus eigener Produktion angestrebt wird, ist das Land insbesondere bei Futtermitteln und anderen agrarischen Produkten in den letzten Jahren zum weltweit größten Importeur aufgestiegen. Doch angesichts begrenzter Ressourcen im eigenen Land und globaler Krisen sind beide Versorgungswege mit zunehmenden Risiken verbunden. Interner Link: Ernährungssicherung war traditionell eine der großen Herausforderungen, an denen sich die Regierungsführung chinesischer Herrscher messen lassen musste. Regelmäßig wurden bereits in Frühzeiten des Interner Link: Kaiserreichs landwirtschaftliche Handbücher für die Beamtenschaft aufgelegt. Spätestens ab der Ming-Zeit (1368-1644) enthalten diese Handbücher Kapitel zur Vorsorge von Interner Link: Hungersnöten. Hier ging es um die Einführung von neuen Nahrungspflanzen wie Süßkartoffeln und Chili aber auch um die sachgerechte Einlagerung von Getreide in kaiserlichen Speichern zur Versorgung der Armee und als Notreserve zur Versorgung der Bevölkerung. Als Faustregel galt, dass der Staat mindestens für neun Jahre Getreide bevorraten sollte, eine Regierung, die lediglich für drei Jahre Getreide eingelagert hatte, galt bereits als höchst gefährdet. Dabei war die chinesische Landwirtschaft bis in das 18. Jahrhundert hinein der europäischen, was Produktivität, Agrartechnologien wie Sä- und Dreschmaschinen und ausgeklügelte Bewässerungssysteme und Düngetechniken anging, weit überlegen. Die hohe Produktivität ermöglichte es, Großstädte wie Peking, das im 18. Jahrhundert mit einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern die größte Stadt der Welt war, zu ernähren. Westliche Reisende wie die Jesuiten beschrieben bewundernd die hohe Produktivität der chinesischen Landwirtschaft. Dennoch kam es wegen politischer Instabilitäten, Naturkatastrophen und in Folge des Bevölkerungswachstums ab Ende der Qingzeit und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder zu Hungersnöten. Die größte Hungerkatastrophe ereignete sich allerdings in der Volksrepublik China während des sogenannten "Großen Sprungs" (1958-1962). Das Ausmaß dieser durch wirtschaftliche Fehlplanungen und Naturkatastrophen verursachten Krise ist bis heute in China ein Tabu. Nach Schätzungen von Historikerinnen und Historikern verhungerten in den "drei bitteren Jahren" 30 bis 45 Millionen Menschen. Hunger ist daher ein Trauma, das bis in die Gegenwart im kollektiven Bewusstsein der chinesischen Gesellschaft verankert ist. In jüngerer Zeit geht es beim Thema Ernährungssicherung allerdings nicht mehr um die Sicherung der Grundversorgung, sondern um die Gewährleistung einer im Zuge des gestiegenen Lebensstandards und veränderter Ernährungsgewohnheiten gewachsenen Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Lebensmitteln inklusive Fleisch und Fisch. Knappe und ungleich verteilte Ressourcen Diese Nachfrage aus vorrangig eigener Produktion zu befriedigen, stellt den Agrarsektor vor große Herausforderungen. Chinas Bauern steht im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ein eher geringer Anteil an Ackerland zur Verfügung. Derzeit entfällt auf China mit 18 Prozent der Weltbevölkerung etwa 7 Prozent des weltweiten Ackerlands. Pro Kopf der Bevölkerung stehen nur etwa 0,09 ha zur Verfügung, etwa die Hälfte des globalen Durchschnitts. Die für Landwirtschaft nutzbaren Gebiete konzentrieren sich vor allem im Osten des Landes sowie in der Provinz Sichuan. Diese Regionen sind zugleich auch die am dichtesten besiedelten Landstriche Chinas. Im Zuge der Modernisierung konkurrieren städtische und industrielle Bauprojekte sowie der Ausbau der Infrastruktur und die Landwirtschaft um die besten Flächen. In weiten Teilen des Landes sind die topografischen und klimatischen Bedingungen für landwirtschaftliche Bewirtschaftung schwierig. Fast 60 Prozent der Fläche Chinas befindet sich in Höhen über 1000 Metern. Gemessen an der Bevölkerungsgröße verfügt das Land nur über relativ geringe Wasservorkommen, die zudem geografisch ungleich verteilt sind. China - Biome (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Unter Einfluss des Monsunklimas gibt es starke jahreszeitliche Abweichungen in Niederschlagsmengen mit ausgeprägten Trocken- und Regenzeiten. Auch existiert ein großer Gegensatz von Bodengüte und Klimagunst. Der Norden verfügt über gute Böden (Schwarzerde im Nordosten und Löss in der Nordchinesischen Ebene), jedoch stellen Wassermangel und kurze Wachstumsperioden eine Herausforderung dar, in Südchina ist der ganzjährige Anbau bei ausreichender Bewässerung möglich, jedoch sind die verbreiteten Roterdeböden nicht sehr ertragreich. Die "Grüne Revolution" und ihr Preis Trotz der genannten ungünstigen Bedingungen ist China in den vergangenen 50 Jahren ein qualitativer Sprung in der Landwirtschaft gelungen. Anfang der 1970er Jahre konnte das damals noch weitgehend vom internationalen Austausch isolierte China die Entwicklung einer eigenen Hybridreissorte vermelden, die Ernten mit deutlich höheren Erträgen ermöglichte. Als Yuan Longping, der "Vater des chinesischen Hybridreises", 2021 im Alter von 90 Jahren starb, wurde er in China wie ein großer Staatsmann betrauert. Die Einführung des Hybridreises in den 1970er Jahren, aber auch die Erschließung der Ölfelder in Daqing im Nordosten hatten die Grundlage dafür geschaffen, dass China zeitgleich mit anderen südasiatischen Ländern eine sogenannte "Grüne Revolution" vermelden konnte. Öl aus Daqing lieferte die notwendige Energie für den Betrieb von Motorpumpen für die großflächige Bewässerung der fruchtbaren Lössäcker in der nordchinesischen Tiefebene, und es ermöglichte den Aufbau einer einheimischen Industrie für die Produktion von Düngemitteln und Agrarchemikalien. Auch die Landreformen in den frühen 1980er Jahren, die den Bauern die Verantwortung über das von ihnen bewirtschaftete Land übertrug, wirkten sich positiv auf die landwirtschaftliche Produktivität aus. Heute liegen Chinas Reiserträge um das Vierfache, die Weizenerträge sogar um das Zehnfache höher als in den 1960er Jahren. Von gentechnisch verändertem Reis verspricht sich die Forschung schnelle Reifung und hohen Ertrag. Im Labor von Wuxi, Provinz Jiangsu, setzt man auf die Sorte "Xiaodao Nr. 1". Bislang gibt es noch keine Marktzulassung für gentechnisch veränderten Reis. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Zhu Jipeng/Sipa Asia) Doch die intensive Bewirtschaftung des Agrarlandes hat ihren Preis. Mittlerweile ist China das Land mit dem weltweit höchsten Einsatz an Agrarchemikalien. Etwa ein Drittel der weltweit eingesetzten Düngemittel wird auf chinesischen Äckern ausgebracht. Noch extremer ist der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, hier entfallen 43 Prozent des weltweiten Verbrauchs auf China. Ihr Einsatz liegt mit 13,1 kg/ha um das Dreifache höher als in Deutschland. Der wenig effiziente Einsatz der Agrarchemikalien führt zu Überdüngung der Böden und zu Schadstoffeinträgen im Grundwasser. Schadstoffeinträge aus der agrarischen und industriellen Produktion haben zu einer großflächigen Verseuchung der Böden geführt. Eine landesweite Untersuchung aus dem Jahr 2014 ergab, dass fast 20 Prozent der landwirtschaftlichen Böden Chinas kontaminiert sind. Dies schmälert den ohnehin knappen Vorrat an guten landwirtschaftlichen Böden. Im Nordosten bereiten die in Folge von Übernutzung und jahrelangem Anbau in Monokulturen beobachtete abnehmende Fruchtbarkeit der Schwarzerdeböden Sorgen. Das im Sommer 2022 in Kraft getretene "Gesetz zum Schutz der Schwarzerdeböden" soll nun Initiativen zur Rehabilitierung der Böden fördern. Auch gibt es vielerorts große Probleme mit der Bereitstellung ausreichender und den Qualitätsstandards entsprechender Wasserversorgung. Obwohl China zu den Staaten mit den weltweit größten Süßwasserressourcen gehört, sind diese nicht gleichmäßig im Land verteilt, sondern konzentrieren sich vor allem auf den Südwesten des Landes, während insbesondere der Nordwesten extrem wasserarm ist. Hinzu kommen Probleme mit der Wasserqualität und erhebliche Schwankungen im Ausfall der Niederschläge über das Jahr. Insbesondere in Nordchina muss mit mehrere Jahre anhaltenden Dürren, in denen nur die Hälfte oder gar ein Drittel der durchschnittlichen Niederschlagsmengen fällt, gerechnet werden. Im Zuge der in China bereits deutlich spürbaren Auswirkungen des Interner Link: Klimawandels kommt es zudem auch immer häufiger zu extremen Klimaereignissen. So war das Jahr 2021 ein besonders niederschlagsreiches Jahr. Stark betroffen war damals die Provinz Henan, eine der sogenannten Kornkammern Chinas, in der ein Drittel des chinesischen Weizens geerntet wird. Ende Juli 2021 regnete es innerhalb weniger Tage so viel wie sonst in einem ganzen Jahr. Fast eine Million Hektar waren damals überflutet, rund 1600 größere Tierzuchtbetriebe waren ebenfalls von den Überschwemmungen betroffen und verzeichneten erhebliche Verluste. Im Oktober 2021 kam es zu weiteren verlustreichen Überschwemmungen in den Provinzen Shanxi und Hebei. Hier traf es die Bauern während der Maisernte. Im Sommer 2022 dagegen waren zahlreiche Provinzen in Süd- und Mittelchina von anhaltender extremer Hitze mit Temperaturen von über 40 Grad Celsius und Dürren betroffen, die die Pegel von großen Flüssen und Seen bedrohlich absinken ließen. Auch der demographische Wandel stellt Chinas ländliche Regionen vielerorts vor Probleme. In Dörfern fehlen Arbeitskräfte, weil jüngere Menschen in die Städte abgewandert sind und der Nachwuchs fehlt. So liegen trotz knapper Agrarflächen in einigen Regionen Felder brach. Fast 70 Prozent von Chinas Agrarproduktion liegt in der Verantwortung von Kleinbauern. Diese bewirtschaften häufig sehr kleine Flächen, die meisten Farmen sind zwischen 0,65 und 2 Hektar groß (zum Vergleich: In Deutschland beträgt die durchschnittliche Hofgröße 60 Hektar). Untersuchungen legen nahe, dass zum Beispiel die verbreitete Überdosierung von Agrarchemikalien mit der extremen Fragmentierung der Agrarflächen in Verbindung gebracht werden kann. Chinas Anteil lag 2020 bei Reis, Weizen, Kartoffeln und Erdnüssen auf Rang 1 der weltweiten Produktion. (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ 1995 gab die chinesische Regierung ein "Weißbuch zu Getreide" heraus, das die Rate von 95 Prozent Selbstversorgung bei Weizen, Reis und Mais festsetzte. Diese Richtlinie ist bis in die Gegenwart gültig. Um dieses Ziel umzusetzen, subventionierte der Staat nicht nur Bauern, die Getreide anbauten, er setzte 2007 auch eine rote Linie für Ackerland bei 120 Millionen Hektar fest. Eine so große Fläche müsse mindestens für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung stehen und dürfe nicht für andere Zwecke genutzt werden. Der Grenzwert ist bis heute gültig, aber seit er in Kraft trat, sind bereits große Flächen für die Landwirtschaft verloren gegangen, sodass das noch nutzbare Agrarland nicht mehr viel größer ist als die festgesetzten 120 Millionen Hektar. Es gelang trotzdem die Getreideerträge seit den frühen 2000er Jahren noch einmal deutlich zu steigern. Lag die Getreideproduktion 2003 bei 431 Millionen Tonnen, so konnte 2021 trotz der erwähnten Witterungskatastrophen eine Rekordernte von 682 Millionen Tonnen eingefahren werden. Der Anstieg ist dabei insbesondere auf eine deutliche Steigerung des Maisanbaus zurückzuführen, während die Erträge bei Reis und Weizen in weit geringerem Umfang stiegen. China - Biome (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Von gentechnisch verändertem Reis verspricht sich die Forschung schnelle Reifung und hohen Ertrag. Im Labor von Wuxi, Provinz Jiangsu, setzt man auf die Sorte "Xiaodao Nr. 1". Bislang gibt es noch keine Marktzulassung für gentechnisch veränderten Reis. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Zhu Jipeng/Sipa Asia) Chinas Anteil lag 2020 bei Reis, Weizen, Kartoffeln und Erdnüssen auf Rang 1 der weltweiten Produktion. (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Parallel dazu ist China mittlerweile der weltweit größte Importeur von Agrarprodukten. Der starke Anstieg ist eine Folge der veränderten Nahrungsgewohnheiten, die mit einem besseren Lebensstandard einhergehen. Ernährte sich die chinesische Bevölkerung traditionell überwiegend vegetarisch und auf Getreidebasis, so stieg der Fleischkonsum seit den 1980er Jahren um das Fünffache und hat mit derzeit rund 50 Kilo pro Kopf und Jahr fast Interner Link: deutsches Niveau erreicht. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage ist China zum größten Schweinefleischproduzenten der Welt avanciert. Fast 500 Millionen Schweine werden derzeit in China gehalten. Nachdem der Ausbruch des Afrikanischen Schweinefiebers in den Jahren 2018/19 den Bestand erheblich reduziert hatte, wurde beim Wiederaufbau vor allem in hochmoderne Großbetriebe mit mehreren 10.000 Tieren investiert. Auch die Nachfrage nach Milch und anderen Molkereiprodukten, Lebensmittel die traditionell nicht auf dem Speiseplan der hanchinesischen Bevölkerung standen, ist enorm gestiegen. Damit hat auch die Zahl von Milchviehbetrieben deutlich zugenommen. Internationale Agrarkonzerne haben seit Beginn des Jahrtausends erheblich in China investiert, insbesondere in die Fleisch- und Milchindustrie. Ein Beispiel für industrielle Rinderzucht: Die Xianan-Rinderfarm in Biyang, Provinz Henan, ist ein Unternehmen, in dem Rinder unter wissenschaftlicher Begleitung mit agrarindustriellen Methoden gezüchtet und vermarktet werden. Im Jahr 2020 wurden hier 395.000 Rinder mit einem Marktwert von 2,31 Mrd. US-Dollar verkauft. (© picture-alliance, Xinhua News Agency | Xu Yanan) Mit dem Wachstum der Tierhaltung ist auch der Bedarf an Futtermitteln gestiegen, der schon seit einiger Zeit nicht mehr durch die einheimische Produktion allein gedeckt werden kann. Dies betrifft insbesondere den Import von Sojabohnen, für deren Anbau es keine Richtlinie zur Selbstversorgung gibt. Wie Mais werden Sojabohnen hauptsächlich als Futtermittel eingesetzt. 2021 importierte China fast 100 Millionen Tonnen Soja, dies entsprach etwa 60 Prozent des globalen Handelsvolumens. Hauptsächlich wird Soja aus Brasilien importiert, während die Importe aus den USA als Folge des Interner Link: US-China Handelskonflikts zurückgegangen sind. 42 Prozent der weltweiten Schweinefleischproduktion fielen 2020 auf China. Auch bei Schaf-, Ziegen-, Enten- und Gänsefleisch belegte China weltweit Rang 1. (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Aber auch andere Agrarprodukte werden in großen Mengen importiert, wie Fleisch, Fisch, Molkereiprodukte, Wein, Speiseöl und trotz der hohen Selbstversorgungsrate auch Nahrungsgetreide. Das durch zahlreiche Skandale um verseuchte Lebensmittel beschädigte Vertrauen in die Qualität einheimischer Lebensmittel hat zudem die Nachfrage nach importierter Ware ansteigen lassen. Dies gilt insbesondere für Milchpulver und Babynahrung. China bemüht sich die Bezugsquellen zu diversifizieren, so wird insbesondere in Asien und in den Ländern, die Teil der Interner Link: Belt-and-Road-Initiative sind, verstärktes chinesisches Investment in Agrarprojekte verzeichnet. Vor Beginn des Ukraine-Kriegs gab es auch eine Zunahme der Importe aus der Ukraine und Russland: 39 Prozent seiner Mais- und 45 Prozent seiner Sonnenblumenöl-Importe bezog China aus der Ukraine. Gleich zu Beginn des Krieges schloss China im Februar 2022 Interner Link: Abkommen mit Russland, die die Einfuhr von russischen Agrarprodukten wie Weizen, Mais und Sonnenblumenöl in Zukunft erleichtern und mögliche Ausfälle aus der Ukraine ausgleichen sollen. In diesem Getreide-Terminal im russischen Dorf Zabaikalsk werden Sojabohnen, Weizen, Hafer, Gerste, Mais, Raps und Sonnenblumenkerne für den Export nach China zwischengelagert. Die Nahrungsmittel können dort auf Züge mit chinesischer Spurweite verladen werden. (© picture-alliance/dpa, TASS | Yevgeny Yepanchintsev) Strategien zur Ernährungssicherung Angesichts der oben dargestellten Probleme des einheimischen Agrarsektors und der aufgrund der politischen Krisen angespannten Situation auf den internationalen Agrarmärkten hat die chinesische Regierung das Thema Ernährungssicherung und Ernährungssouveränität ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Der Anfang 2022 veröffentlichte 14. Fünfjahresplan für die Landwirtschaft (2021-2025) möchte die Abhängigkeit von den internationalen Agrarmärkten reduzieren. Dazu soll insbesondere die einheimische Produktion von Sojabohnen und Ölsaaten ausgebaut werden. Allerdings wird nicht ersichtlich, wo die dafür erforderlichen Agrarflächen zu finden sind. Ein starker Akzent wird auf die Modernisierung und auf technologische Innovationen gesetzt. Ein bereits 2018 in Kraft getretener Plan zur "ländlichen Revitalisierung" soll helfen, die Infrastruktur in ländlichen Regionen zu verbessern und den ländlichen Raum für gut ausgebildete junge Arbeitskräfte wieder attraktiv zu machen. Insbesondere setzt man hier auf die Digitalisierung, wie zum Beispiel den Einsatz von Drohnen beim Pflanzenschutz und automatisierte Landmaschinen. Die großen chinesischen Interner Link: IT-Giganten wie Alibaba und Tencent investieren bereits in voll digitalisierte Farmen der Zukunft. Abzuwarten bleibt, ob solche Leuchtturmprojekte auf breiter Fläche Nachahmer finden können. Bereits sehr erfolgreich konnten E-Commerce Plattformen etabliert werden, die Bauern auch in abgelegenen Regionen Zugang zu Märkten ermöglichen. Verbreitet sind auf Mobiltelefonen installierte Apps, über die Bauern landwirtschaftliche Beratung und Fortbildung erhalten und die insbesondere auch in Zeiten von COVID-19, als Agrarberater nicht aufs Land reisen konnten, sehr hilfreich waren. Nach anfänglicher Zurückhaltung unterstützt das chinesische Landwirtschaftsministerium mittlerweile auch Projekte des biologischen Landbaus. Auch wenn die Erträge bei Reduzierung oder Verzicht auf Agrarchemikalien in der Regel geringer ausfallen, rechnet sich die Umstellung von landwirtschaftlichen Betrieben. Nicht nur trägt die Umstellung auf biologischen Anbau zur Bodenverbesserung bei, auch ist aufgrund der oben erwähnten Skandale um verseuchte Lebensmittel auch die Nachfrage nach Lebensmitteln aus zertifiziertem ökologischem Anbau gestiegen. Mittlerweile sind knapp 2 Prozent des chinesischen Ackerlands für den biologischen Anbau zertifiziert und China liegt bei den umsatzstärksten Märkten für Biolebensmittel nach den USA, Deutschland und Frankreich weltweit an vierter Stelle. Die chinesische Regierung unterstützt darüber hinaus chinesische Agrarkonzerne dabei, weltweit in Agrarprojekte zu investieren. So forderte zum Beispiel das Dokument Nr. 1, das jedes Jahr die Richtlinie für die landwirtschaftliche Entwicklung vorgibt, bis 2019 chinesische Unternehmen auf, in Agrarprojekte in Länder der Belt-and-Road-Initiative zu investieren. Die meisten chinesischen Unternehmen investieren allerdings in asiatischen Nachbarländern. Diese Projekte produzieren in der Regel nicht ausschließlich für den chinesischen Markt, sondern vermarkten ihre Produkte in den Erzeugerländern und international. Die Vermutung, chinesische Unternehmen betrieben insbesondere in Afrika im großem Umfang "Landgrabbing", lässt sich bislang aus den vorliegenden Daten nicht belegen. Vielmehr sind seit Ausbruch der COVID-Pandemie und der damit verbundenen Behinderungen der Lieferketten die chinesischen Investitionen in internationale Projekte spürbar zurückgegangen. Fokus auf Genetik Mit dem Wachstum der Tierhaltung ist auch der Bedarf an Futtermittel gestiegen. Besonders bei Sojabohnen ist China auf Importe angewiesen. (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Zur Steigerung der Erträge und Unabhängigkeit von internationalen Märkten setzt China insbesondere auf Pflanzen- und Tiergenetik. Die chinesische Regierung hat daher in den letzten Jahren erheblich in den Ausbau von Genbanken investiert und die enge Zusammenarbeit von Forschungsinstituten und Industrie gefördert. Angestrebt wird der Aufbau einer im internationalen Maßstab konkurrenzfähigen Produktion der "Mikrochips der Landwirtschaft", wie Saatgut und Tiergenetik in den diesbezüglichen chinesischen Veröffentlichungen häufig genannt werden. Bislang bezieht China einen Teil seiner Mais- und Gemüsesaaten von internationalen Firmen. Bei Weizen kann zwar auf eigenes Saatgut zurückgegriffen werden, hier sind jedoch bislang die Erträge im Vergleich zu anderen Agrarländern geringer. In der Tierhaltung ist die Abhängigkeit von internationalen Agrarfirmen noch deutlich größer. Bei den in der Milchviehhaltung bevorzugten Holstein-Rindern gehen fast 80 Prozent der in China eingesetzten Tiere auf importiertes tiergenetisches Material zurück. Auch in der Schweinezucht haben die für intensive Schweinehaltung besonders geeigneten international verbreiteten Rassen die indigenen chinesischen Schweinerassen fast vollkommen verdrängt. Jährlich werden hier zehntausende Zuchtsauen vor allem aus Europa importiert. Diesen Abhängigkeiten sollen nun Forschungsinstitute und Start-Ups, die mit massiver staatlicher Unterstützung auf der südchinesischen Insel Hainan entstehen, ein Ende bereiten. Bei diesem Prestigeprojekt eines "Silicon Valleys der Saatgutindustrie" hat die chinesische Regierung nicht nur die Verbesserung der einheimischen Versorgung, sondern auch den Export in süd- und südostasiatische Nachbarländer im Blick. Nach jahrelanger Zurückhaltung bei der Zulassung von gentechnisch modifiziertem Saatgut für die Produktion von Nahrungsmitteln soll nun die Marktzulassung zumindest für Futterpflanzen möglich werden. Im April 2022 erhielten mehrere chinesische und erstmals auch die internationalen Konzerne BASF, Bayer, Corteva und Bioceres die erforderlichen Zertifikate der Sicherheitsbewertung für mehrere genmodifizierte Mais und Sojasorten, die gegen den Maiszünsler resistent sind und Glyphosat tolerieren. Damit ist der erste Schritt zur Marktzulassung gemacht. Im August 2022 meldete ein Institut aus Shandong den Durchbruch bei der Entwicklung einer salz-toleranten Sojapflanze. Mit dieser können, so die Erwartung, künftig neue Anbaugebiete beispielsweise in Xinjiang erschlossen werden, was die Exportabhängigkeit reduzieren würde. Chinesische Start-Ups experimentieren zudem mit pflanzenbasierten Alternativen zu Fleisch und Eiern sowie im Labor gezüchteten Fleisch. Ein Beispiel für industrielle Rinderzucht: Die Xianan-Rinderfarm in Biyang, Provinz Henan, ist ein Unternehmen, in dem Rinder unter wissenschaftlicher Begleitung mit agrarindustriellen Methoden gezüchtet und vermarktet werden. Im Jahr 2020 wurden hier 395.000 Rinder mit einem Marktwert von 2,31 Mrd. US-Dollar verkauft. (© picture-alliance, Xinhua News Agency | Xu Yanan) 42 Prozent der weltweiten Schweinefleischproduktion fielen 2020 auf China. Auch bei Schaf-, Ziegen-, Enten- und Gänsefleisch belegte China weltweit Rang 1. (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ In diesem Getreide-Terminal im russischen Dorf Zabaikalsk werden Sojabohnen, Weizen, Hafer, Gerste, Mais, Raps und Sonnenblumenkerne für den Export nach China zwischengelagert. Die Nahrungsmittel können dort auf Züge mit chinesischer Spurweite verladen werden. (© picture-alliance/dpa, TASS | Yevgeny Yepanchintsev) Mit dem Wachstum der Tierhaltung ist auch der Bedarf an Futtermittel gestiegen. Besonders bei Sojabohnen ist China auf Importe angewiesen. (die Karte als Interner Link: jpg-Datei; mit einem Rechtsklick können Sie sie speichern) (bpb, mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Zu Chinas Politik der Ernährungssicherung gehört auch, dass der Staat mit einem erheblichen logistischen und finanziellen Aufwand sehr große strategische Reserven an wichtigen Lebensmitteln, insbesondere Nahrungsgetreide und Schweinefleisch, einlagert. Nach offiziellen Angaben der Volksrepublik China verfügte das Land im Frühjahr 2022 über hohe Vorräte, die auf lange Sicht eine ausreichende Versorgung und stabile Lebensmittelpreise gewährleisten. Konkrete Zahlen liegen noch nicht vor, jedoch hatte China Ende 2021 nach Schätzungen des amerikanischen Agrarministeriums 142 Millionen Tonnen Weizen und 210 Millionen Tonnen Mais eingelagert, was etwa der Hälfte der weltweiten Weizenvorräte und zwei Drittel der weltweiten Maisvorräte entspricht. Angesichts der durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine verursachten Versorgungskrise, die insbesondere ärmere Länder der Welt trifft, sehen Agrarökonominnen und -ökonomen die chinesische Vorratshaltung kritisch. Das Horten des Getreides treibe die Getreidepreise auf dem Weltmarkt in die Höhe und trage zu einer Verschärfung der Welternährungskrise bei. China weist diese Vorwürfe zurück und rechtfertigt sein Verhalten mit der Notwendigkeit, bei etwaigen Ernteausfällen durch Naturkatastrophen oder Produktionseinbrüchen wie beim Ausbruch der afrikanischen Schweinepest über Vorräte verfügen zu müssen. Nur so könnten die Ausfälle ausgeglichen und durch Verknappung verursachte Preissteigerungen innerhalb des Landes abgefedert werden. Tendenz: Abkehr vom Weltmarkt Die globalen Krisen, die Pandemien, Kriege und die Interner Link: Auswirkungen des Klimawandels stellen China vor große Herausforderungen, wenn es die Ernährung seiner Bevölkerung überwiegend aus eigener agrarischer Produktion gewährleisten und die Abhängigkeit von den Weltmärkten reduzieren möchte. China setzt hier vor allem auf die Modernisierung des Agrarsektors und Produktionssteigerungen durch Einsatz von digitaler Agrartechnik und Biotechnologie. Grundsätzliche Änderungen in der Ernährungsweise, zum Beispiel eine Reduzierung des Fleischkonsums, werden dagegen nicht angestrebt. Übersetzung d. Verf.: „We must ensure China’s food security so that we always have control over our own food supply.“z.B: zitiert bei Zhang Hongzhou (2019): Securing the ‚Rice Bowl’ China and Global Food Security. Palgrave Macmillan Singapore. S. 1 Den Satz hat Xi erstmals 2017 auf dem 19. Parteitag gesagt, seither wird er sinngemäß immer wieder zitiert. Oder auch dieses Zitat: I’ve repeatedly said that Chinese people must firmly hold their bowls in their hand and should never let others grab our necks in the matter of food supply, a basic survival issue. Zit. Nach Jeff Pao: „Xi’s food self-sufficiency call marks latest turn inward“ Asia Times 14.12.2021 Externer Link: https://asiatimes.com/2021/12/xis-food-self-sufficiency-call-marks-latest-turn-inward/ Zugriff am 24.7.2022 Z. B. das um 535 verfasste Jimin Yaoshu (济民要书) das als ältestes erhaltenes landwirtschaftliches Handbuch gilt. vgl. Joseph Needham (Hrsg.) (1984): Science and Civilisation in China Vol. 6, Part 2 Agriculture (Bearbeitet von Francesca Bray), S.57. Wie zum Beispiel das Mitte des 16. Jahrhunderts Xu Guangqi verfasste Handbuch über die Agrarverwaltung Nongzheng Quanshu nongzhengquanshu. Needham 1984, S. 66. King, F. H. (1911): Farmers of Forty Centuries or Permanent Agriculture in China, Korea and Japan. Diese sind zum Beispiel eindrücklich beschrieben von Lilian Li für die Qing-Zeit und Walter Mallory, der in den 1920er Jahren in China für eine internationale Hilfsorganisation tätig war, in seinem Bericht "China-Land of Famine" (China-Land des Hungers). Li, Lilian (2007): Fighting Famine in North China. Stanford University Press. Mallory, Walter (1936): China. Land of Famine. Reprint 1972. Dikötter, Frank (2010): Mao’s Great Famine: The History of China’s Most Devasting Catastrophe, 1958-1962), deutsch 2014: Maos Großer Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China (1958-1962). Sun Zhanli; Herzfeld; Thomas, Arnoudse, Eefje; Yu Chaoying, Disse, Markus (2017): Water and Agriculture in China. Status, Challenges and Options for Actions. IAMO Externer Link: https://www.iamo.de/fileadmin/user_upload/Background_paper_of_GFFA_panel_China_web.pdf Zugriff 24.7.2022. siehe z. B. Schmalzer, Sigrid (2016): Red Revolution, Green Revolution. Scientific Farming in Socialist China. University of Chicago Press, Sternfeld, Eva (2018): Book review: "Sigrid Schmalzer, Red Revolution, Green Revolution: Scientific Farming in Socialist China, in East Asian Science, Technology and Society: An International Journal. Vol. 12 no 1, ISSN 1875-2160, S. 91-96. Kuhn, Lena, Jagdhani Tinoush; Prehn, Sören; Sun Zhanli; Glauben Thomas (2022): Besonnen handeln – Die Rolle Chinas in unruhigen Agrarmärkten. IAMO Policy Brief no. 45 Externer Link: https://ditac.iamo.de/microsites/ditac.iamo.de/fileadmin/General/IAMO_Policy_Brief_45_DE.pdf (Zugriff 29.07.22). Lin Xie, Zeyuan Qiu, Liangzhi You, Yang Kang (2020): "A macro perspective on the Relationship between farm size and agrochemicals use in China", in Sustainability 2020, 12, 9299. Yiyun Wu, Xican Xi, Xin Tang and Deli Chen (2018): Policy distortions, farm size, and the overuse of agricultural chemicals in China. PNAS, June 18, 2018, 115 (27) 7010-7015 Externer Link: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1806645115 (Zugriff 26.07.22). Siehe auch Bluemling, Bettina (2017): Environmental Policy and Agriculture in China. From Regulation through model emulation to regulatory pluralism. In Sternfeld, Eva (Hrsg.): Routledge Handbook of Environmental Policy in China, S. 119. Vgl. Fang-Jie Zhao et al. (2015): Soil Contamination in China: Current Status and Mitigation Strategies in Environmental Science & Technology 2015, 49, 2, 750-759. Externer Link: https://pubs.acs.org/doi/10.1021/es5047099 (Zugriff am 18.8.2022). Zhang, X. et. al (2015): Impact of Soil Heavy Metal Pollution on Food Safety, in: PLoS one 10 (8), 1-14. Externer Link: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26252956/ (Zugriff am 18.8.22). Siebert, Lea (2022): Status quo of Agricultural Soil Contamination in China from a European perspective. DCZ Study, S. 4. Externer Link: https://www.dcz-china.org/dcz-publications.html (Zugriff 26.07.22). Siebert, Lea (2022): New Law on black soil protection. Externer Link: https://www.dcz-china.org/nachrichten-agri-news-d-en/new-law-on-black-soil-protection.html (Zugriff am 27.07.22). Emily Chow: ‚The sky has fallen’: Chinese farmers see livelihoods washed away by floods. Externer Link: https://www.reuters.com/world/china/sky-has-fallen-chinese-farmers-see-livelihoods-washed-away-by-floods-2021-07-26/ (Zugriff am 27.07.22)."Henan Agricultural Sector Affected by Severe Flooding" in Sino-German Agricultural and Food Update No. 15, S. 11, siehe auch "Downpours Flood Villages and Disrupt Corn Harvest in Northern China" Sino-German Agricultural and Food Update No. 16, S.12. Externer Link: https://www.dcz-china.org/newsletter-archive.html (Zugriff am 27.07.22). Global Times (14.08.22): China witnessing strongest heat wave in six decades; long-lasting high temperatures to become the new normal in the future. Externer Link: https://www.globaltimes.cn/page/202208/1272942.shtml (Zugriff am 18.08.22). Leona Liu Ying (2022): China’s heatwaves stoke drought fears ahead of ‘critical’ autumn grain harvest. SCMP 17.08.22 Externer Link: https://www.scmp.com/economy/china-economy/article/3189235/chinas-heatwaves-stoke-drought-fears-ahead-critical-autumn (Zugriff am 18.08.22). Lin Xie at al. (2020), BMEL (2020): "Understanding Farming. Facts and figures about German farming", S. 7, Externer Link: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/EN/Publications/UnderstandingFarming.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff am 27.07.22). Zum Beispiel Lin Xie et al (2020) a.a.O., und Yiyun Wu et al (2018) a.a.O. Zhang Hongzhou (2018): Securing the 'Rice Bowl'. China and Global Food Security. Singapore. Palgrave Macmillan. Blanchard, Ben (2007): China draws land in the sand to defend arable land. Externer Link: https://www.reuters.com/article/environment-china-land-dc-idUSPEK27287720070712 (Zugriff am 27.07.22). 2019 wurden noch 128 Millionen ha Agrarland ermittelt. "China’s total arable land shrinks nearly 6% from 2009-2019" Externer Link: https://www.reuters.com/world/china/chinas-total-arable-land-shrinks-nearly-6-2009-2019-survey-2021-08-27/ (Zugriff am 27.07.22). Zhang Hongzhou (2018) a.a.O., S. 5, National Bureau of Statistics 2021: Bulletin on the National Grain Output in 2021. Externer Link: http://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/202112/t20211207_1825086.html (Zugriff am 27.07.22). Externer Link: https://data.oecd.org/agroutput/meat-consumption.htm (Zugriff am 28.07.22). Zhang 2018, a.a.O., S. 15. vgl. Externer Link: https://www.statista.com/statistics/863112/soybean-import-volume-to-china (Zugriff am 28.07.22). Zhang 2018 a.a.O., S. 12. APK Inform (2021): China raised Ukrainian sunflower oil import in 2020/21 MY-APK-Inform Externer Link: https://www.apk-inform.com/en/news/1522307 (Zugriff am 29.07.22).S&P Global (2022) Factbox: A look at Russia-China wheat, sunflower oil trade as Ukraine crisis rages Externer Link: https://www.spglobal.com/commodityinsights/es/market-insights/latest-news/agriculture/030222-a-look-at-russia-china-wheat-sunflower-oil-trade-as-ukraine-crisis-rages Sternfeld, Eva (2021): China’s Organic Farming and Food Sector. DCZ study, S.3-4 https://www.dcz-china.org/dcz-publications.html (Zugriff am 22.3.22) z. B.: Bräutigam, Deborah (2015): Will Africa feed China? Oxford University Press, sowie Buckley, Lila (2013): Chinese Agriculture Development in Africa: Narratives and Politics. IDS Bulletin Vol. 44, 42-52. Sternfeld, Eva (2021): Mikrochips der Landwirtschaft. DLG-Mitteilungen 5/2021, S.82-83. DCZ 2022; Ministry issues new round of biosafety certificates. Externer Link: https://www.dcz-china.org/nachrichten-agri-news-d-en/ministry-issues-new-round-of-biosafety-certificates-for-gmo-crops.html. Zhang Tong (2022): Chinese scientists develop salt-tolerant soybean that may reduce reliance on imports. SCMP 9.8.2022 Externer Link: https://www.scmp.com/news/china/science/article/3188328/chinese-scientists-develop-salt-tolerant-soybean-may-reduce (Zugriff am 19.08.22). Kuhn et al (2022) a.a.O.; Shin Watanabe; Aiko Munakata (2021): China hoards over half the world’s grain, pushing up global prices. Nikkei Asia Externer Link: https://asia.nikkei.com/Spotlight/Datawatch/China-hoards-over-half-the-world-s-grain-pushing-up-global-prices (Zugriff am 29.07.22). Frank Tang, Orange Wang (2022): China didn’t hoard grains’: stockpiling to ensure domestic food security has global implications. SCMP 11. April, 2022 Externer Link: https://www.scmp.com/economy/china-economy/article/3173619/china-didnt-hoard-grains-stockpiling-ensure-domestic-food (Zugriff am 29.07.22).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-12-02T00:00:00"
"2022-09-19T00:00:00"
"2022-12-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/asien/china/513234/ernaehrungssicherung-in-china/
Chinas Führung hat in den vergangenen Jahren wiederholt die Bedeutung der Ernährungssicherung betont. Der Beitrag beleuchtet die historischen Hintergründe und aktuellen Herausforderungen der Versorgungssituation.
[ "China", "Landwirtschaft", "Ernährungssicherung" ]
485
Editorial | Digitale Gesellschaft | bpb.de
Wollte man nach den vergangenen beiden Jahren den Stand der Digitalisierung in Deutschland auf einen Begriff bringen, so müsste dieser vermutlich "Faxgerät" heißen. Zwar müssen die Gesundheitsämter ihre tägliche Arbeit längst nicht mehr ohne Computer- und Softwareunterstützung meistern, doch hat die Coronapandemie schonungslos die Schwachstellen der digitalen Gesellschaft aufgedeckt: die Digitalisierungsdefizite der öffentlichen Verwaltung, die schlechte digitale Ausstattung der Schulen und Universitäten, den ausbaufähigen Digitalisierungsstand der Unternehmen, die Monopolstellung internationaler Digitalkonzerne, die Polarisierung in den sozialen Medien, die digitale Spaltung der Gesellschaft in Stadt und Land und Arm und Reich. Dabei sollte nicht übersehen werden, wie sehr uns die Digitalisierung gerade in Pandemiezeiten das Leben erleichtert – durch neue digitale Formen der Kommunikation und des Arbeitens, beim abendlichen Genuss von Filmen und Serien, ja, sogar bei der Pandemiebekämpfung – und wie weit wir auf dem digitalen Weg bereits gekommen sind. Wer heute einem Zehnjährigen erzählt, dass es noch vor gut 15 Jahren weder Smartphones noch Streamingdienste gab und private Videotelefonate bestenfalls in Science-Fiction-Filmen vorkamen, erntet meist nur ein ungläubiges Lächeln. Gleichwohl bleiben die mit der Digitalisierung verknüpften Herausforderungen groß. Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien findet kaum ein Wort so häufig Erwähnung – und dies über nahezu alle Politikbereiche hinweg. Staat, Verwaltung und Infrastruktur sollen bürgernah digitalisiert, digitale Innovationen und Kompetenzen gestärkt, digitale Bürgerrechte und IT-Sicherheit gewährleistet und der Zusammenhalt der digitalen Gesellschaft gestärkt werden. Neuen digitalen Spaltungen und Ungleichheiten vorzubeugen – und bereits bestehende abzubauen –, dürfte dabei die größte Aufgabe sein. Ob dies gelingt, wird auch über die Qualität unserer Demokratie maßgeblich mitentscheiden.
Article
Sascha Kneip
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-03-01T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/digitale-gesellschaft-2022/505677/editorial/
Die Coronapandemie hat die Schwachstellen der digitalen Gesellschaft aufgedeckt, zugleich aber auch neue Potenziale aufgezeigt. Wichtig ist, neuen digitalen Spaltungen der Gesellschaft vorzubeugen.
[ "digital", "Digitalisierung", "Demokratie", "liberale Demokratie", "Parteiendemokratie", "Parteien", "Partizipation", "Social Media", "Soziale Medien", "Computer", "Öffentlichkeit", "digitale Öffentlichkeit", "Diskriminierung", "Ungleichheit", "Spaltung", "Digitale Transformation", "Wahlen", "Wahlkampf", "Online-Wahlhilfen", "Wahl-O-Mat", "Digitalisierungsstand", "Coronapandemie", "Daten", "Datensammlung", "künstliche Intelligenz" ]
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Wirtschafts- und Sozialpolitik: Lernen und Nicht-Lernen von den Nachbarn | Reformen in Wirtschafts- und Sozialpolitik | bpb.de
I. Von der Verdrossenheit zum Vergleich? Die Debatten über die mangelnde Performanz des "Modells Deutschland", das einstmals ob seines Erfolges gerühmt worden ist, dauern nun seit einigen Jahren an, und die Liste der artikulierten Monita ist groß. Es scheint, als ob die "Entdeckung der Langsamkeit" (Sten Nadolny) hierzulande besonders Wirkung gezeigt und zu einem anhaltenden "Reformstau" bzw. einer "blockierten Republik" - so kritische Urteile - geführt hätte. Verursacht wird dieses Syndrom durch die Vielzahl von institutionalisierten Vetopunkten, die das politische System der Bundesrepublik aufweist, durch die Dominanz von politischen Strategien der sachlichen und zeitlichen Problemverschiebung, einem unzureichenden Bewusstsein von der Notwendigkeit grundlegender Reformen sowie dem Dissens über deren Ausrichtung. Kaum ein Vorschlag, der nicht auf den heftigen Protest von Interessengruppen stößt, den taktischen Kalkülen des Parteienwettbewerbs geopfert wird oder im Labyrinth der Verhandlungsdemokratie versandet. Die Unzufriedenheit mit der eigenen schwachen Leistung wird durch den internationalen Vergleich noch genährt, ja aus dieser Sicht wird die Debatte über das "Schlusslicht Deutschland" plausibel. Demgegenüber sind in mehreren anderen Ländern wirksame Reformen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik beschlossen und umgesetzt worden. Vor allem die Niederlande und Dänemark, aber auch - meist mit politisch etwas anderen Vorzeichen - Großbritannien, Neuseeland und die USA stoßen hierzulande auf reges Interesse in den Medien und in der Politik. Dabei bleibt es nicht beim Zusehen, sondern ansatzweise kommt es zu systematischen Formen der Informationsgewinnung und -verarbeitung. Um von den Best Practices (der anderen) zu lernen und um gemeinsame Fragen in der wohlfahrtsstaatlichen Politik und der "Good Governance" zu erörtern, hat sich etwa die Bundesregierung direkt nach der Übernahme der Amtsgeschäfte bemüht, den Informationsaustausch zu verbessern. Ferner ist im Rahmen des "Bündnisses für Arbeit" eine Arbeitsgruppe Benchmarking gebildet worden, die mit einem Bericht "Benchmarking Deutschland", das Lernen durch den Vergleich anstoßen wollte. Schließlich benutzt die Europäische Union zunehmend Verfahren des Monitorings und der offenen Koordinierung, um verbesserte Problemlösungen bereitzustellen und eine weiche Steuerung im politischen Mehrebenensystem zu organisieren. Solche und ähnliche Beispiele werfen die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit und des Lernens auf, denn die verglichenen Länder verfügen über zum Teil erheblich unterschiedliche politisch-institutionelle Rahmenbedingungen und abweichende ökonomische Strukturen. Einfaches Kopieren ist demnach keine Lösung. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden - ein Blick auf die relative Position der Bundesrepublik geworfen werden, wie sie in einigen vergleichenden Studien und Benchmarkings sichtbar wird; - die Identifikation von Maßstäben und Verbreitung von erfolgreichen ausländischen Modellen exemplarisch nachgezeichnet werden; - einige grundsätzliche Bedingungen von Lernen bzw. Nicht-Lernen in der Politik diskutiert werden. Auf diesem Wege lassen sich - quasi im Spiegelbild von außen - einige Ursachen der Probleme und der Reformschwächen in Deutschland sowie Möglichkeiten ihrer Überwindung betrachten. II. Wirtschaftliche Position Deutschlands im Vergleich Eine wesentliche Voraussetzung, den "Wohlstand der Nationen" zu mehren, liegt in der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Der "Global Competetiveness Report 2002 - 2003" des World Economic Forum verwendet eine breite Palette von makro- und mikroökonomischen Indikatoren sowie Umfragen bei 4800 weltweit führenden Unternehmen, um die Dynamik einer Volkswirtschaft und ihre Wachstumspotenziale abzuschätzen. Für die Bundesrepublik ergibt sich in diesem Bericht ein uneinheitliches Bild: Einerseits schneidet das Land bei den mikroökonomischen Dimensionen wie Unternehmensstrategien, Innovationskapazität, Wertschöpfung, Qualität der Produkte, Zuliefernetzwerke und Geschäftsumfeld mit einem vierten Platz gut ab. Andererseits liegt Deutschland beim makroökonomischen Index der Growth Competetiveness mit Rang vierzehn relativ weit abgeschlagen im Mittelfeld; vor allem die hohen Staatsausgaben, die öffentliche Verschuldung, die Massenarbeitslosigkeit und die dichte Regulation schlagen hier negativ zu Buche. Mäßig sind ferner - was etwa durch die PISA-Studie bestätigt wird - die Qualität der mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung und die Einschreibungen in tertiären Bildungseinrichtungen. Besser sieht es hingegen mit der vorhandenen Infrastruktur und der inneren Sicherheit aus (vgl. Tab. 1). Die Autoren kommen daher zu folgender Schlussfolgerung: "Betrachtet man das etwas gespaltene Abschneiden Deutschlands, muss man den Schluss ziehen, dass das sehr gute Abschneiden beim mikroökonomischen Kriterium im Wesentlichen durch erfolgreiche Unternehmensstrategien, funktionierende Arbeitsteilung und qualitativ hochwertige Infrastruktur bedingt ist. Daran hat sicherlich auch die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte einen erheblichen Anteil, die es unter anderem den Unternehmen ermöglichte, jene gesunden Strukturen zu schaffen. Dass es allerdings keinen Anlass für die Wirtschaftspolitik gibt, sich noch länger auf den Errungenschaften der Vergangenheit auszuruhen, wird ebenfalls deutlich." 1. Europäische Union In eine ähnliche Richtung zielt der Europäische Innovationsanzeiger der Europäische Union. Ausgehend von den Herausforderungen der Globalisierung und der Wissensgesellschaft wird im Rahmen des Lissabon-Prozesses versucht, einen Europäischen Forschungs- und Innovationsraum zu schaffen. Durch die Erfassung von Stärken und Schwächen zumeist auf der Basis von amtlichen Statistiken sollen die Mitgliedsländer bei der Entwicklung wirkungsvoller Maßnahmen unterstützt werden. Die herangezogenen Indikatoren decken dabei vier Felder ab: - Humanressourcen (z.B. Beschäftigte in Branchen mit hohem Technologieniveau; Teilnahme an lebenslangem Lernen), - Schaffung von Wissen (v.a. öffentliche und private Forschungs- und Entwicklungsausgaben, Patente), - Übertragung und Anwendung neuen Wissens (v.a. auf kleine und mittlere Unternehmen), - Innovationsfinanzierung, Output und Märkte im Hochtechnologiebereich (z.B. Risikokapital, Internetzugang, Wertschöpfung). Die Momentaufnahme zeigt für Deutschland einige wichtige relative Stärken wie die Größe des verarbeitenden Gewerbes mit mittlerem und hohem Technologieniveau - was sich auch positiv im Export niederschlägt - und die Vielzahl an Patenten. Andererseits weist der Standort Schwächen im Bereich des lebenslangen Lernens und der Hightech-Dienstleistungen auf. Im Vergleich liegt Deutschland - wie die anderen größeren europäischen Länder - im Mittelfeld. Bei der Diskussion und Bewertung der Ergebnisse tritt jedoch ein wenig beachtetes methodisches Problem auf: In kleineren Ländern konzentriert sich die industrielle Tätigkeit häufig auf wenige Sektoren, was auch im Hinblick auf Innovationen Spezialisierungsvorteile mit sich bringt, während große Volkswirtschaften ein breites Spektrum an Branchen aufweisen und daher eine Tendenz zum Mittelwert entsteht. Das erschwert die Übertragung von Spitzenleistungen, denn das "Verstehen der spezifischen Rahmenbedingungen für diese Leistungen und politischen Verfahren ist entscheidend für den Vergleich der Innovationsleistungen". Neben dem Innovationsanzeiger gibt die EU aufder Basis von Strukturindikatoren, Beobachtungen und Beratungen mit den Regierungen eigene Empfehlungen für die Grundzüge der Wirtschaftpolitik ihrer Mitgliedsländer. Im Falle der Bundesrepublik wird auf die Verringerung der Staatsverschuldung, die Verbesserung der Arbeitsmarktpolitik (etwa in Bezug auf Frauen und die Effizienz der Maßnahmen), Stärkung des Wettbewerbs (bei Gas und Strom) sowie auf eine Anhebung des Bildungsniveaus gedrängt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Propagierung des aus den angelsächsischen Ländern stammenden Konzeptes des lebenslangen Lernens und der Beschäftigungsfähigkeit, was darauf abzielt, die Erwerbspersonen durch Qualifikation und die Vermittlung von Fähigkeiten des self-management und self-marketing individuell so zu stärken, dass sie sich auf flexibilisierten Arbeitsmärkten relativ frei bewegen und dadurch ihre Existenz sichern können. Gleichzeitig werden durch diese Flexibilisierung der Humanressourcen betriebliche Reorganisationen und Innovationen unterstützt. Ferner besteht ein Europäisches Informationssystem zur Sozialen Sicherheit und ein Beschäftigungsobservatorium; inzwischen ist sogar eine Koordinierung der Alterssicherungssysteme eingleitet worden. Diese zunehmende Ausweitung des Informationsaustauschs ist einerseits Folge verstärkter europäischer Integration, andererseits basiert sie ebenfalls auf dem Umstand, dass Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eng zusammenhängen und demzufolge eine Abstimmung erfordern. 2. Bertelsmann Beschäftigungsranking Das Bertelsmann Beschäftigungsranking macht ebenfalls die Beobachtung, dass viele der erfolgreichen Nachbarländer von den Reformen profitieren, die sie in den achtziger und neunziger Jahren auf den Weg gebracht haben. Zugleich wird betont, dass bemerkenswerte Länderunterschiede bestehen: Während in einigen Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden und Norwegen inzwischen Vollbeschäftigung erreicht wird, hinken andere - insbesondere die großen Länder wie Deutschland, Italien und Frankreich - hinterher. Besonders Deutschland zeichnet sich durch eine hohe Arbeitslosigkeit mit starken Problemen bei den älteren Arbeitnehmern, Frauen und Langzeitarbeitslosen sowie einer niedrigen Innovationstätigkeit und Wachstumsrate aus. Zentrale Probleme sind aus der Sicht der Autoren die Überregulierung des Arbeitsmarkts und - wegen der hohen Lohnnebenkosten besonders drängend - das Fehlen einer umfassenden konzertierten Reform von Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik; statt dessen dominieren "Stückwerk und Scheinreformen". Günstiger ist hingegen die Lage beim sozialen Frieden (d.h. niedrige Streikaktivität) und der Lohnentwicklung. Insgesamt führt das zu einer 16. Position im Ranking. Die Spitzenposition nimmt dabei Norwegen ein; hier ist nicht nur die Arbeitslosigkeit niedrig, sondern es gibt ebenfalls keine nennenswerte Zahl an Langzeitarbeitslosen und die (Frauen-)Erwerbsquote ist hoch. Lohnentwicklung, Inflationsrate, Arbeitsmarktprogramme werden ebenfalls günstig bewertet (vgl. Tab. 2). Bei ihrer Analyse weisen die Autoren auf zwei weitere interessante Aspekte hin: - Zum einen haben wir es inzwischen mit einer veränderten Problemlage zu tun. Gravierende Verteilungskonflikte, harte Arbeitskämpfe und hohe Inflationsraten gehören in allen untersuchten Ländern der Vergangenheit an, wenngleich hierbei nationale Unterschiede existieren. Die Probleme von heute liegen auf der mikroökonomischen Ebene, in der hohen Regulierung der Güter- und Arbeitsmärkte, Fehlanreizen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, einer fehlenden Beschäftigungsdynamik sowie teilweise im Bildungs- und Qualifizierungswesen. Dies schränkt die Fortschreibung tradierter Problemlösungsstrategien ein; ja die Erfolgsrezepte von gestern erweisen sich - so die Vermutung für den deutschen Fall - mittlerweile vielfach als Hindernisse oder als weitgehend funktionslos. - Ebenfalls problematisch für die Übertragung von Good Practices aus anderen Ländern ist, dass sich diese in ihren politisch-ökonomischen Grundstrukturen unterscheiden. Demnach differenzieren die Autoren des Beschäftigungsrankings zwischen wettbewerbsorientierten Marktwirtschaften, korporatistischen Leistungsgesellschaften, verteilungs-orientierten Wohlfahrtsstaaten und Transformationsökonomien im Aufholprozess. Grosso modo spiegelt diese Reihung zugleich die Leistungsfähigkeit bzw. den Erfolg der Länder wider. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass unabhängig von den Details der Studien das Bild der Bundesrepublik sehr unterschiedlich ist. Auf den ersten Blick ergibt sich eine Position im europäischen Mittelfeld, was für die größte und ehemals erfolgreichste Volkswirtschaft unbefriedigend ist. Zugleich machen alle Rankings, Berichte und Vergleiche deutlich, dass vieles an den Problemen hausgemacht ist (eben "Made in Germany") und sich nicht - wie gerne entschuldigend behauptet wird - aus der Globalisierung ergibt, denn dieser sind auch die anderen Länder ausgesetzt. Schließlich wird auch erkennbar, dass es mit den Folgerungen und Lehren nicht so einfach ist. Dies liegt besonders an der Größe der Bundesrepublik; verstärkend kommen dabei die regionalen Disparitäten - zwischen Ost und West sowie Nord und Süd - hinzu, was dazu führt, dass die Bewertungen im Hinblick auf einzelne Dimensionen unterschiedlich ausfallen und somit eine einheitliche Problemsicht erschwert wird. Ein Beispiel dafür, wie konkrete Politiken und Lösungsmodelle übernommen werden, ist etwa die Jobrotation, bei der für den Zeitraum von Qualifizierungsmaßnahmen für Beschäftigte unbesetzte Stellen mit Arbeitslosen besetzt werden; sie ist zunächst aus Dänemark nach Berlin und dann nach Rheinland-Pfalz gelangt. Einen ähnlichen Weg ging das Modell START-Zeitarbeit aus den Niederlanden: zuerst nach NRW und dann in die anderen Bundesländer weiter. Parallel dazu haben diese Beispiele für Good Practice die Diskussion und die Gesetzgebung auf Bundesebene beeinflusst; vor allem beim Job-Aqtiv-Gesetz, aber auch bei den Vorschlägen der Hartz-Kommission. Dabei kommt der EU inzwischen durch Monitoring und Benchmarking eine Funktion des verstärkten Informationstransfers bzw. der Diffusionsförderung zu, die es erlauben, die eigene Position im Wettbewerb der Modelle zu kontrollieren und innovative Lösungen zu identifizieren. III. Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit von Politikmodellen Die Überlegung, dass man von anderen Ländern etwas lernen kann, klingt auf den ersten Blick sehr plausibel, ist jedoch auf den zweiten Blick nicht ganz so einfach. Folgende Voraussetzungen und Einschränkungen sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: - Bei der internationalen Transferierbarkeit von Wissen und Erfahrungen ist zu berücksichtigen, dass interessante Politiken und Best Practices anderer Länder pfadabhängig sind, d.h., dass sie vielfach spezifische historische Entstehungsbedingungen sowie die institutionellen und ökonomischen Strukturen des jeweiligen Landes reflektieren. - Es gibt auch bei den meist herangezogenen innovativen Fällen Niederlande, Dänemark und Neuseeland keine heile Welt. Selbst die "Musterschüler" der Reform haben sehr hohe Opfer bringen müssen, zumeist in Form erheblicher Einschnitte in das soziale Netz, und sie weisen in der Regel immer noch über fünf Prozent Arbeitslosigkeit auf. - Die genannten interessanten Fälle waren in der vorangegangenen Dekade vor allem als "Sorgenkinder" der OECD-Welt aufgefallen. Hier hatten sich verschiedene ökonomische, soziale und politisch-institutionelle Momente der Krise verbunden, waren alle Rezepte und Versuche mehrerer Regierungen gescheitert, sodass ein radikaler Kurswechsel in den Politikstrategien nahezu unausweichlich war. Im Unterschied dazu ist zu jener Zeit eher noch das "Modell Deutschland" als Vorbild gepriesen worden. Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass die Wiedervereinigung ein deutsches Spezialproblem darstellt, aus dem ein erheblicher Teil der derzeitigen Probleme stammt. - Bei den momentan als Vorbilder diskutierten Fällen handelt es sich um eine besondere Gruppe, nämlich um kleine Länder. Diese unterliegen dem Druck des Weltmarktes in viel höherem Maße als große Länder; hier prägt der hohe Konkurrenzdruck als Sachzwang den politischen Prozess. Sie sind in der Regel auch intern weniger ausdifferenziert bzw. die politischen Netze sind enger geflochten. Das erleichtert das Regieren und die Erzeugung von sozialem Kapital bzw. von Vertrauen, das die Kooperation von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren verbessert. - Schließlich kommt hinzu, dass diese kleineren Länder häufig mit einer Nischenstrategie bzw. mit kleineren Maßnahmenbündeln relativ gute Erfolge verzeichnen können. Dem stehen die politisch-ökonomischen Verhältnisse in der Bundesrepublik entgegen, da es sich hier - global gesehen - um ein mittelgroßes Land handelt, das aber innerhalb der EU die Position einer dominierenden Ökonomie bekleidet; Externalisierungsstrategien sind hier erheblich schwieriger. Angesichts dieser Schwierigkeiten bei der direkten Kopie können innovative Politikstrategien anderer Länder dazu beitragen, das Problembewusstsein zu schärfen und festgefahrene Diskussionen und Routinen aufzubrechen. Grundlegend für jedwede Maßnahme ist nämlich, dass die politische Gestaltbarkeit erkannt wird und das Problem als etwas wahrgenommen wird, was nicht komplett von den existierenden politischen Institutionen und ökonomischen Strukturen vorgegeben und bestimmt wird. Unter diesen Bedingungen wird es für eine Regierung zunehmend schwierig, zu begründen, warum sie ein bestimmtes Programm und Politiken, die sich in einem anderen Staat als erfolgreich erwiesen haben, nicht einführt. Vier-Felder-Tableau: ein pragmatischer Vorschlag Hilfreich ist es daher, in diesem Zusammenhang zwischen globalen Problemdefinitionen und Lösungsstrategien einerseits sowie spezifischen Programmen und Instrumenten andererseits zu unterscheiden. Stellt man ferner in Rechnung, dass sich politisch-ökonomische Rahmenbedingungen ähneln oder unterscheiden können, erhält man das in Tabelle 3 dargestellte Tableau an Lernpotenzialen bzw. Möglichkeiten und Problemen der Übertragung. Eindeutig sind die Felder (1) und (3), während in den Konstellationen (2) und (4) Probleme der Übertragbarkeit auftreten. In diesen Fällen müsste die Kompatibilität erhöht werden - entweder im technischen Sinne oder im politisch-institutionellen Bereich. Will man etwa Modelle der Teilzeitarbeit übernehmen, dann müssen diese neuen Konzepte an die sozialrechtlichen Bedingungen angepasst werden, beispielsweise durch eine entsprechende sozialpolitische Absicherung bzw. Aufstockung der niedrigen Renten (ggf. durch ein System von Mindestlöhnen) wie im Falle der Niederlande geschehen. Eine ähnliche Kombinationsproblematik liegt der dänischen flexiblen Arbeitsmarktpolitik zugrunde: Zum einen basiert die starke Deregulierung auf hohen Lohnersatzleistungen - und nur so passt dieses eher liberale Element der Arbeitsmarktpolitik in das Gefüge eines hoch entwickelten "sozialdemokratischen" Wohlfahrtsstaats. Zum anderen sind die Bearbeitung aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitiken institutionell getrennt; d.h., die Arbeitslosenversicherung wird von den Gewerkschaften getragen, und die Arbeitsämter sind kleiner und können so flexibler arbeiten, was durch die Kleinheit des Landes noch verstärkt wird. Im Übrigen liegt ein weiteres Moment des Erfolges ihrer Tätigkeit in der anhaltenden makroökonomischen Wachstumsdynamik der dänischen Wirtschaft. Schwieriger ist das Feld (2), auf dem nur langsame und schwer steuerbare Veränderungen des politischen Institutionengefüges sowie der Grundstruktur der Ökonomie einen politischen Kurswechsel zulassen. Die politisch-ökonomischen Unterschiede zwischen großen und kleinen Ländern sowie unterschiedliche Konzeptionen der Beschäftigung und des Wohlfahrtsstaats gehören zu diesen Rahmenbedingungen, die nicht nur die Übernahme von erfolgreichen Politikmodellen erschweren, sondern zumeist die Ursache für die hausgemachten Reformblockaden bilden. Veränderungen in der Politik erweisen sich damit in der Regel als eine Kombination aus externen Anstößen und Lösungen, politisch-institutionellem Wandel und zum Teil Regierungswechseln, die eng mit einer adäquaten Problemdefinition und mit Lernen der Akteure (im Sinne einer Veränderung der internen Präferenzmuster und Wissensstrukturen) verbunden sind. In diesem Fall spricht man auch von Policy-Learning und Wissens-Koalitionen, die sich aus Experten zusammensetzen. IV. Policy-Learning und Wissens-Koalitionen: neue theoretische Ansätze Diese Theorien gehen davon aus, dass der politische Entscheidungsprozess nicht nur von Interessenkonstellationen und von Machtressourcen geprägt wird, die durch politische Institutionen - Parteien, Verbände, Notenbanken etc. - stabilisiert werden. Hinzu kommen als weitere Einflussfaktoren Ideen, Wissen und Lernprozesse im Umgang mit Problemlösungen und die damit verbundene kognitive Dimension. Vor allem im Rahmen des Advocacy-Coalitions-Ansatzes von Sabatier sind solche Vorstellungen systematisch entwickelt und untersucht worden: "In political systems with dispersed power" - so das Argument - "(political actors) can seldom develop a majority position through the raw exercise of power. Instead, they must seek to convince other actors of the soundness of their position concerning the problem and the consequences of one or more policy alternatives." Der Wandel einer Politik beruht demnach auf Lernprozessen, die nicht selten im Gefolge externer Schocks auftreten, die zu einer Konstruktion eines politischen "Imperativs" führen. Auf diese Weise entstehen neue Werteprioritäten, kausale Annahmen und "kognitive Landkarten", durch die sich dann auch Veränderungen in der Politikgestaltung ergeben. Neue "windows of opportunity" öffnen sich etwa dadurch, dass strukturelle Restriktionen und politische Ressourcen in einen neuen Interpretationszusammenhang gestellt werden und zu neuen politikstrategischen Optionen führen. Die Karriere von Kommissionen - etwa die Benchmarking-Gruppe im Bündnis für Arbeit, die Hartz-Kommission in der Arbeitsmarktpolitik und die Rürup-Kommission in der sozialen Sicherung - sind Versuche der Mobilisierung solcher Wissensbestände in den politischen Entscheidungsprozessen. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass der deutsche Kontext zu erheblichen Modifikationen des Ansatzes führt, weil hierzulande die Parteien die Politik viel stärker strukturieren als in den USA und die Vetopositionen der Akteure sehr hoch sind. Zudem sind in der Bundesrepublik die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Politik nicht so eng wie dort. Umgekehrt ist die deutsche Verwaltung immer noch stark bürokratisch orientiert und in den Ressorts erheblich fragmentiert. An diesem "ehernen Gehäuse" prallen viele gute Ideen ab. Das Ende des Berichts der Benchmarking-Gruppe im Bündnis für Arbeit zeigt die notorische Schwäche von Wissen und Ideen gegenüber der Ignoranz der Macht: Das Gutachten wurde nicht im Kanzleramt entgegengenommen, sondern als Buch publiziert. Am Ende ist Wissen untrennbar mit Nicht-Wissen verbunden bzw. existieren pathologische Lernformen: Konservative Muster von Organisation und Entscheidung tendieren zu einer Überbetonung der Vergangenheit, zu einer Übersteuerung der Systeme, was zu geringen Anpassungsleistungen und schwachen Problemlösungen führt. Und es sind eben nur die Mächtigen, die sich dieses leisten können. Vgl. S. Immerfall/P. Franz, Standort Deutschland. Stärken und Schwächen im weltweiten Strukturwandel, Opladen 1998. Zu den Veränderungen in den neunziger Jahren vgl. R. Czada, Zwischen Stagnation und Umbruch, in: W. Süß (Hrsg.), Deutschland in den neunziger Jahren, Opladen 2002, S. 203 - 225. Vgl. etwa die Argumente bei K. Hammerstein u.a., Die blockierte Republik, in: Der Spiegel, Nr. 39 vom 23. 9. 2002, S. 20ff.; R.G. Heinze. Die Berliner Räterepublik. Viel Rat - wenig Tat?, Wiesbaden 2002; J. Schmid, Reformen in Deutschland - ein Ding der Unmöglichkeit?, in: Wirtschaftsdienst, (2003) 1, S. 7 - 10. W. Eichhorst u.a., Benchmarking Deutschland. Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Bericht der Arbeitsgruppe Benchmarking und der Bertelsmann Stiftung, Heidelberg 2001. Vgl auch die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46 - 47/2002. Die Methode des Benchmarking steht dabei im Gegensatz zu harten Steuerungsinstrumenten für ständiges Lernen, Kreativität und Ergebnisorientierung. Es geht also nicht um Angleichung und Anordnung, sondern um intelligente Ausnutzung von Ermessensspielräumen; vgl. S. von Bandemer, Benchmarking, in: B. Blanke u.a., Handbuch zur Verwaltungsreform, Opladen 1998, S. 362 - 369. R. Fendel/M. Frenkel, Deutschlands Abschneiden im "Global Competitiveness Report 2002 - 2003", in: Wirtschaftsdienst, (2003) 1, S. 30 - 37. Ebd., S. 35 Vgl. Europäischer Innovationsanzeiger 2001, SEC (2001) 1414. Ebd., S. 13. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Empfehlungen für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Jahr 2002 (ECFIN/210 - 02-DE), Brüssel 2002. Vgl. Europäische Kommission, Strategien für Beschäftigung in der Informationsgesellschaft. Mitteilung der Kommission, KOM (2000) 48, Luxemburg 2000. Insgesamt verliert damit die bisherige Fixierung auf Berufsabschlüsse an Bedeutung. Zugleich erfordert diese neue Beschäftigungsstrategie eine erhebliche Reform der sozialen Sicherungssysteme und aller erwerbsstrukturierenden Institutionen (vgl. S. Blancke/C. Roth/J. Schmid, Employability als Herausforderung für den Arbeitsmarkt - Auf dem Weg zur flexiblen Erwerbsgesellschaft. Konzept- und Literaturstudie, Akademie für Technikfolgenabschätzung, Arbeitsberichte, Nr. 157, Stuttgart 2000). U. van Suntum/D. Schlotböller u.a., Internationales Beschäftigungsranking 2002, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2002, S. 36; vgl. ferner den Reformmonitor zu Maßnahmen im den Feldern Arbeitsmarktpolitik, Industrielle Beziehungen , Rente, Gesundheit, Familie und Sozialpolitik in 16 Industrieländern (www.reformmonitor.de). Dies gilt etwa für die herausragende Rolle, welche die Bundesbank in der deutschen Geldpolitik gespielt hat; inzwischen ist die Inflation kein relevantes Problem mehr, und im Zuge des Europäischen Währungssystems sind die Kompetenzen zur Europäischen Zentralbank gewandert. Diese Einteilung ist anschlussfähig an Überlegungen über die Existenz unterschiedlicher - angelsächsischer und rheinischer - Varianten des Kapitalismus sowie verschiedener Konzeptionen des Wohlfahrtsstaats und der Beschäftigung, d.h. liberale, konservative und sozialdemokratische Modelle mit entsprechenden Ausgaben, Leistungen und Strukturen (vgl. dazu J. Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, Opladen 2002). Vgl. J. Schmid/S. Blancke, Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer, Berlin 2001, sowie S. Blancke u.a., Bundesländer-Benchmarking 2002, WiP Occasional Paper Nr. 19, Tübingen 2002 (http://www.uni-tuebingen.de/uni/spi/WIP-19.PDF). Allerdings ist es bei der Übertragung zu einigen kleineren Abweichungen gekommen, die als Anpassung an die deutschen administrativen Routinen zu interpretieren sind, die aber die Erfolgsaussichten von Jobrotation in Deutschland schmälern (vgl. dazu C. Roth u.a., Jobrotation: Begrenzte Varianz im Mehrebenensystem der EU, Tübingen 2002; http://www.uni-tuebingen.de/uni/spi/WIP-16.PDF). Vgl. R. G. Heinze u.a., Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat? Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den 90ern, Opladen 1999. Vgl. R. H. Cox, Policy Borrowing and Welfare Reform, in: Reformen in westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten - Potentiale und Trends, Tübingen 1999 (http://www.uni-tuebingen.de/uni/spi/WIP-5.PDF). Vgl. als Übersicht dazu A. Héritier (Hrsg.), Policy-Analyse, Kritik und Neuorientierung, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 24, Opladen 1993. H. Jenkins-Smith/P. S. Sabatier, The Dynamics of Policy-Oriented Learning, in: dies. (Hrsg.), Policy Change and Learning: An Advocacy Coalition Approach, Boulder/Col., 1993, S. 45. So R. H. Cox, The Social Construction of an Imperative: Why Welfare Reforms Happened in Denmark And The Netherlands, But Not in Germany, in: World Politics, (2001) 3, S 463 - 498. Vgl. zu solchen mikropolitischen Praktiken auch J. Bogumil/J. Schmid, Politik in Organisationen, Opladen 2001. Vgl. H. Willke, Systemtheorie III. Steuerungstheorie, Stuttgart 1995, S. 332ff.
Article
Schmid, Josef
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27664/wirtschafts-und-sozialpolitik-lernen-und-nicht-lernen-von-den-nachbarn/
Welche Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit von Politikmodellen aus anderen Ländern gibt es? Und welche unterschiedlichen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen müssen beachtet werden?
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Schulden des öffentlichen Gesamthaushaltes | Die soziale Situation in Deutschland | bpb.de
In fast allen Jahren zwischen 1960 und 2013 übertrafen die Ausgaben der öffentlichen Haushalte die Einnahmen. Dementsprechend stiegen auch die Schulden des öffentlichen Gesamthaushaltes. 2014 bis 2019 wurde sechsmal in Folge ein Finanzierungsüberschuss erzielt und die Schulden sanken von 2.044 auf 1.899 Milliarden Euro. Insbesondere durch steigende Ausgaben im Zuge der Corona-Pandemie erreichte die Verschuldung Ende 2021 mit 2.321 Milliarden Euro den höchsten jemals gemessenen Stand. Fakten Die öffentlichen Haushalte (Bund, Länder, Gemeinden/Gemeindeverbände, gesetzliche Sozialversicherung) waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Jahresende 2021 insgesamt mit 2.321 Milliarden Euro verschuldet. Der Hauptteil der aufgenommenen öffentlichen Schulden – 2.233 Milliarden Euro – diente der Finanzierung der Deckungslücken zwischen öffentlichen Ausgaben und Einnahmen. Die zusätzlichen Kassenkredite zur kurzfristigen Liquiditätssicherung lagen 2021 bei 88 Milliarden Euro. Am Jahresende 2021 entsprach die Schuldenlast in Deutschland rein rechnerisch 27.922 Euro je Einwohner. Beim Bund betrugen die Schulden 18.627 Euro je Einwohner, es folgten die Länder mit 7.680 Euro sowie die kommunalen Haushalte mit Schulden in Höhe von 1.744 Euro je Einwohner. Von den Bundesländern wiesen im Jahr 2021 Sachsen mit 2.103 Euro und Bayern mit 2.619 Euro die niedrigste pro-Kopf-Verschuldung auf (Schulden auf Länder- und kommunaler Ebene). Darauf folgten Baden-Württemberg (5.155 Euro) und Mecklenburg-Vorpommern (6.284 Euro). Die mit Abstand höchste pro-Kopf-Verschuldung hatte Bremen mit 53.834 Euro. Und auch in den beiden anderen Stadtstaaten Hamburg und Berlin lag die Verschuldung mit 19.106 Euro beziehungsweise 16.897 Euro pro Kopf deutlich über dem Durchschnitt. Die höchste pro-Kopf-Verschuldung unter den Flächenländern hatten das Saarland (17.729 Euro), Schleswig-Holstein (12.994 Euro) und Nordrhein-Westfalen (12.939 Euro). In fast allen Jahren zwischen 1960 und 2013 übertrafen die Ausgaben der öffentlichen Haushalte die Einnahmen. Dementsprechend stiegen die Schulden des öffentlichen Gesamthaushaltes – bei unterschiedlicher Abgrenzung in den einzelnen Erhebungsjahren – in diesem Zeitraum kontinuierlich: Von 1960 bis 1970 erhöhte sich der Schuldenstand (Kreditmarktschulden und Kassenkredite) in Westdeutschland von 29 auf 64 Milliarden Euro. Durch die beschleunigte Zunahme der Verschuldung seit Anfang der 1970er-Jahre betrug der Schuldenstand 1980 bereits 239 Milliarden Euro, 1990 waren es 538 Milliarden Euro. Infolge der finanzpolitischen Aufgaben durch die deutsche Wiedervereinigung lagen die Zuwachsraten beim Schuldenstand in den Jahren 1991 bis 1994 zwischen 10,2 und 20,1 Prozent pro Jahr. Aber auch 2008/2009 lag die Zuwachsrate – vor allem bedingt durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise – bei 7,4 Prozent (plus 116,5 Milliarden Euro). Insgesamt stiegen die Schulden der öffentlichen Haushalte zwischen 1991 und 2009 von 600 auf 1.694 Milliarden Euro. 2010 erfolgte eine weitreichende Änderung des Erhebungsprogramms. Seitdem werden bei den Schulden der öffentlichen Haushalte nicht nur (wie seit 2006) ausgewählte, sondern alle öffentlichen Fonds, Einrichtungen und Unternehmen des Staatssektors erfasst. Zwischen Ende 2010 und Ende 2012 erhöhte sich der Schuldenstand insgesamt von 2.012 auf 2.068 Milliarden Euro. 2014 und 2015 lagen die Einnahmen der öffentlichen Haushalte das erste Mal seit den 1950er-Jahren in zwei aufeinanderfolgenden Jahren über den Ausgaben und 2019 wurde zum sechsten Mal in Folge ein Finanzierungsüberschuss erzielt. In der Folge sanken die Schulden der öffentlichen Haushalte zwischen 2014 und 2019 von 2.044 auf 1.899 Milliarden Euro. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank der öffentliche Schuldenstand in Deutschland zwischen 2012 und 2019 von 80,7 auf 58,9 Prozent. Insbesondere durch steigende Ausgaben im Zuge der Corona-Pandemie erreichte die Verschuldung Ende 2021 mit 2.321 Milliarden Euro allerdings den höchsten jemals gemessenen Stand. Im Verhältnis zum BIP stieg der öffentliche Schuldenstand im Jahr 2020 auf 68,7 Prozent und 2021 auf 69,3 Prozent. Von den Schulden im Jahr 2021 entfielen 1.548 Milliarden Euro auf den Bund (plus 30,3 Prozent gegenüber 2019), 638 Milliarden Euro auf die Länder (plus 10,3 Prozent) und 134 Milliarden Euro auf die kommunale Ebene (plus 2,1 Prozent). Auf der Ebene der Sozialversicherung lagen die Schulden im Jahr 2021 bei 45 Millionen Euro (minus 24,4 Prozent gegenüber 2019). Kassenkredite sollen – zeitlich eng befristet – Liquiditätsengpässe überbrücken. Entgegen ihrem eigentlichen Zweck setzen aber insbesondere Kommunen Kassenkredite häufig zur Finanzierung laufender Ausgaben ein. Bis zum Beginn der 1990er-Jahre waren bei den Kommunen überjährige Kassenkredite nur wenig verbreitet. Zwischen 1992 und 2012/2013 stieg ihr Anteil an den Schulden jedoch stetig von 1,9 auf 35,1 Prozent. Seitdem sank der Anteil der Kassenkredite Jahr für Jahr und lag Ende 2021 bei 21,9 Prozent (Stand 2021: 29,4 Mrd. Euro). In Folge der Corona-Pandemie erhöhten sich vor allem beim Bund die Kassenkredite von 11,5 Milliarden Euro im Jahr 2019 auf 35,7 bzw. 51,0 Milliarden Euro in den Jahren 2020 und 2021. Durch die Schuldenstände entstehen vor allem dann Probleme, wenn Staaten trotz hoher Schuldenquote zusätzliche Kredite aufnehmen. Laut der Deutschen Bundesbank gehören dazu "die potenzielle Verdrängung privater Investitionen, Unsicherheiten und Verzerrungen durch erwartete oder tatsächliche künftige Erhöhungen der Abgabenlast oder merkliche Risikoprämien auf den Kapitalmärkten infolge verstärkter Sorgen um die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. Darüber hinaus dürfte bei hohen Schuldenquoten die Wirksamkeit gezielter kreditfinanzierter Maßnahmen zur Abwehr von besonders schweren Krisen zunehmend begrenzt sein. Zudem erhöht sich die Gefahr von Konflikten zwischen Finanz- und Geldpolitik, die gravierende gesamtwirtschaftliche Kosten zur Folge haben, während umgekehrt solide Staatsfinanzen eine stabilitätsorientierte Geldpolitik erleichtern" (Deutsche Bundesbank: Monatsbericht April 2010). Weiter führt die Staatsverschuldung zu Zinsausgaben und damit zu einer Verengung des staatlichen Handlungsspielraums. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Schulden des Öffentlichen Gesamthaushalts: Schulden sowie weitere Verpflichtungen der Kernhaushalte des Bundes, der Länder, der Gemeinden/Gemeindeverbände und der gesetzlichen Sozialversicherung sowie von deren Extrahaushalten. Dabei sind Extrahaushalte die öffentlichen Fonds, Einrichtungen und Unternehmen, die nach den Kriterien des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) dem Sektor Staat zuzurechnen sind. Kassenkredite (auch Kassenverstärkungskredite genannt) werden in der Regel zur Überbrückung vorübergehender Kassenanspannungen verwendet. Sie dienen nicht der Ausgabendeckung (keine investiven Zwecke), sondern der Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Kassenwirtschaft beziehungsweise der Liquiditätssicherung. Schuldscheindarlehen, die für Liquiditätszwecke aufgenommen werden, zählen auch zu den Kassenkrediten. Für Liquiditätszwecke aufgenommene Wertpapierschulden (zum Beispiel Anleihen) sind dagegen nicht enthalten. Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts In absoluten Zahlen, 1950 bis 2021 insgesamt 1 Bund 2 Länder Gemeinden/ Gemeinde- verbände 3 gesetzliche Sozial- versicherung in Mio. € je Einw. in € in Mio. € Schulden beim nicht-öffentlichen Bereich 4 2021 2.321.122 27.922 1.548.469 638.458 134.151 45 2020 2.172.850 26.140 1.403.481 635.969 133.357 44 2019 1.899.061 22.860 1.188.581 579.009 131.411 59 2018 1.915.767 23.113 1.213.302 570.525 131.813 127 2017 1.969.104 23.820 1.242.547 586.394 139.725 438 2016 2.009.310 24.451 1.257.065 608.731 143.079 434 2015 2.020.704 24.806 1.262.769 613.202 144.245 489 2014 2.043.918 25.257 1.289.854 614.055 139.448 561 2013 2.043.344 25.356 1.282.683 624.915 135.116 631 2012 2.068.289 25.725 1.287.517 644.929 135.178 665 2011 6 2.025.438 25.244 1.279.583 615.399 129.633 823 2010 7 2.011.677 24.607 1.287.460 600.110 123.569 539 Kreditmarktschulden und Kassenkredite zusammen 5 2009 1.694.368 20.698 1.053.814 526.745 113.810 – 2008 1.577.881 19.213 985.750 483.268 108.864 – 2007 1.552.371 18.871 957.270 484.475 110.627 – 2006 8 1.545.364 18.761 950.338 482.783 112.243 –     2006 1.527.890 18.549 933.860 481.787 112.243 – 2005 1.489.853 18.066 903.282 471.339 115.232 – 2003 1.357.723 16.454 826.527 423.666 107.531 – 2001 1.223.503 14.860 760.161 364.497 98.844 – 1999 1.199.582 14.614 770.330 327.330 101.922 – 1997 1.132.442 13.800 726.790 304.354 101.298 – 1995 1.018.767 12.478 658.339 261.722 98.705 – 1993 769.898 9.483 461.357 221.792 86.749 – 1991 599.511 7.498 347.834 180.059 71.618 –     1990 538.334 8.514 306.315 168.002 64.017 – 1985 388.436 6.366 204.027 126.393 58.016 – 1980 238.897 3.881 119.951 70.415 48.531 – 1975 130.008 2.103 58.066 34.047 37.895 – 1970 64.210 1.053 29.553 14.178 20.480 – 1965 44.697 754 22.596 8.977 13.124 – 1960 9 28.998 520 15.312 7.783 5.904 – 1955 10 21.357 405 11.542 7.799 2.016 – 1950 9.574 190 3.428 6.040 106 – Fußnote: 1 Ab 1991 gesamtdeutsche Ergebnisse. Bis 2009 ohne gesetzliche Sozialversicherung. Aufgrund der unterschiedlichen Abgrenzung der öffentlichen Haushalte ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Erhebungsjahre eingeschränkt. Fußnote: 2 Ab 1954 einschließlich Sondervermögen. Fußnote: 3 Ab 2010 einschließlich aller Zweckverbände des Staatssektors, bis 2009 einschließlich aller kameral buchenden Zweckverbände. Fußnote: 4 Wertpapierschulden, Kredite und Kassenkredite. Fußnote: 5 Bis 2009 einschließlich Kassenkredite gegenüber dem öffentlichen Bereich. Fußnote: 6 Ab 2011 je Einwohner in EUR berechnet mit den Ergebnissen der Bevölkerungsfortschreibung jeweils zum 30.06. mit Ausnahme von 2016 (Stand: 31.12.2015) auf Grundlage des Zensus 2011. Fußnote: 7 Ab 2010 einschließlich aller öffentlichen Fonds, Einrichtungen und Unternehmen des Staatssektors, neues Erhebungsprogramm. Fußnote: 8 Ab 2006 einschließlich ausgewählter öffentlicher Fonds, Einrichtungen und Unternehmen des Staatssektors. Fußnote: 9 Ab 1960 einschließlich Saarland. Fußnote: 10 Ab 1952 einschließlich Berlin (West). Quelle: Statistisches Bundesamt: Finanzen und Steuern Quellen / Literatur Statistisches Bundesamt: Finanzen und Steuern. Schulden des Öffentlichen Gesamthaushalts 2021; Deutsche Bundesbank: Monatsberichte April 2010 und Juni 2021 Statistisches Bundesamt: Finanzen und Steuern. Schulden des Öffentlichen Gesamthaushalts 2021; Deutsche Bundesbank: Monatsberichte April 2010 und Juni 2021
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-14T00:00:00"
"2012-02-01T00:00:00"
"2023-04-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61880/schulden-des-oeffentlichen-gesamthaushaltes/
Insbesondere durch steigende Ausgaben im Zuge der Corona-Pandemie erreichte die Verschuldung Ende 2021 mit 2.321 Milliarden Euro den höchsten jemals gemessenen Stand.
[ "Zahlen und Fakten", "Gesellschaft", "Deutschland", "Finanzierung", "Schulden", "Schuldenstand" ]
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Info 01.04 Die Klima-Hysterie | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de
Die Menschheit steht unmittelbar vor einer Klimakatastrophe. So lautet der Konsens. Tatort: Ein Supermarkt in Sachsen. Familie Martin erwirbt Lebensmittel für vierzig Euro, von denen sich die fünfköpfige Familie drei Tage lang ernähren möchte. Doch die Martins freuen sich zu früh über den günstigen Einkauf. Denn da kommt Klimakommissarin Kati Ehlert und kontrolliert ihren Wagen. Spargel, Rindfleisch und Milch gefährden das Weltklima, belehrt sie die verdatterte Familie. "Was gleich ins Auge sticht, ist der Spargel", erläutert Ehlerts Gutachter, "der ist aus Peru, der ist mit dem Flugzeug gekommen." Das fahrlässige Einkaufsverhalten der Martins entspricht einer ¬CO2-¬Emission von unglaublichen 37 Kilo, was die Klimakommissarin mit einem Stapel aus 37 Tüten Mehl deutlich macht. Dennoch kommen die Missetäter noch mal ungeschoren davon, denn es sind ja keine echten Polizisten, die den Einkaufswagen kontrollieren, sondern nur Mitarbeiter der Sendung "exakt" des Mitteldeutschen Rundfunks. Die Klimakontrolle ist nur eine pädagogische Fernsehfiktion – aber hart an der deutschen Realität im warmen Frühling 2007. Einkaufen, wohnen, reisen: demnächst nur noch unter Klimavorbehalt? Schließlich geht es ums Ganze. Der Hamburger Oberbürgermeister bezahlt Schülern den Besuch von Al Gores Doku-Thriller "Eine unbequeme Wahrheit". Umweltminister Sigmar Gabriel kauft gleich 6000 DVDs und lässt sie kostenlos an Schulen verteilen. An bayerischen Gymnasien führen Aktivisten von "Germanwatch" ihre Roadshow "Klimaexpedition" vor – gesponsert von der Münchner Rückversicherung. Um die letzten Ungläubigen am emotionalen Schlafittchen zu packen, greift das öffentlich-rechtliche Fernsehen schon mal auf bewährte Agitationsmittel von einst zurück: Kinder als Botschafter der Rettung. Die zwölfjährige Carla Zeller sprach einen "Tagesthemen"-Kommentar und warnte mit kindlichem Ernst, "dass halb Deutschland überschwemmt wird und auf den Feldern nichts mehr wächst..." Wirkungsmächtiger noch als die Klimakommissarin und Clara zusammen ist jedoch ein anderer: der kleine Eisbär Knut. Der weiß zwar nicht, was ihm geschieht, aber gerade das macht ihn zum idealen Diener der großen Sache. Knut, als Kuscheltier der Apokalypse zusammen mit Leonardo DiCaprio auf dem Cover der amerikanischen Vanity Fair. Knut demnächst als globaler Klima-Engel in einem Kinderbuch des amerikanischen Harry-Potter-Verlages "Scholastic", der sich die Rechte am Berliner Eisbären sicherte. Die Macht der Bilder erschlägt jeden Zweifel. Der weiße Bär auf schmelzender Scholle wurde zur globalen Ikone. Dass die Spezies Eisbär in ihrer Entwicklung schon mehrere erdgeschichtliche Warmzeiten unbeschadet überstanden hat, tut da nichts mehr zur Sache. Auch dass ihr Bestand im vergangenen halben Jahrhundert von circa 5000 auf 25000 wuchs, ist ein lästiges Detail. Die Eisbären sterben aus! Schuld ist die Klimaerwärmung! Basta! Die ganz große Koalition aus Greenpeace und Bild-Zeitung hat es so beschlossen, und alle freuen sich: Hurra, wir retten die Welt! Lidl-Supermärkte helfen mit, indem sie dem Greenpeace-Magazin einen Großteil der Auflage zum Festpreis abnehmen (unabhängig davon, wie viele Hefte verkauft werden). Banken und Börsen freuen sich über den Handel mit Emissionsrechten. Rückversicherungen freuen sich auch, denn die gefühlte Zunahme von Unwettern treibt die Preise der Policen hoch. Und sogar die ewig murrenden Bauern freuen sich: Für den Anbau von Biosprit-Pflanzen winken ergiebige Subventionen. Es sprudeln auch die Fördergelder für Klimawissenschaftler. Weltweit flossen in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zweistellige Milliarden-Dollarbeträge in ihr Forschungsgebiet. Gut angelegtes Geld, denken sich Politiker, die gern als Weltretter posieren. Sie überbieten sich gegenseitig mit Klimaschutzbekenntnissen und mehr oder weniger intelligenten Vorschlägen, wie die Erderwärmung zu stoppen sei. Der Soziologe Ulrich Beck bezeichnete die Klimapolitik treffend als "eine Sinnressource für die delegitimierte und von Vertrauensverlust gezeichnete Politik". Und das Schönste ist, man kann mit dem Klimaschutz alles rechtfertigen, jedes Verbot, jede Steuererhöhung. Ob es was gebracht hat, stellt sich angenehmerweise erst in hundert Jahren heraus. Um das Publikum im Alarmzustand zu halten, kann es nie schlimm genug kommen. "Fliegt uns die Erde um die Ohren?", fragte Bild im Januar 2007 und verkündete im Februar die Antwort: "Unser Planet stirbt! Jetzt amtlich: Erde immer heißer." Kurz darauf dann: "Wir haben noch elf Jahre ..." Bild bildet keine Ausnahme: Hörfunk, Fernsehen und die allermeisten anderen Blätter stimmen die gleiche Tonlage an. Wie einst bei Waldsterben, Nachrüstung, Tschernobyl und BSE steigern sich die professionellen Deuter in einen Untergangsrausch, der jeden Zweifel niederwalzt. Der Erfolg ist überwältigend: Ohne Führer und ohne Staatspartei entstehen Meinungsmehrheiten, die SED-Wahlergebnissen gleichen. Beim Thema "Klima" macht der Pluralismus Pause. Kaum einer traut sich zu fragen, ob es wirklich seriös ist, das Weltklima für 50 oder 100 Jahre vorherzusagen. Schließlich gelingt dies nicht einmal für die nationale Wirtschaftsentwicklung eines Jahres – obwohl man es dabei mit weitaus weniger Unbekannten zu tun hat. Es ist keine Verschwörung und kein böser Wille, der diese Dampfwalze treibt – eher eine Art Selbstgleichschaltung aus guter Absicht. Doch mit Aufklärung hat es nichts zu tun. Aufklärung würde bedeuten, Zuschauer und Leser in die Lage zu versetzen, selbst abzuwägen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Gegenteil geschieht. Moderatoren und Redakteure wiederholen wie ein Mantra den Satz: Es gibt keinen Zweifel mehr, die Diskussion ist beendet. Richtig daran ist: Kein Wissenschaftler bezweifelt, dass die durchschnittliche globale Oberflächentemperatur im 20.Jahrhundert um circa 0,7 Grad Celsius zugenommen hat. Wie groß die Rolle des Kohlendioxids dabei ist, wie stark der Mensch das Klimageschehen beeinflusst und insbesondere wie sicher die Hochrechnungen sind, mit denen die Temperatur der Zukunft vorausgesagt wird, ist nach wie vor wissenschaftlich umstritten. Völlig offen ist auch, ob eine Erwärmung nur Nachteile bringt. Denn in der Vergangenheit waren Warmzeiten stets besonders angenehm für Mensch und Natur. Der warme April in Europa wird zum Desaster erklärt, die äußerst ruhige Hurrikansaison des Herbstes 2006 in Nordamerika war dagegen keine Schlagzeile wert. Stets richten sich die Mikrofone auf das gleiche halbe Dutzend Wissenschaftler, von denen man die düstersten Prognosen abrufen kann. Beim Waldsterben war es ebenfalls nur eine Handvoll Experten. Alle anderen wurden als Verharmloser denunziert – damals wie heute. Nicht alle Wissenschaftler sind sich einig. Es sind lediglich alle, die von den deutschen Leitmedien gefragt werden. Und die wissen ihre privilegierte Stellung geschickt zu nutzen, um ihre Kollegen zu denunzieren. "Inzwischen erinnern mich die letzten Zweifler an religiöse Fundamentalisten, mit denen man überhaupt keine Debatte mehr führen kann", sagt Professor Jochem Marotzke vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie. Dass unter diesen "Fundamentalisten" zahlreiche besonnene und hoch geehrte Wissenschaftler sind, die teilweise an den Berichten der UN-Klimabehörde IPCC (Intergovernmental Panel on Climat Change) mitgearbeitet haben, dürfte Marotzke bekannt sein. Ist der Leibniz-Preisträger Jan Veizer ein Fundamentalist, Henrik Svensmark vom staatlichen dänischen National Space Center, John Christy von der University of Alabama oder Richard S.Lindzen vom Massachusetts Institut of Technology? Zahlreiche angesehene Klimaforscher zweifeln, weil ihre Messdaten nicht mit der offiziellen Theorie übereinstimmen. Der brachiale Stil, mit dem eine wissenschaftliche These kanonisiert und durchgepeitscht werden soll, irritiert inzwischen auch Anhänger der Mehrheitsmeinung. Zum Beispiel Heinrich Miller, Geophysiker am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. "Übertreibung führt zu Abstumpfung", sagt er und fordert "mehr Offenheit in der Debatte". Sein Kollege Hans von Storch vom GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht, der ebenfalls die vorherrschende Theorie teilt, kritisiert: "Wissenschaftler verfallen in einen Eifer, der geradezu an die Ära McCarthy erinnert." Bei einer Umfrage unter 530 Klimaforschern in 27 Ländern, die der Soziologe Dennis Bray zusammen mit von Storch durchführte, war jeder Zehnte absolut überzeugt, dass der Klimawandel auf den Menschen zurückzuführen ist, weitere 46 Prozent tendierten zu dieser Meinung. Beim Rest gab es mehr oder weniger starke Zweifel. Doch diese Zweifel sind im panischen Grundrauschen der Öffentlichkeit kaum zu hören. Und einige Klima-Retter möchten sie am liebsten völlig zum Verstummen bringen. Ihnen genügt es nicht, eine komfortable Mehrheit aus Politik, Wirtschaft und Medien hinter sich zu wissen. Der Sieg im Meinungsstreit soll total sein. Dafür wird im Namen der guten Sache schon mal unter die Gürtellinie geboxt. Wer abweicht, den stellt man in die Nähe der Kohle- und Öllobby und heftet ihm das Etikett "Klimaleugner" an. Dabei gibt es unter den bekannten kritischen Klimaforschern keinen, der die Verschwendung von Ressourcen und das leichtfertige Verfeuern fossiler Brennstoffe richtig findet. Auch Jan Veizer, der in Kanada und Deutschland lehrte, und sein Kollege Nir J.Shaviv von der Universität Jerusalem bekamen den Zorn der Linienpolizisten zu spüren, als sie eine Arbeit über den Einfluss der kosmischen Strahlung auf die Erderwärmung in einem Fachblatt veröffentlichten. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimaforschung schickte gemeinsam mit 13 seiner Kollegen ein Pamphlet an die Presse, das die wissenschaftliche Integrität der beiden Forscher in Zweifel zog. Rahmstorf schreibt auch gern Chefredakteure an, wenn in einer Zeitung Kollegen zu Wort kommen, die nicht auf Linie sind. Für ihn und seinen Chef Hans Joachim Schellnhuber ist der Klimawandel die "Feuertaufe für die im Entstehen begriffene Weltgesellschaft", wie sie in einem Buch darlegen. Beide sind Berater der Bundesregierung. Nachdem der britische Sender Channel 4 in der Dokumentation "The Great Global Warming Swindle" mehrere unbotmäßige Klimaforscher zu Wort kommen ließ, schrieb eine Gruppe von 38 Wissenschaftlern aus dem Mehrheitslager an den Sender. Ihre Forderung: Der Film soll nicht als DVD vertrieben werden, solange nicht einige Passagen bereinigt sind. "Jemand muss hier für das Interesse der Öffentlichkeit eintreten", begründete der Wortführer die Zensurinitiative. Das populäre grüne Internetmagazin "Grist" aus den USA ging noch einen Schritt weiter. Dort wurde für Zweifler ein Verfahren "im Stil der Nürnberger Prozesse" gefordert. Und die Berliner taz berichtete hocherfreut über eine Liste mit 31 Namen dissidenter Wissenschaftler, die unter deutschen Klimaforschern kursiere. Es geht nicht mehr um Erkenntnisgewinn und Falsifizierung, sondern um die moralische Lufthoheit. Doch ob die Untergangspropheten wirklich die Moral für sich gepachtet haben, ist fraglich. Ist es wirklich ethisch, die potenziellen Probleme künftiger Generationen über die konkreten Probleme der heute lebenden Menschen zu stellen? Viele in Afrika, Asien und Lateinamerika leiden unter unsäglichen hygienischen Verhältnissen, verschmutztem Wasser und verschmutzter Luft. Dies ist eine der häufigsten Todesursachen von Kindern. Ihnen könnte geholfen werden, hier und heute, mit einfachen technischen Mitteln: Kläranlagen, Elektrifizierung, billige Medikamente. Die Öffentlichkeit hierzulande sorgt sich indes um die Afrikaner als mögliche Klimaopfer in hundert Jahren. Und noch ein zweites Dilemma wird langsam deutlich: Klimaschutz, so denken die meisten, sei gleichbedeutend mit Umweltschutz. Ein fataler Irrtum. Wenn alle Mittel in die Klimarettung gepumpt werden, geraten Überfischung, Tropenwaldzerstörung, Luft- und Wasserverschmutzung in Entwicklungsländern aus dem Fokus. Schlimmer noch: Schon heute wird Regenwald gerodet, um Ölpalm- und Zuckerrohrplantagen für Bio-Treibstoffe anzupflanzen. Schon heute demonstrieren Mexikaner gegen hohe Brotpreise, weil der Biospritbedarf des Nordens den Mais verteuert. Die "Klima-über-alles"-Stimmung könnte sich zu einem massiven Umweltproblem auswachsen. Wer rettet die Welt vor den Weltrettern? Knut, hilf! Aus: Michael Miersch: Die Klima-Hysterie, in: Cicero, Ausgabe Juni 2007, Externer Link: http://www.cicero.de/97.php?ress_id=1&item=1891, (03.07.2007).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134812/info-01-04-die-klima-hysterie/
Michael Miersch beschreibt Medienaktionen angesichts einer drohenden Klimakatastrophe und behandelt die Frage, ob eine offene und kritische Debatte noch möglich ist.
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China National Petroleum Corporation (CNPC) | Energiepolitik | bpb.de
Leitung: Vorstand, besitzt Ministerialrang Produktion: 2,75 Millionen Barrel Öl pro Tag Umsatz: RMB 2.381,3 Milliarden/ US$ 359,6 Milliarden (2011) Gewinn: RMB 130,5 Milliarden/ US$ 19,7 Milliarden (2011) Investitionen: k.A. Ressourcenkontrolle: N/A Beschäftigte: geschätzt weit über 1 Million; PetroChina 552,810 (2011) (Quellen: EIA, CNPC, PetroChina) Die China National Petroleum Corporation (CNPC) ist eine der drei großen chinesischen nationalen Ölfirmen. Zusammen mit der China National Offshore Oil Corporation (CNOOC) und der China Petroleum and Chemical Corporation (Sinopec) dominiert CNPC den chinesischen Öl- und Gassektor. CNPC ist dabei für etwa 60 Prozent der chinesischen Ölförderung sowie knapp 80 Prozent der Gasförderung verantwortlich. Auch private internationale Ölfirmen (IOCs) sind in China tätig, allerdings nur offshore, also bei Tiefsee-Bohrungen im Meer. Zudem sind chinesische NOCs immer mit Mehrheitsanteilen an den den Verträgen mit IOCs zur gemeinsamen Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen beteiligt (sog. Production Sharing Agreements) . China ist aufgrund seines rasanten Wirtschaftswachstums mittlerweile zweitgrößter Ölkonsument der Welt und seit 1993 Netto-Ölimporteur. Von den 9,8 Millionen Barrel, die es täglich konsumiert, kann das Land geschätzte 4,3 Millionen Barrel durch inländische Produktion selbst decken. Als Konsumenten-NOC kommt CNPC neben dem Heimatmarkt daher eine wichtige Rolle in der internationalen Expansionsstrategie Chinas zu. In den vergangenen Jahren haben sich chinesische NOCs am persischen Golf, in Afrika, Lateinamerika, aber auch in Nordamerika Beteiligungen an Öl- und Gasreserven gesichert und dabei allein im Jahr 2011 geschätzte 18 Milliarden US Dollar investiert. CNPC hält Beteiligungen in 30 Ländern und produziert so etwa eine Million Barrel pro Tag außerhalb seines Heimatmarktes. Für CNPCs internationales Geschäft ist dabei überwiegend PetroChina zuständig, der am Aktienmarkt von Shanghai, Hong Kong und New York gelistete Teil des Konzerns. Während also CNPC als Holding voll in Staatshand verbleibt, konnte sich PetroChina, heute eine der nach Börsenwert größten Firmen der Erde, eher unter "Marktkonditionen" entwickeln, Kooperationen mit IOCs eingehen und so zu einem nationalen Champion mit internationalem Gewicht werden. PetroChina schneidet im Unternehmensranking von Transparancy International mit Platz 69 (und damit vor den privaten, westlichen Konkurrenten Schlumberger oder ConconoPhillips) passabel ab, was vor allem auf die von der Börse vorgeschriebene Berichtspflicht zurückzuführen ist. Überspitzt ausgedrückt hat CNPC daher zwei Gesichter – das "internationale" von PetroChina, und das eher "chinesische" seiner Holding CNPC. Bei aller internationalen Ausrichtung ist allerdings die Verbindung zum chinesischen Staat überdeutlich. CNPCs Spitzenleute werden von der Organisationsabteilung, einem wichtigen Gremium der chinesischen Kommunistischen Partei (KP) zur Auswahl von Führungspersonal, ausgewählt und vom Politbüro bestätigt. Sie sind damit bestens mit der KP vernetzt. Der Vorstand von CNPC hat gar den Rang eines Ministers inne. Auch der Aufsichtsrat von PetroChina, nominal eine unabhängige Einheit, ist mehrheitlich von Vertretern des chinesischen Staates besetzt. CNPC ließ sich in der Vergangenheit auch seine internationalen Aquisitionen durch die chinesische Diplomatie flankieren, was von IOCs als unfairer Wettbewerb ausgelegt wurde. Vor allem seine Aktivitäten im ölreichen Sudan, dessen Regierung massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, brachten ihm den Vorwurf ein, ethische Maßstäbe in seinem Geschäftsgebaren auszublenden – ein Vorwurf, der schnell der chinesischen Expansionsstrategie insgesamt anhaftete, da die chinesische Regierung eine Verurteilung des Sudans im UN-Sicherheitsrat erfolgreich verhinderte. Politische Verbindungen schützen CNPC jedoch nicht vor Konkurrenz auf seinem Heimatmarkt. Die bedeutenden Schiefergasvorkommen des Landes sollen laut Beschluss des Ministeriums für Land und Ressourcen in Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen ausgebeutet werden – nicht zuletzt um die noch fehlende Expertise chinesischer Energieunternehmen im wichtigen Geschäft mit unkonventionellem Öl und Gas auszugleichen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-17T00:00:00"
"2013-01-14T00:00:00"
"2021-11-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/energiepolitik/152947/china-national-petroleum-corporation-cnpc/
Der chinesische Konzern ist eine der größten Firmen der Welt. Er spiegelt in vielfacher Weise die Programmatik chinesischen Wirtschaftens wider: Fehlendes Know How und mangelnde ethische Maßstäbe werden durch Größe und Expansionsdrang wettgemacht.
[ "Energie", "Energiepolitik", "Öl", "Gas", "CNPC", "China" ]
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Entscheidend ist, dass die Politik den gesetzlichen Auftrag konkretisiert | Medienpolitik | bpb.de
Was ist "Rundfunk" in der digitalen Welt? Die Debatte über den Rundfunkbegriff ist gerade angesichts der technischen Entwicklungen und ihrer Folgen – Rundfunk und Internetangebote verschmelzen auf einem Bildschirm – aktueller denn je. Der Rundfunk, öffentlich-rechtlich wie privat, muss auf allen Übertragungswegen seinen auch verfassungsrechtlich besonderen Aufgaben nachkommen können. Entscheidend ist dabei mit Blick auf ARD und ZDF, wie genau ihr Auftrag definiert wird. Es muss gelten: Erst der Auftrag, dann die Angebotspalette. Wie hat die Digitalisierung den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verändert? Die Veränderungen treffen den Medienmarkt und auch den Rundfunk insgesamt. Der bereits konvergenten Technik und der veränderten Nutzung wird der bestehende Regulierungsrahmen nicht mehr gerecht. Eine enge Vernetzung der Regulierungszuständigkeiten von Bund und Ländern ist dafür unabdingbar. Es muss sichergestellt werden, dass Rundfunkangebote und deren Inhalte auch im digitalen Umfeld präsent sind und gefunden werden können. Was ist die Position der privatfinanzierten Medienunternehmen zur (neuen) Rolle der Öffentlich-Rechtlichen in der digitalen Medienwelt? Um Missverständnisse zu vermeiden: Dem VPRT ging es bei der Debatte um die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Internet nie um das "Ob", sondern stets um das "Wie" – also den Umfang des Angebots im Netz. Deshalb haben wir in Brüssel mit unserer Beihilfebeschwerde ein Verfahren angestoßen, als dessen Ergebnis klar festgehalten wurde, dass gebührenfinanzierte – und damit nur vermeintlich kostenlose – Angebote von ARD und ZDF die private Vielfalt nicht bedrohen dürfen. Deshalb benötigen sie entweder eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung wie sie z. B. für die Digitalkanäle im Rundfunkstaatsvertrag geschaffen wurde oder die Marktauswirkungen öffentlich-rechtlicher Angebote im Netz müssen umfassend vorab überprüft werden, z. B. durch einen Drei-Stufen-Test. Welche Rolle sollen die Öffentlich-Rechtlichen im Internet spielen? Entscheidend ist, dass die Politik den gesetzlichen Auftrag konkretisiert und damit deutlich macht, welches Angebot durch den Rundfunkbeitrag ermöglicht werden soll. Und das kann im Lichte der Brüsseler Ausführungen kein Angebot sein, das überwiegend ohnehin vom privatwirtschaftlichen Markt bereitgehalten wird, sondern es muss seinen Mehrwert gegenüber dem Beitragszahler rechtfertigen. Die Umstellung von Gebühr auf Beitrag hat deutlich gemacht, dass die Legitimationsbasis schwindet. Haben die Öffentlich-Rechtlichen "Grenzen" bei der Expansion ins Internet überschritten – und wenn ja, in welchen Fällen? Wir sehen bestehende Tendenzen zu einer schleichenden Ausdehnung von Angeboten. Hinzu kommt eine Kommerzialisierung bei den Digitalkanälen, die mit immer mehr US-Serien, Spielfilmen, Musikangeboten etc. in einen direkten Wettbewerb gerade mit Pay- und Spartenkanälen treten und ihre Inhalte zudem im Netz duplizieren. Das ist eine klare Abkehr von der ursprünglichen Ermächtigung. In den ARD-Radios ist zu erkennen, dass trotz fehlender Ermächtigung für bundesweite Angebote immer mehr themenbezogene Programme entstehen, die online zusammengeführt werden. Trotz Programmzahlbeschränkungen werden zahlreiche Webstreams gestartet, ohne dass die Politik einschreitet. Dies sind nur einige Beispiele der Entwicklungen, die wir beobachten können. Welche Inhalte sollten die Öffentlich-Rechtlichen in ihren Mediatheken zeigen dürfen – und welche nicht? Die Grenzen der Beihilfeentscheidung aus Brüssel sind nach wie vor im Grundsatz richtig, indem bestimmte absolute Auswertungsgrenzen (Sport, Lizenzware etc.) bestehen und eine marktübliche 7-Tage-Regelung eingeführt wurde. Bei Eigenproduktionen gelten diese Grenzen nicht. Außerdem sehen nahezu alle Telemedienkonzepte vor, dass die 7 Tage unter bestimmten Voraussetzungen ausgeweitet werden können. Die derzeit geführte politische Diskussion zur Aufhebung dieser Grenzen ist daher eine Scheindebatte, zumal die Anstalten schon heute mögliche Auswertungsfristen gar nicht ausschöpfen. Welche Funktion erfüllt der Drei-Stufen-Test, hat sich das Modell als praktikabel und effizient erwiesen? Und: Welche Angebote wurden in dem Test als nicht zulässig befunden? Die Grundidee des Drei-Stufen-Tests ist die Vorabprüfung von Marktauswirkungen, bevor gebührenfinanzierte Online-Angebote gestartet werden. Es soll eine Abwägung stattfinden, ob ARD und ZDF-Onlineangebote Auswirkungen auf den privatwirtschaftlichen Markt haben und ob diese Nachteile für die privaten Wettbewerber durch einen gesellschaftlichen Mehrwert aufgewogen werden. Dieser grundsätzliche Abwägungsprozess (Balancing) ist nach wie vor sinnvoll. Er hat aber leider aufgrund sehr allgemeiner Angebotsbeschreibungen und mangels Kostentransparenz zu selten wirklich stattgefunden. Insgesamt ließe sich das Verfahren straffen und auf seine wesentlichen Bestandteile reduzieren. Der VPRT ist für solche Anpassungen offen und bewertet auch die Auswirkungen, die der Test in weiten Teilen auf das Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremien hatte, durchaus positiv. Im Einzelfall – wie z. B. beim MDR – wurden auch tatsächlich Anpassungen vorgenommen, bevor Angebote gestartet sind. In letzter Zeit beobachten wir allerdings zunehmend, dass die Anstalten die Durchführung von neuen Verfahren nach den sogenannten Bestandstests für nicht mehr für erforderlich halten. Neben den Drei-Stufen-Tests gelten unverändert bestimmte Auswertungsverbote sowie eine Negativliste von absolut unzulässigen Angeboten. Gehört der Aufbau beispielsweise einer App-Strategie zu den Aufgaben der Öffentlich-Rechtlichen? Nein, der Fokus sollte auf den Hauptprogrammen liegen. Eine Grundversorgung auch im Bereich der Apps wäre dann nicht ausgeschlossen, aber auch hier sind wieder Umfang und die konkrete Ausgestaltung des Auftrags entscheidend. Wie bewerten Sie die Rolle von Internet-Playern wie Google/YouTube und Facebook? Werden diese selber zu "Sendern"? Und was bedeutet das für die Medienordnung? Eine der Komplexität dieses Themas gerecht werdende Beantwortung dieser Frage würde wohl ein eigenständiges Interview erfordern. Wie bereits erwähnt, ist durch die technische Entwicklung eine Situation eingetreten, in der unterschiedliche Regulierungswelten aufeinander treffen. Diese Situation führt zu dem Ergebnis, dass für den stark regulierten Rundfunk kein fairer Wettbewerb auf Augenhöhe und unter gleichen Bedingungen mit den weitgehend unregulierten Playern mehr möglich ist. Zudem sind ehemalige Privilegien – wie etwa der Zugang zu knappen Frequenzen – heute entwertet. Gerade der diskriminierungsfreie Zugang sowie die Auffindbarkeit auf digitalen Plattformen sind für private wie für öffentlich-rechtliche Rundfunkanbieter – Radio und TV – jedoch künftig essentiell. Der VPRT beteiligt sich daher mit oberster Priorität und konstruktiv an der Debatte über eine neue Medienordnung, die bereits in vollem Gange ist.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-09T00:00:00"
"2014-05-22T00:00:00"
"2021-12-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/184898/entscheidend-ist-dass-die-politik-den-gesetzlichen-auftrag-konkretisiert/
"Entscheidend ist, dass die Politik den gesetzlichen Auftrag konkretisiert und damit deutlich macht, welches Angebot durch den Rundfunkbeitrag ermöglicht werden soll. Die Umstellung von Gebühr auf Beitrag hat deutlich gemacht, dass die Legitimationsb
[ "öffentlich-rechtlich", "Medienpolitik", "Mediennutzung", "Rundfunk", "Massenmedien", "Internet", "Mediatheken", "Neue Medien" ]
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Was ist des Deutschen Vaterland? | Patriotismus | bpb.de
Einleitung Bleibt etwas vom schwarz-rot-goldenen Fußballsommer des Jahres 2006? Zeigt der fröhliche deutsche Patriotismus dieser Wochen, der die Welt, am meisten aber die Deutschen in Staunen versetzte, eine nachhaltige Veränderung im Bewusstsein der Nation an, oder war er bloß das Rauschen eines globalen Fernsehereignisses, von dem nur noch traurig an manchem Balkon hängende Fähnchen zeugen? Die Massenmedien hatten die Weltmeisterschaft als Mega-Event vorbereitet, fast bis zum Überdruss. Von der sonnigen Vaterlandsliebe, der Offenheit und der Gastfreundschaft, die das Land an den Tag legte, wurden sie jedoch überrascht. Sie sprangen auf den patriotischen Zug und überboten sich im Zeigen der Nationalfarben. Doch bei nächstbester Gelegenheit begannen sie zu lamentieren, dass die Jubelstimmung schon wieder verflogen sei. Der Alltag bot solche Gelegenheiten in Fülle. Im Juli stöhnten die Deutschen wieder einmal unter einer Jahrhunderthitze. Der Pegel der Unzufriedenheit mit der Politik der Großen Koalition stieg, die Bedrohung durch den Terror rückte näher. Und als Günter Grass das Geheimnis seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS lüftete und damit ein Erdbeben öffentlicher Erregung auslöste, da stellte mancher fast mit Genugtuung fest, dass die fußballsommerliche Illusion deutscher "Normalität" verflogen sei und den Blick auf das für immer "schwierige" Vaterland wieder freigebe. Hier soll die These vertreten werden, dass die Deutschen, um es einmal salopp zu sagen, mit diesem "schwierigen" Vaterland inzwischen ganz gut zurechtkommen. Ihren "langen Weg nach Westen" hat der Historiker Heinrich August Winkler zur Jahrtausendwende in einer paradigmatischen Geschichtserzählung dargestellt. Die nationalen wie die postnationalen Sonderwege sind seit dem 3. Oktober 1990 Geschichte. Als demokratischer Nationalstaat ist Deutschland aktiver Teil eines politisch, ökonomisch und kulturell zusammenwachsenden Europas - so lautet die offizielle Lesart, die nicht falsch, deren Bedeutung aber erst nach und nach in ein neu geformtes Nationalbewusstsein eingegangen ist. Den Freiluft-Patriotismus des Fußballsommers mag man als Zeichen dafür lesen, dass dieses neue Nationalbewusstsein auch emotionale Ausdrucksformen findet, in denen sich Vaterlandsliebe und Weltoffenheit verbinden. Als eine flüchtige Erregung ohne Bedeutung nimmt ihn nur der wahr, der ausblendet, mit welcher Intensität und Vielfalt sich die Deutschen in den vergangenen Jahren in Politik, Medien und Kultur mit der Frage, was denn des Deutschen Vaterland sei, auseinandergesetzt haben. Und im Unterschied zu Ernst Moritz Arndt, der zu keiner befriedigenden Antwort kam, als er diese Frage 1813 in seinem berühmten Gedicht stellte, stehen sie nicht mit leeren Händen da. Lange Zeit war die Klage über die angebliche Geschichtsvergessenheit der Deutschen ein Leitmotiv insbesondere der konservativen Kulturkritik. Ihr gesellte sich, nur scheinbar kontrapunktisch, jene über die Fixierung der geschichtlichen Erinnerung auf die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur und den Zivilisationsbruch des Holocaust hinzu. Vielen erschien die alte Bundesrepublik so als ein gleichermaßen an seine Geschichte gekettetes wie seiner Geschichte verlustig gegangenes Land. Zwar war die Vergangenheit der deutschen Verbrechen in Schulbüchern, in Rundfunk und Fernsehen, in Literatur und Film allgegenwärtig. Aber das wirkte in der Tat oft nur als Folie, vor der eine tief traumatisierte Nation sich zunächst verbissen und dann scheinbar immer entspannter im Hier und Jetzt der schieren Gegenwart einigelte. Man hatte doch die moralischen und politischen Lektionen einer in der Katastrophe endenden Nationalgeschichte gelernt. Manche Deutschen sahen sich schon wieder als Avantgarde eines heraufziehenden postnationalen Zeitalters und erblickten in der "postkonventionellen Identität", die Jürgen Habermas ihnen verschrieb, die Chance einer Befreiung. Man trug die Last der Geschichte wie ein moralisches Kapital. Die Geschichtswende von 1989, das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaates, das Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges und die Öffnung der Geschichtsräume Mittel- und Osteuropas haben jenes spezifisch bundesrepublikanische Geschichtsgefühl, aber auch die melancholische oder verbitterte Widerrede, obsolet gemacht. Die Verhältnisse ordneten sich neu. Doch es dauerte über ein Jahrzehnt, bis sich die Konturen eines neuen deutschen Selbstbildes abzeichneten und ins kollektive Bewusstsein traten. Die Geschichtsdebatten der neunziger Jahre etwa über die Hauptstadt oder die Formen historischen Gedenkens, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann, können als Geburtswehen eines neuen Nationalbewusstseins gedeutet werden, das sich am Ende auch aus alten politischen Zuschreibungen nach dem Links-Rechts-Schema befreite. Schließlich war es eine rot-grüne Mehrheit, eigentlich ein altbundesrepublikanischer Anachronismus, welche um die Jahrtausendwende herum die "Berliner Republik" geschichtspolitisch justierte und Deutschland aus den Hüllen der Nachkriegszeit herausschälte. Das "Ende der Nachkriegszeit" war so etwas wie ein Leitmotiv der Ära Schröder. Immer wieder wurde es angeschlagen, ob nun deutsche Soldaten zum ersten Kriegseinsatz seit 1945 geschickt wurden, ein deutscher Kanzler zum ersten Mal an den Jubiläumsfeierlichkeiten der Alliierten zum Sieg über Hitler-Deutschland teilnahm oder Gerhard Schröder mit Martin Walser vor geballter Medienöffentlichkeit über "Geschichtsgefühl" debattierte. In vielfältiger Weise trat dieser Epochenwechsel, der im Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin einen nicht nur symbolischen Ausdruck fand, ins Bewusstsein. Kulturell orchestriert wurde er durch eine in ihrer Nachdrücklichkeit erstaunliche Hinwendung der Deutschen zu ihrer Geschichte im Film, in den Massenmedien und in der Literatur. Große Geschichtsausstellungen wie etwa die über das Heilige Römische Reich deutscher Nation oder die im vergangenen Sommer eröffnete Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin ziehen Hunderttausende an. Es kann also von einer Fixierung auf die Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr die Rede sein, auch wenn Hitler immer noch Millionen zu einer gruseligen Begegnung vor die Leinwand lockt. "Der Untergang" von Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel war eines der großen Kinoereignisse der vergangenen Jahre. Aber Eric Tills "Luther" fand fast ebenso viel Interesse, und Wolfgang Beckers "Good Bye, Lenin", der das Ende der DDR als märchenhafte Tragikomödie erzählt, wurde in seinem nationalen und internationalen Erfolg ein veritables Filmwunder. Und wenn man schon bei Wundern ist, darf natürlich auch Sönke Wortmanns "Das Wunder von Bern" nicht unerwähnt bleiben, ein Film, der mit allen Mitteln des Gefühlskinos den Sieg der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 zum Gründungsmythos des deutschen Neuanfangs nach der politischen und moralischen Katastrophe von 1945 überhöht und dem deutschen Bundeskanzler die Tränen in die Augen trieb. Alexander Kluge sprach einmal von der Oper als einem "Kraftwerk der Gefühle". Beim Blick auf die jüngste deutsche Filmgeschichte ist man geneigt, das Kino ein "Kraftwerk des Geschichtsgefühls" zu nennen. Einen entscheidenden literarischen Beitrag zum historischen Perspektivenwechsel und zur Öffnung des geschichtlichen Horizonts leistete im Jahr 2002 Günter Grass mit seiner Novelle "Im Krebsgang", die sich schnell an die Spitze der Bestsellerlisten setzte. Grass verarbeitet in dieser hoch komplexen Erzählung die Versenkung des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff" durch ein sowjetisches U-Boot. Dass ausgerechnet er sich an die literarische Verarbeitung des Themas Flucht und Vertreibung wage "und das aus emotionaler Verarmung und intellektueller Einfalt gefügte kollektive Denkgehäuse sprengt, stellt vor dem Hintergrund des politischen Werdegangs des Poeta laureatus eine Überraschung dar, die an ein Wunder grenzt", schrieb damals die "Zeit". Marcel Reich-Ranickis Bildschirmbekenntnis, durch "Im Krebsgang" zu Tränen gerührt worden zu sein - die versöhnliche Verbeugung des Großkritikers vor demGroßschriftsteller, dessen letzten Roman "Ein weites Feld" er mit gewaltigem Mediengetöse gnadenlos verrissen hatte -, hat sicherlich zum Publikumserfolg der Novelle beigetragen. Doch letztlich erklären sich dieser Erfolg und die weit über die literarische Öffentlichkeit hinausgehende Aufmerksamkeit, die das Buch fand, dadurch, dass Grass, der in den neunziger Jahren mit der deutschen Einheit gehadert hatte und in die Rolle des griesgrämigen Schwarzsehers geraten war, mit feinem Zeitgeistgespür die Veränderungen erkannt und literarisch gestaltet hat, die sich um die Jahrtausendwende herum im Geschichtsbild und kollektiven Gedächtnis der Deutschen abzeichneten. Der "unverdächtige" Grass erzählt die lange verdrängte oder politisch instrumentalisierte Geschichte deutscher Opfer und deutschen Leids und schlägt eine Brücke zwischen der öffentlichen, "politisch korrekten" bundesrepublikanischen Geschichtserzählung und den "unscharfen" Familiengeschichtsbildern, den Geheimnissen und Traumata der Eltern- und Großelterngeneration, die mit dem Aussterben dieser Generation offenbar noch einmal mit Macht an die Oberfläche drängen. Grass blieb nicht allein. Ebenso viel Widerhall wie "Im Krebsgang" fand 2002 das Buch "Der Brand" des Historikers Jörg Friedrich, der mit großer Quellennähe auf beklemmende Weise den Untergang der deutschen Städte im Luftkrieg schildert. Die "Opferdebatte", die von diesen beiden Neuerscheinungen angestoßen wurde, mündete nicht mehr in das übliche Aufrechnen von Verbrechen und Leiden, sondern zeigte wohl zum ersten Mal, dass die Deutschen als Täter und die Deutschen als Opfer zusammen gedacht werden können und dass diese beiden Sichtweisen sich nicht konkurrierend gegenseitig im Wege stehen müssen. Dass hier ein nachhaltiger Paradigmenwechsel vollzogen wurde, bestätigte sich literarisch in vielfältiger Weise. Der Krebsgang, das tastende, suchende Rückwärtsschreiten, ist zu einer bevorzugten Fortbewegungsweise der deutschen Literatur geworden. Schriftsteller der in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geborenen Generation machen sich auf die Suche nach Vätern und Großvätern. Sie verfolgen das, was man die "jüngere deutsche Geschichte" nennt und was längst zu einer politisch-moralischen Erzählung über Schuld und Versagen der "Tätergeneration" geronnen ist, am Faden familiärer Überlieferung zurück und dringen dabei meist auch über jene Schwelle vor, die durch das Jahr 1933 markiert ist. Ulla Hahn, Uwe Timm, Wibke Bruhns, Tanja Dückers, Stephan Wackwitz und Thomas Medicus haben in den vergangenen Jahren solche meist halbfiktionalen Familiengeschichten vorgelegt. Und gerade die Vertreter der 68er-Generation und ihrer jüngeren Geschwister schalten dabei vom Modus des Anklagens und Verurteilens auf den des skeptisch-einfühlsamen Verstehens. Sie finden einen Ton, der jeden Verdacht, hier solle ein fauler Frieden mit der Vergangenheit vorbereitet werden, gegenstandslos macht. Dieser wieder aktivierte historisch-kulturelle Resonanzboden schwingt mit, wenn in der Politik über "Patriotismus" debattiert wird. Die Frage nach "des Deutschen Vaterland" ist mit den Konsensformeln des Verfassungspatriotismus nicht mehr zu beantworten. Andererseits steht ein wiedererwachtes, geschichtlich fundiertes Nationalgefühl den verfassungspatriotischen Wertentscheidungen nicht mehr im Wege. Verfassungspatriotismus und Geschichtsgefühl verbinden sich. Damit ist ein Antagonismus aufgehoben, der die Geschichte der alten Bundesrepublik bestimmt hatte. Der Publizist Dolf Sternberger hatte auf Ernst Moritz Arndts Frage die für diese Epoche weithin gültige Antwort gegeben. Zum dreißigsten Jahrestag des Grundgesetzes schrieb er 1979: "Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland." Der Staat des Grundgesetzes also sei des Deutschen Vaterland und Verfassungspatriotismus deshalb der angemessene Ausdruck von Vaterlandsliebe. Die Verfassung der Bundesrepublik, in die unmittelbar die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik einging, ist für ihn das Dokument eines noch immer gefährdeten Neuanfangs, ein kostbares Unterpfand deutscher Freiheit, an dem der freie Teil der Nation mit "Zähnen und Klauen" festhalten müsse. Man dürfe nicht der Versuchung nachgeben, "auszuziehen aus der Verfassung um der Nation und ihrer Vollständigkeit willen". In Sternbergers Definition ist noch deutlich präsent, dass Verfassungspatriotismus das Annehmen und Verarbeiten eines Verlustes ist. Die Freiheit muss im Zweifel durch den Verzicht auf die Einheit bezahlt werden. Ohne Trauer ist also nach Sternberger über Verfassungspatriotismus nicht zu reden. Bald jedoch verlor dieser Begriff seine Einfärbung durch Geschichtstrauer. Im Historikerstreit um die Singularität des nationalsozialistischen Judenmords schärfte Jürgen Habermas ihn an. Er verstand Verfassungspatriotismus nicht mehr als Annehmen eines Verlusts, sondern als eine aus dem Untergang des deutschen Nationalstaates hervorgegangene politische Verheißung: "Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach - und durch - Auschwitz bilden können." Auschwitz wird so zur negativen Quelle eines neuen, eines postnationalen, ja eines antinationalen deutschen Selbstbewusstseins, eines Selbstbewusstseins, das sogar die Form des Stolzes annehmen kann: "Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte." Das Habermas'sche Verständnis von Verfassungspatriotismus war wirkungsmächtig. Es bestimmte nahezu konkurrenzlos das Denken im linken und linksliberalen Milieu und wurde, trotz aller gefühligen Geschichtsrhetorik des Kanzlers Helmut Kohl, ein vorherrschendes intellektuelles Stilelement der Bundesrepublik der achtziger Jahre. Diese Wirkungsmacht gewann es aus seinen inneren Spannungen und Ambivalenzen, die erst im Laufe der Zeit und vor allem nach der Geschichtswende von 1989/90 sichtbar wurden. Der Habermas'sche Verfassungspatriotismus ist historisch und ahistorisch zugleich, er fungierte gleichermaßen als Leitbegriff affirmativen Status-quo-Denkens wie kritischer Emanzipation. Er schützte das linksliberale juste milieu gegen die Zumutungen der Wende und war doch vital genug, einer rot-grünen Bundesregierung den politischen Neuanfang in der "Berliner Republik" zu ermöglichen. Sternbergers Verfassungspatriotismus hat sich mit der Wiedervereinigung erfüllt. Die Deutschen erlangten die staatliche Einheit, ohne der Versuchung nachzugeben, um der Einheit willen aus der Verfassung auszuziehen. Das Habermas'sche Konzept erschöpft sich erst jetzt. Geschichtsbezogen ist es in der Forderung, das deutsche Gegenwartsbewusstsein an den Zivilisationsbruch von Auschwitz zu knüpfen. Daraus erwächst die Pflicht zur Erinnerung. Das Berliner Holocaust-Mahnmal ist das für alle Zeiten errichtete Mahnzeichen dieser Pflicht. Doch eben in diesem Drang, die historische Zeit steinern gerinnen zu lassen und die Erinnerung zu monumentalisieren, zeigt sich auch das Ahistorische dieses Ansatzes. Das Mahnen überlagert das Vergegenwärtigen der Geschichte, die politische Pädagogik das Erzählen. Habermas war durchaus bewusst, dass die Fixierung der neuen postnationalen Identität auf das unhintergehbare Datum "Auschwitz" ein Ausdörren des Geschichtsbewusstseins bedeutet. Er hielt das für eine Chance: "Wenn unter Jüngeren die nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben, wenn die naive Identifikation mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen Umgang mit Geschichte gewichen ist, wenn Diskontinuitäten stärker empfunden, Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden, wenn nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierungen hindurchgetrieben werden - in dem Maße, wie das wirklich zutrifft, mehren sich die Anzeichen einer postkonventionellen Identität." Als Ende der achtziger Jahre die Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa die nationale Frage wieder auf die Tagesordnung setzten, entdeckten die linken Verfassungspatrioten die viel geschmähte alte Bundesrepublik als ihr bedrohtes postnationales Vaterland. Das brachte bizarre intellektuelle Posen hervor. Als sich die Möglichkeit abzeichnete, den Auftrag der Verfassung zu erfüllen, nämlich die Einheit der Nation in freier Selbstbestimmung herbeizuführen, wurde der sich auf universalistische Prinzipien berufende Verfassungspatriotismus partikular, ja provinziell. Er gebärdete sich als konservative Teilstaatsphilosophie und denunzierte die Aussicht auf die Erfüllung des Verfassungsauftrages als Bedrohung der in der Bundesrepublik erbrachten politischen Zivilisierungsleistung, die sich die Linke nun vor allem selbst zuschrieb. Habermas warf das böse Wort vom "D-Mark-Nationalismus" in die Debatte. Entgegen allen Befürchtungen war das Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung keine Ära der Renationalisierung. In kausalem Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung machte der Prozess der europäischen Integration einen Qualitätssprung. Und obwohl es in den ersten Jahren durchaus Versuche gab, die Wiedervereinigung als Rückkehr in die alten Bahnen einer "selbstbewussten Nation" zu deuten, ist doch offensichtlich, dass die vorherrschende Erfahrung der Deutschen in dieser Umbruchszeit mit dem Begriff der "Globalisierung" und nicht mit dem der "Renationalisierung" zu beschreiben ist. Die verfassungspatriotischen Abwehrreaktionen gegen alles Nationale ließen im Verlauf der neunziger Jahre nach. Universalistische Prinzipien hatten sich jetzt unter den Bedingungen wiedererlangter nationaler Souveränität zu bewähren. Niemand gestattete den Deutschen mehr, unter Berufung auf die Geschichte einen Schonraum für sich zu beanspruchen. Nach dem Regierungswechsel von 1998 musste ausgerechnet Rot-Grün als parteipolitische Fleischwerdung des linken Verfassungspatriotismus den postnationalen Sonderweg der westdeutschen Nachkriegsgeschichte beenden. Es spricht für die Vitalität und Wandlungsfähigkeit des Verfassungspatriotismus, dass er in den Anfängen der "Berliner Republik" eine fast triumphale Auferstehung feierte. Vielfach ist die Beteiligung Deutschlands am Krieg der NATO gegen Serbien als innere Begründung der neuen, der "postrheinischen" Bundesrepublik beschrieben worden. Sie besiegelte tatsächlich einen radikalen politischen Paradigmenwechsel. Das deutsche Nachkriegstabu militärischer Intervention war gebrochen. Möglich war das nur, weil dieser Bruch als zwingende Konsequenz aus der Verpflichtung auf universalistische Prinzipien dargestellt werden konnte. Der Wille, die "ethnischen Säuberungen" im Kosovo zu beenden, also eine Wiederkehr des Völkermords in Europa zu verhindern, brach den Grundsatz, dass der Einsatz deutscher Soldaten dort undenkbar sei, wo Deutsche im Zweiten Weltkrieg als Aggressoren und Besatzer aufgetreten waren. Damit allerdings war der Moment des dialektischen Umschlagens erreicht. Der Universalismus führte in äußerster Folgerichtigkeit der Praxis in eben jene geschichtlichen Räume, die heute noch aufgeladen sind mit der Erinnerung an deutsche Verbrechen. Der Luftkrieg holte die deutsche Politik auf den Boden der Geschichte zurück. Just in dem Augenblick, in dem die Deutschen den langen Weg nach Westen hinter sich haben, finden sie sich mitten in der deutschen Geschichte wieder. Ein Beispiel dafür, was das bedeutet, bot in jüngster Zeit eine gemeinhin wenig beachtete Facette der Politik: die Auswärtige Kulturpolitik. Über ihre Ausrichtung wurde im vergangenen Jahr heftig gestritten. Soll sie an den Brennpunkten globaler Kulturkonflikte westlich-universalistische Basisarbeit leisten, oder soll sie in erster Linie deutsche Sprache und Kultur vermitteln? Es zeichnet sich ein großkoalitionärer Konsens in letzterem Sinne ab, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die Adressaten Auswärtiger Kulturpolitik es vorziehen, den westlichen Universalismus in seinem jeweiligen nationalkulturellen Gewand und seiner nationalhistorischen Konkretisierung kennen zu lernen. Die beschriebenen Entwicklungen in der kulturellen und der politischen Sphäre kann man als ein Verschmelzen von Universalismus und nationalem Geschichtsbewusstsein oder eben, wie schon gesagt, von Verfassungspatriotismus und Geschichtsgefühl verstehen. Aus diesem Vorgang erwächst für die Deutschen die Chance einer nationalen Identität, die sich nicht mehr in erster Linie auf die Erzählung eines pathologischen Sonderweges stützen muss und die sie zu selbstbewussten Europäern und Weltbürgern macht. Es kann keine Rede davon sein, dass der Patriotismus sich illegitimerweise durch die Hintertür wieder einen Platz unter den politischen Leitbegriffen und Tugenden erobert habe, dass er nur Phrase sei oder eine billige Worthülse der Talkshow-Demokratie. Die freudige Nationalerregung der Fußball-Weltmeisterschaft mag schnell abgeklungen sein. Alles andere wäre ja auch der Ausnahmezustand in Permanenz. Ein gänzlich falsches Bild von sich selbst gewannen die Deutschen durch diesen Blick in den Spiegel jedoch nicht. Es ist das Bild einer erneuerten Nation.
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Fuhr, Eckhard
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30726/was-ist-des-deutschen-vaterland/
Erst mit einem Jahrzehnt Verspätung gewinnt das geeinte Deutschland im öffentlichen Bewusstsein eine Form: In der "Berliner Republik" verschmelzen abstrakter Verfassungspatriotismus und Geschichtsbewusstsein zu einem neuen deutschen Selbstbild.
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Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung | Hintergrund aktuell | bpb.de
Etwa 13 Prozent der Deutschen, rund 10,2 Millionen Menschen, leben laut Statistischem Bundesamt mit einer Behinderung. Davon gelten mehr als 7,6 Millionen als schwerbehindert. Der vor 25 Jahren von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll jedes Jahr am 3. Dezember das Bewusstsein für ihre Belange schärfen und den Einsatz für ihre Würde und Rechte fördern. Verschiedene Institutionen und Verbände, etwa der Deutsche Behindertenrat, Aktion Mensch, Sozialhelden e.V. oder die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen setzen sich für mehr Teilhabe und Inklusion Behinderter ein – und nicht zuletzt die Betroffenen selbst. Mit der Interner Link: UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) können sie sich inzwischen auf ein umfangreiches Regelwerk berufen. Auch Deutschland hat sich 2009 zur Umsetzung der Konvention verpflichtet. Die Konvention beschränkt sich nicht auf ein allgemeines Diskriminierungsverbot, sondern macht den Unterzeichnerstaaten auch konkrete Vorgaben, wie sie ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen umsetzen sollen: zum Beispiel durch das Recht auf inklusive Bildung oder den Abbau von Barrieren im öffentlichen Raum. Außerdem gilt in Deutschland das Behindertengleichstellungsgesetz, um die Benachteiligung Behinderter zu vermeiden. Was bedeutet "Inklusion"?Inklusion Inklusion ist ein Ziel, das viele Menschen für die Gesellschaft haben. Damit ist gemeint, dass alle Menschen von der Gesellschaft akzeptiert werden sollen, mit oder ohne Behinderung. Die Menschen sollen so angenommen werden, wie sie sind, denn Unterschiede sind normal. Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen. Niemand soll benachteiligt sein, weder bei der Arbeit noch in der Freizeit. Damit Inklusion gelingt, muss die Gesellschaft dafür sorgen, dass die Menschen auch tatsächlich teilnehmen können. So müssen zum Beispiel Busse und Bahnen so gebaut sein, dass auch Rollstuhlfahrer/-innen sie problemlos nutzen können. Viele Menschen fordern auch noch mehr Schulklassen, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen können. Begriffserklärung Das Wort "Inklusion" kommt vom lateinischen Begriff "includere", das heißt "einschließen", "einbeziehen". Quelle: Gerd Schneider / Christiane Toyka-Seid: Das junge Politik-Lexikon von Externer Link: www.hanisauland.de, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017. Bundesteilhabegesetz: Meilenstein auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft? Die praktische Umsetzung der UN-Konvention ließ in Deutschland lange auf sich warten. Ende 2016 wurde das Externer Link: Bundesteilhabegesetz verabschiedet, das schrittweise unter anderem die finanzielle Situation von Schwerbehinderten verbessern soll. Menschen mit Behinderungen, die staatliche Unterstützung zur Bewältigung ihres Alltags oder bei der Arbeit erhalten, konnten im alten System so gut wie kein privates Vermögen aufbauen. Mit dem neuen Gesetz wurde die so genannte Eingliederungshilfe – Interner Link: eine spezielle Leistung der Sozialhilfe zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung – klar von der Sozialhilfe getrennt. Für die laut Statistischem Bundesamt rund 700.000 Menschen, die ein Anrecht auf die Eingliederungshilfe haben, heißt das, dass sie ab sofort ein Guthaben in Höhe von bis zu 27.600 Euro ansparen können. Erst wenn diese Grenze überschritten wird, müssen sie Kosten für persönliche Assistenten und andere Hilfen anteilig mitfinanzieren. Ab 2020 soll der Freibetrag auf 50.000 Euro steigen, das Vermögen von Lebenspartnern wird dabei nicht einberechnet. Während die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) das Gesetz als eine "politische Wegmarke auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft" und sogar als "Systemwechsel" bezeichnet hat, gibt es seitens der Betroffenen Protest. Deutschland sei noch weit davon entfernt, die Vorgaben der UN-BRK zu erfüllen. Stattdessen würden Menschenrechte behinderter Menschen unter einen "Kostenvorbehalt gestellt", so das Urteil der im Deutschen Behindertenrat (DBR) vertretenen Verbände. Für die Mehrheit der Betroffenen ändere sich kaum etwas, lautet einer der wichtigsten Kritikpunkte. Wer aufgrund seiner Behinderung keiner geregelten Arbeit nachgehen könne und deshalb zusätzlich auf Sozialleistungen angewiesen sei, müsse sich mit einem Freibetrag von lediglich 5.000 Euro begnügen. Nach Ansicht des DBR könnte das Gesetz sogar dazu führen, dass bald nur noch wenige Personen überhaupt berechtigt sind, Eingliederungshilfe zu beziehen. Denn der Anspruch auf die Leistung orientiert sich zukünftig nicht mehr primär an der körperlichen Befindlichkeit des Menschen, sondern an seiner Fähigkeit, mit seiner Umwelt in Austausch zu treten. Vom Lernen und der Anwendung von Wissen über das häusliche und soziale Leben, von Kommunikationsfähigkeit bis zur Mobilität werden dabei konkrete Felder des Umweltkontakts definiert. Ab 2023 soll Eingliederungshilfe nur dann gewährt werden, wenn die Betroffenen nachweisen können, dass sie in mindestens fünf von neun definierten Lebensbereichen eingeschränkt sind. Dies könnte dann Personen von der Eingliederungshilfe ausschließen, die nach Ansicht von DBR und der Behindertenbeauftragten auf diese Hilfe angewiesen sind. Was bedeutet "Behinderung"?Behinderung Nach dem Externer Link: Sozialgesetzbuch § 2 SGB IX (1) wird Behinderung wie folgt definiert: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist." Behinderung wird nach Zehnergraden eingestuft, die die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beschreiben. Als schwer behindert gelten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 50 oder mehr. In Deutschland wird die Art der Behinderung in 55 Kategorien erfasst, die vor allem die Funktionseinschränkung (z.B. Sprachstörung, Blindheit, Funktionsstörung innerer Organe) und nicht die Ursache der Behinderung (z.B. Krankheit, Unfall, angeborene Behinderung) bezeichnen. Es ist üblich, eine Behinderung nicht allein über ihre Ursache zu definieren, sondern darüber, wie Menschen dadurch davon abgehalten werden, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der Begriff der Behinderung ist darum gerade für die Betroffenen sehr flexibel und auch davon abhängig, wie sie ihre Möglichkeiten zur Teilhabe am öffentlichen Leben empfinden, also nicht nur von körperlichen Eigenschaften bestimmt, sondern auch von den äußeren Rahmenbedingungen. Neben den finanziellen Aspekten wehren sich Behindertenverbände auch gegen weitere Teile des Gesetzes, etwa das sogenannte "Zwangspoolen": Gemeint ist, dass Leistungen in bestimmten Fällen gebündelt werden und ein Assistent künftig mehrere Personen gleichzeitig betreuen soll. Die Regel wird von den Verbänden dahingehend interpretiert, dass bestimmte Aktivitäten nur noch in Gruppen mit anderen Menschen mit Behinderungen möglich sind, zum Beispiel Freizeitaktivitäten wie Kinobesuche. Auch die Betreuung in der Schule oder am Arbeitsplatz könne davon betroffen sein. Angesichts der Proteste hat der Gesetzgeber zwar nachgebessert: Der private Bereich und soziale Beziehungen sollen von der Poolregel nicht mehr betroffen sein und persönliche, familiäre und örtliche Umstände berücksichtigt werden. Verstummt ist die Diskussion trotzdem nicht. Betroffene sehen wenig Fortschritt beim Thema Barrierefreiheit Auch beim Thema Barrierefreiheit sehen die Betroffenen wenig Fortschritte. Selbst in Großstädten könnten sich Rollstuhlfahrer nicht darauf verlassen, an einer beliebigen U- oder S-Bahn-Station ohne fremde Hilfe ein- oder aussteigen zu können. In ländlichen Gebieten sei die Bewegungsfreiheit von Menschen mit Behinderungen oft noch stärker eingeschränkt. Eine rechtliche Handhabe gegen solche Missstände haben die Betroffenen bisher nicht. Denn das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet nur die Bundesverwaltung und die Sozialleistungsträger, Standards zur Barrierefreiheit einzuhalten, also die Nutzbarkeit ihrer Einrichtungen und Leistungen für alle zu gewährleisten. Die Verbände fordern daher eine Neufassung des Interner Link: Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Dabei müssten auch private Anbieter von Waren und Dienstleistungen wie Kaufhäuser oder Restaurants in die Pflicht genommen werden. Wahlrecht für geistig Behinderte? Anlässlich der Bundestagswahl im September 2017 hat auch eine andere seit Jahren geführte Debatte wieder an Aktualität gewonnen: Bundesweit sind laut einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 84.550 Menschen gemäß § 13 Bundeswahlgesetz (BWG) vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die meisten von ihnen haben eine geistige Behinderung und stehen dauerhaft unter Vollbetreuung. Wird durch einen Betreuungsrichter eine "Betreuung in allen Angelegenheiten" angeordnet, verlieren diese Menschen damit auch das Wahlrecht auf Bundesebene. In manchen Bundesländern ist das Wählen hingegen auch für Behinderte mit Vollbetreuung möglich. Nicht nur die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele (SPD), sieht darin eine Diskriminierung. Auch der Deutsche Behindertenrat hat eine Streichung der entsprechenden Passagen im Bundeswahlgesetz gefordert. Bereits vor der Bundestagswahl 2013 war ein Gesetzentwurf zum Thema gescheitert. "Schule für alle" Auch beim Thema Interner Link: Bildungsinklusion fühlen sich einige Betroffene von der Politik noch allein gelassen. Zwar verweisen die zuständigen Bundesländer auf jüngste Erfolge. Medienberichten zufolge sollen im Schuljahr 2016/17 bereits 41 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule besucht haben. Ob Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ihren Rechtsanspruch auf einen Schulplatz durchsetzen können, hänge trotzdem immer noch stark vom Wohnort ab. In vielen Bundesländern sei es immer noch schwierig, eine Schule zu finden, die auf die Bedürfnisse der neuen Schülerinnen und Schüler eingestellt sei, so die Behindertenbeauftragte. Auch wenn die Öffnung der Regelschulen ein großes gesellschaftliches Projekt darstellt: Inklusion als Konzept bezieht sich letztlich nicht nur auf Bildung, sondern auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Vor allem in den Leitungsgremien großer Sozial- und Wohlfahrtsverbände, die als Träger von Heimen und Werkstätten im Leben vieler Menschen mit Behinderungen eine wichtige Rolle spielen, sind die Betroffenen bisher nicht oder nur vereinzelt vertreten. Die schon laufende Diskussion um "Selbstvertretung" wird daher für die kommenden Jahre als großes Thema in der Interner Link: Behindertenpolitik gesehen. Mehr zum Thema: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte – Menschen mit Behinderungen Interner Link: Die UN-Behindertenrechtskonvention Interner Link: Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung Interner Link: Dossier: Inklusiv politisch bilden Inklusion ist ein Ziel, das viele Menschen für die Gesellschaft haben. Damit ist gemeint, dass alle Menschen von der Gesellschaft akzeptiert werden sollen, mit oder ohne Behinderung. Die Menschen sollen so angenommen werden, wie sie sind, denn Unterschiede sind normal. Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen. Niemand soll benachteiligt sein, weder bei der Arbeit noch in der Freizeit. Damit Inklusion gelingt, muss die Gesellschaft dafür sorgen, dass die Menschen auch tatsächlich teilnehmen können. So müssen zum Beispiel Busse und Bahnen so gebaut sein, dass auch Rollstuhlfahrer/-innen sie problemlos nutzen können. Viele Menschen fordern auch noch mehr Schulklassen, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen können. Begriffserklärung Das Wort "Inklusion" kommt vom lateinischen Begriff "includere", das heißt "einschließen", "einbeziehen". Quelle: Gerd Schneider / Christiane Toyka-Seid: Das junge Politik-Lexikon von Externer Link: www.hanisauland.de, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2017. Nach dem Externer Link: Sozialgesetzbuch § 2 SGB IX (1) wird Behinderung wie folgt definiert: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist." Behinderung wird nach Zehnergraden eingestuft, die die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beschreiben. Als schwer behindert gelten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 50 oder mehr. In Deutschland wird die Art der Behinderung in 55 Kategorien erfasst, die vor allem die Funktionseinschränkung (z.B. Sprachstörung, Blindheit, Funktionsstörung innerer Organe) und nicht die Ursache der Behinderung (z.B. Krankheit, Unfall, angeborene Behinderung) bezeichnen. Es ist üblich, eine Behinderung nicht allein über ihre Ursache zu definieren, sondern darüber, wie Menschen dadurch davon abgehalten werden, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der Begriff der Behinderung ist darum gerade für die Betroffenen sehr flexibel und auch davon abhängig, wie sie ihre Möglichkeiten zur Teilhabe am öffentlichen Leben empfinden, also nicht nur von körperlichen Eigenschaften bestimmt, sondern auch von den äußeren Rahmenbedingungen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-29T00:00:00"
"2017-11-29T00:00:00"
"2021-09-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/260588/internationaler-tag-der-menschen-mit-behinderung/
Jährlich am 3. Dezember soll die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen und ihren Belangen gestärkt werden. Ein Blick auf die aktuellen Debatten und Forderungen.
[ "Menschen mit Behinderung", "Inklusion", "UN-Behindertenrechtskonvention", "Behindertengleichstellungsgesetz", "Bundesteilhabegesetz" ]
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Verfassungsschutz stuft Gruppierungen als rechtsextremistisch ein | Deine tägliche Dosis Politik | bpb.de
🌇 Guten Morgen, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat drei Gruppierungen der sogenannten "Neuen Rechten" als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Was bedeutet das? 📑 Entscheidung des BfV Neben der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative (JA) wurden das „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und der Verein „Ein Prozent“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen eingestuft. Sie wurden seit 2019 bzw. 2020 vom BfV beobachtet. Seitdem wurden rassistische Äußerungen und völkisches Gedankengut in Materialsammlungen zusammengetragen. Diese dienen im Falle von etwaigen Gerichtsverfahren als Beweise. Der Präsident des BfV erklärte, dass kein Zweifel mehr darin bestehe, dass die drei Gruppierungen verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen. Ihre Überzeugungen seien nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. 🔎 Hintergrund "Gesichert extremistische Bestrebung" bezeichnet die höchste Kategorie der dreiteiligen Einstufung (Prüffall – Verdachtsfall – gesichert extremistisch) des BfV. Die Einstufungen erlauben dem BfV unterschiedlich drastische Mittel der Informationsbeschaffung. Bei gesichert extremistischen Bestrebungen sind die Hürden für das Abhören von Telefongesprächen oder den Einsatz von V-Leuten niedriger als bei Verdachtsfällen. Darüber hinaus ist es für Mitglieder einer gesichert rechtsextremistischen Organisation z. B. schwerer, einen Waffenschein zu erhalten und Funktionen im öffentlichen Dienst einzunehmen. 💬 Reaktionen Die AfD kritisierte die Einstufung als nicht nachvollziehbar und kündigte juristische Mittel an. Die Gesamtpartei wurde bereits als Verdachtsfall eingestuft, wogegen sie erfolglos geklagt hat. Eine Entscheidung im Berufungsverfahren steht noch aus. Aus Sicht von Expert/-innen könnte eine Einstufung der AfD als gesichert rechtsextreme Bestrebung folgen. ➡️ Mehr zum Thema findest Du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1931 Wir melden uns am Dienstag wieder und wünschen dir einen schönen 1. Mai! Viele Grüße Deine bpb Social Media Redaktion
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"2023-04-28T00:00:00"
"2023-04-28T00:00:00"
"2023-04-28T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/520524/verfassungsschutz-stuft-gruppierungen-als-rechtsextremistisch-ein/
Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat drei Gruppierungen der sogenannten "Neuen Rechten" als gesichert rechtsextremistisch eingestuft.
[ "Deine tägliche Dosis Politik", "Verfassungsschutz", "Rechtsextremismus", "Neue Rechte", "extremistisch" ]
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Gesamtwirtschaftliche Einkommensverteilung | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de
Sozialprodukt, Volkseinkommen, Wohlstand Die in einer Volkswirtschaft in einer Periode, d. h. in einem Jahr, erzeugten Güter und Dienstleistungen sind das, was (ohne Berücksichtigung der Außenverflechtung − Exporte etc.) für Investitionen und für Konsumzwecke zur Verfügung steht. Bewertet man die Summe dieser Güter und Dienstleistungen mit Preisen, so errechnet sich das "Sozialprodukt" (genauer: Bruttoinlandsprodukt (BIP)). Durch die Produktion von Gütern und die Erstellung von Dienstleistungen entstehen zugleich Einkommen, die den beteiligten Faktoren Arbeit und Kapital zufließen und sich zum Volkseinkommen summieren. Die Entstehungsseite des Sozialprodukts, also die Produktion, und die Verteilungsseite des Sozialprodukts, also die Einkommenserzielung, bedingen sich gegenseitig. Das Volkseinkommen fällt wegen verschiedener rechnerischer Abzüge niedriger aus als das Bruttoinlandsprodukt, insbesondere die Abschreibungen werden in Anrechnung gebracht. Im Jahr 2019 beziffert sich das Bruttoinlandsprodukt auf einen Betrag von knapp 3,5 Mrd. Euro und das Volkseinkommen auf 2,6 Mrd. Euro. Typisch für die Situation seit Gründung der Bundesrepublik ist ein kontinuierliches Wachstum dieser beiden Aggregatgrößen. Die Wachstumsraten waren in der Nachkriegszeit ("Wirtschaftswunder") sehr hoch. Ab Anfang der 1970er Jahre zeigt sich eine Abschwächung. Aber auch in der jüngeren Vergangenheit − so für die Jahre seit 1995 weist der Trend nach oben, der Zuwachs liegt bei rund 80 Prozent. Üblich ist es für Wohlstandsvergleiche, das Volkseinkommen durch die Zahl der Einwohner zu teilen. Die so ermittelte Höhe des pro-Kopf Volkseinkommens ist ein zentraler Indikator zur Messung des Wohlstands einer Gesellschaft. Im internationalen Vergleich zählt Deutschland zu den wohlhabendsten Ländern. Und auch im europäischen bzw. EU-Kontext rangiert Deutschland im Spitzenfeld. Allerdings sagen Niveau und Wachstum von Sozialprodukt und Volkseinkommen – auch pro-Kopf gerechnet – keineswegs abschließend etwas über den Wohlstand und die Wohlfahrt einer Gesellschaft aus . Um eine Aussage über die Lebensbedingungen der Bevölkerung treffen zu können, müssen z.B. die Umstände, unter denen das Einkommen erzielt wird, in Rechnung gestellt werden. Deshalb ist zu bilanzieren, um den Preis welcher individuellen und gesamtgesellschaftlichen Belastungen ein bestimmtes Einkommen erzielt wird. Ein Einkommen, das mit niedrigen Wochenarbeitszeiten, einem ausgedehnten Jahresurlaub und unter humanen Arbeitsbedingungen erreicht wird, ist anders zu bewerten als ein Einkommen, das mit einer hohen Arbeitsintensität sowie mit langen Arbeitszeiten verbunden ist. Gleichermaßen ist zu berücksichtigen, wofür das Einkommen verwandt wird bzw. verwandt werden muss. Zu fragen ist nach den Qualitäten der Einkommensverwendung und nicht nur nach deren Quantitäten. Dieser Zusammenhang wird beispielhaft deutlich, wenn in der Gesellschaft der Produktions- und Einkommenszuwachs um den Preis von Umweltschädigungen erfolgt und ein großer Teil des zusätzlichen Einkommens nur dazu dient, um die Folgekosten dieser Entwicklung z.B. durch nachträglichen Umweltschutz abzudecken. Gleichermaßen zu hinterfragen ist ein Produktions- und Einkommenszuwachs, der um den Preis wachsender sozialer Ungleichheiten und Spannungen erreicht wird. Die einzelnen Folgekosten einer solchen Wachstumsstrategie können zu sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten führen, wenn etwa die Kriminalität steigt und wachsende Ausgaben für öffentliche und private Sicherheit anfallen. Aus diesen Gründen gibt es vielfältige Ansätze alternativer bzw. ergänzender Indikatoren. Der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) konzipierte Human Development Index (HDI) ist dafür ein Beispiel ("Interner Link: Internationaler Vergleich"). Dieser Index geht von den drei wesentlichen Determinanten des menschlichen Handlungsspielraumes aus: Gesundheit, Bildung und Einkommen. Diese Determinanten werden anhand der Indikatoren mittlere Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate und Schulbesuchsdauer sowie reales Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf gemessen und verdichtet. Auch das Statistische Bundesamt berichtet in einem Satellitensystem der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) über die Gebiete Umweltschutz, Haushaltsproduktion und Gesundheit. Löhne und Gewinne Die Zuordnung des Volkseinkommens auf die Produktionsfaktoren lässt sich als funktionelle Primärverteilung beschreiben. Eine verteilungs- aber auch wirtschaftspolitisch zentrale Frage ist, wie sich die Arbeits- und Kapitaleinkommen im Zeitverlauf entwickelt haben und wie das Verhältnis zwischen diesen beiden aggregierten Faktoreinkommen aussieht (vgl. Abbildung Entwicklung der Bruttolöhne/-gehälter sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen 1995-2019). Die Indexdarstellung zeigt, dass die Bruttolöhne im Zeitraum 1995 bis 2019 um rund 86 Prozent angestiegen sind, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 72 Prozent. Der Verlauf der Bruttolöhne und -gehälter unterteilt sich dabei in Phasen. Bis etwa 2005 kam es zu einem nur sehr schwachen Anstieg. In den Jahren danach beschleunigte sich der Zuwachs, dies insbesondere ab 2010. Im Unterschied haben sich die Unternehmens- und Vermögenseinkommen unregelmäßig entwickelt: In der Zeitspanne zwischen 2003 und 2013 kam es zu einem starken Zuwachs. Der Anstieg fiel weit stärker aus als der Anstieg der Entgelte aus abhängiger Arbeit. Unter dem Druck steigender Arbeitslosenzahlen und einer strukturellen Schwächung der Gewerkschaften (Abnahme der Tarifbindung der Beschäftigten) (vgl. "Interner Link: Tarifentgelte und Tarifbindung") sind die Tariferhöhungen bzw. die effektiven Arbeitsentgelte weit hinter dem Produktivitätswachstum zurückgeblieben. Zugleich wurde durch die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der Ausbau des Niedriglohnsektors beschleunigt (vgl. "Interner Link: Niedriglöhne"). Dies bedeutet, dass in diesen Jahren der Anteil der Einkommen aus abhängiger Arbeit am Sozialprodukt bzw. Volkseinkommen gesunken ist. Die abhängig Beschäftigten haben von dem Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Produktivität und vom insgesamt gestiegenen Verteilungsvolumen und Wohlstand nur unterproportional profitiert. Händlerin an der Frankfurter Wertpapierbörse. Im Zeitraum 1995 bis 2019 stiegen die die Bruttolöhne um rund 86 Prozent, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 72 Prozent. (© picture-alliance, imageBROKER) Der Einbruch der Unternehmens- und Vermögenseinkommen in den Jahren 2008 und 2009 spiegelt die Folgewirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wider, die auch Deutschland getroffen hat. Es kam zu Einbrüchen bei den Gewinnen der Unternehmen und vor allem zu Vermögensverlusten auf den Finanz- und Kapitalmärkten, die aber bereits bis 2010 weitgehend überwunden worden sind. Zwischen 2012 und 2017 haben sich die Unternehmens- und Vermögenseinkommen auf der einen Seite und die Bruttolöhne und -gehälter weitgehend parallel bewegt, die Abstände haben sich nicht eingeebnet, aber auch nicht vergrößert. Seit 2018 setzt allerdings eine gegenläufige Entwicklung ein: Während – unter den Bedingungen steigender Beschäftigtenzahlen und höherer Tarifabschlüsse – die Arbeitseinkommen kräftig steigen, weisen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen einen Rückgang auf. Ausdrücklich zu erwähnen ist, dass es sich hier um funktionale Einkommen handelt, die nicht immer mit personellen Einkommen identisch sind. Das heißt, dass Personen, die ihr Einkommen aus einer abhängigen Beschäftigung beziehen, zusätzlich auch Einkommen aus Vermögen erhalten können. Und bei der Kategorie "Einkommen aus Unternehmertätigkeit" handelt es sich um eine Sammelgröße, in die sehr unterschiedliche Einkommen eingehen. Enthalten sind neben den Gewinnen auch die Einkünfte von "kleinen" selbstständigen Erwerbstätigen und Landwirten, die sich durchaus als eine Art von Arbeitseinkommen interpretieren lassen. Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter Händlerin an der Frankfurter Wertpapierbörse. Im Zeitraum 1995 bis 2019 stiegen die die Bruttolöhne um rund 86 Prozent, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 72 Prozent. (© picture-alliance, imageBROKER) Die Bruttolöhne und -gehälter je durchschnittlich Beschäftigten lagen im Jahr 2019 bei gut 3.100 € im Monat. Der aus Sicht der Beschäftigten entscheidende Nettowert fällt mit 2.080 Euro im Monat deutlich geringer aus. In diesem beachtlichen Unterschied zwischen Brutto- und Nettoeinkommen kommen die Abzüge durch die direkten Steuern (Lohnsteuern) und die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zum Ausdruck. Die durchschnittliche Abzugsquote summiert sich auf gut ein Drittel des Bruttowertes. Betrachtet man den Verlauf der Löhne und Gehälter je Beschäftigten, lässt sich ein deutlicher Anstieg erkennen. Dies zeigt die Abbildung "Entwicklung der Löhne und Gehälter, netto und preisbereinigt 1995-2019", die die Entwicklung seit 1995 als Index ausweist. Die Ausgangswerte im Jahr 1995 werden dabei auf 100 gesetzt, so dass sich der Anstieg in den Jahren danach als prozentualer Zuwachs erkennen lässt. Seit 1995 sind danach die Nettolöhne und -gehälter um rund 55 Prozent gestiegen. Berücksichtigt man jedoch, dass in Folge des kontinuierlichen Anstiegs des Preisniveaus die Kaufkraft der Löhne und Gehälter gesunken ist, erscheint die Entwicklung in einem deutlich ungünstigeren Licht. Die um die Inflationsrate bereinigten realen Nettoverdienste weisen über die Jahre keinen nennenswerten Zuwachs auf und sind zum Teil – so in den Jahren zwischen 2004 und 2009 – sogar gesunken. Im Ergebnis zeigt sich, dass die durchschnittlichen Nettorealverdienste im Jahr 2019, also nach 20 Jahren, lediglich um 11,5 Prozent höher liegen als im Jahr 1995. Vgl. u.a. Bontrup 2014, S 92 ff; Bofinger 2015, S. 593 ff.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-22T00:00:00"
"2016-11-16T00:00:00"
"2021-12-22T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/237406/gesamtwirtschaftliche-einkommensverteilung/
Durch die Erstellung des Sozialprodukts fließen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital Einkommen zu, die sich zum Volkseinkommen summieren. Die Höhe des pro-Kopf Volkseinkommens ist ein zentraler Indikator zur Messung des materiellen Wohlstands e
[ "Sozialprodukt", "Volkseinkommen", "Wohlstand", "Einkommensverteilung" ]
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Justiz und politische Haft in der DDR | Deutschland Archiv | bpb.de
Politische Justiz Rudi Beckert: Glücklicher Sklave. Eine Justizkarriere in der DDR, Berlin: Metropol 2011, 183 S., € 16,–, ISBN: 9783863310042. Peter Schnetz: Der Prozess um des Urteils Schatten. Meine Stasi-Akte, Bamberg: Eigenverlag Peter Schnetz 2010, 324 S., € 19,95 [ohne ISBN]. Lena Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz. Eine exemplarische Dokumentation der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen: Edition Temmen 2010, 198 S., € 19,90, ISBN: 9783861089797. Sybille Plogstedt: Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung, Gießen: Psychosozial 2010, 472 S., € 32,90, ISBN: 9783837920949. Kornelia Beer, Gregor Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen (Medizin und Menschenrechte; 4), Göttingen: V&R unipress 2011, 302 S., € 43,90, ISBN: 9783899716641. André Gursky: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR (Treffpunkt Philosophie; 11), Frankfurt a. M u.a.: Lang 2011, 460 S., € 74,80, ISBN: 9783631613078. Politische Justiz war essentiell für die SED-Herrschaft. Ungeachtet der Tatsache, dass in den vorliegenden Untersuchungen zum Rechtssystem der DDR die politische Überformung der Justiz herausgearbeitet wurde, wird in der Öffentlichkeit über die Frage, ob die DDR als Unrechtsstaat zu charakterisieren ist, anhaltend gestritten. Diesen Streit werden die neuen Publikationen nicht beenden. Sie können Forschungsergebnisse bestätigen, diesen erwartungsgemäß in einigen Fällen wichtige neue Facetten hinzufügen und teilweise noch bestehende Wissenslücken schließen. Sehr ungleiche Autoren thematisieren die spezifisch politische Eigenart der Rechtsprechung der DDR, die von den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) mit juristischen Mitteln praktizierte politische Verfolgung, die Haftfolgen und die Aufarbeitung des staatlichen Unrechts. Nicht überraschend ist, dass überaus unterschiedliche Bücher mit auffallend heterogenen Resultaten entstanden sind, die sich vereinfacht in zwei Gruppen der Sachbuchliteratur klassifizieren lassen: Zum einen sind es wissenschaftliche Analysen, die – auch auf biografisches Material gestützt – den Gegenstand systematisch auseinanderlegen, zum anderen biografische Texte ohne diesen wissenschaftlichen Anspruch. Die lebensgeschichtlichen Fakten bekräftigen, dass die durch staatliche Institutionen vorgenommenen oder intendierten Eingriffe in Lebensverläufe gravierendes Unrecht darstellen und den Tatbestand eines systembedingten staatlichen Unrechts erfüllen. "Glücklicher Sklave" Beckert: Glücklicher Sklave (© Metropol Verlag) Als JPG herunterladen (2MB) Zum Genre der biografischen Sachbuchliteratur gehören die Lebenserinnerungen eines der höchsten Richter der DDR, Rudi Beckert, zuletzt Mitglied des Präsidiums des Obersten Gerichts, Leiter der Grundsatzabteilung und Vorsitzender des Entschädigungssenats. Die Einblicke in die Karriere dieses Juristen, Jahrgang 1932, leuchten symptomatisch die Lebenschancen aus, die sich in der Nachkriegszeit für junge Menschen in der DDR öffnen konnten, wenn sie sich trotz Eigensinn und gelegentlicher Unangepasstheit im Grunde politisch konform verhielten. Beckert spricht von sich und für sich, aber er bezeichnet ein an kein politisches System gebundenes Verhalten: "Wir taten, was verlangt wurde, nämlich der herrschenden Gesellschaftsordnung zu nützen, und hatten das Gefühl, selbst dazu zu gehören." (37) Beckert berichtet von einem nicht untypischen beruflichen Aufstieg. Nach relativ kurzzeitigen Stationen an verschiedenen Kreisgerichten wurde er bereits mit 27 Jahren Direktor des Kreisgerichts Torgau und sieben Jahre später Oberrichter (Vorsitzender des 1. Strafsenats, zuständig für Staatsverbrechen und "antidemokratische Delikte") am Bezirksgericht Frankfurt (Oder). Beckert betont, dass er überwiegend mit Straftaten der allgemeinen Kriminalität befasst war. Inzwischen habe sich allerdings seine "Sicht im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Rechtspflege- und Sicherheitsorganen" gewandelt. Damals habe er hingegen "anderes nicht kennengelernt" und es akzeptiert (78), einschließlich schwerwiegender Eingriffe von MfS und SED in laufende Verfahren. Auf die reibungslos funktionierende "Zusammenarbeit" freilich kam es der Staats- und Parteiführung an. Mit Genugtuung erwähnt Beckert die im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland geringeren Verbrechensraten in der DDR. Was kann ein so hochrangiger Jurist, der angibt, er sei vordem derartig einfältig gewesen, dass er Informationen über den Freikauf politischer Gefangener gegen Devisen für unglaubwürdig gehalten habe (83), dem heutigen Leser vom DDR-Rechtssystem verständlich machen? Es gelingt Beckert, eine Vorstellung von der prinzipiellen Funktionsweise der DDR-Gesellschaft und deren integralen Bestandteil Justiz zu vermitteln, ein Bild davon, wie sich nachdenkliche, einfühlsame und mitunter zweifelnde, zugleich der Partei bedingungslos hörige Menschen in ihr Herrschaftssystem einbinden ließen und es dadurch ermöglichten. "Der Prozess um Urteils Schatten" Schnetz: Der Prozess um des Urteils Schatten (© Eigenverlag Peter Schnetz) Als JPG herunterladen (148.4kB) Retrospektiv setzt sich Beckert mit den eigenen Irrtümern und Fehlern auseinander, mit seiner aktiven Funktion in einem Unrechtssystem, in dem der Autor Peter Schnetz zum Opfer wurde. Schnetz kompiliert in dem vorgelegten Band Abschriften von Dokumenten aus der Zeit seiner Verfolgung in der DDR bis zur Ausbürgerung 1971, Teilen seiner Stasi-Akte und damaliger Gerichtsunterlagen mit Schriftsätzen neueren Datums und mit eigenen Texten. Er klagt nicht nur die Institutionen der DDR an wegen seiner unrechtmäßigen Verurteilung und die Behörden des Freistaats Bayern, die seinen Anspruch auf Opferrente nicht anerkennen, sondern in einem Rundumschlag die gesamte kapitalistische Ordnung: "Stärker als Boykott, Verbot, Zuchthaus bei den Kommunisten" verhindere die "geistige Inkompetenz der Kapitalisten" alle "echten, wahren, revolutionären Werke" (5). Seine ausgreifende, aber unverbindlich formulierte Gesellschaftskritik, die auch die Stasi-Unterlagenbehörde einbezieht, überzeugt nicht. Sie lässt die erforderliche Stringenz vermissen und die überbordende Materialfülle des Buches die innere Gestaltung. Fehlende Nachweise mindern für den Wissenschaftler den Quellenwert der Sachtexte und die dazwischen eingefügten literarischen Teile verlieren sich in der nicht von der ordnenden Hand eines Lektors gezügelten Stoffsammlung. Der Autor konnte sich offensichtlich nicht aus der geringen Distanz zum Arbeitsgegenstand, der eigenen Biografie, befreien. Aber der Leser erfährt eindringlich vom Umgang der DDR-Justiz mit Menschen, die sich anders als Beckert unangepasst verhielten. "Vergangenheit im Spiegel der Justiz" Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz (© Edition Temmen) Als JPG herunterladen (158.8kB) Mit völlig anderem Anspruch und mit dementsprechend kritischer, wissenschaftlicher Sorgfalt behandelt Lena Gürtler die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Ihre bemerkenswerte Studie ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes beim Landesbeauftragten Mecklenburg-Vorpommerns für die Stasi-Unterlagen, das die strafrechtliche Aufarbeitung des systembedingten DDR-Unrechts – verstanden als Taten, die durch das politische System initiiert, gefördert oder geduldet wurden – analysiert. Denn die Frage, ob der gigantische Aufwand von annähernd 5.000 Strafverfahren allein in Mecklenburg-Vorpommern zu mehr Gerechtigkeit geführt habe, schien berechtigt angesichts der Tatsache, dass am Ende der Ermittlungen lediglich 27 Verurteilungen standen. Die Justiz ermittelte von 1992 bis zum Einsetzen der absoluten Verjährung im Oktober 2000, die Akten sind inzwischen geschlossen. Die Bilanz fällt ernüchternd aus. Insgesamt wertete Gürtler 3.348 Verfahren der "Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Verfolgung politisch motivierter und unter Missbrauch politischer Macht begangener Straftaten der DDR (SED-Unrecht)" aus. An 32 exemplarischen Fallbeispielen betrachtete sie die 32 verschiedenen Arten von Delikten, deretwegen die Staatsanwaltschaft ermittelte, zusammengefasst in sieben Deliktsgruppen. Die Studie ist logisch und übersichtlich aufgebaut, sie ist – unerwartet bei diesem sperrigen Gegenstand – flüssig lesbar. Nach einer knappen Skizze zur Schweriner Schwerpunktabteilung für SED-Unrecht präsentiert Gürtler in den Bereichen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung, politische Verdächtigung, MfS-Straftaten, Körperverletzung, Totschlag und Mord sowie sonstige Delikte ein bedrückendes Panorama politischer Justiz, und bilanziert abschließend das Resultat ihrer Recherche. Die meisten Ermittlungsverfahren betreffen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung, insgesamt wurden mehr als 98 Prozent aller Verfahren eingestellt. Bedauerlich ist, dass dem wissenschaftlichen Apparat dieses wichtigen und äußerst informativen Buches ein Quellen- und Literaturverzeichnis fehlen. Hinweise auf die Signaturen der einzelnen Vorgänge sind nur im Text oder in den Fußnoten zu finden. Die vorgestellten 32 Fälle repräsentieren die Aufarbeitungspraxis in Mecklenburg-Vorpommern, die sich nicht von der in den anderen Bundesländern auf dem ehemaligen Territorium der DDR unterscheidet. In ihnen spiegelt sich eine spezifische Seite der DDR-Geschichte, die vom Mut und vom Widerstand jener Menschen handelt, die abweichend von politischen Vorgaben ihr Schicksal eigenverantwortlich gestalten wollten und die mit den eng gezogenen Grenzen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kollidierten. Die Beispiele zeigen zugleich die eingeschränkten Möglichkeiten, mit rechtsstaatlichen Mitteln auf staatliches Unrecht angemessen zu reagieren, was bei einem Teil der Betroffenen auf Unverständnis stieß. Doch das müsse so bleiben, zitiert die Autorin einen der beteiligten Juristen, für moralische Probleme sei das Rechtssystem nicht zuständig: "Zu erwarten, dass durch Strafverfolgung Unrecht im moralischen Kontext gesühnt werden kann, ist falsch und auch nicht Aufgabe der Justiz. [...] Ich muss im Rechtsstaat auch damit leben, dass ich einige Täter nicht überführen kann." (198) Der einen Tatverdacht prüfende Staatsanwalt kann dies nur bei justiziablen Fällen. Deswegen bleiben die zahllosen Vergehen von MfS-Mitarbeitern im Rahmen von "Zersetzungsmaßnahmen" ungesühnt, obwohl Opfer heute noch unter deren Folgen leiden und die Vergehen sämtlich als Taten zu gelten haben, die durch das politische System initiiert und gefördert wurden. Fragen von Recht und Unrecht weisen soziale, ethische und moralphilosophische Dimensionen auf, die nicht allein mit juristischen Methoden zu erfassen sind. "Knastmauke" Plogstedt: Knastmauke (© Psychosozial Verlag) Als JPG herunterladen (273kB) Den moralischen Komponenten der Aufarbeitung des systembedingten DDR-Unrechts widmete sich Sybille Plogstedt in ihrem Forschungsprojekt zum individuellen Schicksal von politischen Häftlingen nach der Wiedervereinigung. Sie protokollierte charakteristische Einzelschicksale in der Absicht, repräsentative Aussagen über die Situation ehemaliger Häftlinge treffen zu können. Die soziale Lage zahlreicher von politischer Haft Betroffener war in der Bundesrepublik so schlecht, dass sie im Jahr 2005 Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und SPD wurde. Gemeinsam setzten sich die Parteien für Verbesserungen ein. Die daraufhin am Essener Kolleg für Geschlechterforschung durchgeführte sogenannte "Essener Studie" besteht aus einem qualitativen und einem quantitativen Teil. Von den 30 geplanten Interviews wurden 23 Gespräche realisiert und von diesen wiederum 21 für das Buch ausgewählt. In diesen eindrucksvollen Lebensgeschichten spiegelt sich plastisch die aktuelle soziale Realität von politischer Verfolgung und staatlichem Unrecht in der DDR. Die interviewten Personen gehören unterschiedlichen Haftgenerationen an, von Plogstedt jeweils in Dekaden zusammengefasst, um mögliche Veränderungen der Haftpraxis abzubilden, eine Periodisierung, die ohne Erläuterung von der von Klaus-Dieter Müller begründeten zeitlichen Strukturierung des Haftregimes abweicht und willkürlich erscheint. Vorangestellt ist den aufgezeichneten Häftlingsschicksalen ein Abschnitt von Gesprächen der Autorin mit Expertinnen, die den Umgang mit den Opfern und ihre Lage in der Vergangenheit zum Inhalt haben. Es kommen die Stationen der Aufarbeitung in der Bundesrepublik, die Gutachterproblematik, Langzeitschäden, Rehabilitierungsmöglichkeiten, Angehörige der Opfer und die Konfrontation mit den Tätern zur Sprache. Im quantitativen Teil der Untersuchung wurden die Daten von 802 ehemaligen politischen Häftlingen ausgewertet, die den im Anhang abgedruckten Fragebogen ausfüllten. Die Ergebnisse der Essener Studie bestätigen, dass die Folgen von politischer Haft für eine Mehrheit der Betroffenen in verschiedener Form andauern. Soziale Benachteiligungen konnten oft erst nach jahrelanger Dauer und auch nicht in ihrer Gesamtheit ausgeglichen werden. Viele ehemalige politische Häftlinge fühlen sich zudem "für das hohe Risiko, das sie auf sich genommen haben, nicht ausreichend anerkannt". Dagegen könnte eingewendet werden, dass politische Haft nicht immer die Folge von politisch intendierten Handlungen der Opfer war. Doch der Anspruch auf Anerkennung leitet sich daraus ab, dass die Menschen nicht Opfer ihrer individuellen Lebensgeschichte, sondern Opfer einer politischen Situation, in der sie lebten, sind. Unzweifelhaft ist es ein Missstand, dass überproportional viele ehemalige politische Häftlinge unterhalb der Sozialhilfegrenze leben (443). Die im Jahr 2007 vom Bundestag beschlossene Opferrente hat in den Augen zahlreicher Betroffener keine grundsätzliche Änderung bewirkt. Eine Gesamtbetrachtung der Aufarbeitungspraxis in der Bundesrepublik wird sich ihrem Vorwurf stellen müssen, dass die enormen Kosten der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht besser für eine angemessene Entschädigung der Haftopfer hätten eingesetzt werden sollen. Weiterhin ist die Kritik an der Begutachtung von Haftschäden erstaunlich: Viele der Gutachter, die über die Anerkennung von Haftfolgeschäden urteilten, befänden sich nicht auf dem "aktuellen wissenschaftlichen Stand der Traumaforschung" (444). Sollte das zutreffen, wäre das ein gravierendes und nicht zu entschuldigendes Versäumnis, da seit Jahren am Themenkomplex traumatischer Repressions- und Gewalterfahrungen geforscht wird. "Weiterleben nach politischer Haft" Beer/Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR (© Vandenhoeck & Ruprecht) Als JPG herunterladen (213.7kB) Ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchungen zu gesundheitlichen und sozialen Folgen legen Kornelia Beer und Gregor Weißflog in der Studie "Weiterleben nach politischer Haft in der DDR" vor, mit der sie die erreichten hohen Standards der Traumaforschung unterstreichen. Beide verfolgten einen dezidiert qualitativen Ansatz, um die häufig nicht erkannte Tiefendimension traumatischer Erfahrung sichtbar zu machen, und legten einen weit gefassten Opferbegriff zu Grunde, der mit den Insassen der Jugendwerkhöfe und den Zielpersonen der "Zersetzungsarbeit" des MfS Opfergruppen einbezieht, die weniger im Vordergrund stehen als die politischen Häftlinge. Nach einer Beschreibung der methodischen Zugriffe ihrer Arbeit verorten die Autoren das politische Strafrecht mittels einer Zeittafel im historischen Kontext. Die anschließende Darstellung ihrer Forschungsergebnisse beruht auf der Analyse von Daten einer Befragung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Dresden von 2003, die Angaben von 1.288 Personen umfasst, und ihrer eigenen Interviews sowie den Lebensgeschichten der zehn Interviewpartner. Breiten Raum nehmen biografische Erfahrungen und ihre Bewältigung ein. Die Lebensgeschichten sind ausführlich dargestellt mit ihren Vergleichbarkeiten und Parallelen, aber nicht redundant, da sie nur ein schmales Segment der vielfältigen Varianten abbilden können, infolge derer unbescholtene Menschen in das Räderwerk politischer Verfolgungsmaßnahmen gelangten. Die deutliche Empathie der Autoren mit den Interviewpartnern ist mit ihrer offen bekundeten Absicht zu rechtfertigen, die subjektive Sicht der Betroffenen zu kontrastieren mit der Entwicklung der perfekter werdenden Verfolgung in der DDR durch die Möglichkeiten des Strafrechts. Sie wollten demonstrieren, dass politische Verfolgung nicht etwa die Auswirkung einer individuellen Konfrontation mit dem Staat war, die auch andernorts geschieht, sondern ein "wesentliches Merkmal" (15) des Staates beschreibt. Das ist auch der Grund dafür, warum Verfolgungsopfer heute wiederum durch staatliche Gerechtigkeit Genugtuung erwarten, eine Hoffnung, die unerfüllt bleiben muss: In die allgemeingültigen Rechtsprinzipien sind heute wie ehedem persönliche Gerechtigkeitsempfindungen so unauflösbar eingepasst, wie sie Heinrich von Kleist unnachahmlich in der tragischen Erzählung "Michael Kohlhaas" dramatisch verdichtet hat. Die Mehrzahl der Interviewten lastet die Nicht-Bewältigung des SED-Unrechts den politischen Institutionen der Bundesrepublik an und ist unzufrieden, weil die Stasi-Peiniger nicht entsprechend ihrer Vorstellung bestraft wurden (271). Das ist aus Sicht der Betroffenen verständlich, geht aber am Problem der Rechtsprechung im Rechtsstaat vorbei. Beer und Weißflog solidarisieren sich mit den Opfern und nehmen die Gegenposition zu jener der Staatsanwälte in Gürtlers Studie ein. Wenn jedoch Matthias Pfüller im Vorwort äußert, den Opfern der SED-Diktatur werde in der Bundesrepublik deswegen die Anerkennung verweigert, "weil es ihnen gegenüber ein unerklärtes schlechtes Gewissen sowohl der ehemaligen westdeutschen Gesellschaft in der alten Bundesrepublik wie auch der Mehrheitsgesellschaft der ehemaligen DDR" gebe (14), ist das eine Mutmaßung, die sich von den Resultaten der Studie nicht untermauern lässt. Die These der beiden Verfasser, dass "oppositionelles Verhalten in der DDR auch ex post keinen hohen Stellenwert" habe (110), schließt sich dem an und ist gleichfalls eine nicht belegte Annahme. Hingegen ist ihrer Forderung nach Diskursen der Aufarbeitung unter maßgeblicher Beteiligung der Betroffenen uneingeschränkt beizupflichten. Die Kritik an einigen historisch-politikwissenschaftlichen Details der Untersuchung verringert nicht ihre großen Verdienste um die Bereitstellung von Argumenten für die "gesundheitsbezogene Beratungsarbeit mit Betroffenen" und die sozialpädagogisch-medizinische Fundierung bei der Beurteilung von Folgeschäden politischer Haft (290). "Rechtspositivismus und konspirative Justiz" Gursky: Rechtspositivismus und konspirative Justiz (© Peter Lang Verlag) Als JPG herunterladen (189.9kB) Im Mittelpunkt der Dissertation von André Gursky steht gleichfalls die politische Strafjustiz in der DDR. Doch er stützt sich weniger auf das empirische und lebensgeschichtliche Datenmaterial, da er nach ihren rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Begründungen fragt. Folglich rekapituliert der Autor zunächst die einschlägige Fachliteratur und informiert im ersten Teil des Textes über die normative Begründung rechtlicher Grundlagen in der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtsphilosophie. In einem weiteren Teil untersucht er Lehrmaterial des MfS und Opferakten daraufhin, ob und wie sich darin die rechtsphilosophischen Vorstellungen der Staatssicherheit finden. Ihm geht es sowohl um das Selbstverständnis als auch um die Funktionalität der politischen Strafjustiz. Am Beispiel des führenden DDR-Rechtsphilosophen Hermann Klenner demonstriert Gursky, wie das Ministerium für Staatssicherheit Rechtsphilosophie und Rechtspolitik im innerdeutschen Verhältnis zu beeinflussen versuchte. Der international angesehene Rechtsphilosoph genoss den Ruf eines SED-Oppositionellen, tatsächlich stand er in Diensten des MfS und versorgte seine Auftraggeber mit Informationen über westliche Fachkollegen. Klenner wurde als renommierter Menschenrechtsexperte nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 zur unverzichtbaren Waffe des MfS gegen das westliche Ausland. Zusätzlich zu den zahlreichen BStU-Unterlagen hat Gursky mit drei Zeitzeugen Interviews geführt und für seine Arbeit ausgewertet. Hervorzuheben ist das Interview mit dem MfS-Untersuchungsführer Joachim Groth, einem ranghohen hauptamtlichen Mitarbeiter mit Insiderwissen über das Vorgehen des MfS gegen Oppositionelle wie den Jugenddiakon Lothar Rochau. Groth war Referatsleiter der Hauptabteilung IX des MfS in der Berliner Zentrale und quittierte 1985 infolge innerer Zweifel den Dienst. Außerdem interviewte Gursky mit Hermann Kreutzer einen Ministerialbeamten der Bundesregierung, der für den Häftlingsfreikauf zuständig war, einem gleichfalls vom MfS beeinflussten Politikfeld der innerdeutschen Beziehungen. Gursky leitet mit Ausführungen zur Rechtsstelle des MfS zu der Frage über, ob die DDR ein Rechtsstaat war, wobei er die finalen Aktivitäten des MfS als Legitimationsversuch charakterisiert, "den im Umbruch begriffenen Machtstaat der SED nachträglich rechtsstaatlich zu definieren". Der von Geheimdienstoffizieren formulierte Anspruch, die "Achtung der Würde jedes Verdächtigen und Beschuldigten" sei für sie, die "Mitarbeiter der Untersuchungsorgane des MfS [...] Verfassungsgebot" und verpflichtendes "Berufsethos" gewesen (279), spricht allen Erfahrungen der Opfer politischer Verfolgung Hohn. Vor dem Hintergrund der neuen Forschungsergebnisse setzt sich jedenfalls jeder, der die Fama von der DDR als Rechtsstaat verbreitet, dem Vorwurf aus, er kolportiere eine von DDR-Juristen und nicht zuletzt vom MfS in die Welt gesetzte Legende. Der Abdruck zahlreicher faksimilierter Akten vervollständigt den mit einem erfreulich umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis ausgestatteten Band. Indessen fällt die Nachlässigkeit bezüglich der Genauigkeit der Literaturhinweise auf. Bei Aufsätzen in Sammelbänden oder Zeitschriften fehlen die Seitenangaben und die gelegentlich auf die Nennung des Autors verkürzte Zitierweise in den Fußnoten führt bei Verfassern mit häufig vorkommenden Nachnamen, insbesondere wenn Druckfehler hinzutreten, zu nichtauflösbaren Rätseln der Zuweisung ihrer Aufsätze. Doch diese Einwände beziehen sich auf die genannten formalen Aspekte der Untersuchung Gurskys. Ihre staats- und verfassungsrechtliche Zentralperspektive führt zwingend zu der Frage, ob der Begriff Rechtspositivismus im Verständnis eines normativ kodifizierten Rechts auf die das DDR-Rechtssystem kennzeichnende "Präjustiz durch einen Geheimdienst" (280) angewendet werden kann. Denn die "konspirative Justiz" des MfS ermöglichte "Unrecht als System" (308). Sie war Fortsetzung der von der sowjetischen Besatzungsmacht in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingeführten "doppelten Rechtsprechung" und ließ keine sonst "mit dem Rechtspositivismus verbundene Rechtssicherheit" (31 u. 34) zu. Das Urteil Ernst Fraenkels über den Nationalsozialismus gilt offenkundig auch für die zweite deutsche Diktatur: "Die gesamte Rechtsordnung steht zur Disposition der politischen Instanzen." Beckert: Glücklicher Sklave (© Metropol Verlag) Als JPG herunterladen (2MB) Schnetz: Der Prozess um des Urteils Schatten (© Eigenverlag Peter Schnetz) Als JPG herunterladen (148.4kB) Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz (© Edition Temmen) Als JPG herunterladen (158.8kB) Plogstedt: Knastmauke (© Psychosozial Verlag) Als JPG herunterladen (273kB) Beer/Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR (© Vandenhoeck & Ruprecht) Als JPG herunterladen (213.7kB) Gursky: Rechtspositivismus und konspirative Justiz (© Peter Lang Verlag) Als JPG herunterladen (189.9kB) Vgl. Sandra Pingel-Schliemann, Lebenswege ... im Schatten des Staatssicherheitsdienstes, Schwerin 2008. Vgl. Klaus-Dieter Müller, "Jeder kriminelle Mörder ist mir lieber ...". Haftbedingungen für politische Häftlinge in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik und ihre Veränderungen von 1945–1989, in: Ders./Annegret Stephan (Hg.), Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1998, S. 15–137. Vgl. Andreas Maercker, Posttraumatische Belastungsstörungen. Psychologie der Extrembelastungsfolgen bei Opfern politischer Gewalt, Berlin 1998; Klaus-Dieter Müller, Das Fragebogenprojekt "Haftfolgestörung" – eine erste Darstellung. Statistische Erfassung der verurteilten politischen Gefangenen der SBZ/DDR und die Anerkennung durch die Landesversorgungsämter, in: Klaus-Peter Graffius/Horst Hennig (Hg.), Zwischen Bautzen und Workuta, Leipzig 2004; Klaus-Dieter Müller/ Annegret Stephan (Hg.), Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1998; Thomas Plänkers u.a., Seele und totalitärer Staat. Zur psychischen Erbschaft der DDR, Gießen 2005; Stefan Trobisch-Lütge, Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung, Gießen 2004. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat [1941], Hamburg 2001, S. 113.
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Thomas Widera
"2023-02-28T00:00:00"
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"2023-02-28T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/53443/justiz-und-politische-haft-in-der-ddr/
Justiz und Strafvollzug waren in der SED-Diktatur Instrumente der politischen Repression. Bücher hierzu wie auch zum juristischen Umgang mit der DDR-Vergangenheit stellt Thomas Widera vor.
[ "Literatur", "Rechtswissenschaft", "Justiz", "Wiedervereinigung", "Sozialismus", "Diktatur", "SED", "Deutschland", "DDR" ]
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Online Materials Externer Link: Kinofenster-Kritik: Der gute Hirte (Nov. 2010)Externer Link: Kinofenster-Kritik: Das Ministerium für Staatssicherheit – Alltag einer Behörde (Jun. 2007)Externer Link: Kinofenster-Themenausgabe: Terrorismus und Demokratie (Apr. 1999) Online Publications Informationen zur politischen Bildung aktuell: Deutsch-amerikanische BeziehungenExterner Link: Informationen zur politischen Bildung: Zeiten des Wandels. Deutschland 1961-1974Interner Link: APuZ: Außen- und SicherheitspolitikInterner Link: ApuZ: SicherheitspolitikInterner Link: ApuZ: Politische Kultur im Kalten KriegInterner Link: ApuZ: "Film und Gesellschaft Publications available on Special Order Zeitbilder: Die DDR-StaatssicherheitSchriftenreihe: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Industriespionage in der DDRSchriftenreihe: Die rätselhafte Stabilität der DDRSchriftenreihe: Ökonomie im Kalten KriegSchriftenreihe: Weltgeschichte des 20. JahrhundertsSchriftenreihe: Chronik Deutschland 1949-2009Schriftenreihe: Wohin treibt die DDR-Erinnerung?Externer Link: Schriftenreihe: Die heile Welt der DiktaturSchriftenreihe: Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990Schriftenreihe: Krisen im Kalten KriegSchriftenreihe: Die MauerSchriftenreihe: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten WeltkriegSchriftenreihe: Anpassen oder Widerstehen in der DDRInterner Link: Schriftenreihe: Die Politik der InfosphäreSchriftenreihe: Der Vorhang geht aufSchriftenreihe: Europa zwischen Spaltung und EinigungSchriftenreihe: Spur der FilmeInterner Link: Schriftenreihe: Kino als KunstSchriftenreihe: Der FilmkanonDVD: Deine Geschichte. Die DVD für den UnterrichtDVD: FeindbilderInterner Link: DVD: Parallelwelt: Film
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/63232/further-material-available-from-the-bpb/
[ "Film", "cold war", "film education", "media", "secret agent", "secret service", "ideology", "pop culture", "Propaganda" ]
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"Volksgemeinschaft als Terror und Traum" | Volksgemeinschaft - Ausgrenzungsgemeinschaft | bpb.de
Frei hielt den Eröffnungsvortrag am ersten Tag der 4. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung. Den Textbeitrag zu seinem Vortrag finden Sie Interner Link: hier. Im Interview: Norbert Frei Norbert Frei (© Louisa Reichstetter) Norbert Frei ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Veröffentlichungen umfassen u.a.: Der Führerstaat. National­sozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987 (erw. Neuausgabe 2013); Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996 (Neuausgabe 2012); 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005 (2009); 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; (mit R. Ahrens, J. Osterloh, T. Schanetzky) Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009 (2011); (mit E. Conze, P. Hayes, M. Zimmermann) Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010 (2012). Norbert Frei (© Louisa Reichstetter) Norbert Frei ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Veröffentlichungen umfassen u.a.: Der Führerstaat. National­sozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987 (erw. Neuausgabe 2013); Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996 (Neuausgabe 2012); 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005 (2009); 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; (mit R. Ahrens, J. Osterloh, T. Schanetzky) Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009 (2011); (mit E. Conze, P. Hayes, M. Zimmermann) Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010 (2012). Norbert Frei (© Louisa Reichstetter)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-05T00:00:00"
"2013-01-27T00:00:00"
"2022-01-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/154008/volksgemeinschaft-als-terror-und-traum/
"Zur Gesellschaftsgeschichte gehört die Ausgrenzung genauso wie die Integration", so Prof. Dr. Norbert Frei, Friedrich-Schiller-Universität Jena, im Interview mit Miriam Menzel. Weiterhin thematisiert er die soziale Attraktivität des Nationalsozialis
[ "Ausgrenzung", "Volksgemeinschaft" ]
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Reichtumsquoten | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de
Im Gegensatz zum unteren Ende der Verteilung gibt es am oberen Ende, beim Reichtum, keine politisch (wie in der EU und OECD) fest vereinbarte Grenze, ab wann eine Person oder ein Haushalt als "reich" eingestuft werden soll, weder national noch international. Die am häufigsten verwendete Reichtumsschwelle − 200 Prozent des Medians − ist auf jeden Fall viel zu niedrig. Mit Reichtum hat das eigentlich noch nichts zu tun. Bei der Reichtumsanalyse wird methodisch wie bei der relativen Armutsmessung verfahren. Die in den meisten Studien verwendete Reichtumsschwelle wird bei 200 Prozent des bundesweiten Medians der Nettoäquivalenzeinkommen (oder Vermögens) angesetzt. Zu fragen ist jedoch, ob ein Einkommen von 2.000 oder auch 3.000 Euro für einen Einpersonenhaushalt bzw. ein bedarfsgewichtetes Haushaltseinkommen von 4.000 oder auch 6.000 Euro für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren wirklich Einkommensreichtum bedeutet. Wirklicher Reichtum beginnt offensichtlich bei wesentlich höheren Werten. Ab welcher Schwelle dies der Fall ist, ist auch hier wiederum abhängig von Werturteilen. Auf jeden Fall lenken niedrige Reichtumsschwellen von wirklichem Reichtum ab und bilden einen Schutzschild für die extrem Reichen in der politischen Debatte. Um im Graubereich des extremen Reichtums wenigstens einigermaßen empirisch fundierte Aussagen treffen zu können, sind Reichtumsquoten nicht geeignet. So kamen z. B. Studien des DIW auf Grundlage verschiedener repräsentativer Basisstichproben, ergänzt um die von Banken, Wirtschaftsmagazinen etc. publizierten Listen von Superreichen − die offensichtlich fundierter sind als ihr Ruf − zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass sich 2012 alleine gut 15 Prozent des Gesamtvermögens privater Haushalte in Deutschland in der Hand des reichsten Tausendstels der Personen befanden und rund ein Drittel des Vermögens im Besitz des reichsten Prozents. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen danach nicht 50 bis 60 Prozent des gesamten Privatvermögens, wie oft kolportiert wird, sondern ca. Zweidrittel. Ein weiteres Abgrenzungs- und Definitionsproblem betrifft die sogenannte Mittelschicht. Diese erodiert, so die Thesen mancher Beobachter , während andere der Mittelschicht eine erstaunliche Stabilität zusprechen. Die Zahl der v. a. soziologischen Definitionen und Beschreibungen von Schichten und Klassen zur Analyse der Sozialstruktur ist groß und kontrovers. In der engeren ökonomischen Sichtweise, ist es die einfachste Lösung, die allerdings nicht so recht befriedigt , als Mittelschicht diejenigen Haushalte zu bezeichnen, deren Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen zwischen der Armuts- und Reichtumsschwelle liegt, eventuell noch unterteilt zwischen einer unteren und oberen Mittelschicht etc.. Als Grobkategorisierung in Verteilungsanalysen mag das ausreichen; spätestens wenn es aber z. B. um die Analyse der Folgen zunehmender Ungleichheit geht, ist der tiefergehende Blick auf die konstitutiven z. B. soziokulturellen, wertebezogenen oder statusbezogenen Merkmale der sozialen Schichten/Klassen dann doch wieder unverzichtbar (vgl. dazu ausführlich "Interner Link: Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts"). Vgl. Bach u.a. 2015a; Westermaier/Grabka 2015. Vgl. z.B. Bosch/Kalina 2015. Z.B. Niehues 2014. Vgl. ebenda S. 4.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2018-09-03T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/soziale-lage/verteilung-von-armut-reichtum/275256/reichtumsquoten/
Wie wird bei der Reichtumsanalyse verfahren? Ab wann beginnt wirklicher Reichtum? Wie geeignet sind Reichtumsquoten, um im Graubereich des extremen Reichtums empirisch fundierte Aussagen treffen zu können?
[ "Reichtumsquoten", "Grenze", "Definition", "Reichtum", "Forschung" ]
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