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Chronik: 12. – 25. Juni 2017 | Ukraine-Analysen | bpb.de
12.06.2017 Außenminister Pawlo Klimkin regt die Einrichtung einer Online-Plattform an, auf der sich russische Staatsbürger vor einer geplanten Einreise in die Ukraine registrieren müssen. Klimkin befürwortet zudem die Errichtung eines Visaregimes für russische Staatsbürger. Dies sei aber problematisch, daein solcher Schritt wahrscheinlich eine analoge Maßnahme Russlands nach sich zöge, was auch ukrainische Staatsbürger vor Schwierigkeiten stellen könnte – insbesondere Bewohner der Krim mit ukrainischem Pass. 13.06.2017 Nach Angaben der staatlichen Druckerei müssen sich Binnenflüchtlinge aus dem Donbass und der Krim, die einen biometrischen Pass beantragen, einer speziellen Überprüfung ihrer Identität unterziehen. Nur mit einem biometrischen Pass können ukrainische Staatsbürger nach der am 11. Juni 2017 in Kraft getretenen Vereinbarung ohne Visumin die EU einreisen. 13.06.2017 Der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Oleksandr Turtschynow, fordert, die "Verteidigung des Landes" auf eine neue Grundlage zu stellen. Anstelle der so genannten "Anti-Terror-Operation", die zurzeit die gesetzliche Grundlage für den Einsatz der Streitkräfte im Donbass bildet, sollten neue Gesetze erlassen werden, die den umfassenden Einsatz der staatlichen Sicherheitskräfte zur Abwehr eines "hybriden Krieges" regeln. 13.06.2017 Nach Angaben der UN führen beide Seiten im Konflikt im Donbass ungesetzliche Verhaftungen durch. Die Gefangenen würden bisweilen geschlagen, von der Außenwelt isoliert und gezwungen, Geständnisse zu unterschreiben. 14.06.2017 Nach Angaben des stellvertretenden Vorsitzenden der OSZE-Beobachtermission Alexander Hug hat sich die Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten im laufenden Jahr 2017 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt. 14.06.2017 Der Chef des Pensionsfonds, Wladislaw Maschkin, erklärt, die geplante Abschaffung der Steuer auf Renten für arbeitende Rentner werde etwa 500.000 Menschen betreffen. Am 17. Mai 2017 hatte das Ministerkabinett ein entsprechendes Gesetzesprojekt auf den Weg gebracht. 14.06.2017 In einer Umfrage der Gruppe Rating geben 60 % der Befragten an, ihre materielle Situation habe sich im vergangenen Jahr verschlechtert. Für 35 % ist sie etwa gleich geblieben, 6 % sehen eine Verbesserung. Ebenfalls 60 % geben an, die Kosten für kommunale Dienstleistungen, wie etwa Wasser- und Gasversorgung, nicht bezahlen zu können. 15.06.2017 Der US-Senat beschließt neue Sanktionen gegen Russland. Begründet wird der Schritt mit dem Vorwurf der Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016 und mit der Annexion der Krim durch Russland. Die Sanktionen richten sich sowohl gegen weitere Personen aus der russischen politischen und ökonomischen Elite als auch gegen Firmen in bestimmten Wirtschaftssektoren – etwa im Bergbau, der metallverarbeitenden Industrie sowie im Schiffs- und Eisenbahnbau. 15.06.2017 Oleg Netrebko, der verdächtigt wurde, den Überfall auf die Journalistin und Aktivistin Tatjana Tschernowol im Jahr 2013 organisiert zu haben, wird in seiner Zelle in einer Untersuchungshaftanstalt in Kiew erhängt aufgefunden. Anfang des Jahres war er in Minsk festgenommen und im Mai in die Ukraine ausgeliefert worden.Die Staatsanwaltschaft erklärt später, man habe keine Spuren gefunden, die auf Fremdeinwirkung hindeuten würden. 16.06.2017 Nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF sind im Donbass aktuell etwa 750.000 Menschen vom Ausfall der Wasserversorgung bedroht. Die erneute Verschärfung des Konflikts gefährde die Funktionstüchtigkeit mehrerer Wasseraufbereitungsanlagen, die entlang der Frontlinie liegen. 17.06.2017 Am Vorabend des sogenannten"Marsches der Gleichheit", einer Demonstration für die Rechte von LGBT-Personen, die in Kiew stattfinden soll, greifen Unbekannte die Website der ukrainischen LGBT-Bewegung an und platzieren dort eine Fotomontage, die Gewalt an Demonstrationsteilnehmern zeigt. Das Bild wird begleitet von einem Text, in dem Homosexuellen Gewalt angedroht wird. 18.06.2017 Bei einer Demonstration für die Rechte und die Anerkennung von LGBT-Personen in Kiew werden nach Medienangaben drei Gegendemonstranten verhaftet. Nationalistische Organisationen hatten zur Störung der Demonstration aufgerufen. Sie werden von der Polizei an einem Eingriff gehindert. Nach Angaben des rechtsextremen RechtenSektors ist unter den Verhafteten auch ein Abgeordneter des Kiewer Stadtparlaments von der rechten Partei Freiheit. Nach dem Ende der Demonstration werden zwei Teilnehmer von einer Gruppe tätlich angegriffen. Die Polizei nimmt daraufhin einen jungen Mann fest. 19.06.2017 Der Rat der EU verlängert die Sanktionen gegen Russland, die infolge der Krim-Annexion erlassen wurden, um ein Jahr bis Ende Juni 2018. Die Sanktionen sehen unter anderem ein Importverbot von Waren aus der Krim, ein Investitionsverbot und ein Verbot für Anbieter von Kreuzfahrten aus der EU, die Krim anzusteuern, vor. 19.06.2017 Der Fraktionsvorsitzende der Partei Selbsthilfe, Oleg Beresjuk, geht in Hungerstreik. Er bringt damit nach eigenen Angaben seine Unterstützung für die westukrainische Stadt Lwiw zum Ausdruck. Ihr Bürgermeister Andrij Sadowyj hatte sich zuvor ohne Erfolg bei Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman um Unterstützung bei der Bewältigung des Müllproblems der Stadt bemüht. 20.06.2017 Parlamentssprecher Andrij Parubij erklärt, dass das Sicherheitsabkommen mit den USA, das die Ukraine anstrebt, neben gemeinsamen Militärübungen auch die Stationierung von US-Truppen in der Ukraine erlaube. 20.06.2017 Die Süßwarenfirma Roshen des Präsidenten Petro Poroschenko erklärt, ihre Produktion in Russland eingestellt zu haben. Im Dezember letzten Jahres hatte ein russisches Gericht im Rahmen eines Prozesses wegen Steuerhinterziehung die Beschlagnahmung mehrerer Immobilien der Firma am Produktionsstandort imrussischen Lipezk angeordnet. Die Beschlagnahmung war am 19. Juni 2017 von einem Gericht bestätigt worden. 20.06.2017 Präsident Petro Poroschenko trifft in Washington den US-Präsidenten Donald Trump. Er erklärt später, Trump habe ihm Unterstützung bei der Wahrung der territorialen Integrität und der Souveränität der Ukraine zugesagt. 20.06.2017 Die OSZE-Beobachtermission meldet einen Angriff bewaffneter Vertreter der"Volksrepublik Donezk" auf eine Patrouille der Beobachtermission. Ein bewaffneter Maskierter habe versucht, mit seiner Waffe das Seitenfenster eines Wagens der Mission einzuschlagen, habe seine Waffe auf Fahrer und Beifahrer gerichtet und habe, als sich der Wagen in Bewegung setzte, drei Schüssein dessen Richtung abgegeben. 21.06.2017 Parlamentssprecher Andrij Parubj gibt Gesuche der Generalstaatsanwaltschaft zur Aufhebung der Immunität von fünf Abgeordneten an den zuständigen Ausschuss weiter. Es handelt sich um zwei Abgeordnete der Fraktion Volksfront, einen der Radikalen Partei, einen der Parlamentariergruppe Volkswille und einen des Blocks Petro Poroschenko. 22.06.2017 Das Parlament verabschiedet in erster Lesung ein Gesetz zur Einrichtung eines Verfassungsgerichts. Das Gericht soll auf Anruf von mindestens 45 Parlamentariern, des Präsidenten und auch von Einzelpersonen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen können und aus 18 Richtern bestehen; je sechs werden vom Präsidenten, dem Parlament und der Berufsvereinigung der Richter ernannt. 22.06.2017 Während einer Durchsuchung in den Redaktionsräumen des Online-Mediums Strana.ua wird dessen Chefredakteur, Ihor Guschwa, festgenommen. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm vor, einen nicht genannten Politiker mit der Drohung, kompromittierendes Material zu veröffentlichen, erpresst und 10.000 US-Dollar von ihm erhalten zu haben. Guschwa erklärt hingegen, die Festnahme sei politisch motiviert: Dmytro Linko, ein Abgeordneter der Radikalen Partei, habe ihm 20.000 US-Dollar für die Löschung kritischer Beiträge über den Vorsitzenden der Radikalen Partei, Oleh Ljaschko, geboten. Er sei nicht darauf eingegangen. Nun versuche Linko, die Sicherheitsorgane gegen das Medium einzuspannen. Gegen Guschwa werde seit April ermittelt. 23.06.2017 Nachdem am Vortag der Chefredakteur der Online-Zeitung Strana.ua, Ihor Guschwa, wegen des Verdachts auf Erpressung festgenommen worden war, durchsucht die Staatsanwaltschaft auch dessen Wohnung. Guschwa hält die Ermittlungen für politisch motiviert. 24.06.2017 Im westukrainischen Lwiw beginnt der Abtransport des angehäuften Mülls, der aufgrund organisatorischer Probleme und des Großbrandes einer Müllhalde im Jahr 2016 bisher nicht abtransportiert und gelagert werden konnte. Infolge einer Intervention des Ministerpräsidenten Wolodmyr Hrojsman wurde am 21. Juni 2017 die regionale Regierung mit der Lösung desProblems beauftragt. Seitdem wurden 270 der 12.000 Tonnen in umliegende Städte abtransportiert. Unterdessen wird in Kiew die stellvertretende Parlamentssprecherin Oksana Syroid ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hatte sichan dem Hungerstreik der Fraktion Selbsthilfe beteiligt, mit dem die Partei auf das Müllproblem in Lwiw aufmerksam machen wollte. Am Nachmittag unterbrechen zwei weitere Abgeordnete den Hungerstreik. 25.06.2017 Polen und die Ukraine vereinbaren eine Zusammenarbeit bei mehreren Infrastrukturprojekten im Zusammenhang mit der Via Carpatia, einem Straßennetz, das mehrere Länder aus Süd- und Ostmitteleuropa verbindet. In der Ukraine soll der Anschluss an die Via Carpatia, die entlang der ukrainischen Westgrenze durch Ungarn, die Slowakei und Polen verläuft, ausgebaut werden. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf Externer Link: www.laender-analysen.de lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-07-03T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/251577/chronik-12-25-juni-2017/
Die Ereignisse vom 12. bis zum 25. Juni 2017 in der Chronik.
[ "Ukraine-Analyse", "Ukraine" ]
30,800
Nach dem Wachstum kommt die Ungewissheit | Hintergrund aktuell | bpb.de
Der Gastgeber will den sechsten Titel: Wenn Brasiliens Fußballnationalmannschaft an diesem Donnerstagabend deutscher Zeit die Weltmeisterschaft im eigenen Land mit dem Spiel gegen Kroatien eröffnet, dann geht das Team als Favorit ins Turnier. Fünf WM-Titel hat die "Seleção" bereits geholt – den letzten 2002 in Japan und Südkorea, den ersten 1958 in Schweden. Das Interner Link: nach Fläche und Bevölkerung fünftgrößte Land der Erde ist dabei längst nicht mehr nur im Fußball eine Macht. Brasiliens wirtschaftliche und politische Bedeutung hat sich im vergangenen Jahrzehnt enorm gesteigert. Das "B" in "BRICS" Was die Bank Goldman Sachs 2003 in ihrem Jahresbericht für die sogenannten BRICS-Länder – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – prophezeite, hat sich weitestgehend bestätigt: Ihre Volkswirtschaften sind stark gewachsen und Interner Link: die Länder haben weltweit an Einfluss gewonnen. In Brasilien hat sich der Boom seit 2011 zwar abgekühlt, die Zuwachsraten der Wirtschaft sanken. Doch das ändert nichts an dem steilen Aufstieg, den das Land hinter sich hat: 2012 lag Brasiliens Bruttoinlandsprodukt Interner Link: um 28 Prozent über dem Wert von 2002. 19 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs sind in diesem Zeitraum entstanden. Der Handel blühte auf, Exporte wie Importe haben stark zugenommen, die Welt kauft emsig Rohstoffe und Industriegüter aus Brasilien. Kein anderes Land produziert so viel Zucker, Kaffee und Tabak wie der 8,5 Millionen Quadratkilometer große Staat, der fast die Hälfte der Fläche Südamerikas einnimmt. Auch die Brasilianer selbst konsumieren immer mehr und kurbeln Wirtschaft und Arbeitsmarkt an. Das hat auch mit den politischen Prämissen der seit 2003 regierenden Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, kurz: PT) zu tun. Armut und Hunger zu bekämpfen und soziale Entwicklung zu befördern – mit diesen Versprechen war der einstige Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva 2002 als Präsident angetreten.Seit 2011 führt seine Nachfolgerin Dilma Rousseff diese Politik weiter, deren Kern zahlreiche Sozialprogramme sind. Darunter ist "Bolsa Familia" das bekannteste: Eltern schicken ihre Kinder in die Schule sowie zu regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen. Dafür erhalten sie im Schnitt 35 Dollar pro Monat vom Staat, der mit diesem Programm 46 Millionen Menschen erreicht. Mit den Preisen steigt die Wut Trotz dieser Errungenschaften waren die weltweiten Schlagzeilen in den vergangenen Monaten von den landesweiten Protesten gegen die WM bestimmt. Schon ein Jahr vor der WM, Mitte Juni 2013, hatten in mehreren Städten insgesamt 200.000 Menschen gegen die Ausgaben für die WM protestiert – auch weil die WM so viel Geld verschlingt. Schätzungen zufolge liegen die Kosten insgesamt bei etwa 11 Milliarden Euro. Geld, das im Bildungs- oder Gesundheitswesen dringend benötigt würde. Ein weiterer Stein des Anstoßes ist das Auftreten der staatlichen Sicherheitskräfte: Um WM- und Olympia-Touristen zu schützen, geht der Staat vor allem in den "Favelas", den Stadtsiedlungen Rio de Janeiros, äußerst hart gegen Bandenkriminalität und Drogenhandel vor. Kritiker bemängeln, dass die Einsätze das Alltagsleben vieler Bürger militarisierten und langfristig nichts an den immens hohen Kriminalitätsraten des Landes ändern würden. Bei der Bevölkerung selbst hat das harte Vorgehen den schlechten Ruf der Polizei noch verstärkt. Bis in die Mittelschicht hinein hält man Teile der eigenen Sicherheitskräfte für korrupt, wirft ihnen sogar Folter und Verwicklung in kriminelle Machenschaften vor. Brasilien in Infografiken Brasilien in Infografiken und Zahlen, von der Parlamentsverteilung über Wirtschaft und Religion bis Indigenen Völkern und der Regenwaldproblematik. Wissenschaftler: Großevents bringen nichts Das Gefühl vieler Brasilianer, von der WM selbst nicht profitieren zu können, lässt sich sogar wissenschaftlich untermauern: Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts kommen zum Schluss, dass internationale Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien volkswirtschaftlich dem Gastgeber keinen Nutzen brächten. Die Investitionen seien weder nachhaltig noch gemeinwohlorientiert. Profiteure seien dagegen Organisationen wie der Weltfußballverband FIFA oder bei Olympischen Spielen das IOC (Internationales Olympisches Komitee). Spannend bleibt es in Brasilien auch direkt nach der WM. Denn im Oktober steht die Präsidentschaftswahl an. Doch trotz der Proteste der vergangenen Monate und des inzwischen stagnierenden Wirtschaftswachstum wäre alles andere als ein Sieg von Amtsinhaberin Rousseff derzeit eine Überraschung. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien Das Turnier Zwischen 12. Juni und 13. Juli ist Brasilien Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2014. Um den Titel spielen 32 Mannschaften in zwölf Stadien. Diese neu zu errichten oder auszubauen hat Schätzungen zufolge 2,7 Milliarden Euro gekostet – mehr als bei den letzten beiden Weltmeisterschaften in Südafrika und Deutschland zusammen. Der Gastgeber Brasilien hat eine 21 Jahre andauernde Militärdiktatur mit Folter, Entführungen und Morden hinter sich, die 1985 endete. Eine Wahrheitskommission ist derzeit mit der Aufklärung der Verbrechen befasst. Die vergangenen zehn Jahre standen im Zeichen wirtschaftlichen, sozialen und weltpolitischen Aufschwungs. Gerade für viele andere lateinamerikanische Länder ist Brasilien heute ein wichtiger, starker Partner. Die Bürger Die Brasilianer gelten als fußballbegeistert, doch die Kritik an den immensen Kosten der Weltmeisterschaft hat im vergangenen Jahr zugenommen. Die Zustimmung zur Ausrichtung der Veranstaltung ist Umfragen zufolge auf 48 Prozent gesunken. Mehr zum Thema Interner Link: Rennkamp, Britta: Außenpolitik und gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika und Brasilien Interner Link: Stöllger, Yesko Quiroga: Brasilien: Sozialer Fortschritt, demokratische Unruhe und internationaler Gestaltungsanspruch Interner Link: Grabendorff, Wolff: Brasiliens Aufstieg: Möglichkeiten und Grenzen regionaler und globaler Politik Interner Link: Hintergrund aktuell (09.10.2013): Frankfurter Buchmesse 2013, Ehrengast Brasilien Interner Link: Krause, Silvana: Brasilien nach den Wahlen 2006 Das Turnier Zwischen 12. Juni und 13. Juli ist Brasilien Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2014. Um den Titel spielen 32 Mannschaften in zwölf Stadien. Diese neu zu errichten oder auszubauen hat Schätzungen zufolge 2,7 Milliarden Euro gekostet – mehr als bei den letzten beiden Weltmeisterschaften in Südafrika und Deutschland zusammen. Der Gastgeber Brasilien hat eine 21 Jahre andauernde Militärdiktatur mit Folter, Entführungen und Morden hinter sich, die 1985 endete. Eine Wahrheitskommission ist derzeit mit der Aufklärung der Verbrechen befasst. Die vergangenen zehn Jahre standen im Zeichen wirtschaftlichen, sozialen und weltpolitischen Aufschwungs. Gerade für viele andere lateinamerikanische Länder ist Brasilien heute ein wichtiger, starker Partner. Die Bürger Die Brasilianer gelten als fußballbegeistert, doch die Kritik an den immensen Kosten der Weltmeisterschaft hat im vergangenen Jahr zugenommen. Die Zustimmung zur Ausrichtung der Veranstaltung ist Umfragen zufolge auf 48 Prozent gesunken.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-02T00:00:00"
"2014-06-10T00:00:00"
"2021-11-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/185912/nach-dem-wachstum-kommt-die-ungewissheit/
Brasilien hat ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufstiegs hinter sich. Nun kommt die Fußballweltmeisterschaft in das größte Land Südamerikas und viele Brasilianer fragen sich nach dem Mehrwert des teuren Spektakels.
[ "Brasilien", "Fußball", "Weltmeisterschaft", "BRICS", "Seleção", "Brasilien", "Brasília" ]
30,801
M 05.01 Beispiel einer Dokumentation der Befragungsergebnisse | 8. Mai 1945 - erinnern heute | bpb.de
Der 8. Mai als Tag der Befreiung Forsa Umfrage zur Einstellung der Berliner Bevölkerung zum Kriegsende Mit 83 Prozent empfindet die große Mehrheit der Berliner Bevölkerung den 8. Mai 1945 als einen Tag der Befreiung. Sechs Prozent der Hauptstädter sind dagegen der Meinung, das Kriegsende sei eine Niederlage; 11 Prozent sind sich über ihre Einstellung dazu unsicher. Das zeigt das Ergebnis einer anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes durchgeführten Unfrage des Meinungsinstituts Forsa. Unterschiede zwischen West und Ost bestehen fast nicht. 82 Prozent der Befragten aus dem Westteil Berlins und 85 Prozent aus dem Ostteil der Stadt begreifen den 8. Mai als Befreiung vom NS-Regime. Auch die Altersgruppen bis 60 Jahre sind mit bis zu 86 Prozent dieser Ansicht. Bei den Befragten über 60 Jahren, also denjenigen, die das Kriegsende noch selbst erlebt haben, sinkt die Quote jedoch: nur noch 77 Prozent der Jahrgänge von 1945 und früher halten den 8. Mai für einen Tag der Befreiung, 14 Prozent halten ihn eher für einen Tag der Niederlage. Bei den Anhängerinnen und Anhängern der verschiedenen Parteien sind noch deutlichere Unterschiede zu beobachten. Während über 90 Prozent der Grünen-, PDS- und SPD-Anhänger/innen die Befreiungsthese vertreten, sind es bei den CDU- und FDP-Anhängern nur je 73 Prozent. Bei der Frage, woran am 8. Mai erinnert werden soll, sind sich die Berlinerinnen und Berliner nicht einig. Die knappe Mehrheit der Befragten (53 Prozent) spricht sich für ein Gedenken an das Ende des Nationalsozialismus aus, ein gutes Drittel (34 Prozent) will aber auch an die deutschen Opfer erinnern. Diese Verteilung ist Ost wie West nahezu gleich. Deutlicher sind die Unterschiede wieder bei den Anhängern der unterschiedlichen Parteien. Grüne- und SPD-Wähler/innen halten mit jeweils 63 Prozent, PDS-Wähler/innen sogar mit 76 Prozent ein ausschließliches Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus für angebracht. Bei den Anhänger/innen der FDP sind die beiden Lager mit 44 Prozent gleich stark. Unter den Wähler/innen der CDU spricht sich eine Mehrheit von 60 Prozent dafür aus, auch an die Verbrechen der Roten Armee zu erinnern, 35 Prozent sind dagegen. Zwischen den Altersgruppen sind ebenfalls Differenzen zu beobachten. Die bis 45-jährigen sind über die angemessene Gedenkform geteilter Meinung, wohingegen die älteren Befragten zu 60 Prozent ausschließlich an die Opfer des NS-Regimes erinnern wollen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-10-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/ende-des-zweiten-weltkriegs/171369/m-05-01-beispiel-einer-dokumentation-der-befragungsergebnisse/
Dieser Artikel verdeutlicht exemplarisch, wie eine Dokumentation von Befragungsergebnissen aussehen kann.
[ "GrafStat 8. Mai 1945 - erinnern heute" ]
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Abstrakte Gefährdungslagen | Polizei | bpb.de
Bundesweit werden aktuell die Polizeigesetze novelliert, ergänzt und aktualisiert. Da Polizei in der Bundesrepublik Ländersache ist, ergibt sich dabei eine gewisse Vielfalt in Details. In der generellen Tendenz existieren aber viele Übereinstimmungen, denn den gemeinsamen Fluchtpunkt aller Gesetze bilden zum einen eine sehr weit gefasste Vorstellung von Terrorismus, zum anderen das Konzept der "abstrakten Gefährdungslage". Beides zusammengenommen ermöglicht eine Veralltäglichung von Terrorismusbekämpfung und in der Folge die Anwendung von Maßnahmen, die ursprünglich für Tatbestände des Terrorismus eingeführt wurden, auf breitere Bevölkerungsschichten. Der Begriff der "abstrakten Gefährdungslage" stammt aus dem polizeilichen Sprachgebrauch und bildet eine Umschreibung des Rechtsbegriffs der "abstrakten Gefahr". Was darunter zu verstehen ist, erschließt sich für juristische LaiInnen nicht auf den ersten Blick. Es scheint sich um eine Gefährdung – welcher Art auch immer – zu handeln, die in Raum und Zeit schwebt, ohne konkret bekannt zu sein. Tatsächlich handelt es sich juristisch gesehen bei konkreten und abstrakten Gefahren um ganz unterschiedliche Sachverhalte, je nach Realitätsmodus: "‚Konkret‘ ist die Gefahr, wenn sie im Einzelfall tatsächlich besteht, ‚abstrakt‘, wenn sie einen bloß hypothetischen, vorgestellten, aber typischerweise gefährlichen Sachverhalt meint." Es handelt sich bei der abstrakten Gefahr also um eine Imagination der Sicherheitsbehörden, die Vorfälle der Vergangenheit durch gedankliche Extrapolation auf zukünftige Möglichkeiten und worst cases hin fortschreibt. Wir beleuchten im Folgenden die relativ neuartige Rahmung polizeilichen Handelns, die mithilfe der Vorstellung von abstrakten Gefahren wirksam wird, nämlich das Konzept der drohenden beziehungsweise terroristischen Gefahr. Dieses Konzept ist nur verständlich im Kontext einer weniger auf Kriminalitätsbekämpfung als auf Sicherheit ausgerichteten Kriminalpolitik, die Maßnahmen der Prävention in den Vordergrund stellt. Prävention und Sekuritisierung Prävention ist für polizeiliches Handeln nichts Neues. Wird jedoch primär auf Prävention abgestellt, tritt neben das tradierte reaktive Modell polizeilicher Arbeit – eine Tat ist geschehen, die Polizei ermittelt – der Versuch, Kriminalität zu verhindern, indem man ihr zuvorkommt. Während das Ziel früher die Bekämpfung von Kriminalität war, ist heute die per definitionem unerreichbare Aufgabe der Herstellung von Sicherheit in den Vordergrund gerückt. Eine neuartige Qualität gewinnt polizeiliche Prävention dann, wenn wie seit den 2000er Jahren zugleich eine ubiquitäre Sekuritisierung stattfindet, unter der eine Fülle sozialer Sachverhalte als sicherheitsrelevant codiert wird. Soziale und ökonomische Verunsicherungen in Zeiten raschen gesellschaftlichen Wandels und terroristische Anschläge weltweit befördern in der Bevölkerung ein Bedürfnis nach Sicherheit, das auf kriminelle Ereignisse projiziert wird, weitgehend abgekoppelt von realen Kriminalitätsbelastungen entsteht und durch mediale Darstellungen von Einzelfällen gesteigert wird. Vor diesem Hintergrund wird der Versuch unternommen, mehr Licht in etwas zu bringen, von dem früher angenommen wurde, dass man darüber nichts wissen musste und auch nichts wissen konnte, das jetzt aber als unzulässiges Dunkel und als gefährlich sui generis betrachtet wird. Damit geraten Handlungen ins polizeiliche Raster, die nicht mehr im Vorfeld von Kriminalität liegen, sondern als abstrakte Gefahr bereits im Vor-Vorfeld. Es war immer schon ein polizeiliches Bemühen, "vor die Lage" zu kommen. Je weiter die polizeiliche Aktivität jedoch ins Vorfeld rückt, desto eher gibt es gar keine Lage, vor die sich kommen ließe, sondern ausschließlich Eventualitäten einer Lage. Damit weitet sich das Verständnis von dem, was als ein "Tatverdacht" bezeichnet wird, und es kommen – wie das eine präventive Orientierung erfordert – mehr gesellschaftliche Handlungen in den Blick als zuvor. Prävention und Sekuritisierung stehen dann in einem engen Zusammenhang und bedingen sich gegenseitig: Je mehr Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens unter Sicherheitsaspekten betrachtet werden, desto wichtiger werden auch präventive Maßnahmen, die geeignet erscheinen, den Ernstfall der Unsicherheit zu verhindern. Ihrerseits verstärken Maßnahmen der Prävention die Empfindung, dass mehr, Anderes und Grundlegenderes unternommen werden müsste, um die angestrebte Sicherheit zu gewährleisten. Das formt insgesamt eine präventive Sicherheitsordnung. Das im Folgenden betrachtete Konzept gewinnt seine soziale Bedeutung und seine polizeiliche, aber auch politische Relevanz vor diesem Hintergrund. Es orientiert sich weniger an konkreten schadhaften Ereignissen, sondern vorrangig am Schlüsselbegriff der "abstrakten Gefährdungslagen". Dieser Schlüsselbegriff manifestiert sich aktuell in den Polizeigesetzen der Länder im Begriff der "drohenden Gefahr". Abstrakte Gefahren, so unsere These, werden auf diese Weise zu ganz konkreter (Rechts-)Politik. "Drohende Gefahr": das bayerische Polizeiaufgabengesetz Das Konzept der abstrakten Gefährdungslagen dient polizeilich als Umschreibung eines Sachverhalts, in dem zum gegebenen Zeitpunkt noch keine konkrete Gefahr zu erkennen ist. Es handelt sich um hypothetische Annahmen und Vermutungen, man könnte auch sagen: Fiktionen in der Bedeutung einer vorgestellten Wirklichkeit, die polizeiliches Handeln anleiten. Sie manifestieren sich im bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG) als "drohende Gefahr". Darunter wird juristisch keineswegs, wie das Alltagsverständnis nahelegt, eine bald bevorstehende konkret benennbare Gefahr verstanden; vielmehr stellt eine drohende Gefahr eine abstrakte Gefahr im oben definierten Sinn dar. Eingeführt wurde der Begriff der "drohenden Gefahr" vom Bundesverfassungsgericht in seinem BKA-Urteil 2016. Ohne den Begriff zu definieren, gibt das Bundesverfassungsgericht seine Rahmenbedingung an: "Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann danach schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, sofern bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. Die Tatsachen müssen dafür (…) den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen." Das war 2016 ausschließlich im Kontext von Terrorismus und für Überwachungsmaßnahmen formuliert. Das novellierte bayerische Polizeiaufgabengesetz dehnt diese begriffliche Konzeption nun weit aus. Bereits bei der Anhörung im Landtag wurde darauf hingewiesen, dass die bayerische Polizei nach diesem Gesetz zum Zwecke der Gefahrenabwehr über weitreichendere Befugnisse verfügt als das Bundeskriminalamt zur Terrorbekämpfung; zudem weise das Gesetz ein Bestimmtheits- und Legitimationsdefizit aus: Was das Bundesverfassungsgericht für den Ausnahmefall der Terrorismusbekämpfung formuliert habe, werde teilweise auf "Allerweltsdelikte" ausgeweitet. Die Polizei darf nun "die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern" (§11 Abs. 3), und das gilt nicht nur für Terrorismus. Zu den bedeutenden Rechtsgütern zählen nun auch "die sexuelle Selbstbestimmung", "erhebliche Eigentumspositionen" und "Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt" (§11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3–5) – die beiden letzteren Rechtsfiguren übrigens Neuschöpfungen, wodurch "der zuständige Ermittlungsrichter zum Rechtsgestalter und Rechtsschöpfer und der Betroffene zum Objekt richterlicher Neulanderkundigungen mit ungewissem Ausgang" wird. Neben diesen Ausweitungen beschränkt sich das bayerische Gesetz zudem nicht auf Überwachungsmaßnahmen, sondern kennt auch einen präventiven Gewahrsam (§17) von maximal drei Monaten mit der mehrfachen Möglichkeit der Verlängerung. Dass dieser präventive Gewahrsam nur von einem Richter oder einer Richterin angeordnet werden kann, entspricht auf den ersten Blick rechtsstaatlichen Kriterien. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass die richterliche Entscheidung im Falle einer durch die Polizei benannten drohenden Gefahr entscheidungspraktisch kaum negativ ausfallen kann. Kritische Stimmen im wissenschaftlichen Diskurs haben den präventiven Gewahrsam denn auch als "Haft nach Guantanamo-Prinzipien" charakterisiert. Neben dieser einschneidenden Bestimmung kennt das Gesetz weiter die elektronische Fußfessel (§34), "zur Abwehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr" (§36 Abs. 2) verdeckte Ermittler (§37), "den verdeckten Einsatz automatisierter Kennzeichenerkennungssysteme bei Vorliegen entsprechender Lageerkenntnisse" (§39 Abs. 1), den verdeckten Zugriff auf informationstechnische Systeme (§45), gemeinhin "Staatstrojaner" genannt, und sogar – allerdings offen – den Einsatz von Drohnen (§47). Wenngleich sich die amtliche Begründung des Gesetzes auf die oben zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bezieht, unterschlägt sie, dass das Gericht einzig die Abwehr von terroristischen Gefahren vor Augen hatte, während das bayerische Polizeiaufgabengesetz potenziell die gesamte Bevölkerung betrifft. Insgesamt gilt: "Das neue PAG stattet die Polizei mit Kompetenzen aus, wie sie noch keine deutsche Polizei seit 1945 hatte." Im Ergebnis verrechtlicht das bayerische Polizeiaufgabengesetz eine neue Drehung der Präventionsschraube, indem Personen wegen noch nicht begangener und vielleicht überhaupt nicht beabsichtigter Straftaten vorbeugend ihrer Handlungsfähigkeit beraubt werden. Das schleift den Unterschied zwischen Personen, denen eine konkrete Straftat vorgeworfen wird, und solchen, denen man einen derartigen Vorwurf zwar im Moment nicht machen kann, von denen man aber glaubt, sie könnten vielleicht doch eine Straftat begangen haben, wenn man eingehender ermittelt, oder in Zukunft noch begehen, und es ersetzt tatsächliche Straftaten durch die polizeiliche Imagination von Straftaten. Ob diese Normierungen gerichtsfest sein werden, bleibt abzuwarten – das Bundesverfassungsgericht wird sich aufgrund einer gemeinsamen Klage von FDP, Grünen und Linken damit auseinandersetzen. Es wird klären müssen, wie sein BKA-Urteil von 2016 zu verstehen ist. Die Kritik moniert, aus den vom Gericht formulierten Eckpunkten würden in einigen Polizeigesetzen eigene höchst fragwürdige Tatbestandsvoraussetzungen, um polizeiliche Eingriffe zu ermöglichen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages formuliert ebenfalls erhebliche Bedenken, da das Bundesverfassungsgericht lediglich zur Bekämpfung von Terrorismus ausschließlich Überwachungs-, aber nicht polizeiliche Eingriffsmaßnahmen für verfassungskonform gehalten habe und jegliche Ausweitung über das Urteil hinausgehe. Vorbild Bayern Das bayerische Gesetz entwickelt sich gerade zum Modell für die Polizeigesetze der Länder – weitgehend unabhängig von parteipolitischer Couleur. Mit Ausnahme des rot-rot-grün regierten Thüringens haben nahezu alle Bundesländer Entwürfe für ein neues Polizeigesetz vorgelegt oder bereits verabschiedet. Ihnen allen gemeinsam sind weitgehende Kompetenzerweiterungen der Polizeibehörden, die zu tief greifenden Grundrechtseinschränkungen führen werden. Wenngleich auf Bundesebene über ein Musterpolizeigesetz nachgedacht wird, erübrigt sich dieses Anliegen angesichts der Übereinstimmungen der vorliegenden Entwürfe beziehungsweise Gesetze, die sich alle auf die Ermöglichung eines präventiven Freiheitsentzugs konzentrieren und zudem umfassende Maßnahmen der Überwachung sowie eine technische Aufrüstung der Polizei vorsehen. Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei Länder betrachtet werden, über die sich die politische und rechtliche Bandbreite der neuen Polizeigesetze abbilden lässt. Nordrhein-Westfalen Im schwarz-gelb regierten Nordrhein-Westfalen wurde das novellierte Polizeigesetz im Dezember 2018 mit Zustimmung der oppositionellen SPD verabschiedet. Nach massiver Kritik am ersten Entwurf ist der Begriff der "drohenden Gefahr" entfallen und taucht nur noch als "terroristische Gefahr" auf. Die semantische Verschiebung mutet zwar wie eine Präzisierung und Eingrenzung an, legt aber den Subtext nahe, dass terroristische Gefahren generell eine permanent drohende Gefahr darstellen, gegen die man sich wappnen müsse – zumal §8 Abs. 4 eine umfassende Liste von Tatbeständen aufzählt, die als terroristische Straftaten gewertet werden können. Unter anderem zählen dazu Computersabotage, das Herbeiführen einer Überschwemmung oder die Zerstörung eines Polizeifahrzeugs. So sieht das Gesetz vor, dass "zur Verhütung von terroristischen Straftaten" "Anhalte- und Sichtkontrollen (strategische Fahndung)" "im öffentlichen Verkehrsraum" (§12a) erlaubt sind – eine "Vorschrift wie gemacht für Racial Profiling", denn wer gibt schon Anlass zu einer Sichtkontrolle wenn nicht diejenigen, die in irgendeinem Sinne nichtzugehörig aussehen? Dazu muss ein Gebiet festgelegt werden, innerhalb dessen die Vorschrift angewendet werden darf, das zwar nicht Gefahrengebiet genannt wird, aber faktisch nach polizeilicher Ansicht ein solches bildet. Erlaubt ist ebenfalls die Überwachung der Telekommunikation einer Person, "deren individuelles Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine terroristische Straftat (…) begehen wird" (§20c Abs. 1 Satz 2). Erweitert wird auch die Videoüberwachung "[z]ur Verhütung von Straftaten": Die Polizei darf "einzelne öffentlich zugängliche Orte mittels Bildübertragung beobachten", wenn "an diesem Ort wiederholt Straftaten begangen wurden und die Beschaffenheit des Ortes die Begehung von Straftaten begünstigt" (§15a Abs. 1 Satz 1). Das Gesetz zählt weitere Merkmale auf, die alle unter der Bedingung stehen, dass "jeweils ein unverzügliches Eingreifen der Polizei möglich ist". Das vermischt die Gefahrenabwehr, der die Beobachtung vermeintlich dient, mit der Strafverfolgung – eine Neuheit im Polizeirecht. Ähnlich innovativ sind die Vorschriften zu Kontaktverboten und Aufenthaltsvorgaben nach §34b für Personen, bei denen man eine terroristische Straftat erwartet: Der örtliche Geltungsbereich der Vorschrift bleibt völlig unbestimmt, sodass Aufenthaltsvorgaben im Extremfall auch lediglich die Wohnung umfassen könnten. Dazu kommt die Verpflichtung, eine elektronische Fußfessel zu tragen (§34c). Diese polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten beziehen sich allesamt auf die Vermutung, dass die Gefahr "innerhalb eines übersehbaren Zeitraums" eintreten werde. Um welchen Zeitraum es sich dabei handeln könnte, bleibt unbestimmt und somit der jeweiligen Definition der Behörden überlassen. Präventiv lässt sich zudem gegenüber Personen, die verdächtigt werden, eine "unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat" zu beabsichtigen (§35 Abs. 1 Satz 2), die also keine Straftat begangen haben, bis zu einem Monat Gewahrsam verhängen (§35). Baden-Württemberg Während die Grünen in Nordrhein-Westfalen das Polizeigesetz abgelehnt haben, ist im grün-rot regierten Baden-Württemberg ein solches verabschiedet worden. Wenngleich es "hinter den deutlich weitreichenderen Verschärfungen z.B. Bayerns oder Nordrhein-Westfalens zurück[bleibt]", so lässt es im Zusammenhang mit bloß vermuteten künftigen terroristischen Straftaten Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zu (§§23a, 23b). Konstruiert wird also eine geradezu als Wahlverwandtschaft anzusehende Beziehung zwischen Terrorismus und der ihm innewohnenden drohenden Gefahr. Die Maßnahmen umfassen das Abhören von Telefonen, das Mitlesen von Internetchats und das Aufspielen eines Trojaners auf das Endgerät. Erlaubt ist all dies, sofern "bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass [die überwachte Person] innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine Straftat begehen wird" (§23b Abs. 3) – Unbestimmtheiten, die aus dem BKA-Gesetz übernommen werden. In den Bestimmungen zur Videoüberwachung hat das Gesetz großzügige Maßstäbe; so erlaubt §21 die automatische Auswertung der Bildaufzeichnungen, wenngleich diese "nur auf das Erkennen solcher Verhaltensmuster ausgerichtet sein [darf], die auf die Begehung einer Straftat hindeuten" (§21 Abs. 2 Satz 4). Die Kriterien solchen Erkennens werden mutmaßlich denjenigen überlassen, die die Algorithmen dafür entwickeln, und auch hier scheint racial profiling keineswegs ausgeschlossen. Eine biometrische Gesichtserkennung ist zwar nicht explizit vorgesehen, aber möglich, was grundsätzlich auch Bewegungsprofile möglich macht. §27b erlaubt schließlich "Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot zur Verhütung terroristischer Straftaten". In seinem Kern unterscheidet sich dieses Gesetz also wenig von den bereits angesprochenen Gesetzen. Hier wie anderswo gilt: "Es gehört also wenig Fantasie dazu sich vorzustellen, dass der nahezu uferlose Gefahrenbegriff auch als Instrument der Unterdrückung missliebiger Ausdrucksformen zivilgesellschaftlichen Protests und politisch oppositioneller Bewegungen eingesetzt werden kann." Sachsen Solche Befürchtungen sind besonders virulent in Sachsen, wo noch vor der Landtagswahl im September 2019 ein neues Polizeigesetz verabschiedet werden soll und jedenfalls mittelfristig eine Regierungsbeteiligung der AfD nicht ausgeschlossen scheint. Der Entwurf des Polizeivollzugsdienstgesetzes (SächsPVDG-E) und des Polizeibehördengesetzes (SächsPBG), das die regierende Große Koalition vorgelegt hat, ist von vielen Seiten kritisiert worden, und selbst Teilen der an der Landesregierung beteiligten SPD scheint der Entwurf zu weit zu gehen, obgleich die Partei im Kabinett zugestimmt hat. Da es sich momentan um einen Entwurf handelt, sind Änderungen im parlamentarischen Verfahren noch möglich. Daher sollen im Folgenden nur einige besonders strittige Punkte angesprochen werden. Der Gesetzentwurf reagiert, so ist im Vorblatt Absatz B zu lesen, auf eine "veränderte Gefährdungslage bei der Gefahrenabwehr", die wesentlich durch abstrakte Gefahren gekennzeichnet sei. §4f Abs. 3 PVDG-E benennt diese als "eine Sachlage, bei der nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit typischerweise Gefahren für ein polizeiliches Schutzgut entstehen". Damit ist eine Eingriffsvoraussetzung geschaffen, die eine Fülle von Maßnahmen legitimiert, etwa "bei abstrakten Gefahren im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen oder Ansammlungen unter freiem Himmel" die offene Ton- und Videoüberwachung (§57 PVDG-E), die Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume (§30 PBG) oder Alkoholkonsumverbote, soweit "auf Grund der örtlichen Verhältnisse eine abstrakte Gefahr der Begehung alkoholbedingter Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten vorliegt" (§33 PBG). Insgesamt beschneidet der Entwurf "durch Fußfesseln, Aufenthaltsverbote, Kontaktverbote u.v.m. direkt die Fortbewegungsfreiheit, die Privatsphäre und die Freiheit der Person, noch bevor überhaupt eine konkrete Gefahr entstanden ist". Ähnliches gilt für die automatisierte Kennzeichenerkennung von Fahrzeugen (§58 PVDG-E), die zudem gekoppelt werden soll mit einer offenen Videobeobachtung und einem Abgleich von biometrischen Daten (§§59, 60 PVDG-E). Diese Überwachung soll zwar lediglich innerhalb eines 30 Kilometer breiten Bandes entlang der Grenze zu Tschechien erfolgen, würde damit aber nahezu die Hälfte der Landesfläche umfassen. Darüber hinaus ermöglicht der Gesetzentwurf eine weitere Militarisierung der Polizei: "Für die Verwendung durch Spezialeinheiten sind Maschinengewehre und Handgranaten als besondere Waffen zugelassen." (§40 Absatz 4 PVDG-E). Es bleibt unklar, woran die Landesregierung hierbei denkt. Politik der abstrakten Gefährdungslagen Nach diesem kursorischen Überblick über die neuen Polizeigesetze dürfte das Fazit eindeutig sein: Sie alle räumen der Polizei weitgehende Befugnisse im Vorfeld einer noch nicht begangenen und lediglich in der polizeilichen Vorstellung bevorstehenden Straftat ein. Das führt zu massiven Eingriffen in Grundrechte – zugunsten einer Konzeption von Sicherheit, die sich lediglich mit Maßnahmen gewährleisten lässt, die in das Vorfeld einer eventuellen Straftat eingreifen. Die Unschuldsvermutung, bisher ein tragender rechtsstaatlicher Pfeiler, wird damit durch eine generalisierte Verdachtsvermutung ersetzt. Die beschriebenen Entwicklungen lassen sich als Teil einer Tendenz verstehen, den Begriff der "abstrakten Gefährdungslagen" rechtlich verbindlich zu verankern und als konkrete Politik zu operationalisieren. Das umfasst nicht notwendigerweise Innovationen, sondern basiert auf kleinschrittigen und sich über längere Perioden entwickelnden kriminalpolitischen Veränderungen, die die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten erweitern. So sind die neuen Polizeigesetze kaum als singulär zu bisherigen kriminalpolitischen Denkweisen und Strategien zu verstehen, sie folgen vielmehr gewissen dominanten Entwicklungen. Als ein wesentlicher Vorläufer der abstrakten Gefährdungslage ist die kriminalpolizeiliche Figur des "Gefährders" zu nennen. Sie wurde zunächst im Zuge des Kampfes gegen den Terrorismus eingeführt, um – als gleichzeitig vages, aber dafür umso hassbesetzteres Objekt – die drohende Gefahr zu personalisieren. Der Begriff "Gefährder" ist zwar nicht neu, denn die sogenannte Gefährderansprache etwa gegenüber Hooligans, DemonstrantInnen oder IntensivtäterInnen ist eine etablierte Verfahrensweise, doch bleibt die Polizei dabei weiterhin an eine existente konkrete Gefahr gebunden. Das gilt nicht für den Gefährder, wie er als soziale Figur nach den Anschlägen des 11. September 2001 innerhalb der Landeskriminalämter und dem Bundeskriminalamt entstanden ist. Als Gefährder – die Polizei verwendet ausschließlich die maskuline Form – einzustufen ist demnach jede Person, "bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des §100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird". Als derartige Tatsachen gelten unter anderem die Nähe zu islamistischen Positionen oder islamistisch ausgerichteten Personen, ein persönliches Näheverhältnis zu anderen Gefährdern oder verurteilten IslamistInnen, die Beteiligung an radikalislamischen Veranstaltungen oder die Konversion zum Islam. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass "Gefährder" noch kein Rechts-, sondern lediglich ein polizeilicher Arbeitsbegriff ist, der Personen benennen und identifizieren soll, von denen in Zukunft möglicherweise eine terroristische Gefahr ausgehen könnte. Die mit der Kategorie des Gefährders in Zusammenhang stehenden polizeilichen Maßnahmen sind allerdings weitreichend; sie betreffen ihre heimliche Überwachung sowie im Falle von Personen ohne oder mit erworbener deutscher Staatsbürgerschaft aufenthaltsgesetzliche Maßnahmen, die Festsetzung in Geflüchtetenunterkünften, die Herabsetzung des Aufenthaltsstatus bis hin zur Abschiebung. Im Juni 2017 kam neben der Überwachung und den ausländerrechtlichen Maßnahmen die elektronische Fußfessel hinzu. Erstmals ist mit dem Gefährder eine Kategorie eingeführt und mit polizeilichen beziehungsweise ausländerrechtlichen Maßnahmen belegt worden, in die sich Personen einstufen lassen, deren Aktivitäten außerhalb beziehungsweise weit vor der Schwelle einer konkreten Gefahr liegen: Ermittelt werden hier Gefahren in ihrer Potenzialität. Der Gefährder erweitert so den klassischen, die Polizeiarbeit bis dahin handlungsleitenden Rechtsbegriff des "Tatverdächtigen" um Aspekte einer personalisierten abstrakten Gefahr. Ein diffuser Gefahrenbegriff wird damit konkreten Personen zugeordnet und individualisiert. Ob manche/viele/alle Gefährder tatsächlich eine Gefährdung bilden, ist sicherheitspolitisch eine Frage von hoher Bedeutung; analytisch jedoch lässt sich dabei eine typische Entwicklung der Arbeit mit abstrakten Gefährdungskonzepten ablesen. Sie beginnt erstens mit der Überwachung und geht relativ schnell weiter zur Intervention. Zweitens schafft sie weitere Gefahrenumfelder, hat also eine Tendenz zur Ausweitung in andere gesellschaftliche Bereiche: So bildet sich im Zuge der Entstehung der Figur des Gefährders die mit diesem in Kontakt stehende, mitunter von der Polizei erfasste Figur der "relevanten Person" heraus. Die Verallgemeinerung und Veralltäglichung der Gefährderlogik nun auf Bereiche auch unterhalb des Terrorismus und damit die Einbeziehung breiter Bevölkerungsschichten bilden den Kern des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes und in der Folge der anderen Ländergesetze. In der Kriminologie hat sich inzwischen der Begriff der "pre-crime-society" etabliert, um einen solchen Zustand zu beschreiben: Die kriminalpolitische Perspektive ist vor allem darauf gerichtet, Delikte zu antizipieren und ihnen zuvorzukommen. Besonders ersichtlich wird das an den Methoden des predictive policing, wie sie in den USA entwickelt worden sind und in den vergangenen Jahren auch in der Bundesrepublik zunehmend angewendet werden. Bei diesem Ansatz geht es darum, mithilfe von Big Data eine algorithmengestützte Vorhersage über Ort und Zeit eines künftigen Delikts – vorrangig geht es derzeit um Wohnungseinbrüche – zu treffen. So verspricht die Werbung für die entsprechende Software, dass die Polizei sich rechtzeitig vor Ort postieren kann und lediglich abwarten muss, bis der Einbrecher mit dem Diebesgut die betroffene Wohnung verlässt. Die bisherigen Evaluationen der deutschen Polizei fallen erheblich zurückhaltender aus, doch lässt sich die gesamte Methode unabhängig von ihrer tatsächlichen Treffsicherheit als ein Indiz für die vorherrschenden gesellschaftlichen Befürchtungen und Bewertungen betrachten. Die Welt wird also immer weniger in Kategorien der Kriminalitätsbekämpfung oder der (Un-)Sicherheit, sondern primär in den Kategorien von Gefahr wahrgenommen (dangerization). Das hat noch weit über die beschriebenen Auswirkungen hinaus Folgen für das gesellschaftliche Klima. Denn ein wesentliches Kennzeichen derartiger Konzepte und Politiken abstrakter Gefährdungslagen ist, dass sich mit ihnen Feindbilder aktualisieren lassen. Solche Formen der Prävention kommen nicht ohne othering aus, da ihnen rechtliche Kriterien eines spezifischen Tatverdachts fehlen. Die Gefahrendefinition wird derart ausgeweitet, dass sie jeweils in den Händen der ErmittlerInnen liegt, zu einer weiteren Autonomisierung der Polizei beiträgt und insgesamt allgegenwärtige Verdächtigungen gegenüber Formen der "Andersartigkeit" befördert. Auf diese Weise entwickelt sich die Politik der abstrakten Gefährdungslagen zu einer konkreten Gefahr für den Rechtsstaat, wie wir ihn bisher kennen. Hans Lisken/Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, München 2007, S. 318. Vgl. Andrea Kretschmann, Das Wuchern der Gefahr. Einige gesellschaftstheoretische Anmerkungen zur Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes 2012, in: Juridikum 3/2012, S. 320–333. Vgl. Barry Buzan/Ole Wæver/Jaap de Wilde, Security. A New Framework for Analysis, Boulder–London 1998. Zu Prävention und ihrem unabschließbaren Charakter vgl. Ulrich Bröckling, Prävention, in: ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004, S. 210–215. Vgl. Trutz von Trotha, Die präventive Sicherheitsordnung: Weitere Skizzen über die Konturen einer "Ordnungsform der Gewalt", in: Kriminologisches Journal 1/2010, S. 24–40. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 141, 220–378 (BKA-Gesetz), 20.4.2016, Rn. 112. Vgl. Markus Löffelmann, Das neue bayerische Polizeirecht, in: Kritische Justiz 3/2018, S. 355–359. Hartmut Wächtler, Kein Rechtsschutz, in: Freispruch 13/2018, S. 7. Vgl. Martin Heidebach, Haft nach Guantanamo-Prinzipien, in: Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht e.V. 31/2017, S. 1–4. Vgl. Wächtler (Anm. 8), S. 5. Vgl. die zusammenfassende Kritik bei Maria Scharlau, Stellungnahme von Amnesty International zum Entwurf des Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes und des Polizeibehördengesetzes, Berlin 2018, S. 6. Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausweitung polizeilicher Befugnisse in Deutschland und Europa, Berlin 2018, S. 5. Christian Mertens, Eine Gute-Machtgeschichte, in: Freispruch 13/2018, S. 18. Vgl. Bernd Belina/Jan Wehrheim, "Gefahrengebiete": Durch die Abstraktion vom Sozialen zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen, in: Soziale Probleme 2/2011, S. 207–229. Vgl. Mertens (Anm. 13), S. 20. Angela Furmaniak, Grün-schwarze Trojaner, in: Freispruch 13/2018, S. 25. Ebd. Vgl. Scharlau (Anm. 11). Ebd., S. 3. Vgl. Felix Hanschmann, "Gefährder" – eine neue alte Figur im Öffentlichen Recht, in: Kritische Justiz 4/2017, S. 434–447. Siehe einen Überblick der darauf folgenden Gesetzgebungsmaßnahmen bei Jakob Dalby, Sicherheitsgesetzgebung unter dem Eindruck von Terror, in: Christoph Gusy/Dieter Kugelmann/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Rechtshandbuch Zivile Sicherheit, Berlin–Heidelberg 2017, S. 87–99. Vgl. Andrea Kretschmann, Soziale Tatsachen: Eine wissenssoziologische Perspektive auf den "Gefährder", in: APuZ 32–33/2017, S. 11–16. Vgl. María Laura Böhm, Der "Gefährder" und das "Gefährdungsrecht": Eine rechtssoziologische Analyse am Beispiel der Urteile des Bundesverfassungsgerichts über die nachträgliche Sicherungsverwahrung und die akustische Wohnraumüberwachung, Göttingen 2011; Maren Wegner/Daniela Hunold, Die Transformation der Sicherheitsarchitektur – die Gefährdergesetze im Lichte des Vorsorge-Paradigmas, in: Kriminalpolitische Zeitschrift 6/2017, S. 367–375; Heiko Habbe/Stefan Keßler, Rechtsstaat hinter Gittern? Zur Diskussion über den Einsatz von Abschiebungshaft gegen "Gefährder", in: Stephan Beichel-Benedetti/Constanze Janda (Hrsg.), Hohenheimer Horizonte, Baden-Baden 2018, S. 273–281; David Kuch, Gefährder in Haft? Kritische Anmerkungen zu einem bayerischen Experiment, in: Deutsches Verwaltungsblatt 6/2018, S. 343–350. Kristina Bautze, Wie gefährlich sind "Gefährder"? Eine Antwort auf Felix Hanschmann, in: Kritische Justiz 2/2018, S. 205–212 geht davon aus, dass diese Zuschreibung zumindest in einigen Fällen Realitätsgehalt aufweist. Vgl. Kretschmann (Anm. 22). Lucia Zedner, Seeking Security by Eroding Rights: The Side-Stepping of Due Process, in: Benjamin J. Goold/Liora Lazarus (Hrsg.), Security and Human Rights, Portland 2007, S. 259. Vgl. Tobias Singelnstein, Predictive Policing: Algorithmenbasierte Straftatprognosen zur vorausschauenden Kriminalintervention, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1/2018, S. 1–9. Vgl. etwa Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Kooperative Evaluation des Projektes SKALA, Düsseldorf 2018. Vgl. Michalis Lianos/Mary Douglas, Dangerization and the End of Deviance. The Institutional Environment, in: British Journal of Criminology 2/2000, S. 261–278, hier S. 267.
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, Andrea Kretschmann | , Aldo Legnaro
"2022-02-16T00:00:00"
"2019-05-15T00:00:00"
"2022-02-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/291180/abstrakte-gefaehrdungslagen/
Prävention ist seit jeher eine Aufgabe der Polizei. Es lässt sich jedoch eine zunehmend in das Vorfeld einer Tat verlagerte Präventionstätigkeit beobachten, die mit dem Begriff der "abstrakten Gefährdungslage" arbeitet. Besonders ersichtlich wird das
[ "innere Sicherheit", "Polizei", "Polizeirecht", "Polizeigesetze", "Landespolizeien", "Bayern", "Nordrhein-Westfalen", "Sachsen", "Baden-Württemberg" ]
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Impuls: Migration in globaler Perspektive | teamGLOBAL | bpb.de
Als PDF herunterladen (5MB) Zum Download: Interner Link: Impuls: Migration in globaler Perspektive (pdf-Version, 5 MB) Als PDF herunterladen (5MB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67669/impuls-migration-in-globaler-perspektive/
Das Impulsreferat führt in das Thema "Migration in globaler Perspektive" ein: Welche Formen der Migration gibt es? Was sind die "Zielrichtungen" internationaler Migration? Welche wirtschaftlichen Effekte hat Migration? Wohin geht Europa auf dem Weg z
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Wie denken und leben ältere Menschen? | Presse | bpb.de
Zum Jahresbeginn ist in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb der Band „Generali Altersstudie 2013“ erschienen. Die vom Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) und vom Generali Zukunftsfonds erstellte Studie beantwortet zahlreiche Fragen zur Lebens- und Denkweise der Generation der 65- bis 85jährigen. Der demografische Wandel der deutschen Gesellschaft und die Herausforderungen, die er mit sich bringt, ist eines der Schwerpunktthemen der bpb im Jahr 2013. „An manchen Tagen fühle ich mich schon einsam, manche Abende. Was ich nicht gerne habe, das sind Sonntage. [...]“, antwortet eine 77-jährige, alleinstehende Frau auf die Frage , ob sie sich einsam fühle. Geht es allen älteren Menschen so? Durch eine repräsentative Umfrage unter 4197 Personen zwischen 65 und 85 Jahren in Deutschland konnte das IfD einen detaillierten Einblick in die Lebensbedingungen, Ziele und Gedanken der Generation der über 65-Jährigen erhalten und stellt diese übersichtlich geordnet in vielen Statistiken und Diagrammen dar. Ziel der Altersstudie ist es , ein realistisches und realitätsnahes Bild der älteren Menschen in Deutschland zu schaffen. Die Studie befasst sich mit den Themen Lebenszufriedenheit, Soziale Kontakte, Gesundheit, Wohnen und Mobilität, Materielle Lebenssituation und soziales und bürgerschaftliches Engagement. Dabei kommen immer wieder die Interviewten zu Wort, um die Ergebnisse der Statistiken zu untermauern. In 20 Tiefeninterviews wird die Situation von exemplarischen Einzelpersonen in Form von biografischen Porträts beleuchtet. Neben Analysen und Kommentaren der Autoren der Ergebnisse bietet die Studie einen Anhang mit einem Einblick in die Methodik der Befragung. Das „Alter“ ist auch Titelthema im kommenden bpb:magazin. Darin gibt es einen Überblick über bpb-Veranstaltungen zum Thema, wie die Seminare „Wirtschaft - Arbeitsmarkt - Demografie - Rente: Wie zukunftsfest ist der Sozialstaat?“ vom 21.-26.04.2013 in Hattingen und „Wie wollen wir im Alter leben?“ vom 13.-17.05.2013 in Königswinter. Das Magazin erscheint am 13. März 2013 (Interner Link: www.bpb.de/magazin). Produktinformation Generali Altersstudie 2013 Generali Zukunftsfonds (Hrsg.) / Institut für Demoskopie Allensbach Erscheinungsort: Bonn Bestellnummer: 1.348 Bereitstellungspauschale: 4,50 € www.bpb.de/151549 Interner Link: Pressemitteilung als pdf Pressekontakt bpb Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-01-28T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/154033/wie-denken-und-leben-aeltere-menschen/
Neuer Band in der bpb-Schriftenreihe / Das „Alter“ ist auch Titelthema im kommenden bpb:magazin
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"Am Anfang war Revolution" | AV-Medienkatalog | bpb.de
Regie: Georg Armin/Karl-Heinz Ibe Buch: Georg Armin/Horst Hellwig/Karl-Heinz Ibe/Paul Mommertz/Karl-Ernst Moring Produktion: NDR, Bundesrepublik Deutschland 1975 Format: 30 Min. - VHS-Video - farbig FSK: 6 Jahre Kategorie: Dokumentarfilm Stichworte: Deutschland im 19.Jahrhundert - Frankreich - Geschichte - Politische Systeme Inhalt: Der Film dokumentiert die alteuropäische Ständegesellschaft, die absolutistische Monarchie und den Kampf gegen den Absolutismus, der in Frankreich mit dem Ballhaus-Schwur am 20. Juni 1789 begann. Gliederung: Ständeordnung - Gottesgnadentum - Absolutismus - Anfänge der Industrialisierung - Aufklärung - Französische Revolution 1789. Eingangs beschäftigt sich die Produktion mit der geringen Neigung junger Menschen, sich mit Geschichte überhaupt zu befassen, und dem Mißverständnis, die Gegenwart losgelöst von ihren historischen Voraussetzungen begreifen zu können. Ausgangspunkt der neuesten Geschichte der europäischen Staaten ist die Große Französische Revolution von 1789, die dem Gedanken der Freiheit und Gewaltenteilung, der Gleichberechtigung aller und der Volkssouveränität zum Durchbruch verhilft und die Privilegien von Krone, Adel, Kirche und Großbürgertum einschränkt sowie die alte Ständeordnung aufhebt. Dieser revolutionäre Wandel wird verdeutlicht durch eine geraffte und vereinfachte Darstellung der Sozialstruktur des in Auflösung begriffenen absolutistischen Staates. Gelegentlich wird durch einen Vergleich mit der Gegenwart der aktuelle Bezug hergestellt und zu veranschaulichen versucht, daß die Ereignisse des ausgehenden 19.Jahrhunderts bis in unsere Tage nachwirken.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2012-10-17T00:00:00"
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https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146444/am-anfang-war-revolution/
Eingangs beschäftigt sich die Produktion mit der geringen Neigung junger Menschen, sich mit Geschichte überhaupt zu befassen, und dem Mißverständnis, die Gegenwart losgelöst von ihren historischen Voraussetzungen begreifen zu können. Gelegentlich wir
[ "politische Systeme", "Frankreich" ]
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"Zwischen den Welten. Museen im Angesicht von Flucht und transkulturellem Dialog" | Presse | bpb.de
"Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben"? Diese Frage gehört zu den drängendsten unserer Gesellschaft und beeinflusst die Museen unmittelbar. Sie stehen in der Verantwortung, auf den gesellschaftlichen Wandel - gerade auch durch die hohe Zahl der Schutzsuchenden - nicht nur zu reagieren, sondern den transkulturellen Dialog zu gestalten. Am 23. und 24. Oktober trafen sich etwa 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Museumspädagogik und kultureller Bildung im Kölner Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, um über die Rolle von Museen angesichts der Flüchtlingssituation und die Nachhaltigkeit bereits etablierter Programme zu diskutieren. Die Tagung wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, dem Museumsdienst Köln, dem Bundesverband Museumspädagogik e.V., dem Landesverband Museumspädagogik NRW e.V. und den Neuen Deutschen Organisationen veranstaltet. Am ersten Tag sorgte eine Reihe von übergreifenden Impulsreferaten für eine theoretische Unterfütterung des Themas. Den Beginn markierten Statements aller vier Kooperationspartner. Für die Stadt Köln stellte Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach fest, dass „Kultur für alle“ in der Domstadt schon lange Realität sei. Sie plädierte für einen neuen Slogan: „Kultur durch alle“, um die intendierte Breitenwirkung deutlich zu machen. Dr. Caroline Hornstein-Tomić, Stellvertreterin des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, stellte dar, dass die bpb ihren Fokus auf den Übergang von der Willkommenskultur zum transkultu¬rellen Dialog lege. Anja Hoffmann, Vorsitzende des Bundesverbandes Museumspädagogik e.V., betonte den Willen der Museumspädagogen zum transkulturellen Dialog, unterstrich aber zugleich die Notwendigkeit von tragfähigen Konzepten und Finanzierungsmodellen. Für die Neuen Deutschen Organisationen betonte Fatema Mian deren Willen zu einer intensiven Kooperation auch im Bereich der kulturellen Bildung. Drei Expertinnen sprachen im Themenfeld „Diversität stärken“ über Wandel in seinen unterschiedlichen Facetten. Den ersten Impuls setzte die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Riem Spielhaus von der Universität Göttingen, die über den Wandel der Gesellschaft referierte: „Unsere Institutionen müssen die Gesellschaft spiegeln, wenn sie relevant sein wollen“. Zugewanderte seien an Kunst und Kultur interessiert, aber nur dann, wenn ihre Geschichten und ihre Perspektiven auch darin vorkämen. Es sei also nicht weniger als ein Neudenken der Kultureinrichtungen gefragt. Museumsfachfrau Léontine Meijer-van Mensch vom Museum Europäischer Kulturen Berlin beleuchtete den Wandel des Publikums und seine neuen Erwartungen an das Museum. Dialog sei der Schlüssel zu einer gelungenen Vermittlungsarbeit. Meijer-van Mensch riet den Museen zu einer empathischen Wende („empathic turn“) und damit zu einer positiven Hinwendung zu allen potenziellen Zielgruppen. Karima Benbrahim vom IDA e.V. (Informations- und Doku-mentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. Düsseldorf) sprach über die Notwendigkeit des institutionellen Wandels auch in der Personalpolitik. Am Nachmittag des ersten Tages diskutierte die Tagung unter dem Motto „Partizipation und Kooperation leben“ die Entwicklung und Bereitstellung von konkreten Angeboten. Dabei spielten die internen und externen Rahmenbedingungen für Projekte an Museen ebenso eine Rolle wie erfolgreiche Beispiele aus anderen Kultursparten. Doris Hefner (culturalive) referierte Probleme und Anforderungen in der Programmentwicklung mit und für Geflüchtete, während Eleonore Hefner (Bundesvereinigung soziokultureller Zentren e.V.) soziokulturelle Herangehensweisen anbot und unter anderem die Museen aufforderte, nach draußen zu gehen und eine aufsuchende Vermittlungsarbeit zu leisten. Danach galt es, die internen Rahmenbedingungen von Museen abzustecken. Prof. Dr. Wiebke Ahrndt (Deutscher Museumsbund) diskutierte mit Dr. Tayfun Belgin (Osthaus-Museum Hagen), Sandra Vacca (Domid e.V.) und Julia Hagenberg (Kunstsammlungen NRW) über die Aufgabe von Museen im Angesicht einer zunehmend spürbaren Polarisierung der Gesellschaft. Ohne zu einem einheitlichen Ergebnis zu kommen, waren sich die Experten darin einig, dass Museen keinesfalls als reine Musentempel oder Orte der Stille agieren könnten, sondern aktiven Anteil am Diskurs haben und die unterschiedlichsten Zielgruppen partizipativ integrieren sollten. Wie dies mit geflüchteten Menschen gelingen kann, machten die über die Tagung verteilten Projektpräsentationen aus dem gesamten Bundesgebiet deutlich, die zugleich die Grenzen und Probleme aufzeigten. Zwei Beispiel des Museumsdienstes Köln, Projekte des Fußballmuseums Springe und des Naturkundemuseums Bielefeld, ein stadtweites Führungsprogramm aus Frankfurter Museen, ein Spiel, das für das Grassi Museum in Leipzig entsteht und das Projekt „Multaka“ der Staatlichen Museen zu Berlin, mit Führungen durch Geflüchtete, zeigten die Bandbreite der Möglichkeiten: Führungen von und für geflüchtete Menschen, Sprachkurse, Ausstellungen, Kooperationen mit Migrantenorganisationen oder Begegnungsprojekte – die Museumspädagogik nutzt verschiedenste Ansätze, um die Rolle von Museen als Orte des Willkommens zu stärken. Dass sie dabei noch von anderen Kunstsparten lernen können, stellten Dr. Maren Ziese (Willy-Brandt-Haus Berlin und Carolin Gritschke (Haus der Geschichte Bande-Württemberg) dar. Insbesondere Theater und offene Kunstprojekte führen oftmals einen Dialog auf Augenhöhe zwischen Institutionen und Geflüchteten. Um den Diskurs anzustoßen, wurde für den zweiten Tag bewusst auf das Format des Barcamps gesetzt, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam in die Zukunft zu denken. Beim Barcamp gilt das Motto „No spectators, only participants!“ Das Programm wurde direkt vor Ort von den Teilnehmenden erstellt. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren eingeladen, ein Thema, eine Präsentation oder eine Frage zur gemeinsamen Bearbeitung in der Gruppe vorzuschlagen. So kam es zu mehr als 20 Diskussionsrunden, in denen Methoden, Formate aber auch grundsätzliche Fragen und Probleme erörtert wurden. Die Ergebnisse des Barcamps sowie die Dokumentation der Vorträge und Diskussionsrunden werden in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Standbein/Spielbein“ zusammengefasst und 2017 publiziert. Schon jetzt liefert der Tagungsblog Externer Link: www.museum-flucht-dialog.de vertiefende Einblicke und Informationen. Erste Eindrücke der Tagung finden Sie hier: Zwischen den Welten. Museen im Angesicht von Flucht und transkulturellem Dialog Tagung am 23. und 24. Oktober 2016 in Köln Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Kontakt Museumsdienst Köln Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Marie-Luise Höfling Tel.: 0221/221-22334 E-Mail: E-Mail Link: museen@stadt-koeln.de Pressekontakt bpb: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-10-27T00:00:00"
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https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/236294/zwischen-den-welten-museen-im-angesicht-von-flucht-und-transkulturellem-dialog/
"Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben"? Diese Frage gehört zu den drängendsten unserer Gesellschaft und beeinflusst die Museen unmittelbar. Sie stehen in der Verantwortung, auf den gesellschaftlichen Wandel - gerade auch durch die hohe Zahl der
[ "Museen", "Flucht" ]
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Quotenbringer Politik: Ende der Funkstille | Presse | bpb.de
Datum 14. bis 16. März 2004 Ort Starnberger See in Tutzing Das Radio ist die Nummer Eins. Menschen bis zum 40. Lebensjahr hören mehr Radio, als sie Zeitung lesen oder Fernsehen schauen. Doch bei der Politikvermittlung steht der Hörfunk hinten an. Während Sabine Christiansen, Maybrit Illner und andere im Fernsehen zeigen, wie sich mit politischen Themen Quote machen lässt, traut sich der Hörfunk nur selten an "harte" Themen heran. Dabei muss Politik im Radio nicht langweilen – auch im Lokalfunk nicht. Der Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Zusammenarbeit mit der Akademie für politische Bildung Tutzing und dem Institut für Journalistenausbildung und Kommunikationsforschung der Universität Passau zeigt, wie man Lokalpolitik erfolgreich ins Programm bringt. Der dreitägige Kurs vom 14. bis 16. März richtet sich an Journalistinnen und Journalisten des regionalen und lokalen Hörfunks. Erfolgreiche Sendereihen und kreative Hörbeispiele werden vorgestellt. Profis geben Recherchetipps. Fragen aus dem Redaktionsalltag werden in der Gruppe diskutiert. Die Tagungsgebühr für den Workshop beträgt 40 Euro. Verpflegungs- und Übernachtungskosten übernehmen die Veranstalter. Anmeldung Akademie für politische Bildung Tutzing Tagungssekretärin: Ina Raus Postfach 82323 Tutzing Tel.: +49 (0) 8158 - 256 53 Fax: +49 (0) 8158 - 256 51 E-Mail: E-Mail Link: i.raus@apb-tutzing.de Kontakt/Veranstalter Bundeszentrale für politische Bildung Berthold L. Flöper Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-558 Fax.: +49 228 99515-586 E-Mail: E-Mail Link: floeper@bpb.de Pressekontakt Swantje Schütz Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
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https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50875/quotenbringer-politik-ende-der-funkstille/
Das Radio ist die Nummer Eins bei Menschen unter 40 Jahren. Sie nutzen öfter dieses Medium als die Zeitung oder das Fernsehen. Doch bei der Politikvermittlung steht der Hörfunk hinten an.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Das digitale Bildungsjahr 2017 | werkstatt.bpb.de | bpb.de
Regelmäßig mit dem Smartboard unterrichten? Häufiger Veranstaltungen zum Thema Digitale Bildung besuchen? Oder endlich einmal in Sozialen Netzwerken aktiv werden? Wie auch immer Ihre Vorsätze für das digitale Bildungsjahr 2017 aussehen – die Werkstatt der bpb wird Sie auch weiterhin über aktuelle Trends, Themen und Veranstaltungen im Bereich Digitale Bildung informieren, interessante Projekte vorstellen und die verschiedenen Standpunkte abbilden. In unserer kleinen Jahresvorschau geben wir Ihnen einen ersten Überblick über die wichtigsten Fragen und Veranstaltungen des Jahres sowie die kommenden Themenschwerpunkte der Werkstatt. Die erste große Veranstaltung liegt bereits hinter uns: Die Fachmesse und der Kongress Externer Link: LEARNTEC – digitale Lernkultur im Wandel in Karlsruhe unter der Schirmherrschaft der Bundesministerien für Bildung und Forschung (BMBF) sowie für Wirtschaft und Energie (BMWi). Als Austausch- und Informationsplattform für digitale Bildung war die Messe Karlsruhe in den letzten Januartagen Branchentreffpunkt für Fachleute aus Bildung, Wirtschaft und Politik. Zu den Ausstellungsbereichen gehörten unter anderem Bildungs- und Wissensmanagement, sowie Tools und Technologien. Thematisch standen die Digitalisierung der Externer Link: Schul- und der Externer Link: Hochschulbildung im Fokus. Vom 14. bis 18. Februar steht die weltweit größte Bildungsmesse Externer Link: Didacta in Stuttgart an – mit mehr als 900 Ausstellern, einem umfassenden Fortbildungsprogramm für Lehrende und pädagogische Fachkräfte aller Sparten sowie Foren, Workshops, Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Der Ausstellungsbereich Externer Link: Bildung und Technologie beschäftigt sich dabei mit Fragen der Digitalisierung des Bildungswesens. Daneben gibt es Foren und Sonderveranstaltungen zum Thema, etwa das Externer Link: Forum Bildung, das Forum Externer Link: Didacta Digital oder das Externer Link: Forum Unterrichtspraxis. Auf der Externer Link: Leipziger Buchmesse, die sich zunehmend auch als Externer Link: Bildungsmesse etabliert hat, wird man vom 23. bis 26 März feststellen können, dass die Digitalisierung auch immer mehr im Buchmarkt und im Literaturbetrieb angekommen ist. Das Programm Externer Link: Neuland 2.0 – Die Plattform für innovative Ideen etwa beschäftigt sich mit technologiegetriebenen Innovationen für den Buch- und Medienmarkt. Als Denk-Raum für eine Gesellschaft von morgen ist außerdem Externer Link: Europa21 zu erwähnen, der Programmschwerpunkt der Leipziger Buchmesse und der Robert Bosch Stiftung. Unter dem Motto Love Out Loud schließt sich vom 8. bis zum 10. Mai die Externer Link: re:publica in Berlin an, die mit ihren mehr als 8000 Teilnehmenden als eine der wichtigsten Veranstaltungen im Bereich digitale Gesellschaft gilt. Einerseits vermitteln hier Expertinnen und Experten der digitalen Gesellschaft Wissen und Handlungskompetenz und diskutieren die Weiterentwicklung der Wissensgesellschaft. Andererseits verschreibt sich die re:publica vor allem der Vernetzung – von Aktivistinnen und Aktivisten, Forschenden, Hackerinnen und Hackern, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Medienschaffenden, Social Media- und Marketing-Fachleuten und vielen mehr. Der Externer Link: Track RE:LEARN beschäftigt sich dabei seit 2010 explizit mit neuen Bildungsansätzen. Für den Bereich historische Bildung wird es in der zweiten Jahreshälfte interessant: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es wieder ein Externer Link: Histocamp geben, das als Barcamp für Historikerinnen und Historiker angelegt ist. Zu verfolgen gilt es auch das Ausstellungsprojekt Externer Link: "Der Kommunismus in seinem Zeitalter" der Bundesstiftung Aufarbeitung anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution. Außerdem wartet das Pendant zur Leipziger Buchmesse, die Externer Link: Buchmesse in Frankfurt vom 11. bis 15 Oktober, mit einem Bildungsschwerpunkt auf. Auch politisch bleibt es spannend: Welche Auswirkungen wird die Externer Link: Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft, die das Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Oktober 2016 vorgestellt hat, haben? Und wie wird im Zuge dessen mit dem im Digitalpakt#D angekündigten 5-Milliarden-Paket der Bundesregierung für die Länder verfahren (Interner Link: Hier geht es zu unserer Presseschau zum Thema)? Auch die ersten Auswirkungen des im Dezember 2016 beschlossenen Externer Link: KMK-Papiers "Bildung in der digitalen Welt" werden dieses Jahr sichtbar werden. In Berlin darf man indes bereits auf konkrete Maßnahmen hoffen: Hier hat die erste Landesregierung Externer Link: OER (Open Educational Ressources – Freie Lehr- und Lernmaterialien) im Koalitionsvertrag verankert und möchte eine barrierefrei zugängliche Plattform zur Erarbeitung, Verbreitung und Qualitätskontrolle freier Lehr- und Lernmaterialien entwickeln. Bliebe abzuwarten, ob diesem Beispiel weitere folgen. Apropos: Im Frühjahr wird der vom BMBF geförderte Externer Link: Webauftritt OERinfo online gehen. Die Werkstatt der bpb wird die genannten Veranstaltungen und Entwicklungen begleiten, aber auch mit neuen Themenschwerpunkten starten. In "Lehrende der Zukunft" nehmen wir die Entwicklungen und Veränderungen des Lehrberufs in den Blick, in "New Educonomy" wird es um Bildung als Geschäftsmodell und die Rolle der Wirtschaft im Bildungsbereich gehen. Ein weiteres Thema wird sich um den Bereich "Digitale Zivilgesellschaft" drehen und unter anderem die Frage nach digitaler Partizipation stellen, während "Digital Diversity" Bezug auf schulische und gesellschaftliche Heterogenität nehmen wird. Weil Externer Link: werkstatt.bpb.de seinen Fokus auf Digitale Bildung in der Praxis legt, möchten wir auch in diesem Jahr mit Ihnen in Kontakt bleiben: So stehen beispielsweise im Bereich Interner Link: "Ausprobiert" wieder einige Aktionen an. Den Auftakt bildet das Dossier Lernumgebung "Zwangsarbeit 1939 – 1945" von Januar bis März. Darüber hinaus freuen wir uns, Sie bei den vier geplanten Interner Link: Bildungssalons in unseren Berliner Redaktionsräumen, einer für Mai angedachten Podiumsdiskussion zum Thema "Lehrende der Zukunft" oder dem geplanten SpeedLab in der zweiten Jahreshälfte begrüßen zu dürfen. Und natürlich jederzeit auf unseren Social Media-Kanälen Externer Link: Facebook und Externer Link: Twitter sowie in unserem Newsletter-Verteiler. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gutes Bildungsjahr 2017!
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-07T00:00:00"
"2017-01-31T00:00:00"
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https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/241598/das-digitale-bildungsjahr-2017/
Was sind die wichtigsten Veranstaltungen im Bereich Digitale Bildung im Jahr 2017? Welche bildungspolitischen Fragen werden uns beschäftigen? Und was hat werkstatt.bpb.de in den kommenden Monaten vor? Wir haben es in einer Jahresvorschau für Sie zusa
[ "Jahresvorschau", "Werkstatt", "Digitale Bildung", "Bildungssalon", "Themenschwerpunkte" ]
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Transfer und Transformation | Chinas neue Seidenstraßen | bpb.de
Die Geschichte der "Seidenstraße", jenes weitverzweigten Verkehrsnetzes, das Ostasien mit Europa und Nordafrika verband, reicht bis weit in die Antike zurück. Auf den unter diesem Begriff zusammengefassten Land- und Seerouten wurden nicht nur Güter weitergegeben, sondern auch Religionen, Ideen und technologische Errungenschaften. Eine kleine Auswahl davon wird in diesem Beitrag präsentiert; er umfasst die gesamte chinesische Kaiserzeit (von 221 v. Chr. bis 1911), ein Schwerpunkt liegt aber auf der weltoffenen Dynastie Tang (618–907). Ohne viel voneinander zu wissen, standen spätestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die beiden "Weltmächte" miteinander in Kontakt: das chinesische und das römische Imperium. Allerdings erreichten die Waren und Erkenntnisse ihre Bestimmungsorte in der Regel erst nach mehreren Jahren und zahlreichen Zwischenstationen. Die Reichweite der einzelnen Karawanen blieb nämlich stets begrenzt, da das von unermesslichen Wüsten und Gebirgsketten durchzogene Territorium zwischen den Großreichen zumeist in viele kleinere Staaten und Konföderationen aufgesplittert war. Noch mehr als die lokalen Herrscher und die mit ihnen konkurrierenden Räuberbanden erschwerten die brütende Hitze im Sommer und die klirrende Kälte im Winter ein kontinuierliches Fortkommen. Durch Sandstürme und Schneetreiben war der Transport eine große Herausforderung für die Menschen, aber auch für die ansonsten genügsamen Lasttiere wie Kamele und Esel. Zitat In der Wüste [Taklamakan] gibt es viele Dämonen und heiße Winde. Wer ihnen begegnet, kommt bis auf den letzten Mann um. Man sieht weder einen Vogel in der Luft, noch irgendein Tier auf der Erde. Wenn man angestrengt nach allen Richtungen Ausschau hält, um den Weg für die Durchquerung zu finden, sucht man vergeblich; die einzigen Wegzeiger sind die ausgedörrten Knochen der Toten. Faxian, Foguoji (um 420) Der Begriff "Seidenstraße" ist relativ jungen Datums. Er wird häufig dem Geografen Ferdinand von Richthofen zugeschrieben, der ihn 1877 bei einer vielbeachteten Vortragsveranstaltung in Berlin verwendete. Die Wortschöpfung muss jedoch schon einige Jahrzehnte früher stattgefunden haben: spätestens 1838, als Carl Ritter in seiner vielbändigen "Erdkunde" davon Gebrauch machte. Immerhin kommt aber Richthofen das Verdienst zu, das Konzept eines kohärenten Verkehrsnetzes damit zu verbinden, das zwei Kontinente umfasste und auf große Resonanz in der Öffentlichkeit stieß. Unabhängig von den jeweiligen Machtverhältnissen lässt sich der wichtigste Strang der Landrouten in mehrere aufeinanderfolgende Sektoren untergliedern. Von Ost nach West waren das: das Tal des Wei; der Hexi Korridor; die Wüsten Gobi und Taklamakan; die im Pamirknoten zusammenlaufenden Gebirgszüge; die Turanische Niederung; das iranische Hochland; das Zweistromland; die Syrische Wüste mit Zugängen zum Mittelmeer. Der Ausgangpunkt war häufig Chang'an, über viele Jahrhunderte hinweg die Hauptstadt des chinesischen Kaiserreichs, der Endpunkt, zumindest zeitweilig, Rom. Zur See wurde der Rhythmus der Fernreisen im Wesentlichen durch die Windverhältnisse bestimmt: In den Wintermonaten segelte man von den chinesischen Hafenstädten, begünstigt durch den Nordostmonsun, nach Süden und Westen, bis man schließlich den Persischen Golf und die afrikanische Küste erreichte. Im Sommer fuhr man mit dem Südwestmonsun im Rücken in die umgekehrte Richtung. Tribut und Handel Zu den wichtigsten Verpflichtungen des chinesischen Kaisers gehörte es, die Harmonie zwischen der Menschheit und dem Kosmos aufrechtzuerhalten. Sein Machtanspruch war demnach zumindest formal nicht auf ein fest umrissenes Territorium beschränkt, sondern erstreckte sich im Prinzip auf die ganze zivilisierte Welt: lediglich abgestuft nach dem Ausmaß, in dem man sich der konfuzianisch geprägten Staatsdoktrin unterwarf. In diesem Zusammenhang wurde die Überbringung von Gütern durch die Repräsentanten anderer Länder nicht zuletzt als Bestätigung imperialer Legitimation bewertet. Blieben die Gaben aus, konnte das den Entzug des himmlischen Mandats ankündigen, denn nicht nur Naturkatastrophen, Aufstände und unglückverheißende Vorzeichen kündigten das Ende einer Dynastie an, sondern auch die unzureichende Akzeptanz außerhalb des Reichs der Mitte. Umgekehrt konnte die huldvolle Entgegennahme der Präsente von den fremden Potentaten als Bestätigung ihres eigenen Herrschaftsanspruchs gedeutet werden. Zudem war der "Sohn des Himmels" gehalten, sich mit Gegengaben für den Tribut zu revanchieren: zumeist in Form von Seide, nicht selten aber auch durch die Verleihung wohlklingender, aber wertloser Titel. Zwar wurde bei dieser Art des diplomatischen Verkehrs grundsätzlich Reziprozität erwartet, doch setzte dies nicht zwingend einen kontinuierlichen Zustand der Balance voraus. Ohnehin beschränkte sich der jeweilige Nutzen der Beteiligten keineswegs auf den materiellen Zugewinn. Das war beim privaten grenzüberschreitenden Handel, der trotz strikter Verbote nie völlig unterbunden werden konnte, natürlich anders. Allerdings ist eine differenzierte Beurteilung der häufig diskret getätigten Geschäfte fast unmöglich. Die Kaufleute selbst scheuten nämlich im Allgemeinen die schriftliche Niederlegung ihrer Kenntnisse. Schließlich bestand immer die Gefahr, dass die Aufzeichnungen in falsche Hände gelangen konnten: sei es an die Konkurrenz, sei es an die Steuerbehörde. Es ist also zu erwarten, dass das Handelsvolumen – auch der grenzüberschreitenden Transaktionen – weitaus höher war als dessen Niederschlag in der Literatur. So bleiben als Quellen häufig nur die Schilderungen, die Vertreter einer konfuzianisch geprägten Beamtenschaft festhielten, die keinerlei Interesse an der Vermittlung objektiver Daten hatten, sondern lieber das Stereotyp vom gierigen Händler am untersten Rand der Gesellschaft pflegten. Lebende Präsente Unter den Geschenken für den Kaiser spielten auch einzelne Personen und Gruppen eine wichtige Rolle: darunter Kleinwüchsige, Wahrsager, Gaukler, Musiker, Tänzerinnen und Artisten. Weitaus häufiger als die Verschleppung von Menschen war jedoch die Überbringung von Pflanzen und Tieren. Nashörner und Löwen konnten dann in den kaiserlichen Zoos bestaunt werden, Schoßhündchen und Papageien in den Palastanlagen; Geparden und Greifvögel setzte man bevorzugt bei der Jagd ein, Elefanten und Pferde bei der Kriegsführung. Allerdings waren die Verwendungsmöglichkeiten der Rösser weitaus größer. Vor allem unter der Herrschaft von Kaiser Xuanzong (reg. 712–756) erlangte die Begeisterung für das aus West- und Zentralasien stammende Polospiel und für perfekt inszenierte Dressurakte ein bis dahin ungekanntes Ausmaß. Nicht zuletzt der Herrscher selbst ergötzte sich an Vorstellungen, die ganze Herden von Pferden einbezogen. Bei den Vorführungen bewegten sich die Tiere nach einer festen Choreografie, die dem Rhythmus der oftmals eigens dafür komponierten Musik folgte und auch verschiedene Kunststücke einbeziehen konnte. Besonders eindrucksvoll müssen die Darbietungen bei den Feierlichkeiten gewesen sein, die jährlich aus Anlass des Kaisergeburtstags gegeben wurden, und es verwundert daher nicht, dass die "tanzenden Pferde" zu einem wichtigen Motiv in der Literatur wurden. Auch Löwen wurden mit der Verbreitung des Buddhismus zunehmend besungen und in der Kunst dargestellt. Allerdings hielt sich die Freude über die Ankunft der Raubkatzen zuweilen in Grenzen. Schließlich mussten Unmengen an Fleisch zur Ernährung bereitgestellt werden, und das in einer Epoche, in der zeitweilig die strikte Einhaltung religiös motivierter Speisevorschriften – mit dem vollständigen Verzicht auf tierische Nahrung – propagiert wurde. Zitat Die Araber ersuchten darum, dem Hof einen Löwen zu offerieren. In einem Gesuch (…) wurde hierzu [im Jahre 693] vermerkt: "Die Löwen, die aus fernen Gebieten überbracht werden, ernähren sich ausschließlich von Fleisch. Das ist schwer zu beschaffen und überdies Geldverschwendung. Eure Majestät hat bereits die Aufzucht von Greifvögeln und Hunden untersagt und der Fischerei wie der Jagd ein Ende gesetzt. Wie könnt Ihr selbst ein frugales Leben führen, während den wilden Tieren die besten Speisen vorgesetzt werden?" Sima Guang, Zizhi tongjian (1084) Vor allem aus verschiedenen Regionen Südostasiens – unter anderem aus Vietnam, Sumatra und Java – wurden regelmäßig Sittiche und Papageien nach China gebracht. Der Ausgangspunkt der Tributgesandtschaft und die Herkunftsregion der Vögel müssen jedoch dabei nicht identisch sein, in einigen Fällen ist eher die Weitergabe von Tieren zu vermuten, die ursprünglich von den Molukken stammten. Manche Papageien und Sittiche erregten zudem die Bewunderung berühmter Maler und, wenn sie sprechen konnten, die Aufmerksamkeit namhafter Dichter. Gelegentlich vermochten die Vögel sogar das Herz des Kaisers zu bewegen. So sollen zwei aus dem Königreich Linyi im südöstlichen Küstenbereich Vietnams präsentierte Papageien im Jahre 631 so sehr über den kühlen Winter in der Hauptstadt geklagt haben, dass der Herrscher sie schließlich freiließ. Zitat [Die beiden Vögel] waren verständig, klug und geschickt in ihren Antworten. Kaiser Taizong [reg. 627–649] hatte Mitleid mit ihnen und erteilte den Auftrag, sie in der gewohnten Umgebung wieder auszusetzen. (…) Sie hatten [nämlich] bekundet, dass sie unter Kälte litten und gerne in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Liu Xu, Jiu Tangshu (945) Seide Das mit Abstand am häufigsten erwähnte kaiserliche Präsent war über viele Jahrhunderte hinweg die Seide. Unter diesem Begriff werden im Allgemeinen Gewebe zusammengefasst, deren Fäden aus den Drüsensekreten hergestellt werden, die beim Verpuppen verschiedener Schmetterlingsarten entstehen. Eine besonders hochwertige Qualität garantiert dabei der Seidenspinner, der sich im Raupenstadium bevorzugt von den Blättern des Weißen Maulbeerbaums ernährt und in China lange vor der Gründung des Kaiserreichs domestiziert wurde. Bis die Textilien auf dem Webstuhl Gestalt annahmen, waren mehrere Arbeitsschritte nötig: angefangen mit dem Kochen der Kokons (zum Abtöten der Puppen) über das Haspeln (dem Zusammenführen von Fäden zu dickeren Strängen) bis hin zum Entbasten (der Befreiung vom Seidenleim). Die Palette an Stoffen schloss unter anderem Samit, Gaze, Krepp, Damast und Brokat ein; Muster wurden vor allem durch die Verwendung unterschiedlich eingefärbter Fäden sowie durch nach dem Weben aufgebrachte Drucke oder Stickereien erzielt. Für den Fernhandel war das Material schon deshalb hervorragend geeignet, weil es vergleichsweise leicht, einfach zu verpacken und gut zu transportieren war; außerdem ließ es sich als Währung nutzen. In welchem Umfang die Moden im Rom der frühen Kaiserzeit von der Verwendung der Seide geprägt wurden, bezeugen nicht zuletzt die Bemerkungen namhafter Denker. Allerdings gab die Transparenz des Stoffes immer wieder Anlass zu kritischen Kommentaren. Zitat Ich sehe seidene Gewänder – wenn sie die Bezeichnung Gewänder überhaupt verdienen –, an denen nichts ist, womit man entweder den Körper oder überhaupt die Scham schützen kann. Wenn eine Frau sie anlegt, wird sie mit gutem Gewissen behaupten, sie sei nicht nackt. Diese [Seidengewänder] werden für einen riesigen Betrag von Völkern herbeigeschafft, die für ihren Handel nicht bekannt sind: [nur] damit unsere Frauen der Öffentlichkeit genauso viel von sich zu sehen geben wie den Ehebrechern im Schlafzimmer. Lucius Annaeus Seneca, De beneficiis (um 60) Manche Historiker machen die große Nachfrage nach dem teuren Luxusgut für den wirtschaftlichen Niedergang – oder gar für den Zusammenbruch – des Römischen Reiches verantwortlich. Dass diese These nicht haltbar ist, zeigt sich unter anderem daran, dass das Gewebe auch dann noch einen entsprechenden Absatz fand, als Orient und Okzident bereits durch die Hinwendung zu Islam und Christentum gekennzeichnet waren. So soll der abbasidische Kalif Harun ar-Raschid bei seinem Tod im Jahre 809 zahllose Gewänder sowie Unmengen von Kissen, Vorhängen und Teppichen aus Seide hinterlassen haben. Pilger und Provokateure Die Verbreitung von Religionen erfolgte fast durchweg in östlicher Richtung. Während die Mehrzahl unter ihnen – Zoroastrismus, Nestorianismus, Manichäismus, Judentum und Islam – in China in erster Linie von Zuwanderern aus Zentralasien gepflegt wurde, fand der Buddhismus seine Anhänger allmählich in allen Regionen des Landes und in allen sozialen Schichten. Zeitweilig dominierte er sogar die Politik, wurde aber trotz massiver Unterstützung durch das Kaiserhaus nicht zu einem für die gesamte Bevölkerung verbindlichen Staatskult. Zumeist hatte die Bevölkerungsmehrheit ohnehin keinen Grund, sich ostentativ zu einer bestimmten Religion zu bekennen. Lediglich Priester, Mönche und Nonnen machten einen derartigen Ausschließlichkeitsanspruch für sich geltend. Jenseits der Tempel- und Klostermauern merkte man davon jedoch wenig; denn die Menschen machten die Konsultation eines religiösen Spezialisten im Falle einer Krankheit oder Lebenskrise in erster Linie von dessen Fähigkeiten als Heiler oder Exorzist abhängig, nicht von seiner Qualifikation als Exeget und Dogmatiker. Dass sich der Buddhismus in China festsetzen und zeitweilig zur dominanten religiösen Strömung werden konnte, war überraschend. Viele Wesenszüge waren kaum mit den Normen vereinbar, die bis dahin Weltbild und Ritus bestimmten. Für den chinesischen Hof muss er im Grunde eine Provokation gewesen sein: Der individuelle Rückzug in klösterliche Abgeschiedenheit und der um sich greifende Reliquienkult unterminierten die soziale Dominanz der Familie und den Ahnenkult. Daneben schwächte der Bau von Pagoden, die weiter in die Höhe ragten als die Palastanlagen, genauso die herausgehobene Stellung des Kaisers wie die Errichtung monumentaler Plastiken. Dazu gab es in China eigentlich keine profanen Gegenstücke. Allerdings war zuvor auch in Nordindien, dem Heimatland des religiösen Lehrers, geraume Zeit vergangen, bevor sich seine Anhänger dazu entschlossen, anthropomorphe Darstellungen in den Kult einzubeziehen. Und es dauerte noch länger, bis Werke von Rang daraus hervorgingen. Eine wichtige Vermittlungsrolle spielte in China eine Kunstrichtung, die nach ihrem einstigen Zentrum in Gandhara benannt ist: einer Region, die als archäologische Einheit im Norden Pakistans und im Osten Afghanistans verortet wird. Von dort aus wurden Elemente weitergegeben, die auf westliche Vorbilder zurückzuführen sind und Abwandlungen von späthellenistischen, parthischen und römischen Gestaltungsprinzipien dokumentieren. Bei den figürlichen Darstellungen zeigt sich dies insbesondere an den Proportionen, dem Faltenwurf der Kleidung und einem Profil, bei dem gewelltes Haar, offene Augen und ein deutlich konturierter Mund auffallen. Diese Komponenten wurden in den folgenden Jahrhunderten bis weit nach Osten verbreitet, wo sie durch die Begegnung mit chinesischen Traditionen weiter modifiziert wurden. Sieht man einmal von Plastiken, Skulpturen und Reliefs ab, dann ist die religiöse Kunst vor allem durch Wandmalereien repräsentiert, die das transzendente Reich des Buddha in einem physisch fassbaren Raum visualisieren sollten. Vor allem die Klosterkomplexe in den Randzonen von Gobi und Taklamakan vermitteln bis in die Gegenwart einen lebendigen Eindruck von antiker und mittelalterlicher Frömmigkeit. Alleine in den knapp 500 erhaltenen "Grotten" von Dunhuang (Provinz Gansu) summiert sich die bemalte Fläche auf rund 45000 Quadratmeter. Die dort anzutreffenden Darstellungen sind aber nicht nur als Zeugnisse tiefempfundener Religiosität von Bedeutung. Szenen aus dem Alltagsleben – darunter Märkte, Karawanen und Musikanten – ermöglichen überdies die Rekonstruktion von sozialen Bedingungen und historischen Zusammenhängen. Lange Zeit waren die Glaubensinhalte, die die verschiedenen Schulen und Lehrmeinungen den Anhängern der neuen Religion vermittelten, relativ inkohärent. Daher hielten es die Klöster nicht zuletzt zur Legitimierung ihrer eigenen Tradition für sinnvoll, Mönche zu jenen Kultstätten Zentral- und Südasiens zu senden, denen man eine möglichst unverfälschte Überlieferung unterstellte. Vor allem galt es, eine möglichst große Zahl an sakralen Schriften – und wohl auch die eine oder andere Reliquie – mitzubringen. Zitat Ich habe diese weite Reise unternommen, um nach dem Gesetz [des Buddha] zu suchen. Steh mir bei mit Deiner ehrfurchtgebietenden Kraft, damit ich [heil] in meine Heimat zurückkehren werde. Faxian, Foguoji (um 420) Die bekanntesten Pilger waren Faxian und Xuanzang, die 399 und 629 nach Westen aufbrachen. Ihnen verdanken wir umfangreiche Aufzeichnungen, die nicht nur theologische Spitzfindigkeiten enthalten, sondern auch Beschreibungen von Routen, Sehenswürdigkeiten und örtlichen Gepflogenheiten im Einzugsbereich der Seidenstraße; lange bevor von Westen kommende Reisende – wie der Brabanter Wilhelm von Rubruk (ab 1253), der Venezianer Marco Polo (ab 1271) und der Maghrebiner Ibn Battūta (ab 1332) – ihre Eindrücke festhielten. Papier und Druckkunst Erleichtert wurde der kulturelle Austausch durch die Gründung des mongolischen Weltreichs im 13. Jahrhundert. Dessen Herrschaftsanspruch reichte zeitweilig vom Chinesischen Meer bis zur Ostsee und erlaubte den Händlern, Missionaren und Diplomaten eine bis dahin unbekannte Mobilität. Das hatte – zumindest indirekt – Auswirkungen auf die Verbreitung von Erfindungen, die im "Reich der Mitte" schon lange zuvor ihren Ursprung hatten. Auch wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig war, bedurfte es für die überregionale Verbreitung von Nachrichten eines Mediums. Dies hatte einige Voraussetzungen zu erfüllen, vor allem mit Blick auf die Dauerhaftigkeit des Materials, die Versorgung mit den nötigen Rohstoffen, die Kosten der Produktion und die Einfachheit des Transports. Holzleisten waren für die Beschriftung auf Dauer zu sperrig, Seide war im Allgemeinen zu teuer. Die Historiografie will nun, dass der als Direktor der kaiserlichen Werkstätten amtierende Eunuch Cai Lun im Jahre 105 n. Chr. erstmals ein Verfahren zur Papiererzeugung präsentierte. Die exakte Datierung der Erfindung ist indes nicht richtig. Vermutlich wurde damals bei Hofe lediglich eine ausgeklügeltere Herstellungsmethode vorgestellt; denn aus Pflanzenfasern – insbesondere Hanf – produziertes Papier ist durch archäologische Funde schon aus vorchristlicher Zeit belegt. Zwar diente dieses zunächst wohl primär als Verpackungsmaterial, doch lässt sich eine Verwendung als Informationsträger schon im 1. Jahrhundert v. Chr. nachweisen. Immerhin ist es aber wohl nicht zuletzt der Experimentierfreude und der Umtriebigkeit Cai Luns zu verdanken, dass das Material sich ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. wachsender Beliebtheit erfreute. Danach wurde das Verfahren im Grunde nur noch geringfügig verfeinert und ausdifferenziert. Neben Sorten, bei denen der Brei, aus dem die Bögen lagenweise geschöpft wurden, im Wesentlichen aus den Fasern von Maulbeerbaum oder Bambus bestand, gab es auch Mischungen, denen zerkleinerte Stoffreste beigemengt waren. So verfügte man über einen Schriftträger, der nicht nur leicht, haltbar, saugfähig und preiswert war, sondern der sich überdies problemlos rollen, falten und zuschneiden ließ. Aus der Perspektive der Länder, in denen sich das Papier im Lauf der Zeit verbreitete, lassen sich im Allgemeinen drei aufeinanderfolgende Stadien festmachen: die erste Begegnung mit entsprechenden Schriftstücken; die gezielte Einfuhr von Bögen; sowie die Produktion in dafür errichteten Papiermühlen. In der islamischen Welt entstanden ab dem 10. Jahrhundert mehrere bedeutende Manufakturen, die jeweils auch eine ansprechende Exportqualität produzierten: darunter die damals weithin gerühmte charta damascena. Spätestens unter der Herrschaft der Almoraviden gelangte das Know-how schließlich von Nordafrika aus auf die spanische Halbinsel. So ist aus dem Jahre 1056 im unweit von Valencia gelegenen Xàtiva erstmals eine Papiermühle belegt, die 20 Mitarbeiter beschäftigt haben soll. Vermutlich über Sizilien erreichte das Papier Süditalien, wo unter den weltoffenen Staufern so manche Errungenschaft aus der arabischen Welt genutzt wurde, auch wenn Kaiser Friedrich II. (reg. 1220–1250) wichtige Dokumente weiterhin auf Pergament festhalten ließ. Lange Zeit war man daher auf Importe angewiesen, und die erste bedeutsame Mühle entstand erst 1276 in Mittelitalien: in dem Städtchen Fabriano, das auf halbem Wege zwischen Ancona und Perugia liegt. Darüber hinaus könnte auch Byzanz eine Vermittlerrolle gespielt haben, doch sind die Anhaltspunkte dafür eher vage. Keinen Zweifel gibt es hingegen daran, dass die erste Papiermanufaktur nördlich der Alpen 1390 von dem Nürnberger Ratsherren und Großunternehmer Ulman Strohmer an der Pegnitz gegründet wurde, wobei er sich bei der Planung und Errichtung nicht zuletzt auf die Hilfe italienischer Mitarbeiter verließ. Der Name, den das Unternehmen trug, war im Übrigen "Hadermühle" und spielte auf die Lumpen an, die den wichtigsten Werkstoff bei der Produktion bildeten. Anders als in China, wo in erster Linie Baum- und Bambusfasern verwendet wurden, setzte sich die Verarbeitung von Holzpulpe in Europa erst an der Schwelle zum 19. Jahrhundert durch. Die Drucktechnik hatte im Reich der Mitte mindestens drei Wurzeln: Steinstelen, von denen sich Abreibungen anfertigen ließen; Siegel, die zur Legitimation von Personen und Institutionen dienten; sowie Stempel, mit deren Hilfe einfache Bildmotive und Amulette in großer Stückzahl vervielfältigt wurden. Allerdings wurden größere Auflagen längerer Texte erst durch den Einsatz von Holzstöcken möglich, in die die Vorlage als seitenverkehrtes Relief eingeschnitten war. Ab dem 7. Jahrhundert wurden auf diese Weise zunächst religiöse Werke, Erörterungen und Enzyklopädien hergestellt und ab dem 11. Jahrhundert ein neues, aber bald in riesiger Stückzahl benötigtes Produkt: der Geldschein. Ebenfalls während der Song-Zeit (960–1279) kam die Verwendung beweglicher Lettern auf, die zunächst aus Keramik, dann aus Holz und schließlich aus Kupfer gefertigt wurden. Zu einer vollständigen Ablösung des Blockdrucks kam es dadurch jedoch nicht. Zitat Während der Regierungsdevise qingli [1041–1051] entwickelte Bi Sheng, ein Mann aus dem Volke, den Druck mit beweglichen Lettern. Für dieses Verfahren ritzte er jeweils ein Zeichen mit großer Präzision in eine Type aus Ton, die anschließend im Feuer gebrannt und gehärtet wurde. (…) Um für den Fall gewappnet zu sein, dass sich ein Zeichen auf einem Blatt wiederholte, fertigte er von jedem mehrere Lettern an, von besonders geläufigen Exemplaren sogar über zwanzig. Shen Gua, Mengxi bitan (1086) Nach Westen wurde die Schwarze Kunst in großem Stil erst unter der Mongolenherrschaft vermittelt, wobei den kulturbeflissenen Uiguren, die bis zum 13. Jahrhundert weite Teile des heutigen Xinjiang kontrollierten, eine entscheidende Rolle zukam. Die Mehrzahl der in Zentralasien verbreiteten Drucke hatte zunächst vor allem buddhistische Inhalte und war in sogdischer Schrift verfasst. In Westasien und Nordafrika sollten hingegen noch Jahrhunderte vergehen, bis umfangreiche und komplexe Texte wie der Koran in großen Auflagen hergestellt wurden. Das mag damit zusammenhängen, dass man das unmittelbare Wort Gottes nicht mithilfe eines profanen Mediums verbreiten wollte, doch sollte man die besondere Bedeutung der mündlichen Überlieferung, die starke Position der Schreiber und Rezitatoren sowie den Wunsch nach Exklusivität nicht unterschätzen. Ganz anders verlief die Entwicklung in Mitteleuropa, wo der Buchdruck, angefangen mit der Veröffentlichung einer lateinischen Ausgabe der Bibel im Jahre 1454, mit rasender Geschwindigkeit um sich griff. Dabei waren die Voraussetzungen – die Verwendung von Stempeln und beschnitzten Holzplatten bei der Gestaltung von Einzelblättern und Textilien – durchaus ähnlich. War es folglich ein einsamer Geniestreich, als Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, damit begann, ganze Bücher mit Hilfe beweglicher Lettern zu produzieren? Einsam bestimmt nicht; denn für einen derart aufwendigen Herstellungsprozess benötigte man zweifellos ein größeres Team von Spezialisten – und einen aufmerksamen Geldgeber. Dennoch kann man wohl davon ausgehen, dass es letztlich einer Person bedurfte, die die wichtigsten Kenntnisse zusammenführte: darunter das Wissen um eine haltbare Legierung bei der Produktion der Metalllettern, die Erfahrung bei der Herstellung von Pressen und das Geschick bei der Entwicklung einer geeigneten Farbkonsistenz. Ob die Grundidee nur ihm und seinen Helfern geschuldet war, oder ob dazu nicht doch die eine oder andere indirekte Anregung beitrug, die ihren Ursprung in weiter Ferne hatte, lässt sich heute nicht mehr eindeutig klären. Es wäre aber überraschend, wenn der Buchdruck völlig unabhängig von dem in den vorangegangenen Jahrhunderten nicht immer ganz freiwilligen Kontakt mit den Mongolen entstand, deren Weltreich zeitweilig auch das heutige China einschloss. Wechselwirkungen Die richtungweisende Eigenschaft des Magneteisensteins war in China bereits seit vorchristlicher Zeit bekannt, sie wurde zunächst wohl nur von Geomanten verwendet, um geeignete Plätze für die Anlage von Gräbern zu bestimmen. Erst im 11. Jahrhundert ist mit einiger Sicherheit die Verwendung eines davon abgeleiteten Instruments zur Orientierung auf See anzusetzen. Zumindest erregte sie in einer auf das frühe 12. Jahrhundert zurückgehenden Beschreibung, die sich auf die Region um Kanton bezieht, keinerlei Aufsehen mehr. Zitat Mit den küstennahen Gewässern sind die Lotsen vertraut. Bei Nacht orientieren sie sich an den Sternen, bei Tag an der Sonne. Bei schlechtem Wetter behelfen sie sich jedoch mit der südweisenden Nadel. Außerdem verwenden sie noch ein rund dreißig Meter langes Schlepptau mit einem Haken am Ende; denn [auch] durch das Aussehen und den Geruch der Proben, die damit dem Meeresgrund entnommen werden, können die Lotsen die Position bestimmen. Zhu Yu, Pingzhou ketan (1119) Für die Navigation wurde damals wahrscheinlich bereits eine durch das Thermoremanenzverfahren magnetisierte Metallnadel eingesetzt, die – durch Kork oder Holz an der Oberfläche gehalten – auf einer Flüssigkeit schwamm. Von China aus gelangte das Instrument im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts in die arabisch-persische Welt und in das Abendland. In Europa wurde die Erfindung rasch weiterentwickelt, und mit der Kombination von Magnetnadel und Windrose entstand die Bussole: ein Trockenkompass, der schließlich durch die westlichen Seemächte in der Gegenrichtung verbreitet wurde und um die Mitte des 16. Jahrhunderts als Neuerung im Reich der Mitte auftauchte. Nach dem Zerfall der mongolischen Herrschaft im 14. Jahrhundert waren die Landrouten zwischen Orient und Okzident zunehmend unattraktiv geworden: vor allem wegen des rapide ansteigenden Sicherheitsrisikos, vielleicht auch wegen der Pest, die sich entlang der Verkehrswege ausbreitete. Zudem sorgte die Einrichtung regelmäßiger Schifffahrtsverbindungen zwischen den Häfen Europas und Asiens für eine räumliche Verlagerung des Fernhandels und der damit verbundenen Kontakte. Daher entschieden sich die christlichen Missionare im 17. Jahrhundert fast ausschließlich für den Seeweg. Vor allem die Jesuiten verfügten über einen weiten Bildungshorizont, der neben theologischer und philosophischer Kompetenz auf ausgezeichnete Kenntnisse der exakten Wissenschaften gründete und einen souveränen Umgang mit chinesischer Sprache und Schrift einschloss. Daher veröffentlichten sie in der Diaspora nicht nur fromme Traktate, sondern wirkten überdies als Verfasser und Übersetzer maßgeblicher Werke, die sich dem aktuellen Forschungsstand von Mathematik, Geografie und Medizin widmeten und vor allem die einheimischen Eliten ansprechen sollten. Zudem erhielt eine ganze Reihe von ihnen hohe Posten in der kaiserlichen Administration: unter anderem als Leiter des wichtigen Kalenderamts. Andere profilierten sich zeitweilig als Maler bei Hofe, hinterließen aber langfristig nur wenige Spuren. Umgekehrt vermittelten die Missionare aber ausführliche Informationen über die chinesische Handwerkskunst nach Europa und lösten damit eine Welle der Begeisterung für Chinoiserien aus. Ganze Schiffsladungen voll mit Porzellan, Lackarbeiten und anderen Exotika erreichten in der Folgezeit Europa und erhöhten den sozialen Status ihrer neuen Besitzer. Die Landrouten der Seidenstraße gelangten erst im im Rahmen der kolonialen Expansion im 19. Jahrhundert wieder verstärkt in den Fokus der politischen Wahrnehmung: Russland expandierte nach Süden und erschloss die islamisch geprägten Gebiete zwischen dem Kaspischen Meer und dem Pamir-Gebirge. Großbritannien wandte sich von Indien aus den nördlich des Karakorum gelegenen Steppen- und Wüstenzonen zu. China gliederte schließlich weite Teile der nordwestlichen Einflusszone zwischen Altai und Kunlun wieder fest in das Reich ein. An dem "Great Game" waren durchaus auch Wissenschaftler beteiligt, von deren Beobachtungen man sich nicht zuletzt politisch und ökonomisch verwertbare Erkenntnisse versprach. Zunächst kam es dabei oft eher zufällig zur Entdeckung antiker Stätten und zu Gelegenheitskäufen von Antiquitäten, die eine bis dahin ungeahnte kulturelle Blüte in der Region dokumentierten. Erst kurz vor der Jahrhundertwende erweckten vor allem vielsprachig verfasste Handschriften und buddhistische Wandmalereien das philologische und kunstwissenschaftliche Interesse europäischer Forscher und Abenteurer: darunter Sven Hedin (1865–1952), Aurel Stein (1862–1943), Paul Pelliot (1878–1945) und Albert von Le Coq (1860–1930), die sich nunmehr in den Nordwesten des heutigen China begaben. Archäologische Kompetenz, die für belastbare Analysen vor Ort zwingend nötig gewesen wäre, fehlte jedoch bei den meisten Expeditionen in die Randzonen von Gobi und Taklamakan. Darüber hinaus war die Selbsteinschätzung der beteiligten Forscher zuweilen so realitätsfern, dass manche Ausgrabung mehr Zerstörung bewirkte als Erkenntnisgewinn. Das ist einer der Gründe, warum die chinesischen Regierungen diese Aktivitäten nach dem Ende der Kaiserzeit (1911) bevorzugt als imperialistische Raubzüge betrachteten. Dem setzte Xi Jinping relativ rasch nach der Machtübernahme 2012 ein völlig anderes geopolitisches Modell entgegen, das – mit China als Zentrum – den an der einstigen Seidenstraße liegenden Staaten Frieden und wirtschaftliche Blüte verhieß. Heute geht der Anspruch weit darüber hinaus. Der Beitrag fußt in weiten Teilen auf Textpassagen in Thomas O. Höllmann, China und die Seidenstraße. Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart, München 2022. Dort finden sich auch ausführliche Literaturverweise; hier sind hingegen lediglich die Namen der Autoren sowie die Titel und die Entstehungsdaten wörtlich zitierter Werke vermerkt.
Article
Höllmann, Thomas O.
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-10-19T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/chinas-neue-seidenstrassen-2022/514462/transfer-und-transformation/
Die Geschichte der "Seidenstraße" reicht bis in die Antike zurück. Auf den Land-und Seerouten wurden nicht nur Güter weitergegeben, sondern auch Religionen, Ideen und technologische Errungenschaften.
[ "China", "Seidenstraße", "Kaiserreich" ]
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Graue Wölfe – die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland | Rechtsextremismus | bpb.de
Sie nennen sich selbst "Ülkücü"-Anhänger – ins Deutsche übertragen bedeutet das Wort "Ülkücü" so viel wie "Idealismus". Ihr Symbol ist der "Graue Wolf" (Bozkurt), der aus einem alttürkischen Mythos stammt und Stärke und Aggressivität der Bewegung symbolisieren soll. Sie propagieren einen „ethnischen Nationalismus“, ihr großes Ideal ist "Turan", ein großtürkisches Reich, sowie die Eliminierung der politischen Gegner. Die Rede ist von der rechtsextremen, türkisch-nationalistischen Bewegung, die seit Jahrzehnten auch in Deutschland existiert. Sie ist unter anderem in hunderten lokalen Vereinen organisiert sowie in Dachverbänden wie Türk Federasyon, ATIB oder ATB. Die sogenannten "Grauen Wölfe" überhöhen die türkische Nation und betonen angeblich islamische Werte. Sie hetzen gegen tatsächliche oder vermeintliche Linke und alle Nicht-Türken – wozu sie auch Armenier oder Kurden zählen, selbst wenn diese die türkische Staatsbürgerschaft besitzen. Sie tragen Konflikte aus dem Mutterland auch in Deutschland aus. Mit schätzungsweise mehr als 18.000 Mitgliedern dürfte sie sie die stärkste rechtsextreme Organisation hierzulande sein – zahlenmäßig mehr als dreimal so groß wie aktuell die NPD. Vorläufer und Ursprung der "Grauen Wölfe" Die ideologische und geschichtliche Basis des türkischen Rechtsextremismus – und damit auch der Grauen Wölfe – bilden der türkische Nationalismus und Turanismus, der bereits im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts entstand. Deren Vordenker sind unter anderem Ziya Gökalp, Hüseyin Nihal Atsız, Fethi Tevetoğlu und Reha Oğuz Türkkan. Die Ideologie des Panturkismus und Turanismus behauptet die rassistische, historische und moralische Einheit und Überlegenheit aller Turkvölker, von Afghanistan/China bis zum Südostzipfel des Balkans. Propagiert wurde und wird die Vereinigung dieser Völker in einem großtürkischen Reich unter türkischer Vorherrschaft. Die turanistische bzw. panturkistische Idee schließt jede Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten und Religionen von vornherein aus. In der Schlussphase des Osmanischen Reiches hatte die sogenannte Interner Link: jungtürkische Regierung den Panturkismus und Turanismus zur Staatsdoktrin erhoben. Sie versuchte – erfolglos –, den bereits zerfallenden Vielvölkerstaat auf rein türkisch-nationalistischer und islamischer Grundlage wieder aufzubauen, was sich unter anderem in entfesselter Gewalt gegen die armenische Bevölkerungsgruppe und schließlich dem Interner Link: Genozid niederschlug. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges erstarkten auch in der Türkei faschistische Bewegungen. Kurz nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 an die Macht kamen, begann eine neue Phase der deutsch-türkischen Beziehungen. Obwohl die Türkei offiziell neutral blieb, verstärkte sie die Beziehungen zu Deutschland immer mehr. Das Hitler-Regime seinerseits setzte die Politik des "Drangs nach Osten" fort, die Kaiser Wilhelm II. durch den Bau der Bagdad-Bahn (ab 1903) begonnen hatte. Die Nazis betrachteten die Türkei, den Iran und die arabischen Länder, die sie eng an sich zu binden suchten, als reiche Rohstoffquellen und ideologische Verbündete sowohl gegen die Westmächte als auch gegen das bolschewistische Russland unter Stalin. Beispielsweise gehörte die Türkei ab den 1930er Jahren zu einem der wichtigsten Lieferanten von Chromerz, das für die deutsche Kriegsindustrie wichtig war. Unter Franz von Papen, im Nationalsozialismus Reichsbotschafter in der Türkei, förderten die Nazis faschistische türkische Bewegungen. Sie zeigten großes Interesse an den turanistischen Kreisen, die ihrerseits von der NS-Ideologie begeistert waren. Ziel der Zusammenarbeit mit turanistischen Kreisen war, die Türkei in der Balkan- und Nahost-Politik an die Seite Hitler-Deutschlands zu bringen. Mit Unterstützung Nazi-Deutschlands blühte ab den 1930er Jahren der Turanismus erneut auf, deren Anhänger insbesondere in der Vereinigung Türk Ocağı (Heim der Türken) organisiert waren. Bereits 1934 kam es in der Türkei auch zu Interner Link: Pogromen gegen Juden. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges tauchte erstmals Alparslan Türkeş auf der politischen Bühne auf, der spätere Anführer der "Grauen Wölfe". Trotz seines damals jungen Alters (Jahrgang 1917) spielte der Hitler-Sympathisant in der turanistischen Bewegung bereits eine führende Rolle. 1944, als der Sieg der Alliierten in Sichtweite rückte, ließ die türkische Regierung 23 führende politische Persönlichkeiten des Turkismus und Turanismus verhaften und verurteilen, unter ihnen Türkeş. Türkeş und seine Gesinnungsfreunde wurden in erster Instanz im sogenannten "Rassismus-Turanismus-Verfahren" zu unterschiedlich langen Freiheitsstrafen verurteilt – er selbst bekam zehn Jahre –, wurde später aber freigesprochen. Als Grund für die Freilassung der Turanisten gilt der beginnende Kalte Krieg. Aus Sorge vor einem wachsenden Einfluss der Sowjetunion und des Kommunismus wandte sich die Türkei in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre mehr und mehr dem Westen zu, Linke und Kommunisten wurden stärker verfolgt als Turkisten und Ultranationalisten. Das war historisch betrachtet der Beginn einer Neuformierung des türkischen Rechtsextremismus'. Die "Ülkücü"-Bewegung in der Türkei Innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung werden gegenwärtig zwei Hauptströmungen unterschieden: jene um die "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP – Milliyetçi Hareket Partisi) sowie jene um die "Große Einheitspartei" (BBP – Büyük Birlik Partisi). Beide Strömungen sind in der Türkei selbst wie auch in Europa jeweils durch zwei Parteien, eigene Massenorganisationen und zahlreiche Vereine und Moscheegemeinden vertreten. Die MHP ist eine extrem nationalistische Partei, die zugleich auch das größte Sammelbecken der rechtsextremistischen Bewegung in der Türkei darstellt. Ihre Jugendorganisation "Ülkücü Gençlik" (Idealistische Jugend) ist auch in Deutschland aktiv. Die MHP als faschistische Massen- und Aktionspartei entstand in den 1960er Jahren aus ihrer Vorgängerpartei, der Republikanischen Nationalen Bauernpartei (CKMP - Cumhuriyetçi Köylü Millet Partisi). Am 27. Mai 1960 stürzte eine aus 38 Offizieren bestehende Gruppe "Komitee der Nationalen Einheit" die national-konservative Regierung der Demokratischen Partei (DP) unter Adnan Menderes, die 1950 aus den ersten freien Wahlen in der Türkei hervorgegangen war. Menderes und zwei weitere Führungspersönlichkeiten der Regierung wurden im Zuge des Putsches hingerichtet und die DP verboten. Zu den Putschisten gehörte auch Alparslan Türkeş, der insbesondere seine turanistischen Ideen durchsetzen wollte. Er wurde jedoch bald aus dem Komitee ausgeschlossen und als Militärattaché an die türkische Botschaft Neu-Delhi versetzt. 1964 schied Türkeş aus dem Militärdienst aus und trat am 31. März 1964 der CKMP bei. Er und seine Anhängerschaft gewannen in der Partei schnell an Einfluss und setzten 1969 die Umbenennung in Nationalistische Bewegungspartei (MHP) durch. Die Fahne der Partei wurde in drei auf den Rücken gekehrte Halbmonde auf rotem Hintergrund geändert. Das Zeichen der drei Halbmonde – der offiziellen Flagge des einst mächtigen Osmanischen Reiches – sollte dazu dienen, weitere nationalkonservative und islamisch orientierte Wählerschichten anzusprechen. In den 1960er und 1970er Jahren radikalisierte sich die Bewegung. Türkeş hatte eine Strategie der sogenannten drei Stufen ausgegeben und in der MHP-nahen Zeitung Devlet (Der Staat) beschrieben: Die Eroberung der Straßen, die Eroberung des Staates und die Eroberung des Parlaments. So wurden unter dem Namen "Graue Wölfe" militante Jugendgruppen gebildet und paramilitärische Kommandos aufgebaut, die mit Terror und Gewalt für die Eroberung der Straße zuständig sein sollten. Diese Gruppen verübten in den 1960er, 1970er, 1980er und 1990er Jahren in der Türkei zahlreiche, teils paramilitärische Mordanschläge gegen Sozialistinnen und Sozialisten, Gewerkschafter, Studentenanführer, fortschrittliche Lehrkräfte und Wissenschaftler, Journalisten oder kurdische Politikerinnen und Politiker, weiterhin Pogrome gegen Aleviten, etwa in Kahramanmaraş, Çorum, Sivas, Gazi, Ümraniye. Auch Mehmet Ali Ağca, der 1981 auf dem Petersplatz in Rom das Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübte, war Anhänger der Grauen Wölfe. Ihr Ziel bestand darin, in der Türkei einen Bürgerkriegszustand zu schaffen, der den Ruf nach dem "starken Mann" laut werden lassen und letztendlich die MHP an die Macht bringen sollte. In jener Zeit verzeichnete die MHP auch parlamentarische Erfolge. Bei Wahlen errang sie bis zu 6,8 Prozent der Wählerstimmen und beteiligte sich in den 1970er Jahren an zwei Mitte-Rechts-Regierungen der sogenannten "Nationalistischen Front". Die MHP verstand sich stets als militanter und radikaler Flügel des Staatsnationalismus'. Nach einem weiteren Militärputsch am 12. September 1980 wurden zunächst alle Parteien verboten und 1982 eine neue Verfassung ausgearbeitet, die u.a. eine Zehn-Prozent-Sperrklausel bei den Parlamentswahlen in Kraft setzte. Die MHP reagierte auf das Verbot 1983 mit Neugründung unter anderem Namen "Partei der Nationalistischen Arbeit" (MÇP – Milliyetçi Çalışma Partisi). Mit der Aufhebung des allgemeinen Parteienverbots 1992 nahm sie wieder den Namen MHP an. 1993 spaltete sich von der MHP die "Große Einheitspartei" (BBP – Büyük Birlik Partisi) als extrem nationalistische und zugleich stark am Islam ausgerichtete Partei ab. Sie verfügt über eine Massenjugendorganisation namens "Alperen Ocakları", die ebenso eine radikale Linie vertritt. Die Morde am armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 sowie an christlichen Geistlichen in Trabzon und Malatya werden dem Spektrum der BBP zugeordnet. Der Führer der BBP war Muhsin Yazıcıoğlu, langjähriger Berater und Weggefährte von Türkeş. Nach dem Militärputsch 1980 saß er mehrere Jahre in Gefängnishaft, bevor er die BBP gründete. Im März 2009 kam er bei einem ungeklärten Hubschrauberabsturz ums Leben. Der Konflikt um Minderheitenrechte für die Kurden und die Auseinandersetzung mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trugen in den 1990er Jahren dazu bei, dass sich der – ohnehin starke – nationalistische Ton der gesamten türkischen Politik weiter verschärfte. Insbesondere nach der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan erreichte die nationalistische Stimmung 1998 einen Höhepunkt; die MHP übernahm in dieser Zeit eine wichtige Schlüsselrolle in der türkischen Politik. Nach dem Tod ihres Führers Türkeş 1997 entschied sich die MHP unter dem neuen Vorsitzenden Devlet Bahçeli für ein etwas moderateres Auftreten, Straßengewalt wurde von der Partei nun nicht mehr offen propagiert. So vergrößerte die MHP über die Jahre ihre Anhängerschaft weiter, überwand bei den Parlamentswahlen im November 2015 mit 11,9 Prozent die im internationalen Vergleich sehr hohe Sperrklausel von zehn Prozent und ist, nach anfänglichen Abgrenzungen, gegenwärtig wichtiger strategischer Verbündeter der AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan. Im Zuge dieser äußeren Mäßigung und der Annäherung an die AKP-Regierung zeigten sich innerhalb der MHP neue Spaltungstendenzen. Beispielsweise versucht die inzwischen aus der MHP ausgeschlossene Meral Akşener, die beim Verfassungsreferendum 2017 ein Referendum gegen Präsident Erdoğan mobilisierte, gemeinsam mit dem ehemaligen Vize-Vorsitzenden der MHP, Ümit Özdağ, eine neue nationalistische und rechtspopulistische Partei zu gründen. Die Ideologie der Grauen Wölfe Die Ideologie und Gesinnung der türkischen Rechtsextremisten und der Grauen Wölfe stützt sich auf ein Konglomerat verschiedener Diskurse und Grundpfeiler. Hierzu gehören neben rassistischen Positionen auch Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen sowie Autoritarismus, Führerkult, Gewaltakzeptanz etc. Folgende Elemente sind insbesondere hervorzuheben: Nationalismus und "Idealismus" (Milliyetçilik ve Ülkücülük) Ausgangspunkt der politischen Ideologie der türkischen Rechtsextremisten ist ein sogenannter "idealistischer Nationalismus". Dieser beinhaltet einen ausgeprägten Nationalismus und Rassismus gegenüber allen (im ethnischen Sinne) nicht-türkischen Bevölkerungsteilen. Rassismus Auch wenn innerhalb der Grauen Wölfe aus taktischen Gründen eine offene rassistische Position ausgeblendet oder häufig geleugnet wird, bildet der Rassismus einen zentralen Pfeiler der MHP-Ideologie. Er richtet sich vor allem gegen Armenier, Kurden und Juden. Nihal Atsız, ein Vordenker der Grauen Wölfe, hat die wichtigsten Elemente des Turkismus vor mehr als 60 Jahren wie folgt formuliert: "Ein Türke glaubt an die Überlegenheit der türkischen Rasse, schätzt deren nationale Vergangenheit und ist bereit, sich für die Ideale des Türkentums zu opfern, besonders gegen Moskau [also die damalige, kommunistische Sowjetunion], den erbitterten Feind." Nicht zuletzt zeigt sich der Rassismus von MHP und Grauen Wölfen auch in der kurdenfeindlichen Positionierung, etwa der drohenden Aussage von Alparslan Türkeş: "Wenn ihr Kurden weiterhin eure primitive Sprache sprecht (…), werdet ihr von den Türken auf die gleiche Weise ausgerottet, wie man schon Georgier, die Armenier und die Griechen [auf türkischem Boden] bis auf die Wurzeln ausgerottet hat." Neun-Lichter-Doktrin (Dokuz Işık) Im Zentrum der MHP-Politik steht die sogenannte Neun-Lichter-Doktrin von Alparslan Türkeş, in der er übersteigerten, extremen Nationalismus und islamische Frömmigkeit vereinte. Die neun Eckpunkte der MHP-Ideologie sind laut Türkeş: Nationalismus, Idealismus, Ehrgefühl, Wissenschaft, Einheit, Bauernschaft, Freiheit und Selbstständigkeit. Das Wichtigste an der Neun-Lichter-Doktrin ist jedoch weniger ihr Inhalt, sondern vielmehr dass durch sie Türkeş' Autorität als Ideologiestifter begründet und permanent gefestigt wurde. Die Politikwissenschaftler Karl Binswanger und Fethi Sipahioğlu stellen in diesem Sinne fest, dass "Diktion und Inhalt (…) an Hitlers 'Mein Kampf' erinnern". Führerprinzip (Başbuğ) Autoritäre Strukturen und unhinterfragbare Gefolgschaft spielen bei Grauen Wölfen wie MHP eine wichtige Rolle. Parteigründer Türkeş wird auch lange nach seinem Tod als "Führer" (Başbuğ) verehrt. Sein Foto hängt in allen Lokalitäten der Grauen Wölfe und wird auf Großveranstaltungen gezeigt. Die Biografie von Türkeş ist auf allen Internet-Seiten der Bewegung zu finden. Seine Prinzipien werden von der Anhängerschaft der Grauen Wölfe wie ein Befehl befolgt. Islamischer Nationalismus und Türkisch-Islamische Synthese Im Laufe der Geschichte der MHP wurde der Islam in verschiedenen Phasen unterschiedlich akzentuiert. Zwar steht ein "idealistischer" türkischer Nationalismus im Zentrum der MHP-Ideologie, doch wird dem Islam eine relativ starke Bedeutung zugeschrieben. Die Bezugnahme auf den Islam diente und dient im Rahmen des gesellschaftlichen Diskurses als Gegenpol zum Einfluss säkularer, liberaler und oft pluralistischer Ideen, wie etwa Minderheitenrechte und Gleichstellung. Die MHP hat damit einen aktiven Beitrag dazu geleistet, dass die von Politologen sogenannte "Türkisch-Islamische Synthese" zu einem Kernideologem des türkischen Rechtsnationalismus' wurde. Die zentrale Implikation dieser "Türkisch-Islamischen Synthese" ist die Vorstellung der Untrennbarkeit von türkisch-nationalen und islamischen Bestandteilen in der türkischen Geschichte. Zugleich dient die Betonung des Islam durch die MHP dazu, breitere islamisch geprägte Bevölkerungsgruppen stärker beeinflussen und leichter rekrutieren zu können. Dies gilt derzeit nicht allein für die MHP, sondern alle konservativ-nationalistischen Parteien und islamischen Bewegungen in der Türkei. Mobilisierung des "Europäischen Türkentums" Im Zuge der polarisierenden migrationspolitischen Diskussionen der 1990er Jahre in Deutschland prägte der damalige MHP-Vorsitzende Türkeş 1995 auf einer Jahreshauptversammlung der Türk Federasyon in Essen den Begriff des "Europäischen Türkentums" (Avrupa Türklüğü) als Sammelbegriff für die türkisch-nationalistische Identität von Anhängern außerhalb der türkischen Landesgrenzen. Damit sind türkei-stämmige Menschen angesprochen, die zwar ihren Lebensmittelpunkt in (West-)Europa haben, aber dennoch ihre türkisch nationalistische Identität weiterverbreiten sollen. Dieser Logik entspricht auch der Slogan "Werde Deutscher, bleibe Türke!", mit dem nahezu alle türkisch-rechtsextremistischen Organisationen in der Bundesrepublik ihre Mitglieder auffordern, zwar die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, doch diese dann für angeblich türkisch-nationale Interessen und die Bildung einer starken türkisch-nationalistischen Lobby in Deutschland zu nutzen. Insbesondere geht es dabei um die Rekrutierung türkischsprachiger Jugendlicher der dritten oder vierten Einwanderer-Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, aber häufig in Identitätsschwierigkeiten stecken. Sie sollen politisiert und für die türkisch-rechtsextremen Organisationsstrukturen mobilisiert werden. Vergleicht man deutschen und türkischen Rechtsextremismus, so zeigen sich viele Parallelen – aber auch einige bedeutsame Unterschiede. Organisationen und Aktivitäten der Grauen Wölfe in Deutschland In Deutschland sind schon seit der sogenannten Gastarbeiter-Einwanderung in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche türkisch-rechtsextreme Vereine entstanden. Viele von ihnen schlossen sich 1978 im Dachverband ADÜTDF (Türkische Föderation der Idealistenvereine in Deutschland, heute bekannt als Türk Federasyon) zusammen. Die Türk Fedarasyon ist als eingetragener Verein mit Sitz in Frankfurt/Main juristisch selbstständig, inhaltlich und ideologisch aber kann sie als Tochterorganisation der MHP bezeichnet werden. Ähnlich der Türk Fedarasyon gibt es Dachverbände für MHP-Anhänger in zahlreichen weiteren westeuropäischen Ländern (etwa in Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Österreich oder in der Schweiz), aber zum Beispiel auch in Australien und den USA. Im Zuge interner Auseinandersetzungen spalteten sich von der Türk Federasyon die ATB (Europäisch-Türkische Union) und ATIB (Türkisch Islamische Union Europa) ab, die sich mehr als islamisch orientierter Flügel der Szene der "Grauen Wölfe" verstehen. Bundesweit unterhalten Türk Federasyon, ATIB und ATB gemeinsam ungefähr 300 lokale Vereine und Zweigstellen und lassen mit geschätzt mehr als 18.000 Mitgliedern beispielsweise die NPD weit hinter sich. Die Türk Federasyon ist sehr hierarchisch strukturiert. Laut Satzung gehört zu den Organen des Vereins neben Vorstand und Aufsichtsrat auch ein "Disziplinarrat", der Verstöße gegen die Prinzipien des Verbandes ahnden soll. Seinen Mitgliedsvereinen macht die Türk Federasyon strenge Vorgaben: Beispielsweise haben sie die ausdrückliche Pflicht, "Entscheidungen der Föderationsorgane zu verwirklichen", einen zentral festgelegten Teil der eigenen Einnahmen abzuführen und vom Dachverband "nicht befürwortete Aktivitäten zu unterlassen". Die Bundesrepublik ist in mehr als zehn Regionalverbände aufgeteilt. Manche umfassen mehrere Bundesländer, demgegenüber sind Bundesländer mit einer hohen Zahl von Mitgliedsvereinen (zum Beispiel Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen) in bis zu drei Regionalverbände unterteilt. Die Namen der lokalen Mitgliedsorganisationen lassen bisweilen auf die Zugehörigkeit zur Szene der Grauen Wölfe schließen, sie lauten beispielsweise "Türkischer Idealistenverein [Ortsname] e.V." Häufig klingen die Namen aber auch völlig unpolitisch, etwa "Türkisches Kulturzentrum", "Verein türkischer Arbeitnehmer" oder "Türkisch-Deutscher Freundschaftsverein". Ein Teil des Erfolgsrezepts der drei Dachverbände ist, dass sich ihre lokalen Mitgliedsvereine häufig als türkische Selbsthilfeorganisationen und Moscheegemeinden etablieren konnten. So haben Türk Federasyon, ATIB und ATB Einfluss auf zahlreiche Kultur- und Elternvereine, Unternehmerverbände, Jugendgruppen, Fußballclubs und Moscheen – und damit auf das soziale Leben vieler türkei-stämmiger Menschen in Deutschland. Auch sind sie aktiv in Integrationsräten, teilweise treten sie hier auch in Bündnislisten mit islamischen Vereinigungen auf. Zudem gibt es Bestrebungen von Funktionären und Anhängern der Grauen Wölfe, in deutsche Parteien (z.B. CDU, CSU SPD, Grüne) einzutreten und aktiv mitzuarbeiten, um ihre ideologisch-politischen Inhalte dort zu vertreten. Alparslan Türkeş' Konzept des "Europäischen Türkentums" wird jedenfalls auch in Deutschland von der Türk Federasyon aktiv propagiert: "Wir kämpfen für den Erhalt der nationalen und ideellen Werte der hiesigen türkischen Volksgemeinschaft und deren Weitergabe an die nachfolgenden Generationen", sagte der damalige Vorsitzende Şentürk Doğruyol im Mai 2009 auf einem bundesweiten Kongress der ADÜTDF in Essen. Auch nach Annahme des deutschen Passes hätten eingebürgerte Türken "doch türkische Wurzeln und sind ehrenvolle Angehörige des großen türkischen Volkes. (...) Wir europäischen Türken tragen den türkischen Ausweis mit Stolz und werden ihn auch weiterhin mit Stolz tragen." Bereits im Oktober 2004 wies der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz darauf hin, dass die Grauen Wölfe "zur Entstehung einer Parallelgesellschaft in Europa" beitragen und somit "ein Hindernis für die Integration der türkischstämmigen Bevölkerung" bilden. Auf den gescheiterten Putsch vom Juli 2016 in der Türkei hat die Erdoğan-Regierung mit der Wiederbelebung ihrer Repressionspolitik in den kurdischen Regionen und mit einer regelrechten Hetzjagd auf tatsächliche oder vermeintliche Kritiker reagiert, beispielsweise auf – wiederum tatsächliche oder vermeintliche – Anhänger der sogenannten Gülen-Bewegung, die von der türkischen Regierung für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Diese Mobilisierung und die innertürkische Polarisierung hat zu einem stärkeren Auftreten der Grauen Wölfe auch in Deutschland geführt: Beispielsweise folgten am 31. Juli 2016 in Köln tausende Menschen einem Demonstrationsaufruf von Erdoğan und anderen AKP-Politikern, darunter zahlreiche, an Fahnen und Symbolen der Bewegung erkennbare Anhänger der Grauen Wölfe. Auf einer Pro-Erdogan-Demonstration in München hatten Teilnehmer den sogenannten Wolfsgruß gezeigt. In Berlin, Hamburg, Stuttgart, Gelsenkirchen und anderen Städten kam es zu gewalttätigen Angriffen auf kurdische Einrichtungen und Gülen-nahe Bildungsvereine, die türkeistämmigen Ultranationalisten zugeschrieben wurden. Anfang März 2017 kam es in Hamburg zu einem besonders bemerkenswerten Auftritt: Bei einer Rede des türkischen Außenministers Mevlüt Cavuşoğlu auf dem Gelände des dortigen Generalkonsulats erhoben zahlreiche Zuhörer und auch Cavuşoğlu selbst den rechten Arm zum markanten Gruß der Grauen Wölfe. Doch nicht erst seit dem Putsch vertreten Anhänger der Grauen Wölfe die nationalistische Politik der türkischen Regierung hierzulande auch auf martialische Weise. Am 26. März 2016 rief in Duisburg der türkisch-rechtsnationalistische Rocker- und Boxclub "Turan e.V." (der die großtürkisch-turanistische Zielstellung bereits im Namen trägt) zu einer Demonstration unter dem Motto "Wir unterstützen den Anti-Terrorkampf der türkischen Sicherheitsbehörden" auf, an der mehr als 350 Personen teilnahmen. Als der Bundestag im Juni 2016 eine Resolution zum Völkermord der jungtürkischen Regierung an den Armeniern beschloss, wurden zahlreiche Befürworter dieser Resolution unter anderem von türkischen Nationalisten bedroht. Knapp ein Dutzend Bundestagsabgeordnete wurden daraufhin unter Polizeischutz gestellt – wie ernst diese Drohungen aus dem Spektrum der Grauen Wölfe zu nehmen sind, zeigen nicht zuletzt mehrere Anschläge, die von ihren Anhängern in den 1970er und 1980er in Deutschland verübt wurden. Nähe zwischen deutschen und türkischen Rechtsextremisten Der Rassismus deutscher Rechtsextremisten und die Zunahme rassistisch motivierter Gewalt ab Ende der 1970er Jahre brachten die türkei-stämmigen Rechtsextremisten in eine paradoxe Situation. Bei ihren gewalttätigen Aktionen gegen türkische oder kurdische Linke in der Bundesrepublik sahen sie die hiesigen Neonazis als Verbündete und sich von der allgemeinen antikommunistischen Stimmung der 1970er und 1980er Jahre in der Bundesrepublik bestärkt. Aufgrund dieser ideologischen Verwandtschaft fiel es militanten Grauen Wölfen schwer, gegen fremden- bzw. türkenfeindliche Aktionen der deutschen Rechtsextremisten eine klare Position zu entwickeln. In einem Rundschreiben von 1977 betonte Alparslan Türkeş die ideologische Nähe von MHP und NPD ausdrücklich: "… um die vorgesehenen Ziele zu erreichen, sind unbedingt die Aktionseinheit unserer Partei und der NPD sowie deren Erfahrung und Arbeitsmethoden auszunutzen. Den von der Zentralleitung der MHP entsandten Anweisung ist dabei Folge zu leisten". Umgekehrt bekundeten deutsche Neonazis offene Sympathie: So erklärte Michael Kühnen von der militanten "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" (ANS) 1978 in einem Interview: "Wir haben zu allen entsprechenden Organisationen im In- und Ausland sehr gute Kontakte. Wir kennen die Leute – wir achten sie. Die Grauen Wölfe sind praktisch eine Art Entsprechung, wenn auch auf der nationalen Tradition in der Türkei, und wir haben große Sympathie für ihre Zielsetzung." Die gegenseitige Wertschätzung hält seit Jahrzehnten an. So fand der damalige NPD-Landeschef von Hessen, Jörg Krebs, im Jahr 2009 lobende Worte: "Bei den jüngsten Parlamentswahlen am 22. Juli 2007 schaffte es die einzige ernstzunehmende nationale türkische Partei – die uns deutschen nationalen Aktivisten sehr wohl bekannte – MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung – Graue Wölfe) mit atemberaubenden 14,29 Prozent zurück ins türkische Parlament. 70 MHP-Abgeordnete vertreten nunmehr konsequent eine Politik, die sich in erster Linie an den Interessen des eigenen Volkes orientiert und die daher einen Beitritt der Türkei zum 'Melting Pot' EU kategorisch ablehnt. Damit ist die MHP natürliche Verbündete aller nationaldenkenden Deutschen, die einen EU-Beitritt der Türkei ebenfalls ablehnen. Dieses gilt es aus meiner persönlichen Sicht in Zukunft auch im Hinblick auf den Umgang mit nationalistischen Türken in der Bundesrepublik viel stärker zu bedenken. (...) Denn ein Grundsatz gilt heute mehr denn je: 'Der Feind meines Feindes ist mein Freund'". Doch trotz dieser teils großen ideologischen Nähe kam es über die Jahrzehnte kaum zu einer wahrnehmbaren, tatsächlichen Kooperation zwischen deutschen Rechtsextremen und Grauen Wölfen. Ereignisse wie im April 2016 in Nürnberg dürften deshalb eher die Ausnahme bleiben: Dort demonstrierten Graue Wölfe Seite an Seite mit Aktivisten der neonazistischen Partei "Die Rechte" gegen die linke, kurdische PKK. Eine präzise Zahl über die Mitgliedschaft der Grauen Wölfen in Deutschland ist nicht bekannt. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz sprach für 2015 von bundesweit ca. 7.000 Mitgliedern – wobei sich dies nur auf die Türk Federasyon bezog, einen von drei Dachverbänden. Die Schätzung von mehr als 18.000 berücksichtigt alle drei Dachverbände. Ein Recherche-Team des ZDF sprach 2015 von 303 Mitgliedsvereinen der drei Dachverbände in Deutschland "mit mindestens 18.500 Mitgliedern". Vgl. Anna Feist/Herbert Klar/Steffen Judzikowski: Webstory "Graue Wölfe. Eine Chronologie der stillen Macht", ZDF online vom 26. Mai 2015 – http://webstory.zdf.de/graue-woelfe/ – Zu beachten ist, dass es bei einer informellen Bewegung wie den "Grauen Wölfen" neben formellen Vereinsmitgliedern auch noch eine bedeutsame Zahl weiterer Sympathisanten und Anhänger gibt. Die Begriffe Turanismus und Panturkismus werden in diesem Text synonym verwendet. Vgl. Franz von Papen (1951): Der Wahrheit eine Gasse, München. Vgl. zum Wirken und zur Organisation der NS-Ideologie in der Türkei beispielsweise: Anne Dietrich (1998): Deutschsein in Istanbul: Nationalisierung und Orientierung in der deutschsprachigen Community von 1843 bis 1956, Opladen oder auch Zehra Önder (1977): Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München. Vgl. Irkçılık-Turancılık [Rassismus-Turanismus], Türk İnkilap Enstitüsü, 1944; Alparslan Türkeş: 1944 Milliyetçilik Olayı [1944 – Der Nationalismus-Vorfall], Türk Federasyon, Frankfurt/Main. Alperen ist ein in der türkischen Mythologie und Geschichte vorkommender, männlicher Vorname und bedeutet "heiliger Krieger oder Held". Die "Ülkücü"-Bewegung benutzt diesen Begriff gegenwärtig als ehrenvoll gemeinte Eigenbezeichnung und Symbol für die Militanz der Bewegung. Vgl. beispielsweise Bianet vom 25. Februar 2008 (http://bianet.org/english/minorities/105171-dink-trial-criminal-organisation-is-protected) oder Spiegel Online vom 26. März 2007 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ermittlungen-tuerkischer-politiker-im-mordfall-dink-festgenommen-a-473816.html) Die PKK ist seit 1993 in Deutschland verboten und wurde 2002 auch von der EU u.a. vor dem Hintergrund von ihr verantworteter Anschläge in den 1980er- und 1990er- Jahren als "Terrororganisation" eingestuft. Angesichts der Bedeutung kurdischer, PKK-naher Organisationen im Kampf gegen die Terrormiliz IS in Syrien und dem Irak haben in jüngerer Zeit in Deutschland und Europa einige Politiker gefordert, das Verbot zu überdenken. Vgl. z.B. Deutschlandfunk vom 19. 09. 2017 – http://www.deutschlandfunk.de/die-nationalistische-politikerin-meral-aksener-konkurrenz.795.de.html?dram:article_id=396207 Nihal Atsız (1956): "Türk Ülküsü" [Die Türkische Idee], İstanbul 1956. Zitiert nach Rainer Werle/ Renate Kreile (1987): Renaissance des Islam. Das Beispiel Türkei. Hamburg, S. 90. Karl Binswanger/ Fethi Sipahioğlu (1988): Türkisch-islamische Vereine als Faktor deutsch-türkischer Koexistenz, München. Vgl. Dagmar Zeller-Mohrlock (1992): Die Türkisch-Islamische Synthese. Eine Strategie zur Kanalisierung innen-politischer wirtschaftlicher Konflikte in der Türkei in den 80er Jahren, Bonn. Vgl. Anna Feist/Herbert Klar/Steffen Judzikowski: Webstory "Graue Wölfe. Eine Chronologie der stillen Macht", ZDF, abgerufen am 06. Juli 2017. Das nordrhein-westfälische Innenministerium spricht allein für die Türk Federasyon von bundesweit 7.000 Mitgliedern – schon dieser Dachverband allein ist also deutlich größer als die NPD. In: http://www.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Verfassungsschutz/Dokumente/VS-Berichte/Auslaenderextremismus/2015/Uelkuecue.pdf Zitiert nach einer Antwort des baden-württembergischen Innenministeriums auf eine Landtagsanfrage, Drucksache 15/383 – http://fraktion.cdu-bw.de/fileadmin/user_upload/infothek/Recht_und_Verfassung/Antrag_15_383_Graue_W%C3%B6lfe__3_.pdf Eine Reihe von Namen lokaler Vereine in Baden-Württemberg nennt das dortige Landes-Innenministerium in dieser Antwort auf eine Landtagsanfrage, Drucksache 15/383 – http://fraktion.cdu-bw.de/fileadmin/user_upload/infothek/Recht_und_Verfassung/Antrag_15_383_Graue_W%C3%B6lfe__3_.pdf ; Einige Beispiele für Mitgliedsvereine in Bayern finden sich in dieser Antwort auf eine Landtagsanfrage: https://katharina-schulze.de/wp-content/uploads/2017/01/2017_01_03_aktivitaet_rechtsextrem_graue_woelfe.pdf https://www.neues-deutschland.de/artikel/1040543.graue-woelfe-draengen-in-die-migrationsraete.html siehe z.B. Die Welt vom 11.07.2014 – https://www.welt.de/politik/deutschland/article130046195/Das-Problem-der-CDU-mit-tuerkischen-Nationalisten.html oder Stuttgarter Zeitung vom 10.07.2015 – http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.tuerkischer-arbeitnehmerverein-graue-woelfe-im-schafspelz.91436c3f-5e30-40d8-9ab8-b6b8b5d143e5.html Antwort des baden-württembergischen Innenministeriums auf eine Landtagsanfrage, Drucksache 15/383 – http://fraktion.cdu-bw.de/fileadmin/user_upload/infothek/Recht_und_Verfassung/Antrag_15_383_Graue_W%C3%B6lfe__3_.pdf Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (2004): Türkischer Nationalismus: "Graue Wölfe" und "Ülkücü" (Idealisten)-Bewegung. Düsseldorf: Innenministerium des Landes NRW, S. 3. https://www.welt.de/politik/deutschland/article157140254/Erdogan-Anhaenger-verbreiten-Angst-in-Deutschland.html http://www.focus.de/politik/deutschland/deutschland-drohungen-und-gewalt-gegen-erdogan-gegner_id_5744051.html Vgl. Hamburger Abendblatt vom 8. März 2017 – https://www.abendblatt.de/hamburg/article209871713/Diese-Gesten-alarmieren-den-Verfassungsschutz.html Pressemitteilung der Duisburger Polizei – www.presseportal.de/blaulicht/pm/50510/3286432 Spiegel Online vom 31. Mai 2016 – www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-vor-armenien-resolution-drohmails-an-abgeordnete-a-1094944.html Süddeutsche Zeitung vom 11. Juni 2016 – www.sueddeutsche.de/politik/nach-armenien-resolution-tuerkischstaemmige-abgeordnete-erhalten-verstaerkten-polizeischutz-1.3029422 Damals kam es sogar zu direkten Kontakten des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß mit dem Anführer der Grauen Wölfe, Alparslan Türkeş, und der damalige bayrische Innenminister Gerold Tandler äußerte sich wohlwollend über die MHP und die Türk-Federasyon - vgl. z.B. www.spiegel.de/spiegel/print/d-14327589.html und www.juergen-roth.com/blog/graue-wolfe-turkische-rechtsextremisten-und-ihre-unterschlagene-vergangenheit/ Zit. nach Hoffmann u.a. 1981, S. 99 Altonaer Echo 3/1978. Krebs, 3.6.2009, in: http://gesamtrechts.wordpress.com; vgl. http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/weitere-landesverbaende/artikel/joerg-krebs-npd-fordert-deutsch-tuerkische-querfront.html (abgerufen am 06. Juli 2017) Vgl. www.br.de/nachrichten/rechtsaussen/graue-woelfe-mhp-bayern-100.html
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-31T00:00:00"
"2017-11-24T00:00:00"
"2022-01-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/260333/graue-woelfe-die-groesste-rechtsextreme-organisation-in-deutschland/
Seit mehr als fünf Jahrzehnten existiert in der Türkei eine ultranationalistische, rassistische und gewalttätige Bewegung, deren Traditionen weit in die Geschichte zurückreichen. Mit zahlreichen Vereinen und mehreren Dachverbänden ist sie auch in Deu
[ "Graue Wölfe", "Türkei", "Ülkücü", "türkischer Nationalismus" ]
30,811
Technikfolgenabschätzung zwischen Neutralität und Bewertung | Technik, Folgen, Abschätzung | bpb.de
Technikfolgenabschätzung (TA) ist mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die mitunter die Grundfesten ihrer Forschungspraxis betreffen. Eines der Spannungsfelder lässt sich mit dem Begriffspaar "Neutralität und Bewertung" umreißen. Es ist wohl nicht übertrieben, dieses als das zentrale Spannungsfeld der TA zu bezeichnen – jedenfalls wirft es die grundlegendsten, ihr Selbstverständnis als Forschungsfeld betreffenden Probleme auf. Daher nimmt es nicht Wunder, dass kontroverse Debatten über die angemessene Positionierung zwischen Neutralität und Bewertung die TA seit ihren Anfängen begleiten. Bevor diese Thematik in den Blick genommen wird, ist jedoch zu klären, was im Folgenden unter TA verstanden werden soll, denn die Verwendungsweisen dieses Namens differieren mitunter beträchtlich. Forschung zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit Technikfolgenabschätzung ist ein disziplinübergreifendes Forschungsfeld, das den wissenschaftlich-technischen Wandel zum Gegenstand hat. Programmatischer Anspruch der TA ist es, Beiträge zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen zu leisten, die Bezüge zum wissenschaftlich-technischen Wandel aufweisen. Entsprechend lässt sich TA als problemorientierte oder transdisziplinäre Forschung charakterisieren. Jenseits dieses Anspruchs erweist sich das Feld der TA als außerordentlich heterogen. In institutioneller Hinsicht lässt sich parlamentarische TA unterscheiden von TA in Regierungseinrichtungen, in universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie in Verbänden wie etwa dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI). Die disziplinären Einflüsse reichen von den Sozialwissenschaften über die Philosophie bis hin zu Natur- und Ingenieurwissenschaften. Schließlich lassen sich auch einige "TA-Konzepte" unterscheiden, programmatische Entwürfe mit je eigener theoretischer Fundierung und Forschungsmethodik, welche die teils grundlegenden Differenzen innerhalb der TA-community besonders deutlich zutage treten lassen. Wenn TA als problemorientierte Forschung charakterisiert wird, ist damit bereits der Ursprung des eingangs skizzierten Spannungsfeldes benannt. TA versteht sich – trotz aller Unterschiede zur disziplinären akademischen Forschung – als wissenschaftliche Praxis. Dies ist mit Blick auf TA an öffentlichen Forschungseinrichtungen offensichtlich, gilt jedoch auch für andere Institutionalisierungskontexte. Das Prädikat der Wissenschaftlichkeit stellt nicht auf die Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Subsystem der Wissenschaft ab, sondern ist substanziell gemeint: Jede Art von TA orientiert sich an Kriterien der Wissenschaftlichkeit, insbesondere hinsichtlich der Begründungsstandards. Dieser enge Bezug zur Wissenschaft bringt einen weitreichenden Impuls für das Selbstverständnis der TA mit sich: den Impuls nämlich, sich praktischer Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu enthalten. Die Problemorientierung der TA geht ihrerseits mit einem zweiten, gegenläufigen Impuls einher. Will TA einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen leisten, muss sie sich auf diese beziehen, muss Ursachen und Lösungsansätze reflektieren und schließlich auch auf eine Weise kommunizieren, von der sie sich gesellschaftliche Wirksamkeit erhoffen kann. Kurzum: Sie bewegt sich in einem Kontext, in dem praktische Stellungnahmen unabdingbar sind. Im Hintergrund steht die Frage nach einer angemessenen Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft oder, anders formuliert, nach dem Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Wissenschaft sieht sich zu großen Teilen einem Ethos verpflichtet, welches sie auf eine deskriptive Bezugnahme zur Welt festlegt. Die Sphäre des praktischen Urteilens auf gesellschaftlicher Ebene hingegen steht nach (auch in den Wissenschaften) dominierender Ansicht anderen Instanzen zu, vor allem der Legislative beziehungsweise der demokratischen Öffentlichkeit. TA als problemorientierte Forschung muss sich entweder auf diese Instanzen beziehen oder aber ihre gesellschaftliche Rolle anders interpretieren, um sich für die Lösung technikassoziierter Probleme engagieren und praktisch wirksam werden zu können. Die Bestimmung dieser Rolle indes wird sowohl innerhalb der TA als auch in Politik und Öffentlichkeit als problematisch wahrgenommen. Bedenken hinsichtlich von Grenzüberschreitungen der Wissenschaft einerseits sowie einer Instrumentalisierung der Wissenschaft andererseits markieren wichtige Positionen in der Debatte. In diesem Zusammenhang wird häufig das Konzept der Neutralität bemüht, um eine angemessene Rolle der TA zu kennzeichnen. Insbesondere in der parlamentarischen TA ist ein (Selbst- und Fremd-)Verständnis als "neutrale Politikberatung" praktisch common sense. Was aber ist mit Neutralität gemeint, und inwieweit ist sie realisierbar? Streifzüge durch das Begriffsfeld der Neutralität Der Begriff der Neutralität lässt sich etymologisch auf neutralitas, den "Zustand des Nichtgebundenseins an eine von mehreren Seiten oder Parteien" zurückführen. Er bedeutet ursprünglich so viel wie "Nichteinmischung" beziehungsweise "Nichtbeteiligung an Kriegen". In diesem Sinn kann von Neutralität als Unparteilichkeit gesprochen werden. Mit Blick auf den TA-Kontext fragt sich, wie die Forderung nach Neutralität verstanden werden soll. Als Forderung nach Nichteinmischung in (potenzielle) Technikkonflikte kann sie schwerlich interpretiert werden, da eine derart distanzierte TA keine praktische Wirksamkeit zeitigen könnte. Es könnte vielmehr gemeint sein, dass TA sich nicht auf die Seite einer (Konflikt-)Partei schlagen, nicht die Position einer Partei vertreten dürfe - jedenfalls nicht allein deshalb, weil es sich um die Position einer bestimmten Partei handelt. Eng verbunden mit der Forderung nach Unparteilichkeit ist die Forderung nach Unabhängigkeit, da diese eine zentrale Voraussetzung für die Möglichkeit unparteiischer Arbeit darstellt. Angesichts der Abhängigkeit von TA-Institutionen von finanzieller Förderung ist ihre Unabhängigkeit in der Forschungspraxis durchaus nicht selbstverständlich. Dies gilt primär für TA außerhalb öffentlicher Forschungseinrichtungen, insofern die relativ weitreichenden Autonomierechte der Forschung hier nicht greifen. Für das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) etwa ist in der Geschäftsordnung des Bundestages eine enge Begrenzung von dessen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Arbeit des TAB geregelt. Während das TAB in Fragen des eigenen Personals gänzlich und bei der Projektbearbeitung weitgehend unabhängig von seinem Auftraggeber ist, spielt der Bundestag bei der Definition der Forschungsthemen eine zentrale Rolle. Die Frage, inwieweit TA-Institutionen unabhängig sind beziehungsweise sein können, bedarf also einer differenzierteren Betrachtung der jeweiligen Forschungsprozesse. Am Anfang eines jeden Forschungsprozesses steht die Initiative, ein – zunächst meist nur grob bestimmtes – Themenfeld zu bearbeiten. Sie kommt im Falle parlamentarischer TA primär von Seiten der Politik, kann aber auch von den entsprechenden TA-Einrichtungen ergriffen werden. Dies ist insbesondere dann angezeigt, wenn ein Themenfeld in der öffentlichen Debatte noch nicht als potenziell problematisch wahrgenommen wird: Nur so kann TA ihre Frühwarnfunktion wahrnehmen. Anschließend sind die Aufgabenstellung des Projekts zu definieren (problem framing) sowie die Art seiner Bearbeitung zu planen: Wo sollen die Grenzen des betrachteten Systems liegen? Welche Forschungsmethoden sollen zum Einsatz kommen? Welche Disziplinen, Institutionen, Personen sollen am Forschungsprozess beteiligt werden? Hinter diesen Punkten verbergen sich jeweils zahlreiche Entscheidungen, die im Zuge eines Projektes zu treffen sind. Und sie alle haben Einfluss auf das Ergebnis: unter anderem indem sie bestimmen, welche Facetten eines Themas behandelt werden und welche nicht, in welcher Terminologie darüber gesprochen wird oder welche praktischen Schlüsse gezogen werden. Hier wird deutlich, dass die Frage nach der Neutralität von TA weit mehr umfasst als das Vermögen, bei der Bewertung einer neuen Technologie nicht dem Urteil einer Partei anzuhängen. Neutralität als Unparteilichkeit heißt streng genommen, bei keinem der Faktoren, die für die praktische Wirksamkeit der TA eine Rolle spielen, einer Partei zu folgen. Nun ist nicht nur das TAB, sondern TA in Beratungskontexten generell durch eine bisweilen intensive Abstimmung mit dem Auftraggeber gekennzeichnet. Dieser kann an verschiedenen Stellen des Forschungsprozesses an den skizzierten Entscheidungen beteiligt sein. Dies aber lässt sich so interpretieren, dass die TA ihre inhaltliche Unabhängigkeit in dem Maße einbüßt, in dem sie der Position ihres Auftraggebers folgen muss. Damit wäre der TA in Beratungskontexten eine lediglich eingeschränkte Neutralität zu attestieren. Dagegen ließe sich einwenden, dass zumindest im Falle parlamentarischer TA die "Partei", deren Position sie sich teilweise zu eigen macht, das Legislativorgan des Staates und als solches zur Festlegung allgemeinverbindlicher Normen demokratisch legitimiert ist. Allerdings tritt das Parlament in der Frühphase wissenschaftlich-technischer Entwicklungen häufig nicht "monolithisch" auf, sondern weist vielmehr eine Vielfalt an (parteilichen) Positionen auf. Zudem stellt die Fokussierung auf die Legislative eine starke Vereinfachung des komplexen Systems staatlicher (und außerstaatlicher) technology governance dar. Fiktive Beratung und Nachhaltigkeit Bislang war vor allem von TA als (Politik-)Beratung die Rede. Diese bezieht sich auf ihren Auftraggeber, um ihre Forschungsarbeit an gesellschaftlichen Problemlagen zu orientieren. Ein Großteil der TA ist jedoch in institutionellen Konstellationen (vor allem der universitären und außeruniversitären Forschung) verankert, in denen eine solche Bezugnahme nicht zur Verfügung steht. Sie muss ihre Problemdefinition, ihr Forschungsdesign und die anderen Entscheidungen der Projektgestaltung auf andere Weise begründen. Ein wichtiger Ansatz hierfür – in quantitativer Hinsicht der vielleicht bedeutendste – ist die Bezugnahme auf normative Begriffe, die als gesellschaftlich konsensual interpretiert werden. Bis in die frühen 1990er Jahre dienten Begriffe wie "Umweltverträglichkeit" oder "Sozialverträglichkeit" diesem Zweck. Seither hat sich der Begriff der "nachhaltigen Entwicklung" als wichtigste normative Grundlage für die TA etabliert. Er wurde von der World Commission on Environment and Development (WCED) in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre geprägt und von der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die TA rezipierte die anschließende Diskussion schon früh und bezog sie intensiv in die eigene Arbeit ein. Die konzeptionelle Arbeit am Nachhaltigkeitsbegriff legt hiervon beredtes Zeugnis ab: Ein beträchtlicher Teil der Nachhaltigkeitskonzepte im deutschsprachigen Raum wurde von TA- oder der TA nahestehenden Institutionen erarbeitet. Diese Arbeit am Nachhaltigkeitsbegriff diente auch dazu, eine Bewertungsgrundlage für die eigene, problemorientierte Forschung zu schaffen. Hierfür scheint der Begriff prädestiniert zu sein, stellt er doch ein von einem (zumindest rhetorisch) breiten Konsens getragenes, umfassendes Leitbild gesellschaftlicher Entwicklung dar. Um ihn für die Projektarbeit nutzbar zu machen, musste er zunächst "operationalisiert" werden – eine Begründungsarbeit, die in mehreren Studien geleistet wurde. Vergleicht man diese Art der Bezugnahme von TA auf "die Gesellschaft" mit dem Modus der Beratung, zeigen sich strukturelle Ähnlichkeiten: TA vertritt auch hier keine eigene Position, sondern bezieht sich auf die Position eines imaginären Dritten (in Gestalt der gesellschaftlich vorherrschenden Normen). Allerdings steht sie hier nicht in einem genuinen Beratungsverhältnis. Daher lässt sich normative Reflexion dieser Art als fiktive Beratung bezeichnen. Im Unterschied zu genuinen Beratungskonstellationen ist hier eine Interaktion zwischen Berater und (fiktiv) Beratenem freilich nicht möglich. Hieraus resultieren spezifische methodische Probleme für die TA – insbesondere das Problem, eine angemessene Interpretation des Nachhaltigkeitsbegriffs zu entwickeln. Da in dieser Konstellation die Rechtfertigung einzelner Nachhaltigkeitsziele erheblich einfacher ist als die Rechtfertigung von Gesamturteilen (das heißt von Urteilen darüber, was im Lichte der verschiedenen Nachhaltigkeitsziele "unterm Strich" nachhaltig ist), ist der Umgang mit Zielkonflikten nicht zufällig ein bis heute zentrales Problem von Nachhaltigkeitskonzepten. Die Frage nach der Neutralität von TA im Modus fiktiver Beratung ist indes ähnlich zu beantworten wie bei TA im Modus der Beratung: Zwar lässt sich kaum bestimmen, ob die Interpretation des Nachhaltigkeitsbegriffs "im Sinne der Gesellschaft" war beziehungsweise inwieweit eigene Positionen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darin Eingang gefunden haben. Dem Anspruch nach aber ist diese Art der TA ebenso (oder ebenso wenig) neutral wie parlamentarische TA – sofern man Neutralität als Unparteilichkeit im oben genannten Sinne versteht. Ist ethisch fundierte Technikfolgenabschätzung neutral – oder gerade nicht? Anders verhält es sich mit dem dritten Modus normativer Reflexion von TA, der im Folgenden in den Blick genommen wird. Dieser kann als Modus der Ethik bezeichnet werden. Ethik ist darum bemüht, ausgehend von vorfindlichen moralischen Überzeugungen eine ethische Theorie, das heißt ein kohärentes System moralischer Überzeugungen zu entwickeln. Eine zentrale Rolle in der ethischen Methodologie spielt das Gedankenexperiment: Zum Zwecke ethischer Begründung wird darin der Standpunkt der Moral, das heißt eine um Transzendierung der eigenen Interessen bemühte Perspektive eingenommen. Auch in der TA finden sich Ansätze, die darauf zielen, im Modus ethischer Reflexion eine normative Grundlage für ihre Arbeit zu entwickeln. Als Beispiele sind Ansätze zu nennen, die in technik- oder ingenieursethischer Tradition stehen (etwa das TA-Konzept "Technikbewertung" des VDI) oder auch das Konzept der rationalen Technikfolgenbeurteilung. Wie ist nun das Verhältnis von Ethik und Neutralität zu bestimmen? Kann eine ethisch fundierte TA als neutral bezeichnet werden, oder steht der Modus der Ethik mit der Forderung nach Neutralität in Konflikt? Versteht man Neutralität als Unparteilichkeit, als Anspruch, das eigene Urteilen und Handeln nicht an einer anderen Partei zu orientieren, so wäre der Standpunkt der Moral eher als neutral denn als parteiisch zu charakterisieren. Da es menschliche Existenz ohne Einbettung in das Soziale und darin ohne Standpunkt nicht gibt, ist der um Unparteilichkeit bemühte "Standpunkt der Moral" dem Ideal der Neutralität möglicherweise am nächsten. Allerdings: Ethisch fundierter TA das Attribut der Neutralität zu- und es der Politikberatung abzusprechen, liefe dem in der TA üblichen Gebrauch des Neutralitätsbegriffs diametral entgegen. Was aber müsste unter "Neutralität" verstanden werden, um der üblichen Begriffsverwendung Rechnung zu tragen? "Neutralität" müsste bedeuten, die eigenen (epistemischen und moralischen) Überzeugungen, das eigene Urteilen und Handeln gegenüber den Überzeugungen, dem Urteilen und Handeln einer anderen Partei gänzlich zurücktreten zu lassen. In diesem Sinne ist TA neutral, wenn sie keine eigene Position vertritt, sondern sich Positionen einer anderen Partei (etwa des Auftraggebers von Beratungsleistungen) immer dann zu eigen macht, wenn diese von der eigenen Position abweichen. TA als Parlamentsberatung entspricht diesem Neutralitätsideal durchaus in einem gewissen Maße, und TA im Modus ethischer Reflexion steht im Widerspruch zu ihm. Wenngleich Neutralität als Positionslosigkeit sich von der Ursprungsbedeutung des Neutralitätsbegriffs ein gutes Stück entfernt, ist der Begriff so an die einschlägige Debatte um das Rollenverständnis problemorientierter Forschung anschlussfähig. Zwischen Neutralität und Bewertung: Fazit Allerdings kann das so verstandene Konzept der Neutralität nicht mehr die Funktion erfüllen, eine angemessene Verortung der TA angesichts der gegenläufigen Impulse "Wissenschaftlichkeit" und "Problemorientierung" aufzuzeigen. Es benennt vielmehr selbst einen Pol des Spannungsfeldes, in dem TA sich bewegt – zwischen Neutralität (als Positionslosigkeit) und Bewertung (als dem Vertreten eigener Positionen). Dieses Spannungsfeld ist für die TA fundamental. Auf der einen Seite bleibt das Primat der Politik bei der Setzung allgemeinverbindlicher Normen bestehen. Auf der anderen Seite gibt es verschiedene Gründe, die das Einbringen eigener epistemischer und moralischer Überzeugungen durch TA erforderlich und angemessen erscheinen lassen. Zum Ersten erscheint dies forschungspraktisch unabdingbar. So ist Frühwarnung vor technikbedingten Risiken durch die TA notwendigerweise agenda setting auf Basis der Überzeugung, dass eine gesellschaftliche Problemlage droht. Zum Zweiten existieren Wissenschaftler nicht nur in der Rolle des Wissenschaftlers, sondern sie sind Personen mit einer eigenen Moralität. Aus wissenschaftsethischer Perspektive erscheint es geboten, ihnen dies unter dem Aspekt der Einheit der Person grundsätzlich zuzugestehen: "Zwar gibt es spezifische Rechte und Pflichten, die mit spezifischen beruflichen Rollen verknüpft sind, aber dennoch muss das Gesamt der normativen Orientierungen in sich hinreichend kohärent sein, um dieser eine durchgängige Welt- und Handlungsorientierung zu ermöglichen. Dies gilt auch für die Person, die ihren Beruf im Bereich der Wissenschaft gewählt hat. Sie muss ihr Tun gegenüber sich und anderen auch außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes rechtfertigen können; sie darf nicht zu einer Aufsplitterung ihrer Person in eine wissenschaftliche, öffentliche und in eine private Rolle mit je unterschiedlichen normativen Einstellungen gezwungen sein." Schließlich muss TA im Modus ethischer Reflexion nicht im Widerspruch zu demokratischer Willensbildung gesehen werden. Ethische Reflexion stellt vielmehr ein wesentliches Element derselben dar. Sie ist keine akademische Besonderheit, sondern grundlegender Bestandteil lebensweltlicher Kommunikation. Dass sie zugleich eng mit empirischen Befunden verwoben ist, rückt die besondere Bedeutung ethischer Reflexion in der Wissenschaft ins Licht: Praktisch-ethische Argumente werden nicht im luftleeren Raum, sondern in Konfrontation mit lebensweltlichen Problemlagen entwickelt – gerade auch solchen, die im Kontext des wissenschaftlich-technischen Wandels stehen. Vor diesem Hintergrund erscheinen wissenschaftliche Beiträge zum politischen Diskurs, die auch normative Anteile umfassen, unabdingbar. Das bedeutet freilich nicht, der Politik ihre Legitimation, allgemeinverbindliche Normen festzulegen, streitig machen oder gar absprechen zu wollen. Es verdeutlicht lediglich, dass die mit Blick auf gesellschaftliche Technikgestaltung wesentliche Differenz zwischen Wissenschaft und Politik nicht in einer vermeintlich grundlegend unterschiedlichen Qualität der Überzeugungen und Argumente liegt, sondern in den unterschiedlichen Funktionen von Wissenschaft und Politik in der Gesellschaft. Die Politik steht gleichsam am Ende eines demokratischen Diskurses, der auch die Wissenschaft umfasst. Nach alledem erscheint es unangebracht, wenn sich TA im Spannungsfeld von Neutralität und Bewertung nur mit äußerster Zögerlichkeit bewegt. Eine allzugroße Scheu vor dem Einbringen eigener Positionen ließe sich geradezu als Überschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten interpretieren: In wirkungsvollen demokratischen Strukturen läuft eine von der TA geäußerte, eigene Position nicht Gefahr, unmittelbar Niederschlag in geltendem Recht zu finden. Was sich freilich verbietet, ist eine Haltung wissenschaftlicher Überheblichkeit. Zwar gilt der wissenschaftliche Anspruch, herauszufinden, was der Fall ist und was nicht – immer jedoch in Verbindung mit dem Wissen um die eigene Begrenztheit: dass man Fehler gemacht haben könnte, dass wichtige Punkte übersehen worden sein könnten, dass andere Perspektiven möglich und berechtigt sind. Weitere Spannungsfelder sind unter anderem: TA soll gesichertes wissenschaftliches Wissen bereitstellen und zugleich an vorderster Forschungsfront anknüpfen. Sie muss im Sinne eines möglichst großen Gestaltungsspielraums bereits frühzeitig im Prozess der Technikgestaltung ansetzen, im Sinne von belastbaren Aussagen über die tatsächliche Ausprägung, Nutzungsweise und Folgen von Technik hingegen zu einem möglichst späten Zeitpunkt (Collingridge-Dilemma). Für eine ausführliche Charakterisierung der TA vgl. Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung, Berlin 20102; in knapper Form: Marc Dusseldorp, Technikfolgenabschätzung, in: Armin Grunwald (Hrsg.), Handbuch Technikethik, Stuttgart 2013, S. 394–399. Historisch lässt sich diese Vielfalt wie folgt erklären: Zum Ersten suchten bestehende Forschungsansätze mit TA-Charakter Anschluss an das Label "TA", das Ende der 1960er Jahre im Kontext der Einrichtung des Office of Technology Assessment beim US-amerikanischen Kongress etabliert worden war. Zum Zweiten vollzog sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Prozess der Ausdifferenzierung der TA, der von intensiver gegenseitiger Kritik über Disziplingrenzen hinweg gekennzeichnet war. Hierzu zählen etwa die Ansätze der partizipativen TA, der konstruktiven TA sowie der rationalen Technikfolgenbeurteilung. Vgl. Georg Simonis (Hrsg.), Konzepte und Verfahren der Technikfolgenabschätzung, Wiesbaden 2013. Vgl. Armin Grunwald, Parlamentarische TA als neutrale Politikberatung – Das TAB-Modell, in: TAB-Brief Nr. 26, Juni 2004, S. 6–9. Siehe hierzu auch den Beitrag von Armin Grunwald/Leonhard Hennen/Arnold Sauter in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache, Externer Link: http://www.dwds.de (15.1.2014). Das Adjektiv "neutral" wird im 16. Jahrhundert zunächst in der Sprache der Politik, seit dem späten 18. Jahrhundert in den Naturwissenschaften in der Bedeutung "weder sauer noch basisch" gebraucht, im 19. Jahrhundert schließlich in der Grammatik zur Bezeichnung des sächlichen Geschlechts. Hier zeigt sich, dass die Metapher des "Zu-keinem-von-beiden-Gehörens" nicht ohne weiteres aus dem politisch-militärischen Kontext übertragen werden kann. Während dort eine Nichteinmischung in kriegerische Auseinandersetzungen möglich ist, befindet sich TA notwendig auf dem diskursiven "Schlachtfeld". Vgl. Thomas Petermann/Armin Grunwald, Technikfolgen-Abschätzung für den Deutschen Bundestag, Berlin 2005. So muss der Bundestag der Bestellung von externen Fachwissenschaftlern als Gutachter jeweils zustimmen. Ein Beispiel: Eine Studie zur Nanotechnologie kann die Giftigkeit von Nanopartikeln ausblenden (und sich auf Ressourcenaspekte oder Innovationspotenziale konzentrieren) oder ansprechen. Im letzteren Fall kann sie eine bestimmte Stoffgruppe (etwa Nano-Silber) in den Mittelpunkt stellen, eine andere (etwa Nano-Titandioxid) hingegen nicht. Sie kann toxikologische Untersuchungen an einer bestimmten Tierart vornehmen und eine hinreichende Aussagekraft für den Menschen unterstellen (die sich im Nachhinein als falsch herausstellen kann) – usw. Für das Beispiel des TAB vgl. T. Petermann/A. Grunwald (Anm. 8); Richard Finckh/Marc Dusseldorp/Oliver Parodi, Die TA hält Rat. Zum Beratungsbegriff in einer Theorie der TA, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, 17 (2009) 1, S. 117f. Die Referenzdokumente der Nachhaltigkeitsdebatte sind bis heute der Abschlussbericht der WCED (der sogenannte Brundtland-Bericht: WCED, Our Common Future, Oxford 1987) sowie die Abschlussdokumente der Rio-Konferenz, insbesondere die Rio-Deklaration, und die Agenda 21. Hervorzuheben sind die Arbeiten der (2003 geschlossenen) Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg (Anja Knaus/Ortwin Renn, Den Gipfel vor Augen. Unterwegs in eine nachhaltige Zukunft, Marburg 1998) und des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie (Jürgen Kopfmüller et al., Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet – Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren, Berlin 2001). Vgl. Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung als Nachhaltigkeitsbewertung, in: Jürgen Kopfmüller (Hrsg.), Ein Konzept auf dem Prüfstand. Das integrative Nachhaltigkeitskonzept in der Forschungspraxis, Berlin 2006, S. 39–61. Siehe Anm. 13. Zu den Merkmalen von Beratungskonstellationen vgl. Alfons Bora, "Gesellschaftsberatung" oder Politik? Ein Zwischenruf, in: Claus Leggewie (Hrsg.), Von der Politik- zur Gesellschaftsberatung. Neue Wege öffentlicher Konsultation, Frankfurt/M. 2007, S. 117–132. Der Nachhaltigkeitsbegriff kann freilich auch normativ-ethisch begründet werden. Faktisch spielt die bloße Bezugnahme auf die Begriffsverwendung in den einschlägigen Diskussionen jedoch eine bedeutende Rolle. Insbesondere ist fiktive Beratung – ebenso wie Beratung und Ethik als Modi normativer Reflexion – als Idealtypus zu verstehen. Vgl. Marc Dusseldorp, Beratung als Modus normativer Reflexion. Was die Umweltethik von der Technikfolgenabschätzung lernen kann, in: Markus Vogt/Jochen Ostheimer/Frank Uekötter (Hrsg.), Wo steht die Umweltethik?, Marburg 2013, S. 347–357. Vgl. Julian Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik. Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: ders. (Hrsg.), Angewandte Ethik, Stuttgart 2005, S. 3–87. Dennoch können verschiedene Menschen, die den "Standpunkt der Moral" einnehmen, selbstverständlich zu unterschiedlichen moralischen Urteilen kommen. Julian Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: ders. (Anm. 19), S. 834–860, hier: S. 847. Freilich stellt sich die Frage, wie weit die eigene Moralität des Wissenschaftlers reichen darf. Eine Antwort lässt sich in Analogie zur Radbruchschen Formel wie folgt formulieren: Ein Wissenschaftler soll sich immer nur dann gegen die herrschende Überzeugung von Politik und Öffentlichkeit stellen, wenn eine Entwicklung als "unerträglich ungerecht" anzusehen ist. Zur Verbindung ethischer und politischer Diskurse vgl. Carmen Kaminsky, Moral für die Politik, Paderborn 2005.
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, Marc Dusseldorp
"2022-04-05T00:00:00"
"2014-01-27T00:00:00"
"2022-04-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/177767/technikfolgenabschaetzung-zwischen-neutralitaet-und-bewertung/
Technikfolgenabschätzung ist mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert. Eines der Spannungsfelder liegt zwischen den Polen Neutralität und Bewertung. Was aber ist mit Neutralität gemeint, und inwieweit kann sie realisiert werden?
[ "Technikfolgenabschätzung", "Forschung", "Neutralität", "Nachhaltigkeit" ]
30,812
Wirtschaftsmacht Modeindustrie – Alles bleibt anders | Mode | bpb.de
Zwölf Kilogramm Bekleidung kauft im Schnitt jeder Deutsche im Jahr. Neun von zehn dieser Kleidungsstücke kommen aus Ländern, die nur geringe Lohn- und Produktionskosten aufweisen. Mehr als 50% der nach Deutschland importierten Ware stammt aus Asien, insbesondere aus China, der Türkei und Bangladesch. Die Produktionssituation in Deutschland ist eine ganz andere. Schneidereien existieren kaum noch, Unternehmen mit deutscher Produktion bilden die Ausnahme. Hierzu gehören beispielsweise die Unternehmen Trigema, Seidensticker oder auch teilweise Boss. Seit Jahren sinkt die Zahl der Beschäftigten – 2011 arbeiteten rund 12000 weniger Beschäftigte in der Industrie als noch 2008. Doch wie kam es dazu? Im Folgenden zeigen wir auf, was die Textil- und Bekleidungsindustrie ausmacht und wie sich ihre Entwicklung bis heute vollzogen hat. Modeindustrie als Teil der Textilwirtschaft Die Modeindustrie, die vielfach auch als Bekleidungsindustrie bezeichnet wird, ist Teil der Textilwirtschaft. Die Textilwirtschaft bezeichnet den Prozess der Verarbeitung und Distribution von textilen Gütern – mehrstufig von der Faser bis zum Verkauf. Die Begriffe Textil- und Bekleidungsindustrie als Prozessstufen der Textilwirtschaft werden heute häufig als Synonyme verwendet. Jedoch muss hier unterschieden werden: Textilien – Faserstoffe sowie Roh-, Halb- oder Fertigfabrikate – sind Gefüge aus Naturfasern (pflanzlich, tierisch, mineralisch) oder Chemiefasern (synthetisch, anorganisch). Die Textilindustrie besteht aus Betrieben, die Textilwaren erzeugen oder bearbeiten. Vier Produktionsbereiche lassen sich dieser Industrie zuordnen: Faseraufbereitung (Vorbereitung der Spinnstoffe), Faserverarbeitung (Herstellung von Garnen), Garnverarbeitung (Wirken, Stricken, Weben) und Konfektion (Verarbeitung zu textilveredelten Flächen: Bekleidung, Heim- und Haustextilien sowie technische Textilien). Unternehmen der Bekleidungsindustrie erstellen das Design der Bekleidung, stellen die Kleidung her und vertreiben diese. Die Unternehmen können die Kollektionen und Serien selbst fertigen (komplette Eigenproduktion), aber auch von ausländischen Zulieferern fremdbeziehen. Die Bekleidungsindustrie verarbeitet den größten Anteil der Erzeugnisse aus der Textilindustrie weiter zu Damen-, Herren- und Kinderoberbekleidung, Miederwaren und Wäsche, Berufs- und Sportbekleidung sowie sonstigen Bekleidungserzeugnisse. Die Entwicklung der Kollektion bildet die erste Wertschöpfungsstufe der Bekleidungswirtschaft. Die Marketing-, Verkaufs- und Fertigungsabteilungen sowie Trendscouts müssen feststellen, ob die Modelle marktfähig und produzierbar sind. Darauf aufbauend werden erste Prototypen in Deutschland oder im Ausland erstellt und finalisiert. Es folgt die Orderphase. Einzelhändler können in Showrooms die Modelle begutachten und bestellen. Die Kapazitäten zur Produktion werden oftmals lange im Voraus bei den Lieferanten geblockt. Geschichte der Textil- und Bekleidungsindustrie Die erste vorindustrielle Ausprägung einer Textil- und Bekleidungsbranche in Westeuropa ist dem Mittelalter zuzuordnen. Während die Bauern gesponnene Garne zur Weiterverarbeitung anfertigten, nutzten die Hausweber diese dezentrale, ländliche Produktion zur Textil- und Bekleidungsproduktion. Der Vertrieb der Produkte wurde durch sogenannte Verleger (Händler) zentral gesteuert und führte zur Entstehung einer Textil- und Bekleidungsbranche mit Zünften. Das schnelle Bevölkerungswachstum, neue Absatzmärkte und eine rasche räumliche Ausbreitung führten im 16. und 17. Jahrhundert zu einer Neustrukturierung des Marktes. Neue Verkehrsnetze wurden gebildet, die den Handel von Produkten und Waren enorm erleichterten. Einen wichtigen Grundstein für die heutige Textil- und Bekleidungsindustrie lieferten technologische Entwicklungen – von der einfachen maschinellen Verarbeitung bis hin zu einer industriellen Struktur mithilfe der Mechanisierung der Baumwollherstellung. Aufgrund kolonialer Beziehungen zu Indien und den amerikanischen Südstaaten sowie seiner starken Seemacht erarbeitete sich England in dieser Phase eine einzigartige Import- und Exportstellung. Hinzu kamen zahlreiche Erfindungen, die die weltweite Ausnahmestellung Englands verfestigten. Der Bau von Textilmaschinen wurde professionalisiert, und es entstand ein eigener Wirtschaftszweig. In Deutschland wurde das englische Produktions- und Verkaufsniveau von 1788 erst 1835 erreicht. Die Hochkonjunktur ab Mitte des 19. Jahrhunderts führte zu einer steigenden Textilnachfrage und einem Ausbau der Infrastruktur. Trotzdem nahm die Relevanz der Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich zu. Zwischen 1880 und 1895 stieg die Anzahl der Textilbetriebe um 50% auf 3260, die Anzahl der Beschäftigten in den Betrieben um fast 70% auf über 580.000. Mit dem Anstieg der Produktion chemischer Fasern ab 1933 konnte die Dominanz Englands gebrochen werden. Die kurze Boomphase endete mit Beginn des Zweiten Weltkrieges. Nahezu die Hälfte der Arbeitskräfte wurde für die Kriegsführung benötigt, Fabrikanlagen zu Produktionsanlagen für die Rüstungsindustrie umgebaut. Neue Akteure in der Textilindustrie erschienen auf dem Markt: Asien, Südamerika, Australien und Afrika konnten im Schatten des Krieges eine moderne Textilindustrie aufbauen. In der Nachkriegszeit bestimmte eine erhöhte Nachfrage nach Kleidung und der technische Neuaufbau nach den Zerstörungen durch den Krieg die Branche. In den 1950er Jahren konnte die deutsche Textilindustrie ihre Umsätze, insbesondere durch den verstärkten Einsatz von Chemiefasern, steigern. Als die Globalisierung zuschlug Die OECD charakterisiert Globalisierung als eine sich verstärkende Entwicklung von strategischen, internationalen Unternehmenskooperationen, mit einem hohen Anteil an Direktinvestitionen innerhalb der Auslandsproduktion. Die Aktivitäten im Ausland sind durch die Liberalisierung der Weltmärkte weit über den Globus verteilt. Die Menge an Produktionsschritten, wandelbaren Produkten und die vielen Regularien des Marktes machen die mittelständisch geprägte Textilindustrie zu einem guten Beispiel für die Globalisierung. Die Modebranche gilt als eine der Ersten, die sich global vernetzt hat. Heute ist sie eine der Branchen, die am stärksten in eine internationale Arbeitsteilung involviert ist. Schon vor den 1970er Jahren unterlag die Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland diesem Strukturwandel. Die Industrie begann mit den ersten Verlagerungen von Produktionen – bedingt durch die Möglichkeit, die Prozesse der Produktion von Textilien und Bekleidung und deren einzelnen Fertigungsstufen geografisch zu verteilen. Auch Quotenregelungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), des Multifaserabkommens (MFA) und der Welthandelsorganisation (WTO) haben zu dieser Internationalisierung geführt. Um die eigenen Märkte vor der günstigeren ausländischen Konkurrenz abzusichern, wurden diese Handelsbeschränkungen entwickelt. Letztlich kam es dadurch zu einer Auslagerung der Produktion in Märkte, in denen die Quoten noch nicht erschöpft waren. Bedingt durch den Strukturwandel wuchs die deutsche Textilindustrie in den 1960er bis 1980er Jahren im Vergleich zu anderen Branchen unterdurchschnittlich. Zwischen 1970 und 1980 wurden 200.000 Mitarbeiter entlassen; 1980 waren nur noch 550.000 Arbeitnehmer der Textil- und Bekleidungsindustrie zugeordnet, etwa 2,2% aller Beschäftigten. In den ostdeutschen Bundesländern ging dieser Wandel in kürzester Zeit vonstatten; die Zahl der Beschäftigten der Textil- und Bekleidungsindustrie sank seit 1989 um neun Zehntel. In den 1990er Jahren geriet die europäische Textil- und Bekleidungsindustrie zusätzlich durch die Rezession in Europa, einem folgenden geringen Aufschwung sowie durch neue Technologien unter Druck. Mitte der 1990er Jahre wurden auch in der deutschen Chemiefaserindustrie Umsätze und Beschäftigtenzahlen zugunsten von Drittländern geringer. Gemessen an der gesamten verarbeitenden Industrie hat sich der Anteilsverlust seitdem zwar stetig verlangsamt. Trotzdem hat sich die Position der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie im Weltmarkt relativ verschlechtert – dies gilt sowohl für den Weltmarkt von Textilien und Bekleidung als auch im Vergleich zu anderen Branchen im Inland. In Deutschland kann heutzutage somit nur noch mit Einschränkungen von einer Textil- und Bekleidungsindustrie gesprochen werden. Produktionen finden hier kaum mehr statt, die Zahl der Unternehmen und Beschäftigten geht stringent zurück und der Umsatzanteil des verarbeitenden Gewerbes der Textil- und Bekleidungsindustrie lag 2013 lediglich bei 1%. Die Vorteile der hier ansässigen Unternehmen liegen in der Marktnähe, den kurzen Lieferzeiten und der hohen Flexibilität. Des Weiteren sind sie nicht von Produktionsschwankungen im Ausland betroffen. Trotz der schlechten Produktionszahlen ist die Branche die zweitgrößte Konsumgüterbranche nach der Lebensmittelindustrie. Zudem sind mittelbar und unmittelbar Arbeitsplätze in anderen Industriezweigen mit der Textil- und Bekleidungsindustrie verbunden. So ist sie Zulieferer für die Fahrzeug-, Pharma- und Bauindustrie und bezieht Leistungen zum Beispiel aus dem Maschinenbau oder der chemischen Industrie. Die meisten deutschen Unternehmen der Branche begrenzen sich aber auf Aktivitäten vor und nach der Produktion (Entwicklung sowie Steuerung der Unternehmensabläufe). Die Gründe für diese Entwicklung sind mannigfaltig: Niedrige Marktbarrieren: Die Möglichkeit der Trennung der Produktionsprozesse (Raum, Zeit, Organisation) verstärkt die Konkurrenzsituation und führt zu einer Verlagerung in Niedriglohnländer sowie zu einem Abbau der Beschäftigung in Deutschland. Individualität der Konsumenten: Das Verhalten der Konsumenten ist durch die gesteigerte Individualität und Sättigungserscheinungen schwerer vorhersehbar, und die Ausgaben für Bekleidungen haben sich – gemessen am verfügbaren Einkommen – reduziert. Unternehmen müssen flexibler werden. Verkürzte Lead-Time: Unternehmen verkürzen die Auslieferungszeit ihrer Produkte durch eine effizientere Gestaltung der Supply-Chain (Lieferkette). So können die Produktionen schneller und flexibler an die Kundenwünsche angepasst werden. Gründe für dieses wettbewerbsrelevante Verhalten sind kürzere Modezyklen, kleinere Losgrößen und kurzfristigere Bestellungen. Industrielle Massenkonfektion: Individualisierte, hochwertige Massenware bei gleichzeitig geringeren Kosten soll mithilfe von Fertigungstechnologien und elektronischer Vernetzung Alternativen zu einer Kosten- oder Produktführerschaft schaffen. Diversifizierung: Ein sinkender Marktanteil des Facheinzelhandels, wachsende Supermärkte, Discounter oder auch der stark wachsende Onlinehandel ändern die Strukturen des Bekleidungseinzelhandels. Handel und Hersteller: Die Wichtigkeit von Handelsmarken im Vergleich zu Herstellermarken nimmt zu. Händler nutzen ihre Nachfragemacht, um weitere Leistungen wie schnellere Nachordern zu erzielen. Vertikale Integration und Koordination: Probleme der Koordination von Schnittstellen bei kurzfristigen Marktbeziehungen können Verluste verursachen (nicht vorhandene Ware, Retouren, Reduzierungen). Die vertikale Integration wird durch den Handel im Rahmen der Übernahme weiterer Bereiche der Supply-Chain vorgenommen, aber auch durch die Industrie, die Verkaufsfunktionen übernimmt, um Absatz und Wettbewerbsfähigkeit zu überwachen. Abbildung 1: Kostenstruktur in der deutschen Bekleidungsindustrie 2012 Hinzu kommt das hohe Lohnniveau – vor allem im Konfektionsbereich – das eine enorme Belastung darstellt. Beispielsweise liegen bei Trigema rund 52% Lohnkosten gemessen am Umsatz vor. Abbildung 1 zeigt die Kostenstruktur in der deutschen Bekleidungsindustrie 2012. Dort wird auch deutlich, dass bei einer in der Regel ins Ausland ausgelagerten Lohnfertigung nur Kosten in Höhe von 9% des Umsatzes anfallen. Die Standortnachteile sollen durch hochwertige Textilprodukte und anspruchsvolle technische Textilien ausgeglichen werden. Bei steigenden Löhnen zielen Unternehmen auf eine Erhöhung der Fertigkeiten der Produkte. Der globale Marktanteil von deutschen Unternehmen im Bereich der technischen Textilien liegt hier bei 45%. Auf die Bekleidungsindustrie konnte diese Entwicklung jedoch nicht projiziert werden, da hier der Anteil an Näharbeiten und Finishing der Bekleidung bei 80% liegt. Auch neue Technologien konnten diesen Prozentsatz bisher nicht verringern. Verlagerung der Produktionsstätten: Im- und Exportsituation in Deutschland Grundsätzlich können innerhalb des Strukturwandels drei Arten der Verlagerung der Produktion in das kostengünstigere Ausland unterschieden werden. Die komplette Produktion im Ausland – entweder selbstständig durch einen lokalen Anbieter oder nach detaillierten Angaben durch den Kunden – wird als Vollimport bezeichnet. Dies ist mit höheren Anforderungen an den Lieferanten belegt. So müssen Vorprodukte selber beschafft, die Bekleidung gefärbt, gewaschen und verpackt werden. Bei der Lohnfertigung im Ausland nimmt der Auftraggeber im eigenen Land Fertigungsschritte selbst vor. Hierzu gehört oftmals die passive Lohnveredelung, also die Lieferung der Stoffe an die Produzenten. Zumeist werden die Stoffe im Produktionsland dann zugeschnitten, gelegt und letztendlich vernäht. Als letzte Art der Produktionsverlagerung ist die Eigenfertigung in Auslandsniederlassungen zu nennen. Durch eine steigende Qualität der ausländischen Lieferanten ist diese Art der Verlagerung aber äußerst selten. Ein Grund für die Wahl eines Produktionsstandorts ist oftmals die Anlieferungszeit der fertigen Bekleidungsteile. Da bei der passiven Lohnveredelung die Wege zweimal zurückgelegt werden, greifen europäische Bekleidungshersteller gerne auf europäische Lieferanten zurück. Im Bereich der Vollimporte ist Asien mit seinen gut entwickelten Standards und Wettbewerbsvorteilen ein beliebter Produktionsstandort. Abbildung 2: Wichtigste Herkunftsländer für Textil- und Bekleidungsimporte nach Deutschland nach Einfuhrwert 2013 (in Millionen Euro) China führt das Ranking der Einfuhrwerte wichtiger Importländer nach Deutschland 2013 deutlich an (Abbildung 2). Bekleidung im Wert von 7,87 Milliarden Euro wird von dort aus nach Deutschland verschifft. Es folgen Bangladesch (3,24 Milliarden Euro) und die Türkei (3,1 Milliarden Euro). Da der Durchschnittswert pro Bekleidungsstück insgesamt niedriger ist als die Preise der Einfuhren aus nicht-asiatischen Ländern, kann somit die mengenmäßige Bedeutung asiatischer Produzenten als deutlich höher angesehen werden. Insgesamt können in Deutschland wertmäßige Importe von 26,58 Milliarden Euro verzeichnet werden, eine Veränderung zum Vorjahr von 2,5%. Bis Ende Juni 2014 ist ein erneuter Anstieg der Textilimporte im Vergleich zum ersten Halbjahr 2013 zu verzeichnen. Führende Händler und Modemarken befürchten nach der Deflation der Einkaufspreise innerhalb der Produktion von Bekleidung zukünftig eine Preissteigerung von mehr als 4%. Gründe liegen in den Lohnkosten, die momentan vor allem in China wachsen, aber auch in steigenden Material- und Rohstoffkosten. Um dies zu umgehen, werden neue Produktionsstandorte gesucht, 72% der Unternehmen wollen ihre Produktion weiterhin von China in andere Länder verlagern. Insbesondere Bangladesch, Vietnam, Indien und Myanmar gehören zu den kommenden wichtigsten Beschaffungsländern. Trotz der Probleme im Bereich der Sozialstandards in Bangladesch scheint eine Alternative noch nicht erkennbar. Einkäufer der führenden Marken ziehen deswegen eine Ausweitung der Beschaffung aus diesem Land in Betracht. Es soll hierbei aber insbesondere in Standards für Audits und Brandschutz investiert werden – und das nicht nur in Bangladesch. Zu Deutschlands wichtigsten Handelspartnern für Textil- und Bekleidungsexporte gehörten in 2013 insbesondere Länder aus der EU: Österreich, die Niederlande und Frankreich. Insgesamt sind die Exporte gestiegen – von 2012 auf 2013 um etwa 1,4%, im Vergleich der ersten Halbjahre 2013/2014 sogar um 5,5% (Frankreich plus 11,3%; Großbritannien plus 23,7%, Dänemark plus 21,6%). Umsätze im Überblick Abbildung 3: Umsatz der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (Betriebe mit 20 oder mehr Beschäftigten) 2005 bis 2013 (in Milliarden Euro) Textil- und Bekleidungsindustrie. 2013 konnte ein Umsatz von 11,3 Milliarden Euro innerhalb der Textilindustrie verzeichnet werden, für die Bekleidungsindustrie war es ein relativ schwieriges Jahr (Abbildung 3). Steigende Rohstoff- und Energiekosten sowie Wirtschaftskrisen in europäischen Ländern führten zu einem Rückgang der Umsätze auf rund 7,5 Milliarden Euro, zu Insolvenzen und zu Entlassungen. 2012 existierten in Deutschland gut 10750 Unternehmen der Mode- und Textilindustrie. Die Anzahl kleinerer Unternehmen mit einem Jahresumsatz von unter einer Millionen Euro lag bei über 80%. Trotzdem erwirtschaften diese Unternehmen nur einen Anteil am Gesamtumsatz der Industrie von unter 5%. Einzelhandel. Die Geschäftsjahre 2008 und 2009 des Textil- und Bekleidungshandels waren von einer starken Kaufzurückhaltung betroffen. Dieser Trend konnte jedoch seit 2010 in eine positive Entwicklung umgekehrt werden. Die nominale Umsatzentwicklung zum Vorjahreszeitraum in Prozent im stationären Einzelhandel für die Bereiche Bekleidung, Haustextilien sowie Heimtextilien zeigt eine analoge Entwicklung. Hierbei ist zu bemerken, dass 2012 rund 34,2 Prozent der Umsätze auf die zehn größten Bekleidungshändler in Deutschland fallen, darunter mittlerweile einige branchenfremde Anbieter wie Lidl, Tchibo oder Aldi. Onlinehandel. Der Anteil des Onlinehandels am Branchenumsatz des Versandhandels überstieg 2009 erstmalig mit 53,3% die 50%-Marke, seit Jahren wächst er zweistellig. Der interaktive Handel (Online und Katalog) mit Bekleidung, Wohntextilien und Schuhen erreichte 2013 einen Umsatz von 16,1 Milliarden Euro, ein Plus von 14% im Vergleich zu 2012, wobei der reine Onlinehandel von den sinkenden Zahlen des Kataloghandels profitierte. Gleichzeitig stieg die Anzahl an Unternehmen des interaktiven Handels – 2005 existierten noch 395, 2012 waren es schon 3850 Unternehmen mit 43700 Mitarbeitern. Die Umsätze der 100 größten Onlinehändler in Deutschland (beispielsweise Otto, Klingel, QVC, Amazon, Zalando) sind 2013 auf 19,6 Milliarden Euro angewachsen. Momentan haben 9% der Händler einen Onlineshop gelauncht, 5% greifen auf bestehende Plattformen wie Amazon zurück. Insbesondere die Wettbewerbsintensität durch die Transparenz im Internet, aber auch die steigende Anzahl von Retouren stellen Probleme dar – nicht nur für die Unternehmen, auch für die Umwelt. Die Otto-Group hat begonnen, Lösungen zu suchen, und hat die Größen der Versandkartons und damit die LKW-Ladungen um mehr als 550 pro Jahr verringert. Die Zukunft scheint rosig, die Onlineumsätze steigen weiter. Zumal der grenzüberschreitende E-Commerce durch eine Vereinheitlichung der Gesetze bis 2020 vereinfacht wird. Arbeitsbedingungen und Umweltbelastungen Die gestiegene Nachfrage nach Auslandsproduktionen führte zu der Errichtung von Exportwirtschaftszonen, die eine schnelle Ansiedlung neuer Produktionsstätten in Schwellen- und Entwicklungsländern fördern. 2003 gab es etwa 2000 dieser Zonen in 70 Schwellen- und Entwicklungsländern. Inklusive der chinesischen Sonderwirtschaftszonen sind in diesen Zonen zwischen 70 bis 100 Millionen Menschen beschäftigt. Manche dieser Exportzonen führen kein nationales Arbeitsrecht, verbieten Gewerkschaften oder deren Aktivitäten. Junge Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren machen gut 60% der Beschäftigten aus. Als Beispiel kann Bangladesch genannt werden. 2,2 Millionen junge Frauen arbeiten in der Textilbranche, anders als in Deutschland aber 13 bis 16 Stunden täglich, leisten zusätzlich Überstunden und das alles bei einem geringen Lohn von 20 Euro pro Monat. Die fehlende Schulbildung bietet den Frauen kaum eine Alternative. Insbesondere die teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen stehen im Mittelpunkt der Kritik von NGOs, die seit den 1990er Jahren in diesem Bereich aktiv sind. Die meisten Unternehmen beriefen sich damals auf die juristische Unabhängigkeit der Lieferanten und wiesen die Kritik der NGOs ab. Erst Ende der 1990er Jahre reagierten die ersten Markenunternehmen; No-Name-Anbieter sowie Anbieter von Billigware verhalten sich bis heute passiv. Bei Auflistung der Kosten eines Kleidungsstückes, das in einem solchen Schwellenland produziert wird, wird sichtbar, wie sich die Bezahlung der Näherinnen gestaltet. Verkauft wird beispielsweise eine Jeans für 14 Pfund (circa 16 Euro), hergestellt wird sie in Bangladesch. Die Produktionskosten stellen 5% des Gesamtpreises dar und liegen bei 1,16 US-Dollar. Dabei werden mit 90 Cent die Fabrikkosten gedeckt, 26 Cent sind Gewinn der Fabrik. Zu den Fabrikkosten gehören Löhne und Sicherheitsmaßnahmen. Die restlichen Kosten der Produktion sind Vertrieb, Ladenkosten (zusammen 47%), Transport (20%) und Materialkosten (18%) zuzuordnen. Die Margen sind somit enorm, eine Jeans aus China kostete 2008 nur 6,93 Euro, aus Bangladesch sogar nur 4,72 Euro. Selbst ein No-Name-Shirt mit einem Verkaufspreis von 4,95 Euro erzielt noch einen Gewinn von 13%, etwa 40% der Kosten generieren die deutschen Lohnkosten, Ladenmieten und die Werbung – der Lohn der Näherinnen macht lediglich 2,6% aus. Größere Unternehmen verfügen mittlerweile über Verhaltenskodizes, innerhalb derer sich die Zulieferer verhalten sollen. Sublieferanten werden hier jedoch oftmals nicht mit einbezogen und unterliegen somit keinem Schutz. Fortschritte sind insbesondere bei unternehmensübergreifenden Verhaltenskodizes erkennbar, dennoch herrschen bei vielen Zulieferern noch völlig mangelhafte Arbeitsbedingungen. Ein Abbruch der Geschäftsbeziehungen scheint aber selten als Lösung genutzt zu werden, vielmehr wird versucht, gemeinsam Missstände zu beseitigen. Trotz stetiger Versprechen ändert sich nicht viel. Unternehmen werden zumeist von tausenden Fabriken beliefert, eine überall implementierte Kontrolle ist kaum möglich. Bei der Diskussion über die unzureichenden Produktions- und Fertigungsbedingungen darf aber auch nicht übersehen werden, dass die Rahmenbedingungen in Ländern wie Bangladesch erhebliche Defizite aufweisen, beispielsweise bei der Überwachung der Bausicherheit, den Rechten für Arbeitnehmer und Gewerkschaften oder bei der Bekämpfung der Korruption, die oft schon erste Ansätze einer Sozial- und Umweltgesetzgebung zunichtemacht. All dies sind Aspekte, auf die die Textil- und Bekleidungsindustrie nur begrenzt Einfluss nehmen kann. Letztlich bliebe nur die Drohung mit einem Verzicht auf die Fertigung in Ländern, die gewisse Sozial- und Umweltstandards nicht erfüllen. Wenn man die Drohung wahr macht, bedeutet das aber auch den Wegfall von Tausenden von Arbeitsplätzen in den betroffenen Ländern – mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Neben der Debatte um Arbeitsbedingungen wird seit Ende der 1980er Jahre über die Gesundheits- und Umweltverträglichkeit von Bekleidung und deren Herstellung diskutiert, etwa hinsichtlich des hohen Wasserverbrauchs bei der Textilveredelung oder des Einsatzes giftiger Chemikalien. Auf Forderungen nach naturbelasseneren Produkten und umweltverträglichen Produktionen reagieren mittlerweile Unternehmen, wie die Umsatzsteigerung von ökologischer Bekleidung von 1,1 auf 5,3 Milliarden US-Dollar von 2006 bis 2010 zeigt. Dennoch bilden diese Textilien weiterhin ein Nischenprodukt. Globalisierung der Konsumenten: Schnelllebigkeit der Modezyklen An sich besitzt Mode keinen physischen Nutzen gegenüber der Bekleidung – eine nicht-modische Jacke kann trotzdem über die gleichen Funktionen verfügen wie eine modische Jacke. Mit Mode aber können die Konsumenten ihr Bedürfnis, sich von der Masse abzuheben oder sich dieser anzugleichen, befriedigen. Das beeinflusst die Nachfrage nach Mode. Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat dies schon lange erkannt – Mode ist seit dem Ende der 1960er Jahre zu einem wichtigen Aspekt der Industrie geworden. Denn der Grundbedarf an Kleidung scheint vollständig gesättigt zu sein, jedoch führt die Lust der Konsumenten, sich über Mode auszudrücken, zu einem immerwährenden Zukauf neuer Bekleidung. Mode wird somit von der Industrie bewusst als Instrument zur Ausgestaltung der Märkte genutzt sowie eingesetzt, um die Nachfrage einer sich bereits in der Produktion befindlichen Kollektion anzuregen. Unterschieden wird dabei in Basic/Standardware, Saisonware und hochmodische Ware (Tabelle). Abbildung 1: Kostenstruktur in der deutschen Bekleidungsindustrie 2012 Abbildung 2: Wichtigste Herkunftsländer für Textil- und Bekleidungsimporte nach Deutschland nach Einfuhrwert 2013 (in Millionen Euro) Abbildung 3: Umsatz der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (Betriebe mit 20 oder mehr Beschäftigten) 2005 bis 2013 (in Milliarden Euro) Die Kollektionen der Bekleidungsindustrie sind abhängig von der Saison und umgekehrt. Eine neue Kollektion gelangt häufig mit der neuen Saison in die Geschäfte. Innerhalb einer Saison können aber auch verschiedene Kollektionen existent sein, oder eine Mode besteht über mehrere Saisons hinaus. Traditionell betrachtet können Kunden auf eine Frühjahr/Sommer- und eine Herbst/Winter-Kollektion zurückgreifen, wobei jede Saison etwa sechs Monate umfasst. Durch stetige Innovationen der Textilunternehmen werden innerhalb einer Saison mehrere unterschiedliche Kollektionen in den Handel gebracht – mittlerweile sogar bis zu zwölf Kollektionen im Jahr. Dadurch möchten sich die Unternehmen stärker am Kunden orientieren. Dies bedeutet aber auch, dass die Hersteller flexibler und kreativer sein und in einer kürzeren Zeit mehr Leistung erbringen müssen. Es kommt somit zu einer Beschleunigung der Wertschöpfungskette. Früher wurde ein Zeitraum von 60 bis 90 Tagen benötigt, um das Produkt in den Handel zu bringen. In den vergangenen Jahren konnte die Spanne auf 12 bis 15 Tage verkürzt werden. Die sogenannte Fast Fashion ist eine Unternehmensstrategie, die das Ziel hat, die Prozesse innerhalb des Kaufzyklus und die Durchlaufzeiten zu reduzieren, um neue Mode in die Geschäfte zu liefern. Gründe hierfür liegen im Lifestyle der Konsumenten und in der Nachfrage nach Neuheiten, die den etablierten Modezyklus unter Druck setzen. Die globalisierte Massenkommunikation und -information über Trends und Styles mittels wöchentlich publizierter Hochglanzmagazine, Musik, Film, Fernsehen und das Internet erhöht die Sucht nach immer neuen Looks. Zudem werden Fashiontrends nicht mehr nur durch ein Moodboard des Designers oder die Vorhersage einer Trendagentur zwölf Monate vor der Verkaufssaison geformt, sondern von dem, was auf der Straße oder in Clubs getragen wird. Fast Fashion wird als Schlüsselstrategie für den Erfolg von modernen Bekleidungseinzelhändlern wie Zara oder H&M angesehen. Diese erneuern ihre Produktrange ständig, um die Aufmerksamkeit der Medien zu generieren, aber auch um die jungen Konsumenten in die Geschäfte zu ziehen – und das möglichst oft. Somit fokussiert sich die Branche nicht mehr nur auf einen Preiskampf, sondern auch auf eine schnellere Reaktion auf wechselnde Fashiontrends und Konsumentennachfragen. Diese Veränderungen auf Seite der Konsumenten, bei der Nachfrage oder dem Trendfaktor, führen dazu, dass Einzelhändler dann erfolgreich sein können, wenn sie die Möglichkeit haben, die schnellen Wechsel der Kundenanforderungen zu verringern, indem sie die Durchlaufzeit reduzieren. Ein erfolgreiches Einzelhandelskonzepts umfasst somit sowohl eine beschleunigte Produktvariation als auch die Massenverbreitung von Designerfashion. Fazit: Alles bleibt anders Die Branche war im Wandel und ist es immer noch. Klassische Produktionsbetriebe sind die Ausnahme, Unternehmensnetzwerke mit einem dispositiv-logistischen Charakter haben die Macht übernommen. Dies mag mittlerweile – neben den technischen Textilien – die Kernkompetenz der deutschen Bekleidungsunternehmen sein und wird immer bedeutender für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Chancen und Risiken der Zukunft scheinen für die Branche vielfältig und müssen vom Textilmanagement frühzeitig erkannt werden. Hierzu gehören nicht nur die Beschleunigung der Wertschöpfungskette innerhalb der Fast Fashion oder die mit steigender Digitalisierung einhergehende Dynamik. Auch der wachsende Bereich der Eco-Fashion und die intelligente Digitalmode mit eingebauten Solarpanels oder anderen Gadgets führen zu einer stetig wachsenden Komplexität, mit der Industrie und Handel umzugehen haben. Digitale Technologien im Einzelhandel, nahtlose Vernetzung der Verkaufskanäle, intelligente virtuelle Verkaufsassistenten oder Filialen als Ereignisorte: Der Konsument wird mit der steigenden Digitalisierung auch neue Einkaufserlebnisse fordern. Trotz aller Probleme durch Strukturwandel, Preiskämpfe oder die Schnelllebigkeit des Seins – Mode wird immer das Potenzial haben, die Massen wie die Individualisten zu begeistern. Dieses gilt es, auch in Zukunft zu nutzen. Vgl. Julian Rohrer, Der viel zu hohe Preis der Billig-Klamotten, 20.4.2013, Externer Link: http://www.focus.de/finanzen/news/tid-28299/kleidung-aus-billiglohn-laendern-in-fast-jedem-kleiderschrank-stecken-billig-klamotten_aid_868874.html (5.12.2014). Vgl. Tilman Altenburg et al., E-Business und KMU. Entwicklungstrends und Förderansätze, Bonn 2002. Vgl. Ebbo Tücking, Die deutsche Bekleidungsindustrie im Zeitalter der Globalisierung, Münster 1999. Vgl. T. Altenburg et al. (Anm. 2). Vgl. Bettina Strube, Entwicklung der Textil- und Bekleidungsindustrie, Berlin 1999. Vgl. Karl Ditt, Die Industrialisierung in Baumwoll- und Leinenregionen Europas. Eine Einführung, in: Karl Ditt/Sidney Pollar (Hrsg.), Von der Heimarbeit in die Fabrik, Paderborn 1992, S. 1–42. Vgl. Hans Rudin, Die Textilindustrie um die Jahrtausendwende, Zürich 1986. Vgl. K. Ditt (Anm. 6). Vgl. Michael Breitenacher, Textilindustrie im Wandel, Frankfurt/M. 1989. Vgl. Friedrich Zahn, Die Entwicklung der deutschen Textilindustrie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3 (1898) 15, S. 781–792. Vgl. M. Breitenacher (Anm. 9). Vgl. Jörg Roesler, Ausgangsbedingungen und Entwicklung der Textilindustrie beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in der DDR (bis 1960), in: Industriezweige in der DDR 1945 bis 1985, Berlin 1989, S. 71–104. Vgl. B. Strube (Anm. 5). Vgl. Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), Globalization of Industrial Activities, Paris 1994. Vgl. André Arno Anton Schneider, Internationalisierungsstrategien in der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie. Eine empirische Untersuchung, Frankfurt/M. 2003. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Textil und Bekleidung, Externer Link: http://www.bmwi.de/DE/Themen/Wirtschaft/branchenfokus,did=196534.html (5.12.2014). Vgl. A.A.A. Schneider (Anm. 15). Vgl. Ingeborg Wick, Soziale Folgen des liberalisierten Weltmarkts für Textil und Bekleidung. Strategien von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Eine Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/M. 2009. Vgl. Michael Breitenacher, Textilindustrie. Strukturwandlungen und Entwicklungsperspektiven für die achtziger Jahre, Berlin 1981. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Anm. 16). Vgl. Kommission der europäischen Gemeinschaften, Aktionsplan zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie, 29.10.1997, Externer Link: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:1997:0454:FIN:DE:PDF (5.12.2014). Vgl. Lothar Cromm, Impulsgeber des Textilmarkts, in: TextilWirtschaft vom 10.10.1996, S. 228. Vgl. M. Breitenacher (Anm. 19). Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Anm. 16). Vgl. Anja Probe, Die Beschaffung in Fernost wird immer teurer, in: TextilWirtschaft, Sonderheft vom 23.12.2010, S. 48. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Anm. 16). Vgl. Dieter Ahlert/Kristin Große-Bölting/Gerrit Heinemann, Handelsmanagement in der Textilwirtschaft, Frankfurt a.M. 2009. Vgl. T. Altenburg et al. (Anm. 2). Vgl. A. Probe (Anm. 25). Vgl. Norman Backhaus, Globalisierung, Braunschweig 2009. Vgl. Deutsche Bank Research, Textil- und Bekleidungsindustrie, 6.7.2011, Externer Link: http://www.dbresearch.de/PROD/DBR_INTERNET_DE-PROD/PROD0000000000275049.pdf (5.12.2014). Vgl. Sabine Ferenschild/Inge Wick, Globales Spiel um Kopf und Kragen, Südwind-Texte 4, Siegburg 2004. Vgl. Martin Hermann, Standortsicherung in der Textil- und Bekleidungsindustrie, Frankfurt/M. 1996. Vgl. Statistisches Bundesamt, Genesis-Online Datenbank – 51000-0007. Vgl. Bundesverband des Deutschen Textileinzelhandels (BTE), Statistik-Report Textileinzelhandel, Köln 2014, S. 126. Vgl. McKinsey&Company, Bekleidungsindustrie. Kosten, Nachhaltigkeit und Kapazitäten sind bedeutendste Treiber, ohne Datum, Externer Link: http://www.mckinsey.de/bekleidungsindustrie-kosten-nachhaltigkeit-und-kapazitaeten-sind-bedeutendste-treiber (5.12.2014). Vgl. BTE (Anm. 35), S. 127. Vgl. ebd. S. 129ff. Vgl. ebd. Vgl. Statistisches Bundesamt, Monatsstatistik im Handel (Stand: Oktober 2013). Vgl. Textil-Wirtschaft, Die größten Textileinzelhändler in Deutschland 2012, Externer Link: http://www.textilwirtschaft.de/business/pdfs/628_org.pdf (31.10.2014). Vgl. BTE (Anm. 35), S. 55ff. Vgl. Stefan Weber, Das macht 500 Gramm CO2, 24.2.2013, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/wissen/oeko-bilanz-des-internethandel-das-macht-gramm-co-1.1607616 (31.10.2014). Vgl. BTE (Anm. 35), S. 55f. Vgl. KPMG, Trends im Handel 2020, Hamburg 2012. Vgl. Ingeborg Wick, Workers’ Tool or PR Ploy? A Guide to Codes of International Labour Practise, Berlin 20033. Vgl. J. Rohrer (Anm. 1). Vgl. Thomas Loew, CSR in der Supply Chain. Herausforderungen und Ansatzpunkte für Unternehmen, Berlin 2006. Vgl. Bloomberg, Ninety Cents Buys Factory Safety in Bangladesh on $22 Jeans, 5.6.2013, Externer Link: http://www.bloomberg.com/infographics/2013-06-05/90-cents-buys-factory-safety-in-bangladesh-on-22-jeans.html (5.12.2014). Vgl. J. Rohrer (Anm. 1). Vgl. T. Loew (Anm. 48). Vgl. J. Rohrer (Anm. 1). Vgl. Arnt Meyer, Produktbezogene ökologische Wettbewerbsstrategien. Handlungsoptionen und Herausforderungen für die Textilbranche, Wiesbaden 2001. Vgl. Statista, Weltweiter Umsatz mit Biotextilien in den Jahren 2006 bis 2010, 2014 Externer Link: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/75830/umfrage/weltweiter-umsatz-mit-biotextilien-seit-2006/(31 (31.10.2014). Vgl. Beate Schäffer, Mode-Marketing. Markenimage und Markentransfer, Augsburg 19882. Vgl. Hermann Fuchslocher, Abschriften im Brennpunkt, Düsseldorf 1986. Vgl. Margarete Lohr/Elke Giese, Der Entstehungsprozess von Mode, in: Arnold Hermanns et al., Handbuch Mode-Marketing, Frankfurt/M. 19992, S. 67–94. Vgl. Geert Henning Seidel, Die Industriestruktur, in: Arnold Hermanns et al. (Hrsg.), Handbuch Mode-Marketing, Frankfurt/M. 1991, S. 165–208. Vgl. D. Ahlert/K. Große-Bölting/G. Heinemann (Anm. 27). Vgl. KPMG, Trends im Handel 2005. Ein Ausblick für die Branchen Food, Fashion & Footware, Köln 2003. Vgl. Liz Barnes/Gaynor Lea-Greenwood, Fast Fashioning the Supply Chain. Shaping the Research Agenda, in: Journal of Fashion Marketing and Management, 10 (2006) 3, S. 259–271. Vgl. D. Ahlert/K. Große-Bölting/G. Heinemann (Anm. 27). Vgl. Heiko von der Gracht, Die Zukunft der Mode- und Textilbranche, 14.1.2013, Externer Link: http://www.getchanged.net/de/magazin/aktuell/die-zukunft-der-mode-und-textilbranche-68.html?page=3.3 (5.12.2014). Vgl. Max Celko/Sven Gábor Jánsky, Trendstudie – Die Zukunft des stationären Handels, 2014, Externer Link: http://2bahead.com/fileadmin/content/janszky/pdf/Trendstudie_Die_Zukunft_des_stationaeren_Handels_klein.pdf (5.12.2014).
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, Carolin Neugebauer | , Gerhard Schewe
"2022-03-23T00:00:00"
"2014-12-23T00:00:00"
"2022-03-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/198384/wirtschaftsmacht-modeindustrie-alles-bleibt-anders/
Zwölf Kilogramm Bekleidung kauft im Schnitt jeder Deutsche im Jahr, der größte Teil stammt aus Ländern mit geringen Produktionskosten. Eine Produktion in Deutschland hingegen bildet die Ausnahme. Der Beitrag zeigt die Entwicklung der Modeindustrie.
[ "Mode", "Lebensstil", "Jugendkultur", "Textilindustrie" ]
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Fremd – 8. Festival "Politik im Freien Theater" | Presse | bpb.de
Was ist fremd? Und wie viel Fremdheit steckt eigentlich im scheinbar Vertrauten? Diesen Fragen geht das 8. Festival "Politik im Freien Theater" zum Thema "Fremd" in Dresden auf den Grund. Vom 27.10. bis 06.11. präsentieren die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, das Staatsschauspiel Dresden und HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden 16 herausragende freie Theaterproduktionen aus dem In- und Ausland. Das Festival "Politik im Freien Theater" gilt als wichtigste Plattform für politisches Theater in Deutschland. In diesem Jahr hat die sechsköpfige Jury – Dr. Christel Weiler (FU Berlin), Haiko Pfost (brut Wien), Christian Rakow (nachtkritik.de), Carmen Mehnert (HELLERAU), Christof Belka (Staatsschauspiel Dresden) und Milena Mushak (bpb) – aus rund 180 Bewerbungen elf deutsche und fünf internationale Inszenierungen ausgewählt. Eröffnet wird das Festival am 27.10. um 19 Uhr in HELLERAU mit dem Stück "Versus" des argentinischen Regisseurs Rodrigo García. Ein Höhepunkt im Programm ist Christoph Schlingensiefs letztes Werk "Via Intoleranza II", das in Dresden zwei Mal auf der Bühne zu sehen sein wird (1. und 2.11. jeweils um 19 Uhr). Neben den Gastspielen bietet ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Ausstellungen, Gesprächen, Diskussionen, Filmen, Performances und Partys vielfältige thematische Zugriffe auf das Festivalmotto. Ein besonderes Highlight ist das Projekt "Urban Mutations", bei dem Künstler das politische Potenzial des Stadtraums erforschen. Ein spezielles Begleitprogramm richtet sich außerdem an Schüler und Pädagogen. Zum Abschluss vergibt eine Preisjury im Auftrag der bpb eine Gastspielförderung an eine Produktion des Festivals. Darüber hinaus ermöglicht das Goethe-Institut mit einem Preisgeld einer deutschen Produktion ein internationales Gastspiel. Weitere Informationen und das komplette Programm finden Sie unter Externer Link: www.politikimfreientheater.de, Externer Link: www.bpb.de/politikimfreientheater, und Externer Link: www.facebook.de/politikimfreientheater Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb präsentiert mit dem Festival seit 1988 in jeweils wechselnden deutschen Städten besonders bemerkenswerte Produktionen des Freien Theaters. Inszenierungen, die den politischen Diskurs beeinflussen wollen und zur Diskussion über gesellschaftlich relevante Themen anregen. Seit 1993 findet das Festival im Dreijahres-Rhythmus statt. Erstmals seit 1993 ist Dresden in diesem Jahr wieder das Zentrum für innovative, interdisziplinäre und genreübergreifende Produktionen der freien deutschsprachigen Theaterlandschaft. Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (140 KB) Pressekontakt 8. Theaterfestival "Politik im freien Theater" Cornelia Walter Projektbüro in HELLERAU Europäisches Zentrum der Künste Karl-Liebknecht-Str. 56 01109 Dresden Tel +49 (0)351 26462-37 Fax +49 (0)351 26462-23 E-Mail Link: walter@hellerau.org Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49761/fremd-8-festival-politik-im-freien-theater/
Was ist fremd? Und wie viel Fremdheit steckt eigentlich im scheinbar Vertrauten? Diesen Fragen geht das 8. Festival "Politik im Freien Theater" zum Thema "Fremd" in Dresden auf den Grund.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Redaktion | Digitalisierung - Meine Daten, meine Entscheidung! | bpb.de
Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn © 2020 ViSdP: Thorsten Schilling Westfälische Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Andrea Szukala, Universität Münster Logo Team Forschen mit GrafStat, Uni Münster (© Team Forschen mit GrafStat / Knab) Projektleitung für die Bundeszentrale für politische Bildung Pamela Brandt für die Universität Münster Prof. Dr. Andrea Szukala Professur für Fachdidaktik der Sozialwissenschaften Scharnhorststraße 100, Raum 206 D-48151 Münster Tel: +49 251 83-23193 Fax: +49 251 83-29930 E-Mail: E-Mail Link: andrea.szukala@uni-muenster.de Externer Link: https://www.uni-muenster.de/IfPol/personen/szukala.html Autorinnen und Autoren: Prof. Dr. Andrea Szukala, Cornelius Knab Sabine Kühmichel Selina Kalms Franka Potthoff Carole Scheffels Autor der Software GrafStat Uwe Diener Rosendalstr. 135 40882 Ratingen E-Mail Link: uwe.diener@grafstat.de Externer Link: www.grafstat.de Umsetzung Fa. Glamus Externer Link: www.glamus.de Copyrights Wir haben uns bemüht, alle Nutzungsrechte zur Veröffentlichung von Materialien Dritter zu erhalten. Sollten im Einzelfall Nutzungsrechte nicht abgeklärt sein, bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Logo Team Forschen mit GrafStat, Uni Münster (© Team Forschen mit GrafStat / Knab)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2020-11-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/digitalisierung-grafstat/318691/redaktion/
[ "Forschen mit GrafStat", "Impressum Redaktion" ]
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Neue Medien und Internet Herausforderungen an die Pädagogik | Politische Kultur - politische Bildung | bpb.de
I. Abschnitt "When old technologies were new" - so betitelte die US-amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Carolyn Marvin ihr Buch über die Anfänge des Telefonwesens im späten 19. Jahrhundert. Interner Link: PDF-Version: 63 KB Mit ihrem sehr griffigen Buchtitel machte sie darauf aufmerksam, wie fragwürdig der Begriff der neuen Medien ist. Seit es technische Substitutionsmöglichkeiten von personaler Kommunikation gibt, also spätestens seit dem optischen Flügeltelegraphen Anfang des 19. Jahrhunderts, gibt es immer wieder neue Medien. In der immer schneller und intensiver werdenden technologischen Dynamik von Industrialisierung und später Computerisierung entstehen permanent neue Medien. Diese gebären wiederum dauernd neue Medien - und neue Medien werden immer schneller zu alten Medien. Wann immer es erneut neue Medien gibt, tauchen stets sehr ähnliche Begründungsmuster auf, warum sie entweder gut oder warum sie schlecht für die Menschen seien. Eines dieser typischen Muster ist beispielsweise der stets wiederholte Hinweis darauf, dass das neue Medium x die alte Kommunikationsform y zerstören würde. Die Begründungsmuster sind ihrer Zahl nach klein, sie erweisen sich als konstant und tauchen technologie- und mediengenetisch stets aufs Neue auf. Sport und Unterhaltung, Sexualität und Erziehung sowie das stete Versprechen der Technologieprotagonisten, dass das gerade jetzt neue Medium diese und jene körperliche Behinderung gut kompensieren könne, erweisen sich in diesem Sinne als die wichtigsten genetischen Muster. Stand der Sport Pate bei dem neuen Druckverfahren der Autotypie im letzten Jahrhundert, beim Beginn von Hörfunk, Fernsehen und Buntfernsehen, so galt der Hörfunk auch als ideales Medium für Kriegsblinde. Nun soll der PC helfen, Legasthenie und Autismus zu überwinden. Von diesen sozialen Wirkmechanismen der Technologie- und Mediengenese ist der der Pädagogik sicherlich der verbreitetste und wirkmächtigste. Ob Hörfunk oder Fernsehen, Videokamera oder PC, Kino oder Internet: Stets und ständig wurde bei der Einführung jedes neuen Mediums argumentiert, dass nun die gesamte Erziehung revolutioniert werde, dass Erziehung ohne dieses neue Medium nicht mehr denkbar sei, dass die Schule gefordert sei, auf diesem Gebiet technisch und didaktisch auf- und nachzuholen - kurz, dass zur jeweils neuen Moderne dieses ebenfalls neue Medium einfach dazugehöre. Auch die folgenden vier Argumentationsmuster wiederholten sich in diesen pädagogisch-technischen Debatten immer wieder: Das jeweils neue Medium soll 1. den Lehrenden von langweiliger Routinearbeit entlasten, ihm stattdessen mehr Möglichkeiten für persönliche Beziehungen zu seinen Schülern geben; 2. auf der Ebene des kognitiven Lernens zu weitaus größeren Lernerfolgen führen als alles bisher Bekannte; 3. zu erheblichen Kosteneinsparungen im Erziehungssystem führen; 4. - wieder einmal - besonders Raum übergreifend und als ideales Medium der Völkerverständigung zu einem Mehr an Toleranz und interkulturellem Lernen führen. Gegenüber solch vollmundigen Versprechen sieht es in der Praxis sehr viel banaler aus. In der Form von Bibliotheken haben es die alten Medien wie Buch und Zeitschrift nicht geschafft, sich als Schulbibliothek in allen deutschen Schulen zu verankern; Filmbildstellen werden allerorten personell und finanziell ausgeblutet und spielen im Schulalltag kaum noch eine Rolle, und die Anfang der siebziger Jahre gepriesenen Sprachlabors und Computer-Unterstützten-Unterrichtsplätze (CUU) stehen heute als unbenutzte Technikruinen Raum verschwendend herum. Auch die zahlreichen internationalen Untersuchungen über Kosten, Ökonomie und Effizienz der neuen Medien aus den siebziger Jahren sind heute weitgehend noch immer unbekannt, obwohl sie so manche Euphorie der Gegenwart entlarven könnten. "Die Mütter sind tiefinnerlich glücklich darüber, dass es ihnen mit Hilfe des Rundfunks gelingt, die heranwachsenden Kinder zu Hause von den verderblichen Einflüssen der Straße und der Vergnügungssucht fern zu halten." Dies zumindest meinte 1924 Hans Bredow, zunächst Vorsitzender im Telegraphentechnischen Reichsamt und dann Verwaltungsratsvorsitzender der Reichsrundfunkgesellschaft (bezeichnenderweise oft "Vater" des deutschen Rundfunks genannt); er stand mit dieser Meinung keinesfalls alleine dar. Bereits ein Jahr nach seinem Beginn strahlte der Hamburger Rundfunk 1924 spezielle Schulfunksendungen aus. Und nur weitere zwei Jahre später wurde in Berlin der "Deutsche Schulfunkverein" gegründet; schon nach nur zehnmonatiger Existenz hatte dieser Verein 2 000 Mitglieder. In rascher Folge richteten alle deutschen Radiosender ein Schulfunkprogramm ein, besonders in folgenden Bereichen: Deutsch, Volkskunde, Musik, Englisch, Französisch und Wirtschaftskunde. 1931 - nur acht Jahre nach Beginn des Rundfunks in Deutschland - wurden im damaligen Deutschen Reich 2 000 verschiedene Schulfunksendungen angeboten, und mehr als die Hälfte aller deutschen Schulen besaßen ein Rundfunkgerät. Kurz: Das Radio war zu "dem" pädagogischen Supermedium geworden, und Fortschritte in Lehren und Lernen wurden in weiten Kreisen daran gemessen, wie aktiv ein Lehrer den Schulfunk in seinen Unterricht integrierte. II. Abschnitt Technischer Fortschritt = sozialer Fortschritt = aktive Erziehung und Vorbereitung der Schüler auf das "richtige Leben": Solche Konzepte haben stets die Fortschrittsgläubigen aller politischen Ideologien untereinander geeinigt. Und da Entwicklung oft genug sehr ähnlich wie Erziehung definiert wird, ist der gesamte Komplex "Mediengenese und Erziehung" von ungemeiner Wichtigkeit gerade für alle neuen Medieneinführungen in den Entwicklungsländern. Noch zugespitzter wird man sagen können: Ohne Erziehungsideologie hätte der Westen in den letzten 60 Jahren keine einzige Medienabsatzstrategie in den Entwicklungsländern erfolgreich durchführen können. Für die Geschichte der Medienentwicklungshilfe, der so genannten Development-Support-Communication, steht für diese Strategie geradezu paradigmatisch die Geschichte des Satellitenfernsehens in Indien. 1969 hatten die USA und die indische Weltraumforschungsorganisation einen Vertrag über ein Experiment abgeschlossen, das unter dem Namen "Satellite Instructional Television Experiment", kurz SITE genannt, damals internationales Aufsehen erregte. "Teacher-in-the-Sky" - so nannten die Inder gerne ihr Projekt - lief zwischen 1975 und 1976 in 2 400 indischen Dörfern, wurde dort in Schulen oder in anderen der Dorfgemeinschaft zugänglichen Gebäuden ausgestrahlt. Ein täglich vierstündiges TV-Programm wurde gesendet; morgens gab es propädeutisch-wissenschaftliche Programme für die Grundschulkinder, während sich das Abendprogramm aus Nachrichten, Erziehungsanleitungen für Landwirtschaft, Ernährung, Tierhaltung und Familienplanung zusammensetzte. Das SITE-Projekt war ein voller Erfolg - nämlich ein voller technologischer Erfolg. Dieser technologische Erfolg war allerdings bereits im Budget vorprogrammiert: 70 Prozent der Kosten entfielen auf reine Technik. Von den verbleibenden 30 Prozent entfielen 18 Prozent auf die Technikkosten der Programmproduktion, nur neun Prozent auf die Programmproduktion selbst und weitere drei Prozent auf Begleitforschung (aber längst nicht nur sozialwissenschaftliche oder pädagogische). War SITE auch ein pädagogischer Erfolg? US-amerikanische Erziehungswissenschaftler vom Educational Policy Research Center in Washington schrieben dazu leicht resignierend: "Dieses Projekt war ein einzigartiges Beispiel für den Druck, den die Hochtechnologie ausübt, um zur Anwendung zu gelangen. Dies allein deswegen, weil sie existiert." Und der südindische Kommunikationswissenschaftler Eapen K. Eapen kritisierte den Hardware-Fetischismus des SITE-Projektes in seinem 1979 erschienen Aufsatz "Pie in the Sky" (frei übersetzt: "Alles Gute kommt von oben") mit folgenden Worten: "Das SITE-Experiment war offensichtlich ein Mittel, um ein ganz spezifisches Ziel zu erreichen; das Mittel selbst war das Ziel." Was ist aus dem Radio, was aus dem Schulfunk, nach nun knapp 80 Jahren geworden? In erster Linie geht es um Musik - und bei den privaten Radiostationen macht überwiegend angelsächsische Pop-Musik inzwischen rund 70 Prozent des Programms aus. Es geht ganz sicherlich auch um viel Werbung und Kommerz, um middle of the road-Geschmack, meistens um den so genannten Dudelfunk; es geht ferner um Zielgruppen- und Spartenradio, außerdem um Hintergrundradio, "Fahrstuhlmusik" und verschiedenartige "Musikteppiche". Es geht auch noch um ein bisschen Wort - aber möglichst nicht mehr als einen Zweieinhalb-Minuten-Kommentar (warnte doch einst schon Joseph Goebbels vor der "Verwortung" des Rundfunkprogramms). Was immer irgendjemand heute zum Thema Radio einfällt, die Pädagogik ist es sicherlich nicht - auch wenn das Radio ihr seinen Anfang zu verdanken hat. Und wie sieht es heute mit dem Fernsehen in Indien aus - also knapp 25 Jahre nach dem SITE-Experiment? Da gibt es auf der einen Seite den drögen Staatsfernsehsender Doordarshan mit langweiligen Nachrichten, vielen Ministerköpfen und vorfahrenden Staatskarossen, Politansprachen ans Volk und die seit 1988 so erfolgreichen indischen soap operas wie "Ramayana" oder "Mahabharata", oder privates Fernsehen wie Zee TV mit seinem Programmschwerpunkt auf Entertainment für die indische Mittelschicht. Um Pädagogik geht es in der indischen TV-Landschaft schon lange nicht mehr. Im Jahre 1959 mit Hilfe der UNESCO gegründet, steht das indische Fernsehen zwischen damals und heute paradigmatisch für den Wechsel von Pädagogik zu Unterhaltung. Und nun das Internet - wieder eine Mediengenese, wieder neue Medien, und wieder ist die Pädagogik gefragt. Und sie kommt daher in riesengroßen Schritten. Sie kommt in Deutschland als "Schulen ans Netz" - sie kommt aus den USA nach Afrika als "Virtual African University" der Weltbank und ist doch nichts weiter als eine internationale Markterweiterungsstrategie US-amerikanischer Universitäten. Während diese sich mit ihren (teuren) Diplomen auf dem afrikanischen Bildungsmarkt per Internet etablieren, kommen sie auf den deutschen Bildungsmarkt noch traditionell, also vor Ort und direkt, nämlich als "The American International University of Germany" in Schwäbisch-Gmünd (Maryland University), als "International University Bremen" (Rice University), als "German International Graduate School of Management and Administration" in Hannover (Purdue University) oder als "Fuqua School of Business" in Frankfurt (Duke University). Genau in diesem Kontext plädierten Holger Baum, Klaus Boldt und Kambiz Ghawami in ihrem viel beachteten Memorandum über "Internet und der Süden" für eine breite Internetanwendung im pädagogischen Bereich der Nord-Süd-Beziehungen: "Die Geberländer sollten prüfen, ob sie die Zugangskosten zum Internet für Bildungseinrichtungen künftig als Teil einer gezielten Budgethilfe im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit übernehmen können. Das würde die deutsche Zukunftsinvestition ,Schulen ans Netz' auf Afrika, Asien und Lateinamerika ausdehnen . . . Das Projekt ,Schulen ans Netz' könnte Schulklassen in Deutschland mit Schulklassen in Afrika, Asien und Lateinamerika an gemeinsame, fächerübergreifende Fragestellungen heranführen. So könnten alle von- und miteinander lernen." "So könnten alle von- und miteinander lernen": Auch die TV-Programmproduzenten in Indien hatten gute pädagogische Absichten. Und auch der Schulfunk in der Weimarer Republik war von großem pädagogischen Eros getragen. Was also kann man von früher und von der Anwendung anderer Medien und Technologien für heute lernen? Verschiedenes: - Historische Vergleiche helfen, die gegenwärtige Technikeuphorie zu relativieren. - Zwar wird immer wieder schmerzhaft bewusst, dass jede Generation ihre eigenen Erfahrungen neu machen muss, doch kann man trotzdem aus der Geschichte Erfahrungen übernehmen. Zum Beispiel, dass der proklamierte pädagogische Nutzen der jeweils neuen Medien immer behauptet wird. Er ist ein Topos der Protagonisten des Neuen, und als Topos entzieht er sich jeder Empirie. - Mediensysteme verändern sich durch Nutzungszusammenhänge, die anfangs nicht sichtbar sein konnten. Was als Kultur oder Erziehung beginnt, kann durchaus als Kommerz enden. - Hersteller- und andere ökonomische oder politische Interessen sind legitim. Sie sollten aber nicht mit Pädagogik verwechselt werden. Pädagogik gründet in sich selbst, und Pädagogen sollten sich nicht als Erfüllungsgehilfen der Politik oder als nützliche Idioten der Ökonomie hergeben. - Für die Entwicklungsländer (aber auch für uns) ist dringend eine Rückkehr zu Grundsatzfragen der Pädagogik geboten (nicht aber zu einer Reduktion auf Fragen ihrer technischen Vermittlung). - Schon jetzt sprechen viele Indikatoren dafür, dass das Internet dominierend zu einem Medium und einer Infrastruktur des Spiels und der Unterhaltung (nicht aber der Pädagogik) wird. Und im ökonomischen Bereich sprechen sehr viel mehr Indikatoren dafür, dass es keinen richtigen e-commerce geben wird, wohl aber nur gut ausgebaute und differenzierte elektronische Warenhäuser und Supermärkte. III. Abschnitt Die Geschichte und Theorie der Pädagogik ist voll an widersprüchlichen, reichhaltigen, hoch entwickelten und spannenden Ideen und Debatten. Kreuz und quer durch diese Geschichte sollen hier einige dieser Ideen kurz präsentiert werden. Dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) waren z. B. folgende Grundsätze für den Unterricht wichtig: Gründung allen Unterrichts auf Anschauung; Prinzip eines langsamen Fortschreitens vom Elementaren und Einfachen zum Schwierigen und Komplexen; Scheidung des Wesentlichen vom Zufälligen. Einhundert Jahre später argumentierte die Kunsterziehungsbewegung unter Führung von Alfred Lichtwark (1852-1914) völlig anders. Nur durch die Kunst könnten beim Menschen Sinne, Gefühl und auch Wissen entfaltet werden, nur durch sie könne menschliche Entwicklung und Erziehung stattfinden. Stellte dann der deutsche Pädagoge Georg Kerschensteiner (1854-1932) den Arbeitsbegriff und den der Handfertigkeiten in den Mittelpunkt seiner pädagogischen Theoriebildung, so entwickelte auf sowjetischer Seite der ukrainische Erzieher Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939) seine Vorstellung darüber, dass jegliche Erziehung, welche die Herausbildung einer ausgereiften Individualität anstrebt, nur in einem sozialen Kollektiv erfolgen könne. Viele Jahre später heißt es Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Debatte um die Hessischen Rahmenrichtlinien des Kultusministeriums für die Sekundarstufe 1: "Oberstes Lernziel für eine demokratische Gesellschaft ist die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung." Wenn man auf solche Debatten zurückblickt, wenn man die Reichhaltigkeit unterschiedlicher, ja kontroverser Ideen sieht, wenn man voller Erstaunen die philosophische Tiefe früherer Diskussionen zur Kenntnis nimmt, wenn man sieht, wie sehr pädagogische Ideen an verschiedenartige Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder gekoppelt sind, dann wird die geschwätzige Leere und Hohlheit der gegenwärtigen Debatte um das Verhältnis von Pädagogik und Internet deutlich. Daraus folgt: Eine pädagogische Neubestimmung ist gegenwärtig dringend nötig. Gebraucht wird eine engagierte, kontroverse und öffentliche Debatte um Lernziele, Schulorganisation, das Verhältnis von sozialem zu kognitivem Lernen und um die Funktion von Erziehung und Schule insgesamt. Eine solche Diskussion gibt es derzeit leider nicht, wohl aber eine um Haushalts- und Finanzpolitik, um Rationalisierung und globale volkswirtschaftliche Konkurrenz. Die Diskussion um die globale Konkurrenz von Kulturen und Werten hat gerade erst begonnen. Bei der hier geforderten Wende von einer technokratischen zu einer inhaltlichen Bestimmung über Aufgabe und Wesen gegenwärtiger Pädagogik müsste dann auch über das Internet zu reden sein. Aber nur im Zusammenhang mit einer solchen Wende wäre das sinnvoll, nicht ohne sie. Pädagogische Diskussionen und Theorien sind normativer Natur. Solche Normen müssen benannt werden, und gegebenenfalls müssen auch sehr klare, eindeutige Scheidungs- und Trennungslinien zwischen unterschiedlichen Vorstellungen vorgenommen werden. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Pädagogik und Internet sollen im Folgenden zwei Positionen zu dieser Thematik referiert und kurz bewertet werden: Bei der ersten handelt es sich um einen Essay mit dem Titel "Von der Marionette bis zum autopoietischen System. Maschinenbilder in der Pädagogik" der Hagener Erziehungswissenschaftlerin Käte Meyer-Drawe. Die Autorin legt dar, wie weitgehend technische Bilder seit der Renaissance das Bild des Menschen von sich selbst bestimmen - entweder beklagend oder begrüßend. Im Mittelpunkt pädagogischer Debatten stehe daher oft das Problem, ob Bildung, die in der Klassik in ausdrücklicher Abgrenzung zum Maschinalen bestimmt wurde, nicht aufgrund permanenter Distanzierung unbemerkt selbst einen technischen Grundzug angenommen habe. Weder solle man Maschinen als dem Menschen prinzipiell unterlegene Konkurrenten bagatellisieren, noch solle man sie als in sich perfekte "Existenzen" überhöhen. Meyer-Drawe fordert eine Überwindung der insbesondere in der Kulturtradition Deutschlands gepflegten Alternative: entweder Bildung oder Technik. Einer solchen Aufforderung ist nachdrücklich zuzustimmen. Vor einem Hintergrund von Kritischer Theorie hieße diese Forderung die nach einer Versöhnung der Max Horkheimerschen Alternative von instrumenteller und humaner Vernunft. Freilich argumentiert Meyer-Drawe nur geistesgeschichtlich, nicht sozialwissenschaftlich, d. h., sie fragt nicht nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese oder jene pädagogische Leitvorstellung begünstigen. Für die Gegenwart hieße das, die Frage zu stellen, ob eine immer kommerzialisiertere, marktkonformere und alle menschlichen Beziehungen in Warenform verwandelnde Gesellschaft überhaupt noch einen Platz für Bildung kennt, ob nicht vielmehr Technik - auch im weiteren Sinne - das dieser Gegenwartsgesellschaft eingebrannte Element von Pädagogik darstellt. Hatte Hartmut von Hentig einst von der Schule gefordert, dass sie sowohl auf das Leben vorzubereiten als auch vor dem Leben zu schützen habe , so stellt sich immer stärker die Frage danach, welchen Eigen- und Binnenraum pädagogische Teilsysteme noch haben, welche Autonomie sie besitzen, um vom Leben - von der Orientierung auf ökonomische und technische Effizienz - getrennt wirken zu können. Die zweite Position kann mit der Überschrift " Computer statt Bildung" bezeichnet werden; so lautete der Titel des Leitartikels der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Februar 2000. Hier heißt es u. a.: " Computer und Internet gehören zu den unerlässlichen Arbeitsmaterialien der Schule. Daher ist die Ankündigung der Telekom, den Schulen für zwei Jahre den kostenlosen Zugang zum Internet zuzusichern, ein wichtiger Schritt. Sie bieten auch Lernprogramme, die weitaus attraktiver sind als manches Schulbuch, aber sie dürfen nicht zum eigenständigen Bildungsinhalt werden. Zu den größten schulpolitischen Irrtümern gehört die Vorstellung, an die Stelle mühsamen Wissenserwerbs könne die Vermittlung von Medienkompetenzen und Lernstrategien treten . . . Es ist unmöglich, allein in der Schule oder gar durch den Computer das Leben zu lernen." Völlig gegen modische Trends plädiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit diesem Leitartikel auf ihrer Seite eins zu Recht für ein Lernen als geistige Arbeit und gegen müheloses "Surfen"; für erklärte Bildungsziele und gegen bloße Problemlösungsstrategien; für strukturiertes Wissen und gegen beliebigen Informationsmüll und schließlich für einen Lehrer als lebendigen und widersprüchlichen Wissensvermittler und gegen einen bloßen Lernberater. Dieser Artikel ist ein Plädoyer gegen jeglichen Bildungsutilitarismus und für individuelle Lernautonomie. Für jegliches Lernen sei die Fähigkeit unerlässlich, "reflektierte Erfahrungen mit dem Gelernten selbständig in Verbindung zu setzen und damit zu einer persönlichen Bildung zu gelangen, die mit dem abgenutzten Wort der Schlüsselqualifikation nur unzureichend beschrieben ist" . Mag man auch mit Rückblick auf die großen kontroversen pädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit diesem Leitartikel einen reduzierten, weil bildungsbürgerlichen Bildungsbegriff vorhalten und mag und muss man vielleicht auch darauf hinweisen, dass Vorstellungen von dem, was soziales Lernen sein könnte, in diesem Artikel völlig fehlen, so ist dennoch positiv festzuhalten, dass es hier um eine pädagogische Neubesinnung inmitten einer Fülle von Bildungstechnologien samt Bildungsbürokratien geht. Die beiden dargestellten Positionen und Argumente von Käte Meyer-Drawe und Heike Schmoll führen zu folgender These: An einigen wenigen Stellen hat die geforderte Grundsatzdiskussion über das Verhältnis der Pädagogik zu Computer und Internet begonnen; sie ist zu intensivieren und auszudehenen. Bei dieser Diskussion sind Philosophen, Pädagogen, Geistes- und Sozialwissenschaftler gefordert. Informatiker - besonders die gutmeinenden - sind mit dieser Debatte völlig überfordert. IV. Abschnitt Im Oktober 2000 wurde am Bodensee das neu gebaute Salem College eröffnet. Auf der Eröffnungsveranstaltung dieser wohl elitärsten und leistungsorientiertesten privaten Bildungseinrichtung in Deutschland sprach u. a. Eberhard von Kuenheim, der frühere Aufsichtsratsvorsitzende von BMW. Über seine Rede hieß es in der Presse: " Charakter, hat Hartmut von Hentig einmal kurz und bündig festgestellt, ist Widerstand. Nach den Modetorheiten der Pädagogen, die von der Schule ohne Lehrer träumten, halten es die Bildungspolitiker jetzt für den allerletzten Schrei, die Schulen ans Netz zu bringen. Für diese Leute, für die sich Bildung darin erschöpft, Laptops bereitzustellen und das Internet einzurichten, hatte von Kuenheim nur milden Spott übrig. Natürlich gehört der Computer heute auch in der Schule dazu; Erziehung meint aber mehr, Bildung erst recht." Wer wie die Salem-Schule an einem elitären Bildungsauftrag festhält, hat also ganz klug verstanden, dass eine Eliteerziehung auf Computer und Internet unter pädagogischen Aspekten - nicht aber instrumentell - durchaus verzichten kann, eventuell sogar verzichten muss. Während Alt- und Geldadel, während Führungskräfte der Wirtschaft sowie konservative Kultur- und Bildungstheoretiker daran festhalten, dass der pädagogische Verzicht auf das Internet sinnvoll sei, um sich adäquat auf gesellschaftliche Führungsaufgaben vorzubereiten, gibt es bei einem anderen Drittel der Gesellschaft einen zwangsweisen Ausschluss vom Netz der Netze. Wie der Physik-Didaktiker und Informatiker Klaus Haefner schon 1982 schrieb, wird das so genannte Computerzeitalter die Kluft zwischen einer politisch-ökonomischen Elite und der großen Masse der Bevölkerung verstärken; Haefner nennt sie freiwillig-unfreiwillig zynisch "Autonome" und "Substituierbare". Das Internet, und da ist der Logik bei Salem und BMW zuzustimmen, wird die elektronische Spielwiese für die "Substituierbaren" werden, und ihnen muss ein öffentliches Schulsystem deswegen auch immer weniger Erziehung oder gar Bildung anbieten. Muss es das aber wirklich? Was Haefner die "Substituierbaren" nennt, erscheint bei Systemtheoretikern wie Helmut Willke und Heinz Bude als "unterstes und hoffnungsloses Segment", oder gar als Population der "Überflüssigen". Zwischen dem Drittel, welches das Internet nicht nutzen will, und dem Drittel, das es nicht nutzen kann, verbleibt als mittleres Drittel das der aktiven Internetnutzer - vornehmlich männlich, unverheiratet, jung, an Technik interessiert, überdurchschnittlich reich und formal überdurchschnittlich gut ausgebildet. Es passt zu dieser Aufteilung, dass die ARD/ZDF-Online-Studie 2000 zu folgendem Ergebnis kommt: Zwar sind nach rasanten Zuwachsraten in den letzten Jahren inzwischen rund 20 Millionen Erwachsene in Deutschland "online", d. h. knapp 30 Prozent aller Bundesbürger über 14 Jahre, doch wird sich dieser Trend nicht linear fortsetzen. Der Anteil der "Onliner" wird sich mittelfristig bei etwa 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung einpendeln. Mit anderen Worten: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung bleibt in absehbarer Zeit vom Internet abgekoppelt; dieser Teil der Bevölkerung sieht im Internet entweder ein zu schwierig zu nutzendes Medium oder keinerlei Nutzwert für sich. Was folgt aus diesen Überlegungen einer schichtenspezifischen Nutzung des Internets, was folgt insbesondere daraus für die Pädagogik? Internet wird zum klassischen Medium der Informationsverarbeitung für den sozialen main stream werden, das vor allem die Realschulen und die Gymnasien erfassen wird. Dort vermittelte Lerninhalte und -formen orientieren sich an einem instrumentellen Verständnis von Gesellschaft, dem es um eine Zunahme von Effizienz, Leistungssteigerung, Rationalisierung und Affirmation geht. Demgegenüber wird die Mischung aus selektiver Nutzung gedruckter und teurer elektronischer Spezialinformation eine kleine Elite im Privatschulbereich dazu befähigen, über den main stream Herrschaft auszuüben. Ob sich der Hauptschulbereich jenseits irgendeiner medialen Sozialisation subversiv, angepasst, gewaltbereit oder aufmuckend verhalten wird, ist sicherlich eine offene Frage. V. Abschnitt Der Begriff der Erziehung hat große Ähnlichkeit mit dem der Entwicklung. Wenn Erziehung das Befähigen und Motivieren zu einem Mehr an Selbst- und Mitbestimmung meint, dann meint Entwicklung etwas sehr Ähnliches. In Anlehnung an die frühen Arbeiten von Dieter Senghaas zielt Entwicklung auf Autonomie und nichtdiskriminierende internationale Arbeitsteilung; sie strebt ein Akkumulationsmodell an, in dem die Produktion von Produktionsmitteln und die Produktion von Mas- senkonsumgütern über einen sich revolutionierenden landwirtschaftlichen Sektor vermittelt wird. Entwicklung muss die Förderung struktureller Homogenität und die Herausbildung endogener und kohärenter Wirtschaftskreisläufe zum Ziel haben. Vor dem Hintergrund eines solchen Entwicklungsverständnisses ist in Übereinstimmung mit dem UNDP-Report 1999 festzuhalten, dass Internet-Benutzer weltweit eine kleine elitäre Enklave darstellen; mehr noch: Internet-Benutzer in der Dritten Welt sind eine Enklave in der Enklave. Damit ist nicht gesagt, dass es unsinnig sei, den Ausbau des Internets in den Entwicklungsländern zu fördern; es bleibt nur festzuhalten, dass dies ein Förderungskonzept für die dortigen Eliten ist. Ob freilich Elitenförderung sinnvoll oder unsinnig ist, hat mit dem Internet nichts zu tun, sondern mit generellen Entwicklungsstrategien. Elitenförderung ist eines der beiden Grundsatzprobleme bei einer Diskussion um den Zusammenhang zwischen Internet und Entwicklung, und die Frage nach bildungspolitischen Prioritäten in der Dritten Welt ist das zweite Grundsatzproblem. Bei einer ansteigenden Zahl von Analphabeten in der Dritten Welt (z. Zt. etwa eine Milliarde Menschen) und bei rund 100 Millionen "funktionalen" Analphabeten in den nördlichen Industrieländern, ferner bei etwa 260 Millionen Kindern in der Dritten Welt, die weder eine Primar- noch eine Sekundarschule besuchen, sowie angesichts einer weiter ansteigenden Kluft zwischen der Zahl von Hochschulabgängern im Süden und im Norden ist die Frage nach prioritären bildungspolitischen Maßnahmen nicht nur legitim, sondern vielmehr zwingend notwendig. Anders formuliert: Stellt man diese Frage nicht oder setzt mit knappen Ressourcen auf eine einseitige Förderung beim Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien in den Entwicklungsländern, nimmt man von Anfang an weitere strukturelle Heterogenitäten in Kauf. Ob der Einsatz und der Ausbau des Internets für Bildung und Erziehung in der Dritten Welt sinnvoll ist oder nicht, kann also weder allein technologisch noch allein pädagogisch beantwortet werden. Eine Antwort auf diese Frage kann sinnvollerweise nur im Zusammenhang mit explizit zu formulierenden Zielen von Entwicklung gegeben werden. In Anlehnung an den positiven Entwicklungskreis von Roy Preiswerk sind daher fünf Fragen zu formulieren: - Befriedigt Internet die Grundbedürfnisse, auch die der nichtmateriellen Art, also religiöse, spirituelle, mentale und kulturelle Bedürfnisse? - Trägt Internet zur Bewahrung oder Wiedergewinnung von Identität und Autonomie bei? - Ermöglicht Internet den Widerstand oder zumindest eine partielle Loslösung von den Herrschaftsstrukturen des internationalen Systems? Fördert es also (Teil)-Autonomie und (zumindest ansatzweise) Selbstbestimmung? - Fördert das Internet gebrauchswertorientierte Produktion? - Werden mit Internet Ressourcen besser, d. h. gerechter verteilt als vorher? VI. Abschnitt Mit dem Modell des so genannten Dritten Weges hat sich die europäische Sozialdemokratie mit dem marktkonformen Neoliberalismus versöhnt. Diesem haben auch Grüne, so genannte Alternative und viele Nicht-Regierungsorganisationen oft nichts mehr entgegenzusetzen. Auch die Krise der großen konservativen Volksparteien in Europa ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sie ihre eigentlich konservative Klientel nicht mehr ernst nimmt und stattdessen einem Marktkonformismus huldigt, der eigentlich dem ideologischen Umfeld der Liberalen entstammt. In der Kultur- und Bildungspolitik zeigt sich die Versöhnung der Sozialdemokratie mit Marktmodellen u. a. dort, wo es um eine so genannte public-private-partnership geht, wo der Einzug von Werbung in den öffentlichen Raum von Schule als realitätsadäquat definiert wird, wo die Privatisierung von bisher öffentlichem Theater und Musikschulen fälschlicherweise und historisch blind als Zunahme an Freiheit, Eigenständigkeit, Autonomie und Verwaltungsreform erscheint. In dieser Situation war es Bernhard Freiherr von Loeffelholz, Geschäftsführer des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der für den Raum Kultur einen marktfreien Raum forderte, einen " contrat culturel": "Wenn wir die Welt aktiv mitgestalten wollen, müssen wir neben dem Marktwert noch andere Werte erkennen und verteidigen. Wir müssen die moralische und intellektuelle Kraft aufbringen, Grenzen zu ziehen zwischen käuflichen und unveräußerlichen Werten . . . Kunst und Kultur dürfen weder machtpolitisch vereinnahmt noch wirtschaftlich instrumentalisiert werden." Wenn schon diese Argumentation über die Bedeutung von Werten bei einer Sozialdemokratie des so genannten Dritten Weges gegenwärtig kaum noch zu finden ist, dann muss sie offenbar eben über den Umweg des BDI formuliert werden. Und ganz sicherlich geht es auch beim Internet nicht nur um e-commerce, sondern auch um Kultur. Es gibt vielfältige Zwänge und globale Mechanismen, die alle darauf hinauslaufen können, dass auch das Internet zu einer großen Kulturhomogenisierungsmaschine werden könnte (Sprache, Nicht-Reziprozität weltweiter Informationsflüsse, Dominanz der von den Industrieländern dominierten Forschung), zur "pensée unique". Mit Pierre Bourdieu und vielen anderen Intellektuellen in Frankreich - und in Deutschland offensichtlich mit dem BDI - ist hartnäckig und weiterhin eine "exception culturelle" jenseits vom Markt anzustreben, als ein der Kultur autonom belassener Raum, der sich keinem Marktgesetz unterordnet, unterordnen muss. Eine solche Diskussion über die Notwendigkeit marktfreier Räume gilt insbesondere auch für den Bereich der Erziehung und Bildung, und dies verstärkt im Kontext internationalen Rechts, da marktkonforme Umgestaltungen des deutschen Bildungssystems sowohl von der EU als auch der Welthandelsorganisation (WTO) her drohen. Gerade diese beiden Institutionen arbeiten verstärkt auf eine Liberalisierung der so genannten Dienstleistungsbranche hin. In einer Stellungnahme der Bundesregierung vom Juli 2001 heißt es explizit, dass sich die Verhandlungen über Dienstleistungen in der im November 2001 in Katar beginnenden WTO-Verhandlungsrunde auf "alle vom Anwendungsbereich des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungssektoren und -erbringungsarten" betroffenen Sektoren beziehen, also auch auf das Bildungs- und Gesundheitswesen. Da bei allen Liberalisierungen des Welthandels außerdem immer mehr das Prinzip der Gegenseitigkeit greifen soll, muss Deutschland auch im Bildungswesen - und sei es noch so öffentlich strukturiert - seinen "Binnenmarkt" immer mehr für ausländische Anbieter öffnen, also gerade auch für solche aus den USA, deren Bildungswesen überwiegend privat organisiert ist. Sind solche Fragen bereits kompliziert genug, so verschärfen sie sich vollends, überträgt man sie auf die virtuelle Ebene des Internets. Denn per Internet ist die Frage von Marktöffnung "ja" oder "nein" nicht mehr zu stellen; die Internet-Realität ist transnational. Umstritten ist zwischen den USA und der EU nur noch die Frage, wie weit und wie tief der internationale Internet-Handel zu liberalisieren sei. Die USA sähen es am liebsten, wenn der gesamte Internet-Verkehr völlig unreguliert bliebe, selbstverständlich auch bei e-education, e-instruction und e-universities. Jeremy Rifkin hat in seinem jüngsten Buch die kulturellen Bedingungen und Verwerfungen einer möglichen Internet-Ökonomie analysiert. Er sieht einen digitalen Turbokapitalismus auf die reichen Länder des Nordens zukommen, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft (Kapital, Arbeit, private Lebenswelten) kontrolliert und der alle Menschen in Konsumenten verwandeln wird. Er sieht die gleiche kulturelle Kolonialisierung auf uns zukommen, von der viele vor ihm bereits gesprochen haben - so z. B. Karl Marx, Rosa Luxemburg, Karl Polany, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse. Nach Rifkin kündigt das Internet die Möglichkeit eines neuen Totalitarismus der Ökonomie an, ein totales Herrschaftssystem auf neuer technischer Grundlage, das den lebendigen Menschen die allerletzten Reste nichtkommerzieller Beziehungen wegnimmt und sie dem totalen Zugriff der Ökonomie aussetzt. Soll das das letzte Wort sein? Carolyn Marvin, When old technologies were new. Thinking about electric communication in the late nineteenth century, New York 1998. Vgl. z. B. UNESCO, The economics of new educational media, 2 Bde., Paris 1977, 1980. Zit. nach Klaus Klöckner, Schulfunk, in: Klaus Doderer u. a. (Hrsg.), Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3, Weinheim 1979, S. 318. Educational Policy Research Center (Hrsg.), Instructional Television: A Comparative Study of Satellites and other Delivery Systems, Washington 1976, S. 45. Eapen K. Eapen, Pie in the Sky, in: Seminar (New Delhi), März 1979, S. 37. Holger Baum/Klaus Boldt/Kambiz Ghawami, Der Handel mit Informationen wird zum Wettbewerbsfaktor. Welche Chancen bringt das Internet dem Süden?, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Januar 1999, S. 9. Käte Meyer-Drawe, Von der Marionette bis zum autopoietischen System. Maschinenbilder in der Pädagogik, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 71 (1995), S. 358-374. Vgl. Hartmut von Hentig, Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die neuen Medien, München 1984. Heike Schmoll, Computer statt Bildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung von 14. Februar 2000, S. 1. Ebd. Konrad Adam, Freiheit beginnt in der Schule, in: Die Welt vom 20. Oktober 2000, S. 4. Vgl. Klaus Haefner, Die neue Bildungskrise. Herausforderungen der Informationstechnik an Bildung und Ausbildung, Basel 1982. Vgl. zu solchen zynischen Analysen die kritische Arbeit von Heinz Steinert, Die Diagnostik der Überflüssigen, in: Mittelweg 36, (Oktober/November 2000), S. 9-17. Vgl. Birgit von Eimeren/Heinz Gerhard, ARD/ZDF-Online-Studie 2000: Gebrauchswert entscheidet über Internetnutzung, in: Media Perspektiven, (2000) 8, S. 338-349. Vgl. Dieter Senghaas, Zur Diskussion von Entwicklungsbegriffen, in: Entwicklung + Zusammenarbeit, (1975) 1, S. 13 f. Vgl. UNDP, Bericht über menschliche Entwicklung 1999, Bonn 1999, S. 74. Vgl. Roy Preiswerk, Kulturelle Identität, Self-Reliance und Grundbedürfnisse, in: Das Argument, (1980) 120, S. 167-178. Bernhard Freiherr von Loeffelholz, Ein " Contract Culturel" zur Aktivierung einer europäischen Wertegemeinschaft, in: Kulturpolitische Mitteilungen, (1997) 4, S. 20. Vgl. Pierre Bourdieu, Ökologie der Kunst. Benutzen Medien die Macht, um das soziale Universum der Kultur zu zerstören, das über acht Jahrhunderte aufgebaut wurde?, in: Die Tageszeitung vom 26. Oktober 1999, S. 15 f.; ders., Kultur in Gefahr, in: Der Standard vom 17. Januar 2001, S. 8 f. Vgl. Peter Wahl, Dienstleistungen im Visier. Die GATS-Gespräche in der Welthandelsorganisation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2001) 10, S. 1206-1217. Vgl. Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/M. 2000.
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Becker, Jörg
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25853/neue-medien-und-internet-herausforderungen-an-die-paedagogik/
Neben Sport und Unterhaltung gilt die Pädagogik als einer der wirkmächtigsten Faktoren, jeweils neuen Medien und Informationstechnologien einen großen Markt zu öffnen. Historisch wiederholen sich gleich mehrere Argumentationsmuster.
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30,816
#frankfurtstreamt: 3 Tage virtuelle Buchmesse mit der bpb | Presse | bpb.de
In der digitalen Ausgabe der Frankfurter Buchmesse 2020 hat die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb im Format #frankfurtstreamt drei Tage lang von Mittwoch bis Freitag interaktive Workshops, Speed-Datings und Livestreams präsentiert. Viele Stunden Programm und einige Tausend Begegnungen im digitalen Raum, das ist die Bilanz der ersten rein virtuellen Buchmesse der Bonner Bildungseinrichtung. Ein Highlight des Programms war die lange virtuelle Lesenacht mit mehr als 15 Autorinnen und Autoren wie Luisa Neubauer, Andreas Kossert, Olga Grjasnowa oder Ali Can, bei denen alle Interessierten in die Welt der (politischen) Literatur eintauchen konnten. Und immer wieder angeregt diskutiert, etwa bei der Podiumsdiskussion „Wir sind die Brückenbauer“ mit Autorinnen den Autoren aus Mittelosteuropa und zahlreichen „bpb-Salons“, bei denen Bücher der bpb-Schriftenreihe von den Autorinnen und Autoren vorgestellt und besprochen wurde. Alle Streams und Podiumsdiskussionen können auch nach der Messe noch abgerufen werden unter: Interner Link: www.bpb.de/frankfurtstreamt oder auf dem YouTube Kanal der bpb unter: Externer Link: www.youtube.com/playlist?list=PLGwdaKBblDzConW37BXvXszuitYOsxe5G Zudem fanden zahlreiche Begegnungen mit Bürgerinnen und Bürgern im digitalen Raum statt. So konnten die Messebesucher jeden Tag mit dem Team der bpb sowie den Teams von HanisauLand und euro|topics über Angebote der bpb ins Gespräch kommen. Besondere beliebt war schließlich das Messe-Spezial: eine Bücher-Box. Die 1.000 verfügbaren Exemplare waren bereits nach wenigen Stunden vergriffen. Unter dem Hashtag #bpbBuchmesse wird aber spätestens nach Eintreffen der Boxen noch die ein oder andere (digitale) Verlängerung über den Messezeitraum hinaus zu erwarten sein. Thomas Krüger, Präsident der bpb, zur virtuellen Messe: „Trotz der großen Distanz, in der wir wegen der Corona-Pandemie sein müssen, ist während der letzten drei Tage sehr viel Begegnung, Austausch und Diskussion möglich gewesen. Politische Bildung und konstruktive Gespräche über politische Themen - und gute politische Bücher - sind also auch online machbar. Das ist wichtig, gerade in diesen Zeiten, wo manchmal der Raum für den Austausch fehlt.“ Die Pressemitteilung als Interner Link: PDF.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-04T00:00:00"
"2020-10-16T00:00:00"
"2021-08-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/317246/frankfurtstreamt-3-tage-virtuelle-buchmesse-mit-der-bpb/
Prominent besetzte Diskussionen, Lesungen, Slams und interaktive Treffen / Programm auch nachträglich zum Anschauen unter www.bpb.de/frankfurtstreamt / bpb zieht positive Bilanz
[ "Buchmesse", "Frankfurter Buchmesse", "#frankfurtstreamt" ]
30,817
Den Durchblick behalten. So lassen sich Fake News enttarnen | Themen | bpb.de
Oft gestaltet sich die Überprüfung der Wahrheit als schwierig. Journalistinnen und Journalisten müssen schnell reagieren, Antworten haben, prüfen, was wahr oder erfunden ist – besonders im Lokalen, wo die Verbreitung vieler Falschmeldungen ihren Ursprung hat. Dabei leisten Webseiten und Online-Tools, die sich dem Faktencheck verschrieben haben, gute Dienste. Hier werden nachfolgend ausgewählte Hilfsmittel bei der Suche nach Fake News vorgestellt. Persönliche Checkliste Das Impressum ansehen In Deutschland gibt es eine Impressumspflicht. Einer Seite ohne Impressum sollte man daher kein Vertrauen schenken. Das Impressum gibt Auskunft über den Urheber einer Nachricht. Die Adresse des Herausgebers von Fake News Seiten liegt oft nicht in Deutschland. Ist ein Autor des Artikels angegeben? Wenn ja, recherchieren, was noch so publiziert wurde. Die Inhalte gegenchecken Grundsätzlich sollte man das Datum einer Meldung ansehen und die Überschrift in eine Suchmaschine eingeben Wurde über denselben Sachverhalt bereits von anderen Seiten und Medien berichtet? Gibt es mehrere Quellen? Nein? Dann sollte man der Nachricht kritisch gegenübertreten. Quellen und Zitate überprüfen: In welchem Kontext sind diese noch im Internet zu finden? Wie seriös erscheinen weitere Artikel der vermeintlichen Fake News Seite? Was wird noch so veröffentlicht? Die URL kontrollieren Es gibt Fälle, in denen Falschmeldungen im Design bekannter Medienmarken erscheinen. Schau Dir deshalb die Webadresse in der Browserzeile an. Oftmals unterscheidet sich die URL nur durch einen Zusatz wie einen Bindestrich oder eine Endung wie .net vom Original. In sozialen Netzwerken: Den Absender kontrollieren Man sollte sich das Profil des Absenders genau ansehen, bevor man ein Posting teilt. Wie lange gibt es den Twitter / Facebook-Account bereits? Wie viele Freunde oder Follower hat er? Wer sind die Follower / Freunde? Wenige Follower und sehr neue Profile geben Anlass zur Skepsis. Die bisher veröffentlichten Beiträge sollten geprüft werden. Sind die Tweets und Postings zeitlich und inhaltlich konsistent? Hat der Account einen blauen Verifizierungshaken? Fotos und Videos überprüfen Wurde das Foto tatsächlich an dem angegeben Ort aufgenommen? Werbetafeln, Verkehrsschilder und Autokennzeichen geben möglicherweise Hinweise auf den Ort. Fake News Macher zeigen gerne nur bestimmte Bildausschnitte, wodurch der ursprüngliche Kontext der Aufnahme nicht wahrheitsgemäß wiedergegeben wird. Bedenke, dass die Aussage des Bildes dadurch manipuliert wird. Webseiten, die sich ganz dem Fact beziehungsweise Fake Checking verschrieben haben: Hoaxmap.org Hintergrund: Diese Seite bildet Gerüchte ab, die in Deutschland in Umlauf waren und als Fake News entlarvt wurden. Meist geht es dabei um geflüchtete Menschen oder Einwanderer. Nutzwert: Auf einer digitalen Deutschlandkarte lassen sich Falschmeldungen nach Bundesland, Ort oder Schlagworten wie „Diebstahl“ oder „Körperverletzung“ suchen. Der User sieht sofort, aus welchem Jahr das Gerücht stammt. Außerdem gibt es einen Link zu einem Artikel, der das jeweilige Gerücht widerlegt hatte. Externer Link: http://hoaxmap.org/ faktenfinder Hintergrund: Die ARD Redaktion hat es sich zur Aufgabe gemacht vermeintliche Fakes im Rahmen des „faktenfinder“ zu untersuchen. Die Journalist(inn)en stellen dafür ihre Erkenntnisse zur tatsächlichen Faktenlage dar – wahren aber dennoch Multiperspektivität. Damit soll Menschen eine Plattform zum Nachlesen von verifizierten Fakten geboten werden. Nutzerwert: Auf tagesschau.de findet man unter faktenfinder sowohl Aktuelles aus dem In- und Ausland, sowie Hintergrundinformationen zur breiten und vertieften Darstellung der jeweilig umstrittenen Thematik. Außerdem stehen den Nutzenden Tutorials zur Verfügung, beispielsweise zum kritischen Umgang mit Statistiken. Externer Link: http://faktenfinder.tagesschau.de/index.html SWR - Fakefinder Hintergrund: Der "SWR Fakefinder" – nicht zu verwechseln mit dem ARD faktenfinder - ist ein spannendes Browserspiel. Bei diesem Spiel werden Newsfeeds unter die Lupe genommen. Mit jeder beantworteten Frage wächst das eigene Repertoire zu beurteilen: Was ist Wahrheit, woran lässt sich Betrug erkennen? Nutzerwert: Dieses Tool hilft spielerisch, in Zeiten von Fake-News und Hoaxes den Überblick zu bewahren. Die Spielenden bekommen in einem Nachrichtenfeed insgesamt zehn Meldungen gepostet. Allen gemein ist, dass sie unglaublich klingen. Ein Teil davon sind seriöse Nachrichten, ein Teil ist Satire, ein Teil aber sind dreist gefakte Inhalte. Die Aufgabe ist es, treffsicher zu unterscheiden. Der Clou: Zu jeder Aufgabe gibt es einen Recherche- oder Link-Tipp, Fakes zu entlarven. Externer Link: https://swrfakefinder.de/ First Draft News Hintergrund: Seit 2015 stellt die gemeinnützige Vereinigung First Draft Leitlinien für den Umgang mit Gerüchten, Bildern und Videos, die sich auf sozialen Netzwerken verbreiten, zusammen. Inzwischen greift sie auf ein internationales Partnernetzwerk aus Redaktionen und Menschenrechtsorganisationen zurück. In Deutschland arbeiten beispielsweise dpa, Zeit, ARD und ZDF mit den Initiatoren der Website zusammen. Nutzwert: Die Seite erklärt unter anderem Schritt für Schritt, wie man Videos oder Bilder verifiziert, welche Tools sich dafür eignen oder wie Journalisten mit traumatisierenden Bildern umgehen können. Externer Link: https://de.firstdraftnews.com/ Mimikama Hintergrund: Nachrichten, die sich über Twitter, Facebook oder Whatsapp verbreiten, sind oft fragwürdig. User können ebendiese Meldungen zur Überprüfung an die Redaktion von Mimikama schicken. Der österreichische Verein hat es sich seit 2011 zur Aufgabe gemacht, Internetbetrug, -missbrauch und Falschmeldungen aufzudecken. Nutzwert: Die Macher von Mimikama stellen die Ergebnisse ihrer Recherche und Artikel zum Thema Internetsicherheit online und geben darüber hinaus Tipps zur Erkennung von Fake News. Besonders praktisch: Mit der zugehörigen Suchmaschine Hoaxsearch lassen sich Fakes gezielt nach bestimmten Schlagworten finden. Externer Link: http://www.mimikama.at/ Externer Link: http://www.hoaxsearch.com/ Neben Webseiten, die sich ganz dem Fact beziehungsweise Fake Checking verschrieben haben, gibt es auch eine Reihe kostenpflichtiger und kostenloser Online-Tools, die bei der Überprüfung von Fotos und Video nützlich sind. Nachfolgend sind besonders anwenderfreundliche Programme aufgelistet, die gratis zur Verfügung stehen. Google Bildersuche Hintergrund: Der Klassiker: Google bietet die Möglichkeit, gezielt nach dem Ursprung eines Fotos zu suchen. Dabei wird die Datenbank nach Websites, die das Bild enthalten, und nach ähnlichen oder identischen Fotos durchforstet. Nutzwert: Mit dem Klick auf das Kamerasymbol startet der Suchdurchlauf, sobald die URL oder das Foto eingegeben wurde. Tineye Hintergrund: Ob es sich um ein Originalfoto handelt, können Redakteurinnen und Redakteure auch mit dem kostenlosen englischsprachigen Programm Tineye überprüfen. Laut Hersteller checkt die Rückwärts-Bildersuche momentan über 17 Milliarden Fotos auf Übereinstimmung. Nutzwert: Mit wenig Aufwand macht sich das nutzerfreundliche Programm ans Werk. Auch hier genügt Foto-URL oder -Upload. Externer Link: https://www.tineye.com/ Youtube Dataviewer Hintergrund: Die Hilfsorganisation Amnesty International hat das kostenlose Online-Tool Youtube Dataviewer entwickelt, um der Verbreitung von Fake News und Videos auf der Plattform Youtube entgegenzuwirken. Nutzwert: Nach Eingabe einer Youtube-URL bestimmt das Programm innerhalb von Sekunden Ort und Zeitpunkt der Aufnahme. Zugleich werden Thumbnails, einzelne Bilder des Videos, erstellt, die mit einem Klick einer Bildersuche unterzogen werden können. Externer Link: http://faktenfinder.tagesschau.de/tutorials/fakenews-erkennen-tutorial-101.html
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2017-02-23T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/stopfakenews/246807/den-durchblick-behalten-so-lassen-sich-fake-news-enttarnen/
Meldungen, Bilder, Videos – Fake News können in unterschiedlichen Formaten auftreten und sind gleichzeitig schwer zu widerlegen. Einige Internetangebote haben sich deshalb der Überprüfung von zweifelhaften Informationen und Medien verschrieben. Eine
[ "Fake News", "Medien", "Lokaljournalismus", "Social Media", "Online", "Journalismus" ]
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Individuum und Kirche: Ohne Zutrauen und Vertrauen in die Menschen keine Anziehungskraft! - Essay | Religion und Moderne | bpb.de
Mehr Meinungsfreiheit und weniger Gehorsamsforderungen, mehr Bereitschaft zum Dialog miteinander und weniger Verordnungen von oben, mehr Freiraum in der persönlichen Entfaltung und weniger willkürlich anmutende Verbote, kurzum: mehr Beteiligung aller Betroffenen nach den demokratischen Prinzipien der Repräsentanz und Delegation durch Wahlen – so oder so ähnlich lauten die Dauerforderungen, die allenthalben zu hören sind. Sie werden für das Vereinsleben ebenso gefordert wie für die Strukturen in den Gewerkschaften und Parteien oder das Engagement in religiösen Gemeinschaften. So kontinuierlich sie zu hören sind, so konsequent scheinen sie von den Verantwortlichen dieser Organisationen nicht wahrgenommen zu werden. Der Preis, der dafür gezahlt wird, sind zunehmend mangelnde Bereitschaft zum Engagement und sinkende Mitgliederzahlen. Kirchen, Vereine und auch Gewerkschaften klagen darüber. Einerseits sind es Bischöfe, Vereinspräsidenten und Gewerkschaftsvorsitzende müde, auf die negativen Entwicklungen in ihren Reihen angesprochen zu werden. Andererseits sind es viele Mitglieder der religiösen Gemeinschaften, der Vereine und Gewerkschaften leid, stets darauf aufmerksam machen zu müssen, dass Individualität und Personalität, Subsidiarität und Solidarität sowie ein partnerschaftliches Miteinander zur jeweiligen Grundidee der Kirchen, Vereine und Gewerkschaften gehören. Viele fordern das, was modern als Ermächtigung oder Empowerment bezeichnet wird und Formen der Machtausübung meint, die nicht lähmend, sondern förderlich wirken – Machtstrukturen, bei denen die Fäden der Macht nicht nur in eine Hand oder nur in wenige Hände gelegt werden, sondern in möglichst viele und miteinander vernetzte Hände. Trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen religiösen Gemeinschaften, Vereinen und Gewerkschaften scheinen sie doch alle an dem gleichen Grundproblem zu leiden: die "lähmende Selbstwidersprüchlichkeit", die zwischen ihrer Grundidee und ihren konkreten Strukturen besteht und bislang nur bedingt wahrgenommen und abgebaut ist. Wie solche lähmenden Selbstwidersprüchlichkeiten aussehen und wie sie abgebaut werden können, wird im Folgenden am Beispiel der katholischen Kirche aufgezeigt. Für die Wahl der katholischen Kirche sprechen vor allem zwei Gründe: Zum einen beansprucht die katholische Kirche, Sakrament, also Zeichen und Werkzeug des Heils für die Welt zu sein. Das bedeutet, auch vorzuleben, wie das Gemeinschaftsleben so zu gestalten ist, dass es sowohl dem Willen Gottes als auch den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Zum anderen gibt es keine andere (religiöse) Organisation, die so systematisch und differenziert strukturiert ist wie die katholische Kirche. Das hat den Vorteil, nicht nur eine "gläserne", sondern eine klar sichtbare Decke benennen zu können. In der katholischen Kirche besteht die lähmende Selbstwidersprüchlichkeit vor allem in der Diskrepanz zwischen der Rede von der "kirchlichen Gemeinschaft" und der "Teilhabe aller an der Sendung der Kirche" auf der einen Seite und der vielfachen Erfahrung auf der anderen Seite, dass es in den entscheidenden Momenten des kirchlichen Lebens nur bedingt Miteinander, kooperative Arbeitsweise oder Beteiligung an Entscheidungsprozessen gibt. Entscheidungen verlaufen einseitig von oben nach unten: vom Papst über die Bischöfe zu den Pfarrern und dem Rest der kirchlichen Gemeinschaft. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Pastorale Raumplanung 2025 im Bistum Augsburg. Ohne Rücksprache mit den diözesanen Gremien, ohne Befragung der Gläubigen und ohne Beteiligung von Repräsentanten des diözesanen Gottesvolkes hat hier der Bischof jüngst festgelegt, wie 2025 die pastorale Struktur der Diözese auszusehen hat, dass ab sofort Sonntags nur noch Eucharistiefeiern und keine Wortgottesdienste (die von Laien geleitet werden) mehr stattfinden dürfen und dass die Pfarrgemeinderäte ab sofort kein beschließendes Stimmrecht mehr haben. Kritikerinnen und Kritiker mahnten an, dass kirchliche Lebensformen und kirchliche Aktivitäten, für die sich viele in der Kirche jahrelang mit Leib und Seele engagiert haben, vom Diözesanbischof einfach zur Seite geschoben wurden. Viele Kirchenglieder, Laien wie Priester, Hauptamtliche wie Ehrenamtliche fühlten sich dadurch nicht ernst genommen und in ihrer eigenen Verantwortlichkeit nicht anerkannt. Hinzu kam, dass bewährte Formen der Mitwirkung wie Wahlen und Mitbestimmungsrechte zurückgedrängt und die Rolle des Priesters ausgeweitet wurden. In einem Interview erklärte dazu Bischof Konrad Zdarsa: "Kirche ist keine Demokratie. Das ist leider ein Missverständnis. Sondern wir sind ausgerichtet auf Christus. Jeder hat seine Aufgabe, seinen Dienst, und den darf er nicht durchführen aus Selbstherrlichkeit oder Machtbewusstsein, sondern im Dienst an Christus und den Gläubigen." Daher möchte Bischof Zdarsa mit den Gläubigen über die getroffenen Regelungen auch einen Dialog führen. Doch Dialog ist mehr als ein "Drüber reden", erst recht mehr als ein Gespräch im Nachhinein. Dialog ist auch nicht einfach nur eine Methode oder Strategie im Umgang mit kritischen Stimmen. Dialog ist vielmehr die Haltung der Offenheit, die Haltung der Neugierde und die Haltung des Verstehen-wollens des und der anderen. Im offenen Dialog lassen sich Gesprächspartner so aufeinander ein, dass sie die jeweils anderen zu verstehen suchen und vom anderen her die eigenen Sichtweisen beurteilen. Auf diese Weise des Miteinanders und des aufeinander Einlassens können sich neue Blickwinkel eröffnen und gemeinsame Auffassungen und Perspektiven einer Problemlösung entwickeln. Die Alternativen zum Dialog lauten: Monolog und Alleingang. Doch das ist unkirchlich und entspricht nicht dem Wesen der katholischen Kirche. Denn der Gott des christlichen Glaubens, der Lebensgrund der katholischen Kirche, ist das Urbild des Dialogs. Ja, mehr noch: Dieser Gott selbst ist der Dialog. Schließlich hat sich dieser Gott den Menschen als der dreifaltige Gott geoffenbart, der eine permanente Dialoggemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist. Deshalb kann auch die Kirche, als die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen, nichts anderes sein als eine permanente Dialoggemeinschaft – eine permanente Dialoggemeinschaft aller Kirchenglieder mit Gott und untereinander. Wenn und wo Kirche das nicht ist, wenn und wo Kirchenglieder nicht dialogfähig oder nicht dialogwillig sind – egal, ob es sich dabei um Laien, Kleriker oder Bischöfe handelt –, wird sie sich selbst untreu, verrät sie sich selbst in einer zentralen, ja wesentlichen Dimension ihres Kirche-Seins und gerät so in die genannte "lähmende Selbstwidersprüchlichkeit". Zutrauen und Vertrauen Viele sehen das Hauptproblem der katholischen Kirche darin, dass ihr auf der Leitungsebene das Vertrauen und das Zutrauen fehlt, Menschen in der Kirche nicht nur mit-helfen, sondern sie wirklich mit-wirken zu lassen und ihnen Verantwortung zu übertragen. Wo vertraut und zugetraut wird, fangen Menschen an, zu handeln und im Tun zu entdecken, dass sie vieles können, dessen sie sich nicht bewusst waren. Wo es aber an Vertrauen und Zutrauen fehlt, da wird nur zugelassen, was überwacht werden kann. "Wo aber im größeren pastoralen Raum nur zugelassen wird, was auch kontrolliert werden kann, wird der Raum groß und das Leben gering sein." Deshalb wird es zu einer (Über-)Lebensfrage der Kirche werden, ob es ihr tatsächlich gelingt, dass in ihrem Leben und Wirken Vertrauen und Zutrauen selbstverständlich werden. Das kirchliche Selbstverständnis erfordert es, den Gläubigen vor Ort die Fähigkeit und die Möglichkeit zuzutrauen, in einem ihnen übertragenen Bereich wirklich selbstständig ihr Handeln zu verantworten – Verantwortung freilich nicht nach selbst gemachten Spielregeln, sondern nach den Spielvorgaben des Bischofs; denn schließlich ist der Bischof der letztverantwortliche Leiter, der gute Hirte, der Diözese, dessen Aufgabe es ist, alles, was die Gläubigen tun, zu einer Einheit – nicht: Einheitlichkeit – zusammenzuführen. Diese Aufgabe des Bischofs stellen auch keine Kritikerinnen und Kritiker ernsthaft infrage. Was aber vielerorts eingefordert wird, ist, dass bei der Abfassung der bischöflichen "Spielvorgaben" zwei maßgebliche Grundregeln beachtet werden: die "Spielvorgaben" erst aufzustellen, nachdem er sich den Beteiligten mit ihren Anliegen und ihren Perspektiven zugewendet hat, sowie bereit zu sein, "Spielvorgaben" dem Zusammenspiel der anderen anzuvertrauen. Werden diese Grundregeln missachtet, besteht die Gefahr, dass mittelfristig Autorität nicht im gemeinschaftsförderlichen, sondern gemeinschaftshemmenden Sinne ausgeübt wird. Autorität wird dann nicht mehr als Macht im Sinne von Ermächtigung der Gemeinschaft eingesetzt, sondern schlägt um in Macht im Sinne von Herrschaft. Konkret bedeutet das, dass die entscheidenden Akzente des kirchlichen Lebens vor Ort, die entscheidenden Akzente der pastoralen Ausrichtung, der Strukturen und der Aktivitäten nicht mehr einseitig und allein von übergeordneter Stelle festgelegt werden dürfen, sondern stärker in Zusammenarbeit mit den Haupt- und Ehrenamtlichen vor Ort entwickelt werden müssen. Denn nur in Zusammenarbeit kann vermieden werden, dass Fähigkeiten, die vorhanden sind, nicht entfaltet werden können, und umgekehrt Fähigkeiten abverlangt werden, für welche die Eignung fehlt. Vielmehr entsteht die Chance, dass allmählich ein Raum für gegenseitiges Vertrauen und Zutrauen wächst, für gegenseitiges Anerkennen und Beteiligen an Planung und Verantwortung, für ein koordiniertes und effektives Miteinander zum Wohle der Kirche. Ob positiv bei der aktiven Beteiligung des gesamten Gottesvolkes angesetzt und dessen Ermächtigung (Empowerment) ernst genommen wird, ob eher kritisch bei der Problematik des mangelnden Dialogs seitens kirchlicher Autoritäten angesetzt wird, das Ergebnis ist dasselbe: Ohne Veränderung, ohne Umverteilung von Verantwortung auf der Basis von Vertrauen und Zutrauen geht es nicht. Was Zutrauen und Vertrauen bewirken können, lässt sich in eindrucksvoller Weise an der Einrichtung der Telefonseelsorge ablesen. Viele kennen sie, immer mehr Menschen nehmen sie in Anspruch, und die Nachfrage, dort ehrenamtlich mitarbeiten zu wollen, boomt nach wie vor. Im Unterschied zu den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften, in Abhebung zu den Vereinen und Gewerkschaften kann die Telefonseelsorge seit Jahrzehnten einen nicht nur gleichbleibenden, sondern sogar ansteigenden Trend an ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verzeichnen. Seit die Telefonseelsorge in den 1960er Jahren in Deutschland als gemeinsam getragenes Unternehmen der katholischen und evangelischen Kirche eingerichtet wurde, ist das Interesse, dort unentgeltlich mitzuarbeiten, sehr groß. Woran liegt das? Was ist das Erfolgsrezept der Telefonseelsorge? Fragt man bei den Verantwortlichen der Telefonseelsorge nach, erhält man meistens folgende Antwort: wertschätzende Anerkennung jedes Mitarbeiters und jeder Mitarbeiterin in ihren Fähigkeiten, geistliche Anleitung, selbstständige und verantwortungsvolle Tätigkeit, regelmäßig organisierte Gemeinschaftspflege in zeitnahen Abständen und vielseitig strukturierte sowie qualifizierte und anspruchsvolle Fortbildungsangebote mit persönlichem Gewinn für die Einzelnen. Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften, Vereine und Gewerkschaften könnten hier in die Schule gehen, um ihre lähmenden Selbstwidersprüchlichkeiten zwischen ihrer Grundidee und ihren konkreten Strukturen mehr und mehr zu überwinden und so wieder Attraktivität auszustrahlen, die zur Mitgliedschaft und zum Engagement einlädt. Daniel Kosch, Machtteilung, Machtbeschränkung und Ermächtigung in der römisch-katholischen Kirche, in: Martha Heizer/Hans Peter Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte, Kevelaer 2011, S. 225. Vgl. dazu die Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils "Lumen Gentium", Artikel 1, 9, 48, 59. Vgl. zur Reform: Externer Link: http://www.bistum-augsburg.de/index.php/bistum/Nachrichten/Pastorale-Raumplanung-ist-in-Kraft-gesetzt_id_164981 (26.4.2013). Vgl. Hanspeter Heinz, Diktat statt Dialog, in: Herder Korrespondenz, 66 (2012), S. 360–364. Donau Kurier vom 26.2.2012, online: Externer Link: http://www.donaukurier.de/nachrichten/bayern/Augsburg-wochennl092012-Ich-habe-mir-diese-Aufgabe-nicht-ausgesucht;art155371,2565852#683141958 (25.4.2013). Reinhard Feiter/Judith Könemann, Gemeinden als Orte lebendiger Gemeinschaft im Glauben, in: Marianne Heimbach-Steins/Gerhard Kruip/Saskia Wendel (Hrsg.), Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch, Freiburg i.Br. 2011, S. 175. Vgl. Michael Böhnke/Thomas Schüller (Hrsg.), Gemeindeleitung durch Laien?, Regensburg 2011. Vgl. D. Kosch (Anm. 1), S. 229. Vgl. Beate Glania, Zuhören verwandelt, Frankfurt/M. 2005, S. 52f.
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, Sabine Demel
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-06-03T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162390/individuum-und-kirche-ohne-zutrauen-und-vertrauen-in-die-menschen-keine-anziehungskraft-essay/
Abnehmendes Engagement und sinkende Mitgliederzahlen hier, laute Rufe nach mehr Individualität und Personalität, Subsidiarität und Solidarität dort. In welchem Verhältnis steht dies zur organisierten Religiosität?
[ "Individuum und Kirche", "Kirche", "katholische Kirche", "Empowerment" ]
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Protokoll zur 3. Sitzung der AG Strategie | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Zentraler Tagesordnungspunkt war die weitere Vorbereitung der Netzwerkkonferenz am 25. und 26. Oktober 2017 in Jena. Das Protokoll gibt Aufschluss über die geplante Schwerpunktsetzung und Vertiefung von Fragen rund um die Aktivierung und Mobilisierung im Zusammenhang mit Bürgerhaushalten und -budgets. Interner Link: Protokoll zur 3. Sitzung der AG Strategie (PDF)
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Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-08-25T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512372/protokoll-zur-3-sitzung-der-ag-strategie/
Auf der dritten Sitzung der AG Strategie ging es vorrangig um Schwerpunktthemen rund um Aktivierung und Mobilisierung für die anstehende Netzwerkkonferenz am 25. und 26. Oktober 2017 in Jena.
[ "Bürgerhaushalt - Bürgerbudget", "Bürgerhaushalt", "Bürgerbudget", "Netzwerk Bürgerhaushalt" ]
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Parteien in der Kommunalpolitik | Parteien in Deutschland | bpb.de
Die Rolle der Parteien in der Kommunalpolitik ist umstritten. Politikwissenschaftler wünschen sich traditionell eine Parteipolitisierung der Kommunalpolitik, während Juristen den Parteieneinfluss auf die kommunale Selbstverwaltung eher zurückdrängen wollen. Das ist auch darauf zurückführen, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen auf kommunaler Ebene grundlegend von der Landes- und Bundesebene unterscheiden und deshalb Kommunen von Juristen andere Aufgaben zugewiesen werden, während die Politikwissenschaft häufig die Besonderheiten dieser Ebene und deren Auswirkungen auf die Parteiakteure ausgeblendet hat. Im Folgenden sollen deshalb kurz diese unterschiedlichen Leitbilder von Kommunalpolitik skizziert werden, um daran anschließend die institutionellen Besonderheiten und deren Auswirkung auf die Akteure zu diskutieren. Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie Die traditionelle juristische Sicht befürwortet in der Regel eine starke Stellung des direktgewählten Bürgermeisters (starke exekutive Führerschaft), während Ratsmitgliedern und Parteien eine starke Zurückhaltung auferlegt wird. Im Stadt- oder Gemeinderat als Selbstverwaltungsorgan soll dementsprechend der "Parteienstreit" deutlich reduziert werden, auch weil angesichts der begrenzten rechtlichen Spielräume der kommunalen Ebene und der dort vorrangig zu lösenden Sachprobleme eine Parteipolitisierung zu nicht sach- und selbstverwaltungsgemäßen Lösungen führt (Püttner 2007: 386). Vorbild hierfür ist häufig die baden-württembergische Kommunalpolitik in kleinen und mittleren Gemeinden, in der häufig starke Bürgermeister auf konkordanzdemokratische Räte mit einstimmigen Beschlüssen treffen - auch aufgrund der bürgermeisterzentrierten baden-württembergischen Kommunalverfassung (Bogumil/Holtkamp 2016). Konkordanzdemokratie und Konkurrenzdemokratie Als Konkordanzdemokratie werden in der Politikwissenschaft Demokratien bezeichnet, in denen Konflikte hauptsächlich durch das Aushandeln von Kompromissen und gütliches Einvernehmen beigelegt werden. Oft werden hier auch Minderheiten an der politischen Willensbildung beteiligt. In der Konkurrenzdemokratie spielen dagegen Mehrheitsentscheidungen eine dominante Rolle. Konflikte werden von der Mehrheit entschieden, die Einbindung entgegenstehender Positionen ist nicht nötig oder relevant. Die meisten Demokratien sind eine Mischung beider Typen. Das System der Schweiz wird oft als weitgehender Vertreter der Konkordanzdemokratie angeführt, Großbritannien ist dagegen nah am Idealtypus der Konkurrenzdemokratie. Politikwissenschaftler übertragen demgegenüber häufig das Modell der nationalen Konkurrenzdemokratie, die durch den Wettbewerb zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen im Bundestag geprägt ist, auf die Kommunalpolitik und sehen dementsprechend Kontrollprobleme, wenn der Parteienwettbewerb und die Handlungsspielräume des Kommunalparlaments beispielsweise durch eine starke Stellung des Bürgermeisters eingeschränkt werden (Naßmacher/Naßmacher 2007). Vorbild sind häufig die eher konkurrenzdemokratischen Kommunalparlamente in Nordrhein-Westfalen, die auch aufgrund der dortigen Kommunalverfassung eine starke Stellung gegenüber dem Bürgermeister haben. Als Konkordanzdemokratie werden in der Politikwissenschaft Demokratien bezeichnet, in denen Konflikte hauptsächlich durch das Aushandeln von Kompromissen und gütliches Einvernehmen beigelegt werden. Oft werden hier auch Minderheiten an der politischen Willensbildung beteiligt. In der Konkurrenzdemokratie spielen dagegen Mehrheitsentscheidungen eine dominante Rolle. Konflikte werden von der Mehrheit entschieden, die Einbindung entgegenstehender Positionen ist nicht nötig oder relevant. Die meisten Demokratien sind eine Mischung beider Typen. Das System der Schweiz wird oft als weitgehender Vertreter der Konkordanzdemokratie angeführt, Großbritannien ist dagegen nah am Idealtypus der Konkurrenzdemokratie. Zumindest ist heute klar, dass sich empirisch schon bedeutende Besonderheiten der Kommunalpolitik verzeichnen lassen, die eher gegen eine starke Parteipolitisierung in den durchschnittlichen Kommunen sprechen (Holtkamp 2008; Holtkamp 2017; vgl. anders Holtmann 2013). Institutionelle Besonderheit der kommunalen Ebene Interner Link: Nach den Gemeindeordnungsreformen, die den meisten Ländern in den 1990er-Jahren durchgeführt wurden, werden die Kommunen mit der Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters zunehmend als präsidentielle Regierungssysteme eingeordnet. Wenn der Bürgermeister und seine Partei keine klaren Mehrheiten im Kommunalparlament haben, ist das präsidentielle System nur schwer mit der Konkurrenzdemokratie vereinbar. In diesem Kohabitationsfall blockieren sich häufiger Stadtrat und Bürgermeister selbst und dies führt zu suboptimalen Entscheidungen (Bogumil et al 2014). In der Konkordanzdemokratie - also bei geringer Parteipolitisierung - hingegen kann der direktgewählte Bürgermeister über Fraktionsgrenzen hinweg über Verhandlungen seine politischen Mehrheiten suchen. Ähnliche Blockaden wurden bei dem Zusammenspiel von Direktdemokratie und Konkurrenzdemokratie beobachtet (Holtkamp 2017). Die in allen Gemeindeordnungen eingeführten Bürgerbegehren werden in der Konkurrenzdemokratie häufig von der Opposition genutzt, um die Ratsbeschlüsse der Mehrheitsfraktionen zu kippen. In der Konkordanzdemokratie werden hingegen Ratsbeschlüsse meist einstimmig verabschiedet, sodass Bürgerbegehren kaum von einer "Opposition" genutzt werden können, um sich für zukünftige Wahlen zu profilieren. Bei gleichzeitig geringen kommunalen Spielräumen gerade im Zuge der kommunalen Haushaltskrise sind diese Blockaden eher als schädlich für den politischen Output einzuordnen und sprechen deshalb eher für die Konkordanzdemokratie. Eine weitere institutionelle Besonderheit auf kommunaler Ebene ist, dass Parteien kein Wahlvorschlagsmonopol haben, sondern der Konkurrenz von freien Wählergemeinschaften ausgesetzt sind. Parteien haben also auf lokaler Ebene gerade nicht ein "Machtmonopol", wie es häufiger unterstellt wird (Antonio 2015: 565). Weiterhin charakteristisch für die lokale Ebene ist der Begriff der Nähe (Andersen 1998: 17). Sozial kann in Gemeinden eher ein Kleinklima des Vertrauens entstehen und emotional besteht eine größere Identifikationsbereitschaft der Bürger auf kommunaler Ebene. Diese Nähe der kommunalen Ebene führt dazu, dass die Parteien als Vermittler weniger von den Bürgern und den Ratsmitgliedern benötigt werden. Es dominiert eine personenbezogene Kommunikation, und grundsätzliche Konflikte werden gerade aufgrund dieser Nähe eher vermieden. Darüber hinaus ist der geringe Professionalisierungsgrad lokaler Parteien und Ratsfraktionen zu berücksichtigen, der u. a. auf die geringe staatliche bzw. kommunale Finanzierung der Parteien zurückzuführen ist. So gibt es in Deutschland keine staatliche Rückerstattung von kommunalen Wahlkampfkosten, und die Ratsmitglieder verstehen ihr Mandat prinzipiell ehrenamtlich. Der Einfluss der Gemeindegröße Aufgrund vieler der hier beschriebenen Besonderheiten ist davon auszugehen, dass in den Kommunen durchweg nicht der Grad der Parteipolitisierung erreicht wird, der die Bundesebene charakterisiert, wobei die Varianz zwischen den Kommunen schon erheblich ist. Das liegt einerseits an Unterschieden zwischen den Kommunalverfassungen, die die Kompetenzen von Bürgermeister und Rat unterschiedlich ausgestalten. Anderseits variieren diese kommunalen Besonderheiten stark nach Gemeindegröße (Tausendpfund / Vetter 2017: 28). Kommunalpolitik in Großstädten weicht deutlich weniger von den konkurrenzdemokratischen Mustern auf Bundesebene ab als in kleineren Gemeinden. In letzteren sind die kommunalrechtlichen Handlungsspielräume, insbesondere über die unterschiedlich zugewiesenen Kompetenzen in den Gemeindeordnungen, deutlich kleiner als in größeren Städten. Der Begriff der Nähe und die aus dieser Nähe resultierende, stark personenbezogene Kommunikation, die die Vermittlungsfunktion von Parteien begrenzt, sind für kleinere Gemeinden typischer als für Großstädte. Auch das Vermeiden grundsätzlicher Konflikte dürfte aufgrund dieser Nähe in kleinen Gemeinden ausgeprägter sein als in Großstädten. Auch die Bedingungen für eine eigenständige, stabile lokale Parteiorganisation sind aufgrund der höheren Anzahl von Parteimitgliedern und der bedingt besseren Finanzausstattung sowie der stärkeren lokalen Präsenz von Berufspolitikern (Kreisgeschäftsführer, Fraktionsgeschäftsführer, Landtagsabgeordnete etc.) in Großstädten deutlich günstiger (Holtkamp 2008). Außerdem müssen in kleineren Gemeinden im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich mehr Ratsmandate besetzt werden. Dies kann zu erheblichen Rekrutierungsproblemen und damit zur Nominierung von Kandidaten mit geringer Parteibindung als "Notlösung" führen. Und das wird maßgeblich auch die Zukunft der Ortsparteien bestimmen. Zukunft der Lokalparteien Trotz der skizzierten Einschränkungen der Kommunalpolitik ist damit nicht gesagt, dass die lokalen Parteien funktionslos sind oder werden. Sie dienen insbesondere der Rekrutierung von Berufspolitikern, die sich in den großen Volksparteien bei personalisiertem Verhältniswahlrecht in Bund und Ländern im starken Maße in den einzelnen Kreisverbänden profilieren müssen. Und zugleich nehmen diese Einschränkungen zumeist mit zunehmender Gemeindegröße ab, sodass in Großstädten Parteien für die Wähler schon eine Orientierungsfunktion haben. In den anderen Kommunen ist eher davon auszugehen, dass die Parteipolitisierung weiter abnehmen wird. Hierfür sprechen einerseits die zunehmenden Wahlerfolge der Wählergemeinschaften. Bereits heute sind sie insbesondere in Ostdeutschland stark vertreten. So erreichen Wählergemeinschaften in Ostdeutschland bei den Kommunalwahlen Stimmenanteile zwischen 38,6 % in Sachsen und 53,3 % in Thüringen (Holtmann et al. 2012: 151) und in den klassischen Hochburgen in Süddeutschland können sie annähernd 50% der Stimmenanteile erringen. Andererseits führt der extreme Mitgliederschwund der Parteien (vgl. hierzu auch Holtmann et al. 2017) dazu, dass in den kleineren Kommunen zukünftig kaum noch genügend Personal zur Verfügung steht, um die Kommunalpolitik stark parteipolitisch durchdringen zu können. Zwischen 1990 und 2016 haben die CDU 45 Prozent und die SPD 54 Prozent ihrer Mitglieder verloren (Niedermayer 2017). Rechnet man die zukünftigen Mitgliederverluste allein durch zu erwartende Todesfälle hoch, ist bis 2040 ein weiterer Rückgang der SPD- und CDU Mitgliedschaft von 60 Prozent zu erwarten (Decker et al. 2014: 5). Das wird wahrscheinlich dazu führen, dass immer weniger Parteien in kleineren Kommunen überhaupt zur Kommunalwahl antreten werden, was wiederum die Wahlerfolge der Wählergemeinschaften forcieren könnte. Quellen / Literatur Andersen, Uwe (1998): Kommunalpolitik im Umbruch. In: Uwe Andersen (Hg.): Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen im Umbruch. Köln: S. 9-43. Antonio; Oliver (2015): Zwischen Rathaus, Milieu und Netzwerk - Über die lokale Verankerung politischer Parteien, Wiesbaden. Bogumil, Jörg; Holtkamp, Lars; Junkernheinrich, Martin; Wagschal, Uwe (2014): Ursachen kommunaler Haushaltsdefizite. In: Politische Vierteljahresschrift (4), S. 614-646. Bogumil, Jörg; Holtkamp, Lars (2016): Kommunale Entscheidungsstrukturen in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden. Decker, Frank; Best, Volker; Knorr, David (2014): Rekrutierungswege moderner Volksparteien. Online verfügbar unter Externer Link: http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/10651.pdf, zuletzt geprüft am 8.3.2018. Holtkamp, Lars (2008): Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie. Parteien und Bürgermeister in der repräsentativen Demokratie. Wiesbaden. Holtkamp, Lars (2017): Formen kommunaler Demokratie. Direkt - Repräsentativ - Kooperativ, Frankfurt a.M. Holtmann, Everhard (2013): Parteien auf der kommunalen Ebene. In: Oskar Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden, S. 791-815. Holtmann, Everhard; Khachatryan, Kristine; Krappidel, Adrienne; Plassa, Rebecca; Rademacher, Christian; Runberger, Maik (2012): "Die Anderen" - Parteifreie Akteure in der lokalen Risikogesellschaft. In: Heinrich Best und Everhard Holtmann (Hg.): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft - Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt a.M./New York, S. 150-171. Holtmann, Everhard / Rademacher, Christian / Reiser, Marion (2017): Kommunalpolitik - Eine Einführung, Wiesbaden. Naßmacher, Hiltrud / Naßmacher, Karl-Heinz (2007): Kommunalpolitik in Deutschland, Wiesbaden. Niedermayer, Oskar (2017) Parteimitglieder in Deutschland: Version 2017 NEU Externer Link: http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/schriften/Arbeitshefte/P-PMIT17-NEU.pdf, zuletzt geprüft am 8.3.2018; Püttner, Günter (2007): Zum Verhältnis von Demokratie und Selbstverwaltung, in: Thomas Mann und Günter Püttner (Hg.): Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin, S. 381-390. Tausendpfund, Markus / Vetter, Angelika 2017: Kommunalpolitiker und lokaler Kontext: Fragen, Methoden, Befunde; in: Tausendpfund, Markus / Vetter, Angelika (Hg.): Politische Einstellungen von Kommunalpolitikern im Vergleich, Wiesbaden: 1-31. Andersen, Uwe (1998): Kommunalpolitik im Umbruch. In: Uwe Andersen (Hg.): Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen im Umbruch. Köln: S. 9-43. Antonio; Oliver (2015): Zwischen Rathaus, Milieu und Netzwerk - Über die lokale Verankerung politischer Parteien, Wiesbaden. Bogumil, Jörg; Holtkamp, Lars; Junkernheinrich, Martin; Wagschal, Uwe (2014): Ursachen kommunaler Haushaltsdefizite. In: Politische Vierteljahresschrift (4), S. 614-646. Bogumil, Jörg; Holtkamp, Lars (2016): Kommunale Entscheidungsstrukturen in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden. Decker, Frank; Best, Volker; Knorr, David (2014): Rekrutierungswege moderner Volksparteien. Online verfügbar unter Externer Link: http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/10651.pdf, zuletzt geprüft am 8.3.2018. Holtkamp, Lars (2008): Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie. Parteien und Bürgermeister in der repräsentativen Demokratie. Wiesbaden. Holtkamp, Lars (2017): Formen kommunaler Demokratie. Direkt - Repräsentativ - Kooperativ, Frankfurt a.M. Holtmann, Everhard (2013): Parteien auf der kommunalen Ebene. In: Oskar Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden, S. 791-815. Holtmann, Everhard; Khachatryan, Kristine; Krappidel, Adrienne; Plassa, Rebecca; Rademacher, Christian; Runberger, Maik (2012): "Die Anderen" - Parteifreie Akteure in der lokalen Risikogesellschaft. In: Heinrich Best und Everhard Holtmann (Hg.): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft - Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt a.M./New York, S. 150-171. Holtmann, Everhard / Rademacher, Christian / Reiser, Marion (2017): Kommunalpolitik - Eine Einführung, Wiesbaden. Naßmacher, Hiltrud / Naßmacher, Karl-Heinz (2007): Kommunalpolitik in Deutschland, Wiesbaden. Niedermayer, Oskar (2017) Parteimitglieder in Deutschland: Version 2017 NEU Externer Link: http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/schriften/Arbeitshefte/P-PMIT17-NEU.pdf, zuletzt geprüft am 8.3.2018; Püttner, Günter (2007): Zum Verhältnis von Demokratie und Selbstverwaltung, in: Thomas Mann und Günter Püttner (Hg.): Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin, S. 381-390. Tausendpfund, Markus / Vetter, Angelika 2017: Kommunalpolitiker und lokaler Kontext: Fragen, Methoden, Befunde; in: Tausendpfund, Markus / Vetter, Angelika (Hg.): Politische Einstellungen von Kommunalpolitikern im Vergleich, Wiesbaden: 1-31.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-01T00:00:00"
"2018-03-14T00:00:00"
"2021-12-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/266289/parteien-in-der-kommunalpolitik/
Wie wichtig sind Parteien für die Kommunalpolitik? Wie wichtig ist die Kommunalpolitik für die Parteien? Dort treffen die Parteien auf Rahmenbedingungen, die ihre Stellung in der Kommune wesentlich beeinflussen und von der Bundes- oder Landesebene un
[ "Kommunalpolitik", "Kommunalparteien", "Lokales", "Parteien" ]
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V. Politics and religion: Re-defining the relationship in diverse societies? | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de
More than anything else, the events of 2011 in the Arab world have refocused the world's attention onto the relationship between religion and politics. The challenges posed by Islamists in the transformation countries of the Middle East have renewed fears and anxieties vis à vis the political influence of religious forces – inside and outside these societies. Citizenship educators have to ask themselves how they should assess and discuss the new revival of religion and religiosity – even in secularised societies like Europe. Crucial questions in this context are: How can religious and secular citizens live with and respect each other in a democratic society? How far do historico-cultural differences between Europe and North Africa exert influence over the role of religion in societal and national life? How can citizenship education deal constructively with issues of faith? Inputs by Interner Link: Boudris Belaid, Centre de la Formation des Inspecteurs de l’Education nationale (Morocco) Sara Silvestri, City University London (UK) Introduction & Moderation: Andreas Jacobs, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (Germany) Rapporteur: Interner Link: Kacper Nowacki, Center for Citizenship Education (Poland) Interner Link: Back to the conference programme
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-09-12T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/144303/v-politics-and-religion-re-defining-the-relationship-in-diverse-societies/
[ "" ]
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Dokumentation: Unabhängiger Mechanismus zur Verhinderung von Folter in Gefahr | Ukraine-Analysen | bpb.de
Der folgende Beitrag von Halya Coynash wurde am 07.06.2018 zuerst auf der Website der Kharkiv Human Rights Protection Group veröffentlicht (Externer Link: http://khpg.org/en/index.php?id=1528319340). Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt der Kharkiv Human Rights Protection Group für die Erlaubnis zum Nachdruck. Halya Coynash (The Kharkiv Human Rights Protection Group): Ukraine’s new Human Rights Ombudsman is placing fight against torture in jeopardy 07.06.2018 A vital mechanism for preventing torture and ill-treatment in Ukrainian places of confinement is in danger, with human rights organizations placing the blame with the new, controversially elected, Human Rights Ombudsman Ludmila Denisova. Any mechanism that involves monitoring of prisons and other closed institutions must be independent and enjoy the trust of all parties, and it is this independence that is now being placed in question. At a press conference on June 6, representatives of the Ukrainian Helsinki Human Rights Union [UHHRU] and other rights organizations spoke of the progress made since 2012 in developing a National Preventive Mechanism against Torture [NPM]. Ukraine had committed itself to develop such a mechanism when it ratified the Optional Protocol to the Convention against Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment back in July 2006, yet did nothing for the following six years. It was under the former Ombudsman Valeria Lutkovska in 2012 that a mechanism finally began to emerge for monitoring close on four thousand closed institutions in which around one million Ukrainians are currently living. Over one thousand closed institutions were visited during the next six years by representatives of the Ombudsman’s Office, together with civic volunteers. Their aim was to monitor both the conditions in such institutions, and how the rights of those held there were being observed. There were 163 such civic monitors who visited the closed institutions at their own expense. The human rights groups warn that civic groups are currently being pushed out of the work of the NPM and visits are taking place without civic monitors. They say that Denisova is ignoring NGOs’ attempts to achieve dialogue on such issues. Yury Belousov, Executive Director of the Expert Centre for Human Rights who formerly headed the Office of the Ombudsman’s NPM Department, stresses that it is ultimately people held in places of confinement who will suffer as a result of the new Ombudsman’s refusal to work with civil society. The heads of the closed institutions in which they’re held will know that civic groups will not be monitoring them. He warns that this is likely to adversely impact upon observance of human rights in the institutions. Oleksandr Hatulyatulin, from the NGO Ukraine without Torture, reported that for the first time in six years, visits are taking place to institutions in the Odesa Oblast without the involvement of civic monitors. These are the people who have gained considerable experience and understanding of how to detect signs of torture and ill-treatment, and their exclusion must undermine the level of such checks. UHHRU lawyer Darya Sviridova pointed to the experience of the last four years in occupied territory (Russian-occupied Crimea and the so-called ‘Donetsk and Luhansk as proof of how terrible it would be if Ukraine were to lose the mechanisms of control and monitoring developed over recent years. The human rights groups have formed a coalition aimed at lobbying for an independent NPM and the continuation of unbiased monitoring of places of confinement. Ludmila Denisova was appointed Human Rights Ombudsman on March 15, 2018. She was at the time an MP and was therefore elected by her parliamentary colleagues through procedure which was in open breach of the Law on the Human Rights Ombudsperson. Quelle: The Kharkiv Human Rights Protection Group, Externer Link: http://khpg.org/en/index.php?id=1528319340
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-06-18T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/271105/dokumentation-unabhaengiger-mechanismus-zur-verhinderung-von-folter-in-gefahr/
Die Nichtregierungsorganisation Kharkiv Human Rights Protection Group befürchtet eine Ende des unabhängigen Mechanismus zur Verhinderung von Folter mit der Wahl der neuen ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Ludmila Denisova - die Argumentation im
[ "Ukraine-Analysen", "Folter" ]
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Glossar | Schwerpunkt Sterbehilfe | bpb.de
Tötung auf Verlangen / Aktive Sterbehilfe Die Tötung auf Verlangen meint das gewollte Herbeiführen des Todes eines Patienten durch einen Dritten, etwa durch einen Arzt, durch die Verabreichung einer tödlichen Substanz, etwa durch eine Giftspritze. In Deutschland ist die Tötung auf Verlangen verboten und wird mit bis zu 5 Jahren Haft bestraft. In den Niederlanden, Luxemburg und Belgien besteht in besonderen Fällen keine Strafbarkeit, trotz des Vorliegens des Straftatbestands der Tötung auf Verlangen, so dass die aktive Sterbehilfe in diesen Fällen erlaubt ist. Der Begriff der aktiven Sterbehilfe ist seit dem Urteil des BGH vom 25.06.2010 (Az. 2 StR 454/09) überholt. Der Bundesgerichtshof hat die Unterscheidung in eine stets verbotene Sterbehilfe durch aktives Handeln und in eine unter Umständen erlaubte Sterbehilfe durch das passive Unterlassen von Behandlungsmaßnahmen ausdrücklich aufgegeben. Assistierter Suizid/Beihilfe zur Selbsttötung Beim assistierten Suizid wird der/dem Sterbewilligen ein Mittel bereitgestellt, das der oder diejenige letztlich selbst einnimmt, um den Tod herbeizuführen. Da die Selbsttötung in Deutschland nicht belangt wird, ist auch die Beihilfe zum Suizid prinzipiell straffrei. Allerdings können Helfer, etwa Ärzte, wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Die Bundesärztekammer hat sich in ihrer Muster-Berufsordnung 2011 zwar klar positioniert: „Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Aber nur zehn der 17 Landesärztekammern haben diesen Satz übernommen, andere haben ihn abgeschwächt. Bayern und Baden-Württemberg ließen ihn ganz weg. Der Bundestag will noch in diesem Jahr ein einheitliches Gesetz zur Regelung des assistierten Suizids verabschieden. Dabei geht es vor allem auch um die Rolle s.g. Sterbehilfeorganisationen - wie etwa Sterbehilfe Deutschland, oder Dignitas in der Schweiz - die Menschen Hilfe beim assistierten Suizid anbieten. Hospiz Ein Hospiz ist eine Einrichtung zur palliativmedizinischen Pflege und sozialen sowie geistig-seelischen Begleitung Schwerstkranker und Sterbender, deren verbleibende Lebenszeit absehbar ist (ca. 3 bis 6 Monate) und die aus verschiedenen Gründen nicht in ihrer häuslichen Umgebung versorgt werden können. Die Versorgung im Hospiz orientiert sich an der Lebensqualität des sterbenden Menschen und seiner ihm eigenen Würde. Wie bei einer Palliativstation kann das Ziel die Entlassung in die Häuslichkeit sein. Die meisten Menschen aber, die im stationären Hospiz aufgenommen werden, bleiben dort bis zu ihrem Lebensende. Indirekte Sterbehilfe Indirekte Sterbehilfe ist die in Kauf genommene Beschleunigung des Todeseintritts als Nebenwirkung einer Aufnahme von schmerzlindernden Medikamenten. Dies erfolgt in Krankenhäusern regelmäßig mit Morphin im Endstadium, z.B. bei Krebserkrankungen. Die indirekte Sterbehilfe ist in der Strafrechtswissenschaft in Deutschland ausgiebig diskutiert worden. Im Ergebnis sind sich alle einig, dass der Arzt hier straffrei bleiben muss. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs kann sogar die Nichtverabreichung notwendiger Schmerzmittel mit der Begründung, keinen vorzeitigen Tod herbeiführen zu wollen, als Körperverletzung (§ 223 bis § 233 Strafgesetzbuch) oder unterlassene Hilfeleistung (§ 323c Strafgesetzbuch) bestraft werden. Palliative Sedierung Palliative Sedierung oder auch Terminale Sedierung meint die Verabreichung starker Beruhigungsmittel, die ein schwerkranker Patient in der Regel auf eigenen Wunsch erhält, wenn er sein Leiden als unerträglich empfindet. Dieses medikamentös induzierte ("künstliche") Koma ist eine Form der indirekten Sterbehilfe. Es wird in der Externer Link: Palliativmedizin nur bei Patienten in der s.g.Externer Link: Terminalphase eingesetzt. Grundsätzlich fällt unter diesen Begriff aber jede bewusstseinsbeeinträchtigende Maßnahme, die die Linderung der belastenden Symptome am Lebensende zum Ziel hat. Palliative Sedierung ist nur zulässig, wenn der Patient aufgeklärt worden ist und zugestimmt hat. Die Sedierung geht außerdem nicht immer so weit, dass der Patient ins Koma fällt und sein Bewusstsein vollständig verliert. Passive Sterbehilfe Bei der passiven Sterbehilfe verzichtet der Arzt oder die Ärztin auf lebensverlängernde Maßnahmen und führt somit einen verfrühten Tod herbei. In Deutschland ist die passive Sterbehilfe erlaubt, wenn eine Patientenverfügung oder eine klare Willensäußerung des Patienten vorliegt. Patientenverfügung Eine Patientenverfügung ist eine Willenserklärung, die der Patient für den Fall formuliert, dass er seinen Willen krankheitsbedingt nicht mehr selbst äußern kann. Generell setzt jede medizinische Behandlung die Zustimmung des Patienten voraus. Wenn der Patient bewusstlos oder nicht mehr in der Lage ist, eine freie Entscheidung über den Abbruch der Behandlung zu treffen, muss der mutmaßliche Wille des Patienten ermittelt werden. Dabei hilft eine Patientenverfügung, in der der Patient schon im Voraus formuliert, ob der Arzt zum Beispiel alle Möglichkeiten moderner Medizin ausschöpfen soll, um sein Leben zu erhalten, oder ob er auf lebensverlängernde Behandlungsmethoden verzichten soll. Wie eine Patientenverfügung formuliert sein soll, ist gesetzlich nicht geregelt. Das Dokument ist rechtlich verbindlich, wie der Bundesgerichtshof am 17. März 2003 bestätigt hat. Allerdings hat er auch festgestellt, dass es in Konfliktfällen bei der gegenwärtigen Rechtslage noch Probleme bei der Durchsetzung einer Patientenverfügung geben kann, die einen schnelleren Tod des Patienten zur Folge hätte. Eine Patientenverfügung hat außerdem nicht ein für alle Mal unbedingte Gültigkeit: Sie kann jederzeit formlos widerrufen werden. Die Beteiligten müssen sich also immer Gedanken darüber machen, ob die Aussagen in der Patientenverfügung noch dem aktuellen Willen des Patienten entsprechen. Palliativmedizin Palliativmedizin ist die medizinische, schmerzlindernde Behandlung von Patienten, die an einer nicht mehr behandelbaren lebensbedrohlichen Erkrankung leiden. Sie sorgt für Schmerzlinderung und Linderung anderer Krankheitssymptome wie Übelkeit, Erbrechen und Verstopfung. Während die kurative Medizin auf die Heilung des Patienten zielt, liegt der Schwerpunkt der Behandlung der Palliativmedizin darauf, ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität zu erhalten, gerade auch angesichts der begrenzten Lebenserwartung. Schmerztherapie Die größte Angst vieler Menschen angesichts des Sterbens ist die Angst vor Schmerzen. Die Entwicklungen in der Medizin machen es heute möglich, dass unter Einsatz z.B: von Morphin Menschen in der letzten Lebensphase Schmerzfreiheit oder zumindest erhebliche Schmerzlinderung erfahren können. Moderne Methoden der Schmerztherapie kommen dem Wunsch vieler Sterbenden entgegen, zu Hause sterben zu können. Eine umfassende Schmerztherapie beachtet neben den körperlichen Schmerzen auch soziale und psychische Leiden. Suizid Suizid meint die absichtliche, auf unterschiedliche Weise herbeigeführte Selbsttötung eines Menschen. Die Selbsttötung gehört zu den häufigsten Todesursachen auf der Welt. Nach deutschem Recht ist der Suizid als Akt der freien Selbstbestimmung nicht verboten. Weder der Versuch noch die Beihilfe ist strafbar. Die Tötung auf Verlangen meint das gewollte Herbeiführen des Todes eines Patienten durch einen Dritten, etwa durch einen Arzt, durch die Verabreichung einer tödlichen Substanz, etwa durch eine Giftspritze. In Deutschland ist die Tötung auf Verlangen verboten und wird mit bis zu 5 Jahren Haft bestraft. In den Niederlanden, Luxemburg und Belgien besteht in besonderen Fällen keine Strafbarkeit, trotz des Vorliegens des Straftatbestands der Tötung auf Verlangen, so dass die aktive Sterbehilfe in diesen Fällen erlaubt ist. Der Begriff der aktiven Sterbehilfe ist seit dem Urteil des BGH vom 25.06.2010 (Az. 2 StR 454/09) überholt. Der Bundesgerichtshof hat die Unterscheidung in eine stets verbotene Sterbehilfe durch aktives Handeln und in eine unter Umständen erlaubte Sterbehilfe durch das passive Unterlassen von Behandlungsmaßnahmen ausdrücklich aufgegeben. Beim assistierten Suizid wird der/dem Sterbewilligen ein Mittel bereitgestellt, das der oder diejenige letztlich selbst einnimmt, um den Tod herbeizuführen. Da die Selbsttötung in Deutschland nicht belangt wird, ist auch die Beihilfe zum Suizid prinzipiell straffrei. Allerdings können Helfer, etwa Ärzte, wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Die Bundesärztekammer hat sich in ihrer Muster-Berufsordnung 2011 zwar klar positioniert: „Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Aber nur zehn der 17 Landesärztekammern haben diesen Satz übernommen, andere haben ihn abgeschwächt. Bayern und Baden-Württemberg ließen ihn ganz weg. Der Bundestag will noch in diesem Jahr ein einheitliches Gesetz zur Regelung des assistierten Suizids verabschieden. Dabei geht es vor allem auch um die Rolle s.g. Sterbehilfeorganisationen - wie etwa Sterbehilfe Deutschland, oder Dignitas in der Schweiz - die Menschen Hilfe beim assistierten Suizid anbieten. Ein Hospiz ist eine Einrichtung zur palliativmedizinischen Pflege und sozialen sowie geistig-seelischen Begleitung Schwerstkranker und Sterbender, deren verbleibende Lebenszeit absehbar ist (ca. 3 bis 6 Monate) und die aus verschiedenen Gründen nicht in ihrer häuslichen Umgebung versorgt werden können. Die Versorgung im Hospiz orientiert sich an der Lebensqualität des sterbenden Menschen und seiner ihm eigenen Würde. Wie bei einer Palliativstation kann das Ziel die Entlassung in die Häuslichkeit sein. Die meisten Menschen aber, die im stationären Hospiz aufgenommen werden, bleiben dort bis zu ihrem Lebensende. Indirekte Sterbehilfe ist die in Kauf genommene Beschleunigung des Todeseintritts als Nebenwirkung einer Aufnahme von schmerzlindernden Medikamenten. Dies erfolgt in Krankenhäusern regelmäßig mit Morphin im Endstadium, z.B. bei Krebserkrankungen. Die indirekte Sterbehilfe ist in der Strafrechtswissenschaft in Deutschland ausgiebig diskutiert worden. Im Ergebnis sind sich alle einig, dass der Arzt hier straffrei bleiben muss. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs kann sogar die Nichtverabreichung notwendiger Schmerzmittel mit der Begründung, keinen vorzeitigen Tod herbeiführen zu wollen, als Körperverletzung (§ 223 bis § 233 Strafgesetzbuch) oder unterlassene Hilfeleistung (§ 323c Strafgesetzbuch) bestraft werden. Palliative Sedierung oder auch Terminale Sedierung meint die Verabreichung starker Beruhigungsmittel, die ein schwerkranker Patient in der Regel auf eigenen Wunsch erhält, wenn er sein Leiden als unerträglich empfindet. Dieses medikamentös induzierte ("künstliche") Koma ist eine Form der indirekten Sterbehilfe. Es wird in der Externer Link: Palliativmedizin nur bei Patienten in der s.g.Externer Link: Terminalphase eingesetzt. Grundsätzlich fällt unter diesen Begriff aber jede bewusstseinsbeeinträchtigende Maßnahme, die die Linderung der belastenden Symptome am Lebensende zum Ziel hat. Palliative Sedierung ist nur zulässig, wenn der Patient aufgeklärt worden ist und zugestimmt hat. Die Sedierung geht außerdem nicht immer so weit, dass der Patient ins Koma fällt und sein Bewusstsein vollständig verliert. Bei der passiven Sterbehilfe verzichtet der Arzt oder die Ärztin auf lebensverlängernde Maßnahmen und führt somit einen verfrühten Tod herbei. In Deutschland ist die passive Sterbehilfe erlaubt, wenn eine Patientenverfügung oder eine klare Willensäußerung des Patienten vorliegt. Eine Patientenverfügung ist eine Willenserklärung, die der Patient für den Fall formuliert, dass er seinen Willen krankheitsbedingt nicht mehr selbst äußern kann. Generell setzt jede medizinische Behandlung die Zustimmung des Patienten voraus. Wenn der Patient bewusstlos oder nicht mehr in der Lage ist, eine freie Entscheidung über den Abbruch der Behandlung zu treffen, muss der mutmaßliche Wille des Patienten ermittelt werden. Dabei hilft eine Patientenverfügung, in der der Patient schon im Voraus formuliert, ob der Arzt zum Beispiel alle Möglichkeiten moderner Medizin ausschöpfen soll, um sein Leben zu erhalten, oder ob er auf lebensverlängernde Behandlungsmethoden verzichten soll. Wie eine Patientenverfügung formuliert sein soll, ist gesetzlich nicht geregelt. Das Dokument ist rechtlich verbindlich, wie der Bundesgerichtshof am 17. März 2003 bestätigt hat. Allerdings hat er auch festgestellt, dass es in Konfliktfällen bei der gegenwärtigen Rechtslage noch Probleme bei der Durchsetzung einer Patientenverfügung geben kann, die einen schnelleren Tod des Patienten zur Folge hätte. Eine Patientenverfügung hat außerdem nicht ein für alle Mal unbedingte Gültigkeit: Sie kann jederzeit formlos widerrufen werden. Die Beteiligten müssen sich also immer Gedanken darüber machen, ob die Aussagen in der Patientenverfügung noch dem aktuellen Willen des Patienten entsprechen. Palliativmedizin ist die medizinische, schmerzlindernde Behandlung von Patienten, die an einer nicht mehr behandelbaren lebensbedrohlichen Erkrankung leiden. Sie sorgt für Schmerzlinderung und Linderung anderer Krankheitssymptome wie Übelkeit, Erbrechen und Verstopfung. Während die kurative Medizin auf die Heilung des Patienten zielt, liegt der Schwerpunkt der Behandlung der Palliativmedizin darauf, ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität zu erhalten, gerade auch angesichts der begrenzten Lebenserwartung. Die größte Angst vieler Menschen angesichts des Sterbens ist die Angst vor Schmerzen. Die Entwicklungen in der Medizin machen es heute möglich, dass unter Einsatz z.B: von Morphin Menschen in der letzten Lebensphase Schmerzfreiheit oder zumindest erhebliche Schmerzlinderung erfahren können. Moderne Methoden der Schmerztherapie kommen dem Wunsch vieler Sterbenden entgegen, zu Hause sterben zu können. Eine umfassende Schmerztherapie beachtet neben den körperlichen Schmerzen auch soziale und psychische Leiden. Suizid meint die absichtliche, auf unterschiedliche Weise herbeigeführte Selbsttötung eines Menschen. Die Selbsttötung gehört zu den häufigsten Todesursachen auf der Welt. Nach deutschem Recht ist der Suizid als Akt der freien Selbstbestimmung nicht verboten. Weder der Versuch noch die Beihilfe ist strafbar.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2015-07-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/209590/glossar/
Aktive Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen? Sterbehilfe - oder Sterbebegleitung? Die Terminologie in der Debatte über die Sterbehilfe ist oft verwirrend. Wir haben einige der wichtigesten Begriffe ausgewählt und sie erklärt.
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Kommentar: Dystopische Wahlmonarchie | Russland-Analysen | bpb.de
Einleitung Da hat die russische Wählerschaft Wladimir Wladimirowitsch Putin also eine vierte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation beschert. Wollte man dem vorläufigen offiziellen Wahlergebnis glauben, hätte er über 76 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit zum vierten Mal gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erhalten, diesmal zudem die höchste absolute Stimmenzahl aller russischen Präsidentschaftswahlen seit 2000. Diese postdemokratische Kontinuität eines stets aufs Neue wiedergewählten Amtsträgers erscheint nicht nur dem westlichen russlandkritischen Diskurs altbekannt (etwa Steven Lee Myers in seinem Buch "The New Tsar", 2015), sondern wirkt auch aus einer ganzen Welle russischer literarischer und filmischer Dystopien der 2000er-Jahre mit deren Imaginationen von neoautoritären Herrschaftsformen vertraut. Prophezeiungen Deren Autorinnen und Autoren nehmen für sich in Anspruch, in ihren fiktionalen Extrapolationen einer undemokratischen Zukunft Russlands spätere politische Entwicklungen vorhergesehen zu haben. So meinte Viktor Pelewin 2000, mit den fiktiven Politiker-Dummies aus seinem Roman "Generation P" von 1999 die Manipulation des Wahlvolks mit fabrizierten Fernsehbildern vorhergesehen zu haben: "Als ich letzten Herbst in Berlin war, las ich in der Zeitung, unser Fernsehen habe [gefälschte] Bänder von Verhandlungen zwischen Berezowski und irgendwelchen tschetschenischen Kommandeuren ausgestrahlt – als ob jemand eines meiner Romankapitel verfilmt hätte." (s. in d. Lesetipps: Keller: Im Paradies der Hölle, S. 6). Vladimir Sorokin, der Altmeister des Moskauer Konzeptualismus, formuliert in seinen in der nahen Zukunft spielenden Texten seit 2006 nicht selbst vermeintliche Voraussagen, sondern greift den Diskurs der dystopischen Prophezeiung insgesamt auf und stellt aus, wie dieser Diskurs funktioniert. Den Anfang dieser metadiskursiven Inspektion von Dystopien machte er mit "Der Tag des Opritschniks" von 2006: Darin gebietet der mit "Gosudar" ("Herrscher") angeredete Monarch eines Russlands von 2028 über eine Terrortruppe, die nicht zufällig den Namen der gefürchteten Opritschnina Iwans IV. (des "Schrecklichen") trägt. Die vormodern anmutende Gewaltherrschaft des Monarchen wird im Roman mit futuristischen technischen Mitteln wie gasförmigen Nachrichtenblasen durchgesetzt, weshalb Mark Lipovetsky Sorokins Verschränkung von repressiven Methoden der Vormoderne mit avancierter Technologie 2012 als "Retrozukunft" beschrieben hat. Diese Retrozukunft bestimmt auch Sorokins Episodenroman "Telluria" von 2013. Episode XXIII handelt vom sonnengebräunt-maskulinen Präsidenten eines künftigen Kleinstaats im südlichen Sibirien. Der fiktive Präsident namens Jean-François Trocart unternimmt darin eine Bergabfahrt mit futuristischem Fluggerät, das von Charles Lindbergh wie von James Bond her bekannt vorkommt, aber auch an Wladimir Putins theatralischen Ultraleichtflieger-Ausflug zur Begleitung sibirischer Kraniche vom 5. September 2012 erinnert. Von den ins agrarische Mittelalter zurückgefallenen Einwohnerinnen und Einwohnern seiner gerade einmal das Altai-Gebirge umfassenden "Republik Tellurien" wird der über ihre Köpfe hinwegsegelnde Präsident, wie der Erzähler normativ behauptet, abgöttisch geliebt, was Trocart schon an der Form der Rauchsäulen aus ihren Berghütten ablesen zu können glaubt: "Im Tal kamen die ersten Bauernhütten in Sicht und Rauch, aufsteigender Rauch, Rauch, der nur eines bedeuten konnte: Wir warten auf dich, wir lieben dich [Präsident]. Er ward erwartet. Er ward geliebt." (Siehe in d. Lesetipps: Sorokin: Telluria, S. 209). … und die Person Putin Präsident Putins Elektorat in der Provinz artikuliert seine abgöttische Liebe, indem es den superreichen Präsidenten aus der flächendeckenden System- und Korruptionskritik ausnimmt und den halb ernst gemeinten, halb ironischen Kult um die Person des Präsidenten in Form von Putin-Konterfeis auf T-Shirts, Smartphone-Hüllen, in Graffitis und populären Internet-Memen (inventarisiert in dem 2016 erschienenen Buch "W glawnoj roli" – "In der Hauptrolle. Putin in der Gegenwartskultur") konsumiert – ein banaler, retrofuturistischer Monarchismus. Alle paar Jahre – durch theatralisch-futurologische TV-Inszenierungen wie die versetzte Rede zur Lage der Nation des Präsidenten am 1. März 2018 sichergestellt – manifestiert das Wahlvolk an der Urne seine ungebrochene Verehrung und wählt sich seinen Monarchen wieder, in den inneren Kolonien im Nordkaukasus und im fernen Osten des asiatischen Teils Russlands mit mehr als 90 % der Stimmen. Lesetipps Keller, C.: Im Paradies der Hölle. E-mail-Grüße aus Moskau. Christoph Keller liest Viktor Pelewins Bücher und korrespondiert mit ihm über "Generation P", in: Literaturen 2000, Nr. 11, S. 4–12.Myers, S. L.: The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. London et al.: Simon & Schuster 2015.Sorokin, V.: Telluria. Roman, a.d. Russ. von Kollektiv Hammer und Nagel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015.Uffelmann, D.: Eurasia in the Retrofuture: Dugin’s ‚tellurokratiia‘, Sorokin’s Telluriia, and the Benefits of Literary Analysis for Political Theory, in: Die Welt der Slaven 62.2017, Nr. 2, S. 360–384.
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"2021-06-23T00:00:00"
"2018-03-27T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-351/266901/kommentar-dystopische-wahlmonarchie/
Die klare Wiederwahl Wladimir Putins und die damit verbundene Bestätigung des Regimes erinnert an eine Reihe russischer literarischer und filmischer Dystopien der 2000er-Jahre. Die autoritäre Herrschaft Putins wollen die Autoren Viktor Pelewin und Vl
[ "Wladimir Putin", "Viktor Pelewin", "Dystopische Wahlmonarchie", "Russland" ]
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Für differenzsensible Religionskulturen! | Religion und Moderne | bpb.de
Ich halte die öffentliche Präsenz von Religion im politischen Raum für unverzichtbar und möchte direkt markieren, dass ich in dieser Frage nicht als neutraler Beobachter argumentiere. Die Fragen, wie Religion konkret gelebt wird und welche Auswirkungen die Religiosität von Menschen auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge hat, lassen sich nicht unabhängig von Zeiten und Orten und sinnvoll auch nur mit einem differenzsensiblen Blick auf Religionen beantworten. Mein Plädoyer bezieht sich im Wesentlichen auf die christliche Religion und auf Kirchen, die durch die Reformation geprägt sind und sich der Aufklärung verpflichtet wissen. Ich plädiere hier als Mensch, der sich in seinem Reden und Handeln von Gottes Wort angesprochen und an Gottes Wort gebunden weiß und der seine "Religion" wesentlich auch als eine persönliche Antwort auf Gottes Wort versteht und lebt. Zum anderen plädiere ich in einer bestimmten Rolle und Funktion: als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die christliche Religion ruft Menschen zum "Beten und Tun des Gerechten" und deshalb auch in gesellschaftspolitische Verantwortung. Mein Plädoyer ist gebunden an die biblische Tradition, dem einzelnen Menschen zum Heil und dem gesellschaftlichen Zusammenleben zum Wohl zu dienen. Neben der Gottesverehrung zielt christlicher Glaube auf die Beantwortung der Frage, wie Menschen gerecht und in Frieden zusammenleben können und dabei Gottes Schöpfung bewahren – und zwar auf der Höhe wissenschaftlicher Erkenntnisse der jeweiligen Zeit. Insofern gehören christlicher Glaube und Religion zu den Voraussetzungen des demokratischen Rechtsstaates, die er selber nicht schaffen kann und auf die er angewiesen ist. Von politisch Verantwortlichen höre ich oft, dass sie Religion als wertvolle politische Ressource schätzen. Sie anerkennen die Leistungen der Kirchen für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens – gerade an seinen Rändern, wo es um Inklusion und Exklusion geht. Politisch Verantwortliche fragen nach dem Engagement der Kirchen und ermutigen sie, sich öffentlich zu betätigen. Der Bildungsbereich, das Sozialwesen wären ohne den Beitrag "institutionalisierter Religion" in Deutschland nicht vorstellbar. Weit darüber hinaus werden die Kirchen geschätzt als Moderatoren für schwierige politische Prozesse. Die Kirchen sind internationale Akteure, und staatliches Handeln profitiert von den globalen Netzwerken der Weltchristenheit. Vieles mehr ließe sich anführen. Es gibt aber auch die andere Seite der öffentlichen Religionsdebatten. Religion erscheint hier als Bedrohung. Institutionalisierte Religion verweigere sich gesellschaftlichem Wandel, sei Instanz repressiver Moral, verschärfe innergesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte, die durch starke Überzeugungen religiös aufgeladen unlösbar würden. Dagegen helfe konsequente Privatisierung von Religion, die nur so dem Gemeinwesen einigermaßen bekömmlich sei. Beide Wahrnehmungen – Wertschätzung und Abwehr – hängen untergründig zusammen: Nur weil die Religions- und Glaubensgemeinschaften unterscheidbare "Communities" innerhalb der Gesellschaft sind, bilden sie handlungsfähige Netzwerke. Sie stehen einerseits für "kollektive Identitäten", stiften Gemeinschaft und Zusammenhalt. Andererseits aber können sie sich so verfestigen, dass sie Unterschiedenes ausschließen, sich selbst abschließen oder Anderem gegenüber sogar destruktiv werden. Wäre diese Ambivalenz überwunden, wenn es gelänge, Religion aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten oder gar hinauszudrängen? Das erscheint mir mehr als zweifelhaft. Die grundgesetzlich gebotene Neutralität des Staates gegenüber differenten Religionspraktiken würde ausgeweitet zu einer normativen "Säkularität" beziehungsweise "Laizität". Damit würde staatlichem Handeln zugebilligt, den "Normalfall" für die religiöse Praxis der Bürgerinnen und Bürger zu definieren. Normalfall wäre "Säkularität", und Religion wäre sozusagen "exkludiert", vorgeblich zugunsten einer friedlichen und solidarischen "säkularen" Gesellschaft. Einmal abgesehen von der – wie der Blick etwa auf Frankreich zeigt – hochgradig illusionären Erwartung, dass eine in diesem Sinne säkulare Gesellschaft friedlicher wäre und dass die anderen gesellschaftlichen Institutionen nicht diesen ambivalenten gruppendynamischen Prozessen unterlägen, wird damit nur der Exklusionsmechanismus, den man der Religion vorwirft, gegen diese selbst gewendet. Wir müssen diese Ambivalenz aushalten und klug mit ihr umgehen: den "Normalfall" weltanschaulich-religiös offen lassen und differenzsensibel hinschauen, wie religiöse Praxis tatsächlich aussieht und wie sie sich mit dem Ordnungsrahmen der freiheitlichen Demokratie verträgt. Wo es um Religion und Politik, um Religion und Öffentlichkeit geht, dort geht es auch um die Rolle der Religionsgemeinschaften und Kirchen im Institutionengefüge der freiheitlichen Demokratie. Wenn "Säkularität" als Normalfall konstruiert wird, bleibt Religion als "Privatsache" übrig, als individualisierte Religion. Wird diese Perspektive vorgegeben, dann besteht die Gefahr, dass die Kirchen als Religionslobbyisten erscheinen, die ihr Schäfchen gerne ins Trockene bringen und ihre "Privilegien" retten möchten. Näher am Selbstverständnis und an der Selbstbeschreibung der Kirchen liegt ein anderes Konzept der Rolle der Kirchen: Jenseits von Markt und Staat gibt es die Sozialformen der Bürgergesellschaft. Hier wird nicht hoheitlich agiert, und hier werden nicht gewinnorientiert Partikularinteressen vertreten. Vielmehr sind selbstorganisierte Beziehungsnetzwerke an vielen Orten und auf sehr unterschiedlichen Ebenen am Gemeinwohl orientiert tätig. Die Kirchen sind als öffentliche Religion solche zivilgesellschaftlichen Netzwerke. Hier werden beispielsweise Alte besucht, Kranke gepflegt und begleitet, mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet und vieles mehr. Je mehr sich der Staat aus der Bereitstellung öffentlicher Güter zurückzieht und je intensiver der ökonomische Zugriff auf die vormals nicht gewinnorientierten Lebensbereiche wird, desto wichtiger werden diese subsidiären, intermediären, zivilgesellschaftlichen Institutionen. In ihnen können Vertrauen und Handlungsgewissheit eingeübt werden. Probleme entstehen allerdings nicht selten dort, wo unter den Bedingungen von vermeintlicher oder tatsächlicher Ressourcenknappheit diese zivilgesellschaftlichen Handlungsformen ökonomisiert werden und im Ergebnis ökonomische Logik und zivilgesellschaftliche Logik in ein und derselben Institution miteinander ringen. Dieses Engagement der Kirchen in dem Bereich, den wir heute "Zivilgesellschaft" nennen, ist schon sehr alt und hat durch die Jahrtausende viele Wendungen und Verwandlungen erfahren. Es gehört zum Kernbestand der öffentlichen Präsenz von Religion, weil es zutiefst verknüpft ist mit dem Kern der christlichen Botschaft. Die Parteinahme für die Ausgeschlossenen, die "Armen", für diejenigen, die keine hörbare Stimme haben, steht in der Mitte des politischen Auftrages der Kirchen. Der Beitrag der Kirchen ist nicht wegzudenken aus den Debatten etwa um Flüchtlinge, um Krieg und Frieden, um politischen Extremismus, um Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit, um Lebensschutz. An wenigen Punkten kann man so genau wie an diesem erkennen, wie sehr das "Evangelium", die christliche Botschaft, ein "Beneficium", eine prägende Wohltat ist für eine Gesellschaft, die dieser Botschaft Raum gibt. Wenn die Beiträge der Kirchen für das demokratische Gemeinwesen geachtet und geschätzt werden, ist es nicht unwesentlich zu fragen: Aus welcher Quelle erwächst dieses Engagement? Die Quelle ist der Kern der biblischen Botschaft von Jesus Christus und damit die zentrale Identität des Christlichen: Jesus Christus ist am Kreuz hingerichtet worden von den politischen Machthabern seiner Zeit. Gott hat ihn aber auferweckt von den Toten. Er ist der Lebendige, er ist "der Herr" (Kyrios) über alle Herren, er ist gegenwärtig und handelt jetzt und in Zukunft durch die erneuernde Macht seines Geistes. Diese zentralen Überzeugungen des christlichen Glaubens haben bedeutende politische Implikationen. Wenn Jesus Christus "der Herr aller Herren" ist, stellt dies alle politische Herrschaft unter das Zeichen einer grundsätzlichen Vorläufigkeit: Der Thron absoluter irdischer Macht ist leer. In die Formen der modernen repräsentativen Demokratie übersetzt, heißt das: Herrschaft ist vom Volk anvertraute Herrschaft auf Zeit. Sie ist dem Volk begründungs- und rechenschaftspflichtig. Demokratische Herrschaft bietet am ehesten den Schutz davor, das Politische (oder Gesellschaftliche oder Ökonomische) zu totalisieren. Jede Form von "Theokratie", direktem Herrschaftsanspruch von Religion, liefe im Ergebnis auf die Selbsttotalisierung menschlicher Macht und Herrschaft hinaus. Es geht also bei meinem "Plädoyer für öffentliche Religion" nicht um religiöse oder kirchliche Absolutheitsansprüche. Ganz im Gegenteil gibt diese entschlossene Desakralisierung von Herrschaft den Raum frei für gemeinsames politisches Wirken unterschiedlichster Akteure. Gemeinsam mit vielfältigen Partnern stehen die Kirchen in dem, was John Rawls den overlapping consensus nennt: Die Suche nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung stiftet politische Allianzen, die von ihren "weltanschaulichen Voraussetzungen" her betrachtet ziemlich unwahrscheinlich sind. Deutlich scheint mir auch zu sein, dass der lange Atem und die großen Zeitmaße des Glaubens künftig eher mehr als weniger gebraucht werden, wenn wir auf die außerordentlichen Herausforderungen schauen, die heute auf der politischen Agenda stehen. Ich denke an all das, was sich durch das Leitwort "Transformation" bezeichnen lässt, und kann hier nur Stichworte nennen: ökologischer und sozialer Umbau der Industriegesellschaft, weltweite Verteilungsgerechtigkeit, Energiewende. Diese Herausforderungen ohne die inhaltliche und motivierende Gestaltungskraft einer inneren Überzeugung bewältigen zu wollen, halte ich nahezu für ausgeschlossen. Deutlich ist allerdings: Diese eingeforderte Wertschätzung als zivilgesellschaftlicher Akteur können die christlichen Kirchen nicht nur für sich selbst in Anspruch nehmen. Die Stimme der Kirchen ist eine unter vielen in der "Arena" des Politischen. Sie ist eine partikulare Stimme. Die Kirchen schweben auch in ihrer Gemeinwohlorientierung nicht über den Gegensätzen und Konflikten des Politischen, sie stehen mitten darin und stehen auch dazu. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass sich innerhalb der Kirchen die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze abbilden und die Debatten in Kirchenvorständen und Synoden selbst ein Stück demokratischer Kultur sind: Gegensätze aushalten auf der Basis eines unverfügbar Gemeinsamen, sich Zeit gönnen in Klärungsprozessen, Geduld miteinander haben. Wäre die deutsche Einigung möglich gewesen ohne die von den Kirchen inspirierte Kultur der "Runden Tische"? Ich will mit all dem nicht behaupten, dass die Kirchen der oben skizzierten Selbstbeschreibung in jeder Hinsicht entsprechen. Es braucht immer eine "Transformation" auch von Religion und Kirche: eine Erneuerung aus den Quellen der Spiritualität, eine freie und erfahrungsgesättigte Bildung zum Glauben und Handeln und Aufbrüche aus institutionellen Verkrustungen. Aber gerade weil alle Kirchen den Wandel nötig haben, brauchen sie im demokratischen Staat und in der Arena des Politischen Kritik und Gegenwind. Die schärfste Kritik allerdings wird von "innen" kommen, von dort nämlich, wo sich die Kirche ihren eigenen normativen Quellen aussetzt, ihre eigene Gestalt an ihrem biblischen Leitbild misst und in einer Theologie reflektiert, die ihren Platz in der öffentlichen Wissenschaft der Universität hat. Dann wird deutlich: Religion, Glaube und Kirche stehen nicht für unveränderliche Ordnungsentwürfe. Zu deren Wandel gehört in unseren politischen Kontexten ein wacher und sensibler Sinn für Differenzen, für unterschiedliche Sinn- und Lebensentwürfe. Dazu gehören etwa ein freundliches und erwartungsvolles "Ja" zu Muslimen in Deutschland, ein freundliches und einladendes "Willkommen" an diejenigen, die von Kirche und Religion nichts mehr oder noch nicht wieder etwas erwarten. Dazu gehört ein klares und entschiedenes "Nein" an alle politischen Extremismen, die von einer vermeintlich vormals gegebenen ethnischen und kulturellen Homogenität träumen. Dazu gehört schließlich die realistische Erwartung, dass die Begegnung des Verschiedenen, das Leben mit Differenzen selten ohne Schmerzen und Enttäuschungen und nie ohne Geduld gelingen kann. In der Summe: Es geht bei meinem Plädoyer für öffentliche Religion um ein Plädoyer für differenzfähige und differenzsensible Religionskulturen. Öffentliche Religion wirkt dann nicht als "Opium für das Volk", sondern als "Balsam für die Seele" und als "Protestation" für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Niklas Luhmann wies darauf hin, dass Religion auch dort noch für Inklusion sorgen kann, wo alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme exkludieren. Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 243. "Kirchen" im Plural wird verwendet für die sozialen Gebilde der Konfessionskirchen, "Kirche" im Singular für die eine Kirche im Sinne des christlichen Glaubensbekenntnisses. Vgl. Talal Asad, Formations of the Secular, Stanford 2003. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ariane Sadjed in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Ralf Dahrendorf sprach von den "Optionen und Ligaturen", die den Zusammenhalt einer Gesellschaft gewährleisten. Vgl. Ralf Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung, München 20074. Dies nur als angedeuteter Hintergrund der Auseinandersetzungen um den "Dritten Weg" des kirchlichen Arbeitsrechtes. Im Kontext dramatischer Unterfinanzierung von Teilbereichen vor allem des Pflegewesens haben sich Teile der kirchlichen Wohlfahrtspflege kirchlichem Arbeitsrecht entzogen. Ich sehe klar, dass dies die Plausibilität der Kirchen als zivilgesellschaftliche Akteure massiv bedroht – und kann doch die Zwänge diakonischer Unternehmen zum Teil nachvollziehen, ohne sie in ihrer Konsequenz zu billigen. Ob man dies in "Glaubenssprache" Ausgedrückte ohne Restmengen "übersetzen" kann in "säkulare Sprache", wie Jürgen Habermas anregt, scheint mir sehr zweifelhaft. Allerdings kann die "Glaubenssprache" mehr oder weniger anschlussfähig an säkulare Diskurse formuliert sein. Unter den neueren Philosophien des Politischen hat Claude Lefort dies eindrücklich herausgearbeitet. Der emblematische politische Akt der Moderne sei die Hinrichtung Ludwigs XVI. 1793 gewesen. Seitdem gilt: "Der Ort der Macht wird zu einer Leerstelle." Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990, S. 293. So die dreifache Leitvision des Konziliaren Prozesses des Ökumenischen Rates der Kirchen, an dem seit 1983 Kirchen aus mehr als 120 Ländern weltweit beteiligt sind. Amitai Etzioni spricht von "Transformation" als einem "Megalog", also einer viele Handlungsfelder übergreifenden politischen Leitvorstellung. Die Synode der EKD 2012 hat "Gesellschaftliche Transformation und nachhaltige Entwicklung" als einen Schwerpunkt für das Themenjahr "Reformation und Politik" 2014 bestimmt. Vgl. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden, Frankfurt/M. 1997.
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, Nikolaus Schneider
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-06-03T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162377/fuer-differenzsensible-religionskulturen/
[ "Religionskultur", "Religion" ]
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Politik im Freien Theater | Politik im Freien Theater | bpb.de
I. Vorspiel Interner Link: I. VorspielInterner Link: II. PrologInterner Link: III. Ost-West-ConnectionInterner Link: IV. Zeit für SolistenInterner Link: V. Next GenerationInterner Link: VI. Heißer Herbst in HamburgInterner Link: VII. Spielräume – Raumspiele I. Vorspiel Die Allianz von politischer Bildung und Theater, das Zusammenspiel von Bundesbehörde und autonomer Kunst mag auf den ersten Blick irritieren. Es handelt sich dabei aber um eine Partnerschaft, die ganz offensichtlich auf beiden Seiten bemerkenswerte Erfolge zeitigt, geht doch das Festival mittlerweile ins zwanzigste Jahr. Ein Festival, von dem ein Feuilleton-Chef einmal euphorisch schrieb, dass es dank der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb eine "schöne Bescherung", "ein Geschenk für jede Stadt" sei und, dieses noch toppend: "Das Festival hat mindestens so eine beglückende Wirkung wie Weihnachten." (Stuttgarter Zeitung, 24.11.1999) Eine während des 4. Festivals in Stuttgart durchgeführte repräsentative Publikumsbefragung erbrachte, dass die Gruppe der 16-30jährigen 43% der Festivalbesucher stellte und knapp die Hälfte zwischen 16 und 20 Jahren alt war. Nach Augenschein haben diese Daten cum grano salis auch Gültigkeit für die übrigen Festivals. "Politik im Freien Theater", das ist von Anfang an ein Festival für ein junges Publikum. Für dieses konzipiert, von diesem aber auch fraglos angenommen. Man muss sich nur die stetig wachsenden Besucherzahlen ansehen von anfänglich rund 5.000 auf ca. 10.000 in den letzten Jahren. In seiner bisherigen Geschichte hat das Festival die freie deutschsprachige Theaterszene begleitet und gefördert. Für viele war es ein Sprungbrett. Die Liste der Regisseurinnen und Regisseure verzeichnet bekannte Namen des heutigen Stadttheaterbetriebs wie Sebastian Hartmann, Albrecht Hirche, Stefan Kaegi, Chris Kondek, Otto Kukla, Sebastian Nübling, Elias Perring, Christiane Pohle, René Pollesch, Samuel Schwarz, Johan Simons, Nicolas Stemann, Sandra Strunz, Barbara Weber; aus der großen Schar der beteiligten Schauspielerinnen und Schauspielern seien hier nur einige wenige genannt: Adriana Altaras, Joe Bausch, Crescentia Dünßer, Norbert Kentrup, Nina Kronjäger, Gerd Lohmeyer, Jeniffer Minetti, Ingo Naujoks, Barbara Nüsse, Lars Rudolph, Sebastian Rudolph, Idil Üner oder Jeroen Willems. Seit Beginn an hatte das Festival Wettbewerbscharakter. Auf Vorschlag unabhängiger Juroren vergibt die bpb Preisgelder in unterschiedlicher Höhe; seit dem 4. Festival in Stuttgart 1999 zeichnete 3sat, später dann der ZDFtheaterkanal als Sonderpreis eine der eingeladene Produktionen in voller Länge auf; 2006 in Berlin schließlich beteiligte sich außerdem das Goethe-Institut mit einem Preis als Zuschuss für Auslands-Gastspiele. Ein Rahmenprogramm mit Publikumsgesprächen, Podiumsdiskussionen und Workshops gehört mittlerweile zum festen Bestandteil des Festivals. Außerdem eine "Lesebühne", die den Kontakt zwischen Gegenwartsautoren und Freier Szene befördern will. 1993 ging es um eine Begegnung von ost- und westdeutschen Dramatikern, 1996 stand die Präsentation ostdeutsche Gegenwartsdramatik im Zentrum; anlässlich seines 30jährigen Jubiläums stellte der Verlag der Autoren 1999 in Stuttgart sechs seiner Autoren und Autorinnen und deren aktuelle Stücke vor, Hamburg (2002) ehrte mit Lesungen, Gesprächen, Vorträgen und Filmen den 1982 verstorbenen Rainer Werner Fassbinder und in Berlin 2005 war die "Plattform: Autoren" ein Forum für Lesungen, Performances oder Vorträgen von Autorinnen und Autoren zum Festivalthema "Sehnsucht". Hervorgegangen ist "Politik im Freien Theater" aus den Diskussionen im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts um Positionen, thematische Schwerpunkte, Methoden, Curricula und Zielgruppen der politischen Bildung. Nach den leidenschaftlichen Kontroversen um Konzepte und Richtlinien in den 1970er Jahren standen die achtziger Jahre - die Jahre der so genannten "nachkonzeptionelle Phase" - ganz im Zeichen einer Pluralisierung der methodischen Ansätze. Signifikant für jene Zeit war die Umorientierung vom Theorienstreit zur "Praxis", wobei Subjektorientierung, Lebensweltorientierung und Handlungsorientierung als die zentralen didaktischen Begriffen galten. Insbesondere die Handlungsorientierung brachte eine stärkere Hinwendung zu aktivierenden Vermittlungsformen und sollte die Methoden politischer Bildung durch simulatives Handeln wie z. B. Rollenspiel und eigenständiges kreatives Gestalten erweitern oder zumindest ergänzen. In diesem Kontext kam das Medium Theater ins Spiel. Seit jeher ist es ein Forum politischer Auseinandersetzung – von der Antike bis zur Gegenwart, von Aischylos und Sophokles über Shakespeare, Lessing, Schiller, Büchner bis hin zu Brecht, Weiss, Hochhuth, Müller oder Kater und Pollesch –, ein Forum, in dem die jeweils aktuellen Probleme einer Zeit und eines Gemeinwesen öffentlich diskutiert werden. Auch wenn Theater seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Konkurrenzkampf mit den Massenmedien unstrittig an Einfluss abgenommen hat, so hat es doch seine ihm eigene Kommunikationsform bewahrt, die ein immer noch großes Publikum zu faszinieren und anzuziehen vermag. Im Unterschied zu Presse, Rundfunk, Fernsehen, die es alle mit einem dispersen Publikum zu tun haben, basiert Theater auf einer Face-to-Face-Kommunikation; zwischen Produzent und Rezipient steht in den Massenmedien eine wie auch immer geartete technische Apparatur, die sich einem unmittelbaren Feedback widersetzt, wohingegen für Theater eine direkte, zeit- und ortsgleiche Wechselbeziehung zwischen den Kommunikanten, die Interaktion zwischen Spielenden und Zuschauenden konstitutiv ist. Immer ist es das Publikum, das dem Theater erst zum Leben verhilft, das es vollendet und zur Wirkung bringt. D.h. Spielende und Zuschauende produzieren gemeinsam Theater, der theatrale Prozess ereignet sich erst in dieser besonderen Form der Koproduktion. Die medienspezifische Kommunikationsstruktur von Theater, die dem Zuschauer nicht die Rolle eines passiven Konsumenten zuweist, sondern den aktiven Rezipienten geradezu voraussetzt, sowie das Modellhafte der Verkehrsform Theater als Spiel von Möglichkeiten kam in vieler Hinsicht dem didaktischen Vorstellungen einer handlungsorientierten politischen Bildung entgegen, verstanden als Verbindung von Handeln und Reflektieren im problemlösenden Denken. Das bundesrepublikanische Stadt- und Staatstheater war Ende der achtziger Jahre allerdings ein denkbar ungeeigneter Partner für politische Bildung. Es war hermetisch geworden, häufig für den Zuschauer nicht mehr entschlüsselbar oder einfach unverständlich. Es grassierte ein ornamentaler Bilderstil, der sich an die Stelle des Diskurses, der argumentierenden, analysierenden transparenten Mittelverwendung schob und einen Welt- und Gesellschaftszustand eher beraunte, beschwor als ihn wirklich zu zeigen. Was die Qualifizierung der Produkte angeht, war das Theater zu keinem Zeitpunkt so reich, so vielfältig, so niveauvoll. Aber je höher die Theaterproduzenten seit den sechziger Jahren ihre Kunst entwickelt, je mehr sie ihr Material differenziert hatten, desto mehr war das zurückgeblieben, was Brecht als die unbedingt notwendige Komplementärerscheinung zur Theaterkunst gefordert hatte, nämlich die Zuschauerkunst. Großprojekte wie die Orestie an der Schaubühne in Berlin, Wallenstein in Essen, Merlin in Düsseldorf oder Unsere Welt in Bochum, die alle eine Aufführungsdauer von acht, neun oder gar mehr Stunden hatten, überforderten den Zuschauer meist schon allein physisch. Theater, so schien es, beschäftige sich nur noch mit sich selbst, investiere ein Unmaß an Arbeit, um herauszufinden, wo die Grenzen der eigenen Möglichkeiten lagen, um die theatralen Mittel immer weiter zu qualifizieren. Und darin zeigte sich, wie sehr die bundesdeutschen Stadt- und Staatstheater das Interesse am Publikum aufgegeben hatten. "Wer hat denn wirklich noch was zu sagen?", so die die Publizistin und ehemalige Festivalleiterin von "Theater der Welt" Renate Klett, "Wer will denn wirklich noch was hören? Ich sehe nur Überdruss ringsum, Kitzel nach Neuem statt Neugier, Tändeleien statt Leidenschaft, Eitelkeit statt Lust." (Theater heute, 2/1988, S.63) Als Gegenpol zu diesem Trend versuchte die Freie Theaterszene, sich sowohl politisch als auch ästhetisch zu profilieren, indem sie sich in der Spielplangestaltung stärker an der Lebenswelt des Publikums orientierte und in den Inszenierungen deutlich politische und soziale Akzente setzte. Im Unterschied zu den unüberschaubar gewordenen Apparaten der institutionalisierten Theater waren zudem die Freien Theater in ihrer Organisationsform weit publikumsnäher, erleichterten die Identifikation mit einem Theater und ließen häufig eine nahezu familiäre Beziehung zwischen Theatermachern und einem vor allem jugendlichen Publikum entsteh. Rückenwind erhielten die Freien Theater jener Jahre schließlich durch Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen, bei deren Veranstaltungen und Aktionen sie häufig auftraten und zwar nicht nur als unterhaltsames ‚Beiwerk´, sondern als Ausdruck und Manifestation alternativer Kulturpolitik und eines alternativen Kunstverständnisses. Fast gleichzeitig fanden die Beschäftigung mit Umwelt- und Ökologieproblemen sowie die Auseinandersetzung mit Positionen der Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen breiten Niederschlag in der Literatur zur politischen Bildung. Es lag daher durchaus nahe, dass die Bundeszentrale für politische Bildung auf der Suche nach neuen Methoden und Zielgruppen Vermittlungsformen, wie von den neuen sozialen Bewegungen praktiziert, für die Ziele staatlicher politischer Bildung zumindest einmal erprobte. In diesem Kontext entstand die Idee von einem Festival "Politik im Freien Theater", das die Bundeszentrale für politische Bildung – gewissermaßen als Probelauf – in Kooperation mit der Landeszentrale in Bremen 1988 dann zum ersten Mal ausrichtete. Ein Experiment, das politische Aufklärung mit theatralen Mitteln sowie die materielle und ideelle Förderung politisch engagierten Freien Theaters sich zur Aufgabe gesetzt hatte. Ein Experiment mit ungewissem Ausgang.
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Richard Weber
"2022-01-12T00:00:00"
"2012-04-11T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/politik-im-freien-theater/127897/politik-im-freien-theater/
"Politik im Freien Theater" ist aus den Diskussionen im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts um Positionen, thematische Schwerpunkte, Methoden, Curricula und Zielgruppen der politischen Bildung hervorgegangen.
[ "Politik im Freien Theater" ]
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In die Karten geschaut | teamGLOBAL | bpb.de
Als PDF herunterladen (104.3kB) LERNINHALTE: Gegenseitiges Kennenlernen auf eine spielerische Weise; erste Bezüge zur Frage "In welchen Formen bin ich als Wirtschaftsubjekt aktiv?"; sich als handelnde/r Wirtschaftsteilnehmer/in begreifen. ZEITBEDARF: 30-45 Minuten (abhängig von der TN-Zahl) bzw. 45-60 Minuten (mit einer ausführlicheren anschließenden Diskussion der Ergebnisse oder bei Nutzung der Variationsmöglichkeiten) GEEIGNETE GRUPPENGRÖßE UND ALTERSGRUPPE: Anzahl: 16 bis 30 TN (bei größeren Gruppen kann man auch zwei Gruppen bilden, die das Warm-up parallel durchspielen) Alter: jedes Zum Download: Interner Link: In die Karten geschaut Zu anderen Interner Link: Warm-ups zum Kennenlernen oder zum thematischen Einstieg. Als PDF herunterladen (104.3kB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67675/in-die-karten-geschaut/
Ein Warm-up zum gegenseitigen Kennenlernen und als niedrigschwelliger Einstieg in Wirtschaftsthemen. In einer Senkblei-Übung lernen die Teilnehmenden sich anhand der Karten, Mitgliedsausweise, Bons etc. in ihrem Geldbeutel kennen.
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Sportler zwischen Ost und West | Sportpolitik und Olympia | bpb.de
Einleitung "Worin lag das 'national' Verbindende in der Epoche der Teilung?" ist die zentrale Frage, um die weite Teile der historischen Deutschlandforschung bis heute kreisen. Sicherlich nicht in den gesamtdeutschen Olympiamannschaften, möchte man hierauf aus sporthistorischer Sicht erwidern. Die olympischen Winter- und Sommerspiele der Jahre 1956, 1960 und 1964 sind die Wegmarken, die das organisatorische Abenteuer der Bildung gesamtdeutscher Teams aus Ost- und Westdeutschland bezeichneten. Im Jahr 1968 kämpften die beiden deutschen Mannschaften schließlich doch getrennt um Medaillen, waren aber noch durch eine gemeinsame Flagge und eine gemeinsame Hymne - Beethovens Ode an die Freude - symbolisch vereint. Als Ausdruck eines nationalen Gemeinschaftsgefühls konnten die gesamtdeutschen Mannschaften jedoch kaum gelten. Vielmehr traten die Deutschen nicht gemeinsam an, weil sie es wollten, sondern weil sie es mussten. Die ungeliebte Einheit Als Idee reicht die Geschichte der gesamtdeutschen Mannschaften bis in die frühen 1950er Jahre zurück. Im Jahr 1951 hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) zugleich mit der Anerkennung des westdeutschen Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK) die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft empfohlen. Da das ostdeutsche Pendant, das sich am 22. April 1951 konstituiert hatte, noch keine entsprechende Akzeptanz auf internationaler Ebene fand, sollten sich vorerst DDR-Sportler in eine Mannschaft unter westdeutscher Federführung einreihen. Dieses Ansinnen wurde jedoch umgehend und heftig von Sportfunktionären und Politikern der Bundesrepublik wie der DDR sabotiert. Der westdeutschen Sportführung war vorrangig daran gelegen, die SED-Funktionäre von der olympischen Ebene fern zu halten. Dementsprechend gab NOK-Präsident Karl Ritter von Halt am 25. Mai 1951 die berüchtigte Rückmeldung an Bundeskanzler Konrad Adenauer, dass er die Gespräche über die gesamtdeutsche Mannschaft mit den ostdeutschen Vertretern so geführt habe, "dass sie ergebnislos verlaufen mussten". Der DDR-Sport auf der anderen Seite hatte neben der noch fehlenden Anerkennung seines NOK mit einem weiteren Geburtsfehler zu kämpfen: In der Frühphase konnte er kaum konkurrenzfähige Leistungssportler aufbieten. Deshalb drängte es die ostdeutsche olympische Vertretung auch nicht nach einer Teilnahme in einem gesamtdeutschen Team, in dem eigene Athleten ohnehin nur vereinzelt und weitgehend chancenlos angetreten wären. Vielmehr strebte das NOK der DDR mit Nachdruck die eigene Selbständigkeit an. Doch als dem ostdeutschen Gremium, nach wiederholten erfolglosen Anläufen, im Jahr 1955 endlich zumindest eine vorläufige Anerkennung durch das IOC winkte, machte dessen Präsident Avery Brundage die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft endgültig zur conditio sine qua non einer solchen Aufwertung. Brundage sah ein vereintes Team der beiden ideologisch rivalisierenden Staaten als ein olympisches Signal "which will demonstrate to the world that where the politicians fail the sportsmen can succeed". Doch diese idealisierte Vorstellung vom olympischen Geist als friedensstiftender Kraft hatte mit der Realität nicht viel zu tun. Hinter den Kulissen strebten die beiden feindlichen deutschen Brüder weiterhin höchst unterschiedliche Ziele an: Der Osten hoffte, über das gesamtdeutsche Auftreten als seriöses Mitglied der olympischen Familie vom IOC ernst genommen zu werden und so mittelfristig die endgültige Anerkennung seines NOK und damit auch die olympische Selbständigkeit zu erreichen. Der Westen hingegen wollte genau dies verhindern. Keinesfalls sollte es der DDR jemals gelingen, "mit einer eigenen Mannschaft in Erscheinung zu treten, um im Verfolg der kommunistischen Weltpolitik das Nebeneinander-Bestehen zweier deutscher Staaten vor den Augen der Welt und im Blickwinkel eines so spektakulären Weltereignisses, wie es die Olympischen Spiele darstellen, evident zu machen". Diese schwierigen Voraussetzungen veranlassten schon im September 1955 Karl Ritter von Halt bei der Vorbereitung der ersten gemeinsamen Mannschaft zu dem Stoßseufzer: "Praktisch sind wir also doch zwei Mannschaften, die nach außen hin unter einen Hut gebracht sind." Die Querelen, die sich angesichts der angespannten politischen Lage in den nächsten Jahren um die Bildung der Teams ranken sollten, waren ebenso zahlreich wie hartnäckig. Streitereien entzündeten sich am Modus des Auswahlverfahrens der Sportler, der Gestaltung der gemeinsamen Flagge und Bekleidung, am angemessenen Ort der Qualifizierungskämpfe ebenso wie der Benennung des "Chef de Mission" und den Verantwortlichkeiten bei der Erledigung des Schriftverkehrs. Drastisch waren die Beschimpfungen, mit denen sich beide deutsche Partner während ihrer unglücklichen olympischen Ehe direkt und in der Kommunikation mit dem IOC belegten. In den ostdeutschen Sportfunktionären konnte der seit 1961 amtierende NOK-Präsident Willi Daume nur "armselige Marionetten" erkennen, im Chef des ostdeutschen NOK Heinz Schöbel sah er "not more than a dummy". Erfolglos versuchte das IOC von Zeit zu Zeit, mit mahnenden Worten die Wogen zu glätten. Während der Westen eifrig Belastungsmaterial über Politisierung und Prämiensystem im DDR-Sport sammelte, um die Position des ostdeutschen NOK gegenüber dem IOC zu destabilisieren, zeterte die ostdeutsche Propagandapresse regelmäßig im "Stürmerstil" über die "westdeutschen Revanchisten". Selbst während der Olympischen Spiele herrschte kein Burgfriede, die Dissonanzen waren spürbar in der Art der Berichterstattung und der offiziellen Zurechnung der Medaillen, selbst innerdeutsche Glückwünsche gerieten zum publizistisch aufgeplusterten Ärgernis. Nach dem Mauerbau 1961 spitzte sich die politische Situation derart zu, dass eine weitere gemeinsame Olympiamannschaft für das Jahr 1964 zunächst unmöglich erschien. Am 28. November 1962 äußerte Willi Daume deshalb gegenüber IOC-Kanzler Otto Mayer erstmals einen "einstweilig streng vertraulichen Vorschlag", um die verfahrene Situation zu lösen: "Wäre es nicht denkbar, dass das IOC folgende Anordnung trifft: West-Deutschland stellt eine eigene Mannschaft und Ost-Deutschland stellt auch eine eigene Mannschaft auf. Beide sind aber vereint unter dem gleichen Symbol, also schwarz-rot-goldene Fahne mit den olympischen Ringen und Beethoven-Hymne." Eine solche Regelung habe "sportlich den gewaltigen Vorteil, dass die Belastung mit den gesamtdeutschen Ausscheidungskämpfen entfiele, die so viel Ärger bringen, die Atmosphäre vergiften und ein großes Handikap für die Aktiven sind". Auch war er sich sicher, dass die öffentliche Meinung und die der Sportler mittlerweile gegen eine gemeinsame Mannschaft seien. Doch war die Zeit noch nicht reif für seinen Vorschlag, das IOC lehnte scharf ab - erst 1968 wurde Daumes Idee erstmals bei den Olympischen Winterspielen in Grenoble Wirklichkeit. Die vergessenen Sportler Jüngere Studien zum sportlichen Stellvertreterkrieg auf der Aschenbahn haben die 1950er und 1960er Jahre in diplomatischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht detailreich beschrieben, hierbei jedoch zwei Dimensionen vermissen lassen, wobei es sich bei der ersten um eine inhaltliche, bei der zweiten um eine gravierende methodische Einschränkung handelt: Zum einen werden die Schicksale einzelner Athleten, die als die Akteure des Klassenkampfes in der Arena eine zwar instrumentalisierte, jedoch elementare und durchaus individuell geprägte Rolle spielten, dem analytischen Blickwinkel nahezu gänzlich vorenthalten. Zum zweiten verzichtet selbst eine kompakt angelegte und sich als "politische Geschichte" verstehende Studie auf die Auswertung des Aktenmaterials der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), obgleich es sich beim ostdeutschen Sportsystem um einen massiv durchherrschten Bereich der SED-Diktatur handelte. Dies ist umso bedauerlicher, als Akte politischer Repression im DDR-Sport - auch in den ersten Dekaden der deutschen Teilung - zumeist explizit mit Blick auf die Systemkonkurrenz zum deutschen "Polarisierungszwilling" erfolgten. Sie müssen deshalb als integraler Bestandteil in ein umfassendes Bild der Geschichte der deutsch-deutschen Sportbeziehungen einbezogen werden. Anhand der Schicksale von zwei Sportlern, die in den 1950er und 1960er Jahren aus der DDR flüchteten, soll an dieser Stelle gezeigt werden, welche heute nahezu vergessenen machtpolitischen Mechanismen jenseits der bislang von der Geschichtswissenschaft ausführlich beschriebenen sportdiplomatischen Ebene wirksam wurden. "Lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in die DDR zurückzukehren" Eine der erfolgreichsten Sportlerinnen der gesamtdeutschen Mannschaft von 1964 war die 26-jährige Magdeburgerin Karin Balzer, die bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio eine Goldmedaille über 80 Meter Hürden errang. Die langbeinige Weltrekordlerin war wenig später als "attraktivste Erscheinung" strahlender Mittelpunkt eines Galaempfangs, den Walter Ulbricht am 16. November 1964 für die heimgekehrten ostdeutschen Olympiateilnehmer im Festsaal des Hauses des Staatsrates in Ost-Berlin ausrichten ließ. Doch hatte die blonde Vorzeige-Athletin im kirschblütenrosa Festkleid, die nun ungezählte Glückwünsche als Star der gesamtdeutschen Mannschaft vom SED-Funktionärskorps entgegennahm, wenige Jahre zuvor bitterlich zu spüren bekommen, dass es eben dieses Gesamtdeutschland nach dem Willen der SED nicht mehr geben durfte. Sechs Jahre zuvor, im Juli 1958, hatte sie unter ihrem Mädchennamen Karin Richert gemeinsam mit ihrem Trainer Heinz Balzer, in den sie sich verliebt hatte, den Entschluss gefasst, in den Westen zu gehen. Beide versuchten auf diese Weise, den vorgezeichneten Laufbahnen, die ihnen der Staatssport aufnötigte, zu entkommen. So lehnte Richert, die aus einem kirchlichen Elternhaus stammte, die bevorstehende Delegierung zum SC Dynamo Berlin ab; zum einen, weil sie politische Vorbehalte gegenüber dem "Stasi-Klub" hatte, zum zweiten, da es immer wieder Gerüchte über die harten Trainingsmethoden und den hohen Athletenverschleiß in dieser sportlichen Renommier-Einrichtung der "Hauptstadt der DDR" gab. Gemeinsam fuhren Richert und Balzer am 21. Juli 1958 über die Grenze nach West-Berlin und dann weiter nach Ludwigshafen, wo sie beim SV Phoenix unterkamen. Der rheinland-pfälzische Verband kümmerte sich darum, dem jungen Paar Arbeitsplätze zu beschaffen, so dass Balzer als Schlosser und seine Freundin als Chemielaborantin Anstellung fanden. Doch waren sie damit dem Zugriff des SED-Staates nicht entronnen: Vier Tage nach der Flucht fand eine "Aussprache" des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit Vertretern des Deutschen Turn- und Sportbundes und des Leichtathletikverbandes statt, in der einerseits das "verwerfliche Handeln der beiden Sportfreunde verurteilt", aber gleichzeitig beschlossen wurde, "dass es notwendig ist, bei Bekanntwerden der Adresse unbedingt zu versuchen, die beiden Republikflüchtigen wieder zurückzuholen". Es dauerte nur wenige Tage, bis die Staatssicherheit ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hatte. Es wurden "Maßnahmen eingeleitet", um "die Tochter über den Vater aus Westdeutschland zurückzuholen". Karin Richerts Eltern erhielten kurz darauf Besuch von Stasi-Mitarbeitern, die zunächst auf "großen Widerstand" stießen. Doch, einmal unter Druck gesetzt, reiste Balzers parteiloser Vater schließlich seiner Tochter nach Ludwigshafen hinterher, begleitet von MfS-Angehörigen, die eilfertig soufflierten, wann immer dem alten Herrn die Stimme versagte, während er seine Tochter gegen seine Überzeugung zur Rückkehr bewegen musste. Aber das junge Paar blieb zunächst standhaft, so dass die Stasi ein "Scheitern" ihrer Mission verzeichnete. "Er würde also dann lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in die DDR zurückzukehren", hielt das MfS die Entgegnung Heinz Balzers fest. Erst nach unmissverständlichen Drohungen, dass die in der DDR verbliebenen Familien beider Flüchtlinge die Folgen ihres "Verrats" zu spüren bekommen würden, entschlossen sich Richert und Balzer zur Rückkehr. Die Strafe - ein Jahr Wettkampfsperre - fiel für DDR-Verhältnisse vergleichsweise milde aus, jedoch versprach sich der SED-Staat noch einiges von den jungen Talenten. Eine gänzlich erfundene Version der Fluchtmotive und ihrer Hintergründe wurde in Form einer gefälschten eidesstaatlichen Erklärung Heinz Balzers dem IOC und der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Hier präsentierten sich vermeintlich reuige Sünder, die aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und politischer Opposition zur Bundesrepublik freiwillig und empört den Weg in die sozialistische Heimat gesucht hatten. 1960 in Rom trat die - mittlerweile verheiratete - Karin Balzer bereits wieder im gesamtdeutschen Team für die DDR an, doch war die gelungene Reintegration in das SED-System ein oberflächlicher Schein. Bis zum Mauerfall blieben die Sportlerin und ihr Ehemann Überwachungsobjekte der Staatssicherheit, ebenso lange ließ das Umfeld sie den "Fehler" ihrer Jugend durch wiederholte Verleumdungen und Schikane spüren. Der Makel der "Republikflucht" hing auch im Moment ihres größten Erfolges, des strahlenden Olympiasieges von 1964, über Karin Balzer: Ihr Ehemann und Trainer fehlte in Tokio. Aufgrund "erhöhter Fluchtgefahr" war es ihm nicht gestattet, seine Frau ins "nichtsozialistische" Ausland zu begleiten. Den Weltrekord seiner Frau erlebte Heinz Balzer deshalb im heimischen Frankfurt an der Oder - am Radiogerät. Im Unterschied zu Karin Balzer kehrten die meisten "republikflüchtigen" Sportler nicht in die DDR zurück. Einer der für den SED-Staat unangenehmsten Fälle ereignete sich Anfang des Jahres 1968, kurz bevor die DDR das erste Mal selbständig bei Olympia antreten durfte. Flucht aus dem Trainingslager Am 19. Januar 1968 schlich sich der Nordische Kombinierer Ralph Pöhland, ostdeutsche Medaillenhoffnung für die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Grenoble, um Mitternacht auf den Balkon des Teamhotels der Ski-Nationalmannschaft der DDR, die sich im schweizerischen Les Brassus im Trainingslager befand. Mit Georg Thoma, bundesdeutscher Ski-Weltmeister von 1966, hatte er einen prominenten Fluchthelfer, der in der Nähe angespannt im startbereiten Porsche auf ihn wartete. Pöhland erstarrte, als jäh grell aufstrahlende Scheinwerfer ihn blendeten. "Ich hatte wahnsinnige Angst, ich habe gedacht, jetzt haben sie mich erwischt", erinnert sich Pöhland heute an die furchtbare Schrecksekunde. Aber Georg Thoma beruhigte ihn: "Komm, Ralph, du brauchst keine Angst zu haben. Das ist das ZDF." Pöhland sprang - die Szene wurde vom Wintersport-Experten des Zweiten Deutschen Fernsehens, Bruno Moravetz, mit Kameramann und Tontechniker festgehalten. Diese wie ein Revolverroman anmutende Fluchtgeschichte ereignete sich kurz vor dem ersten olympischen Auftritt einer eigenständigen DDR-Mannschaft bei den Winterspielen im französischen Grenoble. Ralph Pöhland sprang in die Freiheit, da er in den Jahren zuvor sportlich und persönlich von SED-Funktionären schikaniert worden war. Doch liefen in dieser denkwürdigen Nacht in den Schweizer Alpen mehrere Fäden zusammen, die für die deutsch-deutschen Sportbeziehungen dieser Zeit charakteristisch waren: Das Entkommen des DDR-Athleten verstärkte das wachsende "Republikflucht"-Trauma des ostdeutschen Staatssports; der westdeutsche Sport leistete aktive Fluchthilfe - ein bislang nahezu unbekanntes Kapitel der Sportgeschichte; schließlich war es der Beginn der Leidensgeschichte von Pöhlands in der DDR lebenden Angehörigen. Wenige Tage nach der Flucht Ralph Pöhlands erging Haftbefehl gegen ihn, einige Wochen später verloren beide Eltern ihre Anstellungen in staatlichen Betrieben. Die Familie und das Umfeld wurden mit Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit infiltriert, engste Angehörige gegeneinander ausgespielt. Wie nach der Flucht von Karin Richert und in zahlreichen anderen Fällen wurde auch hier die Familie als Druckmittel zur Rückkehr eingesetzt, die Stasi drohte, den Vater dauerhaft zu inhaftieren, falls Pöhland nicht den Weg zurück in die DDR wählte, doch blieb er bei seiner Weigerung. Seinem ehemaligen Teamkollegen, dem ostdeutschen Skistar Andreas Kunz, wurde die fortgesetzte Freundschaft zu Pöhland - die beiden trafen sich zu Beginn der 1970er Jahre am Rande internationaler Wettkämpfe - zum Verhängnis. Er wurde wegen dieses Kontakts dauerhaft vom Leistungssport ausgeschlossen, "aus gesundheitlichen Gründen", wie die SED gegenüber der Öffentlichkeit behauptete. Dem Zugriff der Stasi sollte die Familie des Geflüchteten zu DDR-Zeiten nie mehr entkommen. Auch Pöhland selbst blieb im Visier des MfS. Der letzte Eintrag in seiner Opfer-Akte bei der BStU stammt aus dem Jahr 1985, dort firmierte der Vorgang - noch 18 Jahre nach Pöhlands Flucht - unter "Operative Personenkontrolle - Verräter". Sind die frühen Fluchtfälle im DDR-Sport noch kaum aufgearbeitet, so gilt dies erst recht für ein weiteres historisches Phänomen: die Beteiligung westdeutscher Sportler und Funktionäre an der Vorbereitung und dem Gelingen der häufig abenteuerlichen Fluchtunternehmen. Bis heute wird ein solcher aktiver Part der westlichen Seite selten offen eingeräumt. Der Grund erscheint einfach: In der DDR-Propaganda wurde niemals die persönliche oder politische Motivation der Flüchtenden erwähnt, sondern der Wechsel gen Westen stets als alleinige Folge rücksichtsloser "Abwerbung", wenn nicht gar "Menschenhandels" von Seiten westlicher Sportfunktionäre verzerrt. Offenkundig hatte der bundesdeutsche Sport zur Zeit des Kalten Krieges nicht die Absicht, ein derartiges Propagandaszenario durch öffentliche Bekanntgabe der eigenen Beteiligung in einzelnen Fällen der Fluchthilfe zu bedienen. Dennoch wäre es lohnenswert, systematisch der Frage nachzugehen, inwieweit derartige Aktionen vom westdeutschen Sport gefördert wurden, sei es, um einzelnen Athleten das Entkommen aus der Diktatur zur ermöglichen, sei es, um den kommunistischen Gegner auf der Aschenbahn gezielt sportlich zu schwächen. Der Fall Pöhland liefert für letztere Motivation einige Anhaltspunkte: Georg Thoma wartete um Mitternacht im Porsche nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf explizite Weisung des westdeutschen Skiverbandes. Ralph Pöhland selbst schätzt die Konstellation rückblickend so ein: "Durch meine Flucht hatten die Westdeutschen bei der ersten olympischen Konkurrenz mit der DDR einen wichtigen Gegner weniger." Nur durch eine gründliche Auswertung der Verbandsarchive und zahlreiche Zeitzeugeninterviews sind sämtliche Hintergründe erklärbar, die den schwierigen Weg flüchtender Sportler zwischen Ost und West bestimmten und begleiteten. Ein letzter Blick soll der Rolle der Medien gelten: Bruno Moravetz vom ZDF hatte in der Nacht von Les Brassus eigentlich einen großen journalistischen Coup gelandet. Durch einen Tipp des befreundeten Georg Thoma war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um das Geschehen aufzunehmen. Doch wurde seine Verfilmung des Sprungs nie gesendet. Zwar präsentierte bereits am nächsten Abend das "Aktuelle Sportstudio" sowohl Georg Thoma als auch Ralph Pöhland live in der Sendung, um die gelungene "Republikflucht" publik zu machen. Doch scheute sich die ZDF-Sportredaktion, einzugestehen, dass eigene Journalisten bei dieser Flucht im wahrsten Sinne des Wortes die Lampe gehalten hatten. Hier spielte auch Sorge um das Wohlergehen der Beteiligten eine Rolle - nicht ohne Grund, denn Bruno Moravetz wurde trotz dieser Vorsichtsmaßnahme des Senders kurz darauf von einem ostdeutschen Journalisten gewarnt, nie mehr in die DDR zu reisen. Der Film von Pöhlands Sprung verschwand in der Folgezeit als unscheinbarer "Take 004" in den Archiven des ZDF und fiel dem Vergessen anheim. Auch hier stellt sich die Frage, wie viele andere mediale Dokumente dieser bewegten Zeit in Rundfunk- und Fernseharchiven noch darauf warten, aus dem Dunkel der Vergessenheit hervorgeholt zu werden. "War minus the shooting" Der visionäre Schriftsteller George Orwell, der in seinem Roman "1984" wie kein anderer die Schrecken eines modernen Überwachungsstaates vorwegnahm, zeigte sich auch in anderer Hinsicht prophetisch. Mit seiner Sentenz, Leistungssport sei nichts anderes als "war minus the shooting", nahm er im Epochenjahr 1945 eine maßgebliche Konstellation der kommenden Jahrzehnte vorweg: Hochleistungssport als Stellvertreter-Schauplatz des politischen Systemkonflikts. Schüsse fielen in der Tat nicht im Verlauf des deutsch-deutschen Konflikts im Sport, doch gab es viele Opfer, zu denen nicht zuletzt die Sportler selbst gehörten. Als im Jahr 1989 die Mauer fiel, die SED ihren Machtzugriff verlor und sich zahlreiche Verfolgte des Regimes öffentlich zu Wort melden konnten, waren es nicht die DDR-Sportler, die zunächst als Opfergruppe ins Blickfeld gerieten. Es artikulierten und organisierten sich erstmals zahlreiche politisch oder konfessionell Verfolgte, die lange Jahre in Bautzen oder ähnlichen Hafteinrichtungen durchleben mussten, Opfer der Enteignungspolitik, politische Oppositionelle, und viele, die auf eine Karriere im realsozialistischen System verzichtet hatten, um sich durch die Machtverhältnisse nicht korrumpieren zu lassen. Fast allen war gemein, dass sie entweder aus intellektueller Überzeugung oder durch einschneidende Erlebnisse bereits zu DDR-Zeiten zu Gegnern des Regimes geworden waren. Im Unterschied zu ihnen hatten ostdeutsche Athleten nicht nur zu den funktionierenden Bausteinen des DDR-Systems gehört, sondern vielmehr als werbewirksame Aushängeschilder fungiert. Als Opfer wurden einzelne DDR-Sportler erst vergleichsweise spät wahrgenommen, und hier vor allem im Zuge der Diskussion um das staatlich angeleitete Zwangsdoping. Die Würdigung des Leids der Betroffenen wurde durch verschiedene Faktoren erschwert: Zum einen durch ihre späte organisatorische Formierung, zum anderen durch die Tatsache, dass schwerwiegende Gesundheitsschäden als Folge des Dopingkonsums bei vielen erst lange nach Karriereende eintraten. Gegenüber anderen Formen des SED-Unrechts wurde das Zwangsdoping erst Ende der 1990er Jahre umfassend historisch beschrieben. Der mangelnde Gesprächswille des bundesdeutschen organisierten Sports gegenüber den Geschädigten blockierte zusätzlich die öffentliche Akzeptanz und Wahrnehmung der Problematik. Daneben fehlte häufig auch die Bereitschaft der Athleten, sich als Betroffene überhaupt erkennen zu geben, um nicht im Milieu ehemaliger Protagonisten des DDR-Sports als "Sportverräter" zu gelten. Im Unterschied zur Dopingproblematik ist die Geschichte der "Republikflucht" von Sportlern, ihrer Motive und ihrer Konsequenzen, bislang kaum beachtet worden. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich bislang vorwiegend auf einige Fälle im Fußballsport in den 1970er und 1980er Jahren, wie etwa das Schicksal von Lutz Eigendorf. Demgegenüber sind die Biographien hunderter anderer Leistungssportler, die aus persönlichen, politischen oder sportlichen Gründen aus der DDR flohen, nahezu vergessen. Ihre historische Würdigung ist überfällig, zumal einzelne Fluchten immer wieder gravierende Folgen für die Sportpolitik der DDR hatten. So wurde nach dem Schock von Pöhlands Flucht der Athletenkader für Grenoble schlagartig von 95 auf 57 Wintersportler reduziert, nur die politisch zuverlässigsten durften die Reise nach Frankreich antreten. Und noch ein weiterer Aspekt ist ein drängendes Desiderat der Forschung, insbesondere derjenigen über die Phase der gesamtdeutschen Mannschaften: Justitielle Willkür, vor allem Schauprozesse gegen Sportler und Sportfunktionäre in der DDR. Der erste Präsident des ostdeutschen NOK, Kurt Edel, war persönlich in die Vorbereitung politischer Gerichtsurteile verstrickt. Dieses Faktum ist bislang weder von der ansonsten sehr ausführlichen juristischen DDR-Forschung noch von der Sportgeschichte analysiert worden. Der Sport zur Zeit des Kalten Krieges ist nicht nur wichtiger Bestandteil der Geschichte der geteilten Nation, sondern ebenso wesentliches Element der Herrschaft der SED-Diktatur. Horst Möller, Worin lag das "national" Verbindende in der Epoche der Teilung?, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 307-324, hier: S. 311. Karl Ritter von Halt an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 25. 5. 1951. Zit. nach Tobias Blasius, Olympische Bewegung, Kalter Krieg und Deutschlandpolitik 1949-1972, Frankfurt/M. u.a. 2001, S. 85. "welche der Welt demonstrieren wird, dass Sportler dort erfolgreich sein können, wo Politiker versagen". Avery Brundage an Karl Ritter von Halt, 28. 5. 1955, IOC-Archiv, Lausanne. Zur Problematik vgl. grundsätzlich Andreas Höfer, Der olympische Friede. Anspruch und Wirklichkeit einer Idee, St. Augustin 1994. Willi Daume an Otto Mayer, 12. 5. 1961, IOC-Archiv, Lausanne. Karl Ritter von Halt an Otto Mayer, 6. 9. 1955, IOC-Archiv, Lausanne. Willi Daume an Otto Mayer, 28. 11. 1962, IOC-Archiv, Lausanne. "nicht mehr als einen Strohmann". Karl Ritter von Halt und Willi Daume an Avery Brundage, 10. 11. 1961, IOC-Archiv, Lausanne. Ritter von Halt übersandte seit Juni 1959 alle "Hetzartikel" aus ostdeutschen Tageszeitungen, um dem IOC zu demonstrieren, "what kind of people we have to get along with" ("mit was für Leuten wir auskommen müssen"). Karl Ritter von Halt an Avery Brundage, 18. 6. 1959, IOC-Archiv, Lausanne. Willi P. H. Knecht, Nach Tokio und zurück. Sportpolitik in Deutschland, Dießen/Ammersee 1965, S. 124. Als die 17-jährige Dresdnerin Ingrid Krämer die erste Goldmedaille für die gesamtdeutsche Mannschaft im Jahr 1960 in Rom im Kunstspringen holte, titelte der "Tagesspiegel" vom 28. 8. 1960: "Erste Goldmedaille für Deutschland", das "Neue Deutschland" vermeldete am selben Tag: "Erste Goldmedaille für DDR". Im Sinne der östlichen Drei-Staaten-Theorie wurden die Medaillen ostdeutscher und westdeutscher Sportler und solcher aus West-Berlin getrennt aufgeführt. Vgl. Neues Deutschland vom 25. 10. 1964. Zur Berlin-Problematik vgl. Jutta Braun/Hans Joachim Teichler (Hrsg.), Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit, Berlin 2006. Unter der Überschrift "Scheinheilige Patrone" kritisierte die "Berliner Zeitung" nach den Olympischen Spielen in Rom Glückwunschtelegramme bundesdeutscher Politiker an DDR-Sportler. Vgl. Berliner Zeitung vom 1. 9. 1960. Eine ähnliche Kritik erfolgte während der Olympischen Spiele in Innsbruck 1964. Vgl. Berliner Zeitung vom 10. 2. 1964. Willi Daume an Otto Mayer, 28. 11. 1962, IOC-Archiv, Lausanne. Ebd. Vgl. T. Blasius (Anm. 2); Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn. Der deutsch-deutsche Sport 1950-1972, Eine politische Geschichte, Paderborn 2006. Diese Lücke wird demnächst durch eine Dissertation von Juliane Lanz geschlossen, die explizit die Perspektive der Athleten zum Gegenstand ihrer Studie über die gesamtdeutschen Olympiamannschaften macht. U. A. Balbier (Anm. 16). Begriff bei Hans Günter Hockerts, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit: NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 8. W. P. H. Knecht (Anm. 10), S. 9. Zeitzeugengespräch der Autorin mit Karin Balzer, 1. 6. 2008 in Chemnitz. Dieses und weitere zitierte Dokumente zum Auftreten des MfS sind der Opferakte von Karin Balzer bei der BStU entnommen. Akten im Privatarchiv von Karin Balzer. Vgl. Bundesarchiv Berlin, NOK 510/524. In den 1970er Jahren kam es erneut zu einem ernsten Zusammenstoß mit der Sportführung der DDR, da Balzer - mittlerweile Trainerin beim SC Leipzig - sich weigerte, Dopingmittel an Minderjährige zu verabreichen. Zur Strafe wurde sie nach Dresden versetzt. Zeitzeugengespräch der Autorin mit Karin Balzer, 1. 6. 2008 in Chemnitz. Die Schilderung der Ereignisse des 19. 1. 1968 beruht auf Zeitzeugengesprächen der Autorin mit Ralph Pöhland am 6. 2. 2008, Georg Thoma am 6. 2. 2008 sowie mit Bruno Moravetz am 7. 2. 2008. Diese und weitere Angaben über die MfS-Tätigkeit im Fall Pöhland sind seiner Opferakte entnommen: BStU, 1721/68. Die persönlichen Zitate entstammen dem Zeitzeugengespräch mit Ralph Pöhland am 6. 2. 2008 in Plauen. Rechercheergebnis Michael Barsuhn, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig. Eine Pionierleistung vollbrachte in dieser Hinsicht der Journalist Willi P. H. Knecht, der einige zeitgenössische Fälle in Interviews dokumentierte. Vgl. W. P. H. Knecht, Verschenkter Lorbeer. Deutsche Sportler zwischen Ost und West, Köln-Berlin 1969. George Orwell, The Sporting Spirit, in: Tribune, Dezember 1945. Im März 1999 wurde der Doping-Opfer-Hilfeverein gegründet. Vgl. Giselher Spitzer, Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis, Genese, Verantwortung, Gefahren, Köln 1998. So erklärte der Potsdamer Schwimmer Jörg Hoffmann, der sich nach sieben Jahren zum Dopingkonsum bekannte: "Wer bisher darüber geredet hat, der wurde sofort als Verräter gebrandmarkt." Berliner Zeitung vom 16. 10. 1997. Der Mikrobiologe und Anti-Doping-Aktivist Werner Franke benannte "Scham" sowie "Furcht vor dem Zorn alter Sportkameraden" als wesentliche Faktoren eines Schweigens der Geschädigten. Einigung mit Jenapharm, in: Berliner Zeitung vom 18. 12. 2006. Vgl. Heribert Schwan, Tod dem Verräter! Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz Eigendorf, München 2000. Edel war als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig. Vgl. BStU, MfS 9381/70. Hierzu werden im Rahmen der vom DOSB in Auftrag gegebenen Studie über die "Rolle des NOK der DDR" demnächst neue Forschungsergebnisse von der Autorin vorgelegt.
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Braun, Jutta
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31092/sportler-zwischen-ost-und-west/
Von 1956 bis 1964 traten gesamtdeutsche Olympiamannschaften bei den Spielen an. Dennoch war der Sport in der frühen DDR stark "durchherrscht", wie zwei Beispiele von "republikflüchtigen" Sportlern zeigen.
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Lateinamerika-Quiz | teamGLOBAL | bpb.de
Mit dem Lateinamerika-Quiz begeben sich die "Ratenden" auf eine ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Reise zu Themen rund um Südamerika. Jede Gruppe sammelt dabei so viele Punkte wie nur möglich. Das Quiz orientiert sich an bekannten Formaten wie Jeopardy, Der große Preis oder Wer wird Millionär, so dass Spielprinzip und -regeln den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sehr schnell erklärt werden können. Den Teams stehen acht thematische Kategorien zur Verfügung, aus denen sie ihre Fragen auswählen können: Zahlen, Ortskenntnisse, Geschichte, Wirtschaft, Politik, Natur, Kultur / Essen & Trinken und Sports `n Stars. Das Quiz enthält Fragen unterschiedlicher Schwierigkeitsstufengrade. Insgesamt gibt es fünf Stufen. Je nach gewähltem Grad erhält ein Team für die richtige Beantwortung einer Frage zwischen 100 und 500 Punkten. Daraus ergibt sich ein Spielfeld mit maximal 8 Themen à je 5 Fragen, also insgesamt 50 möglichen Fragen. Interner Link: Ablaufbeschreibung (PDF, 17 Seiten) Interner Link: Quiz-Matrix zum Download – bitte mit dem Adobe Reader im Vollbildmodus öffnen um alle Funktionen nutzen zu können (PDF, 122 Seiten)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/68187/lateinamerika-quiz/
Mit dem Lateinamerika-Quiz begeben sich die "Ratenden" auf eine ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Reise zu Themen rund um Südamerika.
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"Jeder Mensch kann zum Täter werden" | Presse | bpb.de
Mit einer prominent besetzten Podiumsdiskussion ging die dreitägige zweite Internationale Konferenz zur Holocaustforschung am Donnerstag Abend zu Ende. Zu der Frage, welchen Beitrag die künstlerische Aufarbeitung von Geschichte zur politischen Bildung leisten kann, diskutierten Romuald Karmakar (Filmemacher), Christoph Mayer (Künstler), Thomas Medicus (Autor und Journalist) und Sandra Nuy (Universität Siegen). Die Veranstaltung, die vom 27. bis 29. Januar 2009 im Berliner dbb- Forum statt fand, wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, dem Royal Holloway College der Universität London sowie dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) ausgerichtet. Bei aller Differenz der Methoden und Ansätze in den verschiedenen Disziplinen machten die Diskussionen der Konferenz deutlich, wie wichtig eine internationale Perspektive für die Täterforschung ist: "In Zeiten der Globalisierung kann Erinnerungskultur nicht mehr rein national gedacht werden. Es geht stattdessen verstärkt darum, dass wir uns über unsere gemeinsamen Erfahrungen austauschen, ohne die spezifisch nationale Erinnerung und die damit einhergehende Verantwortung zu vernachlässigen", betonte Thomas Krüger, Präsident der bpb. Eine fächerübergreifende Gemeinsamkeit fand sich auch in dem veränderten Blick auf den Täter: "Das Bild des monströsen Einzeltäters ist ein Wunschbild, weil es den Täter gesellschaftlich in weite Ferne rückt", so Harald Welzer, Sozialpsychologe und Leiter des Center for Interdisciplinary Memory Research am KWI. "Ich bin hingegen der Überzeugung, dass jeder Mensch zum Täter werden kann, wenn das gesellschaftliche Wertesystem und die sozialen Rahmenbedingungen solches Handeln legitimieren". Zu den rund 400 internationalen Teilnehmern der Konferenz zählten neben Wissenschaftlern auch Multiplikatoren der politischen Bildung sowie Lehrer und Studierende. In vier Workshops am dritten Tagungstag diskutierten sie gemeinsam mit den Experten über Möglichkeiten der pädagogischen Vermittlung. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie sich die Erkenntnisse der Täterforschung insbesondere an junge Menschen in der politischen Bildung weitergeben lassen. "Es zählt zu unseren zentralen Aufgaben zu analysieren, welche politischen, sozialen, ökonomischen und moralischen Koordinaten Strukturen begünstigen, die Menschen zu Tätern werden lassen, und diese Erkenntnisse jungen Menschen zu vermitteln", so Thomas Krüger. "Nur so können wir verhindern, dass in der Gegenwart Minderheiten ausgegrenzt werden." Der Präsident der bpb kündigte die dritte Konferenz für 2011/12 an. Beiträge der Referenten und Pressefotos zur Veranstaltung finden Sie unter: Externer Link: www.bpb.de/presse/3RZZJG Pressemitteilung als Interner Link: PDF-Version (58 KB) Pressekontakt i.A. der bpb Raufeld Medien GmbH Dr. Sabine Schouten Mehringdamm 57 10961 Berlin Tel +49 (0)30 6956 65-38 Fax +49 (0)30 6956 65-20 E-Mail Link: schouten@raufeld.de Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49(0)228 99 515-200 Fax +49(0)228 99 515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50280/jeder-mensch-kann-zum-taeter-werden/
Rund 400 Teilnehmer und Experten diskutierten auf der zweiten Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung die neuesten Ergebnisse der Täterforschung.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Kinder zum Olymp | Presse | bpb.de
Wie Kinder schon in jungen Jahren für Kultur interessiert werden können, wie ihre Sinne für Musik, Malerei, Theater, Tanz, Literatur und Neue Medien geweckt werden können, damit beschäftigt sich ein Kongress am 29. und 30. Januar 2004 im Gewandhaus zu Leipzig. Die Veranstaltung "Kinder zum Olymp" wurde von der Kulturstiftung der Länder in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung und der PwC-Stiftung vorbereitet. Künstler, Politiker, Vertreter von Kulturverbänden, Wissenschaftler, Pädagogen, Journalisten, Eltern und Jugendliche werden Fragestellungen diskutieren wie "Wie kann Hoffnungsträgern von heute vermittelt werden, dass sie die Entscheidungsträger des kulturellen Geschehens von morgen sind? Dass sie mitbestimmen werden über das kulturelle Leben in diesem Land? Und dass ihnen Kultur mannigfache persönliche Bereicherungen bringt?" Bundespräsident Johannes Rau eröffnet den Kongress "Kinder zum Olymp" mit einer Rede. Weitere Teilnehmende sind Bundestagsvizepräsidentin Dr. Antje Vollmer, Staatsministerin Dr. Christina Weiss, Dr. Gerard Mortier, Dieter Gorny und Friedrich Karl Waechter. Prominente Persönlichkeiten wie Petra Gerster, Amélie Niermeyer, Georg Baselitz, Thomas Brussig und viele andere haben für die Initiative Projekt-Patenschaften übernommen. Der "Zukunftspreis Jugendkultur" wird unmittelbar vor Beginn des Kongresses durch Bundespräsident Johannes Rau verliehen. Dieser mit 100.000 Euro dotierte Preis wird von der PwC-Stiftung 'Jugend-Bildung-Kultur' für besonders innovative Leistungen auf dem Gebiet der Jugendkultur gespendet. Wir freuen uns, Sie ab dem 29. Januar 2004 ab 15.00 Uhr auf dem Kongress begrüßen zu dürfen. Adresse: Gewandhaus zu Leipzig Augustplatz 8 04109 Leipzig Das Programm und die Unterlagen zur Akkreditierung finden Sie unter Externer Link: Kulturstiftung, unter Externer Link: Kinder zum Olymp oder unter Externer Link: Görres Kulturbetrieb. Informationen und Pressekontakt Görres Kulturbetrieb Ernestine von Salomon Isabel Raabe Gleimstr. 20 a 10437 Berlin Tel.: +49 (0)30 - 44 35 60-61 Fax: +49 (0)30 - 44 35 60-62 E-Mail: E-Mail Link: info@kulturbetrieb.com Internet: Externer Link: www.kulturbetrieb.com Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50873/kinder-zum-olymp/
Wie können sich Jungen und Mädchen stärker für Kultur interessieren? Wie werden ihre Sinne für Musik, Malerei, Literatur und Neue Medien geweckt? Der Kongress "Kinder zum Olymp" bietet eine Reihe von Lösungsvorschlägen an.
[ "Unbekannt (5273)" ]
30,832
Rede von Thomas Krüger zum 10. Kulturpolitischen Bundeskongress | Presse | bpb.de
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Kulturstaatsministerin, der Essener Kabarettist und Satiriker Hagen Rether erinnert in der jüngsten Ausgabe seines Programms, das seit nunmehr 15 Jahren "Liebe" heißt, an die ungleichen Versuche von Ex-FBI-Chef James Comey und Papst Franziskus, Donald Trump öffentlich "zusammenzufalten". Er habe sich, vor dem Fernseher sitzend, dabei erwischt, dass er jeweils Comey und dem Papst die Daumen gedrückt habe. Irgendwann habe er sich allerdings gefragt, ob er verrückt geworden sei: er, daumendruckend, auf der Seite von FBI-Bossen und Päpsten? Er kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass heute alles möglich werde, wenn nur der Referenzpunkt tief genug hange. Etwa so ist es mir ergangen, als die Teilnehmer/innen der Expertenworkshop-Reihe, die wir mit der Kulturpolitischen Gesellschaft gemeinsam ausrichten, vor zwei Jahren mit dem Vor-schlag auf uns zugekommen sind, Heimat zum Thema des diesjährigen Bundeskongresses zu machen: Waren es nicht die Rechtspopulisten, die den Begriff in die politische Debatte eingeführt hatten, um ethnisch definierte Privilegien einzufordern, frei nach dem Orwellschen Paradigma "Alle sind gleich, manche sind gleicher"? Muss man denn über jedes Stöckchen springen, was einem hingehalten wird? Ist uns überhaupt bewusst, wie hier mit dezidiert gesetzter Sprache tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft erzeugt werden? Sprache spiegelt nicht nur gesellschaftliche Realität, sie schafft sie auch. Sprache ist und kann konkretes Handeln werden. Am Ende des Tages wird auf engagierte, über die Parteigrenzen hinweg geschätzte Politiker/innen geschossen. Meine Damen und Herren, das war keine Episode, das ist der Ernstfall, der uns alle herauszufordern hat. Inzwischen hatte sich auch die Lage der Bundeszentrale für politische Bildung maßgeblich geändert. Wir wurden und sind noch Teil eines Heimatministeriums. Es blieb uns also gar nichts anderes übrig als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, an unserem ‚genetischen Code‘, dem Kontroversitätsgebot festzuhalten und uns daran zu erinnern, dass wir 1952 als „Bundeszentrale für Heimatdienst“ gegründet wurden. Bemerkenswert ist, dass die Debatten des letzten Bundeskongresses, der noch die globale Perspektive fokussiert hatte, nachwirken. Die Analysen der Politikwissenschaftler und Sozio-logen wie Wolfgang Merkel, Andreas Reckwitz und zuletzt auch Cornelia Koppetsch, nach denen neben die Horizontale der ideologischen Bedeutungen die Vertikale der Kulturalisierung tritt und an Dominanz gewinnt, haben an Evidenz gewonnen und werden breit diskutiert und präzisiert. Die Kulturalisierung des Sozialen hat in ihrer kulturessentialistischen Spielart die überraschende Folge, dass das Feld der Kulturpolitik aufgewertet und von der Rechten auf das ideologische Schlachtfeld geführt wird. Also allem Verdruss zum Trotz: Die Mitarbeitenden der KuPoGe haben Recht behalten: Es wird höchste Zeit, dass wir uns in den Kulturinstitutionen wie im Feld der Kulturpolitik mit dem Verständnis von Heimat befassen und unsere Praktiken überprüfen. "Heimat" ist eine Konstruktion. Jede und jeder versteht etwas anderes da-runter. "Heimat" bekommt man nur im Plural. Erst recht in einer "Gesellschaft der Singularitäten". Früher in den 1970gern, so Andreas Reckwitz sinngemäß, wollten alle einen VW, einen Fernseher und eine Waschmaschine. Heute geht es um die richtige Schule für das eigene Kind, die außergewöhnliche Ferienreise jenseits des Massentourismus und den ultimativen Geheimtipp für ein veganes Restaurant. Diesen, nur an ihre Besonderheiten denkenden Hyperindividualisten stehen zunehmend wütende Kulturessentialisten gegenüber, die, auch auf recht verschiedene Weise, Zusammenhalt und die Welt von gestern im heute suchen. Wer über Heimat nachdenkt, ohne das emanzipierte Individuum mitzudenken, landet schnell bei einem aufgeblasenen romantischen Begriff von Heimat, einer Schimäre eben. Franz Kafka beschreibt in seiner kurzen Erzählung "Heimkehr", was dem Individuum passiert, je naher es seinem "Heim" kommt. Er bedient sich dabei des Motivs des "verlorenen Sohns", erzählt sie aber aus der Perspektive des Sohns und nicht des Vaters. "Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte." Kafka beschreibt die Heimkehr, die die Motive von Zugehörigkeit und Herkunft reflektiert, als Entfremdungsprozess. Ein selbstbewusst werdendes Individuum, das selbst und nicht in einer Gruppe Geschichte schreibt, steht so etwas wie "Heimat" seit der Moderne ratlos gegenüber. Kafka schließt seine Kurzerzählung: "Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will." Ich gebe zu, dass mir der Heimatbegriff vor diesem Hintergrund suspekt bleibt. Aber eine diskursive offene Gesellschaft sollte grundsätzlich gesprächsbereit bleiben. Ich bin deshalb bereit, anderen Verständnissen von Heimat ernsthaft zuzuhören und sie nicht von vornherein zu diskreditieren. Umgekehrt mochte ich aber auch, dass meine Argumente zur Kenntnis genommen werden. Vier Typen von "Heimat" kann man - in aller Kürze und wirklich sehr knapp – u.a. unterscheiden – die Liste ist nicht abgeschlossen: 1. Der kritische Heimatbegriff, der "Heimat" als Herrschaftsbegriff versteht, markiert die Praktiken des Ausschlusses. Wer gehört dazu, wer nicht usw. Hier werden asymmetrische Machtbeziehungen aufgedeckt, die die Auf- und Abwertung von Menschengruppen induzieren. "Heimat" muss, so deren Protagonist/innen, deshalb als Begriff dekonstruiert werden. Eine Gesellschaft der Gleichen und Vielen braucht deshalb Strategien der Entheimatung, um die Ansprüche der Gleichheit überhaupt einzulösen. Dieser kritische Heimatbegriff hat aber einen Nachteil. Wenn Zugehörigkeit und Herkunft verhandelt werden sollen, dann bleibt diese Dekonstruktion auffällig emotionslos. Wenn der Begriff „Heimat“ erst zerstört ist, so die Suggestion, dann wird alles gut. 2. Der inklusive Heimatbegriff geht aufs Ganze. Er dekodiert den Heimatbegriff durch eine neue Kodierung. Heimat wird nicht retrotaktisch interpretiert, sondern quasi projiziert. Eine Heimat der Vielen wird für möglich gehalten. Ein Beispiel? Ich zitiere aus dem Song B-Style der Berliner Band RotFront: "Wir haben Jogger wir haben Hänger wir haben Rapper wir haben Sänger/ wir haben Deppen wir haben Kenner/ wir haben Zecken wir haben Banger/ wir haben Reiche wir haben Penner/ hier haben Kneipen bis es dämmert Bier/ und Weiber wie auch Männer kriegt man beides für ein Tenner/ also komm nach Berlin nimm dir Zeit komm vorbei du bist pleite kauf hier alles für ein Apfel und ein Ei jeder Bezirk hat ein eigenes Amt Berlin ist keine Stadt Berlin ist ein Heimatland" Ein solches inklusives Verständnis ist natürlich eine große Einladung und ermöglicht eine multiple Aneignung von Heimat. Aber konfliktfrei ist diese inklusiv gedachte Gesellschaft sicherlich nicht. Mit einem verklärten hyperindividualistisch gelebten Kosmopolitismus und einem unkritischen Multikulti wird man der Komplexität und den unterschiedlichen Interessen sicherlich nicht gerecht. 3. Bleibt ein romantischer Heimatbegriff, der Zugehörigkeit und Herkunft retroutopisch organisiert. Jeder Mensch hat seine Geschichte und die reicht quasi in ein Stadium der Unschuld zurück, aus dem man für die eigene Selbstvergewisserung von Zugehörigkeit und Herkunft seine Erzählung schöpft. Ich will dieses Verständnis nicht von vornherein diskreditieren und deshalb verstehen, wie man aus solchen Heimaterzählungen die ganzen Abgründe der jüngeren Geschichte "rauserzählen" kann, ohne "rot" zu werden. Mehr dazu erfahren wir sicher heute noch von Geraldine Schwarz, deren Buch "Die Gedächtnislosen" 2018 den Europäischen Buchpreis in Leipzig erhalten hat. Faschismus, Kolonialpraktiken und Kommunismus liegen bis heute wie Mehltau auf dem Heimatbegriff und vergiften ihn. 4. Eine zweifelsohne besondere Form könnte man den postutopischen Heimatbegriff nennen. Dafür gibt es auch ein gutes Beispiel. Nicht selten begegnet man der Behauptung einer DDR-Heimat. Ich kann mich nicht erinnern, dass außerhalb der lächerlichen Agitpropmaschine des SED-Apparates mit der DDR so etwas wie Heimat verbunden wurde. Und auch den linken Exilanten, die sich nach dem 2.Weltkrieg für das aus ihrer Sicht bessere Deutschland entschieden haben ist die Heimatsehnsucht ziemlich schnell mit Panzerketten ausgetrieben worden. Dagegen feiert „DDR-Heimat“ heute fröhliche Urständ. Bei Lichte besehen beginnt die postutopische DDR-Heimat erst nach dem Untergang der DDR und markiert wohl eher die Differenz zu einer westdeutschen Zugehörigkeitserzählung, mit der man sich nicht identifiziert. Es gibt sicher weitere Heimatmodelle. Die Frage bleibt aber, wie es uns gelingen kann, diese völlig unterschiedlichen Perspektiven ins Gespräch zu bringen. Vielleicht braucht es hier die "gefährlichen Begegnungen", von den Heinz Bude spricht. Heinz Bude beschreibt in seinem aktuellen Buch "Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee", warum sich die "Kinder" der französischen Revolution neben liberté und egalité für fraternité, Brüderlichkeit, als drittem Begriff entschieden hatten: Gemeinsam hatten sie Ludwig XVI., den "Vater" getötet. Nicht nur aus der Notwendigkeit zum Zusammenhalt, sondern auch aus der gemeinsamen Schuld heraus, entstand ein aufeinander Angewiesen-Sein und der Zwang, sich gegenseitig zu überwachen: "ob der Einsatz für die gemeinsame Sache reicht oder ob man sich gar des Verrats an der gemeinsamen Sache einer neuen Morgenrote schuldig macht". Spätmoderne Gesellschaften werden also bestenfalls Solidargemeinschaften untereinander Unvertrauter sein, wie Paul Mecheril es beschreibt. Oder sie werden nicht sein. Exklusiv gedachte Volksgemeinschaften, wie sie die Neue Rechte proklamiert, sind weltfremd und werden, so hoffe ich doch, auf entschiedenen Widerstand treffen. Deshalb an deren Adresse: "Heult doch"! Eure reaktionären Phantasien werden unsere Inspiration sein, es mit den "gefährlichen Begegnungen" zu versuchen und Herkunft und Zugehörigkeit neu zu denken und zu leben. Meine Damen und Herren, Freiheit, Bürger/innenrechte und spezielle Rechte für spezielle Bedürfnisse kann es nur geben, wenn wir uns sie gegenseitig anerkennen. Und das auch über die Grenzen hinaus. Seit 70 Jahren ist das Grundgesetz immer noch die Rechtsgrundlage für eine weniger räumlich gemeinte, sondern ideelle Heimat, in der sich viele geschützt, aber frei entfalten können. In einer noch unveröffentlichten Studie von Professor Jens Adam von der Universität Bremen lassen sich positive Ansatzpunkte für eine Kulturpolitik finden, die den Heimatgedanken über nationalstaatliche Grenzen hinweg neu fassen will. Jens Adam votiert dafür "die Auflösung gewohnter Grenzen nicht nur anzuerkennen, sondern kulturpolitisch produktiv zu machen; in der Betonung der Schaffung von Freiheitsräumen für und Zugängen zu Kunst und Bildung jenseits klassischer nationalstaatlicher Zuständigkeiten; in der Forderung nach einer sukzessiven Überführung kulturpolitischer Infrastrukturen in europäische Konstellationen oder nach einer stärkeren Öffnung inländischer Kultureinrichtungen für Koproduzent/innen aus dem Globalen Süden.“ Norbert Sievers, unser Partner beim Kulturpolitischen Bundeskongress seit fast 20 Jahren, beschreibt Heimatpolitik als Kulturpolitik, die sich mit den Gegenwarts- und Zukunftsproblemen aufklärend und ideologiefrei auseinandersetzt, um eine lebenswerte Welt zu gestalten, die möglichst allen Menschen selbstgewählte Heimaten im Plural ermöglicht. Das kann ich unterschreiben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Dir, lieber Norbert, für die vielen Jahre der guten Zusammenarbeit an dieser Stelle zu danken, da dies ja leider Dein letzter Kongress sein wird. Für die politische Bildung warst Du der ideale Partner: solidarisch, kritisch, streitbar, intellektuell und mit einem Sensor für die heißen Fragen der Zeit ausgestat-tet. Ich werde die Abstimmungsprozesse und Diskussionen mit Dir vermissen. Da bleiben Phantomschmerzen! Bestimmt auch bei meiner Kollegin Sabine Dengel. Ihr beide habt mit Euern Teams und vielen Experten diese Kongresse gestemmt. Hochachtung! Du hast dir unser aller Anerkennung verdient. - Es gilt das gesprochene Wort! -
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-07-29T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/294563/rede-von-thomas-krueger-zum-10-kulturpolitischen-bundeskongress/
Rede von Thomas Krüger zum 10. Kulturpolitischen Bundeskongress "KULTUR.MACHT.HEIMATen - Heimat als kulturpolitische Herausforderung" in Berlin
[ "Präsident Krüger", "Kulturpolitischer Bundeskongress", "Grußwort" ]
30,833
Dynamik von Einkommen und Armut | Datenreport 2021 | bpb.de
Die Stabilität oder Dynamik von Einkommen und Armut gibt Auskunft über die Chancen und Risiken zur Verbesserung beziehungsweise Verschlechterung der materiellen Grundlagen in einer Gesellschaft. Die Veränderung von Einkommenspositionen im Zeitverlauf ist deshalb auch ein entscheidender Hinweis dafür, inwieweit es Personen und Haushalten gelingt, defizitäre Positionen zu überwinden, und welchem Risiko sie ausgesetzt sind, in unzureichende Einkommenslagen zu gelangen. Diese Mobilität zwischen verschiedenen Einkommenspositionen im zeitlichen Verlauf kann unter anderem durch sogenannte Mobilitätsmatrizen berechnet und dargestellt werden. Hierbei wird berechnet, welcher Bevölkerungsanteil zu zwei Zeitpunkten in denselben Einkommensklassen (Quintilen) geblieben beziehungsweise in höhere oder niedrigere Einkommensschichten gewechselt ist. Um die Mobilitätsmuster über längere Zeitabstände vergleichend darzustellen, wurden Verbleib und Übergänge in und aus Einkommensquintilen in einem vierjährigen Abstand zu drei verschiedenen Perioden betrachtet: 1994 bis 1998, 2004 bis 2008 sowie 2014 bis 2018. Das Risiko, während der vier Folgejahre im untersten (ersten) Quintil zu verbleiben, erhöhte sich deutlich von 54 % in den 1990er-Jahren auf 62 % in den Jahren 2004 bis 2008 und verharrte von 2014 bis 2018 auf ähnlichem Niveau (63 %). Der Anteil an Aufstiegen von der untersten in höhere Einkommenslagen verringerte sich entsprechend. In allen anderen Einkommensquintilen (oberhalb des untersten Quintils) erhöhte sich der Verbleib in der Periode 2014 bis 2018 im Vergleich zu den Jahren davor. Das gilt auch für die mittleren und höheren Einkommensquintile. Die Risiken des Abstiegs in untere Einkommenslagen sanken. Insgesamt verringerte sich somit die Mobilität zwischen den Einkommensschichten im Zeitverlauf. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, in welchem Umfang die Bevölkerung in verschiedenen Einkommensschichten eines Jahres in den zurückliegenden vier Jahren Einkommensarmut erfahren hat. Dabei bleibt unbeachtet, ob diese individuellen Armutserfahrungen zuvor im selben oder in einem anderen Haushalt gemacht wurden. Abbildung 5 weist die zurückliegenden individuellen Armutserfahrungen für die Ausgangsjahre 1998, 2008 und 2018 aus. Für das Jahr 2018 werden diese zudem für die jüngste Altersgruppe bis 30 Jahre und für die Älteren ab 60 Jahren getrennt dargestellt. Von den Personen, die im Jahr 2018 in der untersten Einkommensschicht und damit in relativer Einkommensarmut lebten, waren 88 % bereits in den vier Vorjahren (2014 bis 2017) zumindest einmal von Armut betroffen. Darunter war weit mehr als die Hälfte (60 %) in diesem Zeitraum dauerhaft arm mit Armutsepisoden von mindestens drei Jahren. Die Bevölkerung in relativer Einkommensarmut setzte sich im Jahr 2018 demnach in folgender Weise zusammen: 44 % aller Personen in dieser Einkommensschicht waren auch in allen vier Jahren zuvor sowie weitere 17 % in drei der vier vorausgehenden Jahre permanent arm. Insgesamt 28 % erlebten in den zurückliegenden vier Jahren transitorische Verläufe mit Ein- und Ausstiegen in und aus Armut, darunter 15 % mit zweimaliger und 13 % mit einmaliger Armutserfahrung in den zurückliegenden vier Jahren; weitere 12 % waren Neuzugänge bei der Armutspopulation. Im Vergleich dazu setzte sich die Einkommensschichtung im Jahr 2008 noch in folgender Weise zusammen: Nur 25 % aller Personen in dieser Einkommensschicht waren dauerhaft (in allen vier vorausgegangenen Jahren) arm, 21 % waren in drei Jahren arm, 37 % hatten einen transitorischen Armutsverlauf mit ein oder zwei Armutsepisoden in den zurückliegenden vier Jahren und weitere 17 % hatten zuvor keinerlei Armutserfahrung. Im Ausgangsjahr 1998 war der Anteil mit permanenter Armutserfahrung noch geringer und der Anteil mit transitorischen Armutserfahrungen sowie die Neuzugänge in Armut höher. Der Anteil an Personen, die im zurückliegenden Zeitraum von vier Jahren mindestens einmal unter der Armutsgrenze lagen, nahm innerhalb der letzten Dekade stark zu, wobei insbesondere dauerhafte Armutsepisoden weiter anstiegen. Mit zunehmender Höhe der Einkommen nahm der Personenkreis mit Armutserfahrungen erwartungsgemäß ab. Im Bereich des prekären Wohlstands unmittelbar oberhalb der Armutsschwelle (60 bis 75 % des Medianeinkommens) lebten 2018 knapp 40 % der Personen zumindest einmal innerhalb der zurückliegenden vier Jahre unterhalb der Armutsgrenze − mit im Vergleich zu 2008 leicht rückläufiger Tendenz bei den permanenten Armutserfahrungen. Kurzfristige Armutserfahrungen reichten bis in die mittleren Einkommenslagen hinein. Selbst im Bereich höherer Einkommen haben noch zwischen 2 und 3 % der Personen zumindest kurzfristige Armutserfahrungen gemacht. Insgesamt erhöhten sich insbesondere die Risiken anhaltender Armutsepisoden. Folglich verringerten sich die Chancen, Armutsepisoden zu überwinden. Die Muster der Armutsdauer variierten mit dem Lebensalter. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (im Alter bis 30 Jahre) wiesen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung höhere Anteile an transitorischen Armutserfahrungen auf. Dies galt auch für die mittleren und höheren Einkommensschichten. Möglicherweise haben diese nach Abschluss der für diese Altersgruppe typischen Ausbildungsphasen temporäre Armutsphasen überwinden können. Ältere im untersten Einkommensbereich trugen indes ein besonders hohes Risiko, länger im prekären Einkommensbereich zu verbleiben.
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Jan Goebel, Peter Krause
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/private-haushalte-einkommen-und-konsum/329955/dynamik-von-einkommen-und-armut/
Die Stabilität oder Dynamik von Einkommen und Armut gibt Auskunft über die Chancen und Risiken zur Verbesserung beziehungsweise Verschlechterung der materiellen Grundlagen in einer Gesellschaft.
[ "Datenreport", "Verteilung", "Angleichung", "Armut", "Dynamik", "materielle Grundlagen der Gesellschaft", "Mobilitätsmuster", "Einkommensklassen", "Quintilen", "Einkommensschichten im Zeitverlauf", "Einkommensarmut", "prekärer Wohlstand", "Muster der Armutsdauer" ]
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Politische Bildung auf der Frankfurter Buchmesse 2022 | Messeauftritte | bpb.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2022 präsentiert die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ihr Angebot auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1, Stand E 10. Vom neuen Zeitbild „Empowerment – Kunst und Feminismen“ über die aktuelle Ausgabe des Jugendmagazins fluter zum Thema „Meer“ bis hin zur Neuerscheinung der „Informationen zur politischen Bildung“ über den Rechtsstaat stellt die bpb eine große Anzahl an Publikationen am Messestand vor. Insgesamt sind derzeit rund 1.500 Printangebote der Bildungseinrichtung erhältlich, viele davon kostenlos oder gegen eine sehr geringe Bereitstellungspauschale. Neues bpb:magazin zum Thema "Krieg gegen die Ukraine" Pünktlich zur Buchmesse erscheint auch das neue bpb:magazin mit dem Themenschwerpunkt „Krieg gegen die Ukraine“ (online unter Interner Link: www.bpb.de/magazin), welches neben eindrücklichen Beiträgen direkt aus dem Kriegsalltag auch einen Blick auf die Umgangsweise Deutschlands und anderer europäischer Staaten mit den Folgen des Krieges wirft. Für die Besucherinnen und Besucher der Frankfurter Buchmesse sind die ersten Exemplare der neuesten Ausgabe des bpb:magazins noch vor Versand druckfrisch erhältlich. Der Schwerpunkt auf den Krieg gegen die Ukraine spiegelt sich auch in einem vielfältigen Veranstaltungsprogramm auf der Messe wieder. Gemeinsam mit u.a. der Frankfurter Buchmesse, dem Goethe-Institut sowie mehreren ukrainischen Verlagen wird die bpb von Mittwoch bis Sonntag unter dem Namen „Persistence of being – Voices and Events from Ukraine“ wichtigen ukrainischen Stimmen wie Katja Petrowskaja, Kateryna Mishchenko, Juri Andruchowytsch, Andrej Kurkow, Karl Schlögel, die Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matviychuk und den Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Serhij Zhadan und viele mehr eine Bühne bieten. Am Messe-Donnerstag veranstaltet die bpb gemeinsam mit dem Honorarkonsulat der Slowakei unter dem Titel „Wort der Freiheit - Freiheit des Wortes“ ein Zoom-Seminar, das an das Wirken von Ján Kuciak erinnern soll. Mit dabei sind u.a. Reinhard Veser (FAZ), Renata Alt (MdB, Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte im Deutschen Bundestag) und der slowakische Schriftsteller Michael Hvorecky. Das gesamte Print- und Multimedia-Angebot der bpb ist unter Interner Link: www.bpb.de/shop erhältlich. Die Publikationen kosten zwischen 1,50 € und 7,00 € und können in einem der Medienzentren der bpb in Bonn oder Berlin oder im Online-Shop erworben werden. Die beliebtesten Bücher der Schriftenreihe werden monatlich in einer Bestseller-Liste zusammengestellt: Interner Link: www.bpb.de/bestseller Highlights aus dem Programm: Ukrainischer Länderstand in Halle 4.0 B114 Mittwoch, 19. Oktober 12:00 bis 13:00 Uhr: Offizielle Eröffnung des "Nationalen Standes der Ukraine" Mit Oleksandr Tkachenko (Ministry of Culture and Information Policy) (online), Olek¬sandra Koval (Ukrainian Book Institute), Hannah Brennhäuser (Goethe-Institut Ukraine), Maria Shubchyk (Goethe-Institut Ukraine), Vadym Kostiuk (Consul General of Ukraine in Frankfurt) Alle Programmpunkte der Reihe unter: Externer Link: https://www.buchmesse.de/presse/pressemitteilungen/2022-09-08-ukraine-im-fokus Frankfurter Pavillon in der Agora der Messe Donnerstag, 20. Oktober 13:00 bis 14:00 Uhr: Distorted or faked: why stereotypes are no longer harmless mit Yuriy Andrukhovych und Natalka Sniadanko Freitag, der 21. Oktober 18:30 bis 19:30 Uhr: Zhadan / Gurzhy: A ‘Fokstroty’ evening. Ukrainian poets of the 1920s – disco music / Mit: Serhiy Zhadan, Yuriy Gurzhy, Liuba Yakimchuk Samstag, 22. Oktober 16:00 bis 17:00 Uhr: “Distorting mirrors: ‘Lessons from history’: An empty phrase?” / Mit: Vasyl Cherepanyn und Andrii Portnov 18:00 bis 19:00 Uhr: Border crossings: Women in the war and in flight mit Kateryna Mischenko, Tamara Martseniuk und Yuliia (Taira) Paievska Digitales Webinar per Zoom Donnerstag, 20. Oktober 16:00 bis 17:30 Uhr: Wort der Freiheit - Freiheit des Wortes In der zweiten Ausgabe der Reihe "Wort der Freiheit - Freiheit des Wortes" sprechen wir anlässlich der Frankfurter Buchmesse über Ján Kuciak und die demokratische Entwicklung in der Slowakei seit seiner Ermordung, mit u.a. Reinhard Veser (FAZ), Renata Alt (Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte im Deutschen Bundestag) Mehr Informationen unter: Interner Link: www.bpb.de/514403. Bitte registrieren unter: Externer Link: https://eu01web.zoom.us/meeting/register/u5MkfuugrTMqEtHGPz27OoINFMrgcURI94KQ
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-20T00:00:00"
"2022-10-19T00:00:00"
"2023-04-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/messeauftritte/514447/politische-bildung-auf-der-frankfurter-buchmesse-2022/
Die bpb auf der Frankfurter Buchmesse 2022 - mit vielen Neuerscheinungen, u.a. dem neuen bpb:magazin zum Thema „Krieg gegen die Ukraine“, und einem vielfältigen Veranstaltungsprogramm. Besuchen Sie uns vom 19. bis 23. Oktober in der Halle 3.1 am St
[ "Frankfurter Buchmesse", "Ukraine", "Buchmesse" ]
30,835
Zusammenfassung und Ausblick | Datenreport 2021 | bpb.de
Lebenslanges Lernen wird in Deutschland für immer mehr Menschen gelebte Realität, denn inzwischen nehmen pro Jahr mehr als die Hälfte der Erwachsenen an Weiterbildungsangeboten teil. Allerdings bleibt weiterhin eine große Gruppe den Lernangeboten fern. Die Längsschnittanalysen mit den Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zeigen, dass etwa ein Fünftel der Erwachsenen in Deutschland dauerhaft nicht an Weiterbildung teilnimmt. Zudem wird aus den Daten ersichtlich, dass ein Großteil der Weiterbildung über den Betrieb und den Beruf gesteuert wird. Es ist also häufig weniger die individuelle Motivation zum Lernen, die fehlt, sondern der Mangel an strukturellen Voraussetzungen. Für viele ist es aufgrund fehlender Möglichkeiten zur Weiterbildung und passender Lernangebote schwierig, mit den wachsenden Anforderungen einer digitalisierten Arbeitswelt Schritt zu halten. Welchen Einfluss die Coronakrise auf die Weiterbildungsbeteiligung hat, ist zum aktuellen Zeitpunkt noch unklar, da es im Moment nur wenige Daten hierzu gibt. Angesichts der aktuellen Struktur der Weiterbildungslandschaft in Deutschland lässt sich aber eine Verringerung der Beteiligung und eine Veränderung der Lernformen vermuten. Aus früheren Wirtschaftskrisen ist bekannt, dass Betriebe in diesen Zeiten das Weiterbildungsangebot verringern. Momentan gibt es kaum öffentliche Strukturen, die dies auffangen könnten. Gleichzeitig wird es schwieriger, Kurse und Lehrgänge im Präsenzbetrieb durchzuführen, wenn Kontaktbeschränkungen gelten. Dementsprechend könnten informelle, selbst gesteuerte und digitale Formen der Weiterbildungen an Gewicht gewinnen. Aktuelle Daten aus einer Sonderbefragung des NEPS im Mai 2020 zeigen, dass 18 % der Erwachsenen im Alter von 34 bis 76 Jahren während der ersten Phase der Pandemie (März bis Mai 2020) Lernangebote im Internet oder über Apps genutzt haben, um dazuzulernen. Davon war die Hälfte (50 %) aus beruflichen Gründen motiviert. Ob die Krise allerdings einen grundsätzlichen Wandel zu mehr individueller und digitaler Weiterbildung auslöst, wird erst in den nächsten Jahren sichtbar werden.
Article
Martin Ehlert
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/bildung/329713/zusammenfassung-und-ausblick/
Lebenslanges Lernen wird in Deutschland für immer mehr Menschen gelebte Realität. An Weiterbildungsangeboten nehmen inzwischen pro Jahr mehr als die Hälfte der Erwachsenen teil. Jedoch bleibt weiterhin eine große Gruppe den Lernangeboten fern.
[ "Datenreport", "Weiterbildung", "lebenslanges Lernen", "Weiterbildungsangebote", "individuelle Motivation zum Lernen", "strukturelle Voraussetzungen", "Einfluss der Coronakrise", "Wandel zu mehr individueller und digitaler Weiterbildung" ]
30,836
Glossar | Europäische Wirtschaftspolitik | bpb.de
AEUV Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist eine wichtige Rechtsgrundlage der Interner Link: Europäischen Union. Basis des AEUV sind die Römischen Verträge von 1957. Geändert wurde er durch den Vertrag von Maastricht, den Vertrag von Nizza und den Vertrag von Lissabon. Seinen heutigen Namen erhielt der AEUV mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009. Der AEUV umfasst 358 Artikel und existiert in 23 gleichwertigen Sprachversionen. (Externer Link: http://www.aeuv.de) Anleihen Der Bund, die Länder und bestimmte öffentliche Körperschaften, Sonderkreditinstitute sowie Aktiengesellschaften können zur Beschaffung von Finanzierungsmitteln Anleihen auf dem Kapitalmarkt auflegen, d.h. Interner Link: Schuldverschreibungen ausgeben und über Banken verkaufen. Jede Anleihe lautet über einen festen Gesamtbetrag, der in Teilbeträge in Euro unterteilt ist. Jeder Sparer kann einen Teil dieser Anleihe kaufen. Anleihen haben als Interner Link: festverzinsliche Wertpapiere eine bestimmte Verzinsung, eine bestimmte Laufzeit sowie eine vertraglich fixierte Tilgung. Es gibt auch variabel verzinsliche Anleihen (Floating-Rate-Notes).Die Rendite ist abhängig vom Zinssatz, vom Ausgabekurs und vom Rückzahlungskurs. Die Zinsen werden meist halbjährlich oder jährlich gezahlt. Anleihen werden am Rentenmarkt gehandelt; ihre Kurse schwanken deutlich geringer als Aktienkurse. Je nach Schuldner unterscheidet man öffentliche Anleihen, z.B. Interner Link: Bundesanleihen, Interner Link: Bundesobligationen, Anleihen der Länder oder Gemeinden (Kommunalobligationen), Industrieanleihen (Industrieobligationen) und Anleihen öffentlich-rechtlicher Kreditanstalten. Auch ausländische Emittenten können in Deutschland Anleihen auflegen (Auslandsanleihen). Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Asset Backed Securities (ABS, engl., etwa "forderungsbesicherte Wertpapiere") ABS sind ein Instrument für die Finanzierung von Unternehmen. ABS sind über Vermögenswerte, also zum Beispiel über Hypotheken- oder Automobilkredite abgesicherte verbriefte Interner Link: Anleihen. Um das Risiko einer dieser Anleihen zu verringern, werden darin mehrere dieser Papiere gebündelt. In der Finanzkrise 2007/2008 erwiesen sich ABS als "Brandbeschleuniger", da die Risiken durch die Bündelung nicht nur breiter gestreut, sondern auch verschleiert worden waren. Beim Platzen der US-Kreditblase verloren viele ABS unerwartet stark an Wert. Die US-amerikanische Notenbank Fed kaufte diese im großen Stil auf, um die Banken zu entlasten. In Europa sind ABS weniger verbreitet. Trotzdem kauft die Interner Link: Europäische Zentralbank sie seit Oktober 2014 genauso wie sogenannte Interner Link: Covered Bonds an. Damit sollen in den Bankbilanzen Risiken minimiert, Platz für die Vergabe neuer Kredite an Unternehmen geschaffen und so letztlich das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden. Austeritätspolitik (von lat. austeritas, Herbheit, Strenge) Wurde erstmals im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien angewandt und bezeichnet die strikte Ausgabendisziplin eines Staates, um in Krisenzeiten die Handlungsfähigkeit des Staatswesens zu erhalten. Die Reduzierung staatlicher Ausgaben auf das Notwendige soll einen schlanken und ausgeglichenen Etat herbeiführen und die gesamtwirtschaftliche Situation verbessern. Befürworter betonen, dass striktes Sparen und eine rigide nachhaltige Haushaltspolitik das Vertrauen von Investoren in die Solidität eines Staates stärkt und so tendenziell zu sinkenden Zinsen führt. Das erleichtere wiederum den Abbau von Schulden. Kritiker der Austeritätspolitik bestreiten den Zinseffekt: Sie betonen, dass Personalabbau, Einschnitte in den Sozialhaushalten und eine geringe Investitionstätigkeit des Staates gerade in Krisenzeiten die Wirtschaft bremsen. Bad Bank (engl., "schlechte Bank") Ein Institut, das aus einer angeschlagenen Bank geschaffen wird, um deren Risiken aufzunehmen. Die Bad Bank wird zur Abwicklung nicht oder nur schwer einlösbarer Forderungen gegründet, die bei Nichtzahlung die Bonität des betroffenen Geldinstituts gefährden könnten. Nach dem deutschen Externer Link: Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung kann das angeschlagene Geldinstitut unter bestimmten Auflagen abschreibungsgefährdete (auch "faul" oder "toxisch" genannte) Posten auf die Bad Bank übertragen. Im Gegenzug erhält die Bank von der Bad Bank eine Schuldverschreibung in gleicher Höhe. In Deutschland garantiert der Staat über den Bankenrettungsfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) für diese Schuldverschreibung, die Bank zahlt dafür eine Gebühr an den SoFFin. Beispiele: Die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung gründete 2009 die Erste Abwicklungsanstalt (EAA), um die riskanten Papiere der angeschlagenen Landesbank WestLB zu übernehmen und bis 2028 abzuwickeln. 2010 übertrug die verstaatlichte Hypo Real Estate (HRE) Wertpapiere und Kredite im Wert von rund 173 Milliarden Euro in die neugegründete Bad Bank FMS Wertmanagement – davon entfielen etwa 7,4 Milliarden Euro auf griechische Staatsanleihen. Bail Out (von engl. to bail out, "jemandem aus der Klemme helfen") Laut Maastricht-Vertrag (ursprünglich Artikel 104 b, im aktuellen Lissabon-Vertrag Artikel 125 Interner Link: AEUV) darf kein EU-Mitgliedsland zum Beistand für die Finanzierung der Staatsschuld eines anderen Mitgliedslandes verpflichtet werden (No-bail-out-Klausel). Kritiker halten die Rettungspakete sowie die Einrichtung der Euro-Rettungsschirme Interner Link: EFSF und ESM für einen Verstoß gegen das Bail-Out-Verbot. Befürworter des Bail Out verweisen hingegen auf Artikel 122 AEUV, der Hilfe für Krisenstaaten erlaubt "aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen". In der Finanzkrise ab 2007/08 wurde der Begriff Bail Out dafür benutzt, dass einzelne Staaten ihre Banken vor der Pleite bewahrten. Diese Geldinstitute galten als "systemrelevant": Man fürchtete, ihr Bankrott würde das ganze Finanzsystem und mit ihm die Wirtschaft in den Abgrund ziehen. Bankenabgabe Seit September 2011 müssen Banken in Deutschland eine Bankenabgabe zahlen, die sie an den Kosten künftiger Krisen beteiligen soll. Die Abgabe fließt in den Restrukturierungsfonds SoFFin (Interner Link: Bad Bank), der angeschlagenen Geldhäusern helfen soll, damit diese Banken in der Krise nicht auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden müssen. Die Bankenabgabe wird von der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) erhoben. Die Zielgröße für das Gesamtvolumen des Fonds beträgt 70 Milliarden Euro. Bankenunion Bezeichnung für den Plan, die Kontrolle und die Regulierung von Europas Banken zu vergemeinschaften. Ziel ist es, dass nicht die Steuerzahler, sondern die Gläubiger und Eigentümer von Geldinstituten haften, wenn letztere Beihilfen zum Überleben benötigen. Ab 4. November 2014 hat die Europäische Zentralbank die Aufsicht über die größten Banken im Euro-Gebiet übernommen. Dabei handelt es sich um 130 für die einzelnen Länder wichtige, sogenannte systemrelevante Institute, deren Bilanzsumme über 30 Milliarden Euro im Jahr oder 20 Prozent der Wirtschaftsleistung eines Landes ausmacht. Die zuständigen nationalen Behörden sollen weiterhin die Aufsicht über die übrigen insgesamt fast 6000 Banken im Euroraum ausüben. Dafür sollen 2016 die Einnahmen aus der Interner Link: Bankenabgabe aus den nationalen Töpfen in einen einheitlichen europäischen Abwicklungsfonds überführt werden. Covered Bonds (engl., "gedeckte Schuldverschreibungen") Eine gedeckte Schuldverschreibung bietet den Anlegern einen doppelten Ausfallschutz: Für Coverd Bonds haften zum einen die ausgebende Bank, zum anderen schützt die Gläubiger ein Bestand an Sicherheiten, auf den sie bevorrechtigt zugreifen können. Diese Sicherheiten bestehen häufig aus besonders sicheren Hypotheken oder Anleihen des öffentlichen Sektors. Damit unterscheiden sich Covered Bonds sowohl von vorrangigen, aber unbesicherten Schuldtiteln als auch von forderungsbesicherten Wertpapieren (Interner Link: ABS), die über keine Haftung durch die herausgebende Institution verfügen. Eine wichtige Form von Covered Bonds sind Pfandbriefe. Über Covered Bonds können sich Banken aktuell extrem günstig refinanzieren. Um die Kreditvergabe im Euroraum anzukurbeln, kauft die Interner Link: Europäische Zentralbank seit Oktober 2014 neben Covered Bonds auch Interner Link: ABS im großen Stil an. Credit Default Swap (CDS, von engl. to swap, tauschen, etwa "Kreditausfall-Swap") CDS sind eine bestimmte Art von Kreditausfallversicherung. Ein Kreditgeber schließt sie ab, indem er seiner Bank eine Prämie zahlt. Die Höhe der Prämie, auch Interner Link: Swap genannt, zeigt, wie die Investoren das Ausfallrisiko des Emittenten einschätzen. Der Interner Link: Swap ist damit ein Indiz für das Vertrauen der Anleger. Der Kreditausfallversicherer springt ein, wenn der Schuldner zahlungsunfähig wird. Der Kreditgeber minimiert so sein Risiko. Kann der Schuldner den Kredit wie vorgesehen tilgen, kassiert die Bank die Prämie und zahlt nichts. Anleger handeln außerbörslich mit CDS, selbst wenn diese mit dem ursprünglich versicherten Kredit nichts zu tun haben. So können sie beispielsweise darauf wetten, dass ein Kredit nicht bedient wird und damit den Schuldner in Bedrängnis bringen. In der Finanzkrise ab 2007 spielten die CDS eine wesentliche Rolle. Scheinbar minimierten sie das Spekulationsrisiko auf dem US-Immobilienmarkt. Die US-Bank Lehman Brothers war ein großer Anbieter des Versicherungsschutzes, dessen Marktwert im September 2008 auf ein Volumen von weltweit rund 62 Billionen US-Dollar angeschwollen war. Als Lehman am 15. September 2008 pleiteging, wurden die CDS-Policen der Investmentbank wertlos. Dies führte weltweit zu enormer Unsicherheit auf den Finanzmärkten. Kurze Zeit später musste der damals weltgrößte CDS-Versicherer AIG von der US-Regierung gerettet werden. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise setzten Investoren mit CDS auf eine Insolvenz Griechenlands. So kostete im September 2011 eine Versicherung über zehn Millionen Euro an griechischen Staatsanleihen mit fünfjähriger Laufzeit die unverhältnismäßig hohe Summe von fast vier Millionen Euro. In Deutschland sind sogenannte ungedeckte CDS seit 2010 verboten, auf EU-Ebene ist der Handel mit ihnen seit 2012 nicht mehr erlaubt. Investoren sollen sich nur noch Schutz über CDS kaufen können, wenn sie auch die entsprechenden Staatsanleihen halten. Deflation Prozess stetiger Preissenkungen in der Volkswirtschaft, d.h., Waren und Dienstleitungen werden fortwährend billiger. Deflation liegt vor, wenn der gesamtwirtschaftlichen Gütermenge eine zu geringe Geldmenge gegenübersteht, die Gesamtnachfrage also geringer ist als das volkswirtschaftliche Gesamtangebot. Die Deflation entsteht z.B. als Folge einer übermäßigen Verringerung der Geldmenge durch einschränkende, geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank, durch hohe Einfuhrüberschüsse, die mit dem Abfluss von Geldmitteln in das Ausland verbunden sind, oder durch die Überproduktion von Gütern. Die Folge ständiger Preissenkungen sind geringere Gewinnerwartungen der Unternehmen, deren Investitionsbereitschaft nachlässt und die Senkung der Güterproduktion z.B. durch Betriebseinschränkungen wie Kurzarbeit oder durch die Schließung ganzer Standorte bewirkt. Die Arbeitslosigkeit steigt und führt zu Einkommensverlusten, die Nachfrage nach Konsumgütern schrumpft und die Steuereinnahmen des Staates sinken. Die gesamte Wirtschaftsleistung verringert sich zunehmend. Eine Deflation tritt meist zusammen mit einer wirtschaftlichen Depression auf und verlangt somit grundsätzlich wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen, d.h. Maßnahmen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Deflationäre Tendenzen sind viel seltener als inflationäre Tendenzen. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. EU-Konvergenzkriterien, Maastricht-Kriterien Die Konvergenzkriterien sollen gewährleisten, dass die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der EU, noch stärker jedoch innerhalb der Eurozone, ohne Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten verläuft. Damit eine Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse stattfindet, sollen alle Mitgliedsländer vier Kriterien erfüllen: Die jährliche Neuverschuldung eines Staates darf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten, der Stand aller Schulden der öffentlichen Hand darf nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen.Der Grad an Preisstabilität muss anhaltend hoch sein, und die durchschnittliche Inflationsrate darf nicht um mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate der drei Mitgliedstaaten mit der höchsten Preisstabilität liegen.Langfristige Zinssätze: Der Nominalzins langfristiger Staatsanleihen eines Mitgliedstaates darf den der drei Mitgliedstaaten mit der höchsten Preisstabilität um nicht mehr als zwei Prozentpunkte übertreffen.Der Wechselkurs der eigenen Landeswährung darf zumindest in den letzten zwei Jahren vor der für den Beitritt nötigen Prüfung keine starken Schwankungen aufweisen. Die Kriterien wurden 1992 durch den Vertrag von Maastricht festgelegt. Die meisten befinden sich heute in Art. 126 und Art. 140 Interner Link: AEUV. Ob die Konvergenzkriterien tatsächlich zu homogeneren Lebensverhältnissen in der EU führen, ist umstritten. Im Rahmen der Staatsschuldenkrise wurden die Konvergenzkriterien gleich von mehreren Staaten der EU und der Eurozone über einen längeren Zeitraum nicht eingehalten, unter ihnen auch Deutschland. Eurobonds Europäische Staatsanleihen, bei denen die Staaten der Eurozone gemeinsam Geld an internationalen Finanzmärkten aufnehmen und für diese Schulden gemeinschaftlich für Zinsen und Rückzahlung haften würden. Hoch verschuldete Eurostaaten wie Griechenland oder Italien könnten durch die gemeinsame Ausgabe von Eurobonds aller Eurostaaten Geld am Finanzmarkt zu erheblich günstigeren Konditionen erhalten als durch die Ausgabe eigener Staatsanleihen, da sie für eigene Staatsanleihen aufgrund ihrer Bonität wesentlich höhere Zinsen zahlen müssten. Umgekehrt müssten relativ stabile Euroländer wie Deutschland höhere Zinsen zahlen als bei der Ausgabe eigener, deutscher Staatsanleihen. Aus diesem Grund ist die Einführung von Eurobonds zur Bewältigung der Interner Link: Europäischen Schuldenkrise umstritten. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Euro-Rettungsschirm, EFSF, ESM, Europäischer Stabilitätsmechanismus 2011 durch die Regierungschefs der Eurozone beschlossener und am 27.9. 2012 in Kaft getretener dauerhafter Rettungsschirm zur Verhinderung von Staatsbankrotten überschuldeter Euro-Mitgliedsländer. Der ESM sollte ursprünglich erst ab 2013 dem provisorischen Rettungsschirm, der Europäischen Finanzstabilisierungsfaszilität (Abkürzung EFSF) folgen, der angesichts der Staatsschuldenkrise einiger Eurostaaten wie Griechenland im Mai 2010 beschlossen worden war. Der ESM soll die Zahlungsunfähigkeit von Euroländern aufgrund übermäßiger Staatsschulden verhindern. Dazu können überschuldete Eurostaaten Kredite mit günstigen Konditionen aus dem ESM erhalten, um einen Staatsbankrott abzuwenden. Um Haftungsgarantien oder subventionierte Kredite zu erhalten, müssen die Empfängerstaaten der Eurozone aber entsprechende Maßnahmen zur Entschuldung und Sanierung ihrer Staatshaushalte im eigenen Land vorlegen und umsetzen. Der ESM ist eine internationale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg. Er verfügt über Stammkapital von 700 Milliarden €; der Anteil Deutschlands beträgt 190 Milliarden €. Der ESM soll vom Gesamtvolumen bis zu 500 Milliarden € durch Ausgabe eigener Anleihen am Kapitalmarkt ausgeben können und auch Staatsanleihen von Euroländern aufkaufen können. Er ergänzt den Interner Link: Fiskalpakt und ist ein wesentliches Element zur Bekämpfung der Interner Link: europäischen Schuldenkrise. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. EZB Die Zentralbank der an der Europäischen Währungsunion teilnehmenden Staaten. Die EZB bildet zusammen mit den nationalen Zentralbanken das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) und nahm am 1.6. 1998 ihre Arbeit auf (Sitz: Frankfurt am Main). Sie ging aus dem Europäischen Währungsinstitut hervor, das bis dahin die Vorarbeiten für die einheitliche europäische Geldpolitik koordinierte. Das vorrangige Ziel des ESZB ist nach dem Maastrichter Vertrag, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft. Die Verantwortung für die Interner Link: Geldpolitik liegt nunmehr bei der EZB und nicht mehr bei den nationalen Zentralbanken. Die EZB ist von den Organen der EU und den nationalen Regierungen unabhängig und hat das alleinige Recht, Banknoten auszugeben. Die EZB spielt eine wesentliche Rolle bei der Bewältigung der europäischen Schuldenkrise. Zentrales Entscheidungsorgan des Europäischen Zentralbanksystems ist der EZB-Rat. Er tagt alle vierzehn Tage. Das Direktorium besteht aus dem Präsidenten und Vizepräsidenten der EZB sowie weiteren vier Direktoriumsmitgliedern, führt die laufenden Geschäfte und bereitet die Sitzungen des EZB-Rats vor. Der EZB-Rat setzt sich zusammen aus den sechs Direktoriumsmitgliedern und den Zentralbankpräsidenten der EU-Staaten, die an der Europäischen Währungsunion (EWU) teilnehmen. Zum erweiterten Rat der EZB gehören auch die Zentralbankpräsidenten der zunächst nicht an der EWU teilnehmenden EU-Mitglieder. Anschrift: Postfach 160319, 60066 Frankfurt am Main; Telefon: 069 13446000; Externer Link: www.ecb.int. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Finanztransaktionssteuer Um den Finanzsektor an den Kosten der Finanzkrise zu beteiligen, wird neben der Interner Link: Bankenabgabe auch eine Finanztransaktionssteuer diskutiert. Einer ihrer historischen Vorläufer ist die sogenannte Tobin-Steuer nach James Tobin, die jedoch nie umgesetzt wurde. Der Wirtschaftsnobelpreisträger hatte1972 eine Steuer auf internationale Devisengeschäfte vorgeschlagen, um kurzfristige Spekulationen einzudämmen. Diese würde auf alle Börsenumsätze anfallen – und die Banken damit nicht direkt belasten. Im September 2011 legte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer vor. Ihre Begründung: Der Finanzsektor würde kaum besteuert, sei aber im Zuge der Finanzkrise 2007/08 mit insgesamt 4.600 Milliarden Euro an staatlichen Hilfen unterstützt worden. 2013 legte die Kommission einen Richtlinienentwurf vor, nach dem in den teilnehmenden Staaten ansässige Institute und dort emittierte Finanzinstrumente der Steuer unterliegen. Aktien und Anleihen sollen demnach mit 0,1 Prozent des Handelsvolumens, Derivate mit 0,01 Prozent des Nennwertes besteuert werden. Elf EU-Staaten haben eine Finanztransaktionssteuer nach diesem Muster eingeführt oder planen dies noch. Fiskalpakt Das Maßnahmenpaket, das von den Staats- und Regierungschefs der EU im Januar 2012 zur Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten beschlossen wurde, um das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte im Zusammenhang mit der Interner Link: europäischen Schuldenkrise wieder herzustellen. Zum Inhalt des Europäischen Fiskalpakts, der im Januar 2013 in Kraft tritt, gehört, dass die EU-Staaten möglichst ausgeglichene Staatshaushalte anstreben. So darf das jährliche Defizit höchstens 0,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Daneben müssen die einzelnen Staaten Schuldenbremsen einführen und diese bis 2018 in nationales Recht umsetzen. Werden die Defizitgrenzen überschritten, kann die EU-Kommission automatisch Sanktionen gegen das entsprechende Land verhängen und Geldstrafen bis zu 0,1% der Wirtschaftsleistung festlegen, die in den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM eingezahlt werden. Der Fiskalpakt stellt eine Verschärfung des Interner Link: Stabilitäts- und Wachstumspakts auf dem Weg zu einer Fiskalunion dar. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. GIPS Abkürzung für die Krisenstaaten Griechenland, Irland (wahlweise Italien), Portugal und Spanien. Ursprünglich in anderer Reihenfolge auch PIGS genannt. Gläubiger Jemand, der berechtigt ist, von einem andern (dem Schuldner) eine Leistung zu fordern. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Haircut (engl., Haarschnitt, Synonym für Schuldenschnitt) Steht in der Börsensprache allgemein für einen Abschlag, auch Schuldenschnitt genannt. Bei Anleihen oder Krediten bezeichnet der Schuldenschnitt eine nachträgliche Verringerung des ursprünglich vereinbarten Rückzahlungsbetrags. Beispiel: Wenn Gläubiger und Schuldner einen Haircut in Höhe von 20 Prozent vereinbaren, würden Gläubiger bei einer Anleihe im Wert von 100 Euro nur 80 Euro zurückerhalten. Ende des Jahres 2011 beliefen sich Griechenlands Schulden auf eine Höhe von 375 Milliarden Euro. Dies entsprach 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, erlaubt sind laut Interner Link: EU-Konvergenzkriterien aber nur 60 Prozent. Da Griechenland die Schulden nicht mehr bedienen konnte, wurde eine Neubewertung der Staatsanleihen des Landes mit privaten Gläubigern – also Banken, Versicherern und Fonds – vereinbart. Die griechische Schuldenlast sollte dadurch um 107 Milliarden Euro sinken, die Gläubiger mussten auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen verzichten. Tatsächlich waren es sogar noch mehr, da in Folge des Haircut die Zinssätze auf die Staatsanleihen sanken. Auch der größte deutsche Gläubiger stimmte dem Schuldenschnitt zu. Die aus der verstaatlichten Hypo Real Estate hervorgegangene Interner Link: Bad Bank FMS Wertmanagement war am Schuldenschnitt über Anleihen und Kredite mit einem Nominalwert von rund 8,2 Milliarden Euro beteiligt. Für die Verluste, die der FMS so entstanden, musste der staatliche Bankenrettungsfonds SoFFin aufkommen – also letztlich der deutsche Steuerzahler. Inflation Anhaltender Prozess der Geldentwertung, der sich durch allgemeine Preiserhöhungen bemerkbar macht. Mit einer Geldeinheit kann dann ständig weniger gekauft werden, d.h., die Interner Link: Kaufkraft des Geldes vermindert sich dauernd. Nicht als Inflation gelten einmalige, vorübergehende, durch ungewöhnliche Vorkommnisse (z.B. Missernten, Streiks) verursachte Preisniveauerhöhungen sowie Preissteigerungen für bestimmte Güter oder Produktionsfaktoren. Die Inflation wird gemessen am Anstieg eines das allgemeine Preisniveau am besten widerspiegelnden Interner Link: Preisindexes wie z.B. des Verbraucherpreisindexes für Deutschland. Der prozentuale Anstieg des Preisindexes in einem bestimmten Zeitraum wird als Interner Link: Inflationsrate bezeichnet. Beim Entstehen einer Inflation spielt besonders die Geldmenge in der Volkswirtschaft eine große Rolle. Steht der gesamtwirtschaftlichen Gütermenge eine zu große Geldmenge gegenüber (Aufblähung der Geldmenge), ist eine Bedingung für die Inflation gegeben. Übersteigt die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage das gesamtwirtschaftliche Güterangebot, das kurzfristig nicht erhöht werden kann, sind steigende Preise die Folge, die Inflation setzt ein. Die Preissteigerungen lösen steigende Löhne aus, wegen des höheren Einkommens steigt die Nachfrage nach Gütern an. Die höheren Löhne bewirken jedoch auch steigende Kosten der Unternehmen, was wiederum zu Preissteigerungen für Güter führt. Außerdem wird der Preisauftrieb durch die gestiegene Nachfrage zusätzlich verstärkt. Als Folge steigen die Löhne und anschließend wiederum die Preise. Es entsteht eine Interner Link: Lohn-Preis-Spirale. Da in einer solchen Situation in der Bevölkerung die Angst vor weiteren Preissteigerungen und dem Verlust der gesparten Gelder ständig wächst, geben viele ihr Geld möglichst schnell für den Kauf von Gütern aus oder legen Geld zur Werterhaltung in Sachwerten an (Flucht in die Sachwerte), bevor neue Preiserhöhungen zu weiteren Kaufkraftverlusten führen. Eine Inflation kann sich deshalb dauernd selbst verstärken. Nach der Geschwindigkeit des Prozesses der Geldentwertung (Inflationstempo) unterscheidet man zwischen Interner Link: schleichender Inflation, Interner Link: trabender Inflation, Interner Link: galoppierender Inflation und Interner Link: Hyperinflation (siehe dort). Nach der Erkennbarkeit wird zwischen Interner Link: offener Inflation und versteckter oder Interner Link: zurückgestauter Inflation unterschieden, nach dem Auslöser für die Preissteigerungen Interner Link: angebotsbedingte Inflation und Interner Link: nachfragebedingte Inflation. Eine Inflation führt zur Entwertung von Ersparnissen mit der Folge, dass die Sparneigung in der Bevölkerung zurückgeht oder gespartes Geld in Sachwerten angelegt wird. Das schränkt die Möglichkeiten der Banken ein, Kredite an Unternehmen zur Finanzierung von Investitionen zu vergeben. Produktionseinschränkungen und Arbeitslosigkeit sind die Folge. Von einer Inflation sind besonders solche Personen betroffen, die ihr Einkommen nicht an die steigenden Preise anpassen können, z.B. Arbeitslose oder Rentner. Die Verhinderung einer Inflation ist ein wichtiges Ziel der Wirtschaftspolitik. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. IWF Sonderorganisation der UNO, am 27. Dezember 1945 auf der Grundlage des Abkommens von Bretton Woods zusammen mit der Weltbank errichtet (Aufnahme der Geschäftstätigkeit: 1. März 1947); Sitz: Washington (USA). Dem IWF, englische Bezeichnung International Monetary Fund, gehören 187 Länder an. Ziele: Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Währungspolitik, Unterstützung eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums sowie eines hohen Beschäftigungsgrades, Förderung der Stabilität der Währungen durch Sicherung geordneter Währungsbeziehungen, Errichtung eines multilateralen Zahlungssystems und Beseitigung von Beschränkungen im Devisenverkehr, Kreditgewährung an Mitgliedsländer zur Erleichterung von Zahlungsbilanzanpassungen. Diese kurzfristigen Kredite werden häufig an Auflagen zur Sanierung der Wirtschaft des Empfängerlandes geknüpft. Kredite finanziert der IWF aus den Kapitaleinlagen der Mitgliedsländer. Diese Quote und die Stimmrechte richten sich nach der Finanzkraft der Länder. Daher haben die Industrieländer in den IWF-Gremien meist die Mehrheit. Wichtige Beschlüsse bedürfen einer Mehrheit von 85 Prozent. Die Stimmrechtsanteile der USA betragen (2010) 16,75 Prozent, Japans 6,23 Prozent, Deutschlands 5,81 Prozent, Frankreichs und Großbritanniens je 4,29 Prozent. Seit der Gründung gilt die Regel, dass die USA das Vorschlagsrecht für den Präsidenten der Weltbank haben und die Westeuropäer den Generaldirektor des IWF nominieren. Eine Wahl gegen den Willen der USA ist wegen deren Sperrminorität unmöglich. Das IWF-Abkommen, das auf der Reservewährung US-Dollar, auf Gold sowie auf festen Wechselkursen basierte, wurde zweimal wesentlich geändert: 1969 wurde mit den Sonderziehungsrechten eine neue künstliche Reservewährung geschaffen, die als Zahlungsmittel zwischen den Währungsbehörden dient. Seit 1978 ist den Mitgliedstaaten die Wahl ihres Wechselkurssystems freigestellt. Im Zuge der Bekämpfung der Ende 2007 ausgebrochenen internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird eine Erweiterung der IWF-Aufgaben bei der Überwachung der internationalen Finanzmärkte diskutiert. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Leerverkäufe Verkauf von Wertpapieren an der Börse, die der Verkäufer zum Zeitpunkt des Abschlusses noch nicht besitzt. Der Leerverkäufer spekuliert darauf, dass die Kurse bis zum Erfüllungstermin sinken und er sich dann billiger mit den entsprechenden Wertpapieren eindecken kann. Die Differenz zwischen Verkaufs- und Einkaufskurs ist sein Gewinn bzw. Verlust. Leerverkäufe gelten als hochspekulativ. In Deutschland sind Aktien-Leerverkäufe ohne Besitz der Basis-Wertpapiere seit 2010 untersagt. Auch ungedeckte Leerverkäufe von Staatsanleihen von Ländern der Eurozone sowie Kreditausfallversicherungen (Interner Link: CDS) auf diese Bonds sind verboten. Seit November 2012 ist auch eine entsprechende EU-Richtlinie in Kraft. Outright Monetary Transactions (OMT, engl., etwa "eindeutige geldpolitische Geschäfte") Anleihekaufprogramm der EZB: Das im September 2012 beschlossene Programm macht unbegrenzte Anleihekäufe am Sekundärmarkt möglich, wenn die begünstigten Staaten sich an bestimmte Auflagen halten. Die Anleihekäufe dürfen nur am sogenannten Sekundärmarkt getätigt werden. Die EZB kauft sie also nicht direkt bei den Staaten, sondern von privaten Marktteilnehmern. Damit nimmt die EZB vor allem Banken einen Teil ihrer Risiken ab. Das OMT-Programm hat zum Ziel, bis Ende September 2016 Staatsanleihen aller Euro-Staaten im Wert von bis zu einer Billion anzukaufen. Durch ein Vorläuferprogramm zum Kauf von Staatsanleihen war die EZB schon vor Start des Programms in den Besitz griechischer, portugiesischer, irischer, italienischer und spanischer Staatsanleihen im Wert von etwa 149 Milliarden Euro gelangt. Bereits am 26. Juli 2012 hatte EZB-Präsident Mario Draghi angekündigt, die EZB werde "innerhalb ihres Mandates alles Erforderliche tun, um den Euro zu erhalten". Infolge des OMT sanken die Zinsen für die meisten Staatsanleihen von Krisenstaaten. Für diese Länder wurde es so günstiger, ihre Staatsausgaben zu finanzieren. Das OMT-Programm war Gegenstand mehrerer Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Von Oktober 2014 bis Juni 2015 wurde beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt, ob die EZB mit dem Anleihekaufprogramm gegen EU-Recht verstößt. Kernfrage war die Vereinbarkeit des OMT mit den Statuten der Europäischen Zentralbank, die eine direkte Staatsfinanzierung verbieten. Am 16. Juni 2015 entschied der EuGH, dass die EZB mit dem OMT nicht ihre währungspolitischen Befugnisse überschreitet und nicht gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten verstößt und das Anleihekaufprogramm entsprechend fortführen darf. (Interner Link: Bail Out). PI(I)GS Mit der Abkürzung wurden die Krisenländer Portugal, Italien (Irland), Griechenland und Spanien auf dem Höhepunkt der Krise von einigen Medien zusammengefasst, womit Assoziationen zu dem englischen Wort "pigs" ("Schweine") geweckt wurden. Das politisch korrektere Interner Link: GIPS hat sich inzwischen durchgesetzt. Rating Aussage über die Fähigkeit (Bonität) eines Schuldners (Emittenten), die Zins- und Tilgungsleistungen auf die von ihm emittierten Wertpapiere jederzeit fristgerecht und in vollem Umfang zu leisten. Ratings werden von privaten, unabhängigen Ratingagenturen wie Moody's, Standard& Poor's (S&P) oder Fitch, die gewerbsmäßig Schuldnerbonität und Kreditausfallrisiken bewerten, nach bestimmten Prüfkriterien vergeben und basieren meist auf einem abgestuften Buchstabensystem. Für den Kapitalanleger eröffnet das Rating somit die Möglichkeit, eine möglichst hohe Markttransparenz hinsichtlich der Bonität der auf den Märkten befindlichen Anleihen vorzunehmen. Im weiteren Sinn zählt zum Rating auch die Bonitätsbeurteilung von meist multinationalen Unternehmen, international tätigen Banken oder Staaten (Länderrating). Ratingagenturen sind im Zusammenhang mit der Interner Link: europäischen Schuldenkrise wegen umstrittener Länderbewertungen in die Kritik geraten. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Rezession (von lat. rezessio, das Zurückgehen) Konjunkturphase mit einem Abschwung der Wirtschaft. Nach gängiger Definition liegt eine Rezession vor, wenn die Wirtschaftsleistung eines Landes in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen im Vergleich zum Vorquartal nicht wächst oder sogar schrumpft. Dauert eine Rezession länger und wird sie etwa von hoher Arbeitslosigkeit begleitet, befindet sich die Volkswirtschaft in einer Depression. Schuldenschnitt Interner Link: Haircut Spread (engl., Spanne) Auf Staatsanleihen bezogen der Unterschied zwischen dem Zinssatz einer riskanten und dem einer weitgehend risikoarmen Anleihe mit gleicher Laufzeit. In Europa ist es üblich, die als solide geltenden deutschen Staatsanleihen als Basis zu nehmen. Im Vergleich dazu sind die Zinsen griechischer oder spanischer Staatsanleihen in der Regel hoch. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise lag die Rendite für zehnjährige griechische Staatsanleihen bei über 30 Prozent, die für gleich lang laufende deutsche Papiere betrug etwa zwei Prozent, der Spread lag also bei 28 Prozent. Der Spread ist folglich eine Art Risikoaufschlag für Investoren. Staatsinsolvenz (Staatsbankrott) Eine Staatsinsolvenz liegt vor, wenn ein Land seine Außenstände nicht oder nur noch teilweise wie vereinbart abbauen kann. Wenn ein Staat eine eigene Währung hat, kann er über seine Zentralbank unbegrenzt Geld in Umlauf bringen, um seine Schulden zu bezahlen, das heißt: Für viele Länder ist ein Staatsbankrott eigentlich unmöglich. Dennoch gab es seit Beginn des 19. Jahrhunderts weltweit über 200 Staatsinsolvenzen. Denn ein Staat kommt dennoch in Turbulenzen, wenn das Geld in den Augen der mit ihm Handelnden rapide an Wert verliert. Deshalb ging Deutschland in den 1920er Jahren im Lauf der Hyperinflation bankrott: Das massenweise nachgedruckte Geld genoss unter den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch an den Devisenmärkten keinerlei Vertrauen mehr und war deshalb wertlos. Die Mitgliedsländer der Eurozone können ihre Landeswährung nicht nachdrucken, weil sie die Hoheit über die Währungspolitik an die Interner Link: Europäische Zentralbank abgegeben haben. Um die Risiken einer Anlage und damit eines etwaigen Zahlungsausfalls durch einen bevorstehenden Staatsbankrott einzuschätzen, vertrauen Kapitalgeber heute weltweit auf die Einschätzung von Interner Link: Ratings durch Agenturen. Swapgeschäft Besondere Form des Devisenaustauschgeschäfts, bei dem ein Partner einem anderen sofort Devisen zur Verfügung stellt (Kassageschäft) und gleichzeitig der Rückkauf zu festem Termin und Kurs vereinbart wird (Termingeschäft). Der gegenseitige Austausch zweier Währungen für einen bestimmten Zeitraum wird durch das Swapgeschäft vor Verlusten geschützt, die etwa durch Kursschwankungen oder Ab- bzw. Aufwertungen eintreten könnten. Da zu einem bestimmten Zeitpunkt die Kurse für zukünftig, z.B. in drei Monaten, zur Verfügung stehende Devisen (Terminkurse) in der Regel vom Tageskurs abweichen, hat der Kursunterschied einen großen Einfluss auf die Devisengeschäfte. Wenn ein Kunde einen bestimmten Betrag in Fremdwährung anlegen möchte, ohne ein Währungsrisiko einzugehen, kauft er die Devisen bei seiner Bank zunächst an der Kasse. Zugleich verkauft er die Devisen seiner Bank jedoch wieder, und zwar zum Fälligkeitstag der Währungsanlage mit dem Ziel, Kursschwankungen kalkulierbar zu machen. Der Swapsatz ist die Differenz zwischen dem Termin- und Kassakurs einer Währung. Währungen mit positiver Differenz (Terminkurs minus Kassakurs) weisen einen Report, solche mit negativer Differenz einen Deport auf. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Troika (russ., Dreigespann) In der Europäischen Schuldenkrise Bezeichnung für das Kontrollgremium aus Vertretern des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission. Das Gremium überprüft, ob im Gegenzug für die gewährten Hilfen der drei Geldgeber Reformprogramme in bedürftigen Empfängerländern umgesetzt werden. Im Zuge von Verhandlungen zwischen dem Empfängerland Griechenland und den Finanzministern der Euro-Gruppe im Februar 2015 über eine Verlängerung der EU-Hilfsprogramme wurde beschlossen, die Bezeichnung nicht mehr zu verwenden. Umschuldung Interner Link: Haircut Zahlungsbilanz Nach den Grundsätzen der doppelten Buchführung erfolgende Darstellung sämtlicher das Ausland berührender Wirtschaftsaktivitäten eines Landes. In der Zahlungsbilanz werden systematisch alle ökonomischen Transaktionen zwischen Inländern und Ausländern in einem bestimmten Zeitraum aufgezeichnet. Mit ihrer Hilfe lässt sich ein Überblick über die Leistungen und Zahlungen während eines Monats oder Jahres gewinnen. Transaktionen oder Leistungen, die zu Zahlungseingängen (Einnahmen) im Inland führen, werden auf der Habenseite, Transaktionen oder Leistungen, die zu Zahlungsausgängen (Ausnahmen) führen, werden auf der Sollseite gebucht. Die Zahlungsbilanz stellt eine wichtige Unterlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen der Regierungen und der Zentralbanken dar. Ferner dient sie als Konjunkturindikator. Die Zahlungsbilanz besteht aus verschiedenen Teilbilanzen. Die Aktivseite (linke Seite) der Zahlungsbilanz setzt sich aus Leistungsbilanz und der Bilanz der Vermögensübertragungen zusammen. Die Leistungsbilanz beinhaltet den Warenaustausch (Export und Import), die Lohnveredelung, bestimmte Reparaturen sowie die Lieferungen von Schiffs- und Flugzeugteilen. Die Gegenüberstellung der Einfuhren und Ausfuhren wird auch als Handelsbilanz bezeichnet. In der Dienstleistungsbilanz werden z.B. Auslandsreiseverkehr, Transport- und Telekommunikationsleistungen, die Wertschöpfung der Versicherungen sowie der Transithandel erfasst. In der Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkommen finden sich die Arbeitseinkommen und Kapitalerträge, die Inländern aus dem Ausland zufließen bzw. Ausländer aus dem Inland beziehen. Laufende Übertragungen sind Geld- und Sachleistungen an das Ausland bzw. vom Ausland, denen keine unmittelbaren Gegenleistungen gegenüberstehen. Des Weiteren werden auch Heimatüberweisungen ausländischer Arbeitnehmer sowie Zahlungen an internationale Organisationen wie z.B. an die EU und die UNO in der Übertragungsbilanz erfasst. Einmalige Transfers (Übertragungen) wie Schuldenerlasse, Erbschaften und Schenkungen sowie Vermögensmitnahmen von Ein- und Auswanderern werden in der Bilanz der Vermögensübertragung ausgewiesen. Die Passivseite (rechte Seite) der Zahlungsbilanz setzt sich aus der Kapitalbilanz, einschließlich der Devisenbilanz, zusammen. Deswegen werden Einnahmen (Kapitalimporte) auf der rechten Seite und die Ausgaben (Kapitalexporte) auf der linken Seite gebucht. Zu den Ausgaben rechnen zunächst die kurzfristigen Zahlungen an das Ausland, Schecks, Wechsel und Zahlungsanweisungen.Zu den Einnahmen gehören die kurzfristigen Zahlungen aus dem Ausland und die Forderungen gegenüber dem Ausland. Außerdem zählen zu den Einnahmen de Zunahme an Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland. Die Direktinvestitionen umfassen z.B. Beteiligungen (Aktien und andere Kapitalanteile) und langfristige Darlehen. Unter der Kategorie Wertpapiere werden Aktien bzw. Wertpapieranlagen (Investment- und Geldmarktfonds) eingeordnet. Der Kreditverkehr enthält kurz- und langfristige Finanzbeziehungen inländischer Unternehmen und Privatpersonen zum Ausland. In der Devisenbilanz als Teil der Kapitalbilanz schlagen sich die Veränderungen der Währungsreserven bei der Zentralbank nieder. Die Zahlungsbilanz wird durch einen statistisch nicht aufgliederbaren Teil buchungstechnisch ausgeglichen. Wenn man von Zahlungsbilanzungleichgewichten (Überschuss und Defizit) im Sinne einer Verletzung des Ziels Interner Link: außenwirtschaftlichen Gleichgewichts spricht, meint man immer unausgeglichene Teilbilanzen. Ein Zahlungsbilanzüberschuss kann auftreten, wenn die Exporte wertmäßig größer als die Importe sind. Ein Zahlungsbilanzdefizit tritt auf, wenn die Exporte wertmäßig geringer als die Importe sind. Aber auch zu hohe unentgeltliche Leistungen an das Ausland, z.B. durch Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern oder Zahlungen an internationale Organisationen, können dazu führen. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist eine wichtige Rechtsgrundlage der Interner Link: Europäischen Union. Basis des AEUV sind die Römischen Verträge von 1957. Geändert wurde er durch den Vertrag von Maastricht, den Vertrag von Nizza und den Vertrag von Lissabon. Seinen heutigen Namen erhielt der AEUV mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009. Der AEUV umfasst 358 Artikel und existiert in 23 gleichwertigen Sprachversionen. (Externer Link: http://www.aeuv.de) Der Bund, die Länder und bestimmte öffentliche Körperschaften, Sonderkreditinstitute sowie Aktiengesellschaften können zur Beschaffung von Finanzierungsmitteln Anleihen auf dem Kapitalmarkt auflegen, d.h. Interner Link: Schuldverschreibungen ausgeben und über Banken verkaufen. Jede Anleihe lautet über einen festen Gesamtbetrag, der in Teilbeträge in Euro unterteilt ist. Jeder Sparer kann einen Teil dieser Anleihe kaufen. Anleihen haben als Interner Link: festverzinsliche Wertpapiere eine bestimmte Verzinsung, eine bestimmte Laufzeit sowie eine vertraglich fixierte Tilgung. Es gibt auch variabel verzinsliche Anleihen (Floating-Rate-Notes).Die Rendite ist abhängig vom Zinssatz, vom Ausgabekurs und vom Rückzahlungskurs. Die Zinsen werden meist halbjährlich oder jährlich gezahlt. Anleihen werden am Rentenmarkt gehandelt; ihre Kurse schwanken deutlich geringer als Aktienkurse. Je nach Schuldner unterscheidet man öffentliche Anleihen, z.B. Interner Link: Bundesanleihen, Interner Link: Bundesobligationen, Anleihen der Länder oder Gemeinden (Kommunalobligationen), Industrieanleihen (Industrieobligationen) und Anleihen öffentlich-rechtlicher Kreditanstalten. Auch ausländische Emittenten können in Deutschland Anleihen auflegen (Auslandsanleihen). Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. ABS sind ein Instrument für die Finanzierung von Unternehmen. ABS sind über Vermögenswerte, also zum Beispiel über Hypotheken- oder Automobilkredite abgesicherte verbriefte Interner Link: Anleihen. Um das Risiko einer dieser Anleihen zu verringern, werden darin mehrere dieser Papiere gebündelt. In der Finanzkrise 2007/2008 erwiesen sich ABS als "Brandbeschleuniger", da die Risiken durch die Bündelung nicht nur breiter gestreut, sondern auch verschleiert worden waren. Beim Platzen der US-Kreditblase verloren viele ABS unerwartet stark an Wert. Die US-amerikanische Notenbank Fed kaufte diese im großen Stil auf, um die Banken zu entlasten. In Europa sind ABS weniger verbreitet. Trotzdem kauft die Interner Link: Europäische Zentralbank sie seit Oktober 2014 genauso wie sogenannte Interner Link: Covered Bonds an. Damit sollen in den Bankbilanzen Risiken minimiert, Platz für die Vergabe neuer Kredite an Unternehmen geschaffen und so letztlich das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden. Wurde erstmals im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien angewandt und bezeichnet die strikte Ausgabendisziplin eines Staates, um in Krisenzeiten die Handlungsfähigkeit des Staatswesens zu erhalten. Die Reduzierung staatlicher Ausgaben auf das Notwendige soll einen schlanken und ausgeglichenen Etat herbeiführen und die gesamtwirtschaftliche Situation verbessern. Befürworter betonen, dass striktes Sparen und eine rigide nachhaltige Haushaltspolitik das Vertrauen von Investoren in die Solidität eines Staates stärkt und so tendenziell zu sinkenden Zinsen führt. Das erleichtere wiederum den Abbau von Schulden. Kritiker der Austeritätspolitik bestreiten den Zinseffekt: Sie betonen, dass Personalabbau, Einschnitte in den Sozialhaushalten und eine geringe Investitionstätigkeit des Staates gerade in Krisenzeiten die Wirtschaft bremsen. Ein Institut, das aus einer angeschlagenen Bank geschaffen wird, um deren Risiken aufzunehmen. Die Bad Bank wird zur Abwicklung nicht oder nur schwer einlösbarer Forderungen gegründet, die bei Nichtzahlung die Bonität des betroffenen Geldinstituts gefährden könnten. Nach dem deutschen Externer Link: Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung kann das angeschlagene Geldinstitut unter bestimmten Auflagen abschreibungsgefährdete (auch "faul" oder "toxisch" genannte) Posten auf die Bad Bank übertragen. Im Gegenzug erhält die Bank von der Bad Bank eine Schuldverschreibung in gleicher Höhe. In Deutschland garantiert der Staat über den Bankenrettungsfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) für diese Schuldverschreibung, die Bank zahlt dafür eine Gebühr an den SoFFin. Beispiele: Die Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung gründete 2009 die Erste Abwicklungsanstalt (EAA), um die riskanten Papiere der angeschlagenen Landesbank WestLB zu übernehmen und bis 2028 abzuwickeln. 2010 übertrug die verstaatlichte Hypo Real Estate (HRE) Wertpapiere und Kredite im Wert von rund 173 Milliarden Euro in die neugegründete Bad Bank FMS Wertmanagement – davon entfielen etwa 7,4 Milliarden Euro auf griechische Staatsanleihen. Laut Maastricht-Vertrag (ursprünglich Artikel 104 b, im aktuellen Lissabon-Vertrag Artikel 125 Interner Link: AEUV) darf kein EU-Mitgliedsland zum Beistand für die Finanzierung der Staatsschuld eines anderen Mitgliedslandes verpflichtet werden (No-bail-out-Klausel). Kritiker halten die Rettungspakete sowie die Einrichtung der Euro-Rettungsschirme Interner Link: EFSF und ESM für einen Verstoß gegen das Bail-Out-Verbot. Befürworter des Bail Out verweisen hingegen auf Artikel 122 AEUV, der Hilfe für Krisenstaaten erlaubt "aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen". In der Finanzkrise ab 2007/08 wurde der Begriff Bail Out dafür benutzt, dass einzelne Staaten ihre Banken vor der Pleite bewahrten. Diese Geldinstitute galten als "systemrelevant": Man fürchtete, ihr Bankrott würde das ganze Finanzsystem und mit ihm die Wirtschaft in den Abgrund ziehen. Seit September 2011 müssen Banken in Deutschland eine Bankenabgabe zahlen, die sie an den Kosten künftiger Krisen beteiligen soll. Die Abgabe fließt in den Restrukturierungsfonds SoFFin (Interner Link: Bad Bank), der angeschlagenen Geldhäusern helfen soll, damit diese Banken in der Krise nicht auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden müssen. Die Bankenabgabe wird von der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) erhoben. Die Zielgröße für das Gesamtvolumen des Fonds beträgt 70 Milliarden Euro. Bezeichnung für den Plan, die Kontrolle und die Regulierung von Europas Banken zu vergemeinschaften. Ziel ist es, dass nicht die Steuerzahler, sondern die Gläubiger und Eigentümer von Geldinstituten haften, wenn letztere Beihilfen zum Überleben benötigen. Ab 4. November 2014 hat die Europäische Zentralbank die Aufsicht über die größten Banken im Euro-Gebiet übernommen. Dabei handelt es sich um 130 für die einzelnen Länder wichtige, sogenannte systemrelevante Institute, deren Bilanzsumme über 30 Milliarden Euro im Jahr oder 20 Prozent der Wirtschaftsleistung eines Landes ausmacht. Die zuständigen nationalen Behörden sollen weiterhin die Aufsicht über die übrigen insgesamt fast 6000 Banken im Euroraum ausüben. Dafür sollen 2016 die Einnahmen aus der Interner Link: Bankenabgabe aus den nationalen Töpfen in einen einheitlichen europäischen Abwicklungsfonds überführt werden. Eine gedeckte Schuldverschreibung bietet den Anlegern einen doppelten Ausfallschutz: Für Coverd Bonds haften zum einen die ausgebende Bank, zum anderen schützt die Gläubiger ein Bestand an Sicherheiten, auf den sie bevorrechtigt zugreifen können. Diese Sicherheiten bestehen häufig aus besonders sicheren Hypotheken oder Anleihen des öffentlichen Sektors. Damit unterscheiden sich Covered Bonds sowohl von vorrangigen, aber unbesicherten Schuldtiteln als auch von forderungsbesicherten Wertpapieren (Interner Link: ABS), die über keine Haftung durch die herausgebende Institution verfügen. Eine wichtige Form von Covered Bonds sind Pfandbriefe. Über Covered Bonds können sich Banken aktuell extrem günstig refinanzieren. Um die Kreditvergabe im Euroraum anzukurbeln, kauft die Interner Link: Europäische Zentralbank seit Oktober 2014 neben Covered Bonds auch Interner Link: ABS im großen Stil an. CDS sind eine bestimmte Art von Kreditausfallversicherung. Ein Kreditgeber schließt sie ab, indem er seiner Bank eine Prämie zahlt. Die Höhe der Prämie, auch Interner Link: Swap genannt, zeigt, wie die Investoren das Ausfallrisiko des Emittenten einschätzen. Der Interner Link: Swap ist damit ein Indiz für das Vertrauen der Anleger. Der Kreditausfallversicherer springt ein, wenn der Schuldner zahlungsunfähig wird. Der Kreditgeber minimiert so sein Risiko. Kann der Schuldner den Kredit wie vorgesehen tilgen, kassiert die Bank die Prämie und zahlt nichts. Anleger handeln außerbörslich mit CDS, selbst wenn diese mit dem ursprünglich versicherten Kredit nichts zu tun haben. So können sie beispielsweise darauf wetten, dass ein Kredit nicht bedient wird und damit den Schuldner in Bedrängnis bringen. In der Finanzkrise ab 2007 spielten die CDS eine wesentliche Rolle. Scheinbar minimierten sie das Spekulationsrisiko auf dem US-Immobilienmarkt. Die US-Bank Lehman Brothers war ein großer Anbieter des Versicherungsschutzes, dessen Marktwert im September 2008 auf ein Volumen von weltweit rund 62 Billionen US-Dollar angeschwollen war. Als Lehman am 15. September 2008 pleiteging, wurden die CDS-Policen der Investmentbank wertlos. Dies führte weltweit zu enormer Unsicherheit auf den Finanzmärkten. Kurze Zeit später musste der damals weltgrößte CDS-Versicherer AIG von der US-Regierung gerettet werden. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise setzten Investoren mit CDS auf eine Insolvenz Griechenlands. So kostete im September 2011 eine Versicherung über zehn Millionen Euro an griechischen Staatsanleihen mit fünfjähriger Laufzeit die unverhältnismäßig hohe Summe von fast vier Millionen Euro. In Deutschland sind sogenannte ungedeckte CDS seit 2010 verboten, auf EU-Ebene ist der Handel mit ihnen seit 2012 nicht mehr erlaubt. Investoren sollen sich nur noch Schutz über CDS kaufen können, wenn sie auch die entsprechenden Staatsanleihen halten. Prozess stetiger Preissenkungen in der Volkswirtschaft, d.h., Waren und Dienstleitungen werden fortwährend billiger. Deflation liegt vor, wenn der gesamtwirtschaftlichen Gütermenge eine zu geringe Geldmenge gegenübersteht, die Gesamtnachfrage also geringer ist als das volkswirtschaftliche Gesamtangebot. Die Deflation entsteht z.B. als Folge einer übermäßigen Verringerung der Geldmenge durch einschränkende, geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank, durch hohe Einfuhrüberschüsse, die mit dem Abfluss von Geldmitteln in das Ausland verbunden sind, oder durch die Überproduktion von Gütern. Die Folge ständiger Preissenkungen sind geringere Gewinnerwartungen der Unternehmen, deren Investitionsbereitschaft nachlässt und die Senkung der Güterproduktion z.B. durch Betriebseinschränkungen wie Kurzarbeit oder durch die Schließung ganzer Standorte bewirkt. Die Arbeitslosigkeit steigt und führt zu Einkommensverlusten, die Nachfrage nach Konsumgütern schrumpft und die Steuereinnahmen des Staates sinken. Die gesamte Wirtschaftsleistung verringert sich zunehmend. Eine Deflation tritt meist zusammen mit einer wirtschaftlichen Depression auf und verlangt somit grundsätzlich wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen, d.h. Maßnahmen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Deflationäre Tendenzen sind viel seltener als inflationäre Tendenzen. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Die Konvergenzkriterien sollen gewährleisten, dass die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der EU, noch stärker jedoch innerhalb der Eurozone, ohne Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten verläuft. Damit eine Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse stattfindet, sollen alle Mitgliedsländer vier Kriterien erfüllen: Die jährliche Neuverschuldung eines Staates darf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten, der Stand aller Schulden der öffentlichen Hand darf nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen.Der Grad an Preisstabilität muss anhaltend hoch sein, und die durchschnittliche Inflationsrate darf nicht um mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate der drei Mitgliedstaaten mit der höchsten Preisstabilität liegen.Langfristige Zinssätze: Der Nominalzins langfristiger Staatsanleihen eines Mitgliedstaates darf den der drei Mitgliedstaaten mit der höchsten Preisstabilität um nicht mehr als zwei Prozentpunkte übertreffen.Der Wechselkurs der eigenen Landeswährung darf zumindest in den letzten zwei Jahren vor der für den Beitritt nötigen Prüfung keine starken Schwankungen aufweisen. Die Kriterien wurden 1992 durch den Vertrag von Maastricht festgelegt. Die meisten befinden sich heute in Art. 126 und Art. 140 Interner Link: AEUV. Ob die Konvergenzkriterien tatsächlich zu homogeneren Lebensverhältnissen in der EU führen, ist umstritten. Im Rahmen der Staatsschuldenkrise wurden die Konvergenzkriterien gleich von mehreren Staaten der EU und der Eurozone über einen längeren Zeitraum nicht eingehalten, unter ihnen auch Deutschland. Europäische Staatsanleihen, bei denen die Staaten der Eurozone gemeinsam Geld an internationalen Finanzmärkten aufnehmen und für diese Schulden gemeinschaftlich für Zinsen und Rückzahlung haften würden. Hoch verschuldete Eurostaaten wie Griechenland oder Italien könnten durch die gemeinsame Ausgabe von Eurobonds aller Eurostaaten Geld am Finanzmarkt zu erheblich günstigeren Konditionen erhalten als durch die Ausgabe eigener Staatsanleihen, da sie für eigene Staatsanleihen aufgrund ihrer Bonität wesentlich höhere Zinsen zahlen müssten. Umgekehrt müssten relativ stabile Euroländer wie Deutschland höhere Zinsen zahlen als bei der Ausgabe eigener, deutscher Staatsanleihen. Aus diesem Grund ist die Einführung von Eurobonds zur Bewältigung der Interner Link: Europäischen Schuldenkrise umstritten. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. 2011 durch die Regierungschefs der Eurozone beschlossener und am 27.9. 2012 in Kaft getretener dauerhafter Rettungsschirm zur Verhinderung von Staatsbankrotten überschuldeter Euro-Mitgliedsländer. Der ESM sollte ursprünglich erst ab 2013 dem provisorischen Rettungsschirm, der Europäischen Finanzstabilisierungsfaszilität (Abkürzung EFSF) folgen, der angesichts der Staatsschuldenkrise einiger Eurostaaten wie Griechenland im Mai 2010 beschlossen worden war. Der ESM soll die Zahlungsunfähigkeit von Euroländern aufgrund übermäßiger Staatsschulden verhindern. Dazu können überschuldete Eurostaaten Kredite mit günstigen Konditionen aus dem ESM erhalten, um einen Staatsbankrott abzuwenden. Um Haftungsgarantien oder subventionierte Kredite zu erhalten, müssen die Empfängerstaaten der Eurozone aber entsprechende Maßnahmen zur Entschuldung und Sanierung ihrer Staatshaushalte im eigenen Land vorlegen und umsetzen. Der ESM ist eine internationale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg. Er verfügt über Stammkapital von 700 Milliarden €; der Anteil Deutschlands beträgt 190 Milliarden €. Der ESM soll vom Gesamtvolumen bis zu 500 Milliarden € durch Ausgabe eigener Anleihen am Kapitalmarkt ausgeben können und auch Staatsanleihen von Euroländern aufkaufen können. Er ergänzt den Interner Link: Fiskalpakt und ist ein wesentliches Element zur Bekämpfung der Interner Link: europäischen Schuldenkrise. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Die Zentralbank der an der Europäischen Währungsunion teilnehmenden Staaten. Die EZB bildet zusammen mit den nationalen Zentralbanken das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) und nahm am 1.6. 1998 ihre Arbeit auf (Sitz: Frankfurt am Main). Sie ging aus dem Europäischen Währungsinstitut hervor, das bis dahin die Vorarbeiten für die einheitliche europäische Geldpolitik koordinierte. Das vorrangige Ziel des ESZB ist nach dem Maastrichter Vertrag, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft. Die Verantwortung für die Interner Link: Geldpolitik liegt nunmehr bei der EZB und nicht mehr bei den nationalen Zentralbanken. Die EZB ist von den Organen der EU und den nationalen Regierungen unabhängig und hat das alleinige Recht, Banknoten auszugeben. Die EZB spielt eine wesentliche Rolle bei der Bewältigung der europäischen Schuldenkrise. Zentrales Entscheidungsorgan des Europäischen Zentralbanksystems ist der EZB-Rat. Er tagt alle vierzehn Tage. Das Direktorium besteht aus dem Präsidenten und Vizepräsidenten der EZB sowie weiteren vier Direktoriumsmitgliedern, führt die laufenden Geschäfte und bereitet die Sitzungen des EZB-Rats vor. Der EZB-Rat setzt sich zusammen aus den sechs Direktoriumsmitgliedern und den Zentralbankpräsidenten der EU-Staaten, die an der Europäischen Währungsunion (EWU) teilnehmen. Zum erweiterten Rat der EZB gehören auch die Zentralbankpräsidenten der zunächst nicht an der EWU teilnehmenden EU-Mitglieder. Anschrift: Postfach 160319, 60066 Frankfurt am Main; Telefon: 069 13446000; Externer Link: www.ecb.int. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Um den Finanzsektor an den Kosten der Finanzkrise zu beteiligen, wird neben der Interner Link: Bankenabgabe auch eine Finanztransaktionssteuer diskutiert. Einer ihrer historischen Vorläufer ist die sogenannte Tobin-Steuer nach James Tobin, die jedoch nie umgesetzt wurde. Der Wirtschaftsnobelpreisträger hatte1972 eine Steuer auf internationale Devisengeschäfte vorgeschlagen, um kurzfristige Spekulationen einzudämmen. Diese würde auf alle Börsenumsätze anfallen – und die Banken damit nicht direkt belasten. Im September 2011 legte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer vor. Ihre Begründung: Der Finanzsektor würde kaum besteuert, sei aber im Zuge der Finanzkrise 2007/08 mit insgesamt 4.600 Milliarden Euro an staatlichen Hilfen unterstützt worden. 2013 legte die Kommission einen Richtlinienentwurf vor, nach dem in den teilnehmenden Staaten ansässige Institute und dort emittierte Finanzinstrumente der Steuer unterliegen. Aktien und Anleihen sollen demnach mit 0,1 Prozent des Handelsvolumens, Derivate mit 0,01 Prozent des Nennwertes besteuert werden. Elf EU-Staaten haben eine Finanztransaktionssteuer nach diesem Muster eingeführt oder planen dies noch. Das Maßnahmenpaket, das von den Staats- und Regierungschefs der EU im Januar 2012 zur Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten beschlossen wurde, um das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte im Zusammenhang mit der Interner Link: europäischen Schuldenkrise wieder herzustellen. Zum Inhalt des Europäischen Fiskalpakts, der im Januar 2013 in Kraft tritt, gehört, dass die EU-Staaten möglichst ausgeglichene Staatshaushalte anstreben. So darf das jährliche Defizit höchstens 0,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Daneben müssen die einzelnen Staaten Schuldenbremsen einführen und diese bis 2018 in nationales Recht umsetzen. Werden die Defizitgrenzen überschritten, kann die EU-Kommission automatisch Sanktionen gegen das entsprechende Land verhängen und Geldstrafen bis zu 0,1% der Wirtschaftsleistung festlegen, die in den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM eingezahlt werden. Der Fiskalpakt stellt eine Verschärfung des Interner Link: Stabilitäts- und Wachstumspakts auf dem Weg zu einer Fiskalunion dar. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Abkürzung für die Krisenstaaten Griechenland, Irland (wahlweise Italien), Portugal und Spanien. Ursprünglich in anderer Reihenfolge auch PIGS genannt. Jemand, der berechtigt ist, von einem andern (dem Schuldner) eine Leistung zu fordern. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Steht in der Börsensprache allgemein für einen Abschlag, auch Schuldenschnitt genannt. Bei Anleihen oder Krediten bezeichnet der Schuldenschnitt eine nachträgliche Verringerung des ursprünglich vereinbarten Rückzahlungsbetrags. Beispiel: Wenn Gläubiger und Schuldner einen Haircut in Höhe von 20 Prozent vereinbaren, würden Gläubiger bei einer Anleihe im Wert von 100 Euro nur 80 Euro zurückerhalten. Ende des Jahres 2011 beliefen sich Griechenlands Schulden auf eine Höhe von 375 Milliarden Euro. Dies entsprach 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, erlaubt sind laut Interner Link: EU-Konvergenzkriterien aber nur 60 Prozent. Da Griechenland die Schulden nicht mehr bedienen konnte, wurde eine Neubewertung der Staatsanleihen des Landes mit privaten Gläubigern – also Banken, Versicherern und Fonds – vereinbart. Die griechische Schuldenlast sollte dadurch um 107 Milliarden Euro sinken, die Gläubiger mussten auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen verzichten. Tatsächlich waren es sogar noch mehr, da in Folge des Haircut die Zinssätze auf die Staatsanleihen sanken. Auch der größte deutsche Gläubiger stimmte dem Schuldenschnitt zu. Die aus der verstaatlichten Hypo Real Estate hervorgegangene Interner Link: Bad Bank FMS Wertmanagement war am Schuldenschnitt über Anleihen und Kredite mit einem Nominalwert von rund 8,2 Milliarden Euro beteiligt. Für die Verluste, die der FMS so entstanden, musste der staatliche Bankenrettungsfonds SoFFin aufkommen – also letztlich der deutsche Steuerzahler. Anhaltender Prozess der Geldentwertung, der sich durch allgemeine Preiserhöhungen bemerkbar macht. Mit einer Geldeinheit kann dann ständig weniger gekauft werden, d.h., die Interner Link: Kaufkraft des Geldes vermindert sich dauernd. Nicht als Inflation gelten einmalige, vorübergehende, durch ungewöhnliche Vorkommnisse (z.B. Missernten, Streiks) verursachte Preisniveauerhöhungen sowie Preissteigerungen für bestimmte Güter oder Produktionsfaktoren. Die Inflation wird gemessen am Anstieg eines das allgemeine Preisniveau am besten widerspiegelnden Interner Link: Preisindexes wie z.B. des Verbraucherpreisindexes für Deutschland. Der prozentuale Anstieg des Preisindexes in einem bestimmten Zeitraum wird als Interner Link: Inflationsrate bezeichnet. Beim Entstehen einer Inflation spielt besonders die Geldmenge in der Volkswirtschaft eine große Rolle. Steht der gesamtwirtschaftlichen Gütermenge eine zu große Geldmenge gegenüber (Aufblähung der Geldmenge), ist eine Bedingung für die Inflation gegeben. Übersteigt die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage das gesamtwirtschaftliche Güterangebot, das kurzfristig nicht erhöht werden kann, sind steigende Preise die Folge, die Inflation setzt ein. Die Preissteigerungen lösen steigende Löhne aus, wegen des höheren Einkommens steigt die Nachfrage nach Gütern an. Die höheren Löhne bewirken jedoch auch steigende Kosten der Unternehmen, was wiederum zu Preissteigerungen für Güter führt. Außerdem wird der Preisauftrieb durch die gestiegene Nachfrage zusätzlich verstärkt. Als Folge steigen die Löhne und anschließend wiederum die Preise. Es entsteht eine Interner Link: Lohn-Preis-Spirale. Da in einer solchen Situation in der Bevölkerung die Angst vor weiteren Preissteigerungen und dem Verlust der gesparten Gelder ständig wächst, geben viele ihr Geld möglichst schnell für den Kauf von Gütern aus oder legen Geld zur Werterhaltung in Sachwerten an (Flucht in die Sachwerte), bevor neue Preiserhöhungen zu weiteren Kaufkraftverlusten führen. Eine Inflation kann sich deshalb dauernd selbst verstärken. Nach der Geschwindigkeit des Prozesses der Geldentwertung (Inflationstempo) unterscheidet man zwischen Interner Link: schleichender Inflation, Interner Link: trabender Inflation, Interner Link: galoppierender Inflation und Interner Link: Hyperinflation (siehe dort). Nach der Erkennbarkeit wird zwischen Interner Link: offener Inflation und versteckter oder Interner Link: zurückgestauter Inflation unterschieden, nach dem Auslöser für die Preissteigerungen Interner Link: angebotsbedingte Inflation und Interner Link: nachfragebedingte Inflation. Eine Inflation führt zur Entwertung von Ersparnissen mit der Folge, dass die Sparneigung in der Bevölkerung zurückgeht oder gespartes Geld in Sachwerten angelegt wird. Das schränkt die Möglichkeiten der Banken ein, Kredite an Unternehmen zur Finanzierung von Investitionen zu vergeben. Produktionseinschränkungen und Arbeitslosigkeit sind die Folge. Von einer Inflation sind besonders solche Personen betroffen, die ihr Einkommen nicht an die steigenden Preise anpassen können, z.B. Arbeitslose oder Rentner. Die Verhinderung einer Inflation ist ein wichtiges Ziel der Wirtschaftspolitik. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Sonderorganisation der UNO, am 27. Dezember 1945 auf der Grundlage des Abkommens von Bretton Woods zusammen mit der Weltbank errichtet (Aufnahme der Geschäftstätigkeit: 1. März 1947); Sitz: Washington (USA). Dem IWF, englische Bezeichnung International Monetary Fund, gehören 187 Länder an. Ziele: Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Währungspolitik, Unterstützung eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums sowie eines hohen Beschäftigungsgrades, Förderung der Stabilität der Währungen durch Sicherung geordneter Währungsbeziehungen, Errichtung eines multilateralen Zahlungssystems und Beseitigung von Beschränkungen im Devisenverkehr, Kreditgewährung an Mitgliedsländer zur Erleichterung von Zahlungsbilanzanpassungen. Diese kurzfristigen Kredite werden häufig an Auflagen zur Sanierung der Wirtschaft des Empfängerlandes geknüpft. Kredite finanziert der IWF aus den Kapitaleinlagen der Mitgliedsländer. Diese Quote und die Stimmrechte richten sich nach der Finanzkraft der Länder. Daher haben die Industrieländer in den IWF-Gremien meist die Mehrheit. Wichtige Beschlüsse bedürfen einer Mehrheit von 85 Prozent. Die Stimmrechtsanteile der USA betragen (2010) 16,75 Prozent, Japans 6,23 Prozent, Deutschlands 5,81 Prozent, Frankreichs und Großbritanniens je 4,29 Prozent. Seit der Gründung gilt die Regel, dass die USA das Vorschlagsrecht für den Präsidenten der Weltbank haben und die Westeuropäer den Generaldirektor des IWF nominieren. Eine Wahl gegen den Willen der USA ist wegen deren Sperrminorität unmöglich. Das IWF-Abkommen, das auf der Reservewährung US-Dollar, auf Gold sowie auf festen Wechselkursen basierte, wurde zweimal wesentlich geändert: 1969 wurde mit den Sonderziehungsrechten eine neue künstliche Reservewährung geschaffen, die als Zahlungsmittel zwischen den Währungsbehörden dient. Seit 1978 ist den Mitgliedstaaten die Wahl ihres Wechselkurssystems freigestellt. Im Zuge der Bekämpfung der Ende 2007 ausgebrochenen internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird eine Erweiterung der IWF-Aufgaben bei der Überwachung der internationalen Finanzmärkte diskutiert. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Verkauf von Wertpapieren an der Börse, die der Verkäufer zum Zeitpunkt des Abschlusses noch nicht besitzt. Der Leerverkäufer spekuliert darauf, dass die Kurse bis zum Erfüllungstermin sinken und er sich dann billiger mit den entsprechenden Wertpapieren eindecken kann. Die Differenz zwischen Verkaufs- und Einkaufskurs ist sein Gewinn bzw. Verlust. Leerverkäufe gelten als hochspekulativ. In Deutschland sind Aktien-Leerverkäufe ohne Besitz der Basis-Wertpapiere seit 2010 untersagt. Auch ungedeckte Leerverkäufe von Staatsanleihen von Ländern der Eurozone sowie Kreditausfallversicherungen (Interner Link: CDS) auf diese Bonds sind verboten. Seit November 2012 ist auch eine entsprechende EU-Richtlinie in Kraft. Anleihekaufprogramm der EZB: Das im September 2012 beschlossene Programm macht unbegrenzte Anleihekäufe am Sekundärmarkt möglich, wenn die begünstigten Staaten sich an bestimmte Auflagen halten. Die Anleihekäufe dürfen nur am sogenannten Sekundärmarkt getätigt werden. Die EZB kauft sie also nicht direkt bei den Staaten, sondern von privaten Marktteilnehmern. Damit nimmt die EZB vor allem Banken einen Teil ihrer Risiken ab. Das OMT-Programm hat zum Ziel, bis Ende September 2016 Staatsanleihen aller Euro-Staaten im Wert von bis zu einer Billion anzukaufen. Durch ein Vorläuferprogramm zum Kauf von Staatsanleihen war die EZB schon vor Start des Programms in den Besitz griechischer, portugiesischer, irischer, italienischer und spanischer Staatsanleihen im Wert von etwa 149 Milliarden Euro gelangt. Bereits am 26. Juli 2012 hatte EZB-Präsident Mario Draghi angekündigt, die EZB werde "innerhalb ihres Mandates alles Erforderliche tun, um den Euro zu erhalten". Infolge des OMT sanken die Zinsen für die meisten Staatsanleihen von Krisenstaaten. Für diese Länder wurde es so günstiger, ihre Staatsausgaben zu finanzieren. Das OMT-Programm war Gegenstand mehrerer Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Von Oktober 2014 bis Juni 2015 wurde beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt, ob die EZB mit dem Anleihekaufprogramm gegen EU-Recht verstößt. Kernfrage war die Vereinbarkeit des OMT mit den Statuten der Europäischen Zentralbank, die eine direkte Staatsfinanzierung verbieten. Am 16. Juni 2015 entschied der EuGH, dass die EZB mit dem OMT nicht ihre währungspolitischen Befugnisse überschreitet und nicht gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Mitgliedstaaten verstößt und das Anleihekaufprogramm entsprechend fortführen darf. (Interner Link: Bail Out). Mit der Abkürzung wurden die Krisenländer Portugal, Italien (Irland), Griechenland und Spanien auf dem Höhepunkt der Krise von einigen Medien zusammengefasst, womit Assoziationen zu dem englischen Wort "pigs" ("Schweine") geweckt wurden. Das politisch korrektere Interner Link: GIPS hat sich inzwischen durchgesetzt. Aussage über die Fähigkeit (Bonität) eines Schuldners (Emittenten), die Zins- und Tilgungsleistungen auf die von ihm emittierten Wertpapiere jederzeit fristgerecht und in vollem Umfang zu leisten. Ratings werden von privaten, unabhängigen Ratingagenturen wie Moody's, Standard& Poor's (S&P) oder Fitch, die gewerbsmäßig Schuldnerbonität und Kreditausfallrisiken bewerten, nach bestimmten Prüfkriterien vergeben und basieren meist auf einem abgestuften Buchstabensystem. Für den Kapitalanleger eröffnet das Rating somit die Möglichkeit, eine möglichst hohe Markttransparenz hinsichtlich der Bonität der auf den Märkten befindlichen Anleihen vorzunehmen. Im weiteren Sinn zählt zum Rating auch die Bonitätsbeurteilung von meist multinationalen Unternehmen, international tätigen Banken oder Staaten (Länderrating). Ratingagenturen sind im Zusammenhang mit der Interner Link: europäischen Schuldenkrise wegen umstrittener Länderbewertungen in die Kritik geraten. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. Konjunkturphase mit einem Abschwung der Wirtschaft. Nach gängiger Definition liegt eine Rezession vor, wenn die Wirtschaftsleistung eines Landes in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen im Vergleich zum Vorquartal nicht wächst oder sogar schrumpft. Dauert eine Rezession länger und wird sie etwa von hoher Arbeitslosigkeit begleitet, befindet sich die Volkswirtschaft in einer Depression. Interner Link: Haircut Auf Staatsanleihen bezogen der Unterschied zwischen dem Zinssatz einer riskanten und dem einer weitgehend risikoarmen Anleihe mit gleicher Laufzeit. In Europa ist es üblich, die als solide geltenden deutschen Staatsanleihen als Basis zu nehmen. Im Vergleich dazu sind die Zinsen griechischer oder spanischer Staatsanleihen in der Regel hoch. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise lag die Rendite für zehnjährige griechische Staatsanleihen bei über 30 Prozent, die für gleich lang laufende deutsche Papiere betrug etwa zwei Prozent, der Spread lag also bei 28 Prozent. Der Spread ist folglich eine Art Risikoaufschlag für Investoren. Eine Staatsinsolvenz liegt vor, wenn ein Land seine Außenstände nicht oder nur noch teilweise wie vereinbart abbauen kann. Wenn ein Staat eine eigene Währung hat, kann er über seine Zentralbank unbegrenzt Geld in Umlauf bringen, um seine Schulden zu bezahlen, das heißt: Für viele Länder ist ein Staatsbankrott eigentlich unmöglich. Dennoch gab es seit Beginn des 19. Jahrhunderts weltweit über 200 Staatsinsolvenzen. Denn ein Staat kommt dennoch in Turbulenzen, wenn das Geld in den Augen der mit ihm Handelnden rapide an Wert verliert. Deshalb ging Deutschland in den 1920er Jahren im Lauf der Hyperinflation bankrott: Das massenweise nachgedruckte Geld genoss unter den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch an den Devisenmärkten keinerlei Vertrauen mehr und war deshalb wertlos. Die Mitgliedsländer der Eurozone können ihre Landeswährung nicht nachdrucken, weil sie die Hoheit über die Währungspolitik an die Interner Link: Europäische Zentralbank abgegeben haben. Um die Risiken einer Anlage und damit eines etwaigen Zahlungsausfalls durch einen bevorstehenden Staatsbankrott einzuschätzen, vertrauen Kapitalgeber heute weltweit auf die Einschätzung von Interner Link: Ratings durch Agenturen. Besondere Form des Devisenaustauschgeschäfts, bei dem ein Partner einem anderen sofort Devisen zur Verfügung stellt (Kassageschäft) und gleichzeitig der Rückkauf zu festem Termin und Kurs vereinbart wird (Termingeschäft). Der gegenseitige Austausch zweier Währungen für einen bestimmten Zeitraum wird durch das Swapgeschäft vor Verlusten geschützt, die etwa durch Kursschwankungen oder Ab- bzw. Aufwertungen eintreten könnten. Da zu einem bestimmten Zeitpunkt die Kurse für zukünftig, z.B. in drei Monaten, zur Verfügung stehende Devisen (Terminkurse) in der Regel vom Tageskurs abweichen, hat der Kursunterschied einen großen Einfluss auf die Devisengeschäfte. Wenn ein Kunde einen bestimmten Betrag in Fremdwährung anlegen möchte, ohne ein Währungsrisiko einzugehen, kauft er die Devisen bei seiner Bank zunächst an der Kasse. Zugleich verkauft er die Devisen seiner Bank jedoch wieder, und zwar zum Fälligkeitstag der Währungsanlage mit dem Ziel, Kursschwankungen kalkulierbar zu machen. Der Swapsatz ist die Differenz zwischen dem Termin- und Kassakurs einer Währung. Währungen mit positiver Differenz (Terminkurs minus Kassakurs) weisen einen Report, solche mit negativer Differenz einen Deport auf. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013. In der Europäischen Schuldenkrise Bezeichnung für das Kontrollgremium aus Vertretern des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission. Das Gremium überprüft, ob im Gegenzug für die gewährten Hilfen der drei Geldgeber Reformprogramme in bedürftigen Empfängerländern umgesetzt werden. Im Zuge von Verhandlungen zwischen dem Empfängerland Griechenland und den Finanzministern der Euro-Gruppe im Februar 2015 über eine Verlängerung der EU-Hilfsprogramme wurde beschlossen, die Bezeichnung nicht mehr zu verwenden. Interner Link: Haircut Nach den Grundsätzen der doppelten Buchführung erfolgende Darstellung sämtlicher das Ausland berührender Wirtschaftsaktivitäten eines Landes. In der Zahlungsbilanz werden systematisch alle ökonomischen Transaktionen zwischen Inländern und Ausländern in einem bestimmten Zeitraum aufgezeichnet. Mit ihrer Hilfe lässt sich ein Überblick über die Leistungen und Zahlungen während eines Monats oder Jahres gewinnen. Transaktionen oder Leistungen, die zu Zahlungseingängen (Einnahmen) im Inland führen, werden auf der Habenseite, Transaktionen oder Leistungen, die zu Zahlungsausgängen (Ausnahmen) führen, werden auf der Sollseite gebucht. Die Zahlungsbilanz stellt eine wichtige Unterlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen der Regierungen und der Zentralbanken dar. Ferner dient sie als Konjunkturindikator. Die Zahlungsbilanz besteht aus verschiedenen Teilbilanzen. Die Aktivseite (linke Seite) der Zahlungsbilanz setzt sich aus Leistungsbilanz und der Bilanz der Vermögensübertragungen zusammen. Die Leistungsbilanz beinhaltet den Warenaustausch (Export und Import), die Lohnveredelung, bestimmte Reparaturen sowie die Lieferungen von Schiffs- und Flugzeugteilen. Die Gegenüberstellung der Einfuhren und Ausfuhren wird auch als Handelsbilanz bezeichnet. In der Dienstleistungsbilanz werden z.B. Auslandsreiseverkehr, Transport- und Telekommunikationsleistungen, die Wertschöpfung der Versicherungen sowie der Transithandel erfasst. In der Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkommen finden sich die Arbeitseinkommen und Kapitalerträge, die Inländern aus dem Ausland zufließen bzw. Ausländer aus dem Inland beziehen. Laufende Übertragungen sind Geld- und Sachleistungen an das Ausland bzw. vom Ausland, denen keine unmittelbaren Gegenleistungen gegenüberstehen. Des Weiteren werden auch Heimatüberweisungen ausländischer Arbeitnehmer sowie Zahlungen an internationale Organisationen wie z.B. an die EU und die UNO in der Übertragungsbilanz erfasst. Einmalige Transfers (Übertragungen) wie Schuldenerlasse, Erbschaften und Schenkungen sowie Vermögensmitnahmen von Ein- und Auswanderern werden in der Bilanz der Vermögensübertragung ausgewiesen. Die Passivseite (rechte Seite) der Zahlungsbilanz setzt sich aus der Kapitalbilanz, einschließlich der Devisenbilanz, zusammen. Deswegen werden Einnahmen (Kapitalimporte) auf der rechten Seite und die Ausgaben (Kapitalexporte) auf der linken Seite gebucht. Zu den Ausgaben rechnen zunächst die kurzfristigen Zahlungen an das Ausland, Schecks, Wechsel und Zahlungsanweisungen.Zu den Einnahmen gehören die kurzfristigen Zahlungen aus dem Ausland und die Forderungen gegenüber dem Ausland. Außerdem zählen zu den Einnahmen de Zunahme an Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland. Die Direktinvestitionen umfassen z.B. Beteiligungen (Aktien und andere Kapitalanteile) und langfristige Darlehen. Unter der Kategorie Wertpapiere werden Aktien bzw. Wertpapieranlagen (Investment- und Geldmarktfonds) eingeordnet. Der Kreditverkehr enthält kurz- und langfristige Finanzbeziehungen inländischer Unternehmen und Privatpersonen zum Ausland. In der Devisenbilanz als Teil der Kapitalbilanz schlagen sich die Veränderungen der Währungsreserven bei der Zentralbank nieder. Die Zahlungsbilanz wird durch einen statistisch nicht aufgliederbaren Teil buchungstechnisch ausgeglichen. Wenn man von Zahlungsbilanzungleichgewichten (Überschuss und Defizit) im Sinne einer Verletzung des Ziels Interner Link: außenwirtschaftlichen Gleichgewichts spricht, meint man immer unausgeglichene Teilbilanzen. Ein Zahlungsbilanzüberschuss kann auftreten, wenn die Exporte wertmäßig größer als die Importe sind. Ein Zahlungsbilanzdefizit tritt auf, wenn die Exporte wertmäßig geringer als die Importe sind. Aber auch zu hohe unentgeltliche Leistungen an das Ausland, z.B. durch Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern oder Zahlungen an internationale Organisationen, können dazu führen. Quelle: Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 5. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2013. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-25T00:00:00"
"2014-10-29T00:00:00"
"2022-01-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/europa-wirtschaft/193964/glossar/
Von A wie "Asset Backed Securities" bis Z wie Zahlungsbilanz: Das Glossar erklärt wichtige Schlagwörter zur Europäischen Schuldenkrise.
[ "europäische Schuldenkrise", "Finanz- und Wirtschaftskrise", "Staatsschuldenkrise", "Konjunkturprogramm", "Jugendarbeitslosigkeit", "Europäische Währungsunion", "Europäische Zentralbank (EZB)", "Bankenkrise", "Rezession", "EU-Fiskalpakt", "Eurobonds" ]
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Zwanzig Jahre danach - Essay | Deutsche Einheit | bpb.de
In der Nacht zum 3. Oktober 1990, als die Wiedervereinigung vollzogen wurde, stand ich am Rande einer lauten Menschenmenge auf dem Pariser Platz in Berlin. Ich hatte am Abend in Leipzig einen Vortrag gehalten und war dann, so schnell es mein alter Dacia hergab, nach Berlin gefahren: Ich wollte um Mitternacht am Brandenburger Tor sein. Mehr als ein Jahr lang hatte ich auf diesen Augenblick hingearbeitet: in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, am Runden Tisch, in der Volkskammer. Auch wenn der Weg zur Einheit ein anderer war, als ich ihn mir gewünscht und vorgestellt hatte, auch wenn der Einigungsvertrag in vielen Punkten so problematisch war, dass ich ihn zuletzt in der Volkskammer abgelehnt hatte - das Ziel, die Wiedervereinigung, war auch meines gewesen. Und nun stand ich Unter den Linden, während aus der Ferne vom Reichstag her Bruchstücke erst der Reden, dann der Nationalhymne herüberklangen und das Brandenburger Tor von einem Feuerwerk illuminiert wurde. Ich betrachtete aufmerksam die Menschen um mich herum, die auf ganz verschiedene Weise an dem Ereignis teilhatten. Die einen still für sich und mit Tränen in den Augen. Andere versuchten ungeübt die neue Nationalhymne mitzusingen - so mancher, wie mir schien, sang mit den alten Worten. Andere waren fröhlich und ausgelassen. Nur wenige, die wohl dem Bier schon zu reichlich zugesprochen hatten, störten den Augenblick mit Grölen. Und ich fragte mich also: Wie wird das wiedervereinigte Land, dieses Neuland, wohl sein? Es muss uns nicht verwundern, hatte ich am Abend in Leipzig gesagt, was mit uns Deutschen geschieht. So verlaufen doch alle Abenteuer: Sie beginnen mit der Eruption der Energien, strahlen auf andere aus und ziehen viele in ihren Bann. Der Gipfel wird bezwungen, die Siege werden laut und glücklich gefeiert. Doch bald beginnt der mühsame Alltag, in dem die Liebe, die Abenteuer, die Revolutionen ersterben. Und je langsamer die Schritte werden, desto mehr klammern wir uns an die kostbaren Erinnerungen, verkünden und verteidigen unsere gewonnene Weisheit, ohne dass wir mit derselben Kühnheit an sie glaubten. Jetzt, zwanzig Jahre später, weiß ich: Ich habe Recht behalten, und ich habe mich geirrt. Für mich ist das Jahr zwischen Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung noch immer ganz nah und lebendig und etwas ganz und gar Einmaliges. Aber ich bin auch demütiger geworden und weiß, dass Transformationen, auch wenn das früher nicht so hieß, in der Geschichte eher die Regel denn die Ausnahme sind. Die Zeitgenossen der Freiheitskriege oder der Märzrevolution werden ihre Revolutionen mit der gleichen Begeisterung, dem gleichen Gefühl der Einmaligkeit erlebt haben wie wir die unsere. Es gibt genug Zeugnisse dafür. Doch auch ihre Leidenschaft ist irgendwann erkaltet, auch ihre Ideen und Ideale haben manchmal zu anderem geführt, als sie gewollt hatten. Das mindert unser Erleben nicht, es ordnet es ein. "Es ist nicht wahr/daß Geschichte/gefälscht wird/Sie hat sich großenteils/wirklich/falsch/zugetragen/Ich kann das bezeugen:/Ich war dabei", heißt es in einem Gedicht von Erich Fried, das immer auf meinem Schreibtisch liegt. Und: "Doch leicht begreiflich/daß jetzt/die verschiedenen Seiten/verbesserte Fassungen/nachliefern/die das Geschehene/nicht/so sehr berichten/wie berichtigen wollen." Davor, die Geschichte nicht berichten, sondern berichtigen zu wollen, sind weder Historiker noch Politiker gefeit, erst recht nicht Zeitzeugen. Aber dass in unserer rationalen Welt die Legenden so lebhaft wuchern und sich manche als schier unausrottbar erweisen würden, das habe ich mir damals in der Nacht vor dem Brandenburger Tor wirklich nicht träumen lassen. Zu diesen hartnäckigen Legenden gehört, die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 hätten einen "Dritten Weg" gewollt und seien allesamt Einheitsgegner gewesen. Nun hat es sicher unter uns Einheitsskeptiker gegeben; die gab es auch in der CDU und erst recht bei den Sozialdemokraten. Die große Mehrheit der Bürgerrechtler aber wollte die Einheit. Doch wir wollten sie auf dem zweiten Weg, den das Grundgesetz dafür vorgesehen hatte, dem konstitutionellen Weg nach Artikel 146. Die Mehrheit in beiden deutschen Parlamenten und die beiden Regierungen aber hatten sich für die administrative Variante entschieden, also den Beitritt nach Artikel 23. Beide Wege waren denkbar, beide waren legitim. Wir hatten gehofft, dass der von uns präferierte Weg den Ostdeutschen manche Verwerfung ersparen könnte. Und dass der demokratische Prozess einer Verfassungsdebatte zu mehr Mündigkeit und zur nachhaltigen Aneignung demokratischer Ideen und Werte führen würde. Tatsache ist jedenfalls, dass die Mehrheit der Deutschen im Osten wie im Westen es dann anders wollte als die Mütter und Väter der Friedlichen Revolution. Unser Ziel im Herbst 1989 war es gewesen, die Macht der Kommunisten zu brechen und die DDR zu demokratisieren. Aus dem Unrechtsstaat eine Rechtsstaat zu machen, in dem Freiheit herrscht und die Menschen- und Bürgerrechte respektiert werden: Dafür die Voraussetzungen zu schaffen, war unsere Aufgabe in den Bürgerbewegungen und am Runden Tisch. Daran haben wir bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 unbeirrt gearbeitet. Mit dem Tag der ersten freien Wahl in der DDR hatten wir unser Ziel erreicht. Danach, so geht eine zweite Legende, hätten die Regierungen Kohl und de Maizière alles Weitere erledigt. Dass aber die Wiedervereinung von beiden Parlamenten, von der Volkskammer und vom Deutschen Bundestag, aktiv gestaltet wurde, ist zu wenig bekannt und wird kaum gewürdigt. Es war eben kein bloßer administrativer Vorgang, sondern ein demokratischer Prozess. Es hat in beiden Parlamenten die Ausschüsse Deutsche Einheit gegeben, die federführend waren. Und beide Parlamente hatten ein gewaltiges Arbeitspensum zu leisten. Parlamentarier waren überdies Mitglied in der Verhandlungskommission zum Einigungsvertrag; ich war es für das damals noch nicht konstituierte Land Brandenburg. Das Ergebnis allerdings war für mich so unbefriedigend, dass ich den Einigungsvertrag in der Volkskammer abgelehnt habe. Einer meiner wesentlichen Kritikpunkte war, dass keine umfassende und abschließende Regelung für die Rückgabe des in der Zeit des Nationalsozialismus zwangsweise "arisierten" Eigentums getroffen worden war. Und dass das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer für die Opfer des SED-Regimes im wiedervereinigten Land nur in Bruchstücken fortgelten sollte. Ein anderer lag darin, dass wesentliche Nachbesserungsaufträge der Volkskammer, insbesondere zum Eigentumsrecht, zu sozialen Rechten und zur Neuordnung des Rundfunks, unberücksichtigt geblieben waren. "Ich will die Einheit Deutschlands", sagte ich damals im Plenum, "und ich habe engagiert dafür gearbeitet. Aber dieser Vertrag hat in seiner endgültigen Fassung so wesentliche Mängel, daß er in vielem den Bürgerinnen und Bürgern, denen ich Rechenschaft schuldig bin, schadet." Die dritte und hartnäckigste der seit zwanzig Jahren wuchernden Legenden und zugleich die merkwürdigste aber lautet, die erst in PDS, dann in Linkspartei umbenannte SED sei die legitime Vertreterin ostdeutscher Interessen und die wahre Hüterin sozialer Gerechtigkeit. Das ist nun wirklich eine "verbesserte" Fassung der Geschichte, die schwer zu ertragen ist. Allerdings ist diese Legende kein Wildwuchs, wie viele naiv meinen, sondern das Ergebnis gezielter Agitation und Propaganda, jahrelang geschickt gestreut und unters Volk gebracht. Bereits in ihrem Programm aus dem Jahr 1993 behauptete die PDS unverfroren: "Die Ursprünge unserer Partei liegen im Aufbruch des Herbstes 1989 in der DDR" - als hätte es nie eine SED gegeben, als sei die PDS nicht die politische und juristische Nachfolgerin und Nutznießerin der DDR-Staatspartei. Die Relativierung der eigenen totalitären Vergangenheit setzt sich fort und ist auch noch im jüngsten Programmentwurf der Linkspartei zu finden. Ich habe mich immer gefragt, warum so viele Ostdeutsche die Nachfolger einer Partei, deren Terror sie jahrzehntelang zu ertragen hatten, trotz der offensichtlichen Demagogie immer noch wählen. Und wie sie den gewissenlosen Kadern von gestern heute ein soziales Gewissen zubilligen können. Eine andere Facette dieser Geschichtsklitterung ist das schwindelerregende Tempo bei der Transformation der Blockparteien, also der kommunistischen CDU, der LDPD, der Bauernpartei, der NDPD, zu demokratischen Parteien. Ihre Exkulpation haben sie nur deshalb so billig bekommen, weil sie als Mehrheitsbeschaffer gebraucht wurden. Die Auseinandersetzung mit ihrer roten Vergangenheit haben sie bis heute nicht geleistet. Das hat zum Niedergang und Ansehensverlust der demokratischen Parteien im wiedervereinigten Deutschland beigetragen. Ich habe Elektriker gelernt, und weiß, dass auf der einen Seite eines Transformators nur das herauskommt, was auf der anderen, stärker oder schwächer, eingespeist worden ist. Und dass man die Transformation jederzeit umkehren kann. Auch wenn man technische Prozesse nicht auf gesellschaftliche übertragen sollte, richtig ist jedenfalls, dass das Heute immer auch vom Gestern abhängig ist. In den vergangenen zwanzig Jahren sind Bibliotheken vollgeschrieben worden mit Analysen und Berichten, was beim Einigungsprozess und danach alles falsch gemacht worden ist. Natürlich gab und gibt es Defizite. Natürlich wurden Fehler, auch gravierende, gemacht. Aber das, was wir gewonnen haben, wiegt ungleich schwerer, allem voran die Freiheit. Wer wie ich die längste Zeit seines Lebens in einem Land gelebt hat, in dem der Staat sich anmaßte, alles, aber auch wirklich alles für "seine" Untertanen zu regeln und zu entscheiden, ihnen willkürlich Vorschriften zu machen und beliebig Grenzen zu setzen, sie zu gängeln, sie abhängig und unmündig zu halten, der weiß, dass es kein höheres Gut für den Menschen gibt als die Freiheit. Ich möchte schreien, wenn ich heute von Achtzehnjährigen höre, wie großartig die DDR und ihr Sozialismus gewesen seien, wie sicher, sozial und gerecht es dort zugegangen sei. Dass wir es nach der Friedlichen Revolution nicht geschafft haben, das Feuer der Freiheit für alle lebendig zu halten, deprimiert mich zutiefst. Zu dem, was die Ostdeutschen gewonnen haben, gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Respektierung der Menschenrechte. Ich halte es für fatal, wenn dem der Verlust des Arbeitsplatzes oder soziale Unsicherheit entgegengehalten wird. Denn die "sozialen Errungenschaften" der DDR hatten einen unverantwortlich hohen Preis: Die Arbeitsplätze waren nur deshalb sicher, weil die Wirtschaft total reguliert war und sich das Angebot nicht an der Nachfrage orientierte, sondern an Parteitagsbeschlüssen. Die Mieten waren nur deshalb so billig, weil die Häuser niemandes Eigentum waren und verfielen. Das Gesundheits- und Sozialwesen schien nur deshalb für alle gleich, weil die Parteifunktionäre und Regimegünstlinge ihre zahlreichen großen und kleinen Privilegien sorgfältig verbargen. Und wenn Menschen in der DDR sich wohlgefühlt haben, weil der Staat für sie dachte und handelte und ihnen ein Auskommen gab, dann zeugt das nur davon, wie sehr sie in den Jahrzehnten der Diktaturen deformiert worden waren. Zum großen und unschätzbaren Gewinn der Einheit zählt für mich, dass wir Stabilität und Frieden haben und eingebunden sind in die Gemeinschaft der Europäer. Ich habe in den Jahren nach dem Krieg schmerzlich genug erfahren müssen, was es heißt, Deutscher zu sein. Ich bin dankbar für die Solidarität, die wir Ostdeutschen in der Friedlichen Revolution aus den ehemaligen Feindländern erfahren haben, von Israelis, Polen und Russen, von Franzosen und Amerikanern. Die Nacht des Mauerfalls war für mich die erste Nacht des Friedens. Und ich war und bin dankbar, dass wir Ostdeutschen, anders als unsere ost- und mitteleuropäischen Freunde, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union so bald bekommen haben. Während Polen oder Ungarn oder Litauer gewaltige Opfer bringen mussten, um die Voraussetzungen für die Aufnahme zu schaffen, wurde sie uns geschenkt: Mit dem Tag der Wiedervereinigung waren wir Mitglied. Auch das haben heute viele vergessen oder wollen es nicht mehr wahrhaben. Als ich vor zwanzig Jahren vor dem Brandenburger Tor stand, konnte ich mir nicht vorstellen, dass so viele Ostdeutsche so bald die gewonnene Freiheit und Demokratie gering schätzen würden. Dass sie sich diese kalte, graue, enge DDR schön reden und ihr nachtrauern würden. Aber auch das gehört offenbar unausweichlich zu jedem Transformationsprozess. Ich hoffe zwar, dass der unsere, der Weg vom Totalitarismus zur Demokratie, unumkehrbar ist. Aber ich bin mir längst nicht mehr sicher, dass Menschen wirklich aus der Geschichte lernen können. Erich Fried, Die Engel der Geschichte, in: Gesammelte Werke, Berlin 1993, Bd. 2, S. 491. Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, 36. Tagung vom 20.9.1990, S. 1751; online: http://webarchiv.bundestag.de/volkskammer/dokumente/protokolle/1036.pdf (15.6.2010). PDS (Hrsg.), Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin 1993, S. 1.
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, Konrad Weiß
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32603/zwanzig-jahre-danach-essay/
Auch Zeitzeugen sind nicht davor gefeit, die Geschichte berichtigen zu wollen. Aber dass sich manche Legenden als unausrottbar erweisen würden, das schien vor zwanzig Jahren undenkbar.
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„Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland” | Deutschland Archiv | bpb.de
Katharina Warda bezeichnet ihre Familie als sogenannte „Wendeverlierer”. Sie erzählt über ihr Aufwachsen in der Stadt Wernigerode im Harz, an der Grenze zu Niedersachsen. Es geht vor allem um die Wirren und Besonderheiten der damaligen Zeit: Massenarbeitslosigkeit, sozialer Abstieg, rechte Gewalt und alles, was damals die Erfahrungen Heranwachsender mit und ohne Migrationshintergrund prägte. Heute gilt Wernigerode als ein Vorzeigeobjekt für den „Aufbau Ost“. Die pittoreske Innenstadt voller Fachwerkhäuser aus dem Mittelalter, das Schloss am Hang des Agnesbergs vor der Stadt und nicht zuletzt der Harz sind Touristenmagneten. Kaum etwas ist noch fühlbar von den Ereignissen, die Katharina Warda hier einst erlebte. Die Geschichten, die sie in ihrem Projekt „Dunkeldeutschland” erzählt, stammen aus den Wendejahren im Osten, aus der Peripherie, den Plattenbauten am Rande des Stadtkerns. Für sie verlief die „Friedliche Revolution“ alles andere als friedlich. Mit „Dunkeldeutschland” will Warda die Erlebnisse ihrer Generation zurück ins Licht holen und einem breiten Publikum zugänglich machen.Einen ersten Eindruck ihrer Interpretation der 30-jährigen Transformationsgeschichte in einem geeinten Deutschland gibt Katharina Warda in diesem Video wieder. Katharina Warda: „Ich bin das Kind einer deutschen Mutter und eines südafrikanischen Vaters und wurde in der DDR geboren. Seit der Wende erlebe ich Rassismus, Klassismus – und Abwertungen als Ostdeutsche. Laute Jubiläumsfeiern übertönen die Sprachlosigkeit, die wir erleben, wenn wir uns an die „Wendezeit“ erinnern. Es fehlen zu viele Stimmen, noch immer“. Katharina Warda, Jahrgang 1985, studierte Soziologie und Medienwissenschaft. Sie lebt und arbeitet in Berlin als freie Autorin und Bloggerin. Das Zeitzeuginnengespräch mit ihr führte Thomas Grimm von Zeitzeugen TV im Oktober 2020.
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Zeitzeugen TV
"2022-02-14T00:00:00"
"2020-11-05T00:00:00"
"2022-02-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/318394/der-ort-aus-dem-ich-komme-heisst-dunkeldeutschland/
Das Projekt „Dunkeldeutschland” von Katharina Warda erzählt von den sozialen Rändern der Nachwendezeit und beleuchtet blinde Flecken deutscher Geschichtsschreibung. Ausgangspunkt sind ihre eigenen Erfahrungen, die sie als ostdeutsche Frau mit Migrati
[ "Katharina Warda", "Alltagsrassismus", "Dunkeldeutschland", "Bundesrepublik Deutschland", "DDR", "Wernigerode" ]
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M 03.04.08 Auswertungsblatt Arbeitsgruppe 3: Grüns Neuanfang | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de
Vorschau M 03.04.08 Auswertungsblatt AG 3 Das Arbeitsmaterial Interner Link: M 03.04.08 Auswertungsblatt AG 3: Grüns Neuanfang ist als PDF-Dokument abrufbar. Vorschau M 03.04.08 Auswertungsblatt AG 3
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-06-02T00:00:00"
"2016-04-06T00:00:00"
"2022-06-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/224363/m-03-04-08-auswertungsblatt-arbeitsgruppe-3-gruens-neuanfang/
Das Auswertungsblatt "Neuanfang 1949 von Franz Grün in Hohenzollern-Sigmaringen: Meine Jugend- und Lehrzeit" gliedert die Etappen in Ereignisse und sozialwissenschaftliche Deutungen.
[ "Nachkriegsgesellschaft", "Vertreibung", "Jugend" ]
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Analyse: Gutes und schlechtes Sozialkapital? Vertrauen und Korruption in der Ukraine laut dem World Values Survey 2020 | Ukraine-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Dieser Artikel stellt einen Ausschnitt der die Ukraine betreffenden Ergebnisse des siebten World Values Survey (WVS-7) vor. Er behandelt auf der einen Seite soziales Kapital und Vertrauen und auf der anderen Seite Vertrauen in Institutionen. Das Vertrauen in Behörden wird außerdem mit der Wahrnehmung von Korruption und Bestechung verglichen. Außerdem wird der siebte World Values Survey (WVS) mit dem sechsten – 2011 erhobenen – WVS verglichen, soweit dies möglich ist. Einleitung Soziales Kapital ist die Grundlage zwischenmenschlichen und institutionellen Vertrauens: höheres Vertrauen in andere Menschen bewirkt gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Bereitschaft, gemeinschaftlich gemeinwohlorientiert zu handeln. In Gesellschaften mit schwachen politischen Institutionen, einem hohen Anteil von Schattenwirtschaft und einem extrem niedrigen Vertrauen in Behörden und Rechtssystem – all dies trifft auf die Ukraine zu – kann ein hohes Maß an zwischenmenschlichem Vertrauen allerdings auch informelle Praktiken wie Korruption begünstigen. Geringes Institutionenvertrauen und wenig zivilgesellschaftliche Partizipation sind hinderlich für die Umsetzung von Antikorruptionsmaßnahmen, und zwar sowohl normativ wie auch auf der Ebene des Alltagsverhaltens. Der länderübergreifende World Values Survey ist die umfangreichste und weitreichendste Studie über menschliche Werte und Ansichten und wird seit 1981 in fast 100 Ländern durchgeführt. Der WVS erhebt in jedem Land eine national repräsentative Stichprobe unter Verwendung des gleichen Satzes von etwa 250 Fragen, so dass die Umfrageergebnisse international vergleichbar sind. In der Ukraine fand die siebte WVS-Befragung zwischen 2017 und 2020 statt. Da der vorangegangene WVS-6 in der Ukraine 2011 erhoben wurde, sind die WVS-7-Daten zur Ukraine nicht nur international vergleichbar, sondern lassen auch den Vergleich von Prä- und Post-Maidan-Meinungen und -Einstellungen zu. Dieser Artikel untersucht vor allem zwei große Themen im Zusammenhang mit sozialem Kapital: einerseits das Vertrauen in verschiedene soziale Gruppen, Organisationen und Institutionen und andererseits die Wahrnehmung von Korruption. Wie bereits erläutert, werden beide Seiten des sozialen Kapitals auf schwache politische Institutionen und geringes Vertrauen in die Behörden bezogen. Vertrauen und soziale Beziehungen in das engste Umfeld Der WVS-7-Bericht für die Ukraine (Externer Link: http://ucep.org.ua/wp-content/uploads/2020/11/WVS_UA_2020_report_WEB.pdf) zeigt, dass der Anteil derjenigen, die glauben, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, seit der letzten Befragung signifikant gestiegen ist – von 23,1 Prozent in 2011 auf 30,1 Prozent in 2020. Die Ukrainer vertrauen am häufigsten ihren Familien (97,1 Prozent), gefolgt von Nachbarn (76,7 Prozent) und Bekannten (75,8 Prozent). Das Vertrauen in Familie und Nachbarn ist seit 2011 nahezu unverändert geblieben (98,7 bzw. 77,8 Prozent), während der Anteil derjenigen, die ihren Bekannten vertrauen, signifikant gesunken ist – von 85,6 Prozent in 2011 auf 74,8 Prozent in 2020. Am seltensten vertrauen die Ukrainer Menschen, denen sie das erste Mal begegnen (28,8 Prozent). Dieser Wert hat sich gegenüber 2011 (27,4 Prozent) kaum verändert. Etwa die Hälfte der Befragten tendiert dazu, Menschen einer anderen Nationalität oder Religion zu vertrauen (49,6 bzw. 48,4 Prozent). Das führt zu dem damit verwandten Thema der Toleranz gegenüber "Andersartigkeit", etwa gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen, die gesellschaftlich als marginal wahrgenommen werden: Laut WVS-7 ist der Anteil der Ukrainer, der nicht bereit ist, Drogenabhängige, schwere Alkoholiker, Homosexuelle und an Aids erkrankte Menschen als Nachbarn zu haben, im vergangenen Jahrzehnt signifikant gesunken. Die gestiegene Toleranz gegenüber Homosexuellen lässt sich teilweise auf die verschiedenen Aktivitäten der LGBTQI-Community in den letzten Jahren zurückführen. So wurde beispielsweise die Kyiv Pride zu einer jährlichen Versammlung von Tausenden von Menschen, an der nicht nur LGBTQI-Aktivisten teilnehmen, sondern auch Menschen, die für die Idee gleicher Rechte unabhängig von sexueller Orientierung oder Identität eintreten. Dieses jährliche Event hat allerdings auch Anti-Pride-Versammlungen und -Aktionen bestimmter Gruppen zur Folge. Die Toleranz gegenüber einigen gesellschaftlichen Randgruppen ist zwar gestiegen, insgesamt jedoch noch immer gering. Der Unwille, als Nachbarn von Immigranten, ausländischen Arbeitern oder Menschen zu leben, die eine andere Sprache sprechen oder einer anderen Nationalität oder Religion angehören, ist zwischen 2011 und 2020 dagegen gestiegen. Mitgliedschaft und Vertrauen in öffentliche Organisationen Was die Beteiligung an bürgerschaftlichen Initiativen und die Mitgliedschaft in Organisationen angeht, sind die Ukrainer in den letzten Jahren deutlich aktiver geworden. Insbesondere gibt es mehr Mitglieder in religiösen oder kirchlichen Organisationen (Anstieg von 11,9 Prozent in 2011 auf 28,1 Prozent in 2020) und in Organisationen aus den Bereichen Kunst, Musik und Erziehung (Anstieg von 4,4 auf 13,9 Prozent). Außerdem haben Sportvereine mehr Mitglieder (Anstieg von 7,4 auf 14,3 Prozent), genauso Berufsverbände (3,2 auf 9,7 Prozent) und Umwelt- und Tierrechtsorganisationen (1,3 auf 9,5 Prozent). Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder ist dagegen leicht rückläufig (14,5 auf 13,0 Prozent). Die Mitgliedschaft in politischen Parteien stieg ebenfalls – von 4,6 auf 8,4 Prozent. Es gibt mehr Mitgliedschaften in humanitären und Hilfsorganisationen (Anstieg von 2,8 auf 8,9 Prozent) und in Gruppen zur Selbsthilfe und gegenseitigen Unterstützung (Anstieg von 2,1 auf 9,2 Prozent). Ebenfalls gestiegen ist der Anteil von Mitgliedern in Verbraucherschutzorganisationen – von 2,0 auf 5,9 Prozent. Die zunehmenden Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen kann mit dem allgemeinen Anstieg des Aktivismus nach dem Maidan und der Etablierung Dutzender neuer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen erklärt werden. Für die religiösen Organisationen könnte ein weiterer Treiber der Anfang 2019 unterzeichnete Tomos sein, das Dekret, das die Unabhängigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine vom Moskauer Patriarchat erklärt. Auch in puncto Vertrauen in verschiedene Organisationstypen erfahren religiöse Organisationen unter den Organisationen und öffentlichen Institutionen in der Ukraine viel Zustimmung (72,6 Prozent), wobei diese leicht gesunken ist (von 75,2 Prozent in 2011). Außerdem zeigen die Ukrainer relativ viel Vertrauen gegenüber Hilfs- und humanitären Organisationen (58,5 Prozent) und gegenüber Frauenorganisationen (51,8 Prozent). Korruption verhindert Vertrauen in politische Institutionen Die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung (82,7 Prozent) ist der Meinung, dass Korruption verbreitet ist (Antwort sieben bis zehn auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn für »Korruption ist sehr weit verbreitet« steht). Dabei entschied sich beinahe die Hälfte (45,6 Prozent) für den Höchstwert (zehn auf einer Skala von eins bis zehn). Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass Spitzenkräfte der Wirtschaft und Unternehmer in Korruption verwickelt sind (63,3 Prozent). Journalisten und Medien werden am seltensten mit einer Verwicklung in Korruption verbunden (53,0 Prozent). Die Ukrainer äußern wesentlich weniger Vertrauen gegenüber staatlichen Organisationen als gegenüber Nichtregierungsorganisationen. Das Vertrauen ins Bildungssystem sank von 65,5 Prozent in 2011 auf 58,4 Prozent in 2020. Nur vier von zehn Ukrainern vertrauen in Wahlen (43,1 Prozent) und den Präsidenten der Ukraine (38,5 Prozent). Ein Drittel vertraut staatlichen Institutionen (37,5 Prozent in 2020, 44,4 Prozent in 2011) und dem Bankensystem (33,4 Prozent, 32,5 Prozent in 2011). Überraschenderweise bewirkte die erfolgreiche Umstrukturierung des Bankensektors in der Ukraine nach dem Maidan kein höheres Vertrauen in die Banken. Nur etwa eine von fünf Personen vertraut der Justiz, dem Ministerkabinett, den politischen Parteien und der Werchowna Rada, und in all diese Institutionen ist das Vertrauen gegenüber 2011 gesunken. Das Vertrauen, das die Ukrainer für das Parlament (die Werchowna Rada) zeigen, liegt bei 18,9 Prozent (Anteil derer, die ihm außerordentlich stark oder sehr vertrauen). Im internationalen Vergleich entspricht das in etwa den jeweiligen Werten in Polen (20,5 Prozent) und Litauen (23,5 Prozent) und übersteigt die jeweiligen Werte z. B. in Griechenland (14,5 Prozent) und Rumänien (12,9 Prozent). Das Vertrauen in Gewerkschaften fiel in der Ukraine von 39,2 Prozent auf 28,5 Prozent (während das Vertrauen in große Unternehmen leicht von 41,5 Prozent auf 43,9 Prozent stieg). Das Vertrauen in die teilweise reformierte Nationalpolizei der Ukraine stieg von 31,6 Prozent auf 38,8 Prozent. Das relativ niedrige Vertrauen in staatliche Institutionen lässt sich damit erklären, dass diese als intransparent wahrgenommen und mit Bestechung und Vetternwirtschaft assoziiert werden. Laut WVS-7 werden die staatlichen Behörden in der Ukraine in höchstem Maß mit Korruption verbunden – 72,2 Prozent der Befragten glauben, dass alle oder die meisten staatlichen Behörden in Korruption verwickelt sind. Öffentliche Dienstleister landen auf dem zweiten Platz (67,1 Prozent), gefolgt von den lokalen Behörden (64,3 Prozent). Andere in der Ukraine durchgeführte Umfragen zur Wahrnehmung von Korruption zeigen, dass die Bürger die mit dem Maidan verbundenen Erwartungen nicht erfüllt sehen. So zeigte eine im Rahmen des Programms ENGAGE im Januar 2020 durchgeführte Umfrage zu bürgerschaftlichem Engagement (der Civic Engagement Poll), dass "nur 6,3 Prozent der Befragten der Ansicht sind, dass die Regierung der Ukraine die Korruption wirksam bekämpft, wobei 71,0 Prozent der Ukrainer keine oder fast keine Veränderungen sehen, die durch die Antikorruptionsreform bewirkt wurden" (Externer Link: https://engage.org.ua/). Indem sie eine Reihe von positiven Aussagen über die Tätigkeit der Werchowna Rada der Ukraine verneint, beurteilt die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung deren Tätigkeit eher negativ. Insbesondere stimmen nur 8,3 Prozent der Aussage zu, dass die Werchowna Rada insgesamt kompetent und effizient ist, während über die Hälfte der Befragten (58,1 Prozent) mit dieser Aussage nicht einverstanden ist. Nur 6,6 Prozent stimmen der Aussage zu, dass die Werchowna Rada offen und transparent ist, 6,2 Prozent stimmen zu, dass sie ihr Bestes tun will, um dem Land zu dienen, und 6,1 Prozent stimmen zu, dass sie im Interesse der Bürger handelt. Fast zwei Drittel der Befragten stimmen all dem dagegen nicht zu. Zudem sind zwei von drei Befragten nicht mit der Aussage einverstanden, dass die Werchowna Rada ihre Pflichten sehr gut erfüllt (67,7 Prozent), nur 4,8 Prozent stimmen dieser Aussage zu. Eine breite Mehrheit der Ukrainer (71,4 Prozent) glaubt nicht, dass die Werchowna Rada frei von Korruption ist; nur 4,2 Prozent hingegen nehmen an, dass sie das ist. Auch die Tätigkeit der Regierung wird kritisch beurteilt, wobei sie etwas häufiger als die Werchowna Rada positiv bewertet wird. Im Einzelnen stimmen 8,5 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Regierung kompetent und effizient ist (55,7 Prozent stimmen nicht zu). 7,4 Prozent stimmen zu, dass die Regierung ihr Bestes tun will, um dem Land zu dienen, zwei Drittel der Befragten (62,7 Prozent) stimmen dem nicht zu. Etwa der gleiche Anteil der Befragten glaubt, dass die Arbeit der Regierung offen und transparent ist (6,2 Prozent) und dass die Regierung ihre Pflichten sehr gut erfüllt und im Interesse der Bürger handelt (jeweils 6,1 Prozent); zwei von drei Befragten stimmen diesen Aussagen nicht zu. 70,1 Prozent sehen die Regierung als nicht frei von Korruption an, was lediglich von 5,6 Prozent angenommen wird. Korruptionswahrnehmung, soziale Bindungen und Vertrauen Der Vergleich zweier Teilproben – jene, die meinen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, und jene, die denken, man solle sich vor anderen Menschen in Acht nehmen – zeigt in Bezug auf die Wahrnehmung von Korruption einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Diejenigen, die Menschen eher vertrauen, nehmen tendenziell weniger Korruption wahr als diejenigen, die meinen, man solle sich vor Anderen in Acht nehmen: 78,9 Prozent beziehungsweise 84,3 Prozent der Befragten entschieden sich für Antworten zwischen sieben und zehn, wobei zehn für "Korruption ist sehr weit verbreitet" steht. Die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung (68,7 Prozent) glaubt, dass normale Bürger im Umgang mit ihren Problemen oder für Dienstleistungen selten oder nie gezwungen sind, Bestechungsgelder an Behörden bereitzustellen. Andererseits zeigt der WVS-7, dass jeder dritte Ukrainer (31,3 Prozent) glaubt, Bestechungsgelder seien immer oder oft nötig, um Dienstleistungen von den Behörden zu erhalten oder mit Problemen umzugehen. Der WVS-7 zeigt also eine unterschiedliche Wahrnehmung von Bestechung derjeniger, die Menschen vertrauen, und derjeniger, die glauben, man solle sich vor Menschen in Acht nehmen – 23,9 bzw. 34,7 Prozent von ihnen meinen, man müsse oft oder immer Bestechungsgeld zahlen, um mit einem Problem umzugehen. Diejenigen, die sich vor Menschen in Acht nehmen wollen, sind vulnerabler gegenüber Korruptionspraktiken und eher bereit, Bestechungsgeld zu zahlen. Diejenigen, die den meisten Menschen vertrauen, geben dagegen öfter an, Bestechung sei nicht nötig (34,2 Prozent dieser Gruppe denken, Bestechungsgelder müssen nie gezahlt werden; dies glauben nur 23,5 Prozent derjenigen, die meinen, man solle sich vor Menschen in Acht nehmen). Es kann also angenommen werden, dass ein schwer überwindbarer Glaube an eine weit verbreitete Korruption dem Wachstum von Vertrauen und gesellschaftlichem Zusammenhalt in der Ukraine im Wege steht. Dass die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung ist, man solle sich vor anderen Menschen in Acht nehmen und Bestechungsgeld zahlen, um Leistungen zu erhalten, zeigt, dass erhebliche Antikorruptionsmaßnahmen genauso dringend nötig sind wie mehr Anstrengungen und Initiativen zur Schaffung gesellschaftlichen Zusammenhalts in verschiedenen Teilen der Bevölkerung. Fazit Die Ergebnisse des WVS-7 in der Ukraine stimmen in Bezug auf soziales Kapital und Vertrauen optimistisch, denn sie zeigen, dass sich die Menschen in der Ukraine zukünftig stärker gegenseitig unterstützen und Graswurzelinitiativen bilden können, ohne dabei auf Behörden zurückzugreifen – um verschiedene lokale Probleme zu lösen oder sich als Gemeindegruppen oder -Organisationen gegenüber Behörden für Veränderungen einzusetzen. Das wachsende Vertrauen sollte allerdings auch von zunehmender Toleranz gegenüber "Andersartigkeit" begleitet werden. Hier gibt es noch viel Raum für Verbesserung, denn die Toleranz gegenüber Zuwanderern und Ausländern und Menschen, die eine andere Sprache sprechen, ist seit 2011 nicht gestiegen. Stärkere soziale Bindungen und gegenseitiges Vertrauen unter Nachbarn und Bekannten und die damit einhergehende Bereitschaft, sich zur Lösung lokaler Probleme auf lokaler Ebene gemeinschaftlich einzusetzen, können als Träger einer westlich ausgerichteten Entwicklung der Ukraine angesehen werden. Wird ein wachsendes zwischenmenschliches Vertrauen jedoch nicht von einem wachsenden Vertrauen in die meisten staatlichen Institutionen begleitet, können die Menschen von Regierung und lokalen Behörden enttäuscht werden und zu Wahlmüdigkeit sowie einem pessimistischen Blick in die Zukunft der Ukraine neigen. Das im letzten Jahrzehnt insgesamt gesunkene Vertrauen in Behörden und die Wahrnehmung der Korruption als in den Behörden stark verbreitetes Phänomen können einer künftigen Stärkung von sozialem Zusammenhalt und Vertrauen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Wege stehen. Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt Lesetipps: Civic Engagement Poll, durchgeführt von ENGAGE (Pact Inc.) im Januar 2020: Externer Link: https://engage.org.ua/eng/ Civic Engagement Poll, durchgeführt von ENGAGE (Pact Inc.) im August 2020: Externer Link: https://engage.org.ua/eng/ World Values Survey 2020 in der Ukraine (auf Ukrainisch): Externer Link: http://ucep.org.ua/wp-content/. Ukrainian Centre for European Politics (Hg.): Ukraine in World Values Survey 2020: Resume of the Analytical Report, 19.11.2020, Externer Link: http://ucep.org.ua/
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Tetiana Kostiuchenko (Nationale Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie)
"2021-06-23T00:00:00"
"2021-03-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/328290/analyse-gutes-und-schlechtes-sozialkapital-vertrauen-und-korruption-in-der-ukraine-laut-dem-world-values-survey-2020/
Hohes Vertrauen in andere Menschen stärkt Gesellschaften. Doch wenn Institutionen schwach sind und nicht vertrauenswürdig, wächst Korruption. Wie hoch ist das Vertrauen der Ukrainerinnen und Ukrainer in ihre Mitmenschen und in verschiedene Institutio
[ "Korruption und Kriminalität", "politische Kultur", "Ukraine", "World Values Survey", "Ukraine" ]
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Großbritanniens Rolle innerhalb und außerhalb der EU | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de
"I want my money back!" – mit diesen Worten forderte schon Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren eine Sonderbehandlung für Großbritannien in der Europäischen Union (EU) ein. Doch ebenso eindeutig hat sich Thatcher für die Schaffung des EU-Binnenmarkts eingesetzt. Diese Haltung zieht sich bis heute auch durch die Europapolitik von David Cameron, der einer tiefen politischen Integration weitgehend ablehnend gegenübersteht, aber die wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstützt. Außen- und sicherheitspolitisch setzt Großbritannien primär auf die USA und die Interner Link: NATO, während es die EU eher als ergänzenden Handlungsrahmen betrachtet. Am 23. Juni werden die britischen Bürger nun entscheiden, ob sie diesen 'halb draußen'-Status unterstützen – oder die EU ganz verlassen wollen. Großbritanniens Sonderrolle in der EU Das Vereinigte Königreich ist den damaligen Interner Link: Europäischen Gemeinschaften (EG) 1973 als Teil der ersten Erweiterungswelle Externer Link: gemeinsam mit der Republik Irland und Dänemark beigetreten. Die Beweggründe für den Beitritt waren anders als etwa in Frankreich und Deutschland primär wirtschaftlicher Natur. In den 1970er-Jahren galt Großbritannien als 'sick man of Europe', dem nach dem Verlust des Empires auch drohte, wirtschaftlich hinter der Entwicklung auf dem Kontinent zurückzubleiben. Heute haben sich die Vorzeichen, nicht jedoch die grundsätzlichen Interessen der britischen Europapolitik verschoben. Großbritannien ist mit seinen knapp 65 Mio. Einwohnern nach Deutschland und Frankreich der drittgrößte EU-Mitgliedstaat und damit einer der 'großen Drei', welche insbesondere die intergouvernementalen Bereichen der EU besonders stark beeinflussen. Wirtschaftlich liegt das Land mit einem Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 2.569 Mrd. € (2015) noch deutlich vor Frankreich (2.184 Mrd. €) an zweiter Stelle hinter Deutschland (3,026 Mrd. €). Vor allem hat sich das Vereinigte Königreich deutlich besser von der Interner Link: Wirtschafts- und Finanzkrise erholt als die meisten Euro-Staaten und erreichte seit 2009 stets höhere Wachstumsraten als die Eurozone in ihrer Gesamtheit. In der Folge ist London trotz dem von Margarete Thatcher ausgehandelten Interner Link: 'Britenrabatt' drittgrößter Nettozahler in den EU-Haushalt (2014). Schwerpunkt Binnenmarkt Die politischen Prioritäten der britischen Regierung in der EU sind relativ eindeutig: So haben sich die letzten Regierungen – unabhängig davon, ob sie von den Konservativen oder von Labour angeführt wurden – durchgängig für eine Vertiefung des EU-Binnenmarkts und die Ausweitung von Interner Link: Freihandelsabkommen mit Drittstaaten eingesetzt. Kernbestandteil der "neuen Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der EU", wie sie David Cameron vor dem Referendum ausgehandelt hat, war daher eine weitere Vertiefung des gemeinsamen Marktes, insbesondere in den Bereichen Dienstleistungen, digitaler Handel und Energie. Die britische Wirtschaft, die mittlerweile zu fast 80 Prozent aus Dienstleistungen besteht, würde hier besonders von einer weiteren Öffnung der EU-Märkte profitieren. Gleichzeitig haben sich die letzten britischen Regierungen durchgängig für den Abbau von Regulierung vor allem für kleinere und mittelständische Unternehmen im Binnenmarkt eingesetzt, um die Kosten von Bürokratie zu senken. Die britische Regierung gehört auch zu den stärksten Befürwortern der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den USA. Wichtige Partner in der EU sind hier für London ebenfalls wirtschaftlich liberal ausgerichtete Mitgliedstaaten wie Dänemark, Schweden, die Niederlande und zum Teil Deutschland. Ein zweiter, traditioneller Schwerpunkt der britischen Europapolitik hat jedoch an Bedeutung verloren. So hat sich London in der Vergangenheit besonders deutlich für eine Erweiterung der EU ausgesprochen. Auch die eventuelle Aufnahme der Türkei in die EU hat Großbritannien durchweg unterstützt. In diesem Zusammenhang hat Großbritannien 2004 neben Irland und Schweden als einziges Mitgliedsland seinen Arbeitsmarkt direkt Interner Link: für Einwanderer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten geöffnet. Danach ist die Anzahl von EU-Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Großbritannien deutlich gestiegen. Davon hat das Land zwar wirtschaftlich stark profitiert, in der Bevölkerung ist aber die Sorge vor zu großer Migration gestiegen. Die britische Regierung war daher in den letzten Jahren darum bemüht, die Anreize für Einwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten zu senken – hierzu gehört insbesondere die von David Cameron mit der EU ausgehandelte 'Notbremse', die es Großbritannien im Falle eines Votums für den Verbleib in der EU erlauben würde, für sieben Jahre Sozialleistungen an EU-Arbeitnehmerinnen und -nehmer zurückzuhalten. Die traditionell guten Beziehungen Londons zu den mittel- und osteuropäischen Staaten haben hierunter zuletzt gelitten, obwohl es in Bezug auf die Skepsis gegenüber einer weiteren EU-Integration zunehmend Gemeinsamkeiten etwa mit den Regierungen in Warschau oder Budapest gibt. Dritter langfristiger Schwerpunkt der britischen Europapolitik ist die Interner Link: Terrorismusbekämpfung in der EU. Zwar ist Großbritannien nicht im Interner Link: Schengenraum und hat in der Innen- und Justizpolitik ein Opt-In-Recht (siehe unten). In der Praxis hat das Land sich aber besonders seit den Terroranschlägen in London von 2005 aktiv an der vertieften Zusammenarbeit der EU-Staaten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus beteiligt, zuletzt etwa 2016 beim Beschluss zur verpflichtenden Speicherung von Fluggastdaten innerhalb der EU. Das Land der Opt-Outs Gleichzeitig ist London in anderen Politikbereichen darauf aus, seine nationale Souveränität möglichst zu bewahren. Großbritannien ist bereits heute das EU-Mitglied mit den meisten Sonderausnahmen. Sie erstrecken sich auf drei Bereiche: Erstens ist das Land dauerhaft von der Interner Link: dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ausgenommen. Mittlerweile gibt es nach den Erfahrungen der Interner Link: Eurokrise auch keine größere Partei in Großbritannien mehr, die sich für eine Euro-Einführung ausspricht. Eine aus britischer Sicht zentrale Errungenschaft von David Cameron in der Einigung mit der EU war daher eine rechtliche Absicherung, dass britische Unternehmen nicht in der Interner Link: Eurozone diskriminiert werden dürfen. Das zweite große Interner Link: Opt-Out betrifft den Schengenraum und die Innen- und Justizpolitik. So hat sich Großbritannien von Beginn an nicht an der Öffnung der Binnengrenzen beteiligt und ist demnach auch nicht im selben Maße von der Flüchtlingskrise betroffen. Bei der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU und dem Abkommen mit der Türkei zur direkten Aufnahme von Flüchtlingen bleibt das Land außen vor. In der Innen- und Justizpolitik verfügt Großbritannien seit dem Vertrag von Lissabon über ein Opt-In-Recht – das bedeutet, dass es sich bei jedem Gesetzakt entscheiden kann, ob es sich daran beteiligt. Die bisherige Praxis zeigt, dass sich London hier vor allem an Maßnahmen zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung wie Interner Link: Europol beteiligt, während es gemeinsamen Standards, etwa im Asylbereich, fernbleibt. Zuletzt hat Großbritannien noch ein Opt-Out aus der Anwendung der Interner Link: Charta der Grundrechte der EU. Die jüngste Sonderausnahme ist 2016 bei den Verhandlungen mit Cameron vor dem Referendum vereinbart worden. Demnach wird sich Großbritannien grundsätzlich nicht an der weiteren politischen Integration in der EU beteiligen, das Ziel der 'immer engeren Union' soll nicht mehr für das Land gelten. Auch bei einem Verbleib hat sich Großbritannien für die absehbare Zukunft von der weiteren EU-Integration abgekoppelt. Außenpolitische Schwerpunkte Das Vereinigte Königreich gehört weiterhin zu den außen- und sicherheitspolitisch einflussreichsten Staaten der Welt. Auf der einen Seite ist das Land ständiges Mitglied im Interner Link: UN-Sicherheitsrat mit Veto-Recht; es ist Atommacht und verfügt neben Frankreich über den höchsten Wehretat sowie die größten militärischen Fähigkeiten innerhalb der EU. Auf der anderen Seite hat das Land über seine Beziehungen zu den 53 Staaten des Interner Link: Commonwealth, sein umfassendes diplomatisches Netzwerk und die engen Beziehungen zu den USA auch diplomatisch weiterhin eine globale Reichweite jenseits des europäischen Kontinents. Die 'special relationship' zur USA und die reservierte Haltung zur Außen- und Sicherheitspolitik der EU Der wichtigste außen- und sicherheitspolitische Partner für Großbritannien sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Gemäß der britischen Nationalen Sicherheitsstrategie ist das aktive Engagement der USA in Europa und die Aufrechterhaltung der NATO zentraler Garant der britischen Sicherheit. Großbritannien hat die USA daher in den vergangenen Jahrzehnten bei fast allen militärischen Interventionen direkt unterstützt, wie etwa im Irak, in Afghanistan, in Libyen oder zuletzt Syrien. Nach britischer Lesart beruht die 'special relationship' mit den USA daher nicht nur auf gemeinsamer Kultur, sondern ebenso gemeinsamen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen. Zurückhaltender ist hingegen die britische Haltung zur Interner Link: Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Unter der Labour-Regierung von Tony Blair war London gemeinsam mit Paris und Berlin noch treibende Kraft hinter der Gründung der GSVP als Mittel zur Stärkung europäischer militärischer Handlungsfähigkeit, solange die NATO nicht untergraben wird. Großbritannien stellt daher beispielweise eines der militärischen Hauptquartiere für die EU, welches seit 2008 für die Anti-Piraterie Operation EUNAVFOR Atalanta vor der Küste Somalias genutzt wird. Die Regierungen unter Premier David Cameron hingegen pflegen zur GSVP eine kritische Distanz – neben der Bereitstellung des Hauptquartiers beteiligt sich das Land an EU-Operationen kaum, während es einer weitergehenden militärischen Integration ablehnend gegenübersteht. Positiver ist die britische Grundhaltung zur Koordinierung in der Interner Link: Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Insbesondere in der Interner Link: Ukraine-Krise hat London erkannt, dass neben einer Unterstützung der östlichen Mitgliedstaaten der NATO die direkten Verhandlungen der Europäer mit Russland in Verbindung mit den EU-Sanktionen ein wichtiges außenpolitisches Instrument auch für Großbritannien ist. Sicherheitspolitischer Partner Frankreich Der wichtigste außen- und sicherheitspolitische Partner Großbritanniens innerhalb der EU ist Interner Link: Frankreich. Trotz fortbestehender Differenzen über die Zukunft der GSVP eint die beiden Länder ihre Stellung als größte Militärmächte innerhalb der EU und eine größere Bereitschaft, militärische Mittel in der internationalen Politik einzusetzen. 2011 haben beide etwa gemeinsam die militärische Intervention in Libyen vorangetrieben, in der die USA nur eine unterstützende Rolle eingenommen haben. Seit 2010 haben Großbritannien und Frankreich im Externer Link: Lancaster House Treaty vereinbart, bilateral unter anderem bei der Entwicklung ihrer Flugzeugträger, bewaffneten Drohnen und ihrer Atomwaffen zusammenzuarbeiten sowie eine gemeinsame Eingreiftruppe aufzubauen. Als sich Frankreich nach den Anschlägen von Paris im November 2015 auf die EU-Beistandsklausel berief, war Großbritannien trotz seiner Skepsis gegenüber der GSVP einer der ersten EU-Staaten, die Paris militärisch in Syrien unterstützt haben. Ausblick Schon vor dem EU-Referendum am 23. Juni 2016 präsentiert sich Großbritannien als ein Land zwischen den Welten, welches sich in der EU einen Sonderstatus ausgehandelt hat und außen- und sicherheitspolitisch auf die Kooperation mit den USA sowie die bilaterale Partnerschaft mit Frankreich setzt. Beides steht bei der Volksabstimmung zur Disposition. Denn nicht nur zur EU müsste Großbritannien seine Beziehungen nach einem Austritt neu austarieren, sondern auch US-Präsident Obama hat klar gemacht, dass die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens eine wichtige Basis für die special relationship ist. Nicolai von Ondarza (© privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-07T00:00:00"
"2016-06-03T00:00:00"
"2022-01-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/brexit/228806/grossbritanniens-rolle-innerhalb-und-ausserhalb-der-eu/
Großbritannien nimmt in der Europäischen Union eine Sonderrolle ein. Wodurch kennzeichnet sich der besondere Status des Vereinigten Königreichs? Was sind die wichtigsten Partner und was die Schwerpunkte der britischen Außenpolitik?
[ "Europäische Gemeinschaft", "Die Europäische Union", "Brexit", "Geopolitik", "Binnenmarkt", "special relationship", "Großbritannien" ]
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ГРАЖДАНСКОЕ ОБРАЗОВАНИЕ В ЭКВАДОРЕ: ДАВАЙТЕ РАЗУМНО ПРИЛАГАТЬ УСИЛИЯ | Country Profiles: Citizenship Education Around the World | bpb.de
1. Справочная информация об Эквадоре Для полного понимания статуса политического образования в Эквадоре необходимо сделать обзор политического опыта Эквадора и обратить внимание на то, как он повлиял на восприятие политики, гражданственности и политического образования. Это имеет прямую связь со статусом гражданского и политического образования и предоставляет подробную информацию для более полного понимания этого статуса. Эквадор — президентская республика с давней политической историей. Именно в Кито, в местной столице, произошло первое организованное восстание против испанского правления в 19-м веке. В 1822 году страна наконец получила независимость и с тех пор вступила в эпоху обновления и политического преобразования. Несмотря на то что большинство правительств были избраны демократическим путем, в Эквадоре была своя история военных диктатур, как почти во всех латиноамериканских странах. Однако эти режимы были слабее с точки зрения их влияния на эквадорское общество и политику и не оставили долговременного следа в политической жизни, в отличие от Аргентины, Бразилии или Чили. В конце 1970-х годов последняя военная хунта была повержена, и в 1980 году покойный президент Хайме Рольдос открыл новую эру демократии, став символом нового правления в Эквадоре. Однако энтузиазм, связанный с новым молодым президентом, развеялся после его трагической гибели в авиакатастрофе в мае 1981 года. Политический ландшафт испытал потрясение, и Эквадор столкнулся с проблемой сохранения новой и хрупкой демократии. В 1980 годы наблюдалась постоянная смена правого и левого правительств. Большинство электората традиционно шло за кандидатом, который обещал лучшую жизнь, а затем разочаровывалось, видя то немногое, чего удавалось достичь. Так продолжалось до середины 1990-х годов, когда Эквадор пережил самый болезненный период своей новейшей истории после возвращения к демократии и смерти Хайме Рольдоса. В 1995 году был избран аутсайдер-популист Абдала Букарам, что спровоцировало серию событий, определивших политический ландшафт Эквадора на период до 2006 года. Из-за стиля своего управления и нескольких коррупционных скандалов Букарам был отстранен от власти Конгрессом в соответствии с конституцией Эквадора. Это было результатом народных волнений и работы местных СМИ, которым удалось заставить Конгресс пойти на такие решительные действия. За этим последовала серия замен и выборов, которые заканчивались одинаково, в результате чего страна оказалась в полном политическом и экономическом хаосе. На выборах 2006 года этот период нестабильности завершился избранием Рафаэля Корреа, молодого экономиста и бывшего профессора крупнейшего частного университета Эквадора. Имея тесные идеологические связи с Уго Чавесом из Венесуэлы и Эво Моралесом, Корреа предложил новую латиноамериканскую прогрессивную позицию под названием «социализм 21-го века», которую он реализовывал более 10 лет. Его правительству удалось продержаться у власти в течение столь длительного периода благодаря конституционным реформам, проводимым самим президентом Корреа, чей стиль управления в итоге создал «гиперпрезидентскую» модель, что привело к вмешательству в деятельность всех ветвей власти. Корреа ушел с поста в 2017 году, и его сменил бывший вице-президент Ленин Морено, который должен был продолжать «революционную» линию своего предшественника. Однако Морено повернул ход событий и стал президентом переходного периода, разрушавшим структуры клиентелизма, а также связи с прессой и оппозицией прежнего режима. Несмотря на то что после народных волнений 2019 года его популярность быстро пошла на спад, он сумел продержаться весь срок своих полномочий, который закончился серьезными вспышками насилия в крупных городах. Вдобавок ко всему, пандемия нанесла сокрушительный удар по системе здравоохранения Эквадора, не позволив Морено в полной мере справиться с кризисом, что еще больше снизило его популярность. Недавно, в мае 2021 года, было сформировано новое правительство с кандидатом от консерваторов и бывшим банкиром Гильермо Лассо, который пообещал восстановить здоровую экономику и укрепить демократические ценности в стране, где политика обычно ассоциируется с коррупцией и бесхозяйственностью. 2. Гражданское образование в демократически несовершенной системе Страна с таким политическим прошлым, как у Эквадора, представляет собой интересный пример гражданского и политического образования, учитывая то, что люди здесь имеют скорее негативное отношение к политике. На вопрос о том, в какой степени люди доверяют политическим институтам, они в целом отвечают в негативном ключе, и самый низкий уровень доверия наблюдается у политических партий. Тем не менее большинство граждан сохраняют стойкую веру в демократию, поскольку они не согласны с любой формой правления, которая не является демократической. В регионе ясно прослеживается тенденция к вере в роль демократических институтов и в меньшей степени — в последствия авторитарного правления. В исследовании, спонсируемом Организацией Объединенных Наций по вопросам образования, науки и культуры (ЮНЕСКО) и проведенном в ее Международном бюро образования, для стран Латинской Америки был получен следующий результат: «современная проблема, стоящая перед регионом, описывается как переход от демократии избирателей к демократической гражданственности». Авторы приходят к общему мнению о том, что роль школ в формировании ценности политического образования, как они ее понимают, является ключевой для достижения более глубокого понимания «политики» и интереса к этой сфере. И хотя разные страны имеют разные пути исторического и политического развития, у стран Латинской Америки есть ряд пересечений. Например, ни в одной из стран этого региона не было военного или фактического правительства, которое продержалось бы как минимум тридцать лет. Это считается решающим фактором для развития политической гражданственности и, следовательно, для политического образования. Смена правительства, которая во всех случаях осуществлялась путем выборов, сформировала отношение населения к демократическим процессам. Верховенство закона, роль институтов и надлежащее управление — стандартные ожидания во всех странах этого региона. Эквадор не является исключением и следует этой региональной тенденции, в своем большинстве и в целом поддерживая идею демократического правления в противоположность авторитарной форме правления — как это было до конца 1970-х годов. Однако два последних правительства, особенно правительство во главе с Рафаэлем Корреа, внесли некоторые изменения в уровень удовлетворенности демократией среди электората. Исследование, проведенное Университетом Вандербильта, показывает, что уровень поддержки демократии в Эквадоре снизился с 66,7% в 2014 году до 54,4% в 2019 году. Это свидетельствует о постоянно растущем критическом недовольстве правительством и его действиями. Кроме того, значительное число эквадорцев поддерживают идею военного переворота, «когда совершается много преступлений и открывается широкое поле для коррупции». В этом контексте Чавес рассматривает пример гражданского образования в Эквадоре как проблему, поскольку в течение последних 30 лет политическое участие в основном ограничивалось «форматом протеста». Идея политического участия заключалась в повышении общественного недовольства до того момента, когда президент уходил в отставку и покидал страну, оставляя вице-президента отвечать за завершение срока полномочий и проведение новых выборов, на которых протестующие получали шанс сделать «хороший выбор», чтобы затем быстро разочароваться и вернуться к протестам. Гражданское образование стало частью школьной программы во время правления Рафаэля Корреа в 2012 году. Правительство видело свою конечную цель в том, чтобы заставить учащихся и учителей осознать, что их окружает политическая среда и что в такой среде права и обязанности играют особую роль. Поэтому Министерство образования решило изъять гражданское и политическое образование из тех предметов, в которых они были традиционно представлены (например, из курса социальных наук), и составить полноценный курс по этим темам. Министерство образования Эквадора определило цель гражданского образования как способность «понимать и оценивать основные принципы эквадорской демократии, чтобы проявлять независимую, совместную и ответственную гражданственность, а также формировать личное, определенное и независимое мнение в отношении дилемм или противоречий в общественной жизни». Кроме того, согласно Чавесу, цель заключалась не в том, чтобы организовать учебный курс, который всего лишь излагает предусмотренные темы, связанные с гражданским и политическим образованием, а скорее в том, чтобы учащиеся и учителя были более активными и участвовали в обсуждениях, что должно обеспечить надлежащее «обучение гражданственности». 3. Экосистема гражданского образования Эквадоре После определения целей гражданского образования перед правительством Эквадора встала серьезная проблема: как внедрить эту идею в учебные программы школ по всей стране. Поэтому разработка учебников, содержащих идею о том, чего должно достигнуть «гражданское образование», быстро стала частью стратегии правительства. Разработка таких инструментов быстро стала важным проектом Министерства образования. На основании предложенной правительством концепции темы, призванные передать учащимся обширную базу знаний для гражданского образования, были разделены на четыре указанных ниже блока. Гражданственность и права Современная демократия Демократия и построение многонационального государства Государство и его организация Это позволило Министерству стать официальным голосом гражданского образования и охватить все соответствующие аспекты. И хотя этот материал кажется универсальным и применимым к любой латиноамериканской стране, правительство не упустило возможности включить в него темы политического характера, например, части последней конституции 2008 года. Весь текст пронизан концепцией Buen Vivir («хорошая жизнь»), хотя в нем можно найти и намеки на ценность новой конституции, что делает этот вид гражданского образования очень предвзятым и не соответствующим принципу нейтральности, который предполагался первоначальной идеей правительства. Таким образом, мы можем говорить о том, что до сегодняшнего дня «экосистема» гражданского образования в Эквадоре в значительной степени формировалась Министерством образования, обслуживающим политическую линию бывшего президента Корреа и его преемника Ленина Морено (его бывшего вице-президента), что сделало этот подход скорее «политическим», чем «образовательным». Существовало большое количество инициатив по созданию «школ гражданского образования», и тем не менее все они были либо частью официальной линии правительства, либо были связаны с определенной политической партией. Таким образом, мы можем сказать, что концепция действительно нейтрального и непартийного политического образования практически отсутствовала в Эквадоре с момента его возвращения к демократии. Все правительства лишь предпринимали попытки создать какую-либо форму учебных программ, из которых учащиеся узнали бы об определенных аспектах политической структуры и ценностях страны, однако ни одна из них не была нейтральной, что делало идею гражданского образования практически утопической. Помимо этого существует несколько фондов и организаций гражданского общества, которые занимаются формированием и обучением лидеров всех возрастов. Среди наиболее известных стоит отметить Fundación FIDAL — образовательное заведение, которое предлагает различные программы лидерства и которым руководит бывший вице-президент Розалия Артеага; а также Corporación Líderes para Gobernar — своего рода аналитический центр с участием граждан, который предлагает курсы по лидерству, открытому правительству и политическим коммуникациям. Однако в этом случае важно отметить, что правительство не выполняет централизованную координацию работы этих организаций и их целей. У каждого из этих учреждений свои цели, бюджет и сфера деятельности. 4. Гражданское образование в конституции Эквадора По результатам плебисцита 2008 года была одобрена последняя версия конституции Эквадора, которая стала инструментом, регулирующим все секторы политики, общественной жизни и экономики Эквадора, преимущественно через исполнительную власть. Однако конституция 2008 года пронизана так называемым «прогрессивистским» духом, поскольку она предоставляет права традиционно исключенным слоям эквадорского общества, таким как малочисленные коренные народы и группы ЛГБТИ. В эквадорском контексте конституция рассматривается как документ, гарантирующий права всех граждан перед государством. Несмотря на то что Министерство образования в нескольких учебниках подчеркивает важность гражданского образования, текст конституции Эквадора не содержит четкого упоминания о «гражданском» или «политическом» образовании. Основное внимание уделяется национальной системе образования, и в тексте содержатся общие руководящие принципы. При более внимательном рассмотрении главная цель национальной системы образования определяется как «развитие личных и коллективных возможностей и потенциала доступности обучения, а также создание знаний, техник, мудрости, развитие искусства и культуры». Кроме того, национальная система образования, как утверждается, нацелена на «построение межкультурного видения в соответствии с географическим, культурным и языковым разнообразием с уважением прав сообществ, народов и национальностей». Из этого следует, что национальная система образования Эквадора должна регулироваться правительством, которое выполняет функции ректора всех учебных заведений. Это является очевидным свидетельством предвзятости всех учебных заведений в вопросах обучения граждан. Единственное упоминание о гражданском образовании можно найти в ст. 347.4 конституции, которая гласит, что одной из обязанностей государства является включение в программы всех образовательных учреждений таких тем, как «гражданственность, половое воспитание и окружающая среда с точки зрения прав (человека)». Из этого очевидно, что в правовых рамках законодательства Эквадора отсутствует непосредственная концепция гражданского и политического образования. Есть определенные аспекты, которые по касательной затрагивают некоторые расплывчатые положения о предоставлении учебных программ, включающих в себя эти темы. Кроме того, отсутствие институтов, отделенных от Министерства образования, затрудняет развитие этой концепции за рамками официальных линий. В других министерствах или ветвях власти нет институтов, занимающихся вопросами гражданского образования или политического образования. Единственные, кто обязан это делать согласно партийному праву (Código de la Democracia), — это политические партии. Из всех политических партий только одна имеет утвержденный институт политического образования. В результате ландшафт в этой области представляет собой довольно обширное, но безжизненное поле. 5. Потребности заинтересованных сторон В такой стране, как Эквадор, есть несколько заинтересованных сторон, которым было бы полезно иметь стабильный институт, отвечающий за гражданское образование. С одной стороны, основной целью должны быть старшие классы школ. Стратегия Министерства образования в отношении учебных программ в некоторой степени повлияла на отношение учащихся к политическим вопросам. Исследование Чавеса показывает, что образовательные цели в сфере гражданского образования в основном сосредоточены на изучении прав человека, функций правительства, ценностей и моральных принципов. Результаты работы учителей в сфере гражданского образования возрастают по мере того, как они признают необходимость и важность этого воспитания в целом. Однако в заключительной части своего исследования Чавес заявляет о том, что ни учителя, ни ученики, похоже, не имеют «полного понимания цели гражданского образования». Это вполне может быть связано с тем, что гражданское образование при режиме Рафаэля Корреа было направлено только на то, чтобы передать учащимся конкретное видение будущего с точки зрения «социализма 21-го века» и прогрессивных левых. Университеты также относятся к важным заинтересованным лицам в этой системе. Однако у них практически нет программ, ориентированных на студентов и преподавателей университетов в области гражданского образования. Эта цель здесь абсолютно не реализована. Учебные программы ориентированы на различные карьерные пути, и вопросы гражданского и политического образования рассматриваются только в рамках обучения таким специальностям, как классические социальные науки, международные отношения, политология и экономика. В остальных случаях содержание учебных программ полностью сосредоточено на определенной специальности. Последней заинтересованной стороной является та часть эквадорского общества, которая не имеет формального образования. Дети, подростки, взрослые и пожилые люди могут быть заинтересованы в доступе к качественному политическому образованию. Однако, как уже было сказано, проблема заключается в отсутствии учреждений, предлагающих такое образование. Как упоминалось ранее, единственные места, которые предлагают политическое образование, — это так называемые институты лидерства при политических партиях. Первая проблема возникает в связи с тем, что доступ к этой форме политического образования предоставляется только членам партий. Вторая проблема заключается в том, что партии не излагают эти темы в нейтральном ключе, поскольку стремятся через эти институты продвигать свои идеи и политические позиции — разумеется, это один из способов политического образования, но его нельзя назвать независимым. 6. Проблемы рационального приложения усилий Проведя краткий анализ гражданского образования и политического образования в Эквадоре, мы можем сказать, что страна сталкивается с серьезными проблемами в этой области. Основная проблема состоит в том, что какие-либо действия в этой сфере исходят только от государственных органов, в частности, от Министерства образования. Существует насущная потребность в независимых непартийных организациях, поскольку неспособность двух последних правительств придерживаться демократических принципов и верховенства закона серьезно ухудшила отношение к демократии. И несмотря на то что уходящее правительство Ленина Морено было более гибким в отношении прав человека и свободы слова, наследие Рафаэля Корреа все еще живет в эквадорской политике. Это имеет двоякий результат. С одной стороны, разочарование в политике не прекращается, как показал барометр LAPOP. Новое правительство может изменить эту тенденцию, однако об этом еще рано говорить. С другой стороны, отсутствие сплоченной структуры независимых институтов за пределами партийной политической среды крайне затрудняет доступ к достойному гражданскому образованию для граждан Эквадора, которые являются частью формальной системы образования или не входят в нее. По-прежнему отсутствует определение того, что подразумевает (и чего не подразумевает) под собой гражданское образование, и это становится проблемой для той страны, которая первой проделала путь от абсолютистских систем правления к свободе и независимости. Это подтверждают слова известного эквадорского журналиста Диего Окендо: «С образованием — все; без него — ничего». 7. Рекомендации Ministerio de Educación del Ecuador 2016. Educación para la Ciudadanía. Moncagatta, Moscoso, Pachano, et. al 2020. Политическая культура демократии в Эквадоре и Америке, 2018/19: на пульсе демократии. Interner Link: English Version Primer Grito de Independencia — название первого организованного восстания против испанских правителей, которое произошло в 1810 году. Конгресс обратился к статье из прежней конституции, согласно которой президент может быть отстранен от должности в случае «психической недееспособности». После Букарама до выборов 2006 г. сменилось шесть президентов. LAPOP Barometro of the Americas. Case Study Ecuador by Moncagatta, Moscoso, et. al. Там же, стр. 29. Cox, Bascopé, et. al 2014. “Citizenship Education in Latin America: Priorities of school curricula.” IBE Working Papers On Curriculum Issues No. 14. Международное бюро просвещения ЮНЕСКО. В рамках исследования были изучены учебные программы шести латиноамериканских стран: Колумбия, Чили, Доминиканская Республика, Гватемала, Мексика и Парагвай. Последней страной, которая покончила с авторитарным правлением, была Чили. Это произошло в 1990 году, после того как генерал Аугусто Пиночет стал соблюдать конституцию и начал переходный период после 16 лет военного правления. Cox, Bascopé, et. al 2014. “Citizenship Education in Latin America: Priorities of school curricula.” IBE Working Papers On Curriculum Issues No. 14. Международное бюро просвещения ЮНЕСКО. Опрос, проведенный Коксом и другими учеными в 2007 году в Аргентине, Бразилии, Чили, Колумбии, Гватемале, Мексике и Перу, показал, что более 60 % людей считали, что демократия «лучше любой другой» формы правления. «Латиноамериканский барометр LAPOP» — это исследование Университета Вандербильта для оценки политических настроений во всем регионе. Moncagatta, et. al. 2020. Chavez, Andres Alberto 2016. "Citizenship Education in Ecuador: Perceptions of Students and Teachers." International Education Studies. Vol.9, No. 12. Constitución de la República del Ecuador. В период с 1996 по 2006 год этот цикл повторился в Эквадоре трижды. Chávez, 2016. По словам автора, гражданское образование нацелено на то, чтобы привить учащимся понимание их ответственности перед своей страной и своими общинами. По словам Чавеса, «концепции, связанные с гражданским образованием, преподавались только в рамках других социальных наук». Компоненты гражданского образования по-прежнему преподаются младших школьников в рамках социальных дисциплин, поскольку отдельные курсы гражданского образования предлагаются только учащимся двух последних классов старшей школы. Там же. Цит. по данным Министерства образования, 2012 г. Там же. Яркий пример — учебник Educación para la Ciudadanía, изданный Министерством образования в 2016 г. Там же. В 2008 году проект новой конституции, продвигаемый бывшим президентом Рафаэлем Корреа, был воплощен в жизнь по результатам плебисцита. Ministerio de Educación 2016. Educación para la Ciudadanía, p. 34. Buen vivir, или «хорошая жизнь» — это концепция, заложенная в конституции 2008 года, которая подразумевает установление правительственных стандартов для достижения надлежащего уровня жизни для всех граждан. Fundación FIDAL получает финансовую поддержку от фонда Hanns Seidel Stiftung в Германии, политического фонда баварской партии «Христианско-социальный союз». Corporación Líderes para Gobernar — это частное учебное заведение, которое предоставляет молодым лидерам необходимые инструменты для того, чтобы стать успешными политическими деятелями. Конституция Эквадора, ст. 343 и далее Там же. Там же. Конституция Эквадора, ст. 344. Конституция Эквадора, ст. 347.4. Чавес делает интересный анализ реализации учебных программ, содержащих компоненты гражданского образования, а также их восприятия учителями и учениками. Социал-демократическая «Левая демократическая партия» — единственная партия, которая имеет формальный институт политического образования под названием Instituto de Formación Política Manuel Córdova Galarza. Все остальные партии не имеют устоявшихся структур и не смогли предложить какую-либо форму учебных программ для своих членов. Там же, стр. 211. Там же, стр. 215.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-06-13T00:00:00"
"2021-08-13T00:00:00"
"2022-06-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/338408/grazhdanskoe-obrazovanie-v-ekvadore-davayte-razumno-prilagat-usiliya/
Страна с таким политическим прошлым, как у Эквадора, представляет собой интересный пример гражданского и политического образования, учитывая то, что люди здесь имеют скорее негативное отношение к политике, утверждает автор д-р Андрес Госалес.
[ "citizenship education", "political education", "Ecuador" ]
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Chronik: 24. April – 7. Mai 2017 | Ukraine-Analysen | bpb.de
24.04.2017 Nachdem ein Angehöriger der OSZE-Beobachtermission auf dem Territorium der "Volksrepublik Luhansk" ums Leben gekommen und zwei weitere verletzt worden waren, nachdem ihr Fahrzeug auf eine Landmine aufgefahren war, rufen die USA Russland dazu auf, auf die Separatisten einzuwirken und auf eine Untersuchung des Vorfalls hinzuwirken. Der getötete OSZE-Mitarbeiter war US-Amerikaner. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini spricht den Angehörigen ihr Beileid aus und erklärt, die Schuldigen müssten zur Verantwortung gezogen werden. Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow fordert die Bestrafung der Verantwortlichen infolge eines schnellen und transparenten Ermittlungsverfahrens. Während der Vorsitzende der Mission ErtuğrulApakan erklärt, die Mission werde trotz des Todesfalles weitergeführt, kündigt der stellvertretende Vorsitzende Alexander Hug eine partielle Unterbrechung der Patrouillenfahrten an. 25.04.2017 Infolge einer Anweisung des Energieministeriums, die am 23. April 2017 bekannt geworden war, unterbricht das zuständige Unternehmen die Lieferung von Strom in die Teile der Region Luhansk, die von Separatisten kontrolliert werden. Das Unternehmen hatte diese Entscheidung zuvor mehrfach gefordert, da die Energielieferungen nicht mehr bezahlt worden seien. Nach Angaben der Separatisten konnten die ausfallendenLieferungen für soziale Versorgungsleistungen nun von Seiten Russlands und aus der angrenzenden ebenfalls von Separatisten kontrollierten "Volksrepublik Donezk" ersetzt werden. Einige Unternehmen, darunter auch der Kohleabbau, müssten mit Einschränkungen rechnen. Boris Gryslow, der Bevollmächtigte des russischen Präsidenten in der trilateralen Kontaktgruppe aus Vertretern Russlands, der Ukraine und der OSZE, erklärt am Nachmittag, Russland sei bereit, Strom in die Gebiete der "Volksrepublik Luhansk" zu liefern. Es handle sich dabei um humanitäre Hilfe. Er merkt an, dass infolge derökonomischen Blockade der Region durch die Ukraine keine Möglichkeit bestanden habe, die Stromlieferungen aus der Ukraine zu bezahlen. Der ukrainische Energieminister Ihor Nasalyk erklärt unterdessen, die Ukraine werde die Lieferungen wieder aufnehmen, wenn die Schulden beglichen würden. 25.04.2017 Die 28-jährige Anastasija Sadoroschnaja wird in einem Wettbewerb zur Chefin der Abteilung für Lustration im Justizministerium gekürt. Zuvor war es aus unbekannten Gründen zweimal nicht gelungen, über das Wettbewerbsverfahren einen Kandidaten auszuwählen. Als Lustration wird die Überprüfung von Staatsbediensteten auf in der Vergangenheit begangene Korruptionsdelikte bezeichnet. 26.04.2017 Ein russisches Gericht verurteilt den Krimtataren Ruslan Sejtullajew zu zwölf Jahren Lagerhaft. Ihm war vorgeworfen worden, auf der von Russland annektierten Krim einen Stützpunkt der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir gegründet zu haben. Die Organisation ist in Russland seit 2003 verboten. Der Angeklagte hatte seine Schuld geleugnet. Er war mit mehreren weiteren Angeklagten bereits im September 2016 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das russische Oberste Gericht hatte das Urteil in seinem Fall jedoch aufgehoben und eine Neuverhandlung angeordnet. 26.04.2017 Der Ausschuss der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten (COREPER) bestätigt die Befreiung ukrainischer Staatsbürger von der Visapflicht bei Einreisen in die EU. Die finale Abstimmung im Rat der Staats- und Regierungschefs wird für den 11. Mai 2017 erwartet. 26.04.2017 Der Stadtrat von Odessa nimmt die Entscheidung des ehemaligen Gouverneurs der Region Odessa, Michail Saakaschwili, zurück, hunderte Namen von Straßen und Plätzen, die sich auf die Zeit der Sowjetunion beziehen, zu ändern. 27.04.2017 Nach Angaben von Walentina Melnikowa, der Vorsitzenden der russischen Menschenrechtsorganisation Union des Komitees der Soldatenmütter, sind im Krieg im Donbass bereits mindestens 1.500 russische Staatsbürger ums Leben gekommen. Sie erklärt allerdings, dass es keine genauen Zahlen gebe – es handle sich um eine Schätzung. 28.04.2017 Nach Angaben des Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates Oleksandr Turtschynow bestätigt ein Gericht letztinstanzlich die Konfiszierung von knapp 1,5 Milliarden US-Dollar des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, die im Jahr 2015 auf Konten der Oschtschadbank festgesetzt worden waren. Die Mittel würden in den Staatshaushalt überführt. 29.04.2017 Nach Angaben der Agentur Reuters, die sich auf Aussagen eines lybischen Militärs beruft, setzen lybische Sicherheitskräfte westlich der Stadt Tripolis zwei Tanker fest, darunter einen unter ukrainischer Flagge. Die Maßnahme steht im Zusammenhang mit Verdacht auf Erdölschmuggel. Das ukrainische Außenministerium erklärt, den Fall zu prüfen. Bisher liege keine offizielleBestätigung des Vorfalles vor. 29.04.2017 Nach Angaben des Innenministers Arsen Awakow lehnt Interpol den Antrag Russlands auf Ausstellung eines internationalen Haftbefehls gegen den ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk ab. Russland beschuldigt Jazenjuk, im ersten Tschetschenienkrieg in den Jahren 1994 und 1995 auf Seiten der tschetschenischen Separatisten gegen die russische Armee gekämpft zu haben. 29.04.2017 Nachdem am Vortag ein Gericht in Odessa die Aufhebung der Umbenennung einiger hundert Straßen für rechtswidrig erklärt hatte, nimmt nun der Bürgermeister Odessas die damit hinfällige Entscheidung des Stadtrates vom 26. April 2017 zurück. Der ehemalige Gouverneur Michail Saakaschwili hatte die Änderung von Straßennamen, die an die Sowjetunion erinnern, angeordnet. Der Stadtrat hatte diese Umbenennung nun aufgehoben, wogegen die Staatsanwaltschaft Klage eingereicht hatte. 30.04.2017 Die Ratingagentur Fitch korrigiert ihre Prognose für das Wachstum des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2017 von 2,5 % auf 2 %. Die Kreditwürdigkeit des Landes beziffert die Agentur mit der Note B-. Ein Kredit an Staaten dieser Gruppe ist nach Angaben der Agentur eine hochspekulative Anlage. Bei einer Verschlechterung der Lageseien Ausfälle wahrscheinlich. 30.04.2017 Bei Lokalwahlen im Gebiet Spoljansk der Region Tscherkassy in der Zentralukraine stellen Wahlbeobachter zahlreiche Fälle von Stimmenkauf fest, die allerdings gerichtlich kaum nachzuweisen sind. Unter anderem sei über die Verteilung von Nahrungspaketen und die Verlosung von Wein versucht worden, Wählerstimmen zu gewinnen, so ein Vertreter der Nichtregierungsorganisation Komitee ukrainischer Wähler. 02.05.2017 Bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin erklärt Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Bundesregierung wolle in Bezug auf den Konflikt im Osten der Ukraine am Format der Minsker Verhandlungen festhalten. Auch Putin bekräftigt die Wichtigkeit der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. 02.05.2017 Bei Kundgebungen anlässlich der Ausschreitungen am 2. Mai 2014 werden in Odessa 14 Menschen festgenommen. Damals war es zwischen nationalistischen Anhängern des Maidan und Gegendemonstranten des so genannten Antimaidan zu heftigen Ausschreitungen und infolgedessen zu einem Brand im Gewerkschaftshaus gekommen. Dabei waren 48 Menschen getötet worden, mehrheitlich Angehörige des Antimaidan. Die Ermittlungen zu dem Fall sind noch immer nicht abgeschlossen. 03.05.2017 Bei Militärübungen im Osten der Ukraine kommt ein Soldat der ukrainischen Armee ums Leben. 03.05.2017 Das Ministerkomitee des Europarates fordert Russland auf, das Verbot des Medschlis, der inoffiziellen Vertretung der Krimtataren auf der Krim, aufzuheben und seinen Vorsitzenden den Zugang zur Halbinsel zu gewähren. Am 19. April 2017 hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag festgestellt, dass die Maßnahmen Russlands gegen krimtatarische Aktivisten und Organisationen, die mit der Bekämpfung von Extremismus begründet werden, nicht mit den Schutzverpflichtungen für nationale Minderheiten vereinbar seien. 04.05.2017 Ein Gericht ordnet eineÜberprüfung der automatisierten Zuteilung von Richtern für das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch durch das staatseigene Unternehmen "Juristische Informationssysteme" an. Zu einer Unterbrechung des Verfahrens wird es allerdings nicht kommen. Damit wird einer Beschwerde von Janukowytschs Verteidigung teilweise stattgegeben. Diese hatte der Generalstaatsanwaltschaft vorgeworfen, sich in die Zuteilung eingemischt zu haben, und auf Unterbrechung des Verfahrens gedrängt. 05.05.2017 Das russische Außenministerium kündigt in einer Erklärung an, Russland werde die Entscheidung des Ministerkomitees des Europarates nicht anerkennen, da sie nicht auf Konsensbasis gefällt worden sei. Die Details des Abstimmungsergebnisses zur Entscheidung im Ministerkomitee des Europarates, dem auch Russland angehört, waren nicht veröffentlicht worden. Am 03. Mai 2017 hatte das Ministerkomitee des Europarates Russland aufgefordert, das Verbot des Medschlis, der inoffiziellen Vertretung der Krimtataren auf der Krim, aufzuheben und seinen Vorsitzenden Zugang zur Halbinsel zu gewähren. 06.05.2017 Der US-Senat verabschiedet das Budget des Jahres 2017. Es sieht Unterstützungszahlungen an die Ukraine in Höhe von 560 Millionen US-Dollar vor, darunter 150 Millionen für Verteidigungsausgaben. 06.05.2017 Die Beobachtermission der OSZE meldet, dass im Jahr 2016 im Donbass 154 Menschen durch Minen oder nicht gezündete Geschosse getötet oder verletzt worden seien. 06.05.2017 Die am 02. Mai 2017 erneut durch Kampfhandlungen unterbrochene Stromversorgung der Filtrationsanlage für Trinkwasser bei Awdijiwka in der Region Donezk wird wiederhergestellt. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-05-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/248329/chronik-24-april-7-mai-2017/
Die Ereignisse vom 24. März bis zum 07. Mai 2017 in der Chronik.
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Analyse: Faktencheck: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zum Donbass-Konflikt | Ukraine-Analysen | bpb.de
Einleitung Nach dem schnellen Vorstoß der Separatisten im Donbass Richtung Süden bis zum Asowschen Meer hatten die Minsker Vereinbarungen vom September 2014 (Minsk 1) nicht nur einen Waffenstillstand vorgesehen, sondern auch weitreichende Maßnahmen für eine friedliche Lösung festgelegt. Nach dem erneuten Ausbrechen massiver Kampfhandlungen im Januar 2015 wurde im Februar 2015 ein ergänzendes Maßnahmenpaket zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen beschlossen (Minsk 2). Mittlerweile mehren sich erneut Stimmen, die die Minsker Vereinbarungen für gescheitert halten. Hier soll deshalb eine umfassende Bestandsaufnahme vorgenommen werden, welche Bestimmungen der Minsker Vereinbarungen inwieweit umgesetzt worden sind. Für eine bessere Übersichtlichkeit werden die Bestimmungen aus allen Bestandteilen der Minsker Vereinbarungen nach inhaltlichen Kriterien zusammengefasst. Der erste Themenkomplex umfasst die Maßnahmen zur Aufnahme, Kontrolle und Stabilisierung eines Waffenstillstands. Der zweite Themenkomplex umfasst die politische Lösung, die sich im Wesentlichen auf die Autonomie der Separatistengebiete bezieht, und der dritte Themenkomplex den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Region. Waffenstillstand Minsk 1 sah einen sofortigen Waffenstillstand vor, der durch die OSZE überwacht werden sollte. Als Waffenstillstandslinie wurde der Zustand vom 19. September 2014 festgeschrieben, der in einer Anlage dokumentiert wurde. Schwere Waffen sollten zurückgezogen werden. Ausländische Militärkräfte sollten das Land verlassen. An der ukrainisch-russischen Grenze sollte eine durch die OSZE-überwachte Sicherheitszone geschaffen werden. Es war ein Flugverbot für Kampfflugzeuge und Drohnen vorgesehen, mit Ausnahme von Beobachtungsdrohnen der OSZE. Alle Gefangenen sollten freigelassen werden und alle am Konflikt Beteiligten, sollten unter eine Amnestieregelung fallen. Der in Minsk 1 vorgesehene Waffenstillstand wurde zwar nicht vollständig umgesetzt, die Kampfhand­lungen ließen aber deutlich nach. Die OSZE Mission bekam die Möglichkeit die Waffenstillstandslinie weitgehend zu überwachen. Die Sicherheitszone an der Grenze zu Russland wurde hingegen nicht eingerichtet. Stattdessen ließ Russland nur die Überwachung von zwei Grenzübergangen durch die OSZE zu. Als Ergebnis langandauernder Verhandlungen kam es im Herbst zu einem schrittweisen Gefangenenaustausch. Das in Minsk 1 vorgesehene Amnestiegesetz wurde bereits im September 2014 vom ukrainischen Parlament verabschiedet. Es befreit Personen von der Strafverfolgung, die im Zeitraum vom 22. Februar 2014 bis 16. September 2014 Mitglieder einer bewaffneten Gruppe waren oder in Verbindung mit den selbsternannten Organen der Regionen Donezk und Lugansk standen. Ausgeschlossen sind dabei Personen, deren Handlungen zum Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 führten oder die schwere Straftaten begangen haben. Der Waffenstillstand scheiterte dann offensichtlich im Januar 2015, als die Separatisten begannen den Donezker Flughafen zu erobern und es auch an vielen anderen Stellen zu verstärkten Kämpfen kam. Bis zu den erneuten Minsker Verhandlungen im Februar hatten die Separatisten gegenüber der Waffenstillstandslinie vom September 2014 Geländegewinne von etwa 500 Quadratkilometer erreicht, was bei einer Frontlänge von 400 km einem durchschnittlichen Vorrücken von gut einem Kilometer entspricht. Minsk 2 sah erneut einen vollständigen Waffenstillstand vor. Gegenüber Minsk 1 sind die Regelungen präziser und enthalten klare zeitliche Vorgaben. Der Waffenstillstand sollte drei Tage nach Abschluss der Vereinbarung in Kraft treten. Der Abzug schwerer Waffen sollte 16 Tage nach Beginn des Waffenstillstands abgeschlossen sein. Der Abzug ausländischer militärischer Kräfte wurde noch einmal festgeschrieben. Illegale bewaffnete Gruppen sollten entwaffnet werden. Die OSZE wurde erneut mit der Überwachung und Unterstützung der Umsetzung beauftragt. Erneut wurde ein vollständiger Gefangenenaustausch vorgesehen. Dieses Mal mit einer zeitlichen Frist von 21 Tagen nach Beginn des Waffenstillstands. Auch der neue Waffenstillstand wurde nicht vollständig umgesetzt. In den ersten Tagen des Waffenstillstands setzten die Separatisten ihre Angriffe auf Debalzewo über die Waffenstillstandslinie hinweg bis zur vollständigen Eroberung der Stadt fort. Seitdem haben die Kämpfe deutlich nachgelassen und keine Seite hat nachhaltige Vorstöße über die Waffenstillstandslinie unternommen. Die OSZE-Beobachtermission dokumentiert jedoch täglich Schusswechsel und vor allem am Donezker Flughafen und östlich von Mariupol regelmäßig heftige Gefechte, die u. a. zur fast vollständigen Zerstörung des Dorfes Schyrokyne geführt haben. Beide Seiten haben einen Teil ihrer schweren Waffen abgezogen. Aber auch nach Verstreichen der für den Abzug vorgesehenen Frist dokumentiert die OSZE auf beiden Seiten den wiederholten Einsatz schwerer Waffen. Die OSZE beklagt außerdem, dass beide Seiten keine ausreichenden Informationen für eine Kontrolle des vollständigen Abzugs schwerer Waffen zur Verfügung stellen. Die Forderung nach der Entwaffnung illegaler Verbände hat die Ukraine durch die Eingliederung aller Freiwilligen-Bataillone in staatliche Strukturen für die eigene Seite formal gegenstandslos gemacht. Da aus ukrainischer Sicht alle Kämpfer der Separatisten terroristischen Vereinigungen angehören, bedeutet aus dieser Perspektive die Forderung nach der Entwaffnung illegaler Gruppen die vollständige Waffenniederlegung durch die Separatisten. Beim Gefangenenaustausch hat es auch anderthalb Monate nach Verstreichen der entsprechenden Frist keine Fortschritte gegeben. Amnesty International hat pro-russischen Bataillonen in den Separatistengebieten die Exekution von Kriegsgefangenen vorgeworfen. Minsk 2 enthält auch die Verpflichtung, die Sicherheit humanitärer Hilfslieferungen im Rahmen eines internationalen Mechanismus zu gewährleisten. Ein internationaler Mechanismus für humanitäre Hilfslieferungen in das Separatistengebiet existiert. Das Internationale Rote Kreuz hat so aus von der Ukraine kontrolliertem Gebiet Hilfslieferungen in das von den Separatisten eroberte Debalzewo betreut. Russland hingegen schickt weiter eigene Hilfskonvois unter Verletzung ukrainischer Hoheitsrechte unkontrolliert direkt in das Separatistengebiet. Dies ist möglich, da die russische Grenze zum Separatistengebiet von der Ukraine nicht kontrolliert wird. Die Einrichtung der Sicherheitszone an der ukrainisch-russischen Grenze wird in Minsk 2 nicht mehr erwähnt. Da Minsk 2 die Vereinbarungen von Minsk 1 aber nicht ersetzt, sondern ergänzt, gilt die Forderung nach einer Sicherheitszone aber weiterhin. Ergänzend legt Minsk 2 fest, dass nach Abschluss der politischen Lösung des Donbass-Konflikts zum Jahresende 2015 die Ukraine die volle Kontrolle über die gesamte Grenze mit Russland übernimmt. Politische Lösung Minsk 1 sah als politische Lösung drei Schritte vor: Fortführung des inklusiven gesamtnationalen Dialogs, vorgezogene Lokalwahlen in den Separatistengebieten entsprechend der ukrainischen gesetzlichen Regelungen und Dezentralisierung des ukrainischen Staatsaufbaus. Minsk 2 ergänzt, dass die Ukraine das Separatistengebiet im entsprechenden Gesetz gemäß der Waffenstillstandslinie vom September 2014 definieren soll und dass spätestens im März der Dialog über die Durchführung der Lokalwahlen beginnen soll. Die Wahlen selber sollen OSZE Standards entsprechen und von der OSZE beobachtet werden. Gleichzeitig wird festgelegt, dass die politische Lösung zum Jahresende 2015 umgesetzt worden sein soll. In beiden Minsker Abkommen wird die konkrete Ausarbeitung der politischen Lösung auf weitere Verhandlungen verschoben. Nach Minsk 1 hatte die Ukraine umgehend ein Gesetz verabschiedet, dass die Grundlage für separate vorgezogene Lokalwahlen im Separatistengebiet schuf, die im Dezember 2014 stattfinden sollten. Das Gesetz "Über die besondere Regelung der kommunalen Selbstverwaltung in bestimmten Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk" sieht für einen Zeitraum von drei Jahren eine Sonderstellung dieser Bezirke vor, die ihnen de facto eine weitreichende Autonomie einräumt. Das Gesetz bezieht sich dabei eindeutig auf die von den Separatisten kontrollierten Bezirke, legt für das entsprechende Gebiet aber keine genauen Grenzen fest. Viele Umsetzungsfragen werden auf spätere Rechtsakte verschoben. Bereits im November führten die Separatisten dann im von ihnen kontrollierten Gebiet Wahlen durch, die der Minsker Vereinbarung in zentralen Punkten nicht entsprachen, da sie weder ukrainischem Recht noch demokratischen Standards gerecht wurden und nicht als Lokalwahlen sondern als Präsidenten- und Parlamentswahlen eines unabhängigen Staates durchgeführt wurden. Die politische Lösung des Konfliktes wurde anschließend nicht mehr weiterverfolgt. In Reaktion auf Minsk 2 wurde das Gesetz über den Sonderstatus des Separatistengebietes dann von der Ukraine im März 2015 erweitert. So wurde das Separatistengebiet gemäß Minsk 2 durch die Waffenstillstandslinie vom September 2014 definiert. Gleichzeitig wurde aber festgelegt, dass die Gebiete ihren Sonderstatus mit weitgehenden Autonomierechten erst nach der Durchführung ordentlicher Lokalwahlen erhalten. Die separate gesetzliche Regelung zur Durchführung der Lokalwahlen wird derzeit im ukrainischen Parlament erarbeitet. Entgegen der Vorgabe von Minsk 2 basiert sie aber nicht auf einem Dialog mit den Separatisten. Bis zur Durchführung der Lokalwahlen gilt für das Separatistengebiet gemäß eines zusätzlichen Erlasses des Parlaments der Status eines vorübergehend besetzten Territoriums. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erklärte explizit, dass an Verhandlungen über Autonomierechte nur in Übereinstimmung mit den Minsker Vereinbarungen gewählte Vertreter der Separatistengebiete teilnehmen könnten. Für die in den Minsker Vereinbarungen vorgesehene Dezentralisierung der Ukraine ist eine Verfassungsreform erforderlich, da die zentralstaatliche Organisation – einschließlich des Autonomiestatus für die Krim – in der Verfassung festgelegt ist. Anfang März hat Präsident Poroschenko eine Verfassungskommission ins Leben gerufen, die Politiker, nationale und internationale Experten zusammenbringt und die "Versprechen und Verpflichtungen einer Dezentralisierung" erfüllen soll. Der Präsident der Venedig-Kommission des Europarates, Gianni Buquicchio, bezweifelt jedoch, dass eine Verfassungsreform noch bis Ende des Jahres umgesetzt werden kann, wie in Minsk 2 vorgesehen. Laut Buquicchio ist die Umsetzung nur dann möglich, wenn die erste Lesung im Parlament noch vor Juni stattfindet. Wiederaufbau des Donbass Minsk 1 behandelte den Wiederaufbau des Donbass nur in sehr allgemeiner Form. In insgesamt zwei Sätzen wurden Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage sowie ein Programm zum wirtschaftlichen Wiederaufbau gefordert. Das ukrainische Gesetz vom September 2014 über den Sonderstatus des Separatistengebietes sah auch entsprechende Maßnahmen vor, die aber aufgrund des Scheiterns der politischen Lösung nicht umgesetzt wurden. Minsk 2 macht dann ausschließlich konkretere Vorgaben für die schnelle Wiederherstellung der sozio-ökonomischen Verbindungen zwischen dem Separatistengebiet und der restlichen Ukraine. Dabei geht es vor allem um die Wiederherstellung eines gemeinsamen Zahlungssystems und der Wiederaufnahme von Sozialleistungen, Zahlungen für die kommunale Versorgung und Steuerzahlungen. Wörtlich heißt es: "Hierzu soll die Ukraine die Kontrolle über das Bankensystem in den vom Konflikt betroffenen Gebieten wiederherstellen und möglicherweise sollte ein internationaler Mechanismus zur Erleichterung solcher Transfers [im Finanzbereich] eingerichtet werden." Aufgrund der andauernden Kampfhandlungen und des Fehlens eines politischen Dialogs erscheint dies derzeit nicht realistisch. Gemäß eines Beschlusses des ukrainischen Parlaments vom März 2015 gilt für das Separatistengebiet der Status eines vorübergehend besetzten Territoriums. Der Status gilt solange, bis alle illegalen und fremden Truppen das Gebiet verlassen haben und die Zentralregierung in Kiew wieder die Kontrolle über die Grenzen der Ukraine besitzt. Aus ukrainischer Sicht sind Maßnahmen zum Aufbau des Donbass vorher nicht möglich. Resümee Die obige Darstellung zeigt, dass eine wirkliche Umsetzung der Minsker Vereinbarungen in weiter Ferne liegt. Zwar wurden die Kampfhandlungen deutlich eingeschränkt, jedoch keineswegs beendet. Die politische Lösung wird zwar im ukrainischen Parlament weiterverfolgt, aber ihre Realisierung erscheint mehr als fraglich. Entgegen der Vorgaben von Minsk 2 gibt es keine weiteren Verhandlungen im Rahmen der Trilateralen Gruppe und thematische Arbeitsgruppen zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sind noch nicht einmal eingerichtet worden. Beide Seiten haben anscheinend eingesehen, dass eine militärische Lösung des Konflikts zu ihren Gunsten nicht möglich ist. Die Eroberung des wichtigen Verkehrsknotenpunktes Debalzewo durch die Separatisten war wohl die letzte strategische Militäroperation des Konfliktes. Die immer noch andauernden Verletzungen des Waffenstillstands sind daher nicht Ausdruck militärischer Planung, sondern belegen eher das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien (und teilweise auch gegenüber der OSZE Beobachtermission) sowie die fehlende Kontrolle über einzelne Kampfverbände. Offensichtlich haben beide Seiten aber kein Interesse an der politischen Lösung des Konfliktes, wie sie in Minsk 2 vorgesehen ist. Die Separatisten haben direkt nach Abschluss der Verhandlungen die Stadt Debalzewo erobert, die nicht auf ihrer Seite der Waffenstillstandslinie liegt und deshalb im Zuge einer politischen Lösung nicht unter ihrer Kontrolle bliebe. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Separatisten einen Großangriff durchführen, nur um eine Stadt zu erobern, die sie bald wieder abgeben wollen. Gleichzeitig ist es mehr als fraglich, dass die Separatisten freie und faire Lokalwahlen gewinnen würden, insbesondere wenn eine große Zahl von Flüchtlingen zurückkehren würde. Dementsprechend scheint es die Strategie der Separatisten zu sein, den status quo dauerhaft zu verteidigen. Die ukrainische Regierung wiederum hat offensichtlich kein Interesse, die Separatisten durch einen politischen Prozess zu legitimieren, wie auch Stephan Hensell im folgenden Beitrag argumentiert. Dementsprechend besteht sie darauf, nur mit demokratisch gewählten Vertretern zu verhandeln. Die längerfristige Erwartung mag dabei sein, dass die Separatistengebiete ohne die Versorgung aus der Ukraine nicht lebensfähig sein werden. Gleichzeitig gibt es Anzeichen für ukrainische Versuche, den Konflikt "einzufrieren". Mitte März hat die ukrainische Regierung 35 Mio. Euro bereitgestellt, um die Waffenstillstandslinie nachhaltig zu befestigen. Es gibt derzeit sieben von der Ukraine eingerichtete "Transportkorridore", die mit Passagierscheinen den Übergang vom Separatistengebiet zum ukrainisch kontrollierten Gebiet ermöglichen. Quellen Minsk 1, bestehend aus Protokoll und Memorandum, ist in den Ukraine-Analysen Nr. 136 (S. 7) und Externer Link: Nr. 137 (S. 30) in eigener deutscher Übersetzung veröffentlicht worden. Die ukrainische Zeitschrift Zerkalo Nedeli hat eine unveröffentlichte Anlage zum Memorandum präsentiert, die den Verlauf der Waffenstillstandslinie festlegt. Die Dokumentation ist in russischer Sprache im Internet verfügbar unter: Externer Link: http://zn.ua/UKRAINE/pismo-putina-poroshenko-polnyy-teksti-putinskaya-karta-linii-razgranicheniya-164964_.html Minsk 2 ist in den Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 147 (S. 9) in der englischen Übersetzung des UN-Sicherheitsrates dokumentiert worden. Die täglichen Berichte der OSZE-Beobachtermission zur Einhaltung des Waffenstillstandes sind online verfügbar unter Externer Link: http://www.osce.org/ukraine-smm/daily-updates. Dort finden sich auch Informationen zu humanitären Hilfslieferungen in das Separatistengebiet. Der Eskalation der Kämpfe vor den zweiten Minsker Verhandlungen widmen sich die Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 144 (S. 11–15), den Waffenstillstandslinien die Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 146 (S. 7–8). Die Eingliederung der ukrainischen Freiwilligen-Bataillone in staatliche Strukturen sowie die Vorwürfe von Amnesty International zur Exekution von Kriegsgefangenen durch die Separatisten sind in der vorliegenden Ukraine-Analyse dokumentiert, das Amnestiegesetz in den Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 136 (S. 10). Das Gesetz über den Sonderstatus der Separatistengebiete in der Fassung vom September 2014 wird in den Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 136 (S. 9–10) behandelt, die im Separatistengebiet nach Minsk 1 durchgeführten Wahlen in den Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 140 (S. 11–15). Die ukrainische rechtliche Regelung zu den Separatistengebieten nach Minsk 2 ist auf der Internetseite des ukrainischen Parlaments verfügbar unter Externer Link: http://zakon2.rada.gov.ua/laws/show/1680-18,Externer Link: http://zakon4.rada.gov.ua/laws/show/254-viii und Externer Link: http://iportal.rada.gov.ua/ru/news/Novosty/Soobshchenyya/page/ru/news/Novosty/Soobshchenyya/105471.html
Article
Von Dennis Bereslavskiy und Heiko Pleines, Bremen
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-05-04T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/205903/analyse-faktencheck-die-umsetzung-der-minsker-vereinbarungen-zum-donbass-konflikt/
In den Medien mehren sich Stimmen, die beide Minsker Abkommen für gescheitert erklären. Dieser Beitrag macht einen Faktencheck und dokumentiert, welche Vereinbarungen getroffen wurden und inwiefern die Konfliktparteien diese auch einhalten.
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Jahresrückblick 2017 | Hintergrund aktuell | bpb.de
Januar 2017 20. Januar: Donald Trump wird als US-Präsident vereidigt Donald Trump wird als Interner Link: 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Trump Interner Link: kündigt in seiner Rede einen starken Protektionismus in der Wirtschafts- und Außenpolitik an. Jede Entscheidung zum Handel, zur Besteuerung, zur Einwanderung, zur Außenpolitik werde künftig "zum Wohl der amerikanischen Arbeiter und amerikanischen Familien gemacht", so der US-Präsident. In den Folgemonaten setzt Trump unter dem Slogan "America first" - Amerika zuerst“ auf eine äußerst restriktive Einwanderungspolitik, insbesondere gegenüber Muslimen und Mexikanern – zudem will er mehrere Freihandelsabkommen neu verhandeln. Für Interner Link: sein Kabinett nominiert Trump neben erfahrenen Republikanern auch mehrere Unternehmer sowie einige ehemalige Militärs. Bei der Wahl am 8. November 2016 hatte Trump 57,1 Prozent der Stimmen der Wahlmänner erhalten. Er setzte sich damit gegen die Kandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, durch, obwohl diese knapp 2,8 Millionen mehr Wählerstimmen als Trump erhalten hatte – eine Folge des amerikanischen Mehrheitswahlsystems . Februar 2017 12. Februar: Steinmeier wird zum neuen Bundespräsidenten gewählt Frank-Walter Steinmeier wird in der Bundesversammlung mit großer Mehrheit Interner Link: zum Bundespräsidenten gewählt. Zur Wahl standen fünf Kandidaten. Der kurz zuvor aus dem Amt des Außenministers geschiedene SPD-Politiker ist der gemeinsame Kandidat von Union und SPD. Er erhält 931 von 1239 gültigen Stimmen. Der Politologe Christoph Butterwegge (parteilos), der für die Linke antritt, erhält 128 Stimmen. Die Kandidaten der AfD, Freien Wähler sowie der Piratenpartei und der "Partei" bleiben chancenlos. In seiner Rede vor den Delegierten sagt Steinmeier, Deutschland werde weltweit als "Anker der Hoffnung" angesehen, um Demokratie und Freiheit zu bewahren. Er löst am 19. März 2017 den 12. Bundespräsidenten Joachim Gauck (parteilos) ab. 14. Februar: Deutsch-türkischer Journalist Yücel wird in der Türkei festgenommen Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wird am 14. Februar von der Polizei in Istanbul in Gewahrsam genommen. Zwei Wochen später ordnet ein Haftrichter an, den Journalisten der Tageszeitung "Die Welt" wegen "Terrorpropaganda" und "Volksverhetzung" in Untersuchungshaft zu nehmen. Die Entscheidung stößt in Deutschland auf scharfe Kritik, auch die Bundesregierung schaltet sich ein. In der Türkei wurden seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 zehntausende Personen unter dem Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung inhaftiert. Nach Ansicht von politischen Beobachtern werden viele zu Unrecht beschuldigt. Auch eine große Zahl Oppositioneller und Journalisten geraten in das Visier der Justiz. Kritiker werfen Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor, er beseitige zunehmend die Meinungs- und Interner Link: Medienfreiheit. März 2017 15. März: Wahlen in den Niederlanden Bei den Interner Link: Wahlen in den Niederlanden schneiden die Rechtspopulisten schwächer ab als erwartet. Nach Auszählung aller Stimmen geht die rechtsliberale Partei "Volkspartij voor Vrijheid en Democratie" (VVD, dt. "Volkspartei für Freiheit und Demokratie") von Ministerpräsident Mark Rutte mit 33 Sitzen als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervor. Sie erhielt 21,3 Prozent der Stimmen (2012: 26,5 Prozent). Größter Verlierer sind die niederländischen Sozialdemokraten ("Partij van de Arbeid", PvdA), die von rund 25 Prozent auf nur noch 5,7 Prozent der Wählerstimmen abstürzen. Die "Partij voor de Vrijheid" (PVV, dt. "Partei für die Freiheit") des Rechtspopulisten Geert Wilders steigert sich zwar von 10,1 auf 13,1 Prozent und wird zweitstärkste Kraft. Sie bleibt aber deutlich hinter ihren Erwartungen aus den Vorwahlumfragen zurück. Die Koalitionsbildung gestaltet sich schwierig. Erst nach rund sieben Monaten gelingt der VVD gemeinsam mit der christdemokratischen "Christen Democratisch Appèl" (CDA), der linksliberalen "Democraten 66" (D66) sowie der Partei "Christenunie" die Bildung eines Regierungsbündnisses – Rutte bleibt Ministerpräsident. 26. März: Landtagswahlen im Saarland eröffnen das Wahljahr Die Saarländer haben Ende März der CDU einen Interner Link: spürbaren Stimmenzuwachs beschert. Mit 40,7 Prozent werden die Christdemokraten stärkste Fraktion. Die SPD verliert leicht und erreicht 29,6 Prozent, drittstärkste Kraft im Land wird die Partei Die Linke mit 12,8 Prozent. Die AfD zieht erstmals in den Saarländischen Landtag ein, sie erreicht 6,2 Prozent der Stimmen. Grüne und Freie Demokraten scheitern an der Fünfprozenthürde. CDU und Sozialdemokraten einigen sich auf eine Fortsetzung der Großen Koalition unter Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). April 2017 16. April: Verfassungsreferendum in der Türkei: Knappe Mehrheit für Präsidialsystem Die Menschen in der Türkei entscheiden sich offiziellen Angaben zufolge mit hauchdünner Mehrheit in einem Referendum dafür, die türkische Verfassung zu reformieren. Laut amtlichem Endergebnis stimmen 51,4 Prozent der Wähler für einen Umbau des Staates von einer parlamentarischen Demokratie hin zu einem Präsidialsystem. Die Opposition wirft der Regierung Wahlbetrug vor – am Ende wird sie mit ihrer Forderung nach einer Annullierung des Referendums jedoch erfolglos bleiben. Auch im Ausland gibt es Zweifel, ob angesichts der türkischen Repressionspolitik tatsächlich von freien Wahlen gesprochen werden kann. Klar ist: Interner Link: Der Umbau des politischen Systems soll bis zur Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Jahr 2019 abgeschlossen sein. Der Staatspräsident soll dann noch mehr Befugnisse haben als bislang. Kritiker sehen die Türkei auf dem Weg in einen autoritären Staat. Mai 2017 7. Mai: Macron siegt bei französischer Präsidentschaftswahl Die Franzosen wählen den parteilosen Emmanuel Macron zu ihrem neuen Interner Link: Präsidenten. In der Stichwahl vereint er rund zwei Drittel der Stimmen auf sich. Seine Herausforderin, Marine Le Pen von der rechtsextremen Partei Front National, kommt auf 33,9 Prozent der Stimmen. Der EU-freundliche Macron hatte bereits im ersten Wahlgang zwei Wochen zuvor mit 24 Prozent die meisten Stimmen erzielt. Le Pen war auf 21,3 Prozent gekommen. Der Konservative François Fillon war mit 20 Prozent ebenso ausgeschieden wie der Linkskandidat Jean-Luc Mélenchon (19,6 Prozent). Eine schwere Niederlage erlitt der Sozialist Benoît Hamon. Er erzielte nur 6,4 Prozent. Es war das erste Mal in der Geschichte von Frankreichs Fünfter Republik, dass Konservative und Sozialisten den Einzug in die Stichwahl verpassten. Der Sozialist und bisherige Präsident François Hollande war nicht mehr angetreten. Der zum Wahlzeitpunkt 39-jährige parteilose Macron war von 2014 bis 2016 Wirtschaftsminister. Mit seiner neu gegründeten Partei "En Marche!" gelang es ihm, im Juni 2017 auch die französischen Parlamentswahlen zu gewinnen. 7. Mai: Regierungswechsel in Schleswig-Holstein Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein wird die sogenannte Küstenregierung aus SPD, Grünen und dem "Südschleswigschem Wählerverbund" (SSW) in Interner Link: Schleswig-Holstein abgewählt. Während CDU mit 32,0 Prozent (plus 1,2) und FDP 11,5 Prozent (plus 3,3) Stimmen gewinnen können, fallen die Sozialdemokraten auf 27,3 Prozent (minus 3,3) zurück, auch der von der Sperrklausel befreite SSW gehört zu den Wahlverlierern und kommt nur noch auf 3,3 Prozent der Stimmen ist damit aber weiterhin im Landtag vertreten. In der Folge kommt es zu einer sogenannten Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP. Daniel Günter (CDU) wird neuer Ministerpräsident. 14. Mai: Nach dem Saarland und Schleswig-Holstein wählt auch Nordrhein-Westfalen ein neues Landesparlament Mit deutlichen Stimmgewinnen siegen CDU (33 Prozent plus 6,7) und FDP (12,6 Prozent plus 4) bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai. Sie lösen nach Koalitionsverhandlungen die rot-grüne Landesregierung ab, die nach Verlusten keine Mehrheit mehr hat. Sowohl SPD (31,2 Prozent minus 7,9) als auch Grüne (6,4 Prozent minus 4,9) verlieren deutlich an Zustimmung. Während die Linke mit 4,9 knapp an der Fünfprozenthürde scheitert, zieht die AfD mit 7,4 Prozent erstmals in den Düsseldorfer Landtag ein. Armin Laschet (CDU) wird als neuer Ministerpräsident einer CDU-FDP-Koaltion an die Spitze der Regierung gewählt Juni 2017 2. Juni: USA kündigen Austritt aus UN-Klimaabkommen an US-Präsident Donald Trump kündigt den Ausstieg aus dem globalen UN-Klimaabkommen von Paris an. Seine Regierung wolle in neue internationale Verhandlungen zum Klimaschutz eintreten, um einen "fairen Deal" für die Vereinigten Staaten zu erreichen, sagte Trump. Die Staatengemeinschaft kritisiert in der Folge die US-Entscheidung massiv . 8. Juni: Vorgezogene Unterhaus-Wahl in Großbritannien Die konservativen Tories verlieren bei der vorgezogenen Unterhaus-Wahl ihre absolute Mehrheit. Premierministerin Theresa May kann nur deshalb weiter regieren, weil sie eine Zusammenarbeit mit der nordirisch-protestantischen "Democratic Unionist Party", der "Demokratisch Unionistischen Partei" (DUP) eingeht. Eigentlich wollte May mit einem verbesserten Wahlergebnis gestärkt in die am 19. Juni beginnenden Brexit-Verhandlungen gehen. Stattdessen muss sie nun auch auf die Interessen der DUP eingehen. Dies erschwert die ohnehin schon schwierigen Brexit-Gespräche zwischen London und Brüssel erheblich. Strittig ist vor allem die Frage offener Grenzen zwischen Irland und Nordirland . 16. Juni: Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl stirbt Helmut Kohl ist tot. Der Altkanzler stirbt im Alter von 87 Jahren. Der CDU-Politiker hat Deutschland von 1982 bis 1998 als Bundeskanzler regiert – 16 Jahre, so lange wie bisher niemand vor und nach ihm. Außerdem war er 25 Jahre lang Bundesvorsitzender der CDU. Der Pfälzer galt als treibende Kraft für die Europäische Union und die Einführung des Euro. Als sein größter Erfolg gilt die deutsche Wiedervereinigung. Kohl war Ende der 90er-Jahre in eine Parteispendenaffäre verwickelt, die nie restlos aufgeklärt werden konnte. 22. Juni: Verfassungsfeindliche Parteien sollen künftig schwerer an Geld kommen Der Bundestag verabschiedet mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit eine Änderung von Artikel 21 des Grundgesetzes, die ermöglicht, verfassungsfeindliche Parteien von staatlicher Finanzierung und steuerlichen Begünstigungen auszuschließen. Künftig können sich Parteien, die sich gegen die Bundesrepublik oder die freiheitlich demokratische Grundordnung wenden, ihre Wahlkampfkosten nicht mehr erstatten lassen. Zudem sind Spenden an diese Parteien nicht mehr steuerlich absetzbar. Die Verfassungsfeindlichkeit muss vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden. 30. Juni: Bundestag verabschiedet das Gesetz zur sogenannten Ehe für alle Mit einer Mehrheit von SPD, Linken und Grünen sowie Teilen der CDU/CSU-Fraktion beschließt der Bundestag, Externer Link: die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Damit werden Schwule und Lesben u.a. auch im Adoptionsrecht heterosexuellen Verheirateten gleichgestellt. Juli 2017 25. Juli.: Polen verabschiedet umstrittene Justizreform Nach dem Abgeordnetenhaus und polnischer Senat unter Führung der konservativen Regierung der "Prawo i Sprawiedliwość" (PiS, dt.: "Recht und Gerechtigkeit") für eine umstrittene Justizreform gestimmt hatten, bestätigt Präsident Andrej Duda jedoch nur einen der drei Gesetzentwürfe. Unter anderem ist es dem Justizminister künftig möglich, Gerichtsvorsitzende ohne Grund zu entlassen und die Position ohne Rücksprache mit Juristen neu zu besetzen. In der Folge leitet die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein. September 2017 3. September: Nordkorea meldet erfolgreichen Test einer Wasserstoffbombe Nordkorea zündet nach eigenen Angaben eine Wasserstoffbombe. Das nordkoreanische Staatsfernsehen berichtet, der Test der Wasserstoffbombe habe eine "beispiellose Kraft" entfaltet und sei ein "absoluter Erfolg" gewesen. Mit dieser Bombe könne Nordkorea auch eine Langstreckenrakete bestücken. Der UN-Sicherheitsrat reagiert mit neuen Sanktionen gegen das diplomatisch bereits stark isolierte Land, die unter anderem die Öl- und Erdgaslieferungen nach Nordkorea beschränken. 24. September: Bundestagswahl Externer Link: Bei der Bundestagswahl am 24. September legen vor allem die kleineren Parteien zu. Die Linke (9,2 Prozent) und die Grünen (8,9 Prozent) können ihr Ergebnis von 2013 leicht verbessern. Die FDP verdoppelt mit 10,7 Prozent ihr Ergebnis und schafft den Wiedereinzug in das Parlament. Neu im Bundestag vertreten ist die rechte AfD (12,6 Prozent). Damit sitzen erstmals seit den 1950er-Jahren wieder sieben Parteien im Deutschen Bundestag. Große Verluste erlitten die sogenannten Volksparteien: Die SPD (20,5 Prozent) und die Union (CDU/CSU 32,9 Prozent) kommen zusammen nur noch auf 53,4 Prozent der Interner Link: Wählerstimmen. Die SPD lehnt direkt nach der Wahl den Eintritt in eine neue Große Koalition ab. Die Bildung eines Bündnisses zwischen CDU-CSU, FDP und Grünen scheitert in der Sondierungsphase. Wer Deutschland zukünftig regiert, ist Ende des Jahres noch nicht klar. Möglich ist eine Minderheitsregierung oder eine Neuauflage der Großen Koalition zwischen Union und SPD. Auch Neuwahlen sind nicht ausgeschlossen. Bis zu einer Entscheidung bleibt die alte Regierung geschäftsführend im Amt. Oktober 2017 1. Oktober: Katalonien-Referendum In einem umstrittenen Referendum stimmen die Katalanen über die Loslösung Kataloniens von Spanien ab. Das Referendum wurde zuvor vom spanischen Verfassungsgericht für illegal erklärt. Den katalonischen Behörden zufolge beteiligen sich rund 2,26 Millionen Menschen an der Abstimmung, also 42,3 Prozent der wahlberechtigten Katalanen. 90 Prozent votieren für eine Abspaltung. Knapp 8 Prozent stimmen dagegen. In der Folge ruft die katalonische Regionalregierung die Unabhängigkeit aus. Die spanische Zentralregierung erkennt diese jedoch nicht an. Sie löst die Regionalregierung auf. Spaniens Justiz geht gegen Mitglieder der Regierung vor, es kommt zu Verhaftungen . 10. Oktober: Bundesverfassungsgericht erkennt drittes Geschlecht an Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Regelung im deutschen Personenstandsgesetz, nach der bisher lediglich ein weiblicher, ein männlicher oder kein Geschlechtseintrag möglich war, für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Bis zum 31. Dezember 2018 muss eine Neuregelung gefunden werden, die intersexuellen Personen, also Menschen die weder weiblich noch männlich sind, eine entsprechende Eintragung in das Geburtenregister ermöglichen, zum Beispiel "inter" oder "divers". 15. Oktober: Nationalratswahl in Österreich Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer des österreichischen Parlaments, dem Nationalrat, geht die bürgerlich konservative "Österreichische Volkspartei" (ÖVP) als Siegerin hervor. Die ÖVP kommt auf 31,5 Prozent (plus 7,5 Prozent gegenüber den Wahlen 2013). Zweitstärkste Kraft wird die "Sozialdemokratische Partei Österreich" (SPÖ). Mit 26,9 Prozent erzielen die Sozialdemokraten nahezu das gleiche Ergebnis wie 2013. Drittstärkste Kraft wird die rechtspopulistische "Freiheitliche Partei Österreichs" (FPÖ) mit 26 Prozent (plus 5,5 Prozent). Die Grünen scheitern an der 4-Prozenthürde mit 3,8 Prozent. Den Einzug ins Parlament schaffen dagegen "Das Neue Österreich und Liberales Forum" (Neos) mit 5,3 Prozent und die Grünen-Abspaltung Liste Pilz (4,4 Prozent). Im Dezember einigen sich ÖVP und FPÖ und bilden eine türkis-blaue Koalition. Der bisherige Außenminister und ÖVP-Chef Sebastian Kurz ist seit dem 18. Dezember 2017 Bundeskanzler der Republik Österreich. 15. Oktober: Niedersachsenwahl Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen wird die SPD mit 36,9 Prozent stärkste Kraft, sie gewinnt 4,3 Prozent gegenüber den Wahlen 2013. Die CDU verliert rund 2,4 Prozent und fällt auf 33,6 Prozent. GRÜNE verlieren fünf Prozent, bleiben aber mit 8,7 Prozent der Zweitstimmen drittstärkste Fraktion im Landtag. Die FDP verliert 2,4 Prozent und erreicht 7,5 Prozent. Die AfD zieht mit 6,2 Prozent der Stimmen erstmals in das Landesparlament ein. DIE LINKE verpasst mit 4,6 Prozent, trotz leichter Zugewinne, den Sprung in den Landtag. Die bisherige rot-grüne Regierung wird durch eine Große Koalition aus SPD und CDU unter Führung von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) abgelöst . November 2017 5. November: Veröffentlichung der "Paradise Papers" Das "Internationale Netzwerk investigativer Journalisten" (ICIJ), darunter auch Journalisten der Süddeutschen Zeitung (SZ), veröffentlicht die sogenannten Paradise Papers. Sie decken auf, wie zahlreiche Großunternehmen und Privatpersonen immense Summen in Steuerparadiesen anlegen. Durch die nur in manchen Fällen illegalen Praktiken entgehen den Steuerbehörden weltweit, dem Bericht zufolge, viele Milliarden Euro. Ziel dieses Leaks ist unter anderem, den entsprechend aktiven Geschäftsleuten, Politikern oder Konzernen es schwer zu machen, ihre Geschäfte zu verheimlichen. 6. bis 11. November: APEC-Gipfel Die asiatisch-pazifischen Anrainerstaaten wollen künftig stärker ohne die USA zusammenarbeiten. Washington hat sich unter der Trump-Administration gegen eine Ausweitung des Freihandels ausgesprochen. Beim Treffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC), zu der neben asiatischen Staaten auch die USA und Kanada gehören, wollen viele der 21 asiatisch-pazifischen Anrainerstaaten den Freihandel dagegen vorantreiben. 6. bis 17. November: UN-Klimakonferenz in Bonn – Pariser Abkommen geht in die nächste Runde Bei der 23. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP 23) vom 6. bis zum 17. November in Bonn arbeiten Delegationen aus 195 Staaten konkrete Umsetzungs-Richtlinien für das Pariser Klimaabkommen aus. Die Geschäftsführende Bundesumweltministerin Barbara Hendricks zieht im Anschluss eine positive Bilanz: Die 195 Staaten hätten Textentwürfe für ein Regelwerk zum Pariser Abkommen erarbeitet und damit die Erwartungen erfüllt, so die SPD-Politikerin. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kritisiert dagegen, es habe der "Mut und Enthusiasmus" gefehlt. Streit hatte es vor allem um Finanzierungsfragen gegeben. Die Verhandlungsergebnisse sollen bei der Klimakonferenz in Warschau 2018 beschlossen werden. 14. November: Putsch in Simbabwe gegen Staatschef Mugabe In Simbabwe putschen Militärs gegen den amtierenden Präsidenten Robert Mugabe. Der autoritäre Herrscher, der das südostafrikanische Binnenland 37 Jahre lang regierte, wird zunächst unter Hausarrest gestellt. Am 21. November muss der 93-jährige Mugabe abdanken. 22. November: Bosnisch-serbischer Kriegsverbrecher Mladić verurteilt In seinem letzten Völkermord-Prozess zum früheren Jugoslawien verurteilt das UN-Kriegsverbrechertribunal den damaligen bosnisch-serbischen Militärchef Ratko Mladić wegen schlimmster Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft. Das Den Haager UN-Gericht sprach den 75-Jährigen unter anderem für das Massaker von Srebrenica 1995 schuldig. Die Verteidiger von Mladić kündigten Berufung gegen das Urteil an. Chefankläger Serge Brammertz sprach von einem "Meilenstein für die internationale Justiz". 27. November: EU-Zulassung für Glyphosat wird verlängert Die EU-Kommission spricht sich für die Verlängerung der Zulassung des umstrittenen Pflanzenschutzmittels Glyphosat für weitere fünf Jahre aus. Der Geschäftsführende Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) stimmt in Brüssel zu. Er verstößt damit gegen die in der Geschäftsordnung der Bundesregierung für die geschäftsführende Koalitionsregierung mit der SPD bestehende Pflicht zur Stimmenthaltung. Das SPD-geführte Bundesumweltministerium hatte sich gegen die Zulassung des Pestizids ausgesprochen. Beobachter sehen eine mögliche Wiederauflage der Großen Koalition durch das Abstimmungsverhalten erschwert . Dezember 2017 6. Dezember: USA erkennen Jerusalem als Hauptstadt Israels an Die US-Regierung will Jerusalem als offizielle Hauptstadt Israels anerkennen. US-Präsident Donald Trump sagt am 6. Dezember: "Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass es Zeit ist, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen." Zudem kündigt er an, die US-Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Politiker in aller Welt reagieren besorgt und fürchten, dass nun eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts in weite Ferne rückt. Die im Gaza-Streifen herrschende Palästinenser-Organisation Hamas ruft kurz darauf zu einer neuen "Intifada", einem Aufstand der Palästinenser, auf .
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-13T00:00:00"
"2017-12-18T00:00:00"
"2021-08-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/261923/jahresrueckblick-2017/
Politisch war 2017 ein besonders ereignisreiches Jahr: Donald Trump wird als US-Präsident vereidigt. Bei Wahlen in wichtigen Ländern, so etwa in Frankreich oder den Niederlanden, verlieren die Volksparteien massiv an Stimmen. Bei der Bundestagswahl e
[ "2017", "Jahr", "Rückblick", "Rückschau", "Jahresrückblick", "Ereignisse" ]
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Rede von Thomas Krüger im Rahmen des 13. Deutschen Präventionstages am 2. Juni 2008 | Presse | bpb.de
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich hier beim 13. Präventionstag und danke Ihnen für Ihr Interesse an meinem Thema: Politische Bildung, Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Lassen Sie mich direkt mit einer provozierenden Frage beginnen: War die deutsche Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus etwa durch Zerfall bedroht, durch innere Konflikte und Desintegration? Oder zeichnete sich die nationalsozialistische Gesellschaft nicht vielmehr durch einen verhängnisvollen Zusammenhalt aus? Sie ahnen wahrscheinlich, worauf ich hinaus will: Gesellschaftlicher Zusammenhalt alleine ist kein Wert an sich. Auch eine Diktatur kann geprägt sein durch gesellschaftlichen Zusammenhalt. Erst durch die Ergänzung "... in der freiheitlichen Demokratie" - Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der freiheitlichen Demokratie" - werden Werte angesprochen, zu denen wir uns bekennen: Freiheit, Menschenrechte, Toleranz. Werte also, die wir mit Hilfe präventiver Maßnahmen schützen möchten. Politische Bildung, wie wir sie heute verstehen, und über die ich hier heute sprechen möchte, ist ein Kind der freiheitlichen Demokratie. Ihr Selbstverständnis wurzelt in der Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, als politische Bildung eingesetzt wurde, um in Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur das demokratische Bewusstsein im deutschen Volk zu fördern und zu festigen. Sie hat sich im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu einer eigenständigen Profession entwickelt mit einem Selbstverständnis, das sich zwischen zwei Polen bewegt: Sie will einerseits unparteiisch Wissen und Kompetenzen vermitteln, die es den mündigen Bürgerinnen und Bürgern erlauben, sich ein eigenes Urteil zu bilden und selbstbestimmt Entscheidungen zu fällen, andererseits fußt sie aber auf der normativen Grundlage von Demokratie, Toleranz und Menschenrechten. Sie ist nicht wertfrei. Politische Bildung ist notwendiger Bestandteil der Demokratie und sie sollte deshalb gerade auch dort forciert werden, wo wir Gefahren für den Zusammenhalt der Gesellschaft in der freiheitlichen Demokratie ausmachen. Zustandsbeschreibungen unserer Gesellschaft sind in der Regel von Begriffen bestimmt, die in der Tat eher zentrifugale denn Kohäsionskräfte beschreiben: Auflösung tradierter Familienstrukturen und sozialer Milieus, die Diversifizierung von Lebensstilen und Weltanschauungen, das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, Zweidrittelgesellschaft, Ausbildung von Parallelgesellschaften, um nur einige der gängigen Urteile zu nennen. Zivilgesellschaft Wieviel Desintegration eine Gesellschaft aushält, ohne dass Gewalt und Extremismus überhand nehmen, ist schwer zu sagen. Aber eine Antwort auf die Phänomene, die ich beschrieben habe, deutet sich bereits in dem Schwerpunktthema dieses 13. Präventionstages an: "Engagierte Bürger – sichere Gesellschaft". Aus dieser Formulierung höre ich die Vision einer lebendigen Zivilgesellschaft heraus, denn sie impliziert, dass Gewalt und Unsicherheit abnehmen je engagierter die Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen tätig sind. Daraus spricht die Vorstellung, dass eine Zivilgesellschaft: 1. viel an Integrationskraft entfalten kann, weil sie neue Möglichkeiten der Selbstverortung für den Einzelnen schafft und damit Gefühle der Orientierungslosigkeit und Entwurzelung reduzieren hilft und 2. starke Kräfte aus sich selbst heraus entwickelt, um sich aktiv gegen Anzeichen von Gewalt und Extremismus zur Wehr zu setzen. "Eine selbstbewusste Gesellschaft kann viele Narren ertragen", so hat es einmal der amerikanische Schriftsteller, John Steinbeck, ausgedrückt. Wenn man den Ansatz der lebendigen Zivilgesellschaft zu Ende denkt, ergibt sich folgendes Idealbild: Alle Bürgerinnen und Bürger, oder zumindest eine Mehrheit von ihnen, finden jenseits ihrer beruflichen Situation und jenseits ihrer Familie einen Bereich im öffentlichen Raum, in dem sie sich engagieren und mit dem sie sich identifizieren können. Was für die einen die Mitarbeit in einer Partei oder Gewerkschaft ist, ist für den anderen das Mitmachen in einer Wohltätigkeitsorganisation, die ehrenamtliche Arbeit in einem Sportverein, das Engagement in einer Umwelt-Initiative, in kulturellen Aktivitäten oder der Kommunalpolitik. So unterschiedlich und individuell wie Menschen sind, so unterschiedlich sind die Aktionsräume, die sich in einer lebendigen Zivilgesellschaft besetzen lassen. Und indem alle an einer oder mehreren Stellen des gesellschaftlichen Miteinanders mitarbeiten und mitgestalten, fühlen sie sich integriert statt isoliert, anerkannt statt ausgegrenzt. Schon alleine in diesem Punkt liegt eine hohe Präventivkraft. Denn wie uns alle sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, ist die Ausprägung von extremistischen und demokratie-distanten Haltungen eng mit Desintegrationserfahrungen und mangelnden Teilhabechancen verknüpft. Also liegt der Umkehrschluss nahe, dass Teilhabe und Engagement den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Die derzeitige Herausforderung besteht allerdings darin, dass sich möglichst alle sozialen Gruppen und Milieus an den Strukturen der Zivilgesellschaft beteiligen. Und hier gibt es Anlass zu der Sorge, dass die aktuelle Entwicklung geradezu gegenläufig ist. Die traditionellen großen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Wohlfahrtsverbände, kirchliche oder auch gewerkschaftliche Einrichtungen verzeichnen seit langem einen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen. Das heißt aber nicht, dass es weniger Menschen gibt, die sich engagieren. Vielmehr kann man eine Zunahme an locker organisierten und/oder befristeten Zusammenschlüssen und Initiativen beobachten, die nicht mit festen Mitgliedschaften verbunden sind und offensichtlich besser zu modernen Lebensformen passen. Während aber in den traditionellen großen Verbänden häufig alle sozialen Schichten eingebunden und vertreten waren, deutet einiges darauf hin, dass das auf diese lockeren Initiativen und Zusammenschlüsse nicht mehr zutrifft. Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass Beteiligung an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten heute sehr stark von der sozialen Lage abhängig ist, d.h. dass Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau und prekärer sozialer Lage unterrepräsentiert sind. Sollte sich diese Entwicklung verfestigen, würde dies zu einer sozialen und politischen Desintegration führen - kurz gesagt zu einer gespaltenen Gesellschaft und damit auch zu einem hohen Potential an Menschen, die für extremistische Einflüsse anfällig wären. Hier bedarf es präventiver Maßnahmen und dazu gehört Bildung im Allgemeinen und politische Bildung im Besonderen. Denn politische Bildung befähigt dazu, dass die eigene Situation reflektiert werden kann, dass Selbstverantwortung und Verantwortlichkeit für die Gesellschaft erkannt wird und Kompetenzen erworben werden, eigene Entscheidungen zu fällen und gestaltend auf Prozesse einzuwirken. Und gleichzeitig fußt sie, wie ich es eben bereits beschrieben habe, auf der normativen Grundlage von Demokratie, Toleranz und Menschenrechten. Seit einigen Jahren richten nicht nur die Bundeszentrale für politische Bildung, sondern auch viele andere politische Bildungsträger ihren Blick verstärkt auf Milieus, die man als bildungsfern bezeichnen muss. Diese bildungs- und häufig eben auch politikfernen Milieus sind überwiegend den sozialen Unterschichten zuzuordnen. Hier ist die Distanz zur Politik auf Grund von Ohnmachts- und Unterlegenheitsgefühlen besonders groß. Diese Gruppen sind mit den klassischen Angeboten politischer Bildung nicht zu erreichen. Sie können sich sicher vorstellen, dass es für Einrichtungen der außerschulischen Erwachsenen- und Jugendbildung, die auf die freiwillige Teilnahme ausgerichtet sind, ein schwieriges – fast paradox – anmutendes Unterfangen ist, bildungsferne Menschen zu erreichen. Aber wir stellen uns dieser Aufgabe, um gerade diesen Menschen mit niedrigschwelligen Angeboten Orientierung zu geben und sie stärker in das politische Gemeinwesen zu integrieren sowie ihre Fähigkeiten für selbstverantwortliches Handeln zu stärken. Wie gesagt, mit klassischen Angeboten politischer Bildung, wie Seminaren oder Tagungen, sind sie nicht zu erreichen. Es ist notwendig, hier ganz neue Formate zu entwickeln und andere Zugänge zu finden. Hier befinden wir uns mitten in einem Lernprozess mit dem Ziel, Angebote politischer Bildung zu entwickeln, die auch im außerschulischen Bereich, der auf Freiwilligkeit beruht, wahrgenommen werden. Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel in der Verknüpfung von politischer Bildung und Sozialarbeit. Vorhandene Strukturen der sozialen Arbeit besitzen oft das Vertrauen, das politischen Institutionen nicht entgegengebracht wird. Zudem sprechen Sozialprojekte Interessen an, die die Lebenswelt unmittelbar betreffen und konkrete Lebenshilfe leisten und damit einen unmittelbaren Nutzen versprechen. Denkbar sind aber auch – und das wird auch gemacht - Verknüpfungen mit Sport und Kultur. Es kommt hier also ganz entscheidend darauf an, einen interdisziplinären Weg zu gehen und politische Bildungsinhalte mit anderen Lernfeldern zu verknüpfen. Ganz wichtig erscheint es mir, die Lust auf Engagement und Beteiligung schon sehr früh zu wecken, also Kinder und Jugendliche frühzeitig dafür zu sensibilisieren, dass sie selber etwas bewirken können. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat daher gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Deutschen Bundesjugendring unter dem Motto "Nur wer was macht, kann auch verändern!" in 2007 ein neues Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung gestartet. Es ist die Fortsetzung eines ähnlichen Partizipations-Projektes, das bereits in den Jahren 2003-2005 durchgeführt wurde. Das Aktionsprogramm verfolgt das Ziel, das gesellschaftspolitische Engagement von Kindern und jungen Menschen zwischen 6 und 27 Jahren zu stärken und ihre Stimme in Entscheidungsprozessen hörbar zu machen. Bis 2009 werden bundesweit jeweils unterschiedliche Projektbausteine umgesetzt. Und es wird ein besonderer Schwerpunkt auf Projekte gelegt, die mit bildungsfernen Jugendlichen arbeiten, sowie auf Projekte – und damit komme ich zum zweiten Punkt meiner Rede – die sich speziell an Jugendliche mit Migrationshintergrund wenden, um gerade auch ihnen frühzeitig einen Impuls für Engagement und Beteiligung zu geben. Einwanderungsgesellschaft In Deutschland leben über 15 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln. Dazu zählen Migrantinnen und Migranten sowie Bürgerinnen und Bürger, die mindestens einen Elternteil haben, der zugewandert ist. Mit anderen Worten: fast ein Fünftel der deutschen Bevölkerung hat eine Migrationsgeschichte. In wenigen Jahren werden etwa 40 % der Menschen in Deutschlands Großstädten einen Migrationshintergrund haben. Schon heute ist innerhalb dieser Gruppe die Zahl der deutschen Staatsangehörigen mit 8 Millionen etwas größer als die der Ausländer (7,3 Millionen). Durch Migration wird die kulturelle Pluralisierung unserer Gesellschaft vorangetrieben. Die zunehmende Vielfalt an Kulturen, Religionen, Lebensstilen und Weltanschauungen birgt aber auch ein zunehmendes Konfliktpotential und Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dazu kommt, das muss man auch sehen, der internationale islamistische Terrorismus, der das Misstrauen gegenüber einer ganzen Bevölkerungsgruppe schürt und ein Nährboden für Vorurteile ist. Ich möchte hier nicht den Islamismus verharmlosen. Auf dieses Problem werde ich später noch eingehen. Aber Integration wird doch zweifelsfrei erschwert, wenn die Ablehnung der extremistischen Haltungen einer Minderheit auf die Gesamtgruppe übertragen werden. Verantwortung für die Gestaltung der Integration tragen beide Seiten: sowohl die Migrantinnen und Migranten als auch die Mehrheitsgesellschaft. Deshalb sieht auch die politische Bildung Handlungsbedarf im Hinblick auf beide Seiten. Blicken wir zunächst zu den Migrantinnen und Migranten: Ein wichtiges Anliegen besteht darin, die in Deutschland lebenden Migranten stärker an der Zivilgesellschaft zu beteiligen. Engagement wird auch im Nationalen Integrationsplan als wichtiger Faktor bei der Integration von Migranten angesehen. Denn bürgerschaftliches Engagement, so heißt es hier, schaffe sozialen Zusammenhalt und wirke als erfolgreicher Katalysator für Integration. Die Bundesregierung kündigte an, eine bessere Beteiligung von Migranten in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu unterstützen und die Einbindung von Migranten stärker bei der Gewährung von Fördermitteln zu berücksichtigen. Auch wir in der Bundeszentrale für politische Bildung arbeiten daran, Migrantenorganisationen so zu beraten, dass sie als Träger der politischen Bildung anerkannt und gefördert werden können. Darüber hinaus arbeiten wir aber auch daran, Menschen mit Migrationshintergrund mit Bildungsangeboten besser zu erreichen. Denn politische Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für zivilgesellschaftliches Engagement. Im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen nehmen aber Migrantinnen und Migranten noch deutlich weniger an Angeboten der außerschulischen politischen Bildung teil. Wir stehen also vor der Herausforderung, generell für diese Zielgruppe attraktiver zu werden. Ich möchte hier beispielhaft nur ein Projekt nennen, das wir initiiert haben. Seit Juni 2007 bemüht sich die bpb in einem groß angelegten Modellprojekt zum Thema 'Jugend, Religion, Demokratie: Politische Bildung mit jungen Muslimen' um die Erprobung von neuen Methoden und Ansätzen in Stadtteilen mit einem hohen Anteil bildungsferner, sozial benachteiligter, muslimischer Bürgerinnen und Bürger. Das Projekt zielt auf eine frühe Prävention von Radikalisierungstendenzen und eine verstärkte Integration der Jugendlichen in die politische Bildungsarbeit. Das Projekt hat eine Laufzeit bis 2010. Gemeinsam mit schulischen und außerschulischen Trägern werden stadtteilnahe Bildungsangebote entwickelt und erprobt. Dabei werden örtliche Initiativen von jungen Muslimen sowie von Moscheen und anderen Vereinen in die Projektarbeit einbezogen. Neben der Bildungsarbeit mit Migrantenjugendlichen ist ein weiteres Ziel des Projektes Multiplikatoren in Schule, Jugendarbeit, Vereinen und kommunaler Verwaltung für das Problemfeld zu sensibilisieren und ihnen die erforderlichen Kenntnisse und interkulturellen Kompetenzen zu vermitteln. Hier ist politische Bildung besonders wichtig. Gerade wenn es um die Rolle der Religion geht, um das Verhältnis von Staat und Religion, aber auch um die Frage der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, müssen wir den Dialog suchen und dieser Dialog muss von Menschen geführt werden, deren Haltung geprägt ist durch Toleranz, die aber gleichwohl mit Festigkeit für demokratische Grundrechte Position beziehen können. Aber, wie ich schon sagte, für eine gelungene Integration bedarf es beider Seiten. So muss auch die Mehrheitsgesellschaft in den Blick genommen werden. Sie spielt insofern eine wesentliche Rolle, als ihre Bereitschaft, Migrantinnen und Migranten zu integrieren, zunehmenden Pluralismus zu akzeptieren und vor allem den zugewanderten Bevölkerungsgruppen soziale Anerkennung zu zollen, großen Einfluss auf die Motivation der Migrantinnen und Migranten hat. Wir wissen aus der wissenschaftlichen Forschung, dass eine Anfälligkeit für Radikalisierungstendenzen nicht nur mit einer wirtschaftlich ungünstigen Lebenssituation und mit geringer Bildung korreliert, sondern auch – und das ist in diesem Zusammenhang wichtig – mit der subjektiven Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung. Zu diesem Ergebnis kommt u.a die vom BMI beauftragt Studie "Muslime in Deutschland". Ich möchte kurz auf diese Studie eingehen, weil sie einige weitere interessante Ergebnisse hat, die unter anderem auf einer Befragung von Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Jahrgangsstufe basieren. Ob jugendliche Muslime islamisch-autoritaristische Haltungsmuster entwickeln, ist offenbar eng verbunden mit der Frage, ob sie starke als ausländerfeindlich erlebte Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Gleichzeitig kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass etwa ein Fünftel der nichtmuslimischen Jugendlichen eindeutig negative Vorurteile in extremer Form gegenüber Muslimen vertritt, indem diese pauschal als intolerant und gewalttätig etikettiert werden. Etwa ein Drittel der Jugendlichen befürwortet Segregationstendenzen, d.h. sie sind der Meinung, die Muslime sollten sich in ethnisch- kulturell segregierte Nischen zurückziehen. Offenkundig werden somit jugendliche Zuwanderer seitens der einheimischen Gleichaltrigen in nicht unerheblichem Maße mit zurückweisenden ausgrenzenden Haltungen konfrontiert. Wenn wir diese beiden Ergebnisse zusammen betrachten, wird deutlich, dass die Fragen, wie sich die deutsche Aufnahmegesellschaft Muslimen gegenüber darstellt und welche Exklusionserlebnisse von dieser Gesellschaft ausgehen mit Blick auf das Problem von Radikalisierungspotenzialen von eminenter Bedeutung ist. Wenn ich mir die Ergebnisse dieser Schülerbefragung anschaue, so spricht daraus doch ein sehr hoher Bedarf an politischer Bildung. Es geht zum einen darum, Generationen von Kindern und Jugendlichen, die in die Demokratie hinein geboren wurden, zu verdeutlichen, dass diese Demokratie keine Selbstverständlichkeit und kein Selbstläufer ist, sondern der aktiven Beteiligung bedarf. Und zum anderen zeigt sich doch auch - wenn man die pauschale Verurteilung von Muslimen als intolerant und gewalttätig betrachtet – ein Mangel an Medienkompetenz, der zu einer unkritischen Verallgemeinerung von Bildern führt, die über Medien vermittelt werden. Ein Manko also, dem die politische Bildung durch ausgereifte Bildungskonzepte entgegen treten kann. Solche Inhalte können natürlich zum einen im Unterricht vermittelt werden. Die bpb hat viele Materialien in ihrem Angebot, die für den Einsatz in der Schule gedacht sind. Aber darüber hinaus hinterlassen Projekte, die mit aktivem Handeln verbunden sind, häufig nachhaltigere Lerneffekte. So unterstützen wir beispielsweise die bundesweite Initiative "Schule ohne Rassismus". Die an diesem Projekt beteiligten Schulen versuchen, durch gezielte Maßnahmen und Veranstaltungen das soziale Klima in der Schule zu verbessern und ihr Engagement auch in die nichtschulische Local Community zu tragen. Das ist aktive politische Bildungsarbeit sowohl für die Schülerinnen und Schüler, die solche Maßnahmen und Veranstaltungen konzipieren und durchführen und dabei sehr viel lernen, als auch für die Teilnehmenden, an die sich diese Veranstaltungen richten. Extremismus Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun zum letzten Punkt meines Beitrages kommen. Bislang habe ich über Prävention gesprochen, die weit im Vorfeld von Gewalt und Extremismus stattfindet. Also über das, was Prävention eigentlich leisten soll: nämlich noch nicht bestehende Probleme zu verhindern. Aber meine Ausführungen führen mich jetzt natürlich auch zu manifestem politischem Extremismus und der Frage, wie man diesem begegnen kann. Die virulenteste Gefahr der letzten Jahre geht vom Rechtsextremismus sowie von islamistischem Extremismus aus, aber natürlich setzen wir uns auch mit Linksextremismus auseinander. Wir als Bildungseinrichtung gehen den politischen Extremismus als Bildungsproblem an. Wir fragen in diesem Sinne nach den Bildungszusammenhängen beim Entstehen extremer Meinungen, Weltbilder und Haltungen und nach Bildungswegen, um verfestigte extreme Haltungen zu verändern, sowie auf der anderen Seite nach Bildungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Kräfte, damit diese die aktive Auseinandersetzung mit extremen Meinungen konstruktiv und erfolgreich bestehen können. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung nennen, das sehr erfolgreich ist: Seit 2001 ist die bpb Partnerin in einem Projekt, in dessen Rahmen mit inhaftierten Rechtsextremisten in den Gefängnissen des Landes Brandenburg gearbeitet wird. Mittlerweile wurde dieses Projekt auf insgesamt 8 Bundesländer ausgeweitet und seit 2007 werden auch entsprechende Maßnahmen mit straffälligen Muslimen durchgeführt, die islamistische Denk- und Handlungsmuster erkennen lassen. Dieses Programm, es heißt "Abschied von Hass und Gewalt", befasst sich mit Jugendlichen, die sich aufgrund einer schweren Gewalttat in Haft befinden und diese Tat mit rechtsextremen, ethnozentristischen oder kulturell-religiösen Begründungen erklären. Zielgruppe sind also jene, die aus einer Überbewertung und Überhöhung der eigenen Gruppe oder des eigenen Kulturkreises Rechtfertigungen für Gewalttaten gegenüber anderen, die dieser Gruppe nicht angehören, ableiten. Dem im Laufe des Projektes konzipierten Ansatz liegt die Annahme zu Grunde, dass sich eine stabile Verhaltensänderung am ehesten durch die Förderung von Empathievermögen und durch das Hinterfragen und Reflektieren des Bisherigen herstellen lässt: also durch kognitiven und emotionalen Erkenntnisgewinn. Die zugrunde gelegte Annahme erfordert, dass sowohl das Gewaltverhalten als auch dessen Einbettung in politische Überzeugungen und dazu passende Gruppenzusammenhänge hinterfragt werden müssen. Dies geschieht durch die Koppelung von Anti-Gewalt-Arbeit und politischer Bildung, die sich an den Alltagserlebnissen der Teilnehmer orientiert. Auch bei diesem Projekt spielt Interdisziplinarität eine große Rolle. Hier findet ein produktives Zusammenspiel von Sozialpsychologie, allgemeiner Pädagogik, Resozialisierungs-Facharbeit und politischer Bildung statt. Das Projekt wird kontinuierlich evaluiert und entsprechend weiterentwickelt. Die Bekämpfung von Extremismus darf aber nicht dem Staat alleine überlassen werden. Hier schließt sich der Kreis meiner Ausführungen und ich komme wieder auf die Zivilgesellschaft zurück. Die Zivilgesellschaft muss sich selber organisieren und positionieren, indem lokale Initiativen und auch individuelle alltägliche Zivilcourage entstehen, die dem Extremismus vor Ort entgegentreten. Damit solche Initiativen und Netzwerke entstehen und arbeiten können, bedarf es aber ebenfalls der politischen Bildung. Die bpb sieht ihre Aufgabe ganz besonders darin, gerade die zivilgesellschaftlichen Akteure zu fördern und zu unterstützen. Dies geschieht natürlich zum Einen, indem wir Informationen zur Verfügung stellen. Es gibt inzwischen ein sehr umfangreiches Rechtsextremismus-Dossier auf unserer Website www.bpb.de, das eine Fülle von Hintergrundinformationen und Argumentationshilfen zur Verfügung stellt – und außerdem ein umfassendes Angebot an Büchern und Arbeitshilfen. Darüber hinaus versuchen wir aber auch die vorhandenen Kräfte der Zivilgesellschaft – Vereine, Kirchen, Sport, Gewerkschaften, Verbände, Kultureinrichtungen usw. zu motivieren, wo nötig zu qualifizieren, um Aktionen gegen rechtsextreme Erscheinungen zu veranlassen. Im Zusammenhang mit islamistischen Tendenzen wird daran gearbeitet, die zivilgesellschaftlichen muslimischen Organisationen in gleicher Weise zu aktivieren, dem islamistischen Extremismus entgegen zu treten. Wenn der Zulauf zu rechtsextremen Parteien zunimmt, wie beispielsweise in Mecklenburg- Vorpommern, wenn sich Straftaten mit extremistischem Hintergrund mehren oder auch verstärkt Freizeitangebote extremer Organisationen entstehen, die auf diese Weise Jugendliche ködern wollen – dann müssen solche Anzeichen von den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort ernst genommen werden und zu aktiven Gegenmaßnahmen führen. Die bpb engagiert sich zur Zeit in einer Modellregion, in der virulente rechtsextremistische Kräfte am Werk sind und unterstützt die zivilgesellschaftlichen Kräfte vor Ort dabei, diese insbesondere mit Mitteln der politischen Bildung zurück zu drängen. Die Erfahrungen aus dieser Region sollen dann anderen Regionen weiter vermittelt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, anhand all dieser Beispiele wollte ich Ihnen verdeutlichen, wie breit das Betätigungsfeld der politischen Bildung ist. Ich hoffe, ich konnte Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wo überall politische Bildung eine wirksame Präventionsmaßnahme sein kann. Politische Bildung, wie wir sie heute verstehen, findet nicht mehr ausschließlich in Seminarräumen statt, wie sich das der eine oder andere vorstellen mag. Sie bewegt sich aktiv an die Orte, wo sich ein hoher Bedarf feststellen lässt und geht vielfältige Kooperationen mit anderen Bildungsbereichen ein. Zum Schluss möchte ich aber auch sehr eindringlich einem möglichen Missverständnis vorbeugen: Politische Bildung darf nicht gleich gesetzt werden mit Prävention. Sie ist ein eigenständiger Bildungsbereich mit dem positiven Effekt, dass sie präventiv wirken kann. Politische Bildung ist ein wichtiger Bestandteil unseres humanistischen Bildungskanons. Ich als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung würde sogar sagen, sie ist der wichtigste Bestandteil unseres Bildungskanons. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. − Es gilt das gesprochene Wort −
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/51138/rede-von-thomas-krueger-im-rahmen-des-13-deutschen-praeventionstages-am-2-juni-2008/
Politische Bildung, wie wir sie heute verstehen, findet nicht mehr ausschließlich in Seminarräumen statt. In seiner Rede versucht Thomas Krüger einen Eindruck davon zu vermitteln, wo überall politische Bildung eine wirksame Präventionsmaßnahme sein k
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Folge 6 | Datenschutz in der Schule ist immer eine Grauzone | Podcast | Digitales Lehrtagebuch | bpb.de
Podcast Abonnieren Abonnieren bei Externer Link: Spotify Markus Christoph thematisiert in dieser Folge unter anderem die datenschutzrechtlichen Probleme der Anwendungen von Microsoft 365 in der Schule sowie des Messengerdienstes WhatsApp im privaten und schulischen Bereich. Problematisch ist bei beiden Anwendungen unter anderem, dass Daten auf die Server der US-amerikanischen Konzerne wandern und Datenverarbeitungsprozesse nicht mehr nachvollziehbar sind. Wie regeln Sie Datenschutz an Ihrer Schule? Welche Aspekte sind Ihnen bei der privaten Nutzung digitaler Anwendungen wichtig? Schreiben Sie uns in die Kommentare. Über unseren Interviewpartner: Markus Christoph ist Lehrer für Geschichte, Erdkunde, Politik und Mathe an der Oberschule Langen in Geestland/Niedersachen. Er ist Fachkonferenzleiter für den Bereich Gesellschaftswissenschaften und außerdem Koordinator für digitale Medien und Tablet-Klassen. Die weiteren Folgen im Überblick Interner Link: Folge 1 | Der Spagat zwischen Fordern und Überfordern Interner Link: Folge 2 | Vor zwei Wochen gerade noch den Messenger eingerichtet Interner Link: Folge 3 | Auch online fehlt mal jemand Interner Link: Folge 4 | Ab der 5. Klasse hat eigentlich jeder ein Handy Interner Link: Folge 5 | Freiwilligkeit und Solidarität für die Notbetreuung Interner Link: Folge 7 | Diese Zeit ist eigentlich nicht bewertbar Interner Link: Folge 8 | 25.000 unverhoffte Euro für neue Endgeräte Interner Link: Folge 9 | Wir planen von Tag zu Tag Interner Link: Folge 10 | Alles kommt gerade irgendwie zu kurz Interner Link: Folge 11 | Schulschließungen als Chance für Kulturwandel beim digitalen Lernen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2020-04-03T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/307390/folge-6-datenschutz-in-der-schule-ist-immer-eine-grauzone/
Lehrer Markus Christoph ist Datenschutzbeauftragter an der Oberschule Langen. In dieser Folge erklärt er, warum das ein undankbarer Job ist, den er trotzdem gern macht. Und natürlich, wovor Schülerinnen und Schüler geschützt werden müssen und welche
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Kommentar: Das Normandie-Format und die Minsker Abkommen: Können sie zu einer Deeskalation im Konflikt mit Russland beitragen? | Russlands aggressive Ukraine-Politik / Deutschland im Russland-Ukraine Konflikt / Konfliktlösung in der Sackgasse? | bpb.de
Einführung Die anhaltende Eskalation und die politische und militärische Erpressung durch Russland hat die Staaten des Westens in intensive Verhandlungen mit dem Kreml treten lassen, um mögliche Wege aus der Krise zu finden. Die Reaktivierung des Normandie-Formats wird als eine mögliche Lösung betrachtet, auch wenn dessen Potenzial, zu einer allgemeinen Entspannung beizutragen, bestenfalls begrenzt ist. Warum werden Gespräche im Normandie-Format in dieser Phase wohl kaum erfolgreich sein, und welche verborgenen Risiken gibt es angesichts der russischen Drohung mit einer weiteren Invasion? Normandie-Gespräche: die Illusion von Sicherheitgarantien Die Gespräche auf diplomatischer Ebene zwischen Russland und den USA, Frankreich, Deutschland sowie der NATO und der EU über die Verhinderung einer weiteren Invasion in die Ukraine oder anderer Formen einer hybriden Aggression gegen die Ukraine haben ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, allerdings ohne spürbaren Erfolg. Entgegen dem allgemeinen Eindruck, dass die zur gleichen Zeit erfolgte Reaktivierung des Normandie-Formats durch Kompromisse zwischen Russland und der Ukraine zur Deeskalation beitragen könnte, birgt dies auch Risiken und Nachteile. Erstens ist das Normandie-Format schlichtweg nicht in der Lage, auf die derzeitigen Herausforderungen zu reagieren und Spannungen von dieser Intensität abzubauen. Die Forderungen, die der Kreml an den Westen richtet, gehen weit über die Umsetzung der Minsker Abkommen hinaus. Die gegenwärtige Krise umfasst viel breitere Fragen als nur die Beilegung des Konflikts im Donbas. Die von Moskau offen formulierten weitreichenden Forderungen, dass die Ukraine auf eine Aussicht auf NATO-Mitgliedschaft verzichten müsse, sind nur ein Beispiel dafür, wie weit die tatsächlichen Absichten und der Appetit des Kremls reichen. Obwohl es gegenwärtig das einzige Verhandlungsformat ist, in das sowohl Moskau als auch Kyjiw eingebunden sind, ist das Normandie-Format somit schlichtweg nicht das richtige Forum für eine Deeskalation zwischen Russland und der Ukraine. Zweitens ist Russland immer noch daran interessiert, politische Zugeständnisse in Bezug auf die Minsker Abkommen zu erreichen. Der Kreml weiß, dass solche Kompromisse weder die kurzfristige Eskalation noch den langfristigen Konflikt beenden können, aber ausreichen würden, um die Ukraine zu destabilisieren. Die zentrale Forderung, die Russland bei den jüngsten beiden Normandie-Treffen auf Berater:innenebene an die Ukraine stellte, war die nach direkten Verhandlungen zwischen Kyjiw und den international nicht anerkannten Machthabern im besetzten Donbas. Aus den offiziellen Stellungnahmen Moskaus wird deutlich, dass es die politischen Verhandlungen weg vom Normandie-Format hin zur Trilateralen Kontaktgruppe des Minsk-Prozesses verlagern will, wo die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk vertreten sind, wenngleich ohne offiziellen Mitgliedsstatus. Aus Sicht der Ukraine würden Zugeständnisse keine spürbare Deeskalation garantieren, sondern vielmehr ihre Verhandlungsposition stark schwächen. Für Moskau würde dies hingegen neue Vorteile schaffen und es ermöglichen, sich von den aktiven Verhandlungen zurückzuziehen und das Normandie-Format durch einen "direkten Dialog" im Rahmen der Minsker Kontaktgruppe zu ersetzen. Drittens ist Russland nicht an einem institutionalisierten zwischenstaatlichen Kontakt mit der ukrainischen Regierung interessiert, solange es nicht sicher ist, dass Kyjiw schmerzhaften Kompromisse zustimmt. Das ist der Grund, warum Gespräche auf Berater:innenebene im Normandie-Format das Maximum sind, zu dem Moskau bereit ist. Es sei allerdings daran erinnert, dass dies innerhalb des Normandie-Formats die niedrigste Ebene darstellt. Was ist zu tun? Einerseits hat Kyjiw alle möglichen Anstrengungen unternommen, um bei den derzeitigen internationalen Verhandlungen voll beteiligt zu sein und diese aktiv mitzugestalten. Die Ukraine hat ebenso versucht, mögliche Deals zwischen Moskau und dem Westen zu Lasten Kyjiws zu verhindern. Nach den letzten beiden Normandie-Treffen dürfte der ukrainischen Regierung jedoch klar sein, dass dieser Weg den Status quo nicht zugunsten der Ukraine verändern kann. Jegliche Entscheidungen im Rahmen des Normandie-Formats können nur dann getroffen werden, wenn Moskaus Forderungen voll berücksichtigt werden. Das jüngste, schwierige und ergebnislose Treffen in Berlin hat deutlich gemacht: Russland will nicht einmal die Sicherheitsbestimmungen der Minsker Abkommen erörtern. Unter diesen Umständen ist die sicherste Option, gar keine Abschlusserklärungen oder Dokumente zu unterzeichnen – auch wenn dies angesichts einer drohenden neuen Invasion vielleicht paradox erscheinen mag. Die westlichen Verbündeten müssen sich die Argumente der Ukraine anhören. Je mehr sie oder Kyjiw versuchen sollten zurückzuweichen, desto geringer werden die Chancen für eine echte Deeskalation und die Vermeidung einer weiteren Aggression sein. Das bedeutet nicht, dass sich die Ukraine und deren westliche Partner aus den Normandie-Gesprächen zurückziehen sollten. Es wäre aber vernünftig, in der gegenwärtigen Situation den Ansatz zu verändern: Man sollte nicht versuchen, globale Fragen durch Kompromisse über den Donbas und die Minsker Abkommen zu lösen. Und man sollte nicht der Logik des Kremls folgen, dass dieser durch Zugeständnisse auf Kosten des Donbas zu beschwichtigen sei – dies würde den Appetit Moskaus nur steigern. Stand: 18. Februar 2022 Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
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Von Mariia Zolkina (Stiftung Demokratische Initiativen, Kyjiw)
"2022-03-31T00:00:00"
"2022-03-04T00:00:00"
"2022-03-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-262/346820/kommentar-das-normandie-format-und-die-minsker-abkommen-koennen-sie-zu-einer-deeskalation-im-konflikt-mit-russland-beitragen/
Das Normandie-Format ist aktuell das einzige Verhandlungsformat, in das sowohl Moskau als auch Kyjiw eingebunden sind. Trotzdem sind die Chancen, dass diese Verhandlungen zu einer Deeskalation der Ukraine-Krise führen, bestenfalls begrenzt.
[ "Normandie-Format", "Minsker Abkommen", "Ukraine", "Russland" ]
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Was willst du? – Der Timer 2013/2014 ist da! | Presse | bpb.de
Geld oder Leben, selber denken oder gesagt kriegen, mitlaufen oder gegen den Strom schwimmen: „Was willst du?“ ist das Motto des bpb-Timers 2013/2014. Der Notizkalender für Schüler enthält in 250 Kalendertexten Informationen aus Politik, Kultur und Zeitgeschichte. Dazu gibt es einen ausführlichen Serviceteil mit Landkarten, Artikeln, Links und anderen Adressen auf 160 farbigen Seiten im DIN A 5-Format, auf Umweltpapier und: werbefrei. Die Timer-Fotostrecke stellt übrigens berühmte Szenen mit Menschen nach, die Ziele, Wünsche und Visionen hatten (wie z.B. John Lennon und Yoko Ono im März 1969 beim „Bed in for peace“ in Amsterdam). Bestellen kann man ab sofort, geliefert wird ab Ende Juni (Softcover) und Mitte Juli (Hardcover): Externer Link: www.bpb.de/timer Für Sammelbesteller gibt es Rabatte. Aktuelles unter: Externer Link: www.facebook.de/bpbtimer Hochauflösende Coverdateien stehen zum Download bereit unter: http://www.bpb.de/presse/132813/timer Timer 2013/2014 Hardcover, Bestellnummer 2549, Bereitstellungspauschale 5 Euro. Softcover, Bestellnummer 2550, Bereitstellungspauschale 3 Euro. Für Sammelbesteller gibt es Rabatte. Externer Link: www.bpb.de/timer Interner Link: Pressemitteilung als pdf Pressekontakt bpb Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de »Externer Link: www.bpb.de/presse«
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-06-20T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/163648/was-willst-du-der-timer-2013-2014-ist-da/
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Chronik: 16. April 2019 – 6. Mai 2019 | bpb.de
16.04.2019 Vizeministerpräsidentin Beata Szydło, Jan Krzysztof Ardanowski, Minister für Landwirtschaft und die Entwicklung des ländlichen Raumes, und Jarosław Sellin, Vizeminister für Kultur und Nationales Erbe, geben die Gründung des Nationalen Instituts für die Kultur und das Erbe des Dorfes bekannt. Dessen Hauptaufgabe wird die Erforschung, Dokumentation und Verbreitung des Wissens über die Kultur des ländlichen Raumes sein. 17.04.2019 Beim Besuch des Außenministers von Aserbaidschan, Elmar Mammadyarov, in Warschau unterstreicht Außenminister Jacek Czaputowicz mit Blick auf den Konflikt in Bergkarabach, dass Polen für die territoriale Integrität und Souveränität von Aserbaidschan in den international anerkannten Grenzen eintritt. Polen unterstütze die Fortsetzung der Friedensverhandlungen unter der Schirmherrschaft der OSZE. Weiter äußert er die Hoffnung, dass die Verhandlungen des neuen Rahmenabkommens über die Zusammenarbeit zwischen der EU und Aserbaidschan rasch beendet würden. 18.04.2019 Außenminister Jacek Czaputowicz nimmt am Außenministertreffen der Visegrád-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn) und Frankreich in Pressburg (Bratislava, Slowakei) teil. Czaputowicz spricht sich für den Wettbewerb in der EU und gegen protektionistische Maßnahmen aus. Um Europa konkurrenzfähig zu halten, müssten die vier Freiheiten der EU (freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital) gestärkt werden. 19.04.2019 In Warschau findet am Denkmal der Ghettohelden in Anwesenheit von damaligen Aufständischen die Hauptgedenkveranstaltung zum Ausbruch des Warschauer Ghettoaufstands gegen die nationalsozialistischen Besatzer vor 76 Jahren statt. Präsident Andrzej Duda wird von seinem Unterstaatssekretär Wojciech Kolarski vertreten. 19.04.2019 In Pruchnik (Südostpolen) wird am Karfreitag in der Öffentlichkeit ein seit Jahren nicht mehr praktizierter antijüdischer religiöser Brauch, das sogenannte "Judasgericht", reaktiviert. Die Polizei leitet Ermittlungen ein. 23.04.2019 Der Bürgermeister von Pruchnik (Südostpolen) drückt in einer im Internet veröffentlichten Stellungnahme sein Bedauern über den antijüdischen religiösen Brauch, das sogenannte "Judasgericht", aus, das vor drei Tagen am Karfreitag öffentlich zelebriert wurde. Es sei unverantwortlich, insbesondereKinder bei der Inszenierung einbezogen zu haben. Er verstehe die Aktion als Provokation von bestimmten Milieus oder Einzelpersonen, denen der gute Ruf Pruchniks und Polens nichts wert sei. 24.04.2019 In Swinemünde (Świnoujście) wird in Anwesenheit von Präsident Andrzej Duda ein Vertrag unterzeichnet, der es dem Betreiber des dortigen Flüssiggasterminals, der Polskie LNG, gestattet, beim Europäischen Kohäsionsfonds und beim Europäischen Fonds für regionale Entwicklung eine Kostenerstattung in Höhe von max. 128 Mrd. Euro für den Ausbau des Terminals zu beantragen. Nach Angaben der Regierung würde diese Summe zwei Drittel der geplanten Gesamtkosten decken. 25.04.2019 Sławomir Broniarz, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (Związek Nauczycielstwa Polskiego – ZNP), kündigt das vorläufige Ende des landesweiten Schulstreiks zum 27.04. an und betont, dass der Streik im September wieder aufgenommen werden könne. Im Juni solle von der ZNPein Runder Tisch für das Bildungswesen durchgeführt werden. 25.04.2019 In der Nacht vom 25. auf den 26.04. finden im Sejm die Debatte und die Abstimmungüber das Misstrauensvotum gegen Bildungsministerin Anna Zalewska statt. Es wird mit 228 gegen 180 bei zwei Enthaltungen abgelehnt. Den Antrag hatte die Bürgerplattform – Bürgerkoalition (Platforma Obywatelska – Koalicja Obywatelska – PO-KO) eingebracht. Sie begründete ihn mit Defizitender Schulreform und dem fehlenden gesellschaftlichen Vertrauen gegenüber Zalewska. 26.04.2019 Ministerpräsident Mateusz Morawiecki eröffnet in Warschau eine von der Regierung initiierte Bildungsdebatte. Die Teilnehmer sind Vertreter des Bildungssektors, des Parlaments, der Gewerkschaften, von Institutionen der Selbstverwaltung, der Eltern und der Schüler. Einige Gewerkschaften, darunter die Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (Związek Nauczycielstwa Polskiego – ZNP), lehnen die Teilnahme ab. Begründet wird dies damit, dass mit den landesweit streikenden Lehrern bisher keine Einigung über ihre Forderungen erzielt worden sei. 27.04.2019 Der von verschiedenen Lehrergewerkschaften landesweit organisierte Schulstreik der Lehrer wird nach 19 Streiktagen aufgehoben. 28.04.2019 In Warschau hält die Partei Kukiz ‘15 ihren Parteitag zur Europawahl am 26. Mai ab. Parteichef Paweł Kukiz betont den Wert der Gleichheit für Europa. Es könne nicht sein, dass die Europäische Kommission die EU in der Hand habe und dabei nur den Interessen Deutschlands und Frankreichs diene. Der Parteichefder italienischen Fünf Sterne-Bewegung und stellvertretende Ministerpräsident Italiens, Luigi Di Maio, sagt in seiner Rede, beide Parteien zögen gemeinsam in den Wahlkampf und würden sich statt auf ideologische Fragen auf die Bedürfnisse der europäischen Bürger konzentrieren. 29.04.2019 Nach dem neuesten Bericht des Büros für Wirtschaftsinformation (Biuro Informacji Gospodarczej – BIG) und des Büros für Kreditinformationen (Biuro Informacji Kredytowej – BIK) betrug die Verschuldung der Baubranche in Polen zum Jahresende 2018 4,75 Mrd. Zloty, was einen Anstieg um 6 % gegenüber 2017 bedeutet und ca. 43.000 Firmen des Bausektors betrifft. 30.04.2019 In einem im Internetportal Politico veröffentlichten Artikel stellt Ministerpräsident Mateusz Morawiecki fünf Punkte zur Überwindung der Krisen der EU vor. Notwendig seien der Kampf gegen Ungleichheit, mehr Innovationen, die Bekämpfung von Monopolen und wirtschaftlichem Protektionismus, die Erhöhung der Ausgaben für den Schutz derGrenzen und der Schutz der Demokratie. 30.04.2019 Die internationale NGO World Justice Project in Den Haag gibt die Verleihung des Rule of Law Award an den Bürgerrechtsbeauftragten Polens, Adam Bodnar, und sein Kollegium bekannt. Die Auszeichnung wird für außerordentliche Errungenschaften zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vergeben. 01.05.2019 In seiner Rede zum 15. Jahrestag des EU-Beitritts Polens sagt Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, dass die EU-Mitgliedschaft nicht ausschließe, für die polnischen Interessen zu kämpfen. Seine Regierung verfolge das Ziel, sowohl für die eigenen nationalen Interessen als auch für die europäische Solidarität einzutreten. Ein solidarisches Europa sei besser als ein Europa der zwei Geschwindigkeiten; Europa, das auf den Wert der Familie setze, sei sicherer als ein Europa der Revolution und der kulturellen Experimente. 01.05.2019 Aus Anlass der EU-Erweiterung um zehn Mitgliedsstaaten (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) am 1.05.2004 findet in Warschau auf Initiative von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki der Gipfel "Together for Europe – High Level Summit" statt. Teilnehmer sind die Regierungschefs oder andere hohe Vertreter dieser Länder sowie von Bulgarien und Rumänien, die im Jahr 2007 der EU beitraten. 02.05.2019 In seiner Ansprache zum Tag der Polonia und der im Ausland lebenden Polen betont Senatsmarschall Stanisław Karczewski die übergreifende Gemeinschaft der Polen. Verbindend seien die Bestrebungen, dass Polen und die Polen unter anderen Nationen erfolgreich sind und eigene Spuren hinterlassen sowie die eigenen Werte in das Leben der aufnehmenden Gesellschaft einbringen. 03.05.2019 In Warschau finden die Hauptfeierlichkeiten zum Tag der Verfassung vom 3. Mai 1791 statt. Dazu gehören eine "Messe für das Vaterland", die Verleihung des Ordens des Weißen Adlers durch Präsident Andrzej Duda sowie eine Militärparade mit über 2.000 Soldaten der Polnischen Armee und verbündeter Streitkräfte. In seiner Rede sagt Duda, ein starker Staat zeichne sich durch innere und äußere Sicherheit aus; diese werde von effektiven und gut ausgerüsteten Streitkräften gewährleistet. Die Modernisierung der polnischen Armee sei die große Aufgabe der kommenden Jahre. 04.05.2019 Jarosław Gowin, Minister für Wissenschaft und Hochschulwesen, kritisiert in einem Brief an den Rektor der Universität Warschau (UW), Marcin Pałys, dass eine angemessene Reaktion auf die Ansprache des Chefredakteurs des Magazins "Liberté", Leszek Jażdżewski, am Vortag an der UW fehle. Jażdżewski hatte sich kritisch zu der Rolle der katholischen Kirche in Polen geäußert. Auf Twitter hatte sich Pałys bereits von der Rhetorik Jażdżewskis distanziert. Jażdżewski hatte als Mitorganisator eines Auftritts von EU-Ratspräsident Donald Tusk an der UW seine Rede gehalten. 06.05.2019 In einem Interview für die Boulevardzeitung "Super Express" zieht Präsident Andrzej Duda eine positive Bilanz der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union und hebt den zivilisatorischen Entwicklungssprung hervor, den Polen im wirtschaftlichen Bereich durch die EU-Unterstützung gemacht hat. Die Zugehörigkeit zur EU sei polnische Staatsräson. Sie können die gesamte Chronik seit 2007 auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/polen/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-05-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/290942/chronik-16-april-2019-6-mai-2019/
Die Ereignisse vom 16. April bis zum 6. Mai 2019 in der Chronik.
[ "Aktuelle Chronik", "Polen", "Polen-Analysen" ]
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Nachhaltigkeit hat (k)ein Geschlecht | Geschlechter-Gerechtigkeit / Gender | bpb.de
Einleitung Zehn Jahre nach der UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro zieht die Konferenzkarawane der Vereinten Nationen weiter nach Johannesburg zum Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung (WSSD). In Südafrika bilanzieren die Staatengemeinschaft und internationale Umwelt-, Entwicklungs- und Frauenorganisationen die Umsetzungsergebnisse von Rio. Transnational agierende Frauenaktivistinnen, die Nachhaltigkeit eng mit politischer Gerechtigkeit verwoben sehen, stellen vor allem die Frage, ob und inwieweit die Geschlechterperspektive systematisch in das Nachhaltigkeitsdreieck von Ökologie, Ökonomie und Soziales eingeschleust werden kann, insbesondere in die bislang abgespaltene, aber zentrale vierte Dimension von Nachhaltigkeit: die Politik. Erst mit der Integration des Politischen in die Problemperspektive nachhaltiger Entwicklung eröffnet sich den beteiligten AkteurInnen eine Arena zur Verhandlung und Bearbeitung dieses magischen Dreiecks sowie zur Formulierung und zur eventuellen Ausbalancierung ihrer Ziel- und Interessenkonflikte. In dem Moment, da "gesellschaftliche Naturverhältnisse" Gegenstand politischer Entscheidungen werden, gelangen auch die kontroversen Interessen- und Zielperspektiven sowie die höchst unterschiedliche Deutungs-, Handlungs- und Entscheidungsmacht der AkteurInnen in den Blick. Für die Einschätzung, ob die UN-Konferenz in Rio einem geschlechtersensiblen Nachhaltigkeitsprozess den Weg geebnet hat oder die kohärente Vernetzung von Zukunftsfähigkeit und Gender noch in weiter Ferne liegt, ist die Integration der Macht- und Herrschaftsperspektive in die Debatte unerlässlich. I. Nachhaltige Entwicklung: Ein Leitbild macht Karriere 1. Zur Genese hegemonialer Konzepte In den sechziger Jahren bezog sich klassisches umweltpolitisches Denken und Handeln zunächst auf die vielfältigen Gefährdungen lokaler und regionaler Naturstücke, wie die Schadstoffbelastung von Böden, Wasser, Luft und der Wälder oder die Zerstörung einzelner komplexer Biotope. Doch bereits zu Beginn der siebziger Jahre globalisierte sich die Umweltfrage mit der Sorge um die Erschöpfung natürlicher Ressourcen, wie der Club of Rome sie in seiner 1972 publizierten Studie "Grenzen des Wachstums" formulierte. In Reaktion auf diesen Bericht und die Weltumweltkonferenz 1972 in Stockholm entwickelte das im selben Jahr gegründete Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) den Ecodevelopment-Ansatz, den Vorläufer Nachhaltiger Entwicklung. In den Guidelines for Ecodevelopment integrierte sein prominentester Vertreter, Ignacy Sachs, frühzeitig die Dimensionen ökologischer, sozialer, ökonomischer und politischer Entwicklung. Indem er widerstrebende Interessen, Verteilungs- und Machtfragen thematisierte, trug der Ecodevelopment-Ansatz wesentlich zur Politisierung einer globalisierten Umweltdebatte bei. Der Begriff Sustainable Development wird mit dem Bericht World Conservation Strategy (WCS ) in die internationale Umweltdebatte eingeführt. Er orientierte sich an einer eher klassischen Idee des Naturschutzes, projiziert auf die globale Ebene, und fällt hinsichtlich seiner Analysekomplexität hinter den Ecodevelopment-Ansatz zurück. Erst der Kontext der Weltkonferenzreihe in den siebziger Jahren und ihrer jeweiligen Nachfolgegipfel im Dekadenabstand förderte die systematische Entwicklung einer global-ökologischen Problemperspektive und einer (Re-)Politisierung der Umweltdebatte. Ende der achtziger Jahre rückten neben der Sorge um die Verknappung natürlicher Ressourcen zunehmend die Probleme einer begrenzten Aufnahmekapazität von Umwelträumen für Abfall- und Schadstoffe in den Vordergrund. Zugleich gerieten immer komplexere Schadensmuster und globale ökologische Probleme in den Blick, allen voran Klimaveränderungen (anthropogener Treibhauseffekt), der Verlust der biologischen Vielfalt, Süßwasserknappheit, Überfischung und Verschmutzung der Weltmeere, fortschreitende Entwaldung und Desertifikation. Diese Umweltkrisen waren eingebettet in komplexe gesellschaftliche Problemlagen. Zivilisations- und Wirtschaftsmodelle, die auf kontinuierlicher Wachs-tumsorientierung und Externalisierung von Kosten zu Lasten der Umwelt basierten, insbesondere in hoch industrialisierten Staaten, rückten verstärkt auf die Agenda internationaler umwelt- und entwicklungspolitischer Diskurse. 2. Die Popularisierung "nachhaltiger Entwicklung" zur Paradiesformel ökologischer Modernisierung Die zunehmende Verschränkung und wechselseitige Abhängigkeit ökologischer, ökonomischer und sozialer Problemlagen machte in der Analyse eine neue integrative Perspektive und in der politischen Bearbeitung eine Lang- und Querschnittsorientierung von Programmen notwendig. Einseitige und innerhalb nationaler Grenzen verharrende Lösungsversuche waren angesichts entgrenzter Problemlagen zum Scheitern verurteilt. Multilaterale und integrierte Lösungsansätze sollten am normativen Leitbild "nachhaltige Entwicklung" orientiert sein, forderte der Brundtland-Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft", vorgelegt 1987 von der "Weltkommission für Umwelt und Entwicklung". Sie fasste die bisherige internationale Debatte pointiert in einer Kernformel zusammen: "Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Zentrales Element des Brundtland-Konzeptes ist die Einforderung einer intergenerativen und intragenerativen Problemperspektive zur dauerhaften Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit. Dazu gehört die Ausrichtung aller politischen Strategien an einer vorsorgenden Langfrist- und integrativen Querschnittsperspektive sowie an transnational vernetzten Problemlagen. Problemanalysen und Lösungsansätze sollten erstmalig partizipativ und im Dialog mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen initiiert und unterstützt werden. Dieses kooperative Politikverständnis implizierte eine neue Akteurs- und Prozessorientierung. Mit Beteiligung der Zivilgesellschaft eröffneten sich aber auch erste Partizipationschancen für ein genderpolitisches Mainstreaming nachhaltiger Entwicklung. Trotz seines innovativen Politikansatzes war der Bericht wegen seines durchgängig wachstumsoptimistischen Ansatzes höchst umstritten. Umwelterhaltung und Wirtschaftswachstum in Nord und Süd konzipierte er gleichsam als win-win-Situation für alle und bot mit dieser Paradiesformel ökologischer Modernisierung Anschlussstellen für AkteurInnen unterschiedlichster Provenienz mit zum Teil gänzlich disparaten Ziel- und Interessenlagen. KritikerInnen ordnen den Brundtland-Bericht deshalb den Ansätzen einer "schwachen Nachhaltigkeit" zu, die ökonomisches Wachstum und Nachhaltigkeit innerhalb der bestehenden ökonomischen, sozialen und politischen Systeme miteinander versöhnen will und nicht auf deren grundlegende Transformation hin angelegt ist. 3. Die Etablierung als politisches Leitbild Mit der UN Konferenz zu Umwelt und Entwicklung 1992 nahm die internationale Staatengemeinschaft nachhaltige Entwicklung als politische Leitidee an, und sie durchwirkte sämtliche Programme und Konventionen des Erdgipfels. Mit der UN-Konferenz von Rio sollten die politischen Weichen zu einer globalen Partnerschaft auf dem Weg zu einer ökonomisch, ökologisch und sozial verträglichen Entwicklung gestellt werden. Damit wurden der Brundtland-Report und die Riokonferenz für die Konzeption, die politische Etablierung und Popularisierung eines globalen umwelt- und entwicklungspolitischen Leitbildes Sustainability zu historischen Meilensteinen. Bis heute dient die Brundtland-Erklärung als definitorischer Anker zahlreicher Nachfolgekonzepte, z. B. der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" sowie der jüngst verabschiedeten Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung "Perspektiven für Deutschland" . Diesen Ansätzen einer systemimmanenten ökologischen Modernisierung stehen an einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Transformation orientierte wachstums- und strukturkritische sowie gendersensible Positionen gegenüber. II. Nachhaltigkeit: Geschlechterpolitische "terra incognita"? In der Genese hegemonialer Konzepte nachhaltiger Entwicklung sind gendersensible Ansätze nahezu unsichtbar, obgleich sich Wissenschaftlerinnen und Frauenaktivistinnen seit den frühen siebziger Jahren mit eigenen Positionen an der internationalen umwelt- und entwicklungspolitischen Debatte beteiligt haben. 1. Die "Feminisierung" der Entwicklungspolitik Esther Boserup legte mit ihrer einflussreichen Studie "Die Rolle der Frau in der Entwicklung" 1970 den Grundstein zu einer systematischen Analyse der Beiträge von Frauen in den produktiven Sektoren der Ökonomien in Entwicklungsländern, insbesondere in der Landwirtschaft. Boserups Analyse leistete einen wesentlichen Beitrag zur Integration von Gender in die Forschungsperspektive und gab mit anderen den Impuls zur Etablierung des Ansatzes Women in Development (WID) in der Entwicklungspolitik. Nach dem Scheitern wachstumsorientierter Strategien des Kapital- und Technologietransfers schloss sich im Zuge der Neukonzeptionalisierung von Entwicklungsstrategien eine "Investition in die Armen" an. Deren wichtigste Implikation war der Zielgruppenbezug und eine Umorientierung auf die Basisbedürfnisse ärmster Bevölkerungsschichten. In diesem Kontext wurden Frauen als äußerst produktive, aber bislang vernachlässigte Ressource von multilateralen Entwicklungsorganisationen entdeckt. Mit dem WID-Ansatz sollte das ungenutzte Humankapital in Entwicklungsprogramme integriert und die (frauen)politische Blindheit überwunden werden. Die UN-Generalversammlung erklärte das Jahr 1975 zum Internationalen Jahr der Frau und beschloss die erste Weltfrauenkonferenz in Mexico City mit dem Ziel der vollständigen Integration von Frauen in alle Entwicklungsanstrengungen. 2. Ansätze einer (geschlechter)gerechten Entwicklung Im Vorfeld der Abschlusskonferenz der Frauendekade in Nairobi 1985 fand das erste internationale Treffen von Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN) 1984 in Indien statt. Frauenforscherinnen und Aktivistinnen aus dem Süden bündelten ihre Kräfte zur Kritik am westlichen Entwicklungsmodell und den Implikationen des WID-Ansatzes. Sie präsentierten ihr alternatives Entwicklungsmodell auf der dritten Weltfrauenkonferenz in Nairobi unter dem Titel "Entwicklung, Krisen und alternative Visionen - Perspektiven von und für Frauen aus der Dritten Welt" . Mit der Einführung ihres Empowerment-Ansatzes forderten sie Machtbildung für benachteiligte soziale Gruppen, die gesellschaftliche Transformation bestehender (geschlechts)hierar-chisierter Strukturen insgesamt sowie die Abkehr von wachstumsorientierten Zivilisationsmodellen. Ziel war eine grundlegende Revision und Neukonturierung bestehender Entwicklungsmodelle. Die ernüchternde Bilanz von Nairobi gab ihnen Recht. Sie belegte eine zunehmende "Feminisierung der Armut". Der Integrationsansatz schlug fehl, weil er die Machtasymmetrien innerhalb der Geschlechterbeziehungen sowie die Ursachen ungleicher Ressourcenverteilung mit seiner ausschließlichen Fokussierung auf Frauenfragen unangetastet ließ und weiterhin auf Modernisierungsstrategien gründete. Er machte Frauen letztendlich angepasster und verfügbarer für die Entwicklungserfordernisse. Der Empowerment-Ansatz fand im Folgeprozess der Nairobi-Konferenz Eingang in die bi- und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit sowie in die Abschlussdokumente der Weltkonferenzreihe der neunziger Jahre, jedoch bar seines ursprünglich machtkritischen Transformationsanspruches. Auf der institutionellen entwicklungspolitischen Ebene transformierten Ende der achtziger Jahre die WID-desks zu GAD (Gender and Development)-desks, die das Einbringen der Geschlechterperspektive (engendering) in sämtliche Entwicklungsbereiche als eine verpflichtende Querschnittsaufgabe verstanden. 3. Frauen, Umwelt und nachhaltige Entwicklung Nachdem Frauen in den siebziger Jahren als Ressource von Entwicklungsplanern entdeckt worden waren, vollzog sich rund zehn Jahre später der Integrationsprozess von Umwelt und Entwicklung. Ende der achtziger Jahre wurde der WID-Ansatz sukzessive zum Dreieck "Women - Environment - Development" (WED) erweitert, der Frauen diesmal als Umweltmanagerinnen entdeckt und einbindet. Kritik an der Funktionalisierung von Frauen erst für Entwicklungs-, dann für Umweltprozesse und an einer Feminisierung der Umweltverantwortung folgten auf dem Fuße. Später ist WED in einen Women-Environment-Sustainable Development-Ansatz überführt worden. Seit Anfang der neunziger Jahren wurde dann vor allem der Gender-Begriff kontrovers diskutiert. Ökofeministische Theoriekonzepte, wie sie etwa von Maria Mies und Vandana Shiva vertreten wurden, basieren auf einem essentialistischen Gender-Begriff, der das "weibliche Prinzip" als Garant für den respektvollen Umgang mit der Natur und ein friedvolles Leben in menschlichen Gemeinschaften konstruiert. Diesen Ansätzen wurde eine Ontologisierung der Zweigeschlechtlichkeit vorgeworfen sowie die Perpetuierung androzentristischer Legitimationsfolien der Natur- und Frauenunterdrückung durch die unterstellte größere Nähe von Frauen zur Natur. Die naturalistische "Wir-Frauen-Kategorie" wurde vor allem durch schwarze nichtwestliche Frauen zurückgewiesen, "die ihre feministischen Kolleginnen bezichtigten, nichtgeneralisierbare weiße Mittelstandstheorien zu produzieren und diese in kolonialer Attitüde ihren marginalisierten Schwestern überzustülpen" . Poststrukturalistische feministische Ansätze hingegen verstehen sex nicht als biologisch präformierte Entität, sondern als Material kultureller Aneigung bzw. Konstruktion. Für sie existiert keine vordiskursive Zweigeschlechtlichkeit. Sex wird zur gendered category. Neben Gender treten Kategorien wie Rasse, Klasse und Kultur, die ebenfalls als performative, prozessural sich wandelnde und aktiv veränderbare Kategorien verstanden werden. Mit zunehmender Mobilität der Individuen beschreiben sie keine statisch festgelegten Zuschreibungen, sondern sind fluide und können in wechselnden gesellschaftlichen Kontexten an Relevanz verlieren bzw. de- und wieder neu rekonstruiert werden. Im Rio-Prozess dominierten jedoch weiterhin ökofeministische Positionen. III. Feministische Nachhaltigkeitsdiskurse im Rio-Prozess 1. Eine neue Ethik für die Erde Entscheidend für die Entwicklung eines frauenpolitischen Konzeptes von Sustainability aus zivilgesellschaftlicher Perspektive war der von WEDO (Women's Environment & Development Organisation) organisierte "Weltfrauenkongress für einen gesunden Planeten", auf dem der Frauenaktionsplan 21, die "Women's Action Agenda for a Healthy Planet", von 1342 Frauen aus 83 Ländern einstimmig verabschiedet wurde. Margarita Arias aus Costa Rica eröffnete den Weltfrauenkongress mit den Worten: "Niemand spricht mit so großer moralischer Autorität für den Schutz der Umwelt wie Frauen" und trieb mit dieser Diktion ökofeministische Pflöcke ein, mit denen sie sowohl für diesen Kongress in Miami als auch den "Planeta Femea" in Rio das Terrain absteckte. Der NGO-Frauenkongress war in Form eines Tribunals organisiert worden. Er sollte "die Verflechtung von Wirtschaftssystem, Zerstörung des Planeten und Unterdrückung von Frauen" sichtbar machen. Zeugnisse der Anklage waren der Weltmarkt und die Verschuldung, Militarismus, Wissenschaft und Technik, Demokratiemangel und Rechtsverletzungen - überhaupt das Entwicklungsmodell als Gesamtsystem. Der Frauenaktionsplan 21 formulierte eine grundlegende Kritik an den herrschenden Entwicklungs- und Wohlstandsmodellen mit ihrer durchgängigen Wachstumsorientierung und forderte einen Paradigmenwechsel hin zu einer tief greifenden Transformation und (Re-)Moralisierung menschlichen Lebens und Wirtschaftens. Drei zentrale Forderungen lassen sich identifizieren: eine neue Ethik im Umgang mit der Natur; Gerechtigkeit zwischen Norden und Süden; Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Verbunden sind diese Kritikelemente mit der Aufforderung zu einer "neuen Moral des Produzierens, Handelns und des Konsums" . Die Teilnehmerinnen in Miami distanzierten sich von dem Begriff "nachhaltige Entwicklung" als westlich dominiertem Modell und führten im Gegenzug "sustainable livelihood" als neue Leitorientierung in die Debatte ein. Der Livelihood-Ansatz betont die Bedeutung der lokalen Ebene für die alltägliche Überlebenssicherung, den Erhalt lokaler Ressourcen und die Strukturbildung sozialer Systeme. Livelihood respektiert die Vielfalt lokal unterschiedlicher gesellschaftlicher und natürlicher Lebensbedingungen und wendet sich gegen den Geltungsanspruch universeller Entwicklungsparadigmen einer nachholenden Entwicklung. 2. Der "Planet der Frauen" Auf dem "Planeta Femea" des globalen NGO-Forums in Rio wurden feministische Nachhaltigkeitsansätze erstmalig für eine weltweite Öffentlichkeit sichtbar. Die Frauen-Agenda war Struktur gebend für die Themen des "Planeta Femea". WEDO mit ihrer schillernden Leitfigur Bella Abzug setzte politikstrategisch auf einen partizipativen Empowerment-Ansatz, der die Kluft zwischen der Leistung von Frauen für Gesellschaft und Umwelt und ihrer Beteiligung an politischer und wirtschaftlicher Macht überwinden sollte. Angestrebt wurde dies mit Advocacy-, Mainstreaming- und Lobbyarbeit zunächst innerhalb etablierter Systemstrukturen. Die Vertreterinnen einer machtkritischeren Position mit DAWN an ihrer Spitze sahen die herrschenden Weltwirtschaftsstrukturen, ökologische Krise und Frauenunterdrückung miteinander zu einer umfassenden Entwicklungskrise verknüpft. Ihr Ziel war es, diesen Konnex transparent zu machen und ihm mit visionären Gegenentwürfen zu begegnen. 3. Ambivalenzen eines Lobbyerfolges Die grundsätzlich systemkritischen Positionen fanden jedoch keinen Eingang in die inhaltliche Ausformulierung der Agenda 21. Die machtkritische Reformulierung von Nachhaltigkeit lief dem Wachstumsoptimismus und frauenpolitischen Integrationsansatz des offiziellen Abschlussdokuments grundlegend zuwider. Dennoch ist die Agenda 21 das erste UN-Abschlussdokument eines Weltgipfels zu Umwelt- und Entwicklung, das ein Kapitel über die Rolle von Frauen als Hauptakteurinnen (major group) in Nachhaltigkeits-Prozessen enthält, den "Globalen Aktionsplan für Frauen zur Erzielung einer nachhaltigen und gerechten Entwicklung" . Darüber hinaus wurden rund 120 weitere Empfehlungen zu Geschlechtergerechtigkeit quer zu den Themen der Agenda 21 festgehalten. Ewa Charkiewicz von DAWN bilanziert die Agenda 21 als ein höchst ambivalentes Dokument. Von der Ebene der Politikformulierung hin zur realen Welt sei die Umsetzung der Vereinbarungen nicht substantiell gewesen. Die kohärente Vernetzung von Gender und nachhaltiger Entwicklung ist im Folgeprozess von Rio weder konzeptionell noch in der Umsetzung gelungen. Zwar gelten Umwelt- und Genderfragen mittlerweile als politische Querschnittsthemen, sie werden jedoch durch das sektorale Prinzip politisch administrativer Problembearbeitung nach wie vor zerschnitten und unverbunden evaluiert. IV. Perspektiven einer gendersensiblen zukunftsfähigen Entwicklung 1. Mainstreaming im Vorfeld des Johannesburg-Gipfels Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen setzt WEDO während der WSSD in einer ersten Etappe auf Reformen und Mitmacht. Diese Strategie beinhaltete vor allem die Übernahme einer aktiven Rolle innerhalb der 1993 gegründeten Frauen AG (Women's Caucus) der Kommission für Nachhaltige Entwicklung (CSD). Der Women's Caucus tritt für das systematische Gender Mainstreaming aller Vereinbarungen im Bereich nachhaltiger Entwicklung ein. Er ist mit eigenen Positionspapieren, Side-Events und steter Lobby-Arbeit auf den jährlichen CSD-Tagungen präsent und versucht, seine Expertise systematisch in den Prozess und in die Entschließungstexte einzubringen. Als Pipeline dieser Mainstreaming-Prozesse dienen wesentlich die so genannten "Multi-Stakeholder Dialogs" innerhalb der CSD. NGOs ermöglicht dieses innovative Partizipationsinstrument den Dialog mit Regierungsdeligationen und Mitgliedern der Hauptgruppen (major groups) und gezielten Einfluss auf Entschließungstexte. Für Frauenorganisationen, die auf Mitmacht setzen, kommt den Dialogen eine Schlüsselfunktion zu. Als Hauptaufgaben und -aktivitäten im Vorfeld des Johannesburg-Gipfels hat die Frauen-Arbeitsgemeinschaft der CSD die koordinierte Entwicklung einer Neuauflage der Frauenaktionsagenda identifiziert. Sie wird im Rahmen eines konsultativen Prozesses auf der Grundlage von Seminaren, Umfragen und Frauenforen kooperativ erstellt. WEDO koordiniert diesen Prozess. Die aktualisierte Fassung der Frauenagenda soll sowohl im Gipfel- als auch im Nachfolgeprozess als Lobbying-Plattform eingesetzt werden. 2. Prioritäten einer A-Gender für die Nachhaltigkeit Zentrale Forderungen des Women's Caucus, der gemeinsam formulierten Women's Action Agenda for a Healthy Planet 2002 (WAA 2002) sowie von DAWN für das Gender Mainstreaming in Johannesburg sind: - Good Governance und Geschlechterdemokratisierung sollen Entscheidungs- und Gestaltungsmacht, Partizipation und Rechtssicherheit für alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, gewähren. Dies setze Gender balance innerhalb aller Entscheidungsgremien im Bereich nachhaltiger Entwicklung voraus. - Ein Abbau der Spannungen zwischen freier Marktideologie und nachhaltigen Produktions- und Konsumzielen soll durch die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Kosten ökonomischen Wachstums in volkswirtschaftlichen Analysen (ehrliche Preise), Armutsbekämpfung und eine ökologische Wende in den Produktions- und Konsummustern westlicher Industrieländer erreicht werden. - Neoliberale Globalisierung: Der Verlust der Kontrollmacht von Staaten und sozialen Gruppen über die Produktion und Verteilung von Ressourcen soll aufgehalten werden. Gerade öffentliche Güter wie Wasser dürfen nicht privatisiert werden. Gendersensible Global-Governance-Prozesse gelte es zu unterstützen. DAWN kritisiert die "hyper-liberalen" und "hyper-maskulinen" Strukturen ökonomischer Globalisierung. Fragen nach den sozialen und ökologischen Kosten globalen Wirtschaftswachstums stünden in Johannesburg nicht mehr auf der Agenda. Sustainable livelihood bildet mit seiner Orientierung an sicheren Lebensgrundlagen i. S. des Vorsorgeprinzips ein Gegenkonzept zu global-universellen Entwicklungs- und Wirtschaftskonzepten. - Frieden, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit sind fundamentale Voraussetzungen von Nachhaltigkeit. Ökonomische, soziale und machtpolitische Ursachen von Gewalt und militärischen Konflikten sollen systematisch in die Friedens- und Konfliktforschung einbezogen werden. - Ein geschlechtergerechter Zugang zu und Kontrolle über natürliche und gesellschaftliche Ressourcen soll durch Empowermentprozesse und die normative Verankerung von Rechten in nationalen Verfassungen realisiert werden. - Gewährung reproduktiver und sexueller Rechte sowie Gesundheit im Rahmen einer intakten Umwelt sollen garantiert werden. Hierzu werden Monitoringstrategien und Politiken zum Schutz besonders der verletzlichsten Gruppen in Gesellschaften vorgeschlagen. - Genderbezogene Analysen (gender impact analysis) sollen zum integralen Bestandteil aller Entscheidungen und Gesetze werden. - Der Schutz der Biodiversität soll auf allen Politikebenen vorangetrieben werden, z. B. durch eine nachhaltige Landnutzung, die zum Erhalt des lokalen Wissens, kultureller und biologischer Vielfalt beiträgt und in ländlichen Gebieten nachhaltige Lebensbedingungen (sustainable living) ermöglicht. - Nahrungssicherheit beinhaltet Souveränität über die Entscheidung, welche Nahrung produziert, konsumiert und importiert werden soll. Die genetische Modifikation von Nahrungsmitteln und Patente auf Leben werden abgelehnt. - Ein geschlechtergerechter Zugang zu Bildung, Kommunikation und Informationstechnologien soll gewährleistet werden. Mit diesen Prioritäten werden nicht nur reaktiv Themen für das Mainstreaming der Regierungsagenda benannt, sondern eigene Problemfelder definiert. Insbesondere ökonomische Globalisierung, Debatten um Global Governance und die Regulierungskonzepte sozial-ökologischer Problemlagen sind bislang männlich dominiert. Diesen hegemonialen Diskurssträngen stellt die Frauenaktionsagenda genderorientierte Positionen gegenüber. Zugleich verbleibt sie grundsätzlich in verhandlungsfähigen Ansätzen, um in Johannesburg einen globalen Konsens mit einer möglichst durchgehenden Genderorientierung zu erreichen, damit sich die Regierungs-Agenda schrittweise zu einer A-Gender für Nachhaltigkeit entwickelt. 3. Perspektiven für eine gendersensible Nachhaltigkeit Nachhaltige Entwicklung gleicht in ihrer Polyvalenz eher einer beliebig füllbaren Leerformel, einem Containerbegriff oder Gummiwort. Diese konstitutive Offenheit lässt sich auch positiv interpretieren. Nachhaltigkeit erscheint dann als ein "historisch offenes gesellschaftliches Entwicklungs- und Transformationskonzept ..., das sich nicht auf evolutionäre Trends oder langfristige Kontinuitätsannahmen stützen kann, sondern allein auf die Handlungsmöglichkeiten und -ziele gesellschaftlicher Akteure und Akteursgruppen" . AkteurInnen unterschiedlichster Provenienz können somit Nachhaltigkeit, orientiert an ihren jeweiligen Interessenlagen, Menschen-, Natur-, Gesellschafts-, Politik- und Weltverständnissen, immer wieder neu ausbuchstabieren. Damit eröffnet nachhaltige Entwicklung ein kontrovers strukturiertes, hoch komplexes Diskurs- und Handlungsfeld, in dem sich in Bezug auf die Ausstattung mit Deutungs- und Handlungsmacht ein äußerst heterogenes AkteurInnenfeld abbildet. Welche Problemperspektiven und Lösungsansätze sich bei der Orientierung an einer prozeduralen Leitbildvariante letztendlich durchsetzen, entscheiden die mit entsprechender Deutungsmacht ausgestatteten AkteurInnen- und Diskurskoalitionen. Die Analyse von Interessenkonflikten und Machtasymmetrien ist daher unabdingbare Voraussetzung für gezielte politische Machtbildungsprozesse (empowerment) jeweils benachteiligter AkteurInnen. Nur unter den Bedingungen einer Gleichheit des Sprechens, Gehörtwerdens und Entscheidens in (Ver)handlungsprozessen nachhaltiger Entwicklung könnte es potenziell zu einem gleichberechtigten Wettbewerb der Ideen kommen. Hierzu reicht ein Gender Mainstreaming zur Transformation krisenhafter sozial-ökologischer Problemlagen nicht aus. DAWN legte vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen einen feministischen Ansatz von Global Governance auf der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking vor. Ihr Transformationsprojekt zielt auf die sukzessive "Restrukturierung des Marktes", "Reform des Staates" und "Machtbildung in der Zivilgesellschaft" . Diese Vision einer grundlegenden Transformation i. S. eines Abbaus (geschlechts)hiear-chischer Strukturen in Politik, Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft auf allen Politikebenen ist Voraussetzung für die Herausbildung einer geschlechtergerechten Nachhaltigkeit. Der weite Weg dorthin führt über eine Doppelstrategie: - Einerseits ist die Überwindung geschlechtsblinder Diskurse und Politiken über einen systemkonformen Integrationsansatz erforderlich. Das Ziel ist die gendersensible Reformierung hegemonialer Konzepte einer schwachen Nachhaltigkeit. - Ebenso notwendig ist die Formulierung herrschaftskritischer und weiter reichender Alternativkonzepte. Sie verfolgen das visionäre Fernziel der anti(geschlechts)hierarchischen Transformation einer starken zukunftsfähigen Entwicklung.   Internetverweise der Autorin: Externer Link: = offizielle UN-Seite Externer Link: = gemeinsame Seite von BMU & BMZ Externer Link: = Multistakeholder-Forum (Women' Caucus) Externer Link: = Seite der HBS Externer Link: = Portal des International Institute for Sustainable Development Externer Link: = DAWN Externer Link: = WEDO Vgl. Claudia von Braunmühl, Nachhaltigkeit, in: Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2001, S. 186 - 194, hier S. 186; Braunmühl betont, dass die Grenzen des Umweltraums politisch markiert werden und er auch noch in seiner Vernachlässigung Gegenstand politischer Entscheidungen ist. Der Begriff wurde in der sozial-ökologischen Forschung geprägt und kennzeichnet Umweltkrisen als Regulationskrisen, in denen sich ein problematisches Gesellschaft-Natur-Verhältnis niederschlägt. Vgl. Egon Becker/Thomas Jahn/Engelbert Schramm, Sozial-ökologische Forschung - Rahmenkonzept für einen neuen Förderschwerpunkt, Frankfurt/M. 1999, S. 2 Der Begriff wurde geprägt von Maurice Strong, erster Exekutivdirektor des UNEP. Vgl. zusammengefasst bei Hans Jürgen Harborth, Dauerhafte Entwicklung statt globale Selbstzerstörung. Eine Einführung in das Konzept des "Sustainable Development", Berlin 1991, S. 25. Gefordert wird die Befriedigung der Grundbedürfnisse, eine Abwendung vom westlichen Konsumstil, intergenerationale Solidarität, Ressourcen- und Umweltschonung, ein partizipativer Politikstil, self-reliance als "Vertrauen auf die eigene Kraft" und flankierende Erziehungsprogramme. Verfasser waren die Internationale Vereinigung für die Bewahrung der Natur und der natürlichen Ressourcen (IUCN). Aktuelle Trends in: Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2002. Zukunftsfähige Gestaltung der Globa"lisierung. Strategien für eine nachhaltige Klimapolitik, Frankfurt/M. 2002, und Ingomar Hauchler/Dirk Messner/Franz Nuscheler, Globale Trends 2002. Fakten, Analysen, Prognosen, Stiftung für Entwicklung und Frieden, Bonn 2001. Vgl. E. Becker u. a. (Anm. 3), S. 2. Volker Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der WCED, Greven 1987. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 52 ff. u. S. 92 ff. Eine "starke integrale Nachhaltigkeit" ist orientiert an sozialer Gerechtigkeit, einer grundlegenden Transformation etablierter Wohlstands- und Wirtschaftsmodelle, dem Erhalt des Umweltraums bzw. Naturkapitals in seiner jetzigen Gestalt und nicht an dessen weitgehender Ersetzung durch künstliches Kapital. Das waren Agenda 21, Rio-Deklaration, Klimarahmenkonvention, Walderklärung, Biodiversitätskonvention (ergänzt um das Protokoll über biologische Sicherheit, 2000), Wüstenkonvention ('94). Vgl. Bundesumweltministerium (BMU) (Hrsg.), Umweltpolitik. Konferenz der VN für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro. Dokumente, Agenda 21, Bonn o. J., Präambel. Vgl. Deutscher Bundestag, Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung", Drucksache 13/11200 vom 26. 6. 1998. Bundesregierung (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland. Unsere Strategien für eine nachhaltige Entwicklung, Berlin 2002, S. 1 (www.bmu.de/fset.800php). Vgl. Rosi Braidotti u. a., Women the Environment and Sustainable Development. Towards a Theoretical Synthesis, London 1995², S. 77 ff.; Christa Wichterich, Die Erde bemuttern. Frauen und Ökologie nach dem Erdgipfel in Rio. Berichte, Analysen, Dokumente, Köln 1992; Ester Boserup, Women"s role in Economic Development, New York 1970. E. Boserup, ebd. Der erhoffte trickle-down-Effekt des wirtschaftlichen Wachstums und der neuen Produktivität trat nicht ein. Im Gegenteil, die Verelendung der armen ländlichen und städtischen Bevölkerungen wuchs. Auf dem Forum '85 in Nairobi waren insgesamt 13 000 NGO-Teilnehmerinnen aus 150 Ländern akkreditiert, 60 Prozent von ihnen kamen aus den so genannten Entwicklungsländern. Gita Sen/Caren Grown, Development, Crisis and Alternative Visions. Third World Women"s Perspective, Stavanger 1985. Vgl. R. Braidotti u. a. (Anm. 18), S. 80 ff. Vgl. dies., S. 82. Dies., S. 86 f. Eine der ersten Untersuchungen zu diesem Forschungsfeld publizierten 1988 Irene Dankelmann und Joan Davidson, Women and the Environment in the Third World - Alliance for the Future, London 1988; 1989 legte eine Expertengruppe multilateraler Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit die ersten verbindlichen Guidelines für WED-Projekte vor. Vgl. Chr. Wichterich (Anm. 18). Vgl. Vandana Shiva, Das Geschlecht des Lebens, Berlin 1988; Maria Mies/Vandana Shiva, Ökofeminismus, Zürich 1995; Veronika Bennholdt-Thommsen/Maria Mies/Claudia von Werlhof, Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit, Zürich 19923. Vgl. Chandra T. Mohanty, Aus westlicher Sicht: Femi"nistische Theorie und koloniale Praxis, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, (1984) 23, S. 149 - 162; Bell Hooks, Ain't a woman: Black women and feminism, Boston 1982. Susanne Schröter, "Essentialismus" und "Konstruktivismus" in der feministischen Forschung, in: Peripherie, 20 (April 2000) 77/78, S. 9 - 27, hier S. 12. Vgl. etwa Judith Butler, Gender trouble. Feminism and Subversion of Identity, New York-London 1990 (Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Essay von Judith Butler in diesem Heft); Donna Haraway, Situated knowledges: The Science Question and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies der University of Maryland, 14 (1988) 3, S. 575 - 599. Vgl. Chr. Wichterich (Anm. 18), S. 15. Der WEDO-Kongress verlief parallel zur UNEP Vorbereitungskonferenz über Frauen & Umwelt in Miami. Chr. Wichterich (Anm. 18), S. 43. Peggy Antobus von DAWN, in: Chr. Wichterich (Anm. 18), S. 16. Vgl. Chr. Wichterich (Anm. 18), S. 16. Ebd., S. 23. Frei übersetzt: nachhaltige Lebensbedingungen, sichere Lebensverhältnisse bzw. -grundlagen. Vgl. Chr. Wichterich (Anm. 18 ), S. 37 ff. Konnex bezeichnet hier die Verknüpfung von Weltwirtschaft, ökologischer Krise und Frauenunterdrückung. Vgl. Bundesministerium für Umwelt (Anm. 15), Agenda 21, Teil III: Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen, Kap. 24: Globaler Aktionsplan für Frauen zur Erzielung einer N. E. Ebd. Vorausgegangen war ein langjähriges, zähes frauen- und genderpolitisches Lobbying. Noch im ersten Entwurf der offiziellen Agenda 21 war kein einziges Wort über Frauen enthalten. Vgl. Ewa Charkiewicz (DAWN Joint Coordinator on Sus"tainable Livelihoods), Towards the World Summit on Sus"tainable Development, Agenda 21: A viable Alternative to Hyper-Liberalisation, in: DAWN Informs, May 2002, S. 1 - 5, (www.dawn.org.fj). Die CSD begleitet die Umsetzung der Agenda 21. Formal ist sie eine Fachkommission des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen (ECOSOC), dieser untersteht der Generalversammlung. Die CSD ist institutionell schwach, kann keine Konventionen oder völkerrechtlich verbindliche Entscheidungen verabschieden und ist beim Monitoring auf die jährlichen nationalen Regierungsberichte angewiesen, die nur teilweise durch alternative NGO-Reports flankiert werden. Vgl. Thais Corral, Women's Agenda for a Healthy Planet. Zehn Jahre tatkräftiges Engagement, in: Politische Ökologie, 19 (Juni 2001) 70, S. XVIII - XIX, hier S. XIX. Vgl. Women's Caucus (Hrsg.), Women as Major Group, Document of the WC for the UNECE Ministerial Meeting for the World Summit on Sustainable Development, Genf, 24. September 2001. Women's Action Agenda for a Healthy Planet 2002, Preliminary Draft, 23. Oktober 2001. Vgl. E. Charkiewicz (Anm. 43). Die theoretische Fundierung der Analysen und Forderungen bleibt jedoch diffus. Es wird nicht näher dargelegt, auf welchen Gender- und Naturkonzepten sie basieren. Vgl. Andreas Missbach, Das Klima zwischen Nord und Süd. Eine regulationstheoretische Untersuchung des Nord-Süd-Konflikts in der Klimapolitik der Vereinten Nationen, Münster 1999. Vgl. Karin Wullenweber, Wortfang. Was die Sprache über Nachhaltigkeit verrät, in: Politische Ökologie, 17 (2000) 63/64, S. 23 - 24. Peter Wehling, Sustainable Development - eine Provokation für die Soziologie?, in: Karl-Werner Brand (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung an die Soziologie, Leverkusen 1997, S. 35-50, S. 35. Vgl. Karl-Werner Brand u. a., Bedingungen einer Politik für Nachhaltige Entwicklung, in: Sozial-ökologische Forschung. Ergebnisse der Sondierungsprojekte aus dem BMBF-Förderschwerpunkt, München 2002, S. 91 - 110, S. 92. Vgl. ders., Vision ohne Herzblut. Über die begrenzte Resonanzfähigkeit des Leitbilds Nachhaltigkeit, in: Politische Ökologie, 17 (2000) 63/64, S. 19-20, S. 20. Vgl. Christa Wichterich, Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit, Reinbeck b. Hamburg 1998, S. 239 f. (www.dawn.org.fj). Dies., S. 240.
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Thorn, Christiane
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26772/nachhaltigkeit-hat-k-ein-geschlecht/
Wie steht es um die Perspektiven einer gendersensiblen zukunftsfähigen Entwicklung? Die Voraussetzung könnte in einer grundlegenden Transformation vieler Bereiche liegen.
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M 01.07 Vergleichsdaten der Bertelsmann Stiftung | Partizipation vor Ort | bpb.de
Vergleichsdaten der Bertelsmann Stiftung (© Team FmG) Im Folgenden findet ihr die Ergebnisse einer Umfrage zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in ihrem Wohnort oder der näheren Umgebung aus der Jugendpartizipationsstudie der Bertelsmann Stiftung. Mit diesen Daten könnt ihr nun eure eigenen Ergebnisse vergleichen. Aufgaben: Schaut euch in der Gruppe die Ergebnisse aus eurer eigenen Umfrage für den entsprechenden Auswertungsaspekt eurer Gruppe nochmals genau an. Vergleicht eure Ergebnisse nun mit der entsprechenden Grafik der Vergleichsdaten. Wo gibt es Unterschiede? Wo fallen die Ergebnisse ähnlich aus? Diskutiert in eurer Gruppe euren Befund. Die Diagramme mit den Vergleichsdaten können als PDF Interner Link: hier heruntergeladen werden. Vergleichsdaten der Bertelsmann Stiftung (© Team FmG)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-08-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/142533/m-01-07-vergleichsdaten-der-bertelsmann-stiftung/
Vergleichsdaten einer Studie zum gleichen Thema ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern, die Ergebnisse der eigenen Befragung besser einzuordnen.
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Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de
"Wie ich mir die Zukunft vorstelle, weiß ich nicht, aber wenn’s noch weiter mit diesen Brandanschlägen geht, möchte ich keine Zukunft. Ich habe keine Lust, mal selber in diesen Flammen zu stecken." Nuray, 1993 1993, nach dem Brandanschlag in ihrer Stadt, der fünf jungen Frauen und Mädchen der Familie Genç das Leben gekostetet hatte, wurde die 14-jährige Solingerin Nuray zu ihrer Zukunft befragt. Zunächst antwortete sie ganz altersgemäß: Sie gehe gerne zur Schule, habe eine deutsche Freundin und nette Nachbarn. Aber auch wenn Deutschland ihre Heimat sei: Eine Zukunft hier könne sie sich schwer vorstellen, sie fühle sich in der Türkei, dem Heimatland ihrer Eltern, "sicherer". Ihre Angst brachte sie auf eine erschreckend lakonische und dabei jugendliche Weise zum Ausdruck: Sie habe "keine Lust, mal selber in diesen Flammen zu stecken". Ob man es, so wie Nuray, formulieren konnte, oder ob man es für sich behielt und schwieg: Es war blanke Todesangst, die unter Menschen mit Migrationsgeschichte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre umging, als die rassistische Gewalt in der Bundesrepublik wie nie zuvor eskalierte. Sie gründete auf dem Wissen, was möglich war und passieren konnte. Ikonische Bilder der ausgebrannten Häuser in Mölln und Solingen, die im November 1992 und im Mai 1993 Deutschland erschütterten, prägten sich vor allem den türkeistämmigen Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik unauslöschlich ein, begleitet von Ängsten um die eigene Familie und um sich selbst. Ferda Ataman, seit Juli 2022 Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, erinnert sich in einem Radiofeature: "Ich weiß noch, dass meine Mutter damals viel Nachrichten schaute, weinte und sagte: 'Bizi yakıyorlar', 'Sie verbrennen uns'." Der Mord an den Familien Arslan und Genç enthielt eine bedrohliche Botschaft: Es konnte alle treffen, die als "Ausländer" angesehen wurden, auch Kinder. Das Wissen darum, dass es "Menschen gab, die sie tot sehen wollten", wie es Fatma Aydemir in ihrem Roman "Dschinns" eine weibliche Hauptfigur sagen lässt, war danach ein steter Begleiter. So mischten sich die Bilder von Mölln und Solingen mit Rassismuserfahrungen im Alltag. Beides fügte sich zum Wissen um die Kontinuitäten rassistischer Gewalt zusammen – eine Erkenntnis, die sich nicht-betroffene Angehörige der Gesellschaft offenbar erst mühsam kognitiv und immer wieder aufs Neue erarbeiten müssen. Bei dem von vier rechtsradikalen Tätern verübten Mordanschlag in Solingen kamen in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 fünf Mädchen und junge Frauen ums Leben. Die 28-jährige Gürsün İnce starb nach dem Sprung aus dem Dachgeschossfenster des Einfamilienhauses in der Unteren Wernerstraße 81. Vier Menschen verbrannten im Haus: die 18-jährige Hatice Genç, die neunjährige Hülya Genç, ihre vierjährige Schwester Saime sowie die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, die aus der Türkei zu Besuch war. Anlass für den Besuch war das einen Tag später anstehende Opferfest gewesen. Die Mädchen hatten neue Kleider bekommen, die zusammen mit kleinen Geschenken neben ihren Betten lagen, Saime dazu noch einen Kindergartenplatz, über den sie so glücklich war, dass sie den Brief immer wieder ihrer Großmutter zeigte – Mevlüde Genç hat danach in Interviews von diesem letzten Tag erzählt. Ihre Erzählungen machen deutlich, dass und wie der Mordanschlag das Leben einer Familie von jetzt auf gleich zerstörte. Wie gingen die Überlebenden und die potenziellen Opfer rassistischer Gewalt mit der Angst um? In welchem gesellschaftlichen Klima ereigneten sich die Mordanschläge, welche historischen Ursachen lassen sich identifizieren? Ich möchte hier die These vertreten, dass die Gewaltform des Brandanschlags auf die Wohnhäuser türkeistämmiger Familien eine historische Genese hat, die in die alte Bundesrepublik zurückführt. Seit den 1970er, vor allem aber in den 1980er Jahren entwickelte sich hier das, was zeitgenössisch als "Türkenhass" oder "Türkenfeindlichkeit" bezeichnet wurde, zu einem eigenen Kosmos. Wer in ihm lebte, den begleitete die Angst vor Diskriminierung, aber auch vor Gewalt und Abschiebung, verlässlich durch den Alltag. Die bundesdeutschen 1980er Jahre lassen sich als Pendant zu den "Baseballschlägerjahren" ein Jahrzehnt später verstehen; zugleich unterscheidet sie ihr Gepräge von dieser Zeit. In diesen Jahren entstand ein Einwanderungsrassismus, der nicht nur in seinen politischen und gesellschaftlichen, sondern auch in seinen begrifflichen Kontexten verstanden werden muss. Er wird hier zuerst skizziert. Danach wird am Beispiel des Wohnens, das ich als Kreuzungspunkt des Einwanderungsrassismus begreife, gezeigt, wie struktureller Rassismus und Rassismus im Alltag einander verstärkten. Einwanderungsrassismus in der Bundesrepublik Fragen nach den Erfahrungen und Umgangsweisen mit rassistischer Gewalt sind zeithistorisch wenig untersucht. Entweder werden die Brandanschläge 1992 und 1993, so suggeriert es die stereotype Reihung der Ortsnamen Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, als Folgeereignisse der Gewaltwelle in Ostdeutschland verstanden. Oder sie werden in einer von der zeitlichen Nähe der Ereignisse nahegelegten kausalen Logik mit dem "Asylkompromiss" in Verbindung gebracht, der am 26. Mai 1993, drei Tage vor dem Anschlag in Solingen, vom Bundestag verabschiedet wurde. Tatsächlich lassen sich die Brandanschläge auf von Familien türkischer Herkunft bewohnte Häuser nicht jenseits der rassistischen Konstellation verstehen, die sich mit Mauerfall und Vereinigung entwickelte und in der "Vereinigungskrise" auswuchs – als eine Kombination aus, wie der Historiker Patrice Poutrus pointiert, "politischer Mobilisierung, Kampagnenjournalismus und rassistischer Gewalt". Die dadurch erzeugte Dynamik mobilisierte potenzielle Gewalttäter*innen, während sich für die potenziellen Opfer die Angst, im Alltag rassistische Gewalt zu erleben, zu einer Möglichkeit mit immer größerer Wahrscheinlichkeit verdichtete. Gleichzeitig wohnt diesen Erklärungen, mag die Folge der Ereignisse sie auch plausibilisieren, eine dreifache Gefahr inne: Erstens dienen sie als bequemes Argument, um die Ursachen rassistischer Gewalt vom "reinen Westen" auf den "braunen Osten" abzuschieben und sich damit der Notwendigkeit zu entziehen, die westdeutsche Parallelgeschichte in ihrer Spezifik und Genese zu untersuchen. Zweitens verknüpfen sie lokale Gewaltereignisse und bundespolitische Entscheidungen in zwar plausibler, aber auch suggestiver Weise, denn gründlich gearbeitete empirische Forschungen zur Asylpolitik nach der Vereinigung liegen bislang nicht vor; es fehlt uns an quellenbasiertem Wissen. Daneben verstellt die These den Blick auf mittel- und längerfristige Kontinuitäten, die in die Geschichte der Bundesrepublik zurückreichen. Drittens geraten die lokalen Kontexte und individuellen Erfahrungen zu oft aus dem Blick. Um die Allgegenwart rassistischer Diskriminierung verstehen zu können, muss der Kosmos individueller Erfahrungen und Reaktionsweisen viel systematischer ausgeleuchtet werden – auch um aus den oft passivierten Opfern handelnde Akteur*innen zu machen. Rassistischer Begriffskosmos Wenn Menschen türkischer Herkunft von den 1980er Jahren erzählen, wie Fatma Aydemir oder Ferda Ataman, dann wird deutlich, dass antitürkischer Rassismus zu dieser Zeit auf allen Ebenen der Gesellschaft grassierte. Ataman spürte damals "an vielen Stellen", dass sie "Ausländerin" sei. Aus der Optik des damaligen Kindes – Ataman wurde 1979 geboren – ließ sich die Diskriminierung vor allem am Verhalten ihrer Lehrer*innen ablesen. So sollte sie in eine, wie es damals hieß, "Ausländerklasse" eingeschult werden, wogegen ihre Eltern erfolgreich protestierten, und erhielt später keine Gymnasialempfehlung. Solche Entscheidungen gegen die Förderung begabter Kinder beruhten auf der politisch induzierten und gesellschaftlich geläufigen Vorstellung, dass die "Gastarbeiter"-Familien ohnehin in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden und dass deren Kinder darum keine deutsche Schulbildung nötig hätten. Dieser Kosmos eines im Alltag stets präsenten Rassismus stellte sich für Kinder und Jugendliche wie Nuray oder Ferda Ataman anders dar als für ältere Personen, anders für Männer als für Frauen und je unterschiedlich auch für verschiedene soziale Schichten und Milieus. In ihm lebten zudem nicht nur die Angehörigen jener in sich diversen Gruppe, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, sondern alle, die als "türkisch" – und das meinte damals: fundamental "fremd" – angesehen wurden. Das Wort "Türke" bedeutete mehr als die Herkunft aus der Türkei; es avancierte zum konstruktiven Synonym für den "Fremden" an sich, eine kaum überbrückbare Nicht-Dazugehörigkeit und grundlegende Distanz. Aus diesem Grund muss den Begriffen, die damals geprägt wurden und kursierten, mit aller semantischen Vorsicht begegnet werden; mit einer Sprachsensibilität, die keiner abstrakten Political Correctness gehorcht, sondern sich dem Nachdenken darüber verdankt, dass diese Begriffe historische Konnotationen transportieren, die reaktiviert werden, wenn man die Wörter verwendet. Auch der in den 1980er Jahren gebräuchliche, vom Migrations- und Rassismusforscher Mark Terkessidis kritisch reflektierte Begriff "Fremdenfeindlichkeit" wurde schon zeitgenössisch als "Türkenfeindlichkeit" übersetzt. Nach dem Brandanschlag in Solingen argumentierte der damalige Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Faruk Şen, dass die "Fremdenfeindlichkeit" im Grunde eine "Türkenfeindlichkeit" sei, "weil sich die Aggressionen in erster Linie gegen Andersaussehende richten". Selbst die auf Wände geschmierten rassistischen Parolen waren austauschbar: "Ausländer raus" oder "Türken raus". "Wenn Sie jemanden nach dem Spruch 'Ausländer raus' fragen, fallen ihm immer gleich die Türken ein", pointierte ein Solinger mit türkischer Migrationsgeschichte. Rassistische Zuzugsbeschränkungs- und Rückführungspolitik Dieser wirkmächtige Begriffskosmos entwickelte sich parallel zur Einwanderung aus der Türkei und reagierte auf das, was der Historiker Marcel Berlinghoff treffend als "Entdeckung der Einwanderung" bezeichnet hat. Zunächst war "Gastarbeit" als ein befristeter Arbeitsaufenthalt verstanden worden, dessen Dauer sich nach seinem ökonomischen Nutzwert bemaß, in Zeiten der Krise also disponibel war. Parallel zu und zugleich unabhängig von den ersten Rezessionen der Nachkriegszeit, zwischen Mitte der 1960er Jahre und der Ölpreiskrise 1973, wurde deutlich, dass die Arbeitsmigrant*innen nicht nur in Deutschland arbeiteten, sondern dort auch lebten, ihre Familien nachzogen und Freundeskreise aufbauten, sich gewerkschaftlich organisierten oder in Sportvereine eintraten. Der im November 1973 verhängte "Anwerbestopp" war primär eine Antwort auf diese "Entdeckung der Einwanderung" und reagierte nur sekundär auf die ökonomische Krise. Bekanntlich stieg die Zahl von Migrant*innen aus der Türkei dennoch: nicht nur wegen des Familiennachzugs, sondern auch, weil nach dem Militärputsch 1980 türkische Flüchtlinge Asyl beantragten. Die Jahre um 1980 lassen sich als Zäsur in der Rassismusgeschichte der Bundesrepublik verstehen, in der mit teilweise drastischen Formen einer Zuzugsbeschränkungs-, Rückführungs- oder gar Ausweisungspolitik experimentiert wurde. Dabei unterschied sich die Haltung der beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU nur graduell, Kontinuitäten in der "Ausländerpolitik" zwischen den Regierungen Schmidt und Kohl überwogen – aus dieser Perspektive ist die Zustimmung der SPD zum "Asylkompromiss" 1993 weniger erstaunlich. Die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt hatte in der Bundesrepublik, analog zu anderen europäischen Staaten, nicht nur den Anwerbestopp verhängt, sondern in einem Kabinettsbeschluss vom November 1981 auch bekräftigt, dass die Bundesrepublik "kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll". Reform- und Gegenstimmen, wie die des Liberalen Gerhart Baum, der zu Protokoll gab, die Bundesrepublik sei "de facto ein Einwanderungsland", oder des ersten "Ausländerbeauftragten", Heinz Kühn (SPD), konnten sich nicht durchsetzen. Stattdessen wurden die Ansätze zu einer ihrerseits zu problematisierenden "Integrationspolitik" und Vorschläge einer Einbindung durch Partizipation von einer forcierten Zuzugsbeschränkungs- wie Rückführungspolitik verdrängt. Diese operierte auf mehreren Ebenen und müsste noch genauer bis in ihre lokalen bürokratischen Details hinein verfolgt werden. Ein Kerninstrument der Zuzugsbeschränkung war der Familiennachzug: Noch unter Schmidt wurde das erlaubte Nachzugsalter auf 16 Jahre gesenkt, bald darauf folgten heftige Diskussionen über eine Altersbegrenzung auf sechs Jahre. Parallel wurde weit vor dem "Asylkompromiss" der Zugang über das Grundrecht auf Asyl etappenweise eingeschränkt, gerade mit Blick auf die nach dem Putsch 1980 aus der Türkei kommenden Flüchtlinge, die – mit diesem Begriff – als "unechte" Flüchtlinge markiert wurden. Restriktive Asyl- und "Ausländer"-Politik entwickelten sich ab den 1980er Jahren in engem Zusammenhang. Daneben wurde mit rabiaten Formen einer Rückführungs- oder gar Ausweisungspolitik experimentiert. Ausländerbehörden setzten diese gelegentlich willkürlich ins Werk, wie die Ausländerbehörde Gelsenkirchen, die – politisch nicht gedeckt – anordnete, Ausländer über 18 Jahren, die nicht in einem Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis stünden, seien auszuweisen. Der rechtskonservative Innensenator Heinrich Lummer (CDU) unterzeichnete in der Folge einen ähnlichen Erlass für Westberlin. Schon Mitte der 1970er Jahre war dort eine Zuzugssperre für die Bezirke Kreuzberg, Neukölln und Tiergarten verhängt worden – für Bezirke mithin, die sich zu Zentren der türkeistämmigen Community entwickelt hatten und medial als "Gettos" und "Parallelgesellschaft" stigmatisiert wurden. Von diesem politisch beförderten Klima profitierten die Republikaner, die 1989 mit 7,5 Prozent der Stimmen ins Westberliner Abgeordnetenhaus einzogen, ebenso wie die "Bürgerinitiativen Ausländerstopp", die in vielen Städten regen Anhang fanden und als westdeutsche Frühform populistischen Protests à la Pegida eingeordnet werden können. Zentral war schließlich das unter der Regierung Schmidt vorbereitete und unter Kohl 1983 ausgearbeitete "Gesetz zur Förderung der Rückkehrwilligkeit von Ausländern", das die Entscheidung zur Rückwanderung ins Herkunftsland mit Prämienzahlungen belohnte. 10500 D-Mark plus 1500 D-Mark pro Kind erhielt eine Familie, wenn sie die Bundesrepublik verließ; die Communities titulierten das sarkastisch als "Hau-ab-Prämie". Die Zahl derjenigen, die zurückkehrten, war angesichts der Lage in der Türkei gering. Dennoch forcierte die in Betrieben und Nachbarschaften spürbare Rückreisewelle den Rassismus bei all denjenigen, die dafür zugänglich waren. Während die Rückführung bei Mannesmann in Duisburg auf Hochtouren lief – insgesamt 1000 Arbeiter*innen entschieden sich dort für Abfindung und Rückkehr –, brannte im Stadtteil Wanheimerort 1984 ein von türkeistämmigen Familien bewohntes Haus, in dessen Flur das Gepäck für die Rückreise einer Nachbarsfamilie zwischengelagert stand. Gelegt hatte das Feuer offenbar eine pathologische Pyromanin mit rassistischen Affekten; sie gestand die Brandstiftung zehn Jahre später, als sie in einer Flüchtlingsunterkunft erneut Feuer legte. Wohnen als Kreuzungspunkt des Einwanderungsrassismus Brandanschläge auf Häuser wie in Duisburg oder 1988 im bayerischen Schwandorf waren die drastischste Form des Einwanderungsrassismus. Häufiger wurde den Arbeitsmigrant*innen das Recht auf und der Zugang zu Wohnraum bestritten. So unscheinbar das Thema zunächst wirken mag: Für Menschen mit Migrationsgeschichte war – und ist – Wohnen nichts Selbstverständliches. Wohnen lässt sich darum als ein Kreuzungspunkt einwanderungsfeindlicher Politik wie rassistischer Praxis verstehen; als Kern eines Einwanderungsrassismus, der zugleich von oben wie von unten wirkte, durch bundespolitische Entscheidungen wie durch kommunale Bürokratien und lokale Vermieter*innen. Auch Nachbar*innen, die die Zugezogenen im besten Fall ignorierten, oft drangsalierten und im schlimmsten Fall vertrieben, konnten Zugezogenen mit Migrationsgeschichte das Bleiben verleiden. Die Historikerin Maria Alexopoulou hat auf die Bedeutung des Wohnens für die Migrations- und Rassismusgeschichte hingewiesen; der Wohnungsmarkt, schreibt sie, "blieb ein Feld, auf dem im Kleinen, aber flächendeckend konkrete Anti-Einwanderungspolitik betrieben wurde". Diese sollte rückgängig machen, was die Häuser und die Familien, die sie bewohnten, symbolisierten: Niederlassung auf Dauer. Sowohl Aufenthaltstitel als auch Familiennachzug waren an den Nachweis von ausreichendem Wohnraum gekoppelt; um 1980 wurde die nötige Quadratmeterzahl in einigen Bundesländern von acht auf zwölf Quadratmeter erhöht. Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörden nutzten ihren Ermessensspielraum nicht selten für eine restriktive Behandlung der Anträge, auch die Wohnraumvermittlung war zum Teil offen rassistisch, etwa wenn am Schwarzen Brett des Mannheimer Wohnungsamtes über den Mietangeboten das Schild "Keine Ausländer" prangte. Spuren lokaler Wohnverhinderungspraktiken lassen sich bis in die Nachbarschaften hinein verfolgen, so auch für die Straße in Solingen, wo die Familie Genç ein Haus gekauft hatte. Einer der Täter lebte ganz in der Nähe. Schon vor dem Brandanschlag waren die wenigen türkeistämmigen Familien in der Straße belästigt worden, wie Metin Gür und Alaverdi Turhan in "Die Solingen-Akte" berichten. Für das 1996 erschienene Buch führten sie Interviews in der Nachbarschaft, unter anderem mit Mehmet Abak, der sich zusammen mit seinem Bruder ein Haus gekauft hatte und nach dem Anschlag seine Kinder zur Sicherheit zurück in die Türkei schickte, denn "meine Kinder, die dürfen mir nicht verbrennen". Nicht nur seien haltlose Beschwerden über Lärmbelästigung vonseiten der "Türken" erhoben worden, es wurden, gewissermaßen gegenläufig, nachts auch "Flaschen gegen die Fenster geworfen". Schon damals hätten die Männer begonnen, abwechselnd Wache zu schieben; die Gefahr – das, was passieren könnte und würde – war vielen bewusst. Der Mann der beim Anschlag gestorbenen Gürsün İnce, Achmet İnce, erinnert sich in einem Interview daran, nach Mölln gesagt zu haben, es werde wieder passieren, "und dann erlebt unsere Familie es selbst". Schluss Das Wissen um Wiederholung und die endlose Geschichte rassistischer Gewalt ist Menschen mit Migrationsgeschichte stets präsent. Sich eingehend mit der Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Rassismus zu beschäftigen, geht darum nicht in dem normativen Anspruch auf, "den Opfern eine Stimme zu geben". Weit darüber hinaus hat deren Perspektive ein epistemologisches Potenzial: Es generiert historisches Wissen. Familienerzählungen führen in die 1980er Jahre zurück, als sich der "Türkenhass" zu einem Kosmos auswuchs, dessen Grenzen sich immer weiter verschoben und in dem Menschen mit Migrationsgeschichte auf allen Ebenen mit Rassismus konfrontiert werden konnten. Diese intime Kenntnis war ein Grund dafür, dass Angehörige der NSU-Opfer schon 2006 – fünf Jahre, bevor die Täter sich selbst entlarvten – bei Demonstrationen an den Tatorten Dortmund und Kassel auf Rassismus als Motiv für die Morde hinwiesen, ohne dass dieses Wissen ermittlungstechnisch relevant geworden wäre. Aus den Erfahrungen der Betroffenen lässt sich also viel lernen über die historischen Ursachen rassistischer Gewalt; eine zeithistorische Rassismusforschung muss auf ihnen basieren. Wer diese Perspektive konsequent aufnimmt, lernt nicht nur etwas über die Ursachen, sondern auch über die Auswirkungen auf Dauer gestellter Rassismuserfahrungen. Nach den Brandanschlägen etablierten sich variantenreiche Formen der Selbstverteidigung und des Schutzes der eigenen Familie. Das Solinger Stadtgedächtnis dagegen bewahrt vor allem die "Ausschreitungen" gewaltbereiter türkeistämmiger wie linker, autonomer Demonstranten in den Tagen nach dem Brandanschlag auf, die überregional weitgehend vergessen sind. Diese von rechtsradikalen Kräften wie den "Grauen Wölfen" instrumentalisierte Gegengewalt stand für das "Ende der Geduld". In der stadtgesellschaftlichen Wahrnehmung führten die "Ausschreitungen" zu einer Opfer-Täter-Umkehr. Viel weniger präsent sind – neben solidarischem Engagement und antirassistischen Initiativen in der Stadt, die ein eigenes Thema darstellen – die alltäglichen Umgangsweisen mit der Angst nach den Anschlägen. Der Verkauf von Brandmeldern und Strickleitern stieg, Familien schickten ihre Kinder aus der Stadt zu Verwandten, dachten über eine Rückkehr in die Türkei nach oder verließen das Land tatsächlich. Sie legten ihre Kinder nachts angezogen schlafen, ließen sie nur noch ungern vor die Tür und begegneten "dem kollektiven Schutzgedanken des Staates" mit wachsendem Misstrauen. Manche besorgten sich Waffen und verteidigten sich gegen lokale Skinhead-Gruppen. Im Feld der literarischen Imagination lassen sich, wie in Fatma Aydemirs verstörendem, grandiosem Roman "Ellbogen", auch Rachefantasien finden. Das Spektrum dieser Schutzvorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen, Verteidigungsweisen und Gewaltgedanken ist breit – und bisher wenig untersucht. Die anstehenden 30. Jahrestage könnten einen Anlass bieten, diese Erfahrungs- und Handlungsräume genauer auszuleuchten und in das "Doing Memory" an rassistische Gewalt zu integrieren. Lernen lässt sich auf diese Weise sowohl etwas über die historischen Ursachen und langen Kontinuitätslinien rassistischer Gewalt als auch darüber, wie weit die politischen und gesellschaftlichen Räume waren, in denen Rassismus sich ausbreiten konnte, und wie nötig alle Versuche waren und bleiben, sie zu verkleinern. In Gedenken an Mevlüde Genç (1943–2022). Zit. nach Johannes Motz, Szenen aus dem deutsch-türkischen Alltag in Solingen, in: Manfred Krause/Solinger Geschichtswerkstatt e.V. (Hrsg.), Eine Stadt und ihre ausländischen BewohnerInnen. Geschichte und jüngste Vergangenheit, Solingen 1994, S. 196–200, hier S. 198. Zit. nach Ferda Ataman/Johannes Nichelmann, "Gastarbeiter"-Kultur. 60 Jahre Migration aus der Türkei, Feature, WDR 2021, Externer Link: http://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-kulturfeature/audio-gastarbeiter---kultur--jahre-migration-aus-der-tuerkei-100.html, Min. 22:32–22:41. Fatma Aydemir, Dschinns, München 2022, S. 133. Vgl. dazu den Beitrag von Christian Bangel in diesem Heft. Das kritisiert auch Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Stuttgart 2020, S. 215. Patrice Poutrus, Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin 2019, S. 171. Für den Begriff Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Frankfurt/M. 1995. Vgl. Teresa Koloma Beck, "I’m a victor, not a victim!". Verweigerung und Selbstbehauptung in Opfererzählungen, in: Mittelweg 2/2021, S. 84–104. Vgl. speziell für die Perspektive der zweiten Generation auf den Mordanschlag Birgül Demirtaş, Der Brandanschlag in Solingen und seine Wahrnehmung durch die zweite Generation von türkeistämmigen Migranten, Bachelor-Thesis, Hochschule Düsseldorf 2016, Externer Link: https://landesintegrationsrat.nrw/wp-content/uploads/2016/06/Landesintegrationsrat_Demirtas_Solingen_Internet.pdf. "Ich bin längst nicht so woke, wie manche denken." Interview mit Ferda Ataman, 20.7.2022, Externer Link: http://www.zeit.de/2022/30/ferda-ataman-antidiskriminierungsbeauftragte-migration. Vgl. Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004, S. 44–71. Weder Heimat noch Freunde. Interview mit Faruk Şen, in: Der Spiegel 23/1993, S. 16–29, hier S. 17. Vgl. Philipp Ther, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Frankfurt/M. 2018, S. 326. Zit. nach Metin Gür/Alaverdi Turhan, Die Solingen-Akte, Düsseldorf 1996, S. 20. Vgl. Marcel Berlinghoff, Das Ende der "Gastarbeit". Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013, S. 17. Protokoll der Kabinettssitzung vom 11.11.1981, Tagesordnungspunkt 4: Ausländerpolitik, Externer Link: http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1981k/kap1_1/kap2_48/para3_4.html. Vgl. ebd. sowie das wegweisende Memorandum von Heinz Kühn, Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1979, in dem eine erleichterte Staatsbürgerschaft ebenso vorgeschlagen wurde wie das kommunale Wahlrecht. Für die Bundesebene wurde das bereits getan von Karin Hunn, "Nächstes Jahr kehren wir zurück …" Die Geschichte der türkischen "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik, Göttingen 2005. Vgl. ebd., S. 459–477. Im Juni 1980 wurde das "Sofortprogramm zur Begrenzung der Einreise 'unechter' Asylbewerber" verkündet. Vgl. Hunn (Anm. 17), S. 463f. Vgl. Stefan Zeppenfeld, Vom Gast zum Gastwirt. Türkische Arbeitswelten in West-Berlin, Göttingen 2021, S. 60, der hingegen argumentiert, dass das an der Mauer gelegene Kreuzberg durch den Zuzug, die Eröffnung von Geschäften und die intensivierte Gewerbetätigkeit wieder belebt worden sei. Die Zahlen nach Evrim Efsun Kızılay, Hoch die internationale Solidarität? Migrantische Organisierung und die Rolle der Gewerkschaften, in: Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, S. 67–97, hier S. 79. Zum Duisburger Brandanschlag vgl. Ceren Türkmen, Migration und Rassismus in der Bonner Republik. Der Brandanschlag in Duisburg 1984, in: ebd., S. 99–131, hier S. 113. Alexopoulou (Anm. 5), S. 141. Als lokales Beispiel vgl. ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. auch für die folgenden Zitate Gür/Turhan (Anm. 13), S. 17ff. Alle sind noch da, nur die Toten nicht. 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen, WDR 2013, Min. 20:00–20:30. Claus Leggewie/Zafer Şenocak (Hrsg.), Deutsche Türken. Das Ende der Geduld/Türk Almanlar. Sabrın sonu, Reinbek 1993, S. 17–36. Diese Fokusverschiebung lässt sich auch an der lokalen Presse ablesen, die über die "Krawalle" ausführlicher berichtete als über den Anschlag. Vgl. die zeitgenössische Kritik von Jörg Meyerhoff, Der Fall Solingen, in: Sage & Schreibe 5/1993, 10ff. Kemal Bozay, Die Wunden liegen tief. "Unser" Solingen 1993, in: ders. et al. (Hrsg.), Damit wir atmen können. Migrantische Stimmen zu Rassismus, rassistischer Gewalt und Gegenwehr, Köln 2021, S. 60–71, hier S. 62. Zum "Doing Memory" vgl. Fabian Virchow/Tanja Thomas, Doing Memory an rechte Gewalt in Medienkulturen. Grundzüge eines interdisziplinären Forschungsprogramms, in: Matthias N. Lorenz/dies. (Hrsg.), Rechte Gewalt erzählen. Doing Memory in Literatur, Theater und Film, Berlin 2022, S. 29–51, sowie den Podcast "Doing Memory".
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Maubach, Franka
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-11-29T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/rechte-gewalt-in-den-1990er-jahren-2022/515773/moelln-solingen-und-die-lange-geschichte-des-rassismus-in-der-bundesrepublik/
Die Gewaltform des Brandanschlags auf die Wohnhäuser türkeistämmiger Familien hat eine historische Genese, die in die alte Bundesrepublik zurückführt.
[ "rechte Gewalt", "1990er Jahre", "1980er Jahre", "Baseballschlägerjahre", "Rechtsextremismus", "Hoyerswerda", "Rostock-Lichtenhagen", "Mölln", "Solingen", "NSU", "Rassismus", "Fremdenfeindlichkeit", "Türkenhass", "Wohnen", "Westdeutschland" ]
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Keynote „#Demokratie – Was kann, darf, muss politische Bildung für Erwachsene?“ (Siegburg, 12. Dezember 2017) | Presse | bpb.de
Politische Bildung als Teil des Bildungssystems muss stets auf gesellschaftlichen Wandel reagieren, sich hinterfragen, anpassen und weiterentwickeln, um mit ihrer Arbeit den Anforderungen und ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Der Erziehungswissenschaftler Peter Faulstich formulierte es einst so: „Wenn Bildung nicht verkommen soll zu einer abstrakten und wirkungslosen Idee […] muss sie bezogen werden auf den konkreten historischen Kontext, die gegenwärtige Situation und zukünftige Perspektiven.“[1] Wir können gegenwärtig eine Ausbreitung des Antipluralismus mit rechtspopulistischer Grundierung beobachten, der wir uns in der politischen Bildung entgegenstellen müssen. Der Trend hin zu Autoritarismus, Antipluralismus und Rechtspopulismus ist nicht neu – er wird seit Jahren, unter anderem in der Forschung, konstatiert. Beispielhaft herausgreifen lässt sich eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die im August 2017 erschienen ist.[2] Die Studie versuchte Erklärungen dafür zu finden, warum Menschen eine Affinität zu Rechtspopulismus zeigen. Lassen Sie mich einige wesentliche Ergebnisse kurz benennen: Die subjektive Wahrnehmung von Bürgerinnen und Bürgern, die anfällig für Rechtspopulismus sind, ist geprägt durch persönliche Zurücksetzung: Sie ordnen sich unabhängig von ihrem realen Einkommen in der Gesellschaft niedrig ein und erlebten im Vergleich zu den Eltern einen sozialen Abstieg. Gleichzeitig empfinden sie einen dreifachen Kontrollverlust: a) In persönlicher Hinsicht – mit Blick auf den technologischen Wandel, u.a. am Arbeitsplatz, der einen empfundenen Kontrollverlust, etwa durch digitalisierungsgetriebene Überwachung, auslöst; b) in politischer Hinsicht – Politik und Institutionen werden als abgehoben empfunden und enttäuschen das Bedürfnis, gehört zu werden; c) in nationalstaatlicher Hinsicht – der Staat käme seiner Aufgabe nicht ausreichend nach, die eigene Bevölkerung zu schützen, wie z.B. bei der Aufnahme von Geflüchteten. Kurzum: Menschen, die Rechtspopulismus in Erwägung ziehen, fühlen sich vor möglichen Krisen in der Zukunft nicht ausreichend geschützt. Sie misstrauen Institutionen und repräsentativen Verfahren stark und befürworten stattdessen direktdemokratische Verfahren. Der Abbau staatlicher Versorgungsstrukturen, insbesondere im ländlichen Raum, die Verlagerung nationalstaatlicher Handlungskompetenzen auf supranationale Ebenen und die Teilprivatisierung und Ökonomisierung von Lebensbereichen wie Gesundheit, Rente oder Bildung, verstärken dabei das Gefühl, über das eigene Leben werde fernab der eigenen Lebenswelt – „irgendwo da draußen“, wie es in der Studie heißt – bestimmt. Der Sozialstaat, der dafür sorgt, dass sich Menschen trotz sozial ungleicher Ausgangslage auf Augenhöhe begegnen können, sei heute nicht mehr in der Lage, dieses Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Um es mit dem Leiter des Meinungsressorts der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, zu sagen: „Demokratie funktioniert nicht gut, wenn die Staaten die Menschen nicht vor einem wild gewordenen Kapitalismus schützen können.“[3] Erschwerend kommt hinzu, dass die Verhandlung von Fragen der sozialen Mobilität aktuell auf Feldern geführt wird, die aufhorchen lassen müssen: ein ethnohomogener Solidaritäts- und Einheitsdiskurs bricht sich Bahn. Rote Linien ziehen Diese Entwicklungen zwingen nicht nur Politik und Medien zum Überdenken ihrer althergebrachten Instrumentarien und Grundannahmen, sondern auch die Profession der politischen Bildung. Ist angesichts der Ideologisierung durch neurechte Akteure das Kontroversitätsgebot in der heutigen Zeit noch gültig oder braucht es andere Verabredungen für die politische Bildung? Was bedeutet die Emotionalisierung im öffentlichen Raum für den Grundsatz der kognitiven Wissensvermittlung in der politischen Bildung? Und welchen Stellenwert nimmt der technologische Wandel ein? Fest steht: Facetten des Antidemokratischen müssen als solche benannt werden. Das ist keine Stigmatisierung oder Moralisierung, sondern eine in Krisenzeiten notwendige Positionierung. Machen wir das nicht, tragen wir dazu bei, dass antidemokratisches Gedankengut über unsere Institutionen und Professionen mit in die Mitte der Gesellschaft sickert. Es gilt, „rote Linien“ zu ziehen. Wer explizites „othering“ betreibt, also die Exklusion ganzer Bevölkerungsteile durch die Berufung auf einen „Volkskörper“, kann nicht mit demokratischer Toleranz rechnen. Fast 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 sollten wir an das ihm inhärente Prinzip der „streitbaren Demokratie“ erinnern. Gleichzeitig müssen die Lücken, die der politische Diskus in den vergangenen Jahren gelassen hat, identifiziert und die entsprechenden Themen aufgegriffen werden, um sie nicht den Antidemokraten zu überlassen. Und das ist nicht zu verwechseln mit einem Getrieben-Sein durch Themen, die ein rechtspopulistischer Diskurs setzt. Auf der einen Seite besteht die Aufgabe der politischen Bildung also darin, antidemokratische Meinungen und Standpunkte klar als solche zu benennen und sich ihnen gegenüber deutlich zu positionieren. Auf der anderen Seite muss der fragmentierten Gesellschaft entgegengewirkt und wieder Räume der Gemeinschaft und des demokratischen Streits geschaffen werden. Die plurale Demokratie ist anstrengend Die zahlreichen Identitätsdebatten und damit verbundenen detaillierten Selbstpositionierungen sind unter anderem Ausdruck dieser fragmentierten Gesellschaft. Es hat den Anschein, dass sich nach dem Aufstieg einer antiliberalen und antimodernen Rechten, auf der linken progressiven Seite mit ähnlich ideologischer Härte verschanzt wird. Lassen Sie mich dies an zwei Beispielen veranschaulichen, die zugleich die Komplexität und zum Teil Widersprüchlichkeit sowie Ausgrenzung verdeutlichen, die diese Debatten nach sich ziehen (können). Erstens: Im emanzipatorischen Raum der Gleichstellung begegnen sich Forderungen, die einander zum Teil fundamental widersprechen. Auf der einen Seite gibt es den Anspruch, dass die Identitätsansprache nicht mehr so kategorial sei: „Nenn mich nicht Migrantin, ich bin auch Deutsche.“ Auf der anderen Seite steht die Forderung, immer engführender zu differenzieren: „Wenn ich mich nicht benenne, bin ich nicht sichtbar. Dann kann ich auch nicht darauf aufmerksam machen, welche Diskriminierungsformen gerade meiner ethnischen oder religiösen Gruppe, meiner Herkunftsgruppe widerfahren.“ Zweitens: Die R&B Sängerin Beyoncé hat spätestens mit ihrem Auftritt bei den MTV Video Musik Awards 2014 und ihren Songs, in denen sie zum Beispiel Zitate feministischer Autorinnen wie Chimamanda Ngozi Adichie rezitiert[4], für eine Debatte gesorgt: Kann Beyoncé eine Feministin sein, wenn sie gleichzeitig in ihren Videos ihren „perfekten und sexuell verfügbaren Körper“ (EMMA-Magazin) ausstellt? Scheinbar werden nicht mehr politische Standpunkte und Strategien diskutiert, sondern stattdessen die Personen, die sie äußern. Immer häufiger wird mit persönlicher Betroffenheit argumentiert und Selbstthematisierungen in Identitätskategorien rücken oftmals in den Vordergrund. Was dagegen vernachlässigt wird, ist, die eigene Betroffenheit in Bezug zu setzen zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Individuelle Betroffenheitsgefühle alleine sind der politischen Verhandlung entzogen. Hinzu kommt, dass eine gesellschaftliche Allianzbildung verhindert wird, wenn politische Identitäten und Positionen von subjektiven Erfahrungen abgeleitet werden – und dies ist Kernmerkmal der Identitätskonstruktion: Kann mein Engagement als Mann feministisch sein, wenn ich doch vom Geschlechterverhältnis profitiere? Können Weiße überhaupt antirassistisch sein, wenn sie doch vom Rassismus profitieren? Diese Fragen scheinen kaum mit einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die immer die Möglichkeit von Veränderung, Dynamik und Widersprüchen einschließt, kompatibel zu sein. Etiketten und Zuschreibungen, die als Label stabiler Kategorien erscheinen, lassen keine Differenzen zu. Klar ist jedoch: In einer Welt voller Komplexität und Paradoxien lassen sich schwerlich kohärente Antworten und Positionen finden. Die plurale Demokratie ist anstrengend und erfordert immer wieder aufs Neue Aushandlungsprozesse. Wir brauchen Räume für Streit Genau deshalb brauchen wir Räume für Streit. Streit der im Sinne Chantal Mouffes[5] im agonistischen Rahmen stattfindet, also auf Basis einer Vereinbarung demokratischer Regeln. Sofern keine Linien überschritten werden, gilt es Sensibilität für die Berechtigung anderer Positionen und Erfahrungen zu schaffen. Widersprüche und Differenzen müssen ausgehalten und akzeptiert werden. Die politische Bildung muss (vermeintlich) segmentierte Gruppen zusammenführen und die Debattenkultur fördern: Sie muss Räume des Agonalen schaffen. Nur durch die Akzeptanz der Vielfalt kann wieder Einheit bzw. Gemeinschaft entstehen. Vergesellschaftung ist ein Prozess, der durch das Austragen von Konflikten und Dissens hergestellt werden kann. Die Irritation und Störung von kaum hinterfragten Wissensbeständen können diesen Prozess in Gang setzen und für Selbstvergewisserung sorgen. Dissens kann so nicht nur reguliert werden, sondern Vertrauen sowie Glaubwürdigkeit schaffen und integrierend wirken. Diese Form des konfliktiven Dialogs ist nicht bedingungslos, sondern setzt Zivilitäts- und Diskursregeln voraus. Laut agonalen Demokratietheorien sind Zivilitätsregeln z.B. Offenheit für den Dialog: Das bedeutet nicht zu versuchen, die Gegenseite zu überzeugen, auf Kriterien wie Verallgemeinerbarkeit der eigenen Meinung zu verzichten, die eigenen Herleitungen und Grundannahmen transparent und erkennbar machen. Es bedeutet, nicht zu „erziehen“, sondern Legitimität des Gegenübers und der Inhalte anzuerkennen und gleichzeitig zu verdeutlichen, welche Weltbilder und Deutungshorizonte die eigene Meinung beeinflussen. Der Soziologe Zygmunt Baumann hat es so beschrieben: „Statt uns zu weigern, […] die störenden Unterschiede, Ungleichheiten sowie die selbst auferlegte Entfremdung auszublenden, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, in einen engen und immer engeren Kontakt mit den anderen zu gelangen, der hoffentlich zu einer Verschmelzung der Horizonte führt statt zu einer bewusst herbeigeführten und sich selbst verschärfenden Spaltung. [...] Die Menschheit befindet sich in der Krise – und es wird keinen anderen Ausweg aus dieser Krise als die Solidarität zwischen den Menschen geben.“[6] Diversität ist Normalität Bildungsakteure und -institutionen müssen sich bewusst sein, dass sie massiv dazu beitragen, Gesellschaftsbilder zu formulieren und weiterzutragen. Daraus lässt sich die direkte Verantwortung ableiten, Minderheiten als politische Subjekte zu denken und einzubeziehen. Es braucht Sensibilität für kulturelle Vielfalt. Eine heterogener werdende Gesellschaft muss sich auch in den Eliten und Institutionen repräsentieren. Und zwar nicht nur im Sinne von Quoten, sondern auch dadurch, dass die verschiedenen Perspektiven und Denkweisen in der Arbeit und den Produkten der politischen Bildung repräsentiert sind. Die Lebenswelten von Minderheiten müssen mit unseren verwoben werden. Nur durch Diversität rüsten wir uns für gesellschaftspolitische Debatten. Und nur so kann ein Staat repräsentiert werden, der sich der Allgemeinheit verschreibt. Paul Mecheril, Direktor des Center für Migration, Education and Cultural Studies an der Universität Oldenburg, nennt in diesem Sinne als Bildungsziel für das 21. Jahrhundert „Solidarität unter einander Unvertrauten“, wobei Fremdheit nicht durch das Auftauchen von Migrantinnen und Migranten entstehe, sondern „konstitutiver Teil pluraler, demokratischer Gesellschaften“ sei.[7] Diversität ist Normalität. In diesem Zusammenhang stellt sich für die politische Bildung die Frage nach Vermittlungswegen und -orten, von denen sie zweifelsohne neue braucht. Sie agiert mit ihrem rationalistischen Methodenrepertoire in Feldern mit hoher Affektaufladung, was zu Widersprüchen führt. Eine Möglichkeit besteht darin, Berührungspunkte und Schnittmengen zwischen den Didaktiken der kulturellen und politischen Bildung zu erarbeiten. Kulturelle Bildung sollte zwar Selbstzweck bleiben, aber ihre unübersehbaren Beiträge zu gesellschaftlicher Teilhabe und Integration sowie zur Ermächtigung und Selbstwirksamkeit sollten stärker in den Fokus gerückt werden. Bildungsangebote sollten dialogorientiert, partizipativ und erlebbar sein sowie persönlichkeitsbildend wirken. Formate der kulturellen Bildung können hier Vorbilder geben, denn im Rahmen dieser Bildungsansätze wird nicht nur kognitiv, sondern auch ästhetisch-affektiv vermittelt, indem der ganze Mensch in den Blick genommen wird. Digitale Souveränität fördern Und ein weiterer wichtiger Aspekt fordert die politischen Bildung: die Digitalisierung. Der technologische Wandel ist neben der zunehmend transnational und heterogener werdenden Gesellschaft mitverantwortlich für das Gefühl des Sicherheits- und Kontrollverlusts. Die Digitalisierung hat in den letzten Jahren eine zunehmende und alle Bereiche der Gesellschaften erfassende Dynamik erreicht. Es scheint absehbar, dass eine grundlegende Neuordnung vieler Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens eintreten wird. Orte, Instrumente und Formate des Politischen und damit auch unserer Profession haben sich gewandelt: Ohne digitale Angebote kann man heutzutage in der politische Bildung einpacken. Dass Partizipation, Netzaufklärung und Medienkompetenz zu den zentralen Herausforderungen gerade auch für die Erwachsenenbildung zählen, liegt auf der Hand. Der Aspekt der „digitalen Souveränität“ ist jedoch dabei dezidiert in den Fokus zu stellen. Durch die Veränderungen ergeben sich neue Anforderungen an die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger – und damit sind wir beim Kerngeschäft der politischen Bildung. Die politische Erwachsenenbildung muss genutzte Technologien intellektuell durchdringen und zur digitalen Souveränität beitragen. „Digitale Souveränität“ bedeutet, dass man nicht hilflos den Regeln und Vorgaben von Diensten ausgeliefert ist. Das souveräne Individuum ist in der Lage, digitale Technologien zu verstehen, selbst zu beherrschen und zu bedienen und informierte Entscheidungen über sein Verhalten treffen zu können. Leitmotiv für die politische Bildung sollte es sein aus Gesellschaften und den Menschen echte Teilhaber zu machen, statt nur Anwender, Kunden und Nutzer. Wichtig ist auch die Monopolisierung in den Blick zu nehmen, denn digitale Souveränität zieht die Frage nach sich, wie souverän wir sein können, wenn wir nicht die Eigentümer unserer Daten sind und somit keine vollständige Kontrolle über sie haben können. Die Intransparenz gilt dabei nicht nur im Hinblick auf die Verwendung der Daten von Nutzerinnen und Nutzern. Die großen Konzerne geben ebenso wenig Einblick in ihre Arbeitsweisen und Algorithmen. Völlig ohne Mit-Eigentum und ohne Mit-Bestimmung bleibt eine Teilhabe an den digitalen Gütern und Diensten letztlich eine leere medienpädagogisch angehauchte „Beschwörung“. Künftig müssen diese Entwicklungen noch stärker als bisher zum Gegenstand der politischen Bildung werden: Ob es um Algorithmen und deren Ökonomie geht, um die Monopole und mögliche Regulierungen dieser oder um Künstliche Intelligenz – all diese Aspekte bestimmen unsere Gegenwart und werden es auch in Zukunft tun. Darüber hinaus sollte politische Bildung die Arbeit der Großkonzerne auf ihren eigenen Plattformen beleuchten (dürfen), also eine offensivere Aufklärungsarbeit leisten, ohne die eigene Reichweite (und Breitenwirksamkeit) zu verlieren. Grundsätzlich gilt: politische Bildung kann gesellschaftliche Missstände nicht beheben. Sie kann aber dazu beitragen, sie in die Kategorien des Politischen zu übersetzen. Politische Bildung kann durch ihre Angebote Bürgerinnen und Bürger dabei begleiten und fördern, vom politischen Objekt zum handelnden Subjekt zu werden. Sie kann einen aktivierenden Charakter haben und Gestaltungskompetenzen aufbauen. Diese Zuversicht sollte sich die Profession trotz vielfacher Herausforderungen nicht nehmen lassen. [1] Peter Faulstich: Weiterbildung: Begründungen lebensentfaltender Bildung, München 2003, S. 90. [2] Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): „Wer wählt Rechtspopulisten?“ (2017), https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_044_2017.pdf [3] Festvortrag von Heribert Prantl anlässlich der Festakademie des Arbeitskreises katholisch-sozialer Bildungswerke e.V. zur Verabschiedung des Geschäftsführers Lothar Harles am 27.11.2017 in Berlin. [4] Beyoncé, Flawless, von Beyoncé Knowles, Beyoncé, Columbia Records 2013 [5] Chantall Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken, Bonn 2015. [6] Zygmunt Baumann: Die Angst vor den anderen, Bonn 2017, S. 23f. [7] María do Mar Castro Varela / Paul Mecheril (Hg.): Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld 2016.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-04-05T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/267374/keynote-demokratie-was-kann-darf-muss-politische-bildung-fuer-erwachsene-siegburg-12-dezember-2017/
Politische Bildung muss stets auf gesellschaftlichen Wandel reagieren, sich hinterfragen und weiterentwickeln. Es gilt, sich den Facetten des Antidemokratischen ebenso zu stellen wie einer fragmentierten und digitalisierten Gesellschaft. Im Rahmen de
[ "Keynote Thomas Krüger", "Politische Bildung für Erwachsene", "Aktuelle Herausforderungen" ]
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Die unvollendete Revolution | Hongkong | bpb.de
Als am 9. Juni 2019 zum ersten Mal Hunderttausende Hongkonger gegen eine geplante Reform der Auslieferungsgesetze auf die Straße gingen, ahnte wohl noch niemand, dass sich daraus eine Protestbewegung mit so weitreichenden Folgen entwickeln würde. Selbst die Organisatoren des Marsches waren damals völlig überrascht von der Zahl der Teilnehmer, die sie auf eine Million schätzten. Die hohe Beteiligung war Ausdruck der Urängste, die die Hongkonger Regierung mit ihrem Plan geweckt hatte, künftig eine Auslieferung von Verdächtigen an die Willkürjustiz auf dem chinesischen Festland zu ermöglichen. Das trieb längst nicht nur Demokratieaktivisten auf die Barrikaden. Die breite Öffentlichkeit sah darin einen Dammbruch, der die schützende Wand zwischen dem Hongkonger Rechtsstaat und der chinesischen Parteijustiz zum Einsturz bringen könnte. Die einflussreiche Hongkonger Geschäftswelt fürchtete, dass ihre Vertragspartner vom Festland ein solches Gesetz nutzen könnten, um sie zu erpressen. Man kann wohl davon ausgehen, dass selbst die chinesischen Parteikader, die ihren Lebensmittelpunkt oder den ihrer Familien nach Hongkong verlagert haben, aus eigenem Interesse den Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz unterstützten. In den beiden ersten großen Demonstrationszügen im Juni manifestierte sich ein Unbehagen am autoritären Kurs des chinesischen Staatschefs Xi Jinping. Um das Auslieferungsgesetz geht es der Protestbewegung inzwischen nicht mehr. Im Mittelpunkt stehen nun die Aufarbeitung mutmaßlicher Polizeigewalt und die Frage, wie die Sonderverwaltungsregion Hongkong sich ein hohes Maß an Selbstbestimmung gegenüber Peking erhalten beziehungsweise zurückerobern kann. Es lohnt aber, sich an die Anfänge zu erinnern, denn sie werfen die Frage auf, welche Rolle die Zentralregierung bei der Eskalation der Krise gespielt hat. Als Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam den Entwurf des Auslieferungsgesetzes im September 2019 vollständig zurückzog, hatte das keinen Einfluss mehr auf den Verlauf der Ereignisse. Sie hatte viel zu lange gezögert, auf den Unmut der Bevölkerung zu reagieren. Damit hatte sie die Chance zur Deeskalation und ihre Glaubwürdigkeit ohne Not verspielt. Im Umfeld ihrer Vertrauten ist die Einschätzung zu hören, dass dies ihrem eigenen Starrsinn und mangelnden politischen Gespür geschuldet war. Es gibt in Hongkong aber auch die begründete Vermutung, dass Carrie Lam den Anweisungen der Zentralregierung folgte, die seit Langem auf ein solches Auslieferungsgesetz drängt, um ihre Kontrolle über die Sonderverwaltungsregion auszuweiten. Falsche Einschätzung Selbst in Pekinger Parteikreisen wird inzwischen nicht mehr bestritten, dass die chinesische Führung die Lage in Hongkong lange Zeit falsch eingeschätzt hat. Offenbar basierte das auch auf den allzu optimistischen Lageberichten des Verbindungsbüros der Zentralregierung in Hongkong. Im November 2019 sagte ein chinesischer Offizieller der Nachrichtenagentur Reuters, "das Verbindungsbüro hat mit den reichen Leuten und den Eliten vom Festland verkehrt und sich von der Bevölkerung isoliert". Im Januar 2020 zog Peking daraus die Konsequenz und setzte den bisherigen Leiter des Verbindungsbüros Wang Zhimin ab. Schon zuvor war in Shenzhen, einer Nachbarstadt Hongkongs, eine parallele Koordinierungsstelle eingerichtet worden, die den Staats- und Parteichef Xi Jinping täglich über aktuelle Entwicklungen in Hongkong informierte. Über die Entscheidungsprozesse im Innern des chinesischen Machtapparats lässt sich nur spekulieren. Unter China-Kennern ist die Ansicht verbreitet, dass das autoritäre Gebaren Xi Jinpings und die Konzentration der Macht in seinen Händen dazu geführt haben, dass immer weniger Funktionäre in seinem Umfeld gewillt sind, ihn mit unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren. Kolportiert wird auch, dass die Führung womöglich ihrer eigenen Propaganda aufsaß, wonach die Protestbewegung weniger vom Unmut in der Gesellschaft, sondern durch Einflussnahme der USA gespeist werde, und dass eine schweigende Mehrheit die Proteste ablehne. Das Ergebnis der Bezirkswahlen im November 2019 zeigte, dass dies nicht der Fall war. Bei einer Rekordbeteiligung von 71 Prozent der Wahlberechtigten gewannen die prodemokratischen Kandidaten dank des Mehrheitswahlrechts mehr als 80 Prozent der Sitze in den Bezirksräten. Ihr Stimmanteil lag bei rund 57 Prozent. Da die prodemokratischen Kandidaten sich explizit als Teil der Protestbewegung positioniert hatten, kann das Votum als Beleg gewertet werden, dass eine Mehrheit der Bevölkerung deren Forderungen unterstützt, trotz der Gewaltbereitschaft mancher Aktivisten und trotz der hohen wirtschaftlichen Kosten, die mit den Protesten vor allem für den Einzelhandel und das Gastgewerbe verbunden sind. Wirkungslose Drohung Die politische Krise in Hongkong gehört zu den größten Herausforderungen, die sich Staats- und Parteichef Xi Jinping derzeit stellen. Anfangs setzte die Zentralregierung auf Einschüchterung und eine Demonstration der Stärke. Im August 2019 ließ sie Tausende Militärpolizisten nahe der Grenze zur Sonderverwaltungsregion aufmarschieren und die Niederschlagung von Protesten trainieren. Doch die Drohkulisse bewirkte das Gegenteil: Sie verstärkte auf Seiten der Aktivisten das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, und führte zu einer Radikalisierung der Bewegung. Zu der angespannten Stimmung trug bei, dass der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik bevorstand, den Xi Jinping zu einer Demonstration seiner Macht nutzen wollte. Wer jedoch geglaubt hatte, dass er eine Störung seiner Inszenierung durch Protestbilder um jeden Preis verhindern würde, irrte sich. Stattdessen schaltete Peking auf eine Abnutzungsstrategie um. Es setzt offenbar darauf, dass die Proteste sich irgendwann totlaufen werden. Ob die chinesische Führung zu irgendeinem Zeitpunkt ernsthaft eine militärische Intervention erwogen hat, ist nicht bekannt. Die zu erwartenden Kosten wären in jedem Fall enorm gewesen. Neben dem internationalen Reputationsverlust samt möglicher Sanktionen hätten die Bilder von Soldaten auf den Straßen Hongkongs auch im eigenen Land die Erinnerungen an die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 auf dem Tian’anmen-Platz geweckt. Erinnerungen, die das Regime über Jahrzehnte erfolgreich getilgt hat. Ein Einmarsch beziehungsweise Einsatz der bereits in Hongkong stationierten Soldaten hätte zudem eine jahrelange und kostspielige militärische Präsenz erfordert, da die Loyalität der Polizei und der aktuellen Verwaltung nicht gewährleistet wäre. Nicht zuletzt zöge ein militärisches Eingreifen das Ende des Prinzips "Ein Land, zwei Systeme" nach sich, das für China noch immer erhebliche Vorteile birgt. Die Rechtssicherheit, die Möglichkeit, Kapital ohne Einschränkungen jederzeit abzuziehen, sowie das Wechselkursregime, das den Hongkong-Dollar lose an den US-Dollar bindet, machen Hongkong zu Chinas wichtigstem Finanzplatz. 2018 wurden 65 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in China über das Hongkonger Finanzsystem getätigt. An der dortigen Börse werben chinesische Unternehmen weiterhin deutlich mehr internationales Kapital ein als in Shanghai. Zugleich wickeln viele chinesische Staatsunternehmen ihre Auslandsgeschäfte über Dependancen in Hongkong ab, um die strikten Kapitalmarktkontrollen auf dem Festland zu umgehen. Pekings regelmäßige Ankündigungen, Hongkongs Rolle durch Shenzhen, Macau oder Shanghai zu ersetzen, sind eher als Drohgebärden denn als reale Planungen zu verstehen. Dass China sich im Umgang mit den Protesten inzwischen aufs Aussitzen verlegt hat, liegt sicher auch daran, dass anfängliche Befürchtungen, der Protestgeist könnte auf das Festland übergreifen, sich nicht bewahrheitet haben. Im Gegenteil: In der chinesischen Öffentlichkeit scheint, soweit das angesichts der Zensur zu ermitteln ist, Unverständnis über die Forderungen und Methoden der Hongkonger zu herrschen. Die Ansicht, dass sich darin lediglich Neid angesichts des wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs des Festlands manifestiere, ist verbreitet. Die von den Parteimedien verbreiteten Bilder von chaotischen Straßenszenen in Hongkong fügen sich nahtlos ein in das Narrativ der Kommunistischen Partei, wonach Stabilität gegenüber Demokratie und Freiheit Priorität haben müsse. Druck auf Unternehmen Chinas Vorgehen gegen die Protestbewegung hat dem internationalen Wirtschaftsstandort Hongkong allerdings bereits Schaden zugefügt. Besonders weitreichend war der Eingriff bei der Hongkonger Fluggesellschaft Cathay Pacific. Die chinesische Luftkontrollbehörde drohte dem Unternehmen mit einem Ausschluss aus dem chinesischen Luftraum, wenn es seinen Mitarbeitern nicht verbieten würde, die Protestbewegung durch Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken oder anderweitig zu unterstützen. Der Druck war so groß, dass der Vorstandsvorsitzende Rupert Hogg im August 2019 das Unternehmen verlassen musste. Mehrere Mitarbeiter wurden entlassen, andere sprachen von einem Klima der Angst im Unternehmen. Peking statuierte an Cathay Pacific ein Exempel. Andere Unternehmen sahen sich gezwungen, ihre Loyalität gegenüber Peking zu versichern und ihren Mitarbeitern klarzumachen, dass die Zukunft des Unternehmens gefährdet sei, wenn sie die Proteste offen unterstützten. Zumindest kurzfristig ist jedoch nicht zu erkennen, dass dies zu einer Schwächung der Bewegung geführt hat. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Instrumente der Zentralregierung sich in einem freien Umfeld wie der Hongkonger Gesellschaft bisweilen als stumpf herausstellten. Anders als auf dem chinesischen Festland, wo sie weitgehende Kontrolle über Informationsflüsse hat, gelang es der Regierung nicht, Einfluss auf die öffentliche Meinung in Hongkong zu nehmen. Mit jedem neuen Versuch, die eigene Kontrolle in Hongkong auszuweiten, wuchs die Empörung. Die Zentralregierung hält dennoch an ihrer harten Haltung fest. Sie scheint auf eine langfristige Verschiebung der Gewichte in Hongkong zu setzen: durch die Einführung patriotischer Erziehung, die Förderung von Einwanderung vom Festland nach Hongkong und eine Besetzung von gesellschaftlichen Schlüsselpositionen mit Festlandchinesen. Gesetz gegen Subversion Der neue Leiter des Verbindungsbüros, Luo Huining, bekräftigte im Januar 2020, dass Hongkong ein "Sicherheitsgesetz" verabschieden müsse, das hohe Strafen für Subversion, Vaterlandsverrat und die Befürwortung einer Unabhängigkeit Hongkongs vorsehen würde. Damit würde das juristische Waffenarsenal gegen die Protestbewegung erheblich aufgerüstet. Aus Pekinger Sicht ist das notwendig, weil ein Großteil der mehr als 7000 Personen, die seit Beginn der Proteste festgenommen wurden, inzwischen wieder auf freiem Fuß ist. Mehr als 1000 wurden bis Ende Januar angeklagt. Juristen gehen aber davon aus, dass nur ein Bruchteil davon tatsächlich verurteilt werden wird. Denn anders als die politisierte Justiz auf dem Festland verlangen die Richter in Hongkong Beweise, die schon wegen der Vermummung der Aktivisten nicht leicht zu erbringen sind. Die Verabschiedung eines "Sicherheitsgesetzes", wie Peking sie verlangt, dürfte nicht einfach werden, obwohl ein solches Gesetz in der Hongkonger Verfassung (Basic Law) von 1997 vorgesehen ist. Dort heißt es, die Regierung der Sonderverwaltungsregion "möge" entsprechende Gesetze in Kraft setzen. 2003 wurde schon einmal versucht, ein "Sicherheitsgesetz" einzuführen, was aber an Massenprotesten scheiterte. Der damalige Hongkonger Regierungschef musste deshalb später sogar zurücktreten. Als ebenso schwierig erweist sich die Einführung von patriotischer Erziehung, die 2012 von Schülerprotesten verhindert wurde. Derzeit scheinen sich Pekings Statthalter in Hongkong darauf zu konzentrieren, gegen Lehrer vorzugehen, die die Protestbewegung unterstützen. Ende Dezember 2019 teilte Bildungsminister Kevin Yeung mit, dass rund 80 Lehrer im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen worden seien. Bei ernsten Verstößen drohe ihnen die Suspendierung. Das ist aber noch weit entfernt von den Maßnahmen, die regelmäßig in Pekinger Parteimedien gefordert werden. Ein besonderer Dorn im Auge ist Peking-Treuen in Hongkong das Schulfach "Liberal Studies", das nach ihrer Ansicht Schüler zum Widerstand gegen die Regierung aufhetze. Die Befürworter argumentieren dagegen, dass eine Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Standpunkten die Schüler eher zu moderateren, rationaleren Positionen ermutige. Eingeführt wurde das Fach noch unter der britischen Kolonialverwaltung in den 1990er Jahren. Es sollte die Jugend auf jene Autonomie vorbereiten, die Hongkong unter chinesischer Herrschaft nach dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" versprochen wurde. Doch erst 2009, also lange nach der Rückgabe der Kronkolonie an China, wurde "Liberal Studies" zum Pflichtfach. Eine Abschaffung würde der Protestbewegung vermutlich ein neues Momentum bescheren. Für derartig kontroverse Schritte scheint die Hongkonger Regierung derzeit zu schwach. Regierungschefin auf Abruf Regierungschefin Carrie Lam scheint ihren Gestaltungsspielraum weitgehend verloren zu haben. Ihre Bemühungen, einen Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen in Gang zu bringen, hatten ebenso nicht den erwünschten Effekt, den Unmut in der Bevölkerung zu dämpfen, wie zwei Initiativen mit wirtschaftlichen Wohltaten für Unternehmen und Privathaushalte. Als Carrie Lam im Januar 2020 eine mögliche Fortführung des Hongkonger Sonderstatus über das Jahr 2047 hinaus ins Gespräch brachte, löste das nicht einmal mehr eine Debatte aus. Selbst im Pro-Peking-Lager genießt die Regierungschefin offenbar kaum noch Rückhalt. Im Vorfeld der Bezirkswahlen im November, bei denen die Peking-treuen Parteien eine herbe Niederlage einstecken mussten, wurde sie von früheren Verbündeten offen kritisiert. Zur Schwächung Carrie Lams haben sicher die anhaltenden Gerüchte beigetragen, dass sie eine Regierungschefin auf Abruf sei. Die "Financial Times" berichtete im Oktober 2019, Peking erwäge, sie bis März 2020 auszutauschen. Zu solchen Mutmaßungen hat die Regierungschefin selbst beigetragen. Im September war ein Audiomitschnitt eines vertraulichen Gesprächs Carrie Lams mit Unternehmern öffentlich geworden, in dem sie sagte, "wenn ich eine Wahl habe, ist das erste, was ich tue, zurückzutreten, nachdem ich mich zutiefst entschuldigt habe". In Hongkong wurde das als Hinweis gewertet, dass Carrie Lam alle Entscheidungsbefugnisse, inklusive jene über den eigenen Rücktritt, an Peking verloren hatte. Ähnlich wie mit dem Auslieferungsgesetz haben Carrie Lam und Peking den richtigen Zeitpunkt verpasst, auf eine Aufklärung und Ahndung mutmaßlicher Polizeigewalt hinzuwirken. Die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission, die zu den fünf Kernforderungen der Protestbewegung gehört, hätte nach dem Dafürhalten vieler zu einer Beruhigung der Lage beitragen können. Carrie Lams Argument, dass dies nicht möglich sei, solange die Proteste andauerten, weil ihr sonst die Polizei von der Stange gehen würde, ließ die Regierungschefin nur noch schwächer aussehen. Das weitgehende Fehlen einer politischen Antwort auf die Proteste, aber auch das Fehlen einer Führungsstruktur auf Seiten der Aktivisten, haben dazu geführt, dass der Konflikt zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Straßenkämpfern, den sogenannten Frontlinern, mutiert ist. Tränengas und verbale Enthemmung Die Polizei hat inzwischen mehr als 16.000 Kartuschen Tränengas eingesetzt. Seit August 2019 setzt sie auch Wasserwerfer ein. Es gibt etliche Videos, die auf einen exzessiven Einsatz von Gewalt und Verstöße gegen Einsatzregeln hinweisen. Die Aktivisten greifen ihrerseits zu radikaleren Mitteln, vor allem Sachbeschädigung: Geschäfte, deren Besitzer aus Sicht der Aktivisten Peking zu nahe stehen, werden regelmäßig verwüstet. Dazu gehört die Kaffeehauskette Starbucks, für die in Hongkong die Maxim’s-Gruppe die Lizenz hält. Die Tochter des Gründers der Maxim’s-Gruppe hatte in einer Rede vor einem UN-Gremium scharfe Kritik an der Protestbewegung geübt. Das reichte aus Sicht der Aktivisten, um das Unternehmen für Vandalismus freizugeben. Auch in Hongkonger U-Bahnen gibt es immer wieder erheblichen Sachschaden. Die Aktivisten begründen das damit, dass der U-Bahn-Betreiber auf Bitten der Polizei regelmäßig Stationen schließt, um eine Anfahrt von Demonstranten zu Protestveranstaltungen zu erschweren. In Auseinandersetzungen mit der Polizei werden nun routinemäßig Molotowcocktails eingesetzt. In der Polytechnischen Universität wurden Ende November 2019 mehr als 4000 solcher Benzinbomben sichergestellt. Wer die Straßenkämpfe beobachtet, wird allerdings feststellen, dass die große Mehrheit der Geschosse nicht in die Nähe von Polizisten geworfen wird, sondern auf die leere Straße. Das dient mutmaßlich dazu, dramatische Bilder zu erzeugen, um das internationale Medieninteresse an den Protesten wachzuhalten. Es gibt aber auch radikale Aktivisten, die es bewusst darauf anlegen, Polizisten zu verletzen. Das zeigte sich etwa im Zusammenhang mit der Besetzung der Polytechnischen Universität im November, als Katapulte und Pfeil und Bogen eingesetzt wurden. Auch verbal hat auf beiden Seiten eine Enthemmung stattgefunden. Polizisten werden regelmäßig mit Sätzen wie "Deine Frau sollte vergewaltigt werden" traktiert. Viele Sicherheitskräfte nennen die Protestierenden "Kakerlaken". Der Gruppenführer einer Einheit der Bereitschaftspolizei sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im Januar 2020, dass selbst seine Vorgesetzten dieses Wort in Lagebesprechungen verwendeten. Der Polizist vertrat die Ansicht, dass Gewaltexzesse auf Seiten der Polizei dadurch befördert würden, dass die Polizeiführung solche Handlungen bisher nicht öffentlich kritisiert hat und sich kein einziger Beamter bisher für Verstöße gegen Einsatzregeln verantworten musste. Der interviewte Polizist sprach sich vor diesem Hintergrund für eine unabhängige Untersuchung mutmaßlicher Polizeigewalt aus und sagte, dass viele seiner Kollegen diese Einstellung teilten. Das Fehlen jeglicher Disziplinierungsmaßnahmen hat zu einem dramatischen Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. In einer Umfrage im Dezember 2019 bezifferten 40 Prozent der Befragten ihr Vertrauen in die Polizei mit 0. Insgesamt kam die Truppe in der Umfrage des Hong Kong Public Opinion Research Institute auf 35 von 100 Punkten. Selbst die in Hongkong stationierten chinesischen Soldaten bekamen höhere Zustimmungswerte. Soziale Netzwerke als Echokammern Ein Zwischenfall, der dem Ansehen der Polizei besonders geschadet hat, fand am 21. Juli 2019 in der U-Bahn-Station Yuen Long statt (Abbildung). Dutzende weißgekleidete Männer schlugen damals minutenlang mit Bambusstangen und Eisenrohren willkürlich auf Fahrgäste ein. Mehr als 40 Personen wurden verletzt. Es gibt Vermutungen, dass die Täter der chinesischen Mafia angehören und womöglich bezahlt wurden. Ein Video, das den Peking-treuen Abgeordneten Junius Ho mit manchen der Männer zeigt, hat in der Öffentlichkeit den Verdacht genährt, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Die Polizei griff erst ein, als der Mob den Tatort bereits verlassen hatte, mehr als eine halbe Stunde, nachdem die ersten von Hunderten Notrufen eingingen. Zwei Polizisten, die sich von Anfang an am Tatort befanden, zogen sich aus ungeklärten Gründen zurück. Sechs Monate nach dem Ereignis hat die polizeiinterne Beschwerdestelle ihren Bericht zu dem Zwischenfall noch immer nicht vorgelegt. Der Yuen-Long-Angriff gilt vielen Hongkongern als Wendepunkt in der aktuellen politischen Krise. Besonders umstritten ist auch ein Polizeieinsatz am 31. August in der U-Bahn-Station Prince Edward. Videos zeigten ein besonders harsches Vorgehen der Polizei. Entscheidender aber ist, dass sich in Teilen der Bevölkerung hartnäckig die Überzeugung hält, dass bei dem Einsatz Demonstranten getötet wurden und dies vertuscht worden sei. Belastbare Belege gibt es dafür nicht. Es zeigt aber den großen Einfluss der sozialen Medien, die auf beiden Seiten des Konflikts wie Echokammern wirken und eigene Einstellungen und Gerüchte zu vermeintlichen Wahrheiten verdichten. Ereignisse wie in Yuen Long und Prince Edward haben die Maßstäbe verschoben und die Akzeptanz in der Bevölkerung für militante Protestformen erhöht. Die Tatsache, dass die Bewegung seit acht Monaten anhält, hat auch damit zu tun, dass sie finanziell und emotional von Teilen der Mittelklasse unterstützt wird. Dies äußert sich in Geld- und Sachspenden ebenso wie in der Bereitschaft, die Aktivisten mitten in der Nacht mit dem Auto von Protestveranstaltungen nach Hause zu fahren oder sie zeitweise im eigenen Haus aufzunehmen. Diese Bereitschaft hat auch damit zu tun, dass ein großer Teil der sogenannten Frontliner vergleichsweise jung ist. Ein Grund dafür mag sein, dass die Proteste während der Schulferien begannen. Einige Selbstmordfälle und die Tatsache, dass die Polizei gleich zu Anfang mit Tränengas gegen die damals noch ungeschützten Demonstranten vorging, mobilisierten viele, die bis dahin politisch kaum aktiv waren. Andere der sogenannten Frontliner hatten bereits an militanten Aktionen im Umfeld des Aktivisten Edward Leung teilgenommen, der seinerzeit für eine Unabhängigkeit Hongkongs eintrat und für seine Rolle bei gewaltsamen Protesten 2016 eine Haftstrafe absitzt. Sein Slogan "Liberate Hong Kong, Revolution of our time" ist zu einer zentralen Parole der aktuellen Protestbewegung geworden. Führerlose Bewegung Die aktuelle Bewegung grenzt sich bewusst von den Regenschirm-Protesten von 2014 ab, die auch deshalb scheiterten, weil die verschiedenen Lager sich gegenseitig kritisierten und uneins darüber waren, ob militante Aktionen legitim seien. Als Konsequenz daraus lehnen die Befürworter der aktuellen Protestbewegung eine Verurteilung gewaltsamer Aktionen ab und legen Wert darauf, keine Anführer zu haben. Das hat es den Sicherheitsbehörden erschwert, die Bewegung durch gezielte Festnahmen zu schwächen. Die Führerlosigkeit erschwert aber auch eine politische Lösung des Konflikts. Ernstzunehmende Gespräche in diese Richtung fanden bisher nicht statt. Unterstützung erhielt die Bewegung von den Vereinigten Staaten. Am 27. November unterzeichnete Präsident Donald Trump den sogenannten Hong Kong Human Rights and Democracy Act. Er ermöglicht Sanktionen gegen Personen, die für Menschenrechtsverletzungen in Hongkong verantwortlich gemacht werden. Außerdem verlangt das Gesetz, dass das Außenministerium in Washington einmal jährlich überprüft, ob Hongkong weiterhin ausreichend autonom regiert wird, um einen besonderen Umgang im Handel mit den USA zu rechtfertigen. Der Verlust dieses Sonderstatus, der in einem Gesetz aus dem Jahr 1992 festgeschrieben ist, hätte erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf Hongkong, aber auch auf China insgesamt. In der Protestbewegung gab es die Hoffnung, dass andere Länder dem Beispiel Washingtons folgen würden. Das internationale Interesse an dem Konflikt ließ aber zuletzt deutlich nach und damit auch das Druckpotenzial der Aktivisten. Politisch kanalisierte Wut Seit den Bezirkswahlen Ende November scheint das Maß an gewaltsamen Aktionen zurückgegangen zu sein. Das könnte daran liegen, dass der Wahlerfolg der prodemokratischen Abgeordneten jene Kräfte gestärkt hat, die dafür plädieren, den Protest wieder stärker in politische Kanäle zu tragen. Sie konzentrieren sich nun auf die Parlamentswahl im September 2020 – auch in der Hoffnung, in jenem Wahlgremium, das über einen künftigen Hongkonger Regierungschef entscheidet, weitere Sitze hinzuzugewinnen. Seit der Bezirkswahl verfügt das prodemokratische Lager dort über fast 450 der 1200 Sitze. Die hohe Zahl der Festnahmen hat vielen Aktivisten offenbar auch vor Augen geführt, dass sie die Unterstützung etablierter politischer Netzwerke benötigen, die sie zuvor abgelehnt hatten. Der langjährige Abgeordnete und Jurist Albert Ho, ein Urgestein der Hongkonger Demokratiebewegung, sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Ende November: "Diese jungen Protestierenden brauchen uns." Gemeinsam mit anderen Anwälten hat Albert Ho juristische Unterstützung für festgenommene Aktivisten organisiert. Vor der Bezirkswahl hatte es in den sozialen Netzwerken unzählige Appelle an den militanten Flügel der Protestbewegung gegeben, den Wahltag nicht für Protestaktionen zu nutzen. Sie wurden befolgt. Der Erfolg der Wahl hat radikalere Aktivisten, die zuvor die Dynamik der Bewegung bestimmten, ein Stück weit in den Hintergrund gedrängt. Dazu haben möglicherweise auch die Ereignisse um die Besetzung der Polytechnischen Universität Mitte November beigetragen, die nach Einschätzung vieler in einem Blutbad hätte enden können, wenn die Polizei nicht nach anfänglichem Zögern Vermittlern Zugang zu der Universität gewährt hätte. Der Blick in den Abgrund hat möglicherweise auf beiden Seiten dazu beigetragen, moderateren Stimmen Gehör zu verschaffen. Ein Ende der Proteste ist jedoch weiterhin nicht abzusehen. Zugleich sieht es nicht danach aus, dass die Zentralregierung in Peking zu Zugeständnissen gegenüber den Aktivisten bereit wäre. Das dürfte die Entfremdung der Hongkonger vom Festland weiter vorantreiben. Laut einer Umfrage des Hong Kong Public Opinion Research Institute betrachten sich aktuell weniger als die Hälfte der Hongkonger als Bürger der Volksrepublik China. Zit. nach Keith Zhai/James Pomfret/David Kirton, China Sets up Hong Kong Crisis Center in Mainland, 26.11.2019, Externer Link: http://www.reuters.com/article/us-hongkong-protests-shenzhen-exclusive/exclusive-china-sets-up-hong-kong-crisis-center-in-mainland-considers-replacing-chief-liaison-idUSKBN1Y000P. Siehe hierzu auch den Beitrag von Heribert Dieter in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Max Zenglein/Maximilian Kärnfelt, Wie Chinas Vorgehen in Hongkong den Offshore-Finanzplatz gefährdet, 22.1.2020, Externer Link: http://www.merics.org/de/china-monitor/financial-hub-at-risk. Siehe hierzu auch den Beitrag von Audrey Jiajia Li in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Jessie Pang/Marie Saito, Arrested Hong Kong Protesters Stuck in Limbo as Cases Grind Forward, 23.1.2020, Externer Link: http://www.reuters.com/article/us-hongkong-protests-arrestees-insight/arrested-hong-kong-protesters-stuck-in-limbo-as-cases-grind-forward-idUSKBN1ZM0LD. Bis zum Jahr 2047 hat China sich in einer gemeinsamen Erklärung mit Großbritannien verpflichtet, Hongkong ein hohes Maß an Autonomie zu gewähren. Was anschließend geschehen soll, ist offen. Vgl. Tom Mitchell/Alice Woodhouse, Beijing Draws up Plan to Replace Carrie Lam as Hong Kong Chief, 28.10.2019, Externer Link: http://www.ft.com/content/5ef0fc30-f4a3-11e9-b018-3ef8794b17c6. "If I Have a Choice, the First Thing Is to Quit" – Hong Kong Leader Carrie Lam – Transcript, 3.9.2019, Externer Link: http://www.reuters.com/article/us-hongkong-protests-carrielam-transcrip/exclusive-if-i-have-a-choice-the-first-thing-is-to-quit-hong-kong-leader-carrie-lam-transcript-idUSKCN1VO0KK. Vgl. Kris Cheng, Democrat Asks Court to Force Hong Kong Police to Reveal Tear Gas Recipe, 18.1.2020, Externer Link: http://www.hongkongfp.com/2020/01/18/democrat-asks-court-force-hong-kong-police-reveal-tear-gas-recipe. Friederike Böge, Manchmal können wir unsere Wut einfach nicht kontrollieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 21.1.2020, S. 3. Vgl. Kris Cheng, Hong Kong Police Receive Lowest Public Satisfaction Rating Among All Disciplinary Forces – Survey, 7.12.2019, Externer Link: http://www.hongkongfp.com/2019/12/07/hong-kong-police-receive-lowest-public-satisfaction-rating-among-disciplinary-forces-survey. Zit. nach Friederike Böge, Aufstand an der Urne, 25.11.2019, Externer Link: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/lokalwahl-in-hongkong-deutlicher-wahlsieg-der-demokraten-16501993.html. Hong Kong Public Opinion Research Institute, 17.12.2019, Externer Link: http://www.pori.hk/identity-index-of-being-citizens-of-peoples-republic-of-china.
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, Friederike Böge
"2022-02-10T00:00:00"
"2020-02-13T00:00:00"
"2022-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/305177/die-unvollendete-revolution/
Ein Ende der seit Juni 2019 anhaltenden Proteste in der Sonderverwaltungszone Hongkong ist nicht abzusehen. Peking scheint entschlossen, sie auszusitzen. Statt Zugeständnisse zu machen, verstärkt die Zentralregierung die Kontrolle über die Stadt.
[ "Hongkong", "China", "Protest", "Demokratie", "Menschenrechte" ]
30,856
Begleittexte als PDFs | Bewegtbild und politische Bildung | bpb.de
Zusätzlich bietet Datei 11 eine gesonderte Übersicht zu den in der Reihe vorgestellten Fake-Checker-Tools sowie eine ausführliche Schritt-für-Schritt-Anleitung. Hinweis: Der Datei-Download startet direkt nach der Auswahl. Interner Link: PDF 1: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 2: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 3: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 4 FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 5: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 6: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 7: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 8: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 9: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 10: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017) Interner Link: PDF 11: FakeFilter – Dem Fake auf der Spur (2017)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-07-17T00:00:00"
"2022-05-05T00:00:00"
"2023-07-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/webvideo/fakefilter/508043/begleittexte-als-pdfs/
Die Begleittexte zu den Videos können hier als PDF-Variante heruntergeladen werden.
[ "Fake Filter", "PDF" ]
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Verbände der im Bildungswesen Beschäftigten und Gewerkschaften | Bildung | bpb.de
Die im Bildungswesen beschäftigten Personen sind auf allen Ebenen des Bildungssystems in meist berufsgruppen- oder laufbahnspezifischen Interessenvertretungen organisiert. Im Bereich der Schulen z.B. existiert eine Vielzahl von Lehrerverbänden. Neben kleineren regionalen oder konfessionellen Verbänden gibt es hier drei größere Gruppen, die teils getrennt nach Schulformen, teils schulformübergreifend tätig sind. Sie gliedern sich in weitgehend autonome Landesverbände, die auf Bundesebene ihre Aktivitäten in relativ losen Dachorganisationen zu koordinieren suchen. Die einzelnen Verbände verfolgen in der Schulpolitik teilweise sehr unterschiedliche, mitunter gar entgegengesetzte Ziele. Diese interessenpolitische Zersplitterung erschwert es den Lehrerverbänden häufig, sich auf gemeinsame Positionen zu verständigen und Aktionsbündnisse zu schließen. Vor allem die größeren unter ihnen treten gegenüber der Öffentlichkeit, der Bildungsverwaltung, den Parteien und politischen Entscheidungsträgern als einflussreiche standespolitische Interessensgruppen auf. Sie sind in den Medien präsent, führen bildungspolitische Kongresse durch, organisieren Demonstrationen oder Streiks und pflegen gezielt den Kontakt zu Abgeordneten, Beamten der Ministerialverwaltung oder Regierungsmitgliedern. Mitgliederstärkster Verband ist die schulformübergreifende „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ (GEW). Sie vertritt unter den Lehrerverbänden die weitreichendsten Reformziele. So kritisiert sie den Bildungsföderalismus als Rückfall in die "Kleinstaaterei" und fordert stattdessen mehr Bildungskompetenzen für den Bund. Sie befürwortet nachdrücklich ein längeres gemeinsames Lernen sowie den Ausbau der Gemeinschaftsschulen. Den Beamtenstatus stellt sie zwar grundsätzlich nicht infrage, fordert aber ein Streikrecht auch für die verbeamteten Lehrkräfte. Eine deutliche Gegenposition nimmt der „Deutsche Lehrerverband" (DL) ein. Er ist der zweitgrößte Verband, in ihm haben sich vier schulformbezogene Lehrerverbände zusammengeschlossen: der "Deutsche Philologenverband e. V". (DPhV) für den Gymnasialbereich, der "Verband Deutscher Realschullehrer" (VDR), der "Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e. V." (VLW) und der "Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen e.V."(BLBS). Diese Verbände vertreten vor allem die Interessen und damit auch den Erhalt ihrer jeweiligen Schulform. Sie betonen die Vorzüge des Bildungsföderalismus, halten an der vierjährigen Grundschule sowie der Schulformengliederung in der Sekundarstufe fest und lehnen ein Streikrecht für verbeamtete Lehrkräfte entschieden ab. Drittgrößter Einzelverband ist der Verband Bildung und Erziehung (VBE), der schulformübergreifend insbesondere Lehrkräfte und sozialpädagogisch Beschäftigte an Grund-, Haupt-, Gesamt- und Sonderschulen, daneben aber auch Erzieherinnen und Erzieher vertritt. Der VBE nimmt in der Schulstrukturdebatte eher eine flexible Position ein. Er betrachtet das dreigliedrige Schulwesen als eine mögliche Schulorganisationsform, befürwortet bei regionalem Bedarf aber auch alternative Modelle, die ein längeres gemeinsames Lernen vorsehen. Das achtjährige Gymnasium (G8) bewertet er als eine Fehlentwicklung, am Bildungsföderalismus schätzt er den Wettbewerbsgedanken. Er fordert die Gleichwertigkeit der Lehrämter, besonders im Hinblick auf Besoldung und Beförderung. Außerdem hält er am Beamtenstatus als Regelbeschäftigungsart und am Streikverbot für verbeamtete Lehrer fest. Die Lehrerverbände sind zugleich auch die maßgeblichen Fachgewerkschaften in den großen Gewerkschaften. Ihren unterschiedlichen Interessenlagen entsprechend operiert die GEW unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), während der DL sowie der VBE dem Deutschen Beamtenbund (DBB) angehören. Der DGB bildet mit acht Einzelgewerkschaften und über 6 Millionen Mitgliedern die größte Dachorganisation, die alle Branchen und Wirtschaftsbereiche abdeckt. Zweitgrößte Einzelgewerkschaft ist die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die 2001 aus fünf verschiedenen Gewerkschaften entstand. Bei ver.di sind auch die Beschäftigten aus den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Forschung organisiert. In bildungspolitischen Fragen wird unter dem Dach des DGB meist eine mitgliederorientierte Arbeitsteilung praktiziert: Fragen der beruflichen Bildung und der Weiterbildung sind überwiegend eine Domäne des DGB selbst. Bei den Positionen zur Schulpolitik und im Elementarbereich dominiert die GEW, während ver.di im Hochschulbereich eine führende Rolle spielt. Grundsätzlich vertreten die einzelnen Mitgliedergewerkschaften weitgehend gleichlautende bildungspolitische Leitziele. Allerdings gibt es innerhalb des DGB mitunter auch abweichende Positionen. So befürwortet die GEW einen deutlichen Ausbau vollzeitschulischer Ausbildungsangebote, während der DGB die Vorteile der „dualen“ Ausbildung in Berufsschule und Betrieb betont. Wesentlich weniger koordiniert sind dagegen die bildungspolitischen Positionen innerhalb des deutschen Beamtenbundes (DBB), der mit über 1,2 Millionen Mitgliedern nach dem DGB die zweitgrößte Dachorganisation ist. Der DBB besteht aus 39 Fachgewerkschaften und Berufsverbänden des Öffentlichen Dienstes und des privaten Dienstleistungssektors. Die bildungspolitische Positionierung bleibt hier weitgehend eine interne Angelegenheit der Lehrerverbände. Der DBB selbst hält sich mit eigenen Stellungnahmen deutlich zurück und überlässt das bildungspolitische Feld praktisch in vollem Umfang den jeweiligen Bildungsgewerkschaften.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-16T00:00:00"
"2013-01-25T00:00:00"
"2021-12-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/153937/verbaende-der-im-bildungswesen-beschaeftigten-und-gewerkschaften/
Die im Bildungswesen Beschäftigten haben erheblichen Einfluss auf die Politik. Je nachdem, in welchen Bildungseinrichtungen sie arbeiten, haben sie allerdings unterschiedliche Interessen. Sie alle sind aber von bildungspolitischen Entscheidungen dire
[ "Bildung", "Bildungspolitik", "Bildungswesen", "Föderalismus", "Gewerkschaft", "GEW", "Zukunft Bildung", "Dossier Bildung", "Schule", "Erziehung", "Universität", "Studium", "Ausbildung", "Schulpolitik", "Lehrer" ]
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Gleichwertig, nicht gleich | Gleichwertige Lebensverhältnisse | bpb.de
Nicht zuletzt mit der Bundestagswahl 2017 und dem damit verbundenen Erstarken des Rechtspopulismus insbesondere in strukturschwächeren Wahlkreisen Ost- und Westdeutschlands ist die Frage der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" wieder auf die politische Agenda gerückt. Im Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode bekennt sich die Bundesregierung nachdrücklich zum Ausgleich von Unterschieden in den Lebensbedingungen. Eine eigens hierfür eingesetzte Kommission hat im Sommer 2019 Vorschläge für politische Maßnahmen vorgelegt, und auch im wissenschaftlichen Diskurs gewinnt das Thema zunehmend an Beachtung. Bislang ungeklärt ist allerdings, wie "Gleichwertigkeit" von Lebensverhältnissen in einem multidimensionalen Kriteriensystem zu definieren ist und welche Rolle der Staat beim Abbau von regionalwirtschaftlichen Unterschieden überhaupt einnehmen soll und kann. Vielfach ist die Diskussion geprägt von mehr oder minder normativen Vorstellungen "einheitlicher" (anstelle von gleichwertigen) Lebensbedingungen, gemessen häufig an Ergebnissen wirtschaftlicher Aktivität wie Beschäftigungssituation, Einkommen und Wirtschaftskraft einerseits und Ausstattung mit infrastrukturellen Einrichtungen andererseits. Dass einheitliche Lebensbedingungen aber beim Vorliegen unterschiedlicher regionaler Voraussetzungen kaum erreichbar sind, wird dabei häufig übersehen – "Gleichwertigkeit" kann insoweit nicht so interpretiert werden, dass es um die Herstellung "gleicher" Lebensbedingungen geht. Gesetzliche Grundlagen Das Ziel der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" ist in dieser Form seit 1994 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert (Art. 72 Abs. 2 GG) – allerdings nicht als Zielgröße politischen Handelns. Im Verfassungskontext ist es eher als Einschränkung der gesetzgeberischen Kompetenzen des Bundes zu interpretieren, da auf den in Artikel 72 Absatz 2 GG genannten Feldern der Bund nur dann Gesetze erlassen darf, wenn dieses aus Gründen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder der Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit erforderlich scheint, während der Bund auf den übrigen Feldern der konkurrierenden Gesetzgebung uneingeschränkt tätig werden kann. Eine Verpflichtung des Staates zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse mit Blick auf eine Mindestausstattung mit Einrichtungen und Leistungen der Daseinsvorsorge oder gar auf die Ergebnisse wirtschaftlichen Handels lässt sich daraus nicht ableiten. Und selbst die einfachgesetzlichen Regelungen des Raumordnungsgesetzes, von denen die Bundesländer nach Artikel 72 Absatz 3 GG abweichen können, formulieren nur die Leitvorstellung einer "dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen" (§1 Abs. 2 ROG), die durch "ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse" gekennzeichnet sei (§2 Abs. 2 Nr. 1 ROG). Es geht hierbei unter anderem um eine angemessene "Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge" (§2 Abs. 2 Nr. 3 ROG) und "eine langfristig wettbewerbsfähige und räumlich ausgewogene Wirtschaftsstruktur und wirtschaftsnahe Infrastruktur sowie (…) ein ausreichendes und vielfältiges Angebot an Arbeits- und Ausbildungsplätzen" (§2 Abs. 2 Nr. 4 ROG), vor allem durch eine Verbesserung der Entwicklungschancen strukturschwacher Räume. Die Verantwortung für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse obliegt somit grundsätzlich den Ländern, da diese Träger der Raumordnung sind (§13 ROG). Um dies im bundesweiten Kontext bewerkstelligen zu können, fordert Artikel 106 Absatz 3 GG eine aufgabengerechte und die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" wahrende Finanzausstattung der Länder. Im Verhältnis der Länder untereinander wird diese durch den Finanzausgleich zwischen den Ländern sowie ergänzende Zuweisungen des Bundes sichergestellt (Art. 107 GG). Unterschiede in den regionalen Lebensverhältnissen sind zumindest bei der öffentlichen Daseinsvorsorge, für die der Staat zuständig ist, nicht etwa auf unzureichende finanzielle Mittel einzelner Länder zurückzuführen, sondern Folge einer differierenden Prioritätensetzung in der Landespolitik. Empirische Aspekte Es fehlt nicht an (wissenschaftlichen) Arbeiten, die die Frage nach Unterschieden in den regionalen Lebensverhältnissen indikatorgestützt beantworten wollen: Hierbei wird gemeinhin ein vorgegebener Katalog von Kriterien herangezogen und die regionalen Ausprägungen mit einem normativ vorgegebenen Niveau (im Regelfall: dem Bundesdurchschnitt) verglichen. Die Probleme bestehen darin, dass es keinen allgemeinen Konsens darüber gibt, welche Indikatoren zur Messung von Lebensverhältnissen herangezogen werden sollen, und dass unklar ist, wie die verschiedenen Indikatoren gewichtet beziehungsweise aggregiert werden sollen. Strittig ist darüber hinaus, welche räumliche Bezugsebene zu wählen ist. Aus diesen Gründen sind alle vorliegenden Untersuchungen durch eine gewisse Willkür gekennzeichnet, sodass das Ergebnis oftmals eher die Vorstellungen der Urheber der Untersuchung und nicht unbedingt die Einschätzung der Menschen "vor Ort" widerspiegelt. Außerdem führt die Aggregation regelmäßig dazu, dass ungünstige Bedingungen in einzelnen Lebensbereichen durch günstige Ausprägungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden. Die Vorgehensweise kann deswegen insbesondere auch die Frage nicht klären, ob unterdurchschnittliche Ausstattungen zugleich auch einen Verstoß gegen die "Gleichwertigkeit" bedeuten, da hierfür zwingend eine Bewertung unterschiedlicher Lebensbedingungen gemäß der Präferenzen der dort lebenden Menschen erforderlich wäre. Wegen des Fehlens einer allgemein anerkannten Methodik zur Messung regionaler Lebensverhältnisse kann es nicht verwundern, dass einschlägige Untersuchungen hier zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wie die folgenden drei Beispiele zeigen. Das Bundesamt für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) stützt sich in seiner Bewertung der Lebensverhältnisse in den einzelnen Regionen Deutschlands auf insgesamt 23 Indikatoren aus den Bereichen Demografie, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Wohlstand, Infrastruktur und Wohnungsmarkt. Die einzelnen Indikatoren werden mit Ausnahme der Größen Bruttoinlandsprodukt je Einwohner und Arbeitslosenquote gleichgewichtet; aufgrund der unterschiedlichen Zahl der Indikatoren je Bereich ergibt sich jedoch eine implizite Höhergewichtung einzelner Bereiche. Die Untersuchungsebene bilden hier die sogenannten Kreisregionen, bei denen kreisfreie Städte mit ihrem jeweiligen Umland zusammengefasst werden. Entsprechend der Interpretation des BBSR sind die Lebensverhältnisse vor allem in Regionen im östlichen Mecklenburg-Vorpommern, im nördlichen und im westlichen Sachsen-Anhalt sowie in der Peripherie des Bundeslands Brandenburg gemessen am Bundesdurchschnitt als stark oder sehr stark unterdurchschnittlich einzuschätzen. In den westdeutschen Bundesländern trifft dies hingegen nur auf zwei Regionen zu (Herne, Stadt im Ruhrgebiet, sowie der Landkreis Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen). Hervorzuheben ist hierbei, dass das BBSR als einzige Institution auch berücksichtigt, wie viele Menschen in den durch unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse gekennzeichneten Regionen leben. In den Schlussfolgerungen der Vorsitzenden der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" werden 24 Indikatoren aus den Bereichen Demografie, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Infrastruktur und Soziales aufgelistet, die regionale Unterschiede in den Lebensbedingungen "auf der Ebene von Gemeinden, Städten und Kreisen" dokumentieren sollen. Der Bericht verzichtet aber auf eine Zusammenfassung dieser Größen zu einem Gesamtindikator und umgeht somit das angesprochene Aggregations- und Gewichtungsproblem. Damit kann aber auch nicht angegeben werden, in welchen Regionen insgesamt eher unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse vorliegen. Im Vordergrund steht die Ableitung von politischen Maßnahmen, mit denen in jedem einzelnen Bereich die Lebensbedingungen in den benachteiligten Regionen verbessert werden sollen; eine Priorisierung wird nicht vorgenommen. Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) zieht für seine Analyse zwölf Indikatoren aus den Feldern Wirtschaft, Demografie und Infrastruktur heran, die jeweils gleichgewichtet werden. Räumliche Untersuchungsebene ist hier die Ebene der Raumordnungsregionen. Anders als in den anderen Studien wird vom IW Köln dabei die Frage in den Vordergrund gerückt, welche anfänglich schwachen Regionen sich auch mittelfristig ungünstig entwickelt haben. Es geht also nicht primär darum, Regionen mit ungünstigen Lebensbedingungen zu identifizieren, sondern solche, die vom allgemeinen Trend steigenden Wohlstands abgekoppelt sind. Neben dem Ausgangswert eines jeden Indikators fließt auch dessen Veränderung im Zeitablauf in die Bewertung ein. Im Ergebnis identifiziert das IW Köln zum einen altindustrielle Regionen in Westdeutschland (unter anderem Ruhrgebiet, Saarland und Westpfalz sowie Bremerhaven) und zum anderen weite Teile Ostdeutschlands (unter anderem die brandenburgische und die sächsische Lausitz, Erzgebirge und Thüringer Wald sowie ganz Sachsen-Anhalt) als "gefährdete Regionen". Dabei dominieren im Westen wirtschaftliche Probleme, während die Schwäche im Osten vor allem demografische Ursachen hat. Anders als in der Öffentlichkeit vielfach vermutet, ist eine Zunahme regionaler Disparitäten nicht ohne Weiteres festzustellen: Der Untersuchung des BBSR zufolge hat sich die Zahl der Regionen mit unterdurchschnittlichen Lebensverhältnissen seit 2011 annähernd halbiert; auch die Studie des IW Köln, die sich explizit auf die Veränderung der Lebensverhältnisse bezieht, zeigt, dass in den allermeisten Regionen Deutschlands keine Verschlechterung seit dem Basisjahr 2011 eingetreten ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch das Ifo Institut mit Blick auf die materiellen Lebensverhältnisse der Menschen in den einzelnen Regionen – demnach ist lediglich bei demografischen Indikatoren ein zunehmendes Stadt-Land-Gefälle zu verzeichnen. Versucht man – bei aller Kritik an der konzeptionellen Vorgehensweise – ein gemeinsames Muster von Regionen mit unterdurchschnittlichen Lebensverhältnissen zu identifizieren, handelt es sich dabei entweder um altindustrielle Problemregionen, die den Niedergang ehemals strukturbestimmender Sektoren nicht durch den Aufbau neuer Wirtschaftszweige haben kompensieren können (Ruhrgebiet, Werftstandorte, Regionen in Ostdeutschland) oder um Regionen, die durch eine geringe Bevölkerungsdichte und dadurch verursacht durch eine Ausdünnung des Angebots an Einrichtungen und Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge geprägt sind (wie in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg). Unterschiedliche Vorlieben der Bevölkerung Grundsätzlich krankt die Diskussion um die Gleichwertigkeit regionaler Lebensverhältnisse daran, dass das Untersuchungsobjekt die Region ist, nicht aber die in einer Region lebenden Menschen. Leistungen der (öffentlichen) Daseinsvorsorge bestehen aus einem Bündel verschiedener Güter, die für die Bürger im Regelfall unterschiedlich bedeutsam sind: Während den einen kulturelle Angebote besonders wichtig sind, die es nur in der Stadt gibt, zieht es die anderen in den naturnahen ländlichen Raum. Daher lässt sich aus einer unterdurchschnittlichen Ausstattung mit bestimmten Daseinsvorsorgeleistungen nicht auf ein Defizit schließen. Vielmehr ist zu vermuten, dass zumindest auf lange Sicht die Bevölkerung ihren Wohnort entsprechend ihrer jeweiligen Präferenzen wählt – was bedeutet, dass die Vorteile einer umfassenderen Daseinsvorsorge in anderen Regionen aus Sicht der betroffenen Menschen nicht so groß sind, dass diese die Kosten eines Umzugs aufwiegen. Rein enumerative Auflistungen öffentlicher Leistungen und erst recht ihre Aggregation zu einem umfassenden Indikator zur Abbildung von Lebensverhältnissen sind daher vom Grundsatz her ungeeignet, eine Bewertung der Lebensbedingungen in einer Region vorzunehmen. Dies wurde im Übrigen bis vor Kurzem auch von der Politik so gesehen, die im Rahmen der Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages mehrheitlich festgestellt hat, dass "jeder Versuch, Wohlstand und Lebensqualität ‚objektiv‘ und abschließend zu bestimmen, (…) zum Scheitern verurteilt" ist. Die Enquetekommission zieht hieraus die Schlussfolgerung, dass "eine allgemeinverbindliche Festlegung jener Faktoren, die zum Wohlstand und zur Lebensqualität aller gehören" mit einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft unvereinbar wäre und die Politik deswegen lediglich die Bedingungen dafür schaffen kann, "dass jeder Mensch Wohlstand und Lebensqualität für sich verwirklichen kann". Politischen Vorschlägen, wie die "Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen" hergestellt werden kann, ist insoweit mit einem gewissen Misstrauen zu begegnen. Politische Schlussfolgerungen Ungeachtet all dieser Einwände gegen das Konzept "gleichwertige Lebensverhältnisse" ist wohl unstrittig, dass dem Staat eine Verantwortung zukommt, bestimmte öffentliche Güter allen Einwohnern eines Landes unabhängig von ihrem Wohnort zur Verfügung zu stellen. Man wird sich leicht darauf einigen können, dass zur grundlegenden Daseinsfürsorge die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, der Zugang zu grundständigen Bildungsangeboten und die Versorgung mit elementaren Gesundheitsdienstleistungen gehört. Da aus Kosten- und Effizienzgründen ein Teil dieser Angebote in Zentralen Orten räumlich konzentriert werden muss, bedarf es darüber hinaus auch öffentlicher Mobilitätsangebote, insbesondere im ländlichen Raum. In diesen vier Bereichen – die entsprechend der föderalen Aufgabenverteilung allerdings alle im Kompetenzbereich der Länder beziehungsweise der Kommunen liegen – muss ein flächendeckendes beziehungsweise wohnortnahes Angebot aufrechterhalten werden. Bei öffentlichen Leistungen, die über dieses Basisangebot hinausgehen, typischerweise aber auch seltener genutzt werden – wie kulturelle Angebote, weiterführende Schulen oder Fachkrankenhäuser – sind hingegen stärkere Eigenanstrengungen der Nutzer akzeptabel. Dies wird zum Beispiel dadurch erreicht, dass entsprechende Leistungen nur in Zentralen Orten höherer Kategorie angeboten werden, da für eine effiziente Leistungserstellung bestimmte Mindestnutzerzahlen erforderlich sind. Die Leistungsangebote bei der Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand müssen nicht notwendigerweise in tradierten Organisationsformen erbracht werden: Statt den Öffentlichen Personennahverkehr mit Bussen zu organisieren, die nach festem Fahrplan verkehren, könnten verstärkt nutzungsorientierte Modelle ("Anrufbussysteme") eingeführt werden. Auch müssen nicht alle grundständigen Gesundheitsdienstleistungen von Ärzten mit zwölfjähriger Facharztausbildung erbracht werden, sondern könnten beispielsweise auch durch Arzthelfer und Krankenschwestern bereitgestellt werden. Schulische Ausbildung im Primarbereich kann auch in jahrgangsübergreifendem Unterricht erfolgen. Große Chancen bietet überdies die Digitalisierung, die eine räumliche Trennung von Leistungsanbietern und -nutzern ermöglicht. Es gibt mit Blick auf die öffentliche Daseinsvorsorge inzwischen eine Vielzahl von Modellprojekten. Woran es jedoch hapert, ist die Überführung erfolgreicher Projekte in eine Regelförderung. Insoweit gibt es hier kein Erkenntnisproblem mehr, sondern ein Umsetzungsproblem. In ausgewählten Bereichen wäre es schließlich auch denkbar, anstelle des Vorhaltens eines flächendeckenden, jedoch unterausgelasteten Angebots an öffentlichen Daseinsvorsorgeleistungen ("Objektförderung") Menschen finanziell dafür zu entschädigen, dass sie auf bestimmte Leistungen in Wohnortnähe verzichten müssen ("Subjektförderung"). In jüngerer Zeit wird darüber hinaus vermehrt auch der Zugang zu schnellen Internet-Verbindungen zu den vom Staat zu gewährleistenden Daseinsvorsorgeleistungen gezählt, ähnlich wie die Versorgung mit Elektrizität oder Wasser. Tatsächlich ist dies in einer zunehmend digitalisierten Welt mehr und mehr eine Grundvoraussetzung sowohl für die Lebensqualität von Privathaushalten als auch für die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung von Unternehmen. Selbst wenn die Politik sich dafür entscheidet, einen Internetzugang flächendeckend gewährleisten zu wollen, bedeutet dies aber nicht gleichzeitig auch, dass für alle gleiche Netzgeschwindigkeiten gelten müssen. Vielmehr kann man diese von der Zahlungsbereitschaft der Nutzer abhängig machen: Für "konsumtive" Nutzungen reichen auch langsamere Verbindungsgeschwindigkeiten, die zu einem niedrigen Preis angeboten werden können; für schnellere Verbindungen können hingegen auch höhere Preise verlangt werden, sodass auf diese Weise zusätzliche Einnahmen für den Netzausbau generiert werden können. Zudem gilt auch hier, dass die Entscheidung für einen flächendeckend gewährleisteten Internetzugang nicht automatisch auch die Entscheidung für eine bestimmte Technologie impliziert. Vielmehr sollte die Versorgungsart (kabelgebundene versus funkgestützte Verbindungen; Glasfaser- versus Kupferkabel) den Versorgungsunternehmen überlassen bleiben. Die Bereitstellung von Arbeitsplätzen – und damit eine Angleichung der durchschnittlichen Markteinkommen – kann der Staat hingegen nicht garantieren. Um innovative, gutbezahlte Jobs zu schaffen, gibt es in Deutschland das etablierte Instrumentarium der regionalen Wirtschaftsförderung, unter anderem durch Reduzierung der Investitionskosten für Unternehmen bestimmter Wirtschaftszweige, durch Bereitstellung von Kapital für Unternehmensgründungen oder durch die Unterstützung der Unternehmen bei Forschung und Entwicklung. Der Beitrag zur Verbesserung der regionalen wirtschaftlichen Lage ist dabei allerdings ein eher indirekter, denn es bleibt offen, ob die Unternehmen auf diese staatlichen Anreize tatsächlich in der gewünschten Weise reagieren. Kein staatlicher Handlungsbedarf besteht schließlich bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die gemeinhin privatwirtschaftlich bereitgestellt werden, auch wenn es aus individueller Sicht problematisch sein kann, wenn kein wohnortnaher Zugang zu Einzelhandelsgeschäften oder gastronomischen Einrichtungen besteht. Zu derartigen "Versorgungslücken" kann es nur kommen, wenn die Nachfrage in einer Region für einen rentablen Betrieb derartiger Angebote nicht ausreicht – und es ist mit marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht vereinbar, wenn die Allgemeinheit dies durch eine entsprechende Subventionierung ausgleichen müsste. Vielmehr entspricht es dem Grundgedanken der Raumordnung in Deutschland, dass derartige Angebote in Orten mit ausreichendem Verflechtungsbereich gebündelt werden ("Grundzentren" im geltenden System der Zentralen Orte). Abgesehen davon, gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Beispielen dafür, wie die Grundversorgung "in der Fläche" auch durch ehrenamtliche oder genossenschaftliche Lösungen gesichert werden kann. Maßnahmen zur Herstellung gleicher (oder zumindest gleichwertiger) Lebensverhältnisse stehen schließlich in Konkurrenz zu anderen politischen Zielen. So kann es Zielkonflikte geben zwischen der Schaffung zusätzlichen (preisgünstigen) Wohnraums auf der einen Seite und umweltpolitisch motivierten Beschränkungen der Flächeninanspruchnahme auf der anderen Seite; eine bessere verkehrliche Erschließung in der Fläche kann in Konflikt mit einer klimapolitisch begründeten Einschränkung der individuellen Mobilität geraten; regionalpolitisch motivierte Förderpolitiken können dem Ziel eines höheren gesamtwirtschaftlichen Wachstums entgegenstehen. Letzten Endes ist es also eine politische Entscheidung, welche Leistungen der Daseinsvorsorge in welchem Umfang wo bereitgestellt werden sollen und auf welche öffentlichen Güter an anderer Stelle zu verzichten ist. Wenn aber Entscheidungsverantwortung und Finanzierungsverantwortung auseinanderfallen, steigen die Wünsche schnell ins Unermessliche. Dies spricht dafür, die Nutznießer von Maßnahmen zur Verbesserung der regionalen Lebensbedingungen zumindest anteilig an deren Finanzierung zu beteiligen. Und schließlich gilt, was auch in den Schlussfolgerungen der Vorsitzenden der Gleichwertigkeitskommission betont wird: Die regionale Vielfalt ist eine der Stärken, die die Bundesrepublik Deutschland auszeichnen. Nicht alles, was man bundeseinheitlich regeln kann, muss man auch bundeseinheitlich regeln. Regionale Vielfalt auch in den Angeboten der Daseinsvorsorge kann von Vorteil sein, wenn die regionalen Bedürfnisse unterschiedlich sind. Dies spricht dafür, die regionale Daseinsvorsorge weiterhin als Aufgabe von Ländern und Kommunen zu betrachten und in deren Entscheidungen auch die regionalen Präferenzen zu berücksichtigen. Nicht sinnvoll ist es hingegen, bundespolitisch vorzugeben, wie die Ausstattung der einzelnen Regionen mit Daseinsvorsorgeleistungen auszusehen hat. Vgl. CDU/CSU/SPD, Ein neuer Aufbruch für Europa, eine neue Dynamik für Deutschland, ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode, Berlin 2018, Tz. 5444–5479. Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) (Hrsg.), Unser Plan für Deutschland. Gleichwertige Lebensverhältnisse überall, Berlin 2019. In der von 1949 bis 1994 geltenden Fassung des Grundgesetzes war noch von der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" die Rede. Die Einschränkung auf bestimmte Felder gesetzgeberischen Handelns wurde 2006 in das Grundgesetz eingefügt. Auf Landesebene verpflichten lediglich die Verfassungen der Länder Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg und Bremen die Politik dazu, auf die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" in den einzelnen Teilregionen hinzuwirken. Siehe hierzu auch den Beitrag von Antonia Milbert in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 18/11263, 21.2.2017. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse findet sich unter Externer Link: http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumentwicklung/RaumentwicklungDeutschland/Projekte/abgehaengte-regionen/abgehaengte_regionen.html. Diese beiden Indikatoren gehen mit dem doppelten Gewicht in die Berechnung des Gesamtindikators ein. Vgl. BMI (Anm. 2), S. 10. Vgl. Michael Hüther/Jens Südekum/Michael Vogtländer (Hrsg.), Die Zukunft der Regionen in Deutschland, Köln 2019. Vgl. ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 107–109. Vgl. BT-Drs. 18/10951 (Anm. 7), S. 7. Vgl. Clemens Fuest/Lea Immel, Ein zunehmend gespaltenes Land?, in: Ifo Schnelldienst 16/2019, S. 19–28. Die nachfolgende Argumentation basiert in Teilen auf dem Beitrag von Joachim Ragnitz/Marcel Thum, Zur Debatte um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Was soll man tun und was nicht?, in: Ifo Dresden berichtet 2/2019, S. 3ff. Abschlussbericht der Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft", BT-Drs. 17/13300, 3.5.2013, S. 234. Ebd., S. 235. Das "Zentrale-Orte-Konzept" ist in den Grundsätzen der Raumordnung in Deutschland (§2 ROG) verankert. Unterschieden werden in diesem Konzept Grund-, Mittel- und Oberzentren, die in abgestufter Form bestimmte Infrastruktureinrichtungen und (öffentliche) Dienstleistungen bereitstellen sollen. Vgl. Enquetekommission "Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder", Abschlussbericht, Landtagsdrucksache 4/13000, 30.9.2008, S. 273f. Vgl. BMI (Anm. 2), S. 9. Vgl. hierzu auch das Plädoyer zu mehr regionaler Eigenverantwortung bei Joachim Ragnitz/Felix Rösel/Marcel Thum, Der Graben zwischen Ost und West – welche Politik hilft gegen Ungleichheit?, in: Ifo Schnelldienst 16/2019, S. 3–6.
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, Joachim Ragnitz | , Marcel Thum
"2022-02-16T00:00:00"
"2019-11-06T00:00:00"
"2022-02-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/300052/gleichwertig-nicht-gleich/
Der Staat muss bestimmte öffentliche Güter allen Einwohnern eines Landes unabhängig von ihrem Wohnort zur Verfügung stellen. Über diese Grundversorgung hinaus gibt es unterschiedliche regionale Präferenzen und Voraussetzungen, die schwerlich bundesei
[ "gleichwertige Lebensverhältnisse", "Gleichwertigkeit", "Demokratie", "Ungleichheit", "Raumordnung", "Raumplanung", "Deutsche Einheit" ]
30,859
Analyse: "Emigration mit Verantwortung": Die Aktivitäten russischer demokratisch orientierter Migrant:innen und ihre Reaktionen in der EU auf Russlands Krieg gegen die Ukraine | Russland-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Als Reaktion auf den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat sich eine Reihe emigrierter russischer Dissident:innen in Europa gegen den Krieg engagiert. Die unterschiedlichen Antikriegs-Aktivitäten russischer Migrant:innen lassen sich insgesamt in drei Dimensionen unterteilen: eine symbolische (Antikriegs-Demonstrationen, neue russische Symbole), materielle Hilfe (finanzieller und nicht finanzieller Art) für Ukrainer:innen und ukrainische Flüchtende sowie eine informationelle Dimension (Gegen-Propaganda und investigativer Journalismus). Die Migrantenorganisationen und die Personen, die sich bei diesen Aktivitäten engagieren, bilden zudem das Rückgrat einer eventuellen zukünftigen Annäherung zwischen den Gesellschaften in der Ukraine, in Europa und in Russland. Als Reaktion auf den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat sich eine Reihe emigrierter russischer Dissident:innen in Europa gegen den Krieg engagiert. Die unterschiedlichen Antikriegs-Aktivitäten russischer Migrant:innen lassen sich insgesamt in drei Dimensionen unterteilen: eine symbolische (Antikriegs-Demonstrationen, neue russische Symbole), materielle Hilfe (finanzieller und nicht finanzieller Art) für Ukrainer:innen und ukrainische Flüchtende sowie eine informationelle Dimension (Gegen-Propaganda und investigativer Journalismus). Die Migrantenorganisationen und die Personen, die sich bei diesen Aktivitäten engagieren, bilden zudem das Rückgrat einer eventuellen zukünftigen Annäherung zwischen den Gesellschaften in der Ukraine, in Europa und in Russland. Russland auf der Suche nach Freiheit verlassen Eine der Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, bestand in der Auswanderung von russischen Regimekritiker:innen und Gegner:innen der russischen militärischen Aggression. Dieser drastische Anstieg politisch motivierter Emigration ist Teil eines breiteren und schon länger bestehenden Phänomens, bei dem demokratisch orientierte Russ:innen vor der Wahl standen und stehen, Russland zu verlassen oder die Konsequenzen für ihre politische Haltung zu tragen. Die Reaktion von Putins Regime auf die Massenproteste gegen die gefälschten Wahlen von 2011 und 2012 hat zu einer Spirale der Repression gegen Andersdenkende und zu einer zunehmenden Welle politisch motivierter Migration aus Russland geführt. Diese Migrationswelle umfasst eine ganze Reihe von Personengruppen: Journalist:innen, politische und gesellschaftliche Aktivist:innen, Angehörige ethnischer, sexueller oder religiöser Minderheiten, Regimekritiker:innen und selbst jene, die nur einmalig an öffentlichen Massenprotesten teilgenommen hatten. Sie wollen einfach einer Drangsalierung durch die Behörden oder einer Inhaftierung entrinnen. Die Inhaftierung von Alexej Nawalnyj 2019 und die anschließende Verfolgung der Aktivist:innen von Nawalnyjs Antikorruptionsstiftung löste einen weiteren sprunghaften Anstieg der politisch motivierten Emigration aus, welcher nun die jüngste Auswanderungswelle von russischen Kriegsgegner:innen folgt. Was die Angehörigen dieser jüngsten Runde politischer Emigration vereint, die von vielen Wissenschaftler:innen als "fünfte Welle" bezeichnet wird, ist die Opposition gegen die Vergehen des Regimes im Kreml, die Angst vor Verfolgung und das Gefühl, dass man in Russland nichts tun könne. Generell ist zwar anzunehmen, dass die Abwanderung aktiver, demokratisch gesonnener Bürger:innen zu einer weiteren Zementierung des autoritären Regimes beiträgt. Dennoch belegt die Erfahrung vieler, die Russland verlassen haben, das Gegenteil. Die Forschung zeigt, dass trotz Emigration viele russische Migrant:innen in der Lage sind, über Grenzen hinweg prodemokratische zivilgesellschaftliche oder politische Aktivitäten fortzuführen oder anzustoßen. Es ist zwar nahezu unmöglich, eine zuverlässige quantitative Analyse zu den russischen Migrant:innen in der EU oder gar zum demokratisch eingestellten Teil von ihnen anzustellen, weil die verschiedenen Datenquellen nicht ausreichend oder widersprüchlich sind. Allerdings gibt uns eine qualitative Analyse des Verlaufs, der Mechanismen und der Bandbreite der politischen Einstellungen sowie der damit verbundenen Verhaltensmuster eine Vorstellung von der jüngsten politisch motivierten Emigration aus Russland an die Hand. Die Gemeinschaft der russischen Migrant:innen in den Mitgliedstaaten der EU ist in vielerlei Hinsicht divers, auch in Bezug auf die politische Orientierung. Dort leben dissidentische Migrant:innen aus Russland neben kremltreuen und jenen, die anscheinend apolitisch sind. Letzteres wird allerdings in dem aktuellen polarisierten Kontext zunehmend schwierig. Diese Analyse konzentriert sich vor allem auf das zivilgesellschaftliche und politische Engagement als Reaktion auf den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine; den Kontext bilden hierbei prodemokratische Aktivitäten der russischen Migrant:innen im vergangenen Jahrzehnt. Prodemokratische Aktivitäten russischer Migrant:innen in der EU Die relative Sicherheit, die die EU bietet, der Zugang zu europäischen Eliten und der öffentlichen Meinung dort sowie das Fehlen von Geldquellen in Russland hat viele russische Migrant:innen dazu gebracht, sich in unterschiedlicher Form gegen das Putin-Regime und für Demokratie zu engagieren. Die genaue Anzahl demokratisch orientierter russischer Migrant:innen im Allgemeinen oder jener, die sich aktiv für Demokratie und gegen das Regime engagiert haben, ist nur schwer abzuschätzen. Bis 2019 sind in den EU-Staaten nicht weniger als 20 NGOs und 30 Medien von demokratisch eingestellten Russ:innen gegründet worden. Als Reaktion auf den Krieg von 2022 sind neue Initiativen aus dem Boden geschossen. Darüber hinaus haben es einige russische prodemokratische Aktivist:innen geschafft, ihre Organisationen, deren Filialen oder ihre Medien, an neue Standorte zu verlegen. Andere wiederum haben ihr prodemokratisches Engagement für Russland fortgeführt und sich dazu europäischen Organisationen oder Institutionen angeschlossen. In einigen Fällen ist es ihnen gelungen, für in Russland ansässige Institutionen weiterzuarbeiten. Noch andere haben sich für ein individuelles Engagement entschieden, etwa für eine Teilnahme an Protesten, für Spenden, das Führen von Blogs usw. Bald nach der Emigrationswelle, die 2012 einsetzte, hat sich bei russischen migrantischen Aktivist:innen die Vorstellung verbreitet, dass "Emigration nicht verantwortungslos sein muss". Dabei geht es um die Überzeugung, dass emigrierte Aktivist:innen die Pflicht haben, sich im Ausland gegen das Regime im Kreml zu engagieren und ihre Solidarität mit der russischen Zivilgesellschaft und der ukrainischen Gesellschaft zu zeigen. Zu den thematischen Bereichen des prodemokratischen Engagements russischer Migrant:innen in der EU gehören: freie und faire Wahlen, Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten, Korruptionsbekämpfung, Umweltschutz und das Vorgehen gegen russische staatliche Propaganda. Seit der Annexion der Krim 2014 und Russlands Krieg im Donbas sowie seit dem aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine gehört hierzu auch das Engagement gegen Krieg. Dieser Beitrag konzentriert sich auf letzteres. Der jüngste Akt russischer militärischer Aggression gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, ist in der EU und weltweit zu einem wichtigen Katalysator für die Mobilisierung demokratisch gesonnener Russ:innen geworden. Neben dem starken Solidaritätsgefühl für die Ukraine und deren Bevölkerung gerät dies fast zu einer Art Selbsttherapie, um das Gefühl der Schuld und der Hilflosigkeit zu verarbeiten. Russ:innen in Europa gegen den Krieg: drei Dimensionen des Engagements Die verschiedenen Aktivitäten von russischen Migrant:innen gegen den Krieg können insgesamt in drei Dimensionen unterteilt werden: eine symbolische, eine materielle (finanziell wie nicht finanziell) und eine informationelle. Zur symbolischen Dimension gehören konkrete Schritte, die eine intensive Opposition zum Vorgehen ihres Heimatlandes demonstrieren sollen, insbesondere Protestmärsche und andere öffentliche Veranstaltungen. Die Botschaften auf den Plakaten und Bannern, die russische Migrant:innen durch europäische Städte trugen, lauteten beispielsweise: "Ich bin Russe und gegen den Krieg!", "Putin ist nicht Russland", "Stoppt Putins Krieg" oder "Ukraine, vergib uns!". Die Urheber:innen des neuen Symbols eines zukünftigen demokratischen und friedlichen Russlands, der weiß-blau-weißen Flagge, sind nur schwer zu identifizieren. Es gibt eine Reihe von im Ausland lebenden Russ:innen, die mit dieser Idee und ihrer Verbreitung in Verbindung gebracht werden, insbesondere die in Berlin lebende Designerin Kai Katonina. Auf jeden Fall ist die weiß-blau-weiße Flagge bereits dermaßen zu einem wichtigen international erkennbaren Symbol für russische Migrant:innen geworden, die sich gegen den Krieg wenden, dass sie von den russischen Behörden als extremistisches Symbol verboten wurde. Die Idee dahinter ist, dass die ursprüngliche weiß-blau-rote Trikolore der Russischen Föderation als Symbol für Blutvergießen, Unterdrückung und Totalitarismus moralisch unwiederbringlich kompromittiert ist. Durch die Entfernung des Blutroten distanziert sich der prodemokratische Teil der russischen Gesellschaft symbolisch vom blutrünstigen Regime in Russland und kann sich unter einem neuen, positiven Symbol zusammenschließen. Die sozialen Medien stellen ebenfalls eine wichtige Bühne für russische Migrant:innen dar, um ihre Opposition zu Russlands Krieg zum Ausdruck zu bringen. Dort können sie Antikriegsgruppen beitreten, Profilfotos mit der ukrainischen Flagge unterlegen, Antikriegs-Posts schreiben sowie Memes teilen und sich an Online-Diskussionen beteiligen. Die sozialen Medien bieten die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Mobilisierung und zur Zusammenarbeit von prodemokratischen und gegen den Krieg eingestellten Russ:innen. So fanden beispielsweise vom 7. bis 10. April 2022 in über 20 europäischen Städten koordinierte Antikriegs-Aktionen statt, die von Initiativgruppen russischer Migrant:innen organisiert und durchgeführt wurden. Die zweite Dimension ist die materielle (und somit ganz praktische). Hierzu gehört sowohl finanzielle und andere materielle Hilfe wie auch freiwillige Unterstützung an den Grenzübergängen, Flüchtlingsaufnahmezentren und anderen staatlichen oder kommunalen Institutionen, die für die Unterbringung und Unterstützung Geflüchteter zuständig sind. Russische Migrant:innen sind aktiv gewesen, um Geld zu sammeln und humanitäre Hilfe für die Ukraine zu organisieren, die versucht, die russische Invasion abzuwehren. Sie helfen ukrainischen Fliehenden, aus den kriegsgeplagten Städten herauszukommen, organisieren Hilfe an der Grenze und nehmen ukrainische Flüchtlingsfamilien bei sich auf. Einige russische Migrant:innen mit der entsprechenden beruflichen Qualifikation geben ukrainischen Geflüchteten kostenlose psychologische, medizinische und rechtliche Hilfe oder Unterstützung als Dolmetscher:in oder Übersetzer:in. Zu den Akteur:innen gehören bereits etablierte Organisationen wie auch ad hoc gestartete informelle Initiativen und einzelne Freiwillige, beispielsweise "Russ:innen für die Ukraine" (Warschau). Ein weiteres Beispiel materieller Hilfe, das zudem eine symbolische Dimension hat, sind Stipendien für ukrainische Studierende. Zu nennen sind hier die Boris-Nemzow-Stiftung (Bonn), die Zimin-Stiftung und die Kunstfakultät der Karls-Universität, die fünf zweijährige Stipendien für junge Ukrainerinnen anboten, die sich aktuell in keinem Universitätsprogramm befanden. Neben der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine und für die militärischen Verteidigungsanstrengungen der Ukraine bieten russische prodemokratische Migrant:innen Hilfe für Russ:innen, die gezwungen sind, ihr Land wegen ihrer politischen Einstellung, ihrer Haltung gegen den Krieg oder ihrer beruflichen oder zivilgesellschaftlichen Betätigung zu verlassen. Hierzu gehört die Unterstützung bei der Ausreise aus Russland, der Legalisierung des Aufenthalts im Ankunftsland und bei der Ansiedlung in einem neuen Staat. Von Bedeutung sind auch Strukturen und Netzwerke zur Mobilisierung nach der Ankunft in der relativen Sicherheit der EU oder in anderen Staaten wie etwa Georgien. Die Dimension im Bereich der Informationsverbreitung und Kommunikation umfasst die Aktivitäten russischer Journalist:innen, Kommentator:innen und Wissenschaftler:innen, die Russland verlassen haben. Diese Dimension zielt darauf ab, das russische Publikum über die Entwicklungen im Krieg, die tatsächliche Rolle der Russischen Föderation, die militärischen Aktivitäten und über Kriegsverbrechen zu informieren, um der russischen staatlichen Propaganda und Desinformation entgegenzuwirken. Auch soll die ukrainische und europäische Öffentlichkeit darüber informiert werden, dass die russische Gesellschaft hinsichtlich einer Unterstützung für den Krieg keineswegs einhellig ist. Eine dieser emigrierten Journalist:innen, die in Warschau ansässige Oxana Baulina, hat für ihre Arbeit mit dem Leben bezahlen müssen. Sie wurde durch eine russische Rakete getötet, als sie für denInsider an einem Bericht aus einem zuvor bombardierten Kyjiwer Stadtteil arbeitete. DerInsider ist eine 2013 gegründete unabhängige Online-Zeitung, die auf investigativen Journalismus, Faktenchecks und politische Analyse spezialisiert ist. Ein weiteres Beispiel für informationelle Aktivität und investigativen Journalismus ist das ProjektScanner , dessen Aktivist:innen (von denen viele in der EU ansässig sind) die Ergebnisse ihrer Recherchen veröffentlichen, bei denen es um grenzüberschreitende Korruption (u. a. im Zusammenhang mit der Finanzierung des Krieges) geht. Ist dieses Engagement relevant? Warum nun sind diese Aktivitäten wichtig, wo sie doch nur von einer Handvoll russischer Migrant:innen unternommen werden, während gleichzeitig russische Migrant:innen entweder passiv sind oder den Krieg gar offen unterstützen? Einer der Gründe ist darin zu sehen, dass dies letztendlich zum Sturz des autokratischen Regimes in Russland beitragen könnte. Ein weiterer Grund ist, dass damit einem nationalistischen, xenophoben und militaristischen Engagement der russischen Diaspora entgegengewirkt wird, insbesondere in bestimmten EU-Staaten wie Deutschland und Lettland. Zudem bilden diese Aktivitäten das Rückgrat einer eventuellen zukünftigen Annäherung zwischen der ukrainischen, der europäischen und der russischen Gesellschaft. Russische Migrant:innen agieren nicht in einem Vakuum, sondern kooperieren mit europäischen und ukrainischen Freiwilligen, Organisationen und Medien. Während man in Russland mit einem Antikriegs-Engagement seine Freiheit oder gar sein Leben riskiert, ist es in der relativen Sicherheit von Resident:innen in EU-Mitgliedstaaten leichter, Putins Regime zu kritisieren und dessen Opfer zu unterstützen. Zudem ist es für die demokratischen Gesellschaften der EU-Staaten von sehr großer Bedeutung, dass dort die Stimmen von Migrant:innen präsent sind. Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder Quellen / Literatur Joanna Fomina (2022) Political Dissent and Democratic Remittances. The Activities of Russian Migrants in Europe. London: Routledge, Externer Link: https://www.routledge.com/Political-Dissent-and-Democratic-Remittances-The-Activities-of-Russian/Fomina/p/book/9780367551834. OK Russians. Externer Link: https://okrussians.org/ (s. auch die Dokumentation hierzu in dieser Ausgabe). Olga Romanowa (2022) Unsere Schuld, unsere Verantwortung. Die Zeit, 06. April 2022, Externer Link: https://www.zeit.de/kultur/2022-04/russland-schuld-verantwortung-ukraine-krieg. The Insider (2022) Oksana Baulina, a journalist for The Insider, dies under fire in Kyiv after a rocket strike on a shopping center in Podil, 23. März 2022, Externer Link: https://theins.ru/en/news/249571. Russians for Ukraine. Externer Link: https://rfu2022.org/en/. Zygar, Mikhail (2022) Oppositionelle verlassen Russland. Sie wissen, dass sie verflucht werden. Der Spiegel, 13.03.2022, Externer Link: https://www.spiegel.de/ausland/oppositionelle-verlassen-russland-sie-fliehen-und-wissen-dass-sie-verflucht-werden-a-ad00284e-ab2f-474a-861e-cf143415c230. Joanna Fomina (2022) Political Dissent and Democratic Remittances. The Activities of Russian Migrants in Europe. London: Routledge, Externer Link: https://www.routledge.com/Political-Dissent-and-Democratic-Remittances-The-Activities-of-Russian/Fomina/p/book/9780367551834. OK Russians. Externer Link: https://okrussians.org/ (s. auch die Dokumentation hierzu in dieser Ausgabe). Olga Romanowa (2022) Unsere Schuld, unsere Verantwortung. Die Zeit, 06. April 2022, Externer Link: https://www.zeit.de/kultur/2022-04/russland-schuld-verantwortung-ukraine-krieg. The Insider (2022) Oksana Baulina, a journalist for The Insider, dies under fire in Kyiv after a rocket strike on a shopping center in Podil, 23. März 2022, Externer Link: https://theins.ru/en/news/249571. Russians for Ukraine. Externer Link: https://rfu2022.org/en/. Zygar, Mikhail (2022) Oppositionelle verlassen Russland. Sie wissen, dass sie verflucht werden. Der Spiegel, 13.03.2022, Externer Link: https://www.spiegel.de/ausland/oppositionelle-verlassen-russland-sie-fliehen-und-wissen-dass-sie-verflucht-werden-a-ad00284e-ab2f-474a-861e-cf143415c230.
Article
Joanna Fomina (Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau)
"2022-05-30T00:00:00"
"2022-05-23T00:00:00"
"2022-05-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-420/508563/analyse-emigration-mit-verantwortung-die-aktivitaeten-russischer-demokratisch-orientierter-migrant-innen-und-ihre-reaktionen-in-der-eu-auf-russlands-krieg-gegen-die-ukraine/
Eine Reihe emigrierter russischer Dissident:innen in Europa engagiert sich gegen den Krieg. Diese Aktivitäten könnten für eine zukünftige Annäherung der ukrainischen, europäischen und russischen Gesellschaft sorgen.
[ "Russland", "Russland", "Russland", "Russlands Angriffskrieg 2022", "Migration", "Zivilgesellschaft", "Proteste" ]
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Haushaltsplanung durch Bürgerräte? | News Bürgerhaushalt | bpb.de
Sie scheinen sich gegenüberzustehen, die beiden Verfahrensmöglichkeiten, jede mit ihren eigenen Fürs und Widers: Auf der einen Seite Bürgerhaushalte und Bürgerbudgets, bei denen jeder und jede seine Ideen und Vorschläge einreichen kann, dann wird ausgewählt und – ganz grob gesagt - die Politik setzt um. Eine Möglichkeit, an der sich alle – im Ideal: die gesamte Bevölkerung – beteiligen können. Und auf der anderen Seite haben wir die Idee, Bürgerräte einzusetzen: Eine Gruppe von mindestens einem Dutzend, maximal 120 Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen, ausgewählt per Los - somit nicht nur bio-deutsch, mittleren Alters, männlich und gebildet. Die arbeiten dann länger zusammen, können miteinander debattieren, hören einander zu und häufen Wissen an, das sie zum Wohl aller einsetzen … Was bedeutet diese Alternative für Beteiligungsmöglichkeiten wie Bürgerhaushalte und Bürgerbudgets, steht da nicht vielleicht doch ein grundsätzlicher Wechsel in der Herangehensweise an? – Darüber diskutierten beim Jahrestreffen des Netzwerks Bürgerhaushalt 2022 im Rahmen des Externer Link: D3-Kongresses nicht nur Volker Vorwerk (Externer Link: buergerwissen) und Jörg Sommer (Externer Link: Berlin Institut für Partizipation, bipar), sondern auch einige der gut 60 Teilnehmenden am Panel „Haushaltsplanung durch Bürgerräte?“. Die offenen Beteiligungsverfahren haben ihre „Macken“, sind für Kommunen aufwändig, schwierig zu handhaben und zwingen womöglich zum Umdenken, weil auf einmal Fachfremde mitmischen. Bürgerräte sind „in“, erhalten derzeit positive Presse und sind auch bei Politiker:innen beliebter als die mühsamen „großen“ Beteiligungsverfahren mit ihren Unwägbarkeiten – sind sie vielleicht nur der bequemere Weg, der just aus diesem Grund gehyped wird? Ganz und gar nicht, die Arbeit im Bürgerrat kann richtig begeisternd sein, so ein Mitglied des Bürgerrats Mehr Demokratie: Die Menschen bringen sich ein, diskutieren, haben Zeit einander zuzuhören – eine intensive Arbeit, die eine Lücke zwischen Bürger:innen und Politik schließt. Und auch aus Gelsenkirchen kamen positive Erfahrungen: Dort sitzen in Bürgerräten und Foren zu bestimmten Themen neben der Verwaltung auch unterschiedlichste Multiplikator:innen - so lässt sich für fast jedes Anliegen gemeinsam eine Lösung finden. Bis es so weit kommen kann, steht aber auch eine richtige Ochsentour auf dem Programm: Per Losverfahren werden Personen oft aus einem regionalen Kreis ausgewählt, die dann um ihre Mitwirkung im Bürgerrat gebeten werden. Das kann durchaus zur frustrierenden „Bettel-Arbeit“ werden, wie Jörg Sommer es nennt: 20 Leute anschreiben, bis mal einer Interesse hat – das komme gar nicht selten vor. Zähigkeit und gute Öffentlichkeitsarbeit ist also auch hier gefragt. Außerdem seien die Bürgerräte – auch wenn man versuche, aus wirklich möglichst allen Bevölkerungsgruppen Mitglieder zu werben – dennoch nicht repräsentativ für die Bevölkerung, die sie vertreten sollen, so ein Argument Volker Vorwerks gegen die festen Gremien: Schließlich repräsentiere niemand nur „Frauen“, „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „Senioren“, und in welcher Rolle jemand dann agiert, sei ja nicht vorhersehbar. Dann doch lieber die breite Beteiligung – oder zumindest Beteiligungsmöglichkeit! Dass die nicht per Fingerschnippen zu erreichen ist: keine Frage. Ohne Moderation, ohne aktive Öffentlichkeitsarbeit geht gar nichts – und das kostet auch. Eine feste halbe Stelle wurde genannt, um ab einer mittelgroßen Kommune das Verfahren zu bewerben und zu moderieren, Vorschläge zu prüfen, in Kontakt mit der Öffentlichkeit zu bleiben. Plus einmalig mehrere tausend Euro für eine entsprechende Internetplattform, die alles online abbildet und weitere Beteiligung ermöglicht. Teils mache es auch Sinn, beide Beteiligungsarten – offene Bürgerhaushalte bzw. -budgets und vergleichsweise kleine, dafür festere Bürgerräte – zu kombinieren: So können Bürgerräte beispielsweise die Auswahl eingegangener Vorschläge in Funktion einer Redaktion eingrenzen helfen. Wichtig, da waren sich Sommer und Vorwerk einig, sind aber schlanke, gut durchschaubare Verfahren: Komplizierte Konstruktionen seien meist zum Scheitern verurteilt, so die Erfahrung. Mit bösen Folgen - Frust auf allen Seiten und oft genug die Einstellung des gesamten Verfahrens, weil es ja nicht funktioniert. Wenn es aber funktioniert, wenn die unterschiedlichen Mitbestimmungs-Arten gut zusammenspielen und eine überzeugte Verwaltung eine aufwändige Öffentlichkeitsarbeit nicht scheut, kommen langfristige und tragfähige Ergebnisse heraus. Beispiele gibt es einige, auch hierzulande: Von Stuttgart bis Berlin-Lichtenberg gehören einige der Kommunen mit einer wirklich langen Tradition in Sachen Haushalts-Mitsprache zu den Freunden einer Kombination unterschiedlicher Wege zum Ziel „Beteiligung“.
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Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt - Susanne Wolkenhauer
"2022-12-13T00:00:00"
"2022-12-12T00:00:00"
"2022-12-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/516287/haushaltsplanung-durch-buergerraete/
Soll sich über Bürgerhaushalte und -budgets wirklich jede:r in die Finanzplanung einbringen können? Oder sind (geloste) Bürgerräte als Vertretung aller Bevölkerungsgruppen die bessere Idee? - Eine angeregte Diskussion beim Netzwerk-Jahrestreffen 2022
[ "Bürgerhaushalt – Bürgerbudget", "Netzwerktreffen Bürgerhaushalt", "Diskussion", "Bürgerrat", "Losverfahren" ]
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Praxis: Berichten über das Unglück | Lokaljournalismus | bpb.de
11.März 2009: An seiner Schule und auf seiner späteren Flucht tötet ein 17-jähriger Schüler im baden-württembergischen Winnenden 15 Menschen und schließlich sich selbst. Die Redaktion des ansässigen Waiblinger Zeitungsverlags wird auf eine schwere Probe gestellt: Wie kann sie über das Unglück berichten, obwohl sie selbst betroffen ist? Wie kann sie berichten, ohne Schaden anzurichten? Denn Bewohner, Betroffene und Angehörige befinden sich angesichts des Unglücks im Schock. Als Gegenentwurf zum sensationsgetriebenen Verhalten einiger angereister Medienvertreter wählt die Redaktion vor Ort ihren Weg. Sie formuliert Regeln für die Berichterstattung - mit Respekt und Rücksicht vor den Opfern. Im Video-Interview schildern die Journalistinnen und Journalisten ihre journalistische Arbeit und die Aufarbeitung der Ausnahmesituation. Der Beitrag wurde produziert für das Externer Link: Forum Lokaljournalismus 2011 in Waiblingen. Produktion Journalistenbüro Röhr:Wenzel Produktionsjahr 2010
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-01-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/152904/praxis-berichten-ueber-das-unglueck/
Als das baden-württembergische Winnenden vom Amoklauf eines Schülers erschüttert wird, muss die Lokalredaktion sich entscheiden: Wie kann sie berichten?
[ "Respekt", "Lokaljournalismus", "Trauma", "Langzeit-Trauma", "Medienethik", "Amoklauf", "Winnenden", "Waiblingen" ]
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Das Sprechen über den Islam | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Antimuslimischer Rassismus". "Man muss kritisch über den Islam reden!" sagen die einen – schließlich seien Islamismus, islamisch legitimierte Repression gegenüber Frauen und Homosexuellen sowie islamisch artikulierter Antisemitismus reale gesellschaftliche Probleme, die nicht beschwiegen werden dürften; und überhaupt sei Kritik an Religion legitim. "‚Islamkritik‘ ist gefährlich!" sagen die anderen – schließlich werde unter dem Label "Islamkritik" seit vielen Jahren rassistische Hetze betrieben und Musliminnen und Muslime hätten in Deutschland ohnehin schon unter Stigmatisierung und Diskriminierung zu leiden. Paradoxerweise haben in dieser Kontroverse beide Seiten recht: Ja, es gibt unter Musliminnen und Muslimen in Deutschland reale Probleme, die "etwas mit dem Islam zu tun" haben und die in der demokratischen Öffentlichkeit Gegenstand der Kritik sein sollten. Und ja, es gibt systematische Hetze und Diskriminierung – sowohl gegen Musliminnen und Muslime als auch gegen all diejenigen, die fälschlich als solche gelesen beziehungsweise markiert werden. Verschärft wird das Problem dadurch, dass diese Hetze und Diskriminierung oftmals gerade durch Verweise auf reale Probleme gerechtfertigt werden. Somit werden die Konflikte über die angemessene Form öffentlicher Islamdebatten zwar oft unnötig polemisch ausgetragen, ihnen liegt aber ein reales Dilemma zugrunde. Jedes öffentliche Sprechen über islambezogene Themen bewegt sich in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite gibt es reale Probleme, die nicht beschwiegen oder schöngeredet werden sollten; auf der anderen Seite gibt es eine systematische Stigmatisierung und Marginalisierung von Musliminnen und Muslimen und jede "Islamkritik" läuft Gefahr, diese zu verstärken. Dieses Dilemma besteht in allen gesellschaftlichen Sphären, in denen Diskussionen stattfinden – in Talkshows, in sozialen Medien, in Klassenzimmern, beim Mittagessen, auf Schulhöfen, in der Zeitung und so weiter – und es wird auf absehbare Zeit fortbestehen. Die öffentliche Debatte kann dieses Dilemma nicht auflösen, sie kann es nur reflektieren und sich dann entsprechend dazu verhalten. Will man sich reflektiert verhalten, hilft es, ein Verständnis davon zu haben, wann das "kritische" Sprechen über Probleme in einer Minderheit selbst problematisch wird und wie man dieses Problematische erfassen kann. Dafür grenze ich im Folgenden drei Konzepte voneinander ab: erstens Islamfeindlichkeit als Vorurteil, zweitens antimuslimischer Rassismus als diskursiv konstituiertes Dominanzverhältnis und drittens das Konzept einer systematischen Verzerrung von Islamdebatten. Islamfeindlichkeit als Vorurteil Die in der deutschsprachigen Forschung am weitesten verbreitete Herangehensweise erfasst das Problem als ein Vorurteil – dann wird zumeist nicht von antimuslimischem Rassismus, sondern von Islamfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit oder bisweilen auch von Islamophobie gesprochen. Ein Vorurteil wird üblicherweise durch drei Eigenschaften bestimmt: Vorurteile sind Einstellungen gegenüber einer Gruppe, die erstens die Realität falsch abbilden, zweitens in illegitimer Weise verallgemeinern beziehungsweise homogenisieren und drittens negativ beziehungsweise ablehnend sind. Islamfeindlichkeit bestünde demnach in Einstellungen, die ein weitgehend fiktives, homogenes und feindseliges Zerrbild des Islam konstruieren. Diese Konzeptionierung hat einen erheblichen Vorzug und einen erheblichen Nachteil. Der Vorzug besteht darin, dass damit eine Unterscheidung zwischen islamfeindlichem Vorurteil und rationaler Kritik an realen Phänomenen impliziert ist. Rationale Kritik müsste sich dann dadurch auszeichnen, dass sie ihren Gegenstand so darstellt wie er wirklich ist, nicht unbillig verallgemeinert und ihm nicht von vornherein feindselig gegenübersteht. Analysiert man konkrete Äußerungen, ist auf der einen Seite zu fragen, ob hinter diesen Äußerungen vorurteilige Einstellungen zu vermuten sind. Auf der anderen Seite ist zu fragen, ob durch diese Äußerungen Vorurteile bei Dritten verstärkt oder erzeugt werden. Jeweils müsste das daran zu erkennen sein, ob sich in den Äußerungen Verzerrung, Homogenisierung und Ablehnung feststellen lassen. Der Nachteil dieses Ansatzes besteht im Fokus auf die Ebene von Einstellung oder Bewusstsein: Die Vorurteilsforschung konzentriert sich vor allem auf Vorgänge und Strukturen in den Köpfen der Subjekte. Entscheidend für gesellschaftliche Diskriminierung und Marginalisierung ist aber nicht, was in den Köpfen der Subjekte geschieht, sondern welche Verhältnisse zwischen den Subjekten bestehen und wie die Subjekte darin handeln. Hierfür sind zwei Aspekte zentral, die in der Vorurteilsforschung regelmäßig aus dem Blick geraten: Machtbeziehungen und diskursive Dynamiken. Will man die Wirkung von rassistischen und anderen Marginalisierungsverhältnissen verstehen, ist nicht nur zu fragen, wie verbreitet Vorurteile in den Köpfen sind. Es ist auch zu fragen, welche Gruppen über welche sozialen Ressourcen verfügen, wer in der Öffentlichkeit wie über wen sprechen kann und welche Konsequenzen das dann hat. Antimuslimischer Rassismus als diskursiv konstituiertes Dominanzverhältnis Gegen genau diese Probleme der Vorurteilsforschung wendet sich der zweite Ansatz, nämlich die Rassismuskritik, die in Bezug auf die Islamdebatten von antimuslimischem Rassismus spricht. Rassismuskritik stellt gesellschaftliche Machtrelationen und diskursive Dynamiken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Rassismus versteht sie als ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis, in dem eine dominante Gruppe ihre Vorherrschaft gegenüber einer marginalisierten Gruppe ausübt und absichert. Diese Vorherrschaft drücke sich durch eine ungleiche Verteilung von symbolischen und materiellen Ressourcen aus – es geht um die Verteilung von Jobs, Wohnungen, sozialer Anerkennung und so weiter, wobei jeweils eine Gruppe marginalisiert, die andere privilegiert wird. Konstituiert und reproduziert werde dieses Dominanzverhältnis durch bestimmte Sprechweisen über die marginalisierte Minderheit, in denen ein Gegensatz zwischen der (nichtmuslimischen) Mehrheit und der rassifizierten (muslimischen) Minderheit konstruiert werde. In diesen Legitimationsdiskursen erscheine die Marginalisierung der entsprechenden Gruppe als legitim, rational oder gar notwendig. Will man entscheiden, ob eine bestimmte Art, sich über den Islam zu äußern, in diesem Sinne rassistisch ist, ist zweierlei zu klären: Erstens ist zu klären, ob ein entsprechendes Dominanzverhältnis wirklich existiert, ob die bewusste Gruppe also marginalisiert und eine andere Gruppe privilegiert wird, etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Für das Bestehen einer solchen Marginalisierung von Musliminnen und Muslimen liefert die Forschung zahlreiche Nachweise. Zweitens ist zu klären, ob die fraglichen Äußerungen zu einem Diskurs beitragen, der diese Marginalisierung legitimiert und reproduziert. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, genau die Dynamiken von Macht und Diskurs sichtbar zu machen, die im Vorurteilsansatz außen vor bleiben. Und während die Vorurteilsforschung in erster Linie auf diejenigen blickt, die rassistisch denken, erhalten in der Rassismuskritik auch die marginalisierten Subjekte sowie die Effekte, die der rassistische Diskurs auf sie hat, mehr Aufmerksamkeit. Im Falle des antimuslimischen Rassismus kann einer dieser Effekte darin bestehen, dass die ständige Bezeichnung junger Menschen als "gefährliche Musliminnen beziehungsweise Muslime" selbst islamistische "Radikalisierungsprozesse" fördert, sodass islamistische Mobilisierung und antimuslimisch-rassistische Mobilisierung sich wechselseitig in die Karten spielen. Allerdings hat auch der rassismuskritische Ansatz einen großen Nachteil: Wenn man davon ausgeht, dass es antimuslimischen Rassismus gibt und Äußerungen über den Islam nur daraufhin befragt, ob sie geeignet sind, dieses Dominanzverhältnis zu stärken, muss fast jede kritische Äußerung über irgendwelche mit dem Islam verbundenen Phänomene durchfallen: Jede solche Äußerung ist potenziell geeignet, die negative Fokussierung der Debatten auf den Islam zu verstärken. Die Rassismuskritik kennt anders als die Vorurteilsforschung keine systematische Unterscheidung von rationaler Kritik und Rassismus und neigt zu einer überspitzten Hermeneutik des Verdachts. Systematische Verzerrung der Islamdebatten Daher schlage ich ein weiteres Modell vor, das die Stärken der beiden zuvor genannten vereint, indem es von beiden lernt. Dafür spreche ich in Anlehnung an Jürgen Habermas und David Strecker von "systematisch verzerrten Kommunikationsverhältnissen" – auch wenn beide sich so gut wie gar nicht über Rassismus äußern. Dann steht am Anfang die Annahme, dass es gut ist, wenn in einer demokratischen Öffentlichkeit diskutiert und auch gestritten wird. Die Habermas’sche Hoffnung besteht darin, dass gerade im öffentlichen Austausch von Argumenten kommunikative Vernunft walten und zu besseren, vernünftigeren, gerechteren Entscheidungen führen kann. Weil der Islam heute ein relevanter Teil der sozialen Realität in Deutschland ist, ist es zunächst auch wünschenswert, wenn über den Islam und verschiedene mit ihm verbundene Akteure und Probleme gestritten wird – seien es Debatten über religiöse Verschleierung, das Fasten in Schulen oder über "Radikalisierung", sei es in Talkshows, in Klassenzimmern, in sozialen Medien oder sonstwo. Diese öffentliche Kommunikation kann jedoch auch unter systematisch verzerrten Bedingungen stattfinden. Dann ist das rationalisierende Potenzial der öffentlichen Rede blockiert und die Kommunikation führt mitunter nicht zur Abschaffung ungerechter Verhältnisse, sondern zu ihrer Reproduktion oder Verschlimmerung. Ursachen für solche Verzerrungen können unter anderem die sozialpsychologischen Mechanismen sein, die die Vorurteilsforschung als Ursache für Vorurteile anführt, aber auch die sozialen Machtdifferenziale, die die Rassismuskritik benennt. Systematische Verzerrungen der Kommunikation können sich dann unter anderem darin ausdrücken, dass eine bestimmte soziale Gruppe überproportional oft im Fokus der Kritik steht; darin, dass die Thematisierung dieser Gruppe immer wieder problemorientiert ist; darin, dass immer wieder Fehldarstellungen dieser Gruppe auftauchen, die schon oft widerlegt wurden; darin, dass Stimmen aus dieser Gruppe nicht oder nur selektiv im Diskurs auftauchen und sie so keine Möglichkeit haben, effektiv zu widersprechen; oder darin, dass die Frage nach Marginalisierung ausgeblendet oder abgeschmettert wird. Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Will man konkrete Äußerungen beurteilen, ist dann zweierlei zu erledigen. Erstens ist zu klären, ob eine entsprechende systematische Verzerrung besteht – dies ist nicht abstrakt zu klären, sondern jeweils für den Kontext, in dem die Äußerung stattfindet. Zweitens ist zu diskutieren, ob die fragliche Äußerung eher geeignet ist, die bestehende systematische Verzerrung zu verstärken, oder ob sie eher geeignet ist, kommunikative Rationalität zu entfalten und die Debatte voranzubringen. Das heißt, dass man die Äußerungen nicht wie in der Vorurteilsforschung in Hinblick auf ihren Ursprung im Bewusstsein betrachtet, sondern wie in der Rassismuskritik in Hinblick auf ihre zu erwartenden gesellschaftlichen Wirkungen. Anders als in der Rassismuskritik fragt man aber nicht nur nach einem potenziellen marginalisierenden Effekt, sondern auch nach einem aus demokratischer Perspektive wünschenswerten Effekt. Auf der einen Seite wäre also zu fragen, ob die Äußerung zur Marginalisierung von Musliminnen und Muslimen beiträgt; auf der anderen Seite, ob sie dazu beiträgt, unterthematisierte Probleme in islamischen Kontexten sichtbar zu machen und zu ihrer Überwindung beizutragen. Beide Effekte schließen einander nicht aus, aber sie können jeweils größer oder kleiner sein. Zu fragen ist, welcher wahrscheinlich überwiegt; zu fragen ist auch, wie sich der marginalisierende Effekt begrenzen und wie sich der befreiende vergrößern lässt. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine anspruchsvolle Argumentation. Sie muss – wie jede Ideologiekritik – immer in gewissem Maße spekulativ bleiben. Rassismus kann selten in Form eines "gerichtsfesten" juristischen Beweises tatbestandsmäßig festgestellt werden. Fragen und Antworten können aber plausibel sein, überzeugen, zur Reflexion anregen. Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Antimuslimischer Rassismus". Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Auf diese Aspekte gehen folgende Beiträge im Infodienst ein: Stephan E. Hößl: Interner Link: Diskriminierung und Radikalisierung: Zwei Seiten einer Medaille!?; Josephine Schmitt: Interner Link: Antimuslimischer Rassismus als islamistisches Mobilisierungsthema
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Floris Biskamp
"2022-07-11T00:00:00"
"2019-12-12T00:00:00"
"2022-07-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/302230/das-sprechen-ueber-den-islam/
Ist es möglich, kritisch über "den Islam" zu reden, ohne dabei selbst diskriminierend oder rassistisch zu sein? Floris Biskamp grenzt dafür drei Konzepte voneinander ab.
[ "Islam", "Kritik", "antimuslimischer Rassismus", "Islamfeindlichkeit", "Vorurteil", "Rassismus", "Rassismuskritik", "Radikalisierung", "Debatten", "Diskurs", "öffentliche Diskurse", "Prävention", "Islam" ]
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Es gab viele Mauern in der DDR | Deutschland Archiv | bpb.de
I. Am 17. Juni 2011 überreichte der polnische Staatspräsident Bronisław Komorowski in der polnischen Botschaft in Berlin posthum das Kommandeurkreuz des Verdienstordens der Republik Polen an Ludwig Mehlhorn (1950–2011) (© Ev. Akademie zu Berlin ) Ludwig Mehlhorn. Die Ehrung nahm in Anwesenheit zahlreicher deutscher und polnischer Freunde und Weggefährten – darunter als Zeichen besonderer Wertschätzung der Teilnehmer am Warschauer Aufstand, Häftling des deutschen KZ Auschwitz, Häftling im kommunistischen Polen und ehemalige polnische Außenminister, der bekannte Historiker und Politiker Władysław Bartoszewski – Heimgard Mehlhorn für ihren am 3. Mai 2011 verstorbenen Ehemann entgegen. Er war nur 61 Jahre alt geworden. Der frühe Tod Mehlhorns ist in Polen stärker beachtet und seine Persönlichkeit öffentlich wirksamer gewürdigt worden als in Deutschland. Mehlhorn hatte sich seit den späten Sechzigerjahren für die deutsch-polnische Versöhnung eingesetzt – bis zu seinem Tod. Er galt in der DDR-Opposition als der "Polenexperte". Viele Anregungen, die aus Polen in die DDR-Opposition, insbesondere seit 1976 (Gründung von KOR), einflossen und von dieser aufgenommen wurden, hatte Ludwig Mehlhorn vermittelt. Er zählte ab Mitte der Achtzigerjahre zu den prägenden Köpfen der Ost-Berliner Opposition. Dabei war er eben nicht nur "Polenexperte", sondern auch einer der entschiedensten und klügsten Köpfe, die intellektuell und politisch Grenzen überwinden und abbauen wollten. So wie Mehlhorn zeitlebens für die deutsch-polnische Aussöhnung und Verständigung eintrat, so hat er sich – was eben in Deutschland viel zu wenig gewürdigt wurde – für den deutsch-deutschen gesellschaftlichen Dialog engagiert. Ihn schmerzte die Mauer wie so viele andere. Aber anders als viele andere konnte er diesen Schmerz auch intellektuell verarbeiten und die Folgen der Abgrenzung, die der Mauerbau und die Mauer symbolisierten, benennen. Im letzten Jahr haben wir viel über den Mauerbau 1961 und seine Folgen gehört, diskutiert, erfahren. Insgesamt kam dabei die gesellschaftspolitische und -geschichtliche Dimension für die DDR – meine ich – deutlich zu kurz. So spielte zum Beispiel in dieser Erinnerung an den Mauerbau und dessen Folgen die "Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" (ab 1986/87), Die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck (Region Ost) und Martin Kruse (Berlin-West), 1989. (© epd-bild, Foto: Andreas Schölzel) aus der im Spätsommer 1989 die Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" hervorging, praktisch keine Rolle. Einer der wichtigsten Initiatoren war Ludwig Mehlhorn. Einen Ausgangspunkt für diese Initiative bildete ein Brief, den er am 27. August 1986 an die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Martin Kruse (Berlin-West) und Gottfried Forck (Region Ost), gerichtet hatte. Mehlhorn reagierte auf einen Notenaustausch der beiden, von ihm sehr geschätzten Bischöfe. Dieser Brief Mehlhorns stellt eines der eindrücklichsten Zeugnisse dar, wie viele Menschen in der DDR dachten, lebten, litten – selbst wenn sie dies so nicht formuliert hätten, nicht so hätten artikulieren können. Wenn es um Mauern in der DDR geht, sollte, muss dieser Brief beachtet werden. Er wird deshalb hier mit einigen Grundaussagen wiedergegeben – Bischof Forck hat diesen übrigens nicht nur als wichtig erachtet, hat den Aussagen nicht nur zugestimmt, sondern hat sich mit Ludwig Mehlhorn auch zu mehreren Gesprächen getroffen. Darin heißt es unter anderem: "Mit Interesse habe ich Ihren Briefwechsel zum 13. August 1986 gelesen. Ihre Aussagen sind in die Form persönlicher Briefe gefasst. Aus der Tatsache der Veröffentlichung darf man aber schließen, dass es sich um eine quasi-offizielle Stellungnahme der Kirche zu einigen Aspekten handelt, die mit diesem Datum unserer jüngsten Geschichte verbunden sind. Deshalb habe ich mich entschlossen, von der Freiheit eines Christenmenschen einmal Gebrauch zu machen und Ihnen gemeinsam zu schreiben. (...) Ohne die verbrecherische 'Politik' der Nazis gegenüber den europäischen Völkern einschließlich des deutschen, das freilich der braunen Diktatur mehrheitlich zugestimmt hatte, wäre es nicht nötig gewesen, dass sich Europa bis zur Elbe von der Roten Armee und von der anderen Seite durch westliche alliierte Armeen befreien lassen musste. (...) Aber dennoch können wir nachdenken über eine Zukunft, 'in der eine Mauer nicht mehr sein wird', auch an der Perspektive der Einheit festhalten. Diese 'Einheit' braucht man sich nicht im nationalstaatlichen Sinne vorzustellen. Aber über die Stufen Entmilitarisierung und vertraglich gesicherte Neutralität könnte sie eines Tages auf friedlichem Wege erreicht werden, ohne Bedrohungsängste bei unseren Nachbarvölkern hervorzurufen. Hier sollten gerade kirchliche Kreise, die wissen und glauben, 'dass Gott die Welt nicht so lässt wie sie ist', den Mut haben, auch tabuisierte Fragen aufzunehmen. (...) Welche Folgen der Mauerbau für den Westen hatte, kann ich schwer einschätzen. Nach meinem möglicherweise sehr oberflächlichen Eindruck ist die Mauer für viele Menschen im Westen trotz gegenteiligen Bekundens nie ein wirkliches Problem gewesen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein (...) Auch hier gilt: 'Deine Sprache verrät dich': von Europa wird geredet, wenn man die [Europäischen Gemeinschaften] EG meint. Im Empfinden vieler Menschen führt das wahrscheinlich dazu, dass wir hier gar keine richtigen Europäer mehr sind – von den Völkern weiter östlich ganz zu schweigen. (...) Für die DDR waren und sind die Folgen gänzlich anderer Art. (...) Im Schutz und im Schatten der Mauer ließ sich trefflich eine Politik der Abgrenzung und Abschottung realisieren, an deren Folgen unser gesamtes gesellschaftliches Leben schwer – und viele, die weggehen, meinen: tödlich – erkrankt ist. Grenzen und Mauern sind geradezu eine Grunderfahrung für meine Generation geworden. Nahezu jedes Schlüsselerlebnis ist mit den Phänomenen Grenze und Abgrenzung verbunden. Ich kann gut verstehen, dass 'Mit der Teilung leben' – um an Müller-Gangloffs Buch zu erinnern – ein notwendiges Lernziel der 60er Jahre war, weil es eine Perspektive jenseits von Verbitterung und Illusionen geben musste. Aber heute braucht uns das niemand mehr zu sagen. Wir haben nie etwas anderes gekannt. Wir – das ist inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung. (...) Zweimal stand ich, mit gültigen Reisepapieren versehen, an der Grenze, ohne durchgelassen zu werden: zunächst im Juni 1981 in Frankfurt/Oder, dann im Juli 1983 in Berlin-Schönefeld mit dem Reiseziel Budapest. (...) Es ist trotzdem schön, wenn es heute in Berlin-Friedrichstraße 'gelassener, menschlicher' zugeht, wenn sogar 'kritische Rückfragen' und 'scherzhafte Bemerkungen' gemacht werden können. Auch mir erklärten die uniformierten Beamten an der Grenze in keineswegs unfreundlichem Ton, dass ich leider nicht weiterreisen könne. Sie waren ganz gelassen. Nur ich fraß Gefühle in mich hinein, die wahrscheinlich in einer Mischung aus unchristlichem Hass und heiligem Zorn bestanden. (...) Sie nennen die Menschen, die unter der Mauer am meisten gelitten haben, nämlich diejenigen, 'die durch die Aufrichtung dieser Grenzen lange Zeit von ihren Angehörigen und Freunden getrennt wurden'. Und – so möchte ich ergänzen – die ihr Leben oder einen nahestehenden Menschen an der Mauer verloren haben: Flüchtlinge, Grenzsoldaten und wohl auch Menschen, die aus eigenem Entschluss nicht mehr weiterleben wollten, weil die Mauer ihre Lebensläufe zerschnitten hatte. Aber zur Wahrhaftigkeit beim Reden über die Mauer gehört auch die Abgrenzung nach außen und innen, die ohne Mauer so nicht möglich wäre: die fast geschlossene Oder-Neiße-Grenze, Reiseverbote nach osteuropäischen Ländern für eine große Anzahl von DDR-Bürgern, Einreiseverweigerungen für Personen aus dem westlichen und östlichen Ausland, Kontaktverbote oder Kontaktmeldepflichten in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft. Selbst eine so positive Entwicklung wie die seit jüngster Zeit praktizierte Erleichterung des Reisens in dringenden Familienangelegenheiten [in die Bundesrepublik] hat ihre Schattenseiten: sie schafft im inneren neue Grenzen zwischen denen, die Verwandte haben und den anderen. (...) Dieser Katalog setzt sich bei den unsichtbaren Grenzen fort. Ich könnte vieles erwähnen, z.B. die Grenze um Bücher und Zeitschriften, Informationen und geistige Güter. Hier äußert sich die Abgrenzungs- und Abschottungspolitik als Zensur, die wie ein Krebsgeschwür in alle gesellschaftliche Bereiche, vor allem Kultur und Bildung, vordringt und das geistige Leben lähmt. (...) Wenn es nicht trotz Mauer und Abgrenzung hin und wieder Einflüsse von draußen gäbe, müssten wir am Mief der Provinzialität ersticken. (...) Und was soll ich, sehr geehrter Herr Bischof, von Ihrer Formulierung halten, 'daß es in den vergangenen Jahren sehr schwierig war, eine Reisegenehmigung in das westliche Ausland zu bekommen'? Sehr schwierig – das heißt doch: immerhin möglich?! (...) War es nur mein Unvermögen, gewisse bürokratische Hemmnisse findig – pfiffig zu überwinden? Oder mangelnder Mut? Bin ich selbst Schuld, wenn ich noch nicht in Paris war, um ins Museum zu gehen oder auch nur, um ein paar Freunde aus verschiedenen ost- und westeuropäischen Ländern zu treffen, die seit Jahren aus wer weiß was für Gründen keine Einreise in die DDR bekommen? (...) Nein, dieses 'sehr schwierig' ist kein Euphemismus mehr, sondern schlicht die Unwahrheit! (...) Zur Frage des Ausreisens für immer will ich mich hier nicht äußern – das ist ein weites Feld. Aber eins scheint mir sicher: für Christen gibt es keine Sonderargumente, weder fürs Bleiben noch fürs Gehen. Es ist ja nicht Christenverfolgung, worüber wir zu klagen haben. Darum ist es ein Verlust für unsere Gesellschaft, wenn Menschen weggehen, die sich der Mauerkrankheit entgegengestellt haben – und ab irgendeinem individuell je verschiedenen Punkt nicht mehr weiter konnten. Ob es sich dabei um Christen handelt oder nicht, ist unerheblich. Das vielleicht bitterste Kapitel wird in dieser Hinsicht die Literaturgeschichte, nicht die Kirchengeschichte zu schreiben haben. Nicht nur für Christen, auch für die Kirche als ganzes – wenn sie sich wirklich im Bonhoefferschen Sinne als Da-Sein für andere versteht – ist es ein Verlust, dass Jurek Becker und Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Günter Kunert, Thomas Brasch und Jürgen Fuchs nicht mehr da sind. (...) 'Was hat die Kirche zum 13. August 1986 zu sagen?' – so lautete die Ausgangsfrage Ihres Briefwechsels. Sie hätte meines Erachtens nicht nur die 'billige Anpassung an die gegebenen Verhältnisse' und den 'grundsätzlichen Widerspruch' zu den Realitäten zu verwerfen. Und sie dürfte die 'kritische Mitverantwortung für alles, was bei uns geschieht', nicht nur postulieren. Sie müsste diese Mitverantwortung auch ganz konkret wahrnehmen, indem sie sich eindeutig und unmissverständlich gegen Geist und Logik der Abgrenzung öffentlich ausspricht. Eine solche Formel würde heute nicht mehr die Illusion wachrufen, die Mauer – von der Mauerkrankheit zu schweigen – könnte von heute auf morgen verschwinden. Aber sie würde deutlich machen, dass es in einer Zeit, in der das atomare Massengrab allenthalben als apokalyptisches Menetekel beschworen wird, prinzipiell keine Rechtfertigung dafür gibt, Menschen durch sichtbare und unsichtbare Mauern gegen ihren Willen voneinander zu trennen und ihre grenzüberschreitende Kommunikation zu behindern. Und schließlich hätte eine sich an dieser Erkenntnis orientierende, den an Mauern und Mauerkrankheit leidenden Menschen zugewandte Seelsorge eine gewisse Chance, zur Heilung der verwundeten Herzen und zur Gesundung gestörter sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen. Eine solche Seelsorge wäre wohl auch geeignet, 'Verantwortung zu wecken, Lethargie und Selbstsucht zu überwinden'. Ob wir stark genug sein werden, weitere 25 Jahre Ab-, Aus- und Eingrenzungen zu überleben, ohne weiteren Schaden zu nehmen an Geist und Seele? Gott allein weiß es." Nur wenige Jahre später durchbrachen die DDR- und die ostmitteleuropäischen Gesellschaften das krankmachende Monstrum. Die Mauer wurde nicht einfach geöffnet, sondern ihr Fall von den Gesellschaften erzwungen. Sie wird uns noch lange beschäftigen, nicht nur in Gedenk- und Jubiläumsjahren. II. Der Potsdamer Romanist Ottmar Ette sieht in Grenzen auch sprachliche Konstrukte, die hochgradig arbiträr, also letztlich willkürlich, von subjektiven Wahrnehmungen abhängig, sind: "Sie sind im Sinne Roland Barthes' insoweit Mythen, als sie Natur zu sein vorgeben, wo sie in der Tat aus geschichtlichen Prozessen hervorgingen." Tatsächlich ist jedwede Geschichte von "Grenzen" und "Begrenzungen" charakterisiert. Und die Geschichte der Grenzen ist eine Geschichte von Konstruktionen, von Erfindungen des Eigenen und des Fremden, des Drinnen und Draußen, von Dazugehören und Nichtdazugehören. Der Migrationsforscher Klaus Bade formulierte einmal pointiert, dass sich "nicht nur Menschen über Grenzen, sondern auch Grenzen über Menschen" bewegen. Auf eine wichtige Ambivalenz in der politischen Semantik der geografischen Grenze, die auf andere Dimensionen von Grenzen übertragbar ist, weist der Historiker Karl Schlögel hin: "Grenzen sind die wichtigste Raumerfahrung, ebenso wie ihr Gegenteil: die Grenzenlosigkeit. Sie besagen: hier hört etwas auf, hier fängt etwas an. Sie gliedern Territorien, die sonst nur formloser, leerer Raum wären. Sie geben etwas Gestalt. Wir können ohne Grenzen nicht leben. Ohne Grenze wären wir verloren." Und doch kann Grenze nicht gedacht werden, ohne nicht zugleich auch ihre Beschränkungen und Einschränkungen zu berücksichtigen. "Grenze ist ein Codewort für Unfreiheit, für Barriere, für Enge, während Grenzüberschreitung, Grenzenlosigkeit, gar Entgrenzung einen semantischen Mehrwert enthält" und positiv konnotiert sei, so Schlögel. Grenzen motivieren geradezu dazu, sie zu überwinden, zum Grenzverletzer/zur Grenzverletzerin zu werden. Das kann im metaphorischen Sinne ebenso gefährlich sein wie im physischen. Die "Grenzen von Diktaturen", zum Beispiel, lassen sich interpretieren als beschränkte Reichweite der Macht innerhalb der staatlichen Grenzen. Eigenständiges Denken oder nonkonformes Verhalten setzen wiederum Grenzen innerhalb der Diktatur selbst, auch wenn diese sie auf ihre eigene unnachahmliche Art ahndet. Zugleich versprechen die "Grenzen einer Diktatur" Hoffnungen, dieser mit der Überwindung der Grenzen entfliehen zu können Die Berliner Mauer war zu einem solchen weltweiten Symbol für solche freiheitsversprechenden Grenzen, die es unter Todesgefahr zu überwinden galt, geworden. Die Grenze ist jedoch keine Erfindung der Diktatur. Typologisch unterscheiden sich andere Grenzanlagen von den Diktaturgrenzen dadurch, dass sie nicht nach Innen verriegeln, sondern das Land gegenüber Außen und den "anderen" kulturellen und sozialen Gruppen abschotten sollen. Die gegenwärtigen Außengrenzen der Europäischen Union stellen dafür ein besonders beredtes Beispiel dar: Sie riegeln eine mächtige Wirtschaftsunion nach Außen ab, während innerhalb der Schengen-EU gleichzeitig die Grenzen weitgehend obsolet geworden scheinen. Dieses Beispiel deutet zugleich die Polysemie, die Bedeutungsvielfalt der Grenzen an, die – um nochmals beim Beispiel der EU-Grenzen zu bleiben – von Geschäftsleuten, Akademikern, Asylsuchenden oder Arbeitssuchenden, von EU-Europäern, US-Amerikanern, Angolanern, Romas oder Indern jeweils ganz anders erfahren und erlebt werden. Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaften, aber das Thema meiner Ausführungen kurz einordnenden Ausführungen wird zweierlei ersichtlich. Erstens haben wir es bei Systemgrenzen tatsächlich mit einer Vielzahl von Erscheinungen zu tun, die sich womöglich im Einzelnen auch noch gegenseitig ausschließen. Zweitens wiederum lassen sich Systemgrenzen kaum objektivieren, sondern unterliegen einer subjektiven Empfindung, die man im Konkreten abtun, als irrelevant oder gar lächerlich bezeichnen kann, die aber wiederum Ausdruck einer Vielfalt gesellschaftlicher Prozesse darstellen, die es eben auch im kommunistischen Gesellschaftsprojekt gab. Nicht einmal die Mauer ist in der DDR von allen gleichermaßen als bedrohliche oder bedrohende Grenze wahrgenommen worden, als Symbol für ein System, das strikt und strikte Grenzen zu setzen versuchte und Grenzverletzer/innen sanktionierte, im schlimmsten Fall erschoss. Dass die Mauer zugleich eine Außengrenze und innere Systemgrenzen symbolisierte, eine unzertrennliche Einheit, die gerade nur in dieser Dialektik von innerer und äußerer Abschottung Sinn ergab, war weder vor noch nach 1989 ein selbstverständliches Allgemeingut der im System lebenden bzw. gelebt habenden Menschen. III. Wenn wir Grenzen der DDR in den Blick nehmen, dann fallen zuerst die Zäsuren 1952/53 und 1961 auf. Zunächst beginnt programmatisch und mit vielfältigen, häufig analysierten Begleiterscheinungen die offensive Etablierungsphase des Systems, die mit dem 17. Juni 1953 kein abruptes Ende, aber eine deutliche Kurskorrektur erfährt. Allen waren die vielfältigen Systemgrenzen drastisch vor Augen geführt worden. Das Regime schwenkte nicht um, aber es organisierte seine Etablierung und Stabilisierung neu. Die Gesellschaft besaß neben bedingungsloser Unterstützung, bereitwilligem Mittun, missmutiger Loyalität, antikommunistischen Widerstand oder Flucht eine weites Spektrum von Handlungsoptionen, das auch deshalb zur Verfügung stand, weil erstens historische Erfahrungen aus der Zeit vor 1933 noch mehrheitlich lebensgeschichtlich verankert waren, weil zweitens die Erfahrungen von 1933 bis 1945 als Handlungs- und Positionierungsantriebe abrufbar waren und weil drittens die Bundesrepublik als reale Alternative ganz unmittelbar greifbar war und als Vergleichsfolie für die eigenen Lebensvorstellungen unmittelbar einwirkte. Als 1961 ein neuer Volksaufstand zu drohen schien – alle Anzeichen deuteten darauf hin, die entscheidenden gesellschaftlichen Parameter ähnelten denen von 1952/53 auffällig – zeigten die Herrscher, dass sie aus 1953 gelernt hatten. Sie vollendeten ihre "innere Staatsgründung" – wie ich diesen historischen Prozess von 1952 bis 1961 bezeichne – und schotteten mit der Mauer das Land endgültig ab, zeigten Grenzen auf und symbolisierten so auch – über das Todeswerk hinaus –, dass das System auf die Einhaltung innerer Begrenzungen unbedingten Wert lege. Äußere und innere Mauern gehörten zum Kommunismus als immanenter Bestandteil der Herrschaftssicherung und Unterdrückung überall dazu. Die Berliner Mauer war "lediglich" die berühmteste. Zwar standen der Gesellschaft nun noch immer genügend Handlungsoptionen zur Verfügung, aber diese waren nun nicht nur klarer umrissen, zugleich musste die Gesellschaft sich selbst neu erfinden, weil sich die Handlungsräume erheblich verändert hatten. Das führte unter anderem zu dem Paradox, dass das System in den folgenden etwa 15 Jahren zusehends an Stabilität und Prestige gewann, zugleich aber durch die starren Begrenzungen fast zwangsläufig zur finalen Grenzüberwindung beitrug. Denn, wie ich ganz am Anfang schon zitierte, Grenzen wohnt nun einmal der Traum ihrer Überwindung immanent inne. Wachtturm an der Berliner Mauer 1981 (© picture-alliance/akg) Der gesellschaftliche Schock vom 13. August 1961 führte zu mindestens drei längerfristig wirkenden Ergebnissen. Ein größerer Teil der Gesellschaft begab sich (nun, da Flucht eine noch gefährdetere Option geworden war) ins innere Exil und lebte strikt nach offiziellem und privatem Leben getrennt; das war nicht schizophren, vielmehr begegnen uns hier multiple Persönlichkeiten, die sich mit dem Offenbaren arrangierten und zugleich vom Undenkbaren träumten. Ein ganz kleiner, geradezu verschwindend geringer Teil der Gesellschaft hielt an Opposition und Widerstand fest. Gerade Jüngere sind hier in den 1960er-Jahre durch grenzüberschreitende Einflüsse neuer Jugendkulturen erheblich beeinflusst und motiviert worden. Drittens schließlich wuchsen nach 1961 Kinder und Jugendliche heran, die vor eine ganz neue Herausforderung gestellt wurden: nämlich die vorhandenen Grenzen des Systems nicht als naturgegeben hinzunehmen, sondern als menschengemacht und damit kritikfähig und überwindungsfähig überhaupt anzuerkennen. Anders als in den Jahren bis 1961 kam auf dem Spektrum zwischen unbedingter, überzeugter Unterstützung und rigider Ablehnung nun also noch hinzu, die Grenzen als überwindungsfähig überhaupt wahrzunehmen. Medien, Bildungswesen, Erziehungsziele, Lehrpläne, öffentliche Propaganda, Militarisierung oder inszenierte Massenaufmärsche sollten die historisch-gesetzmäßige Endgültigkeit des Systems belegen und untermauern. Wer sich damit nicht abfinden mochte, für den stand ein breites Instrumentarium an Verfolgungs-, Disziplinierungs- und Abschreckungsmitteln bereit, die von Mord an der Mauer bis hin zur kollektiven Demütigung wegen individueller Selbstbehauptung oder Zweifel an der Richtigkeit des Marxismus-Leninismus reichten. Die inneren Systemgrenzen waren zwar omnipräsent, aber zugleich tabuisiert, was wiederum ihre diskursive Verhandlung verhinderte. Die Frage ist ja nicht so sehr, was zu den inneren Grenzen gehörte und welche besonders nachhaltig funktionierten. Auch dass die Grenzwahrnehmungen von individuellen politischen, kulturellen, sozialen, religiösen, ideologischen und nicht zuletzt habituellen Momenten beeinflusst waren, ist zunächst unspektakulär. Mir scheint viel interessanter zu sein zu fragen, wie Grenzüberschreitungen im Inneren aussahen und wie sie motiviert wurden. Dazu ist zunächst wohl festzuhalten, dass die totalen Ansprüche der kommunistischen Herrscher von vornherein selbst verhinderten, ein ihren Regeln entsprechendes Leben führen zu können. Die totale Regelanmaßung implizierte permanente Grenzüberschreitungen, es ging gar nicht anders, als die inneren Grenzen ständig zu verletzen. Die für die Herrschenden aber letztlich entscheidende Frage war die nach dem politischen Gehalt der Grenzüberschreitung. Und hier stand ihnen mit der Evangelischen Kirche eine Institution gegenüber, die bei aller Kritik im Einzelnen einen Gegenentwurf zur parteistaatlichen Praxis, Räume für anderes Denken, Handeln und Leben anbot. Es ist daher kein Zufall, dass die organisierte Opposition der 1980er-Jahre zu einem ganz großen Teil aus der Evangelischen Kirche entwuchs. Dass diese Opposition dann 1989 zur Keimzelle einer breiten Bürgerbewegung wurde und die Kirchen – die erst Schwierigkeiten hatten, die Opposition hereinzulassen; 1989 wollte sie sie dann teilweise nicht herauslassen – verließen, steht am Ende dieser Geschichte. In den 1970er- und 80er-Jahren stehen wir im Gegensatz zu den 1950er-Jahren – die 60er nehmen eine Art Zwischenstellung ein – vor dem Phänomen, dass zwar die Legitimität des Systems, der Zuspruch zum System und die überzeugte, aktive Unterstützung des Systems nicht signifikant zugenommen hatten, aber zugleich der politisch offene Widerspruch, die organisierte politische Opposition, der Zeichen setzende Symbolwiderstand deutlich marginalisiert war. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt außenpolitische Entwicklungen und die offiziellen politischen deutsch-deutschen Gespräche. Ist aber dieser Befund gleichbedeutend damit zu sehen, dass Opposition und Widerstand auch gesellschaftlich marginalisiert waren? Hier möchte ich doch ein großes Fragezeichen setzen. IV. Die Kommunisten haben ihre Gesellschaft als eine Gemeinschaft der Gleichen und des Gleichen verstanden und propagiert und diese zugleich als Endpunkt der Geschichte markiert. Richtmaß für alles und jeden war das Kollektiv, das zwar ominös und undeutlich blieb, aber doch klar genug konturiert war, um Individualität als störend zu kennzeichnen, um Individualität als überkommenen Wert dastehen zu lassen. Wer dennoch seine Individualität bewahrte, geriet schnell zum Außenseiter, der oft genug gar nicht vom Staat drangsaliert werden musste, weil diese Aufgabe die Gesellschaft reflexartig übernahm. "Reflexartig" bedeutet auch, hier ging es weniger um politische oder ideologische Absichten. Vielmehr folgte dieser Reflex kulturellen, sozialen und habituellen Inspirationen, oft genug wollte das Kollektiv einfach nur seine Ruhe haben. Die Motivationen für das Ausbrechen aus dem Kollektiv und das oppositionelle Engagement – was wiederum sehr breit gefächert aussehen konnte und hier durchaus von offen gezeigten Normenabweichungen wie der Kleidung und den Frisuren bis hin zu organisierter politischer Opposition reichte – lassen sich ebenfalls kaum auf einen Nenner bringen. Bestimmte Grunderfahrungen, die immer wieder als Motivation für oppositionelles Handeln angeführt werden – etwa erlebte Repressionen in der Familie oder im Bekanntenkreis -, lassen sich nicht generalisieren, weil so etwas viel mehr Menschen erlebten, als dann tatsächlich in der Opposition aktiv waren. Hier kommt man methodisch auch nicht durch immer neue Interviews weiter, weil eine entsprechende Mitläuferforschung für die DDR bislang gänzlich fehlt. Vielleicht ist das auch nicht zu lösen, weil sich bestimmte individualpsychologische Grundkomponenten nicht entschlüsseln lassen. Man kann meines Erachtens gut erklären, warum jemand mitmacht, warum jemand überzeugt mitmacht, warum jemand mitläuft, sich abduckt, man kann auch ganz gut erklären, wie oppositionelle Gruppen in sich funktionieren und wie sie ihre Stellung in und zur Gesellschaft und zu anderen Gruppen definieren, aber genau der Übergang in eine solche Gruppe lässt sich nur biografisch erzählen und erklären, jede Typologie hätte das Manko einer Zwangsläufigkeit, die es ja nun gerade nicht gab. Das führt mich nun zu meinem letzten Punkt, nämlich der Stellung der Oppositionsgruppen innerhalb der Gesellschaft. Über ihre Marginalisierung ist viel geschrieben und debattiert worden. Das scheint auf den ersten Blick auch plausibel, gerade weil sie nach 1961 bis weit in die Blick nach Ost-Berlin über die Mauer entlang der Bernauer Straße, 1980. (© picture-alliance/AP, Foto: Elke Bruhn-Hoffmann) Achtzigerjahre hinein kaum sichtbar waren. Allerdings kann mit neueren Forschungen ja nicht nur gezeigt werden, dass die gesellschaftliche Grundstimmung gegenüber den Herrschenden latent konfrontativ blieb und sich auch immer wieder offen zeigte, nicht nur 1968 oder 1976 oder dann ab 1985, zugleich wird immer deutlicher, dass die Interaktionsverhältnisse zwischen Gesellschaft und Oppositionsgruppen – die natürlich Teil dieser Gesellschaft waren – eher die These aufwerfen, dass die Oppositionsgruppen aus der Mitte der Gesellschaft heraus argumentierten. Zwar symbolisierten sie mit ihren Vorstellungen nur einen Teil der Gesellschaftskritik, aber Flüchtlings- und Ausreisebewegung wiederum standen für den programmatisch systemüberwindenden Kritikansatz. Es gab darüber hinaus Gruppen – wie etwa die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) oder die Initiative "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" – die idealtypisch als Klammer zwischen beiden Kritikansätzen (systemimmanent versus systemüberwindend – was beides auf dasselbe historisch hinauslief!) gelten können. Zum einen hilft also die Beschäftigung mit den vielen Systemgrenzen, einer möglichen Starrheit historischer DDR-Bilder vorzubeugen bzw. diese abzubauen, und deutet meines Erachtens den Weg hin zu einer Gesellschaftsgeschichte, die gerade vermeintliche Widersprüche, die vielen Brüche und die Handlungsalternativen betont. Zum anderen gehört die Geschichte von Opposition und Widerstand als integraler Bestandteil in eine solche Gesellschaftsgeschichte. Bislang werden Opposition und Widerstand zumeist separat abgehandelt, was einem dynamischen Gesellschaftsbild eher abträglich ist. Insofern müssen auch Forscher und Forscherinnen Grenzen überschreiten, die sie sich selbst auferlegt haben. V. Acht Jahre nach dem Mauerbau schrieb Wolf Biermann das Lied "Enfant perdu". Darin beklagte er, dass ein Sohn seines von der SED verfolgten Freundes Robert Havemann in den Westen gegangen war: "Jetzt ist er meine Trauer / Jetzt hockt er hinter der Mauer / und glaubt, dass er vor ihr sitzt." Biermann war damals glühender Kommunist, der ebenso glühend gegen die SED-Diktatur andichtete. In der siebenten Strophe des Lieds "Enfant perdu" sang er: "Die DDR, auf Dauer / Braucht weder Knast noch Mauer / wir bringen es so weit! Zu uns fliehn dann in Massen / Die Menschen, und gelassen / sind wir drauf vorbereit'." Wolf Biermann bei seinem legendären Konzert am 14. November 1976 in Köln. (© picture-alliance/AP) Am 13. November 1976 trat Wolf Biermann vor Tausenden Zuschauern in der Kölner Sporthalle auf. Drei Tage später verfügte die SED-Führung seine Ausbürgerung. Biermann hätten den ganzen Abend, wie er später einmal erklärte, "Hänschen klein" singen können, er wäre dennoch nicht zurückgelassen worden. Der WDR fasste sich ein Herz und strahlte in der Nacht vom 19./20. November 1976 das Konzert in voller Länge – 4:30 Stunden – aus. Hunderttausende Zuschauer auch aus der DDR hörten und sahen zu. Es war ein Fernsehereignis von historischem Rang: Ein deutscher Kommunist durfte 270 Minuten lang kommunistische Propaganda im Westfernsehen verbreiten. Es fielen dabei auch unsägliche Worte über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, wonach dieser "schon ein demokratischer Arbeiteraufstand und noch ein faschistischer Putsch" gewesen sei. Später distanzierte sich Biermann von solchen und anderen Äußerungen. Er blieb kein Kommunist. Der schärfste ostdeutsche Kritiker der SED sang in Köln auch "Enfant perdu". Als er die Strophe mit der "DDR auf Dauer" vortrug, brandete tausendfacher Beifall in Köln auf. Als Biermann das Lied beendet hatte, erklärte er, dass er in dem Lied nur verurteilen würde, aber nicht erklärte, warum so viele Menschen aus der DDR weg wollten. Das sei nicht richtig und politisch falsch. Über die Zeile mit "Knast und Mauer" sagte er kein Wort. Wie vielen anderen Linken schwebte Wolf Biermann eine freiheitliche DDR vor, die sich auf sozialistischen Idealen gründe. Biermann war 1976 fest davon überzeugt, dass in der DDR historisch das überlegene Gesellschaftssystem existiere. Er artikulierte eine Zukunftsvision, die nicht nur viele teilten, sondern die sich so einfach wie schön anhörte und doch von neuen diktatorischen Gedanken getragen war. Biermann gehörte wie viele andere Kommunisten tatsächlich zu jener ostdeutschen Minderheit, die "die Mauer als Hoffnungsträger für innere Befreiung" verstanden. Es war aber eben keine ostdeutsche Mainstream-Binnensicht, sondern die Sicht jener, die die Macht hatten und/oder vom Systemsinn überzeugt waren. Diese Vision verbreitete auch Biermanns Lied "Enfant perdu". Er setzte wie seine Peiniger auf "Bewusstseinsbildung", auf "Klassenbewusstsein", elementare Bedürfnisse der Menschen sah er als manipuliert an. Er teilte nicht das Menschenbild der herrschen Kommunisten, sehr wohl aber hing Biermann ebenfalls einem "Menschenbild" an, das erst "erzogen", "geformt" und "herausgebildet" werden müsse – notfalls gegen den Willen des Einzelnen. Die bürgerliche Gesellschaft erwies sich als Hauptfeind. Die DDR war keine angedachte Vision oder unerfüllt gebliebene Utopie. Der SED-Staat hat tatsächlich die historische Chance genutzt und ein System etabliert, das politisch den Vorstellungen und planökonomisch den Vorgaben entsprach. Die Mauer gehörte immanent letztlich dazu. Der Mauerbau 1961 stabilisierte nicht nur die bipolare Weltordnung, sondern auch die inneren Verhältnisse in der DDR. Die Diktatur verfeinerte ihre Herrschaftstechniken. Der brachialsten Methoden entledigte sie sich und ging zum "lautlosen Terror" (Jürgen Fuchs) über. Der SED-Staat konnte erst jetzt, nach seiner Abschottung, viel deutlicher die Züge eines Orwellschen Überwachungsstaates annehmen. Die Abschottung bedingte zugleich paradoxerweise die politische Öffnung. Die diplomatische Anerkennung der DDR wiederum bewirkte eine größere Akzeptanz des DDR-Staates auch im Inneren, nicht seiner Verhältnisse. Den Menschen blieb auch nichts weiter übrig, denn das Provisorium namens DDR etablierte sich auf internationalem Parkett als Dauergast. Bis 1989 zweifelte kaum jemand daran, dass die deutsche Teilung von Dauer sein würde, jedenfalls die eigene Lebenszeit überdauernd. Auch das zeitigte Rückwirkungen auf die ostdeutsche Bevölkerung. Wer nicht ausreisen oder fliehen wollte, richtete sich ein, bei den meisten verbunden mit einem Rückzug ins Private. Auch vieles Private kollektivierte die SED, aber es blieben genug Räume, die einen "normalen Alltag" garantierten. Der Historiker Stefan Wolle drückt diesen Zusammenhang so aus: "denn die Gartenzwergidylle der DDR und ihre politische Friedhofsruhe bedingten einander. (...). Die sauber geharkten Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenzen und die gepflegten Vorgärten bildeten keinen Widerspruch, sondern zwei Seiten desselben Systems. Das Kleinbürgerglück, das so viele westliche Beobachter bewunderten, existierte nicht neben, sondern als ein Teil der totalitären Herrschaft." Die SED-Führung schaffte es nur, die Körper der Menschen zu mobilisieren, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash einmal beobachtete, aber nicht de¬ren Herzen und Gedanken. Diese Beobachtung war letztlich für die DDR existenziell. Denn die Menschen waren gezwungen, sich einzurichten. Zugleich benötigte die SED-Führung Mauer und politisches Strafrecht, um das System aufrecht erhalten zu können. Die diesem entgegengebrachte Loyalität der meisten Menschen war nicht erkauft oder erhandelt, sondern durch Stacheldraht erwirkt. Sie waren dazu gezwungen, wollten sie "normal" leben. In der Diktatur existiert der Zwang, die Normalität unter anormalen Verhältnissen zu suchen. Wer sie nicht findet, stößt rasch an die Grenzen. Mauer und Zuchthäuser waren immanenter Teil dieser "Spielregeln". Eine "partizipatorische Diktatur", wie sie Historiker wie Mary Fulbrook, Martin Sabrow oder Thomas Lindenberger zu entdecken glaubten, gab (und gibt) es nicht. Wer solche Begriffsungetümer prägt, wer von "Ehrenämtern" in der Diktatur spricht, wer die Normalität in der Diktatur mit "bürgerlichen Begriffen" sucht, trägt nicht zur wissenschaftlichen Erhellung von Diktaturen bei – und legt zugleich ganz nebenbei auch ein Demokratieverständnis offen, das nicht zur Stärkung offener Gesellschaften beiträgt. Das mag als geschichtspolitische Einlassung diffamiert werden – ist aber hinnehmbar, wenn – in welcher Stoßrichtung auch immer – akzeptiert wird, dass Geschichtsauseinandersetzung natürlich immer auch gegenwartsbezogen erfolgt. Und deshalb übrigens war ein Mann wie Ludwig Mehlhorn letztlich klarsichtiger als Wolf Biermann, der aber wieder weiß es längst besser als so manche Historiker/innen, die nach einer "Mauer als Hoffnungsträger für innere Befreiung" suchen. Ludwig Mehlhorn (1950–2011) (© Ev. Akademie zu Berlin ) Die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck (Region Ost) und Martin Kruse (Berlin-West), 1989. (© epd-bild, Foto: Andreas Schölzel) Wachtturm an der Berliner Mauer 1981 (© picture-alliance/akg) Blick nach Ost-Berlin über die Mauer entlang der Bernauer Straße, 1980. (© picture-alliance/AP, Foto: Elke Bruhn-Hoffmann) Wolf Biermann bei seinem legendären Konzert am 14. November 1976 in Köln. (© picture-alliance/AP) Der Beitrag basiert auf drei, thematisch aufeinander aufbauenden Vorträgen d. Vf. in Berlin, im Sept. 2010 auf dem Historikertag, im Juni 2011 auf einer Tagung der Gedenkstätte Berliner Mauer sowie im Sept. 2011 auf einer Konferenz des Instituts für Zeitgeschichte und des BStU. Vgl. einige Nachrufe und Würdigungen unter http://www.havemann-gesellschaft.de/index.php?id=30 [10.12.2011]. Zu Leben und Wirken vgl. jetzt: Stephan Bickhardt (Hg.), In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn, Leipzig 2012. Einige Texte auch in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989, Berlin 2002. Außerdem ist u.a. hinzuweisen auf: Ders., Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2. Aufl., München 2009; Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; sowie Ludwig Mehlhorn, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für die Bürgerbewegung in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. 7, S. 1409–1436. Vgl. zu dieser Kritik in polemischer Zuspitzung, Ilko-Sascha Kowalczuk: Irgendetwas musste damals passieren. Die Mauer war weder Zufall noch Irrtum, in: taz, 13./14.8.2011, S. 25; ungekürzt und unter dem ursprünglichen Titel "Kommunisten bauen immer Mauern" unter: http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/DDRGeschichte/MfS-und-Mauer/Folgen/kommunisten-bauen-mauern.html [10.12.2011].Zu Leben und Wirken vgl. jetzt: Stephan Bickhardt (Hg.), In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn, Leipzig 2012. Einige Texte auch in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989, Berlin 2002. Außerdem ist u.a. hinzuweisen auf: Ders., Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2. Aufl., München 2009; Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; sowie Ludwig Mehlhorn, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für die Bürgerbewegung in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Hg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. 7, S. 1409–1436. Vgl. dazu ausführlicher: Kowalczuk, Endspiel (Anm. 3). Der Brief ist erstmals vollständig dok.: Kowalczuk (Hg.), Freiheit (Anm. 3), S. 405–412; ebf. in: Bickhardt (Anm. 3). Am 18.5.1986 hatte Bischof Kruse sich aus Anlass des 25. Jahrestages des Mauerbaus an Bischof Forck gewandt, dieser am 26.6.1986 geantwortet; dok.: epd-Dokumentation, 33a/86. Gemeint ist die vieldiskutierte und einflussreiche Schrift von Erich Müller-Gangloff, Mit der Teilung leben, München 1965. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004, S. 230. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 12. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 137. Siehe dazu die anregenden Essays in: Eva Horn u.a. (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die innere Staatsgründung. Von der gescheiterten Revolution 1953 zur verhinderten Revolution 1961, in: Ders./Torsten Diedrich (Hg.), Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR, Berlin 2005, S. 341–378. Vgl. neben Kowalczuk, Endspiel (Anm. 3), für die 1980er-Jahre, u.a. die überzeugende Studie für die 60er von Elke Stadelmann-Wenz, Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära, Paderborn 2009. Demnächst wird überdies im Rahmen eines Forschungsprojektes beim BStU eine erste diesbezügliche exemplarische Monografie erscheinen, die dieses Interaktionsverhältnis am Beispiel des Bezirkes Rostock 1949–1989 analysiert. Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln 1991, S. 218. So Martin Sabrows umstrittene These in: Ders., Monstrum und Mahnmal: Was die Mauer war und ist, in: Süddeutsche Zeitung, 8.8.2011, S. 8. Vgl. Sandra Pingel-Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1998, S. 229f. Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas, München/Wien 1990, S. 24f.
Article
Ilko-Sascha Kowalczuk
"2022-06-08T00:00:00"
"2012-02-01T00:00:00"
"2022-06-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/61489/es-gab-viele-mauern-in-der-ddr/
"Grenzen und Mauern sind eine Grunderfahrung für meine Generation geworden", schrieb Ludwig Mehlhorn 1986. Wer in der Diktatur lebte, war gezwungen, mit dieser Grunderfahrung umzugehen. Ein Beitrag über den Zwang, die Normalität unter anormalen Verhä
[ "Zeitgeschichte", "Widerstand", "SED", "Diktatur", "Nonkonformität", "Mauerfall", "Deutschland", "DDR" ]
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Partei für Gesundheitsforschung (Gesundheitsforschung) | Landtagswahl Thüringen 2019 | bpb.de
Gründungsjahr Landesverband 2018* Mitgliederzahl in Thüringen ca. 300* Landesvorsitz Kai Liebing* Wahlergebnis 2014 nicht angetreten *nach Angaben der Partei Die "Partei für Gesundheitsforschung" (Gesundheitsforschung) wurde 2015 gegründet. Sie bezeichnet sich selbst als "Ein-Themen-Partei" und setzt sich für eine staatliche Förderung der medizinischen Erforschung von Alterskrankheiten ein. Dadurch sollen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, Schlaganfall und Herzinfarkt wirksamer behandelt werden. Darüber hinaus soll auch ihre Entstehung erforscht und präventive Maßnahmen entwickelt werden. Mittlerweile hat die Partei elf Landesverbände. Seit 2016 trat sie bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen an. Parlamentarisch ist die Gesundheitsforschung bisher nicht vertreten. Bei einer Regierungsbeteiligung würde sich die Partei lediglich zu ihrem Thema einbringen und einem Koalitionspartner die anderen Politikfelder überlassen. In Thüringen tritt die Partei mit einer Liste mit 5 Kandidatinnen und Kandidaten an. Wie die Bundespartei setzt der Landesverband Thüringen programmatisch als einzigem Schwerpunkt auf die Forschungsförderung von altersbedingten Krankheiten. Dabei soll ein Prozent des staatlichen Haushalts zusätzlich in die Entwicklung von Medizin gegen Alterskrankheiten investiert werden. Eine Hälfte dieses Budgets soll in den Bau und Betrieb neuer Forschungseinrichtungen investiert werden, die andere Hälfte soll der Ausbildung von Wissenschaftlern in diesem Gebiet sowie dem Aufbau neuer Fachbereich an Universitäten dienen. Entsprechend dem eigenen Selbstverständnis finden sich zu vielen landespolitisch zentralen Bereichen wie Schule und Kinderbetreuung, Innere Sicherheit oder Infrastruktur sowie aktuellen (Klimapolitik, Fachkräftemangel) oder regionalen Themen (gleichwertige Lebensverhältnisse) keine Forderungen. Um ihre Ziele zu erreichen, ist die Gesundheitsforschung zur Zusammenarbeit mit allen Parteien in Thüringen bereit. Wie die Bundespartei würde die Landespartei alle Politikfelder neben der Gesundheitsforschung Koalitionspartnern überlassen und sich nur in die Gesundheitsforschung einbringen. Gründungsjahr Landesverband 2018* Mitgliederzahl in Thüringen ca. 300* Landesvorsitz Kai Liebing* Wahlergebnis 2014 nicht angetreten *nach Angaben der Partei
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Dr. Ossip Fürnberg
"2019-09-25T00:00:00"
"2019-09-06T00:00:00"
"2019-09-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/thueringen-2019/296640/partei-fuer-gesundheitsforschung-gesundheitsforschung/
Die Partei Gesundheitsforschung verfolgt als einziges politisches Ziel die bessere Erforschung altersbedingter Krankheiten. In ihrem Programm fordert sie daher, ein zusätzliches Prozent des staatlichen Haushalts in dieses Forschungsgebiet zu investie
[ "Wahlen", "Landtagswahl Thüringen 2019", "Wahl-O-Mat" ]
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Bürgerbudgets - Möglichkeiten in ländlichen Räumen | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Unter dem Titel "Bürgerbudgets zur Stärkung einer lebendigen ländlichen Gesellschaft?" beschäftigt sich der Wissenschaftler und langjährige Beobachter der nationalen und internationalen Bürgerhaushaltsentwicklungen, Dr. Carsten Herzberg, mit den gesellschaftsverbindenden Potentialen die Bürgerbudgets in kleineren Kommunen haben können. Ausgehend von dem Befund in den letzten drei Jahren einen regelrechten Boom von kleinen Bürgerbudgets in Brandenburg zu konstatieren, beschreibt Herzberg im folgenden Handlungsoptionen, die sich kleinere Kommunen zu nutzen machen können um Bürgerbudgets zu einem miteinander verbindenden Element für die Bürger/-innen werden zu lassen.
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Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-08-18T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512080/buergerbudgets-moeglichkeiten-in-laendlichen-raeumen/
Dr. Carsten Herzberg beschäftigt sich mit der Frage: "Wie können Bürgerbudgets den gesellschaftlichen Zusammenhalt in kleineren Kommunen stärken?"
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Bürgerhaushalte europaweit diskutieren | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Die Stärkung der Bürgerbeteiligung in Sachen Haushalte ist mittlerweile ein europaweites Phänomen. Ob Dänemark oder Spanien, in vielen Ländern Europas werden Bürgerhaushalte von Städten und Gemeinden geplant oder bereits durchgeführt. Die angewandten Beteiligungsmodelle sowie die daraus gewonnen Erfahrungen fallen dabei höchst unterschiedlich aus. Denn Bürgerhaushalte sind immer ein Spiegelbild kultureller und gesellschaftlicher Gegebenheiten des jeweiligen Landes (Externer Link: siehe hierzu Bürgerhaushalte in Frankreich). Bei allen Unterschieden, sind die Probleme und Herausforderungen solcher Beteiligungsverfahren häufig jedoch ähnlich. Umso sinnvoller ist es einen Blick über den Tellerrand zu werfen, um sich auf europäischer Ebene über Bürgerhaushalten auszutauschen und gemeinsam zu lernen. Einen Schritt in diese Richtung unternahm die Fokusgruppe Bürgerhaushalte (‚Participatory Budgeting‘) der Plattform ‚Networking European Citizenship Education‘ (NECE) vom 11. bis 12. Oktober in Berlin. Rund 20 Expertinnen und Experten aus unter anderem den Niederlanden, Spanien, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Dänemark trafen sich dazu im Dienstsitz der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin. Dort sprachen sie intensiv über ihre Erfahrungen in Sachen Bürgerhaushalte. Ein wichtiges Thema waren dabei die unterschiedlichen Herausforderungen mit denen die Organisatoren von Bürgerhaushalten zu kämpfen haben. Im Gespräch entwarfen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zudem neue Idee zur Weiterentwicklung von Beteiligungsmodellen und diskutierten erfolgreiche Fallbeispiele. Organisiert wurde der Workshop von der Bundeszentrale für politische Bildung und ProDemos aus den Niederlanden. Zum Abschluss richtete die internationale Expertengruppe den Blick nach vorne: Sie besprach die weitere Zusammenarbeit und legte anschließend fest, wie sich die Fokusgruppe auf der NECE-Konferenz (14.-16. November 2013) in Den Haag präsentieren wird. Jenny Southern, Teilnehmerin aus Großbritannien und Expertin im Bereich Jugendbeteiligung, zieht Externer Link: in ihrem Blog eine positive Bilanz des Treffens: „The focus group was a great success“, sagt sie und betont weiter, „it’s not about MY country and YOUR country, it’s about OUR Europe!’ and we should be working together internationally, to include people in making such vital decisions“. So zeigt sich, dass europäische Vielfalt in Sachen Bürgerhaushalte auch ein Gewinn sein kein. Was ist NECE? Networking European Citizenship Education kurz NECE ist eine Plattform zum Austausch und zur Vernetzung unterschiedlicher Akteure im Bereich politischer Bildung in Europa. In Rahmen von Konferenzen und Workshops bringt NECE große und kleine Institutionen, Nichtregierungsorganisationen (NROs), Regierungsinstitute und Experten aus ganz Europa zusammen, um sich über aktuelle Probleme und Herausforderungen in den verschiedenen Bereichen der politischen Bildung auszutauschen. Um diesen Transfer weiter thematisch zu bündeln, wurden verschieden Fokusgruppen eingerichtet, die sich unter anderem mit den Schwerpunktthema ‚Bürgerhaushalte‘ befassen. Quellen / Literatur Externer Link: Nähere Informationen zum Workshop der Fokusgruppe Bürgerhaushalte in Berlin Externer Link: Die Perspektive einer Teilnehmerin: Blogeintrag von Jenny Southern zu ihren Eindrücken des Workshops Externer Link: Weitere Informationen zu NECE, den Fokusgruppen sowie NECE-Konferenzen auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung Externer Link: Nähere Informationen zum Workshop der Fokusgruppe Bürgerhaushalte in Berlin Externer Link: Die Perspektive einer Teilnehmerin: Blogeintrag von Jenny Southern zu ihren Eindrücken des Workshops Externer Link: Weitere Informationen zu NECE, den Fokusgruppen sowie NECE-Konferenzen auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung
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Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-09-13T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512997/buergerhaushalte-europaweit-diskutieren/
Die Stärkung der Bürgerbeteiligung in Sachen Haushalte ist mittlerweile ein europaweites Phänomen. Zeit, einen Blick über den Tellerrand zu werfen, um gemeinsam zu lernen.
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The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East – UNRWA | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
Editorial note: The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) assists Palestinians and their descendants in Jordan, Lebanon, the West Bank, Gaza and Syria who became refugees in the wake of the 1948 Arab-Israeli War. The relief agency provides health care and education, runs schools, clinics and community centers, and is responsible for providing services such as road and sewer maintenance, garbage collection and water supply. UNRWA's mandate is renewed every three years. The relief agency depends on voluntary contributions to support its activities. Background of the creation of UNRWA: Towards the end of the British Mandate over Palestine in 1948, on November 29, 1947, the United Nations General Assembly voted in favor of the partition of Palestine into a Jewish state and a Palestinian Arab state (Resolution 181 II; 33 votes in favor of the resolution, 13 against the resolution, and ten abstentions). The Arab League, founded in 1945, and its six UN member states vehemently rejected the partition resolution and announced that they would take military action in case of its implementation. Following the UN decision, the armies of Syria, Lebanon, Jordan, Egypt and Iraq attacked Israel. In the course of the conflict hundreds of thousands of people on both the Jewish and Palestinian sides were forced to flee. In connection with the Palestinian refugees, the United Nations passed a number of other resolutions that to this day influence the rights and status of Palestinian refugees. Creation of Three UN Refugee Agencies Between 1948 and 1950, the UNGA passed resolutions establishing three international UN refugee agencies: the UN Conciliation Commission on Palestine (UNCCP), the UN Relief and Works Agency for Palestine Refugees (UNRWA), and the Interner Link: UN High Commissioner for Refugees (UNHCR). These three agencies had distinct international obligations relating to Palestinian refugees, which were well-defined at the time, but have since become ambiguous and little understood. The ambiguities in their mandates created what today is commonly known as the ‘protection gap’ for Palestinian refugees. Because these three agencies all have a part to play in the condition of Palestinian refugees worldwide, it is important to understand each of their mandates before focusing on UNRWA. The UNCCP was the first of the three agencies established by the UN, and its founding resolution, UNGA 194(III) of December 1, 1948, defined the scope of its mandate and the refugee population for whom it was responsible. It incorporated a group or category definition that extended to all habitual residents or citizens of Palestine who were either displaced by the 1947-49 conflict or were unable to return to the territory under Israeli control—a definition spelled out in the authoritative working papers of the UN Secretariat and its Legal Advisor and referred to by the delegates during the Resolution drafting. The UNCCP was given two separate mandates: one to protect the rights and interests of the refugees and to achieve a specific durable solution specified in paragraph 11 of Resolution 194; and another to resolve all the outstanding issues between the parties to the conflict. The UNCCP was given a global protection mandate to all Palestinians who were made refugees due to the conflict, required to bring about a particular durable solution for them, and intended to be a permanent UN agency until the conflict was resolved and the refugees were permitted to return to their homes. The second agency established a year later was UNRWA, with a distinctly different mandate from that of the UNCCP. UNGA Res. 302(IV) of 8 December 1949 established UNRWA as a three-year, temporary agency to provide relief and assistance (“relief and works”) to the refugees pending the durable solution the UNCCP was authorized to bring about. Its services initially extended to a subset of the population of UNCCP-defined ‘Palestine refugees’, that is, only to those ‘in need,’ and only to Palestinians in the five main host areas (Jordan, Lebanon, Syria, the West Bank and Gaza). UNRWA’s definition and extension of services have evolved today in response to the prolonged nature of the Palestinian refugee crisis, the demise of the UNCCP as a protection agency for Palestinian refugees, and the ongoing and multiple displacements of Palestinians from one host territory to another. Today, UNRWA’s refugee definition combines both group and individual definitions, but the definitions remain based on need for services and not refugee protection. The third international agency for refugees established by the UN was UNHCR. UNHCR’s mandate under its Statute (UNGA Res. 428(V) of 14 December 1950) and the 1951 Refugee Convention which it was established to monitor and promote, extends international protection and humanitarian assistance to both groups/categories of refugees and individual refugees. Under its Statute Article 1A(1), UNHCR’s mandate covers categories of refugees ‘grandfathered’ from earlier refugee agreements, and later UN Resolutions have authorized UNHCR to extend its protection to subsequent groups of refugees or ‘persons of concern.’ In contrast, Article 1A(2) of its Statute incorporates the universal individualized definition of refugee as ‘one who is outside his country of nationality and is unable and unwilling to return due to a well-founded fear of persecution for reasons of race, religion, nationality, political opinion or membership in a particular social group.’ Because the definitions in the UNHCR Statute and the Refugee Convention were intended to be ‘universal,’ Palestinians should have been covered by UNHCR’s Statute under Article 1, either as the refugee population defined for Resolution 194 or as individuals. However, for a number of reasons, their status was heavily debated in the drafting of these provisions, and a separate article applying only to Palestinian refugees was included in the two instruments. The UN’s Role in Palestinian ‘Exceptionalism’ The debate on drafting UNHCR's Statute and the 1951 Refugee Convention at the UN General Assembly brought the Arab states’ concerns about bearing the brunt of the Palestinian refugee disaster to the fore; between them, Jordan, Lebanon, Syria and Egypt were hosting the majority of the approximately 700,000–800,000 refugees who had been forced from their homes in Palestine and remained destitute in the neighboring Arab states. The Arab states pointed out that because this was the only refugee flow directly caused by a decision of the UN itself (the Partition Resolution), the UN bore particular responsibility towards the Palestinian refugees. They also pointed out that a ‘separate and special regime’ had already been established for Palestinians through UNCCP and UNRWA, the first entrusted with a protection mandate and the second with an assistance mandate for the refugees. In addition, the UN had established a very specific durable solution for the UNCCP to implement in paragraph 11 of Resolution 194, which was to facilitate the refugees “return to their homes…at the earliest practicable date, and [for] compensation…for the property of those choosing not to return and for loss or damage to property…under principles of international law or in equity.” Since return, restitution and compensation were the required solution for Palestinian refugees, the Arab states argued, a Convention and UN agency such as UNHCR that were focused on placing greater responsibility to third states for resettlement were inappropriate for Palestinian refugees, and they should not be covered by a regime inconsistent with one the UN had already established for them. For these reasons, the Arab states put forward amendments to the refugee definition section in both the UNHCR Statute and the Refugee Convention, incorporated in the first as Paragraph 7 (c) and in the second as Article 1D by the drafters. Paragraph 7(c) of UNHCR’s Statute states: “[T]he competence of the High Commissioner…shall not extend to a person…who continues to receive from other organs or agencies of the United Nations protection or assistance.” Article 1D states that “This Convention shall not apply to persons who are at present receiving from organs or agencies of the United Nations other than the UNHCR protection or assistance. When such protection or assistance has ceased for any reason, without the position of such persons being definitively settled in accordance with the relevant resolutions adopted by the General Assembly of the United Nations, these persons shall ipso facto be entitled to the benefits of this Convention.” At the outset, UNHCR took the position that Paragraph 7(c) excluded its mandate from assistance or protection of Palestinian refugees in the Arab host states, and that UNHCR might only extend its mandate to Palestinians who met the individualized definition of Article 1A(2) outside the UNRWA areas. Most states interpreted Article 1D of the Refugee Convention in the same way—excluding Palestinians from accessing UNHCR for either assistance or protection in the UNRWA areas, and only extending refugee recognition outside those areas to Palestinians who could meet the Article 1A(2) individualized criteria. Unfortunately, by the late 1950’s, the UNCCP’s inability to fulfill either prong of its mandate caused the UN to de-fund the agency, and by 1966 it was left with the resources to carry out only one aspect of its protection role: compiling and digitizing the property records of Palestinian refugees. Palestinians face a similar protection gap with regard to their status as stateless persons. The vast majority of Palestinians are both refugees and stateless persons—whether de facto or de jure. The 1954 Stateless Persons Convention, which would otherwise extend protection to Palestinians as stateless persons, has a provision similar to Paragraph 7(c) of the UNHCR Statute. Article 1(2)(i) of the 1954 Stateless Persons Convention excludes persons receiving protection and assistance from agencies other than the UNHCR “as long as they are receiving such protection or assistance.” Thus, application of this Convention is also denied Palestinian stateless persons and UNHCR, the Agency entrusted with monitoring compliance with the Stateless Persons Convention, has not acted to address this gap, either. UNRWA and the Protection Gap UNRWA’s role and efforts to bridge the protection gap that leaves Palestinians outside the global refugee protection instruments is hampered by the limits of its mandate, its governing structure and resources. UNRWA’s initial focus on emergency relief turned to ‘works’ after the Economic Survey Mission recommended large-scale development projects aimed at settling the refugees in the Arab host states. Political opposition by the Arab states and Palestinian refugees themselves towards integration effectively blocked any attempt to expand UNRWA’s role. By the early 1960’s, UNRWA had re-focused its resources on education, and instituted an ambitious plan to build schools, and then to health provision; shelter and camp improvement; and microfinance and microenterprise development programs. As UNRWA has been forced to respond to an increased need for human rights intervention in repeated conflicts and ongoing Palestinian displacement, the UNGA has included the language of ‘protection’ and ‘legal rights’ in conjunction with UNRWA’s activities. These Resolutions fall into three categories: recommending ‘protection measures’; commending UNRWA for undertaking protection activities; and recognizing as fact that UNRWA’s role includes ‘assistance and protection.’ UNRWA has established a number of ad hoc and permanent measures through which it seeks to expand protection activities, including its Refugee Affairs Officers program in the 1990’s, its ‘Medium Term Strategy’ of 2010-2015 to mainstream protection activities, the establishment of its Protection Officers, and its collaborations with UNHCR in the Iraq and Syrian conflicts to attempt to find solutions for individual Palestinian families and groups stranded in border camps. Despite these efforts, it remains unproven whether UNRWA can actually deliver the protection activities it has elaborated, or advance legal rights for its beneficiaries (about five million registered Palestine refugees today). Even so, UNRWA’s mandate cannot cover the most critical aspect of protection lacking for the vast majority of Palestinian refugees, the search for and access to durable solutions. UNRWA itself agrees that on the core refugee rights of searching and implementing durable solutions, it has no mandate, other than to highlight the need for a just and comprehensive solution for the refugee problem. For Palestinian refugees, that solution remains, as a matter of binding international law and state consensus, the formula under Resolution 194 of the right to return to home and place of origin, restitution of properties in Palestine, and compensation for losses under law and equity. Conclusions and Implications The UNGA Resolution 194 definition of ‘Palestine refugee’ applies today to a total population of Palestinians, including a third generation, of approximately 7.4 million Palestinians of the 11.8 million global population of Palestinians. The Agency that was to identify the beneficiaries of that definition and provide the full panoply of international protection functions, the UNCCP, has become defunct as a legal but not practical matter. UNRWA’s assistance-based definition applies to the 5.4 million registered Palestinian refugees, but the level of assistance available (beyond the basic education and health services for refugees in the camps) depends on the generosity of main donor states, and UNRWA has been in chronic funding crisis for years. UNHCR’s definition of who is a Palestinian refugee and is entitled to protection outside of the five UNRWA fields has evolved over the years. Today, in light of the two recent decisions from the European Court of Justice (ECJ), Bolbol v. B.A.H (2010) and El Kott v. B.A.H (2012), UNHCR has three applicable definitions: 1) ‘Palestine refugees’ who fit the group definition of Resolution 194, are outside UNRWA’s areas and unable to return there for reasons described in the ECJ decisions and thus automatically entitled to protection under Article 1D; 2) Palestinians who became ‘displaced persons’ due to the 1967 conflict, but whose legal status is unclear; and 3) ‘Palestinian refugees’ who fit in neither of the above categories but are outside UNRWA areas due to a well-founded fear of persecution, and whose status is determined under Article 1A(2). These definitions are inadequate for UNHCR to close the protection gap, because under its application of Article 1D of the Refugee Convention, a durable solution-related definition applies to only about half of the global Palestinian refugee population. The majority of Palestinians subjected to multiple displacements will not receive protection under Article 1A(2) under most states’ application of resettlement and safe third country doctrines. Thus, the initial ‘separate and special regime’ that the UN established through two UN agencies designed to provide both protection and assistance to Palestinian refugees as an entire displaced population, and to implement return and restitution for them, has become a regime of inconsistent and inadequate protection, leaving the majority of the global Palestinian population of approximately 11.8 million people today without access to durable solutions under international law. References/Further Reading Akram, S.M. (2014), 'UNRWA and The Great Debate: Palestinian ‘Exceptionalism,’ Whether it Matters, and the Role International Agencies Play,' in Handbook of Refugee and Forced Migration Studies, New York: Oxford University Press. Akram, S.M./Lynk, M. (2011), 'Arab-Israeli Conflict,' in Wolfrum, R. (ed.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Vol. 1, New York: Oxford University Press, pp. 499-525. Akram, S. M./Rempel, T. (2004), Temporary Protection as an Instrument for Implementing the Right of Return for Palestinian Refugees, Boston University International Law Journal, Vol. 22, No. 1, pp. 1-162. BADIL (2015), Survey of Palestinian Refugees and Displaced Persons: 2013-2015, Vol. 8, Bethlehem: BADIL Resource Center. BADIL (2015), Closing Protection Gaps: Handbook on Protection of Palestinian Refugees in States Signatories to the 1951 Refugee Convention, 2d edition, Bethlehem: BADIL Resource Center. Bartholomeusz, L. (2010), The Mandate of UNRWA at Sixty, Refugee Survey Quarterly, Vol. 28, pp. 452-474. Convention Related to the Status of Refugees (adopted 28 July 1951, entered into force 22 April 1954) 189 UNTS 150. Convention Related to the Status of Stateless Persons (adopted 28 September 1954, entered into force 6 June 1960) 360 UNTS 117. Court of Justice of the European Union (2010), Bolbol v. Bevandorlasi es Allampolgarsagi Hivatal (B.A.H), C-31/09, 17 June. Court of Justice of the European Union (2012), El Kott v. Bevandorlasi es Allampolgarsagi Hivatal (B.A.H), C-364/11, 19 December. Interim Report of the Director of the UNRWA (1950), GOAR, 5th sess., suppl. 19, 6 October, UN Doc. A/1451/Rev.1. Kagan, M. (2010), Is there Really a Protection Gap? UNRWA’s Role vis-à-vis Palestinian Refugees, Refugee Survey Quarterly, Vol. 28. LaGuardia, D./Van den Toorn, W. (2011), Evaluation of UNRWA’s Organizational Development (OD), Brussels: Transtec Project Management. Available at: Externer Link: http://www.unrwa.org/userfiles/2012011541241.pdf. Morris, N. (2008), Consultant’s Report Dated 31 March 2008: What Protection Means for UNRWA in Concept and Practice. Available at: Externer Link: http://www.unrwa.org/userfiles/20100118155412.pdf. Report Submitted to the Security Council by the Secretary-General in Accordance with Security Council Resolution 605 (1987) (21 January 1988), UN Doc. S/19443. Schiff, B. (1995), Refugees unto the Third Generation: UN Aid to Palestinians, Contemporary Issues in the Middle East, Syracuse University Press, 2d Ed. Takkenberg, L. (2007), 'The Search for Durable Solutions for Palestinian Refugees: A Role for UNRWA?', in Benvenisti, Eyal/ Gans, Chaim/Hanafi, Sari (eds.), Israel and the Palestinian Refugees, Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. UN Conference of Plenipotentiaries on the Status of Refugees and Stateless Persons, Summary Record of the Twenty-ninth Meeting (28 November 1951), UN Doc A/CONF.2/SR.29. UN GAOR (27 November 1950), UN Doc. A/C.3/SR.328. 3d Comm., 5th Sess., 328th mtg. UN Secretariat, UNCCP Memorandum on Relations Between UNRWA and UNCCP (30 March 1950), UN Doc. A/AC.25/W/42. UNCCP Analysis of Paragraph 11 of the General Assembly’s Resolution of 11 December 1948 (15 May 1950), UN Doc. W/45. UNCCP Definition of a ‘Refugee’ under Paragraph 11 of the General Assembly Resolution of 11 December 1948 (9 April 1951), UN Doc. A/AC.25/W/61. UNCCP Summary Record of the Three Hundred and Fifty-First Meeting (13 September 1962), UN Doc A/AC.25/SR.351. UNHCR (1979, reedited 1992), Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status under the 1951 Convention and the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, HCR/IP/4/Eng/REV.1. UNHCR (2009), Revised Note on the Applicability of Article 1D of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees to Palestinian Refugees. UNHCR (2013), Note on UNHCR’s Interpretation of Article 1D of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and Article 12(1)(a) of the EU Qualification Directive in the context of Palestinian refugees seeking international protection. UNGA Res. 181(II) (29 November 1947), UN Doc. A/RES/181(II). UNGA Res. 194(III) (11 December 1948), UN Doc. A/RES/194 (III). UNGA Res. 302(Iv) (8 December 1949), UN Doc. A/RES/302/IV. UNRWA (2012), Outline of Protection Initiatives, available at: Externer Link: http://www.unrwa.org/userfiles/file/publications/UNRWA-Protection.pdf. UNRWA (2010), UNRWA Medium Term Strategy. 2010-2015, available at: Externer Link: http://www.unrwa.org/userfiles/201003317746.pdf. UNRWA (2009), Consolidated Eligibility Registration Instructions (CERI), available at: Externer Link: http://unispal.un.org/pdfs/UNRWA-CERI.pdf. Weis, P. (ed.) (1995), Travaux Preparatoires of the Refugee Convention, 1951 Cambridge: Grotius. Interner Link: This text is part of the policy brief on "Actors in National and International (Flight)Migration Regimes".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-06-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/229620/the-united-nations-relief-and-works-agency-for-palestine-refugees-in-the-near-east-unrwa/
UNRWA assists Palestinians and their descendants in Jordan, Lebanon, the West Bank, Gaza, and Syria who became refugees in the wake of the 1948 Arab-Israeli War.
[ "UNRWA", "UN", "United Nations", "refugee", "Migrant", "Migration", "near east", "Palestine", "Israel", "Palestinian", "Palestine", "Israel" ]
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Victor Laville. Ein französischer Zwangsarbeiter in Bayern | NS-Zwangsarbeit. Lernen mit Interviews | bpb.de
Victor Laville mit 19 Jahren an der Kunsthochschule, Montpellier 1940/1941 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") 18. Juli 1921: Geburt in Grau du Roi (Frankreich) 1928: Schulbesuch in Sète Bekanntschaft mit dem späteren Chansonnier Georges Brassens, Abitur 1940: Studium in Montpellier Beginn des Kunststudiums in Montpellier, 1941 Marseille Veröffentlichung von Zeichnungen 1941 - Juni 1942: Arbeitsdienst in den Cevennen Waldarbeiten bei den „Chantiers de Jeunesse“ (Arbeitsdienst des Vichy-Regimes) in den Cevennen März 1943: Zwangsarbeit bei der Luitpoldhütte Amberg (Oberpfalz) Verpflichtung zum Service du Travail Obligatoire (STO, „Pflichtarbeitsdienst“) bei der Luitpoldhütte der „Reichswerke Hermann Göring“ in Amberg April - Juni 1943: Zwangsarbeit in Hirschau (Oberpfalz) Arbeit im Zementwerk von Polensky und Zöllner in Hirschau Victor Laville mit 85 Jahren am Tag des Interviews, 10. Juli 2006 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") 1943: Zwangsarbeit in Penzberg (Oberbayern) Vermessungsarbeiten auf einer Baustelle der Reichsbahn Mai 1944: Rückkehr nach Sète Victor Laville bleibt nach Heimaturlaub in Sète und taucht in der Nähe unter Bombardierung seiner Heimatstadt Nach 1945: Leben in Paris Arbeit als Gestalter und Redakteur bei „Paris Match“ 1981: Rente und Rückkehr nach Sète Pflegt die Erinnerung an seinen alten Freund, den französischen Chansonnier Georges Brassens Weiterführender Link: Externer Link: Victor Laville. Ein französischer Zwangsarbeiter in Bayern Biografischer Kurzfilm in der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" (Registrierung notwendig) Victor Laville mit 19 Jahren an der Kunsthochschule, Montpellier 1940/1941 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945") Victor Laville mit 85 Jahren am Tag des Interviews, 10. Juli 2006 (© Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945")
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2016-05-11T00:00:00"
"2022-01-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/ns-zwangsarbeit/227581/victor-laville-ein-franzoesischer-zwangsarbeiter-in-bayern/
Interview mit dem französischen Zwangsarbeiter Victor Laville.
[ "Victor Laville Zwangsarbeit Frankreich Nationalsozialismus NS Biografie" ]
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Qualität in der Krise? | Qualitätsjournalismus | bpb.de
Der Abend endete mit einem Eklat. Bei der diesjährigen Verleihung des Henri-Nannen-Preises stießen journalistische Welten aufeinander, die dieses Zusammentreffen nicht schadensfrei überstehen konnten. Die Jury zeichnete die "Bild“-Reporter Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch für ihre Veröffentlichung "Hat Wulff das Parlament getäuscht?“ zum Kreditgebaren des damaligen Bundespräsidenten aus, einträchtig neben dem Recherche-Team der "Süddeutschen Zeitung“ für deren Investigation zur "Formel 1-Affäre“ bei der Bayerischen Landesbank. Erstmalig erhielten damit Schreiber der Boulevardzeitung "Bild“ den angesehenen Journalistenpreis, hatten sie doch mit ihrer Veröffentlichung den Stein, der schließlich Christian Wulff zum Rücktritt bewog, ins Rollen gebracht. Doch eine solche Wertschätzung des Boulevardjournalismus mochten die drei Redakteure der "Süddeutschen Zeitung“ nicht neben sich dulden. Der prominente Recherchejournalist Hans Leyendecker lehnte den Preis ab, "weil ich es auch ein Stückchen für einen Kulturbruch halte“. Überzeugende Argumentation klingt anders. Die dichotome Unterscheidung zwischen seriösem Qualitätsjournalismus und niveaulosem Boulevard überzeugt hier nicht länger als normative Strukturierung journalistischer Angebote. Die Boulevardzeitung bot einerseits aufklärende investigative Recherche und war zugleich strategischer Geschäftspartner des Bundespräsidenten – eine Geschäftsbeziehung, die nicht länger lukrativ erschien. So bot das Ereignis der "Bild“ Gelegenheit zu beträchtlichem Reputationsgewinn, ohne dabei das Geschäftsmodell infrage zu stellen. Im Gegenteil: Aufklärung durch Investigation erweist sich in diesem Fall auch ökonomisch als erfolgreich. Erkennbar wird dabei, unter welchem Druck sogenannter Qualitätsjournalismus steht, der seine Identität und Legitimation auch in Abgrenzung zu anderen, unterhaltenden Formen des Journalismus sucht. Ist journalistische Qualität allein einem Qualitätsmedium vorbehalten, gar allein das Privileg der überregionalen Presse in Deutschland? Die Entscheidung der Jury und die Reaktion der Preisverweigerer lösten eine intensive Debatte aus – weniger über Qualität als über journalistische Moral und die Moral von Journalistinnen und Journalisten. Dabei erwies sich die Leserschaft der jeweiligen Zeitungen in Leserbriefen und Online-Kommentaren als weitestgehend loyal gegenüber ihren Blättern. Distinktion findet auf Seiten des Publikums genauso statt wie in der journalistischen Profession. Dabei soll die Verleihung von Journalistenpreisen wie dem "Henri“ originär der Qualitätssicherung dienen. Lässt sich doch auf diesem Wege erstklassiger Journalismus identifizieren und in prächtigen Galas feiern. Doch schon im vergangenen Jahr ging es schief. Da wurde einem preisgekrönten "Spiegel“-Redakteur die Ehrung wieder aberkannt, nachdem bekannt geworden war, dass nicht alle Beobachtungen in seiner Reportage auf eigenem Augenschein beruhten. Quellentransparenz als Qualitätskriterium schien auf dieser Grundlage nicht gewährleistet, suggerierte die Form der Reportage doch die Augenzeugenschaft. Kritik gab es in diesem Jahr auch von Seiten zahlreicher Journalistinnen. Die Initiative ProQuote, die für einen 30-prozentigen Frauenanteil in deutschen Chefredaktionen kämpft, kommentiert ernüchtert: "Überraschend auch, wie deutlich die Jury entschied: Preiswürdige Qualität ist männlich, und zwar zu 100 Prozent.“ Was zeigt sich an diesen öffentlichen Auseinandersetzungen? Keine glückliche Hand auf Seiten der Jury? Oder schwindet ein professioneller und auch gesellschaftlicher Konsens über das, was unter Qualität im Journalismus zu verstehen ist? Ansprüche an einen strapazierten Begriff Wie unter einem Brennglas wird an dem beschriebenen Eklat sichtbar, unter welchem Druck Qualitätsjournalismus in Deutschland steht. Schon der Begriff erscheint diskussionswürdig: Zwischen Modewort, ideologischem Tarnbegriff und Tautologie verortet ihn Volker Lilienthal, selbst Professor für Qualitätsjournalismus, in einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien. Der Medienökonom Jan Krone schreibt 2010 im Medien-Blog "Carta“: "Das Unwort vom Qualitätsjournalismus lässt sich als Muffe zwischen Ideologien und Interessen begreifen.“ Als "moralisches Bollwerk einer publizistischen Elite“ kritisiert er das Konzept von Qualitätsjournalismus, das eine exklusive Leistung verspricht, diese jedoch nur in eingeschränktem Maße und keineswegs exklusiv erbringt. Vor diesem Hintergrund scheint es erforderlich, zwei Fragen zu klären: Erstens, was verstehen wir unter Qualitätsjournalismus, und wie verhält er sich zu einzelnen Medien, die sich selbst als Qualitätsmedien bezeichnen? Und zweitens, welche Ansprüche werden an Qualitätsjournalismus gerichtet, und wo besteht Anlass zur Sorge, dass diese Ansprüche nicht (mehr) hinlänglich erfüllt werden? Als "leidende Leuchttürme“ bezeichnet Roger Blum Medien des Qualitätsjournalismus, unter die er neben öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten insbesondere die überregionale Tagespresse und Nachrichtenmagazine fasst. Als normatives Konzept verweist der Begriff "Qualitätsjournalismus“ auf Leistungen, die für das Publikum erbracht werden. Relevant sind hier eine Informationsfunktion – Was geschieht? –, eine Orientierungsfunktion – Was ist wichtig? –, eine (nur noch schwach ausgeprägte) Integrationsfunktion – Was verbindet uns? – sowie eine Kritik- und Kontrollfunktion – Was läuft falsch? Dabei dient die öffentliche Legitimation von Journalismus, das Publikum zur kompetenten Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen zu befähigen, implizit als Grundlage. Zweifellos bietet Journalismus heute deutlich mehr: news to use, Ratgeberjournalismus, Lifestyle-Journalismus, Reiseberichterstattung oder Sportübertragungen. Diese journalistischen Formen und Angebote haben sich auf dem Zeitschriftenmarkt oder im Repertoire der Nachrichtenagenturen und Rundfunkanstalten deutlich erweitert. Sie erweisen sich ökonomisch mit präziser Zielgruppenadressierung als erfolgreich und gesellschaftlich als bedeutsam, konzentrieren sie doch öffentliche Aufmerksamkeit auf entsprechende Diskurse und generieren diese Aufmerksamkeit zugleich selbst. So lässt sich am Beispiel des Sportjournalismus zeigen, dass mit und durch Berichterstattung zu internationalen Ereignissen wie Fußballmeisterschaften nationale Identität etabliert und gestärkt wird. Damit trägt Sportjournalismus zu einer Veralltäglichung und Popularisierung von Nationalgefühl bei. Zugleich bedienen sich politische Akteure genau dieser sportlichen Arena, um ihre Popularität zu steigern und sich Attribute des Erfolgs zu sichern. Sportjournalismus trägt damit durchaus zu demokratietheoretisch relevanten (oder problematischen) Dimensionen der Gemeinschaftsbildung bei, besetzt in der Qualitätsdebatte jedoch allenfalls eine randständige Position. Das Gütesiegel des Qualitätsjournalismus greift vorrangig auf die Felder der Politikberichterstattung sowie ergänzend – und kritisch diskutiert – der Wirtschafts- und Gesellschaftsberichterstattung zurück. Trotz Ausdifferenzierung und Diversifizierung der journalistischen Angebotsstruktur scheint das normative Konzept gleichbleibend eng gefasst. Eine Schlüsselfunktion übernehmen Qualitätsmedien dann, wenn sie sowohl für Journalisten als auch für politische und wirtschaftliche Eliten zu zentralen Referenzpunkten, zu Leitmedien werden. Als Qualitätsmedien gelten jene, die intensiv von anderen Journalisten genutzt werden. Zitationshäufigkeit und wechselseitige Verweisstrukturen als Formen der medialen Selbstbezüglichkeit werden damit zu einem relevanten Kriterium. Auf dieser Ebene scheint die dichotome Struktur von Qualitäts- und Boulevardjournalismus nicht länger konsistent zu sein: Aktuelle Befragungen machen sichtbar, dass neben überregionalen Abonnementzeitungen auch die "Bild“ intensiv in Redaktionen gelesen wird. "Spiegel Online“ nimmt im Feld der Onlinemedien unumstritten die Position eines Leitmediums ein. Relevanzstrukturen haben sich damit in der Profession selbst verschoben. Neben der journalistischen Referenz gilt die Wahrnehmung und Rezeption bei politischen und ökonomischen Entscheidungsträgern als bedeutsam. Damit erscheinen Qualitätsmedien als Elitemedien und lassen erkennen, dass dem normativen Konstrukt zugleich gesellschaftliche Ausschlussmechanismen eingeschrieben sind. In der Themensetzung, der sprachlichen Gestalt und dem Modus der Argumentation adressiert ein solcher Qualitätsjournalismus ein überdurchschnittlich gebildetes, medienkompetentes Publikum, das über Entscheidungs- und Gestaltungsmacht verfügt – eine gesellschaftliche Minderheit. Qualität lässt sich jedoch auch von der anderen Seite her bestimmen. Nicht Journalisten oder politische Entscheidungsträger bewerten die Güte journalistischer Angebote, sondern das Publikum selbst. Wird ein solcher Perspektivwechsel vorgenommen, so verändern sich die Kriterien, anhand derer bewertet wird. Stehen in der professionellen Bewertung Kriterien wie Relevanz, Vielfalt, Aktualität, Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit, Rechercheleistung und Kritik im Mittelpunkt, so erhalten aus der Rezipientenperspektive unter user quality gefasste Kriterien wie Verständlichkeit sowie leichte und vielfältige Zugänglichkeit verstärkt Bedeutung. Eine Frage des Mediums? Wo findet sich nun Qualitätsjournalismus? Diese Frage lässt sich nur empirisch beantworten, denn Qualität lässt sich messen: an der Themenvielfalt, der Vielfalt von Darstellungsformen oder Quellen. Messbar ist das Ausmaß originärer Recherche oder exklusiver Themen. Offenkundig wird dabei, dass es nicht den einen Maßstab für alle journalistischen Produkte und Formate geben kann. Die Qualität einer Lokalzeitung bemisst sich an anderen Leistungen als die eines wöchentlichen Magazins. Aber bleibt Qualität an spezifische Medien gebunden? Im Alltagsdiskurs wird Qualitätsjournalismus zumeist mit Qualitätszeitungen – als solche gelten in Deutschland fünf bis sechs überregionale Blätter – gleichgesetzt. Und auch die kommunikationswissenschaftliche Forschung konzentriert sich auf dieses Medium. Die Ausdifferenzierung der Ressorts, das Netzwerk an Korrespondenten, die Adressierung einer nationalen Leserschaft und die inhaltliche Breite der Berichterstattung werden als Gütekriterien genannt. Auch Jürgen Habermas verweist auf eine solche zentrale Funktion der "Qualitätspresse“ und spricht ihr meinungsbildende Funktion zu. Er privilegiert die Presse damit vor anderen – insbesondere elektronischen – Medien: "Ohne die Impulse einer meinungsbildenden Presse, die zuverlässig informiert und sorgfältig kommentiert, kann die Öffentlichkeit diese Energie (zur Meinungs- und Willensbildung, M.L.) nicht mehr aufbringen.“ Das Fernsehen verortet er – ähnlich anderen Kulturpessimisten – als "Toaster mit Bildern“ und spricht ihm qua Medium und qua Marktförmigkeit aufklärendes Qualitätspotenzial ab. Doch so pauschal und rigide lässt sich Qualität kaum an das Medium binden. Problematisch erscheint dies insbesondere, wenn im Bereich der Presse Marktförmigkeit als strukturierendes Prinzip akzeptiert wird, was im Bereich des (Privat-) Rundfunks als problematisch erscheint. Insbesondere in der nicht (primär) marktförmigen Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks lassen sich spezifische journalistische Qualitätsleistungen identifizieren. Wenn man wiederum die Fokussierung auf politische Diskurse zugrunde legt, so ist es einerseits die öffentlich-rechtliche Nachrichtenproduktion, andererseits sind es die Politmagazine von ARD und ZDF, denen die normative Funktion des "Leuchtturms“ zugewiesen wird. Nicht zuletzt zur Legitimation der Gebührenfinanzierung dient der regelmäßig erbrachte Nachweis, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme in besonders umfänglicher Weise Informationen durch politische Fernsehpublizistik zur Verfügung stellen. Nun garantiert Masse nicht unmittelbar Qualität. Aber es sind auch gerade die Redakteure und Autoren öffentlich-rechtlicher politischer Magazine, die in der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche“ Qualitätsdimensionen diskutieren und durch Rechercheförderung und -trainings systematisch weiterentwickeln. Weniger eindeutig zu bestimmen ist die journalistische Qualität im Internet. Einerseits strahlen journalistische Marken der analogen Welt ins Netz ab und dienen dort dem branding, um den Nutzern Navigationshilfe in der Angebotsfülle zu bieten. Andererseits lassen sich damit allein behelfsmäßige Reproduktionen des Traditionellen herstellen. Der Dynamik, Vielfalt und Fluidität der Netzkommunikation kann ein solcher an "alte“ Medien gebundener Qualitätsmaßstab nicht gerecht werden. Im Netz ist bereits die trennscharfe Unterscheidung zwischen journalistisch-professioneller und nicht-journalistischer Laienkommunikation angesichts partizipativer und kollaborativer Kommunikationsmöglichkeiten nur eingeschränkt möglich. Übergreifende Qualitätsstandards für diese unterschiedlichen Formen erscheinen weder möglich noch wünschenswert. Krisenerscheinungen: Fünf Dimensionen Zugleich jedoch stellt die digitale Netzkommunikation eine zentrale Ursache für die Rede von der Krise des Journalismus und damit auch einer Krise journalistischer Qualität dar. Dabei werden im Folgenden fünf Dimensionen unterschieden, auf denen sich krisenhafte Phänomene beobachten lassen. Auf ökonomischer Ebene steht das historisch gewachsene Geschäftsmodell des Journalismus infrage, das über mehr als ein Jahrhundert eine Refinanzierung publizistischer Leistungen neben dem Verkaufspreis durch Anzeigengeschäfte ermöglicht hat. Wesentliche Bausteine des Anzeigengeschäfts – wie Klein- oder Stellenanzeigen, aber zunehmend auch Markenwerbung, die zielgruppengenau platziert werden soll – sind unwiderruflich an Kommunikationsplattformen im Internet verloren gegangen. Andere Formen der Refinanzierung sind bislang nicht in vergleichbarer Größe erkennbar. Diskussionen über Stiftungs- oder Spendenfinanzierung stehen noch am Anfang und erscheinen zumindest in Deutschland nicht als äquivalente Größe. Deshalb reagieren insbesondere Verlage auf diese Entwicklung mit Kostenreduktion. Dies zeigt sich einerseits in Personaleinsparungen, also der drastischen Reduktion des redaktionellen Kernpersonals und der Auslagerung auf kostengünstige, flexibel einsetzbare, freie Mitarbeiter, sowie andererseits im Verzicht auf publizistische Ressourcen wie dem Nachrichtenangebot der dpa (Deutsche Presse-Agentur), die bis dahin als sakrosankt galten. Qualitätseinbußen und damit der Verlust originärer Leistungsfähigkeit sind die unvermeidliche Folge dieser Sparmaßnahmen. Auf dieser Grundlage sind Vorschläge zur öffentlichen Förderung von Printmedien entwickelt worden. Doch die Sorge über einen Verlust an Staatsferne und mögliche Einflussnahme durch staatliche Akteure lässt solche veränderten Finanzierungsmodelle fraglich erscheinen. Auf struktureller Ebene steht Journalismus in seiner exklusiven Leistungsfähigkeit zur Disposition. Das Internet als Alltagsmedium bietet einen Kommunikationskanal, der die Profession in zweifacher Hinsicht zu bedrohen scheint. Im Netz stehen auf Algorithmen basierende Informationen kostenlos zur Verfügung, die redaktionelle Leistungen partiell zu ersetzen drohen und veränderte Selektionskriterien relevant werden lassen. Nachrichtenangebote von Google oder AOL liefern ohne professionelle redaktionelle Bearbeitung Informationen, die von Einzelnutzern und Redaktionen als kostenlose Rohware genutzt werden. Journalistische Leistung als wertvolles Gut lässt sich in diesem Umfeld schwer verteidigen. Eine paywall im Netz ist bislang nur für wenige, zumeist ökonomisch relevante Informationen erfolgreich etabliert worden. Die andere strukturelle Bedrohung liegt in der Entgrenzung der Kommunikatoren. Es sind längst nicht mehr allein Journalisten, die relevante Themen für die öffentliche Diskussion bereitstellen. Als "Produtzer“ (produser) bezeichnet Axel Bruns die Rollenverschmelzung von Produzenten und Rezipienten. "The people formerly known as the audience“ werden nun zu (potenziell) aktiven Kommunikatoren. Die Schärfe, mit der Blogger sich von professionellen Journalisten abgrenzen (und vice versa), zeigt, welcher Kampf um Besitzstände und gesellschaftliche Deutungsmacht hier geführt wird. Journalismus verliert auch auf der inhaltlichen Ebene an Reputation. Anything goes – das scheint der Imperativ journalistischer Produktion, solange damit Geld zu verdienen ist: Die schier unendliche und weiter wachsende Vielfalt an Angeboten aus dem Bereich special und very special interest geht einher mit einem beschleunigten Aktualisierungszyklus und ständigem Output auf mehreren Distributionskanälen (gedruckte Zeitung, E-Paper, Tabletversion). Aus normativen Idealen motivierter Journalismus, dessen Hauptanliegen es ist, dem Publikum notwendige Informationen zu liefern, um als mündige Bürgerinnen und Bürger agieren zu können, macht offenkundig nur noch einen (zunehmend kleineren) Teil des Gesamtangebots aus. In dieser Entwicklung erscheint der politische Nachrichtenjournalismus keineswegs mehr unstrittig als Kern, von dem sich ausfransende Ränder abgrenzen lassen. Vielmehr steht hier grundlegend das Verhältnis von Zentrum und Peripherie journalistischer Produktion zur Disposition. Auf organisatorischer Ebene zeigt Journalismus ein deutliches Moment der Trägheit. Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewachsenen redaktionellen Strukturen haben im Zuge der professionellen Ausdifferenzierung spezifische Programme, Rollen und Funktionen etabliert. Diese tradierten Strukturen erweisen sich aktuell als Innovationsbremsen. Die Dynamik, mit der sich Tätigkeitsfelder der öffentlichen Kommunikation im Zuge der Digitalisierung verändert haben, findet in den gewachsenen, vorrangig regional geprägten Strukturen journalistischer Organisationen wie Lokal- und Regionalzeitungen keinen Ausdruck. Sichtbar wird dort das Bemühen, tradierte Strukturen abzusichern und fortzuführen. Auf der Organisations- und Managementebene sind nur wenige Kompetenzen zur Entwicklung innovativer Kommunikationsformen und -formate erkennbar. Hier ist es dringend geboten, mit veränderten Formen der Publikumsadressierung und -beteiligung neue Konzepte journalistischer Kommunikation zu entwickeln. Da andere Medienorganisationen wie digitale Start-up-Unternehmen erheblich schneller und dynamischer handeln, wandelt sich in der Folge das organisatorische Setting dahingehend, dass mit dem Begriff der "Content-Produktion“ nicht länger systematisch zwischen journalistischer Aussagenproduktion und anderen Formen öffentlicher Kommunikation unterschieden wird. Schließlich befindet sich Journalismus auf der gesellschaftlichen Ebene in einer veränderten Rolle. Journalismus hat seine exklusive Funktion, durch aktuelle und relevante Informationen zur öffentlichen Selbstverständigung beizutragen, unwiderruflich verloren. Durch professionelle PR-Kommunikatoren, die Partikularinteressen verfolgen, durch Formen der Unterhaltungskommunikation sowie durch Blogs, Twitter und citizen journalism als Formen des User Generated Content sind weitere Modi etabliert, die gesellschaftliche Kommunikation gestalten. Teilweise bedienen sich diese noch des Umwegs über den Journalismus. Im Bereich der strategischen PR wird jedoch immer häufiger das Publikum direkt adressiert – zuweilen, ohne dass die Herkunft auf Rezipientenseite klar erkennbar ist. Resümee Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Journalismus auf der personellen, der inhaltlichen und der symbolischen Ebene an Relevanz, Reputation und Exklusivität eingebüßt hat. Zweifellos gehen damit Verluste einher; offenkundig sind diese mit Blick auf vormals existierende Ressourcen wie Einkommen und Reputation der Profession, besorgt wird aber auch der Qualitätsverlust gesellschaftlicher Öffentlichkeit beschrieben und nach anderen Wegen der ökonomischen Absicherung sowie der publizistischen Leistungsfähigkeit gesucht. "Jenseits des Deutungsmonopols“ gilt es aktuell erneut, die Leistungsfähigkeit, den gesellschaftlichen Bedarf und die kommunikativen Potenziale von Journalismus zu prüfen. Dabei erscheint die normative Unterscheidung von seriösem Qualitätsjournalismus und trivialem Boulevardjournalismus weder durchgängig stimmig, noch konzeptionell ertragreich. Ein Blick in die USA mag an dieser Stelle hilfreich sein: Mit dem Pulitzer-Preis werden alljährlich herausragende journalistische Arbeiten – von der investigativen Recherche bis zur lokalen Reportage – ausgezeichnet. Ein Gütesiegel, mit dem sich jede Redaktion gerne schmückt, verliehen von einer Jury aus Chefredakteuren und Journalistikprofessoren der Columbia University. Gestiftet wurde dieser Preis von Joseph Pulitzer, der 1883 die "New York World“, eine bis dahin verlustreiche Tageszeitung, kaufte. Zum Erfolg brachte er das Blatt, indem er Sensationen, soft news und human interest neben politischen und lokalen Nachrichten ins Blatt holte. Die Farbe in der Tageszeitung wurde hier stilprägend: Yellow press, heute ein Synonym für Boulevardjournalismus, erschloss erfolgreich ein Massenpublikum. Der ökonomische Erfolg des Boulevardjournalismus im 19. Jahrhundert wurde so bis heute zur Grundlage für preisgekrönte journalistische Leistungen. Die Columbia University, deren Journalistenprogramm ebenfalls durch Pulitzers Spenden ermöglicht wurde, sichert bis heute die Unabhängigkeit der Entscheidungen. Vielleicht könnte im 21. Jahrhundert ein ähnliches crossover für Deutschland ein Modell sein. Vgl. Hans-Jürgen Arlt/Wolfgang Storz, "Bild“ und Wulff – Ziemlich beste Partner. Fallstudie über eine einseitig aufgelöste Geschäftsbeziehung, Arbeitsheft 71 der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/M. 2012, online: Externer Link: www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AH71_Wulff_WEB.pdf (11.6.2012). Online: Externer Link: www.pro-quote.de/henri-nannen-preis-manner-sind-die-besten (11.6.2012). Vgl. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Kultur und Medien, Wortprotokoll vom 23.2.2011, Protokoll Nr. 17/31, online: Externer Link: www.bundestag.de/bundes-tag/ausschuesse17/a22/oeffentliche_Sitzungen/31_journalismus/protokoll.pdf (11.6.2012). Jan Krone, "Qualitätsjournalismus“: Systemkrise des elitären publizistischen Führungsanspruchs, 13.4. 2010, online: Externer Link: http://carta.info/25552/qualitaetsjour-nalismus-die-systemkrise-des-hierarchisch-elitaeren-publizistischen-fuehrungsanspruchs (6.6.2012). Roger Blum, Leidende Leuchttürme. Über die Unentbehrlichkeit von Qualitätsmedien, in: ders. et al. (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation. Vergangenheit und Zukunft der Qualitätsmedien, Wiesbaden 2011, S. 7–14. Vgl. Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006. Vgl. Carsten Reinemann, Bild, BamS und Glotze? Zum Wandel der Kommunikations- und Einflussstrukturen im politischen Journalismus, in: Markus Behmer et al. (Hrsg.), Journalismus und Wandel. Analysedimensionen, Konzepte, Fallstudien, Wiesbaden 2005, S. 225–244; Margreth Lünenborg/Simon Berghofer, Politikjournalistinnen und -journalisten. Aktuelle Befunde zu Merkmalen und Einstellungen vor dem Hintergrund ökonomischer und technologischer Wandlungsprozesse im deutschen Journalismus, 11.5.2010, online: Externer Link: www.dfjv.de/fileadmin/user_upload/pdf/Politikjournalistinnen_und_Journalisten.pdf (11.6.2012). Vgl. Otfried Jarren/Martina Vogel, "Leitmedien“ als Qualitätsmedien: Theoretisches Konzept und Indikatoren, in: R. Blum et al. (Anm. 5), S. 18. Vgl. umfassend Klaus Arnold, Qualitätsjournalismus. Die Zeitung und ihr Publikum, Konstanz 2009; Siegfried Weischenberg/Wiebke Loosen/Michael Beuthner (Hrsg.), Medien-Qualitäten. Öffentliche Kommunikation zwischen ökonomischem Kalkül und Verantwortung, Konstanz 2006. Vgl. Patrick Rössler/Juliane Kirchner/Sonja Kretzschmar, Qualitätsmedien auf dem Weg in die digitale Zukunft. Programmangebote von deutschsprachigen Informationssendern im Vergleich, in: R. Blum et al. (Anm. 5), S. 31–48. Vgl. K. Arnold (Anm. 9). Vgl. R. Blum (Anm. 5). Dabei bleibt im Einzelfall fraglich, warum beispielsweise die „Frankfurter Rundschau“ als Qualitätsmedium gelten soll, die wesentliche Teile in Redaktionsgemeinschaft mit der "Berliner Zeitung“ produziert, der als Regionalzeitung ein solcher Status nicht zuerkannt wird. Jürgen Habermas, Keine Demokratie kann sich das leisten, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.5.2007, online: Externer Link: www.sueddeutsche.de/kultur/juergen-habermas-keine-demokratie-kann-sich-das-leisten-1.892340-4 (11.6.2012). Vgl. Hans-Jürgen Weiß/Bertil Schwotzer, Die Programmentwicklung deutscher Fernsehvollprogramme. Neue Daten der ALM-Studie, in: Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Programmbericht. Fernsehen in Deutschland, Berlin 2012, S. 44–50. Siehe hierzu auch den Beitrag von Knut Bergmann und Leonard Novy in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. ausführlich Marie Luise Kiefer, Die schwierige Finanzierung des Journalismus, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, (2011) 59, S. 5–22; J. Habermas (Anm. 13). Vgl. Eli Pariser, The Filter Bubble: What the Internet Is Hiding from You, London 2011. Vgl. Stephan Ruß-Mohl, Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA, Konstanz 2009. Vgl. Axel Bruns, Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond: From Production to Produsage, New York 2008. Jay Rosen, The People Formerly Known as the Audience, 27.6.2006, online: Externer Link: http://archive.pressthink.org/2006/06/27/ppl_frmr.html (20.1.2012). Vgl. Siegfried Weischenberg, Das Jahrhundert des Journalismus ist vorbei. Rekonstruktionen und Prognosen zur Formation gesellschaftlicher Selbstbeobachtung, in: Gabriele Bartelt-Kircher et al. (Hrsg.), Kriseder Printmedien: Eine Krise des Journalismus?, Berlin 2010, S. 56. Vgl. Bernd Blöbaum, Organisationen, Programme und Rollen. Die Struktur des Journalismus in systemtheoretischer Perspektive, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Theorien des Journalismus. Ein diskursives Handbuch, Wiesbaden 20042, S. 201–216; Thomas Birkner, Genese, Formierung, Ausdifferenzierung und Durchbruch des Journalismus in Deutschland, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, (2011) 59, S. 345–359. Vgl. Miriam Meckel, Proudly content free, in: Publizistik, (2010) 55, S. 223–229. Vgl. J. Habermas (Anm. 13). Vgl. Clay Shirky, Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations, London 2008. Vgl. S. Weischenberg (Anm. 21), S. 56.
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, Margreth Lünenborg
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-07-10T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/140217/qualitaet-in-der-krise/
Was verstehen wir unter Qualitätsjournalismus, wie verhält er sich zu einzelnen Medien? Welche Ansprüche werden an ihn gerichtet, wo besteht Anlass zur Sorge, dass er diese nicht mehr erfüllt?
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Themenzeit: Berlinale und Politischer Film | Reihen | bpb.de
Im Rahmen der gemeinsamen Reihe "Themenraum" zeigten die Kooperationspartner Zentral- und Landesbibliothek Berlin und Bundeszentrale für politische Bildung in der Themenzeit im Rahmen einer geschlossenen Veranstaltung die Mutter aller "YES MEN" Filme am Montag, dem 16. Februar 2015 um 19:00 Uhr, auf mehreren Monitoren. Es meldeten sich über 120 politisch Interessierte an. Leider mussten wir zu unserem großen Bedauern Spätanmeldern absagen, weil die Besucherzahl im Veranstaltungssaal aus feuerpolizeilichen Gründen auf 100 beschränkt ist. Diese Ausgabe der Themenzeit "Berlinale und politischer Film" fand begleitend zum Themenraum "Berlinale" in der Amerika Gedenkbibliothek der ZLB statt. "The Yes Men" aus dem Jahr 2007 (ARTE und Bayrischer Rundfunk) ist eine satirische Dokumentation einer realen US-amerikanischen Aktivistengruppe von Globalisierungskritikern. Der Film zeigt die Entstehung der "Yes Men" und ihren Versuch, Wirtschaftsideologien zu hinterfragen. Die beiden bekanntesten Mitglieder, Andy Bichlbaum und Mike Bonanno, geben sich beispielsweise als Vertreter internationaler Konzerne oder Institutionen aus und karikieren mit übersteigerten Forderungen auf nationalen und internationalen Konferenzen deren Ziele. Auf You Tube findet man übrigens ebenfalls Filmausschnitte dieser Politsatiren. Im Anschluss fand ein optionales, kurzweiliges Filmgespräch mit dem Politikwissenschaftler Prof. Ulrich Brückner und dem Publikum zur gesellschaftlichen Einordnung statt, das von der Filmjournalistin Kirsten Taylor vorbereitet und moderiert wurde. In der Fotostrecke finden sie Eindrücke vom Filmgespräch. Impressionen der Veranstaltung: Prof. Ulrich Brückner im Gespräch mit der Filmjournalistin Kirsten Taylor
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
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https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/themenzeit-im-themenraum/201551/themenzeit-berlinale-und-politischer-film/
Im Rahmen der gemeinsamen Reihe "Themenraum" zeigten die Kooperationspartner Zentral- und Landesbibliothek Berlin und Bundeszentrale für politische Bildung in der Themenzeit im Rahmen einer geschlossenen Veranstaltung die Mutter aller "YES MEN" Filme
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Veranstaltungen: Vorträge, Podiumsdiskussionen & Fachgespräche | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement 1. Veranstaltungsdokumentationen: Video-Vorträge & Berichte Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Radikalisierung verstehen, vorbeugen und begegnen6 Stunden (mit Kapiteleinteilungen), RADIS, 2022 Interner Link: Veranstaltungen der BAG RelExBundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx), 2019-2022 Interner Link: Resilienzförderung im Kontext rassismuskritischer Bildungsarbeitufuq.de, 2021 Interner Link: Von Blicken und Brandbomben. Antimuslimischer Rassismus heutebpb, 2019 Interner Link: Glocal Islamism 2019 – Phänomene, Interdependenzen, Präventionbpb, 2019 Interner Link: In Gottes Namen?! Streit um Religion in Gesellschaft und Politikbpb, 2019 Interner Link: Kind. Kegel. Kalifat. Frauen und Kinder – blinde Flecken in der Salafismusprävention?bpb, 2018 Interner Link: Themenreihe: Extremistische Radikalisierung – Herausforderung für Kommunen und Möglichkeiten der PräventionDEFUS/dpt-i, 2017 Radikalisierung verstehen, vorbeugen und begegnen 6 Stunden (mit Kapiteleineteilungen), RADIS, 2022 Wie können wir in Deutschland mit Islamismus umgehen? Zu dieser Frage veranstaltete das RADIS-Forschungsnetzwerk im Mai 2022 einen Fachtag. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gaben Einblicke in ihre Forschungsprojekte, zum Beispiel zu Wechselwirkungen von islamischem Unterricht und islamistischer Radikalisierung oder Krisenkommunikation muslimischer Organisationen. Das Video der Fachtagung ist in Kapitel eingeteilt, um direkt zu relevanten Abschnitten springen zu können. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Veranstaltungen der BAG RelEx Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx), 2019-2022 Die BAG RelEx bietet regelmäßig (Online-)Veranstaltungen an, umpädagogisch-praktische und wissenschaftliche Perspektiven zu beleuchten und Erfahrungen mit Präventions- und Ausstiegsarbeit zu teilen. In der Mediathek finden sich unter anderem Aufzeichnungen zu folgenden Themen: Umgang mit Rückkehrer:innen aus dem sogenannten Islamischen Staat Die Rolle dschihadistischer Bewegungen in sozialen Medien Der sogenannte Islamische Staat: eine Bestandsaufnahme Städtischer Raum und Radikalisierung Erkenntnisse aus Forschung und Beratungspraxis im Phänomenbereich Islamismus Antimuslimischer Rassismus Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit? Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention Radikalisierung und soziale Medien Wie Islamist:innen und Rechtsextreme gemeinsam die offene Gesellschaft herausfordern Verfügbar auf Externer Link: bag-relex.de sowie im Externer Link: YouTube-Kanal der BAG RelEx Interner Link: Zum Anfang der Seite Resilienzförderung im Kontext rassismuskritischer Bildungsarbeit ufuq.de, 2021 Die Materialsammlung beinhaltet Präsentationen, Literaturhinweise und Aufzeichnungen von Vorträgen, Podcasts und Diskussionen. Sie wurden bei einem Fachtag am 8. Oktober 2020 aufgezeichnet. Im Fokus der Tagung standen Lebensrealitäten von Kindern, die Rassismus erfahren haben und sozial benachteiligt sind. Ziel der Materialien ist es, die Resilienz im Schulalltag zu fördern. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Von Blicken und Brandbomben. Antimuslimischer Rassismus heute bpb, 2019 Wie ist es um antimuslimischen Rassismus in Deutschland zehn Jahre nach dem Tod von Marwa El-Sherbini bestellt? Wie wirken sich Ablehnung, Hass und Gewalt auf das Leben von Musliminnen und Muslimen aus sowie auf Menschen, die als muslimisch markiert werden? Das waren Kernfragen einer bpb-Fachtagung in Celle im Juli 2019. Die Dokumentation enthält Video-Mitschnitte mehrerer Vorträge sowie Video-Interviews, unter anderem zu den Themen Antimuslimischer Rassismus und Populismus, Versicherheitlichung des Islams und deren Auswirkungen sowie zu Muslimen zwischen Identitätskrise und fehlender Teilhabe. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Glocal Islamism 2019 – Phänomene, Interdependenzen, Prävention bpb, 2019 Im Rahmen der Fachtagung "Glocal Islamism" haben sich im Oktober 2019 über 400 internationale Teilnehmende ausgetauscht. Ein Fokus, der sich durch das gesamte Programm zog, lag dabei auf der "Glokalität" islamistischer Entwicklungen. Neben gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen des Islamismus wurden auch spezifische islamistische Organisationen in den Blick genommen. Darunter die Muslimbrüder, der "Islamische Staat", Millî Görüş und Hizb ut-Tahrir. Videomitschnitte dokumentieren die zentralen Vorträge der dreitägigen Veranstaltung. In Video-Interviews sprechen die Expertinnen und Experten außerdem über Prävention und Lösungsansätze. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite In Gottes Namen?! Streit um Religion in Gesellschaft und Politik bpb, 2019 Welche Rolle spielt Religion in Konfliktfeldern wie Antisemitismus oder religiös begründetem Extremismus? Wie politisch muss oder darf Religion sein? Welche Probleme birgt religiöse Vielfalt? Die Frage nach der Rolle von Religion in Gesellschaft und Politik führt vielfach zu kontroversen und emotionalen Debatten. So auch auf der dreitägigen Fachtagung im Januar 2019 in Essen. Zwei Fachvorträge sind als Videomitschnitt verfügbar. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Kind. Kegel. Kalifat. Frauen und Kinder – blinde Flecken in der Salafismusprävention? bpb, 2018 Wie kann verhindert werden, dass Kinder, die in salafistischen Familien aufwachsen, der Ideologie ihrer Eltern nacheifern? Wie soll die Gesellschaft mit Kindern von "IS"-Rückkehrerinnen umgehen? Wie müssen Präventionsmaßnahmen für Frauen und Kinder gestaltet werden? Die Düsseldorfer Fachtagung "Kind. Kegel. Kalifat. Frauen und Kinder: blinde Flecken in der Salafismusprävention?" suchte nach Antworten auf diese und weitere Fragen. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Themenreihe: Extremistische Radikalisierung – Herausforderung für Kommunen und Möglichkeiten der Prävention 8 x 60 Minuten, DEFUS/dpt-i, 2017 Die von DEFUS und dem Institut für angewandte Präventionsforschung des Deutschen Präventionstages (dpt-i) gemeinsam organisierte Online-Seminar-Reihe beleuchtet die unterschiedlichen Facetten des Themenkomplexes Extremismus und Radikalisierung. Zahlreiche Expertinnen und Experten kommen dabei zu Wort. Radikalisierung und Deradikalisierung im StrafvollzugMustafa Doymus, Justizvollzugsanstalt Remscheid Radikalisierung durch Soziale MedienAlexander Ritzmann, European Foundation for DemocracyJulia Ebner, Institute for Strategic Dialogue Genderaspekte in der Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen – Prävention von Radikalisierung von Mädchen und jungen FrauenGötz Nordbruch, ufuq.deDiana Schubert, Stadt Augsburg Präventionsansätze in der Familie, in der Schule, in der KommuneJanusz Biene, Kreis Offenbach Rechtspopulismus als MittelschichtsphänomenProf. Dr. Marc Coester, HWR BerlinSebastian Ramnitz, Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus Land Niedersachsen Organisationsstrukturen islami(sti)scher Vereine, Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, Methoden der Bestandsaufnahme in KommunenProf. Dr. Susanne Schröter, Universität FrankfurtFrank Buchheit, LKA Baden-Württemberg Salafismus, Islamismus, Dschihadismus – alles das Gleiche, oder doch nicht? Phasen der Radikalisierung und mögliche GegenmaßnahmenMenno Preuschaft, Landespräventionsrat NiedersachsenThomas Mücke, Violence Prevention Network (VPN) Radikalisierung – Definitionsprobleme und psychologische GrundlagenProf. Dr. Andreas Beelmann, Universität Jena Verfügbar auf Externer Link: defus.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 2. Podiumsdiskussionen & Fachgespräche Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Chancen und Grenzen von Deplatforming in Social Media1 Stunde, Bildungsstätte Anne Frank, 2022 Interner Link: Werden Moscheen genug geschützt?21 Minuten, Mediendienst Integration, 2022 Interner Link: Umgang mit "IS"-Rückkehrenden24 Minuten & 85 Minuten, Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx), 2022 Interner Link: Deradikalisierung und Ausstiegsarbeit97 Minuten, International Centre for Counter-Terrorism (ICCT), 2021 Interner Link: Welche Rolle spielt das Geschlecht in der Ausstiegsarbeit?32 Minuten, International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism (InFoEx), 2021 Interner Link: Europäische Ansätze bei der Reintegration von Rückkehrenden67 Minuten, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., 2021 Interner Link: Moscheen als Orte der Prävention?123 Minuten, bpb, 2019 Interner Link: Wo beginnt der Hass? Grenzen zwischen Religionskritik und Rassismus114 Minuten, bpb, 2019 Interner Link: Radikalisierung der Gesellschaft? Wie Rechtsextreme und Islamisten das gesellschaftliche Zusammenleben herausfordern115 Minuten, bpb, 2018 Interner Link: Über Märtyrerinnen und Mitläuferinnen. Die Rolle der Frau im Islamismus99 Minuten, bpb, 2018 Interner Link: Vom Knast in den Dschihad? Radikalisierung und Prävention in deutschen Gefängnissen125 Minuten, bpb, 2018 Chancen und Grenzen von Deplatforming in Social Media 1 Stunde, Bildungsstätte Anne Frank, 2022 Was bringt es, Personen und Gruppen von digitalen Plattformen auszuschließen, die dort gezielt Verschwörungstheorien verbreiten? Kann ein sogenanntes "Deplatforming" nachhaltig wirken, oder führt es dazu, dass Akteure auf anderen Plattformen noch freier Desinformation verbreiten können? Zu diesen Fragen veranstaltete die Bildungsstätte Anne Frank im Juni 2022 ein Fachgespräch. Expertinnen und Experten diskutierten gemeinsam über Nutzen und Probleme der Deplatforming-Strategie. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Werden Moscheen genug geschützt? 21 Minuten, Mediendienst Integration, 2022 Moscheen sind immer wieder Ziel von Angriffen. Wie können sie besser geschützt werden? Durch Polizeischutz und eine informierte Nachbarschaft, sagten Fachleute bei einem Pressegespräch des Mediendienst Integration. Sie diskutierten außerdem, welche Maßnahmen die Bundesländer bereits umsetzen und wie die Bedrohungslage von Seiten der Sicherheitsbehörden einzuschätzen ist. Verfügbar auf Externer Link: mediendienst-integration.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Umgang mit "IS"-Rückkehrenden 24 Minuten & 85 Minuten, Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx), 2022 Die BAG RelEx veranstaltete im November 2021 ein Pressegespräch zum Umgang mit Rückkehrenden aus dem sogenannten Islamischen Staat nach Deutschland. Der erste Teil der Veranstaltung bestand aus zwei Kurzvorträgen, auf deren Basis Fachkräfte aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung im zweiten Teil diskutierten. Verfügbar auf Externer Link: bag-relex.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Deradikalisierung und Ausstiegsarbeit 97 Minuten, International Centre for Counter-Terrorism (ICCT), 2021 Welche Rolle spielt Ideologie im Deradikalisierungs- und Ausstiegsprozess? Welche Herangehensweisen und Best Practices werden in der Benelux-Region angewendet? Diese Fragen diskutierten vier Expertinnen und Experten des ICCT. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Welche Rolle spielt das Geschlecht in der Ausstiegsarbeit? 32 Minuten, International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism (InFoEx), 2021 Welche Rolle spielt das Geschlecht in Bezug auf Radikalisierung und Ausstieg? Welche Unterschiede gibt es in der Strafverfolgung zwischen männlichen und weiblichen Extremisten und Extremistinnen? Welche Auswirkungen hat das auf die Ausstiegsarbeit? Zu diesen Fragestellungen hat InFoEx ein englischsprachiges Online-Event veranstaltet. Zu Gast waren Expertinnen und Experten aus Zivilgesellschaft, Strafverfolgung und Wissenschaft. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Europäische Ansätze bei der Reintegration von Rückkehrenden 67 Minuten, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., 2021 Insbesondere Akteure aus Jugend- und Sozialämtern, Justizvollzug und Bewährungshilfe sowie der psychosozialen Grundversorgung spielen eine wichtige Rolle bei der Reintegration von Rückkehrenden aus Syrien und dem Irak. Im Rahmen von zwei Fallstudien aus Deutschland und Belgien wurde die Rolle von beteiligten Institutionen diskutiert – insbesondere außerhalb des Sicherheitskontextes. Es wurde erörtert, wie diese wirksam(er) eingebunden werden können. Im englischsprachigen Online-Panel wurden zentrale Ergebnisse vorgestellt. In einem Q&A-Abschnitt wurden Fragen der Zuschauenden beantwortet. Verfügbar auf Externer Link: youtube.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Moscheen als Orte der Prävention? 123 Minuten, bpb, 2019 Moscheegemeinden und muslimische Verbände stehen in einem großen Spannungsfeld. Auf der einen Seite wird gefordert, sie sollten aktiver in der Präventionsarbeit sein. Auf der anderen Seite stehen sie schnell selbst im Verdacht, islamistische, politische Ziele zu verfolgen. Der Einbindung von Moscheen in die Präventionsarbeit wird daher oft skeptisch entgegengetreten. Welcher Weg sollte also eingeschlagen werden: Einbindung oder Ausgrenzung? Wie kann das gegenseitige Misstrauen muslimischer Verbände und (Sicherheits-)Behörden überwunden werden? Diese und weitere Fragen diskutierte ein Podium bestehend aus Dr. Lale Akgün, Pinar Çetin, Samy Charchira, Eren Güvercin und Marfa Heimbach. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Wo beginnt der Hass? Grenzen zwischen Religionskritik und Rassismus 114 Minuten, bpb, 2019 Lassen sich Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, der Umgang mit Konfessionslosen sowie Christenfeindlichkeit vergleichen? Kann in Bezug auf Religionsgemeinschaften tatsächlich von Rassismus gesprochen werden? Wo hört Religionskritik auf und wo fängt die Abwertung an? Diese und weitere Fragen diskutierten Dr. Lale Akgün, Saba-Nur Cheema, Dr. Yasemin El-Menouar und Prof. Dr. Gert Pickel im Rahmen eines Podiumsgesprächs. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung der Gesellschaft? Wie Rechtsextreme und Islamisten das gesellschaftliche Zusammenleben herausfordern 115 Minuten, bpb, 2018 Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus stellen Herausforderungen für die pluralistische Gesellschaft dar. Rechtsextreme und Islamisten versuchen für ihre Zwecke zu mobilisieren, negative Emotionen anzustacheln und Desintegrationsprozesse zu befördern. Auf einer Podiumsdiskussion diskutierten Dr. Matthias Quent (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft) und Yassin Musharbash (Die Zeit), wie extremistische Akteure interagieren und wie sich Menschen gegen Versuche extremistischer Vereinnahmung wehren können. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Über Märtyrerinnen und Mitläuferinnen. Die Rolle der Frau im Islamismus 99 Minuten, bpb, 2018 Die Bedeutung von Frauen im Islamismus wächst. Längst haben sie sich in der Szene, die oftmals als männlich dominiert wahrgenommen wird, einen Namen gemacht. Welche Rolle(n) nehmen Frauen in der Szene wahr? Welche Motivation treibt sie an und wie viel Gefahr geht von ihnen aus? Darüber diskutierten im Dezember 2018 Claudia Dantschke, HAYAT-Deutschland; Dr. Gerwin Moldenhauer, Staatsanwalt beim GBA beim Bundesgerichtshof; Prof. Dr. Esther Lehnert, Alice Salomon Hochschule und Thomas Mücke, Violence Prevention Network. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Vom Knast in den Dschihad? Radikalisierung und Prävention in deutschen Gefängnissen 125 Minuten, bpb, 2018 Verurteilte Terroristen treffen auf Kleinkriminelle, Hochideologisierte auf Haltsuchende. Können Gefängnisse ein Nährboden für eine Hinwendung zum Islamismus sein? Welche Akteure sind wichtig für die Präventionsarbeit im Vollzug? Braucht es sozialpädagogische oder eher seelsorgerische Fähigkeiten? Dazu diskutierten in Köln Katja Grafweg, Ahmad Mansour, Prof. Dr. Abdelmalek Hibaoui, Prof. Dr. Jens Borchert und Mustafa Cimşit. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. 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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-09-05T00:00:00"
"2020-04-03T00:00:00"
"2022-09-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/307409/veranstaltungen-vortraege-podiumsdiskussionen-fachgespraeche/
Sie finden hier Videos von Veranstaltungen, bei denen Fachleute sich über Erkenntnisse und Handlungsstrategien zur Radikalisierungsprävention ausgetauscht und diese diskutiert haben.
[ "Islamismus", "Radikalisierung", "Extremismus", "Prävention", "Veranstaltungsdokumentationen" ]
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Meine ersten drei Leben | Deutschland Archiv | bpb.de
Im Kapitel "Menschen aus der Nachbarschaft" aus dem dritten Teil ihrer Autobiografie beschreibt Ingeborg Rapoport den Start des Lebens ihrer Familie in der DDR. Dorthin musste sie mit ihrem Mann Mitja Rapoport und ihren vier Kindern vor McCarthy und seiner Kampagne gegen Kommunisten aus den USA fliehen. Nach Ihrer Ankunft in Berlin wohnte die fünfköpfige Familie erst einmal in dem erhaltenen Flügel des ehemaligen und im Krieg erstörten Luxushotels "Adlon" am Brandenburger Tor. Von dort zogen die Rapoports nach Pankow in ein Haus in der sogenannten Intelligenziasiedlung. Über das Leben in dieser Umgebung erzählt Ingeborg Rapoport im Folgenden: Das Buch von Ingeborg Rapoport, das 1997 herauskam, erscheint am 22. März 2021 als aktualisierte Neuauflage mit einem Vorwort von Daniel Rapoport. (© Eulenspiegel Verlagsgruppe GmbH) Menschen aus der Nachbarschaft Zunächst hieß es für uns, aus unserem Schwebezustand im Hotel Adlon herauszukommen und eine Bleibe zu finden. Man schien uns vergessen zu haben, bis Mitja – nach Wochen – darauf drückte, uns eine Wohnmöglichkeit zuzuweisen. Da kam uns ein Glücksfall zu Hilfe. Einem alten Professor und seiner Haushälterin war ein Einzelhaus angeboten worden, das er aber ablehnte, da es ihm zu mühsam zu bewirtschaften schien, und so wurde es uns zugesprochen: das gerade erst fertiggewordene letzte Häuschen in einer der beiden sogenannten »Intelligenzsiedlungen« in Niederschönhausen. Unsere Siedlung bestand aus kleinen zweistöckigen Einzelhäusern zweierlei Bautyps, der eine, im Kern des Blocks gelegene, recht wohlproportioniert, im Obergeschoß jedoch mit abgeschrägten Decken – der andere, zu dem auch unser Haus gehörte, mit einer so asymmetrischen Fassade, dass ich mich immer gefragt habe, wie der Architekt den Anblick seines eigenen Produktes hatte ertragen können: rechts vom Eingang befindet sich nämlich neben einem winzigen Klofenster das normal große Fenster der Küche – links vom Eingang dagegen nichts – eine leere verputzte Wand, ohne Unterbrechung – und oben, fast mit der Höhe der Dachrinne abschließend: drei Fenster. Wir haben uns später bemüht, durch eine Fichte und höhere Büsche auf der linken Seite die optische Unausgewogenheit auszugleichen. In diesem Haus leben wir noch heute, und viele Beziehungen und Erinnerungen verknüpfen unser Leben mit jenen Menschen, die in dieser Siedlung gelebt haben. Mit der Zeit verloren die »Typenhäuser« ihr schematisches Einerlei und wurden durch die Bepflanzung der Vorgärten, durch mancherlei Umgestaltung zu Individuen, die die Lebensart ihrer Bewohner widerspiegelten und der Siedlung Leben und Eigenart verliehen. Im Gegensatz zu der anderen, erstgebauten, »Intelligenzsiedlung«, wie die Anhäufung dieser Neubauten von der Bevölkerung genannt wurden, ist unsere die weitaus weniger »elegante«, da dem Baumeister nach und nach das Geld ausgegangen war. Sie ist auch nicht so groß und nimmt in unserer Straße lediglich einen halben Straßenblock von je vier oder fünf Häusern auf jeder Seite ein. Unser Haus als letztes in der Reihe grenzt schon an »normale« vier- bis fünfstöckige Mietshäuser, deren ältere Bewohner sich noch an den kleinen Kiefernhain erinnerten, der unserer Siedlung Platz machen musste. Nur noch die winzige Parkanlage an der Ecke mit ihrem abschüssigen Rasen und einer uralten Eiche am Fuß des »Berges«, wie der Hügel von allen Kindern bezeichnet wurde, war von dem einstigen Wäldchen geblieben. Diese Siedlung diente aus der Emigration und aus Konzentrationslagern zurückgekommenen Künstlern und Wissenschaftlern, die bei der großen Wohnungsnot der Nachkriegsjahre keine andere Unterkunft fanden, aber auch Professoren, die aus anderen Städten nach Berlin berufen wurden. Unsere Siedlung stand in unmittelbarer Nachbarschaft zu Wohnungen der alteingesessenen Bevölkerung. Die Bewohner der Straße um uns herum waren kleinbürgerlicher Herkunft, viele waren Nazis gewesen, 1945 war für sie nicht die Befreiung gekommen; sie sprachen vom »Zusammenbruch«; die älteren unter ihnen waren verbittert und standen dem neuen Regime misstrauisch, wenn nicht feindselig, gegenüber. Ob es eine so gute Idee war, eine solche Siedlung von Einzelhäusern als Enklave in einem alten Stadtteil zu bauen, will ich dahingestellt sein lassen. Ich habe mich oft gefragt, wie viel Feindseligkeit diese Häuser unter den Anwohnern ausgelöst haben mögen, und habe mich von Anfang an darum bemüht, diese Feindschaften abzubauen, ohne deshalb unsere politische Weltanschauung zu verstecken. Alles in allem glaube ich, dass die Siedlung bis zur »Wende« ein Fremdkörper inmitten der übrigen Straßen Niederschönhausens geblieben ist. Dabei gab es in derselben Straße, in der wir wohnten – einige Blocks entfernt – eine alte Villengegend, deren Häuser durchweg komfortabler waren als die in unserer Siedlung. Aber ihre Besitzer waren »akzeptiert«, ihre Vergangenheit und Gesinnung, ihr Schicksal schien durchsichtig und nachfühlbar, während wir fremd und politisch sus­pekt waren. Dazu kamen eine weit verbreitete dumpfe Intelligenzfeindlichkeit und der offene oder unausgesprochene Vorwurf der »Begünstigung durch die Regierung«. Die Bewohner unserer Siedlung waren keineswegs einheitlich »rot«, politisch aber doch vorwiegend dem Neuen verbunden. Ich empfand neben dem Gefühl des Unbehagens, von den Alteingesessenen scheel angesehen zu werden, auch eins der Solidarität, der Wärme und des lebhaften Interesses für die Vielzahl der »Intellektuellen« und ihrer Schicksale. Mit manchen freundeten wir uns an, andere kamen uns durch unsere Kinder näher. Einige starben oder zogen fort – aber sie bleiben für mich ein Teil dieser bunten Vielfältigkeit, die nun in unser Leben hineinströmte. Erste Kontakte ergaben sich zu unseren unmittelbaren Nachbarn, den Martienssens, gleich am Tage unseres Einzugs. Gerade hatten die letzten Handwerker unser Haus verlassen. Die Wände waren noch feucht, ein elektrischer Herd stand zwar in der Küche, aber die Heizplatten fehlten. Auch gab es zu der Zeit gerade keine Töpfe zu kaufen. Wir baten daher die Martienssens, bei ihnen die Milch für die Kinder wärmen zu dürfen. So entstand unsere Freundschaft zu diesen hochherzigen Menschen. Professor Martienssen, emeritierter Klavierpädagoge an der Hochschule für Musik, Berlin, DDR, war schon sehr alt und lebte in sich zurückgezogen neben uns. Er hatte jedoch eine schöne und hochtalentierte, ich glaube, um mehr als 30 Jahre jüngere Frau, die sich in ihren Lehrer verliebt und ihn geheiratet hatte. Ihr einziger Sohn war etwas älter als unsere Kinder, deren Bekanntschaft er mit einer seiner schauspielerischen Darbietungen machte, als er ihnen nämlich von seinem Balkon aus mit wilden Gesten klarmachte, er sei der Teufel. Die Vorstellung war für unsere Kinder so furchterregend und zugleich anziehend, dass sie von Stund an mit »Nucki« Freundschaft schlossen. Nucki war ein einsames Kind, hochintelligent, immer der Klassenbeste, aber nie habe ich ihn mit anderen Kindern spielen sehen. Er war schauspielerisch tatsächlich ungewöhnlich begabt. Unvergesslich ist mir eine Schulaufführung geblieben, zu der er uns eingeladen hatte, in der er als vielleicht Zwölfjähriger einen alten Müller spielte. Jede Geste, der etwas schlürfende Gang, die Art, wie er sich den Mehlsack auflud, waren von unbestechlicher Realität und in erschütternder Weise wohl seinem alten Vater nachgeahmt. Er konnte auch glänzend deklamieren. Und doch wurde er kein Schauspieler. Ich habe ihm mehrfach seine Begabung vor Augen gehalten und auch aus meinem Bedauern keinen Hehl gemacht, dass er sich ihr nicht hingeben wollte. Er meinte, seine Stimme sei zu klein. Aber der eigentliche Grund war die Furcht der Familie vor den »Versuchungen des Theaterlebens«. Mutter und Großmutter – und später er selbst – ängstigten sich vor den Abgründen ihrer leidenschaftlichen Familien-Veranlagung. In was für Schicksale hatte diese sie auch geworfen! »Amo«, die Großmutter, war zu unserer Zeit eine stets schwarzgekleidete, streng anmutende, hohe Gestalt, deren Schönheit auch noch im Alter aus dem feinen Schnitt des Gesichtes und den klaren Augen hervorleuchtete. Sie hatte sich aus einer großbürgerlich reichen Ehe heraus in einen bettelarmen schottischen Pastor verliebt, ihre ganze Vergangenheit bedingungslos stehen- und liegenlassen, war ihrem Liebhaber, der nach und nach in Trunksucht versank, gefolgt und blieb bei ihm durch Elend und Armut bis zu seinem Tode. Ihr Ehemann, dessen Liebe zu ihr ebenfalls nie erlahmte, hinterließ ihr und den beiden Kindern, einem Sohn und einer Tochter, Nuckis Mutter, ein beträchtliches Vermögen, das sich aber nur in kleinen Beträgen aus der BRD in die damalige DDR transferieren ließ. Amos Sohn war – soweit ich Andeutungen entnommen habe – in einen Strudel der Versuchungen gezogen, immer mehr ins Unglück geraten und hatte schließlich seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Elisabeth Martienssen, Nuckis Mutter, hatte den Wesenszug der bedingungslosen Ausschließlichkeit von Amo geerbt. Ihr eigentliches Lebenszentrum war die Musik. Durch sie wurde sie wohl in die Arme ihres Lehrers getrieben, durch die Musik entstand auch ihre spätere Liebe zu einem viel jüngeren Menschen, einem angehenden Dirigenten, dem sie alles gab, was ihr an musikalischer Begabung innewohnte. Sie war selbst eine hochtalentierte Pianistin, aber vor allem eine großartige, leidenschaftliche und fordernde Lehrerin. In diesem Punkte verstand sich meine Mutter besonders gut mit ihr. Nach dem Tode ihres Mannes bewarb sie sich an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« als Dozentin. Der damalige Direktor, Professor Rebling, hatte aus »politischen Gründen«, die eigentlich wohl eher Elisabeths Mann galten, aber sich möglicherweise auch auf Elisabeths eigene unabhängige Geistesart und christliche Herkunft bezogen, große Vorbehalte, sie einzustellen, nahm sie aber schließlich auf unsere über Georg Knepler lancierte Empfehlung hin doch auf. Er hat es sicher nie bereuen müssen. Talent, Musikbesessenheit, Anteilnahme am Leben junger Menschen und eine Lehrerbegabung von solcher Intensität und Uneigennützigkeit in einer Person, das begegnet dem Direktor einer Hochschule nicht so oft. Nur zum eigentlichen Glücklichsein hatten Elisabeth – wie auch »Amo« – keine Begabung. Ihre hohen inneren Anforderungen ließen es nicht zu und bedeuteten auch für die, die ihr nahestanden, unablässige Prüfungen, denen sie sich nicht gewachsen fühlten. »Amo« liegt längst auf einem kleinen, dunklen Waldfriedhof. Die Katzen, die um sie herumstrichen, sind ebenfalls lange tot, und die Blütenpracht, die sich unter ihren ­Händen wie durch Zauber auf dem kargen märkischen Sandboden hinter ihrem Haus ausbreitete, wich später einem formell-repräsentativen Garten, als die »Ständige Vertretung der BRD« sich dort niederließ. Elisabeth zog zunächst in die Stadt, dann aber in ein Häuschen am Walde außerhalb Berlins, wo wir sie immer mal besuchen wollen. Und »Nucki«? Er studierte Philosophie, wohl das ungeeignetste Fach, wenn man sowieso schon sehnsüchtig und unerfüllt ist. Ab und zu treffe ich ihn zufällig, freue mich und bin traurig, weil ich fühle, dass auch sein Leben bisher nicht voll geglückt ist. Wie viele tragische Schicksale barg unsere kleine Siedlung! Am bedrückendsten scheint mir das Leben des Bildhauers Will Lammert, der durch die Nazis und den Zweiten Weltkrieg mehr als sein halbes Lebenswerk verlor. Als er nach dem Krieg aus sowjetischer Emigration nach Berlin kam, musste er von vorn beginnen. Ich liebte und bewunderte diesen stillen Menschen und bin öfter in sein Atelier gegangen. Damals arbeitete er an den Entwürfen für sein wohl erschütterndstes Werk, das Mahnmal in der Gedenkstätte Ravensbrück, dem ehemaligen Frauen-Konzentrationslager: Weithin sichtbar über den See auf einer hohen Stele steht die von ihm geschaffene Frauengestalt, die, trotz Hunger und Verfolgung ungebrochen und stolz, das tote Mädchen in ihren Armen trägt – eine unvergessliche Anklage gegen die Nazi-Mörder von 92 000 Frauen und Kindern. Will Lammert suchte nach einem Modell für das tote Mädchen, das schon nicht mehr Kind und noch keine Frau sein sollte. Ich bin ganz stolz darauf, dass ich diesen Menschen für ihn fand und auch dazu überreden konnte, ihm Modell zu stehen. Auch sein Thomas-Müntzer-Denkmal in Mühlhausen ist in meinen Augen trotz seiner scheinbar konservativen Darstellung eine großartige Verkörperung von menschlicher Würde und Unerschrockenheit. Es ist Lammert in der DDR keine lange Schaffensperiode mehr geblieben. Aber er war mit Sicherheit einer der bedeutendsten Bildhauer dieses Landes. Durch unsere Kinder verknüpfte sich unser Leben auch mit der Familie eines anderen Bildhauers, Fritz Cremer, zu dessen Frau Christa wir schnell eine innere Nähe spürten. Ihre wunderbare hohe und schlanke Gestalt hat sich zu meiner Verwunderung wenig in Fritz Cremers Skulpturen widergespiegelt. Ursprünglich war sie mit dem Bildhauer Waldemar Grzimek verheiratet gewesen, von dem das bemerkenswerteste Heine-Denkmal, das ich kenne, in Berlin steht. Dieses Denkmal birgt für mich als Ärztin ein Geheimnis in sich, auf dessen Grund ich nie gekommen bin – sooft ich auch voller Bewunderung vor der Skulptur gestanden und gegrübelt habe. Grzimek hat es fertiggebracht, den gelähmten Heine darzustellen in seinem Willen und in seiner Ohnmacht, aufzustehen. Dieses unbändige und unstillbare physische und geistige Verlangen hat die Skulptur zu einem meiner Lieblingskunstwerke gemacht. Ich habe Grzimek persönlich nie kennengelernt, ich weiß von ihm lediglich aus vielen begeisterten Schilderungen unserer Söhne, damals kleine Schulbuben und eng befreundet mit Thomas Grzimek, dem Sohn aus Christa Cremers erster Ehe. Welch ein Gegensatz musste zwischen den beiden Ehemännern von Christa bestanden haben. Waldemar war ein großer, kraftvoller Kerl, nach der Beschreibung unserer Kinder übermütig und jungenhaft, ließ er sich von ihnen bedenkenlos zu allen möglichen Streichen verleiten, zum Beispiel zu gänzlich gesetzeswidrigen Autogeschwindigkeiten, so dass ich immer froh war, wenn die Kinder wieder heil zu Hause waren. Sie lockten ihm Geld aus der Tasche, liebten ihn als ihresgleichen, aber sie bewunderten und respektierten seinen Esel, der den Garten in Erkner beherrschte, wo Grzimek damals wohnte. Von diesem großen Kind, das Waldemar Grzimek wohl gewesen ist, wechselte Christa, die aus altem Landadel stammt, selbst eine talentierte sensible Malerin, zu dem kleinen ernsten, unermüdlich fleißigen Arbeiterjungen Fritz Cremer. Wahrscheinlich hat sie seine Festigkeit und Zuverlässigkeit, die unerschütterliche Kraft seines Glaubens an den Sozialismus angezogen. Wer von den beiden – Cremer oder Grzimek – der bedeutendere Künstler ist, wage ich nicht zu beantworten. Fritz Cremer hat sicher erst in der DDR sein Talent voll entfalten können. Im Gegensatz zu Grzimek fühlte er sich auch immer der Lehre und Erziehung junger Menschen verpflichtet, so war er auch viele Jahre Professor an der Akademie der Künste und betreute Meisterschüler. Auch Christas Talent förderte er mit liebevoller Aufmerksamkeit. Als es nach der »Wende« 1990 im Museum für Deutsche Geschichte Unter den Linden in Berlin eine Ausstellung über die damaligen Strömungen und die Gefühle für die DDR-Vergangenheit gab und Fritz Cremers Werke als »Schandmale des sozialistischen Realismus« verhöhnt wurden, hätte ich den Urhebern dieser Bilderstürmerei gern meinen Zorn und meine Verachtung gezeigt. Aber sie waren selbst natürlich nicht zugegen. So konnte ich meinem Unmut nur laut Luft machen. Schon unter den Nazis verkannt, wurden an die 50 seiner frühen Bildwerke im Zweiten Weltkrieg vernichtet. Er war mehr als 40 Jahre alt, als er sein künstlerisches Schaffen wieder aufnehmen konnte. Am Ende seines Lebens sah er sich erneut einer feindlichen Bewegung gegenüber. Aber er war doch besser dran als Will Lammert – schließlich war er bereits weltbekannt, und man wird seine Monumente wohl doch nicht antasten. Wie mag er sein Los im Inneren getragen haben? Ein alter kranker Mann mit der Berufskrankheit eines Bildhauers, einem starken Lungen-Emphysem. Ich habe ihn zwar vor seinem Lebensende lange nicht gesehen, aber ich glaube, er wird mit dem ihm eigenen maßvoll-freundlichen Lächeln über die Meinungen kleinlicher Menschen hinweggesehen haben. Christa hat jedenfalls durch dick und dünn zu ihm gestanden. Leider haben wir uns weniger und weniger gesehen, seit die Kinder erwachsen und ihre eigenen Wege gegangen sind. Thomas, ihr Sohn, war jahrelang Meikis Schulkamerad und bester Freund. Er wurde Töpfer und zog mit seiner Frau in das Oderbruch, zunächst erfüllt von der Einfachheit seiner ländlichen Umgebung, der melancholischen Weite der Landschaft – aber dann regte sich in ihm die Sehnsucht nach Neuem, nach weiterer künstlerischer Entwicklung – so löste er sich von Frau und Kindern und brach zu einem neuen Leben auf. Ich würde ihn gern einmal wiedersehen – er war und ist eines der vielen Kinder, Söhne und Töchter, die ich in mein Herz aufgenommen habe. Von den drei Cremer-Kindern war mir Thomas am nächsten. Sabine, um einige Jahre älter als Thomas und auch ein Kind aus Christas erster Ehe mit Grzimek, war damals ein stilles, in sich ruhendes Mädchen mit den großen blauen Augen ihrer Mutter, eine verträumte Schönheit, von der man kaum glauben konnte, dass sie dem fast handwerklich schweren Beruf ihrer beiden Väter folgen könnte. Sie ist inzwischen eine bekannte Bildhauerin geworden. Die Jüngste, Trini, war zunächst eine lebende kleine Puppe mit den riesigsten Augen, die ich je in einem Kindergesicht gesehen habe, überschattet von glänzenden braunen Ponyfransen. Sie ließ sich geduldig von einer Vielzahl freiwilliger »Kinderfrauen« durch die Siedlung karren. Aus der geduldigen Kinderpuppe wurde aber später ein leidenschaftlicher, aufsässiger und eigenwilliger Mensch. Auch sie malerisch talentiert, wurde wegen ihrer selbständigen Bühnenbild-Entwürfe an der Weißenseer Hochschule für Bildende Kunst aufgenommen. Aber nach einem Jahr verließ sie die Schule, enttäuscht und verzweifelt über die Lehrer und sich selbst. Auch Trini habe ich lange nicht gesehen, und jetzt, da ich dies alles erzähle, befällt mich die Sehnsucht nach diesen verlorenen Kindern, die ich mit Christa geteilt habe, wie Christa auch unseren vier Kindern eine Mutter war. Wo mögen sie sein, wie fühlen und denken sie heute? Zur Kinderschar in unserer Siedlung gehörte auch die erste »Braut« unseres Sohnes Meiki: Josette, damals vielleicht vier Jahre alt, die Tochter des aus französischer Emigration zurückgekehrten Sozialisten und Pädagogen Ernst Wildangel und der Französin Simone, die ihr Töchterchen mit leidenschaftlicher und besorgter Liebe nach dem frühen Tod ihres Mannes allein aufzog. Josette war eine der lieblichsten Kindergestalten, die ich je gesehen habe, mit der zarten Haut und den langen Wimpern eines Kleinkindes. Simone, ihre Mutter, eine dunkeläugige, zierliche Frau, deren Charme durch den typisch französischen Akzent noch erhöht war, liebte ihr einziges Kind abgöttisch. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – war sie dem kleinen Persönchen gegenüber besonders streng, das zwar von sanfter Engelhaftigkeit zu sein schien, aber durchaus seinen eigenen Willen hatte. Ich erinnere mich noch heute an mein Erschrecken, als Simone ihrem Töchterchen androhte, dass der Weihnachtsmann wohl nur eine Rute bringen würde, falls es seine Unartigkeiten nicht aufgäbe, und zu meiner schockierten Bewunderung blieb Simone konsequent, obgleich es ihr fast das Herz brach. An diesem Eigenwillen Josettes scheiterte schließlich auch die Brautwerbung unseres damals fünfjährigen Sohnes Meiki, dessen feste Absicht, Josette zu heiraten, nachdem sie lange Monate »Eltern und Kind« gespielt hatten, durch die sehr bestimmte Erklärung Josettes, sie könne ihn nicht heiraten, da er immer darauf bestünde, den Puppenwagen allein zu schieben, eine jähe Abfuhr erlitt. So musste ich auf die lieblichste aller Schwiegertöchter verzichten, die meine Söhne je in die engere Wahl gezogen haben. Noch ein anderes Kind aus unserer Siedlung schloss ich für immer in mein Herz: eine der vier »besten Freundinnen«, die im Leben unserer Tochter Fufu eine Rolle spielten. Fufu bezeichnete sie in einem ihrer selbsterfundenen Geschichtchen, das sie mir im Alter von sieben Jahren als Weihnachtsgeschenk überreichte, als ihre »Glücksfreundin«, eine Bezeichnung, die sicher den Superlativ ihrer Zuneigung ausdrücken sollte. Sie hieß Christiane und war eines der vier Kinder in der Familie Hans Grotewohls, des Sohnes von Otto Grotewohl, dem ersten Ministerpräsidenten der DDR, dessen Händedruck als Sozialdemokrat mit dem Kommunisten Wilhelm Pieck das Wahrzeichen der Vereinigung der beiden großen Arbeiterparteien zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wurde. Die Grotewohls wohnten in der sogenannten »Straße 200« unserer Siedlung, einer kleinen, stillen Straße, die noch etwas von dem alten Wäldchen ahnen ließ, das hier einmal gestanden hatte. In ihrem Haus, das dem kleineren Bautyp zugehörte, herrschten stets fröhlicher Trubel und anheimelnde Unordnung. Die Seele der Familie war Mädi Grotewohl, die Mutter der vier Kinder, temperamentvoll, warmherzig und stets voll Energie und Tatendurst. In wie vielen »Unternehmungen« waren wir nicht Bundesgenossen! Im Elternaktiv sowohl von Fufus als auch von Tommys Schulklasse, bei vielen Aktivitäten, die die Kinder in der Schule oder Pionierorganisation betrafen, bei der Rodung und gartenarchitektonischen Ausgestaltung eines kleinen Spielplatzes um die Ecke, schon außerhalb unserer Siedlung. Wie stolz waren wir, als wir SED-Mitglieder aus der Siedlung und der Umgebung begannen, diesen öden, verwahrlosten Platz urbar zu machen, und sich uns Nichtgenossen aus den Nachbarstraßen freiwillig anschlossen, so dass unter unseren Händen nicht nur ein reizender Kinderspielplatz und ein schönes Eckchen mit Bank für die Mütter oder alten Leute entstanden, sondern dass auch das Eis zwischen den Siedlungsbewohnern und der »Urbevölkerung« gebrochen schien. – Und welch eine herzzerbrechende Erinnerung ist von diesem Spielplatz am Ende geblieben! Eines Tages hieß es, dass er geräumt werden und dass die Kommunale Wohnungsverwaltung dort notwendige Gebäude errichten müsse. Kein Protest half, keine Vorhaltungen, was ein solcher Schritt an negativen politischen Folgen haben könnte. »Unser« Spielplatz verschwand und wich einer öden Baracke, umgeben von einem durch unordentlich gelagerte Bauteile verunzierten, betonierten Hof. Ob es sich bei diesem Magistratsbeschluss um eine politische Provokation, Dummheit oder um unverzeihlichen Mangel an Sensibilität gehandelt hat? Wir »Schöpfer des kleinen Kinderparadieses« fühlten uns jedenfalls zutiefst frustriert. Wie oft mag sich die DDR solche Eigentore geschossen haben? Nein, das sind keine Kleinigkeiten, sondern tiefgehende politische Fehler, die den DDR-Slogan »Plane mit, arbeite mit, regiere mit« in den Augen der dem Neuen erst zaghaft ihr Vertrauen schenkenden Menschen lächerlich machten. So blieb der erneute Versuch, einen anderen unbebauten Eckplatz unserer Straße zu einem Kinderspielplatz zu gestalten, in allgemeiner Lustlosigkeit stecken. Jedes Mal, wenn ich an den Schaukeln und Klettergerüsten auf diesem kleinen, verwahrlosten Platz vorüberging, empfand ich Schmerz und Scham. Heute ist er eingezäunt und anscheinend verkauft. Die wenigen Kinder, die immerhin an den bunten Klettergerüsten gespielt haben, sind nun auch aus diesem Schuttparadies vertrieben. Aber zurück zu Mädi Grotewohl, deren heiter-sprudelndes Wesen keine trüben Gedanken duldete. In ihrem Hause war nichts zu spüren von »Regierungsnähe« oder besonderer Bevorzugung. Die Grotewohls waren natürliche und herzliche Menschen. Hans und Mädi waren beide Architekten und haben eine Zeit lang in Nordkorea mitgeholfen, dort die Stadt Hamhung aufzubauen. Mädi hat übrigens auch den späteren Anbau unseres Hauses projektiert und geleitet. In ihrer fröhlichen Unbekümmertheit verrechnete sie sich um fünfzehn Zentimeter, so dass sie eine Treppenstufe quer durch unser Schlafzimmer legen musste, ein Umstand, der sie, und dann auch uns, mit Heiterkeit und alle Besucher stets mit zurückhaltendem Staunen erfüllte. Nach Jahren der Gewöhnung gelingt es einem, auf dem Weg zum Badezimmer auch nachts im Halbschlaf die Hürde ohne Stolpern zu nehmen. Als mein Bein wegen einer Fußfraktur in Gips lag, bot mir die ungewöhnliche Treppenschwelle Gelegenheit zu vorfristigen Rehabilitationsübungen, indem ich mich erst auf die Stufe setzte, dann drehte und schließlich das Bein auf die höhere Ebene schwang. Auch im Bereich der Innenarchitektur waren Mädis krause Ideen unerschöpflich, und während sie in manchen Dingen den lieben Gott einen guten Mann sein ließ, setzte sie sich zum Beispiel mit unverdrossenem Eifer für bestimmte Arten von schwer erhältlichen Lampen ein, die ihr als Ideal vorschwebten. So hängen noch heute neben unseren Betten zwei Messingtüten an Schnüren von der Decke herunter, deren beschränkter Lichtkegel zwar die Nachttischchen beleuchten, nächtliches Lesen aber nur gestatten, wenn man sich halb aus dem Bett lehnt. Auch die Tischler, die unsere Einbaumöbel nach Mädis technischen Zeichnungen anfertigten, stöhnten über die Vorgaben, die Mädis prächtiges, großzügiges Wesen widerspiegelten, dem es auf ein paar Millimeter mehr oder weniger nicht ankam. Hans, ihr Mann, war eine gelungene Ergänzung zu Mädi. Ruhig, dickbäuchig, etwas phlegmatisch und voll freundlicher Toleranz sah er dem Trubel in seiner Familie wohlwollend zu und ließ Mädi gewähren. Die Kinderschar bestand aus drei Mädchen, die im Alter unserer Kinder waren, und einem männlichen Nachkömmling, der für die eigenen Schwestern, soweit ich sehen konnte, keine echten Kontaktmöglichkeiten bot und oft zu Zänkereien Anlass gab. Claudia, die Älteste, war mit unserem Tommy gleichaltrig. Durch ihre ganze Kindheit hindurch war sie ein langaufgeschossenes fleißiges, eher stilles Mädchen. Dagegen war Christiane, Fufus »Glücksfreundin«, ein lustiger Quirl, deren Mund nie stillstand und die das Temperament ihrer Mutter geerbt hatte. Fufu und Christiane waren ein Herz und eine Seele, sie gingen gemeinsam in dieselbe Schulklasse und hatten einander stets so viel zu erzählen, dass sie für den Heimweg von der Schule die zehnfache Zeit brauchten, verglichen mit dem Hinweg am Morgen. Trotz »Tante Gretes« Ermahnungen – sie war über Jahrzehnte fast das wichtigste Mitglied unserer Familie und ist in unser aller Herzen eine Zentralfigur geblieben –, nach der Schule pünktlich zu sein, konnte man in der Ferne die beiden Rückfallsünder, auf einem Mäuerchen hockend, beim endlosen Schwatzen beobachten. Wenn sie dann endlich aufschraken und nach Hause stürzten, dachten sie sich die fantasievollsten Schwindeleien aus, was alles sie abgehalten hätte: Nicht zu zählen waren die vielen Nachmittage, an denen die ganze Klasse nachsitzen, besondere Pflichten erfüllen und andere obskure Aktivitäten hatte erledigen müssen! Manchmal wählten sie auch den Umweg über Mädi, von der sie für Fufu eine Fürsprache bei Tante Grete erbettelten. Unsere scharfsichtige Tante Grete hatte die beiden Bummelanten aber längst erspäht und war im Übrigen nicht so leicht hinters Licht zu führen. Christiane studierte später Architektur, heiratete einen Töpfer in einem kleinen Ostseebad, musste die Architektur aus Mangel an Berufsmöglichkeiten aufgeben und half ihrem Mann in der Töpferei. Sie hatten drei Kinder miteinander, von denen eines im Kleinkindalter auf tragische Weise starb. Ihr Mann begann zu trinken, und Christiane verliebte sich in einen jungen DDR-Maler, dessen Talent – ob zu Unrecht, weiß ich nicht, da ich nie eines seiner Werke gesehen habe – »von offizieller Seite« nicht geschätzt wurde und der schließlich auf einen Ausreiseantrag hin nach Westberlin zog. Christiane folgte ihm, was in den Augen ihrer Eltern für eine »Grotewohl-Enkelin« einen Skandal bedeutete und diese veranlasste, sich eine Zeit lang von ihrem eigenen Kind loszusagen. Beide Seiten waren todunglücklich über die Entfremdung. Mädi fing sich bald wieder – dazu war sie ein zu liebevoller und warmherziger Mensch, während Hans wohl etwas länger auf seiner sogenannten »prinzipiellen Haltung« beharrte, wie sie zu jener Zeit allen »Republikflüchtlingen« gegenüber erwartet wurde. In welche schrecklichen Gewissenskonflikte geriet man in vielen Fällen, in denen Menschen aus echter Liebe zu einem Bürger des anderen Deutschlands die DDR verließen oder weil sie unter tatsächlicher oder vermeintlicher Chancenungleichheit bei uns litten. Wir Genossen wurden angehalten, »Republikflucht« zu verurteilen. Im Prinzip konnte ich dem zunächst auch zustimmen. Wir hatten es schließlich sehr schwer beim Aufbau einer – wie ich immer noch glaube – besseren Gesellschaftsordnung. Diese Menschen, die uns verlassen wollten, hatten wir ja großgezogen, ihnen Bildung und Kultur ermöglicht, Arbeit und Freizeit gegeben, Wohnungen gebaut, und wir glaubten, ihnen eine glückliche Zukunft geschaffen zu haben, ohne Arbeitslosigkeit, mit kostenlosem Zugang zu jeglicher gesundheitlicher Betreuung, ein Stückchen Welt ohne Angst vor Drogenmissbrauch und ständig steigender Kriminalität. Wir hatten ­zweifellos auch eine unschuldigere, herzlichere Art, miteinander umzugehen. War das alles eine Illusion? Aber wenn ich das eben Geschriebene noch einmal lese, kommt mir die Redeweise »Wir hatten sie großgezogen …« vermessen, paternalistisch und überheblich vor. Sie hatten sich ja auch selbst aufgezogen, mit allen gemeinsam gelernt und gearbeitet. Woher nahmen wir das Recht, sie – wenn auch aus einem ursprünglich wohlgemeinten Gefühl heraus – als »unsere Menschen« zu bezeichnen. Durften sie nicht selbständig entscheiden, wenn sie so fühlten, alles im Stich zu lassen? Nein, dachten wir, sie hätten nicht das Recht, der Allgemeinheit zu schaden. Wir warfen ihnen Selbstsucht und Eigennutz vor und sahen nur die, die an das Geld und den Luxus dachten, wenn sie der DDR den Rücken kehrten, ihren Arbeitsplatz verließen und empfindliche Lücken in das Arbeits- und Produktionsgefüge rissen. Das Buch von Ingeborg Rapoport, das 1997 herauskam, erscheint am 22. März 2021 als aktualisierte Neuauflage mit einem Vorwort von Daniel Rapoport. (© Eulenspiegel Verlagsgruppe GmbH) Heute ist es wohl kaum noch nachfühlbar – und früher war es das in der BRD wohl auch nicht –, dass der Weggang von Arbeitskollegen oft einen unmittelbar unersetzlichen Verlust darstellte und zurückbleibenden Genossen und Nichtgenossen eine harte Last aufbürdete. Wie kann man sich noch heute in ein Gesellschaftsgefüge hineinfühlen, in dem jeder Einzelne so dringend gebraucht wird, heute, wo Millionen von Arbeitslosen mit Freude in jede Lücke springen würden? Nein, das schmerzliche Gefühl, im Stich gelassen zu sein von denen, die uns verließen, die gestern noch mit uns an einem Strang zu ziehen schienen, die entstehende Leere, die bohrenden Fragen, was von »unserer Seite« aus zuwidergelaufen war, falsch gemacht wurde – ich habe nichts davon vergessen! Aber durften wir von diesen Menschen als »Verrätern« sprechen? Übrigens bin ich selbst auch nie so weit gegangen. Nachdem ich anfangs jeden Weggang prinzipiell missbilligte und meine Enttäuschung sich im Wesentlichen darauf gründete, dass diese Menschen blind, ja verblendet wären, von zwei Gesellschaftsordnungen nach meiner Überzeugung und Erfahrung die schlechtere wählten, begann ich später jeden einzelnen Fall differenzierter zu sehen. So ging es mir auch mit Fufus »Glücksfreundin« Christiane, die ich liebhatte und für die ich bei Mädi um Verständnis warb. Ihr Weggehen bedeutete für Christiane die Trennung von ihrer Tochter, die nicht mit ihrer Mutter gehen, sondern beim Vater bleiben wollte. Christiane zog auch keineswegs in eine gesicherte Existenz. Sie musste sich umschulen lassen, wurde Blumenbinderin und baute sich schließlich ein eigenes Blumengeschäft auf. Gewiss, auch ohne »Mauer« hätte es zu solcherart Rissen und Trennungen in Familien kommen können. Aber durch die Grenze entstand eben doch etwas anscheinend Endgültiges. Für viele mag diese Endgültigkeit nie verheilende Wunden hinterlassen haben. Auch unter den Kindern der Nachbarschaft waren die politischen Spannungen zu spüren. Christiane und Fufu waren ebenso unzertrennlich wie Meiki und Thomas Grzimek. Aber während die Buben von sanfter Art waren, steckte in den Mädchen ein wild entschlossener Kampfgeist. Zu jener Zeit, als unsere Kinder, und natürlich auch Christiane, der Pionierorganisation der DDR beitraten, wurden sie von anderen Kindern in unserer Nachbarschaft noch häufig angefeindet. Ich erinnere mich an einen winterlichen Spätnachmittag – es war schon dunkel –, als die beiden Freundinnen atemlos vor der Haustür standen, über und über verdreckt, zerzaust, mit heißen Bäckchen, über die schwärzliche Tränenrinnsale liefen – und schluchzend, aber triumphierend von ihrem Sieg über eine »Bande« älterer Jungen berichteten, die ihnen die Pioniertücher hatten entreißen wollen. Ja – auch »Banden« spielten eine Rolle in unserer Nachbarschaft. Sie bestanden meist aus halbwüchsigen Jungen und Mädchen, die mit Vorliebe in einer Gruppe um den Eingang der Bäckerei standen, Zigaretten rauchten und mit ihren rauen Stimmen Kommentare über die Vorbeigehenden von sich gaben. Sie standen in üblem Ruf, obgleich ich sie eigentlich nie etwas ernstlich Böses habe tun sehen. Diese »Banden« wechselten von Zeit zu Zeit ihren »Personalbestand«, und man sah ehemalige Mitglieder nach Jahren brav einen Kinderwagen mit eigenem Sprössling durch die Gegend schieben, meist selbst noch sehr wenig erwachsen aussehend. Diese »Banden« nahmen nie ein Kind aus unserer Siedlung auf, wie auch umgekehrt kein »Siedlungskind« sich zu ihnen hingezogen fühlte. Unsere Kinder hatten das Glück, gerade in einer Periode mit vielen gleichaltrigen Kindern um sie herum aufzuwachsen, so dass alle immer großartige Erlebnisse miteinander hatten. Andere Kinder in unserer Siedlung waren einsamer – so wie Nucki oder die beiden Paryla-Kinder und die Söhne der Uhses, die alle älter waren. Natürlich waren da auch die Erwachsenen. Ich will bei den Parylas, den berühmten österreichischen Schauspielern, beginnen, die einige Jahre in unserer Straße wohnten und zu denen ich häufig wegen Anginen der Kinder gerufen wurde. Stets waren die Eltern bei solchen Gelegenheiten auf Tournee, und eigentümlicherweise liegt in meiner Erinnerung das fiebernde Kind mit geschwollenen Mandeln immer mutterseelenallein im Haus zu Bett. So kann es wohl kaum gewesen sein. Einmal jedoch trat Vater Paryla mächtig in Erscheinung. Die Parylas hatten zwei Wolfshunde, die im Winter ein gleichgroßes Interesse am Rodeln auf dem gegenüberliegenden Hügel hatten wie die Kinder aus der Nachbarschaft. Nur zeigten sie zusätzlich ein ebensolches Interesse an den wimmelnden Kinderbeinen. Natürlich sollten die Hunde eigentlich im Garten eingesperrt sein, aber mehr als einmal gelang es ihnen, auszubrechen und sich mit lustvollem Doppelgebell in das Kindergetümmel zu stürzen. Diesmal waren es Fufus Hose und eins ihrer Beine, die dran glauben mussten. Da aus beiden ein Stückchen herausgebissen war, ging Mitja zu den Parylas, um ihnen Vorhaltungen zu machen. Vater Paryla warf daraufhin einen umwerfenden Akt vollständiger Zerknirschung hin, verfluchte die Hunde und drohte ihnen in wahrhaft biblischem Zorn. Mitja war ganz hingerissen von der Vorstellung. Als er aber Paryla darauf hinwies, dass laut amtlicher Verfügung die Hunde auf Tollwut untersucht werden mussten, endete das Schauspiel schlagartig, und aus Paryla wurde ein normaler, beleidigter Hundebesitzer. Die Erinnerungen an die Uhses waren ganz anderer Art. Der Schriftsteller Bodo Uhse hatte Alma und deren Sohn aus erster Ehe aus den USA mitgebracht. Wir standen ihr eigentlich näher als ihm – oder kommt es mir nur jetzt so vor, weil wir, als er sie einer jüngeren Frau wegen verließ, ihren Kummer, ihre Verlassenheit und schließlich ihre Rückkehr in die USA mit ihr durchlebten? Alma war eine aufsehenerregende Frau mit langen Gliedern, schmalem langem Gesicht, pechschwarzen Augen und glänzendem, tiefschwarzem Haar. Im Geiste sah ich sie immer – indianergleich – auf wilden Pferden über endlose Prärien galoppieren. In Wahrheit war sie die Tochter eines reichen Diamanten-Importeurs aus Uticah, einer kleinen Stadt, up-state New York. Aber das andere, das Bild meiner Fantasie, war ihre eigentliche Wirklichkeit. Und Reiten war tatsächlich ihre Leidenschaft. In erster Ehe war sie mit dem Schriftsteller James Agee verheiratet gewesen, der in der McCarthy-Ära in den USA eine unrühmliche Rolle gespielt hatte. Als sie auf den noch jungen und anscheinend auf Frauen ungemein anziehend wirkenden Bodo Uhse traf, fing sie sofort Feuer, löste ihre Ehe und folgte ihm zusammen mit Joe, ihrem Sohn aus erster Ehe, in die DDR. Sie nahm ohne Bedenken das Risiko auf sich, in ein fremdes Land zu ziehen, dessen Sprache sie nie richtig erlernen würde, dessen Kultur ihr fremd war und dessen Vergangenheit sie, die jüdischer Herkunft war, hassen musste. Und das alles für einen Mann, der sie zwar liebte, aber immer zu Seitensprüngen bereit war, vor allem aber für einen Schriftsteller, dessen Sprache sie nicht nachempfinden konnte, so dass sie schließlich auch nicht mehr las, was er schrieb, womit sie sicher bei aller Liebe und Generosität ihres Wesens den Todeskeim für ihre Ehe legte. Was war es, das Bodo Uhse so anziehend auf Frauen machte? Gewiss, er hatte schöne tiefliegende Augen unter starken Brauen, aber er war eher schmächtig von Gestalt und im Gespräch weder interessant noch witzig. Als Frauenheld habe ich ihn mir nie vorstellen können. Was ich vielmehr persönlich in ihm spürte, war eine wachsende Zerrissenheit. Ich glaube, dass er zutiefst an sich zweifelte, an seinem Talent, an der Fähigkeit, sein Buch (»Die Patrioten«) zu beenden – es blieb auch unvollendet. Ich glaube, dass irgendetwas in ihm zerbrochen war – der jugendliche Schwung, vielleicht auch der Glaube an den Sozialismus? Mir gegenüber hat er sich nie ausgesprochen. Ich denke mir, dass er mit dem Verlust der eigenen inneren Sicherheit allmählich auch Almas Glauben an sein Talent zerstörte. Wie kann aber ein Schriftsteller mit einem Partner leben, der nicht mehr an ihn glaubt, der nicht einmal liest, was er schreibt? Bodo Uhse war ein schwacher Mensch, und der letzte Konflikt zwischen seiner Zuneigung zu Alma und der Leidenschaft zu der viel jüngeren Geliebten, die ein Kind von ihm bekam, überstieg seine Kräfte. Schließlich siegten die Verführungskraft und die sexuelle Anziehung der jüngeren Frau. Alma beschloss, mit den Söhnen zurück in die USA zu gehen. Von den beiden Jungen kannte ich Joe, den Älteren (der später wieder den Namen seines leiblichen Vaters annahm), weniger. Er wurde sofort nach Ankunft in den USA zum Militär eingezogen. Ich weiß nicht, ob er noch im Vietnamkrieg zum Einsatz kam. Jedenfalls hatte Joe Kraft genug, sich wieder in seine ursprüngliche Heimat einzupassen. Er wurde Schriftsteller wie seine »zwei Väter« und schrieb ein Buch über seine Kindheit in der DDR, in dem er seine Schwierigkeiten als Fremder in der Schule sowie seine Beziehungen zu Bodo schildert und beschreibt, wie er den Sozialismus erlebte, nicht ganz ohne Bitterkeit, aber doch in dem Bemühen, gerecht zu sein. Ganz anders war das Schicksal des gemeinsamen Sohnes von Alma und Bodo Uhse: Stefan war ein Kind der DDR. Ich sah ihn oft, da er an schwerem Bronchialasthma litt. Das komplizierte Verhältnis seiner Eltern war mit Sicherheit ein schweres Trauma für den von Natur aus sensiblen und verschlossenen Jungen. In den USA fand er keinen Halt mehr und nahm sich schließlich das Leben. Bodo Uhse hat den Tod seines Sohnes nicht mehr erlebt, er starb bald nach Almas Übersiedlung in ihre alte Heimat. In das Haus der Uhses, an das sich für uns so viele bedrückende Erinnerungen knüpften, zogen dann die Henselmanns, die Familie des bekannten Berliner Chefarchitekten, mit sieben bildhübschen Kindern, die aber zumeist schon dem Schulalter entwachsen waren. Alle – bis auf eines – hatten vom Vater her einen bohemehaften, abenteuerlichen Charakterzug geerbt. Gerade dieses eine Kind, eine begeisterte Junglehrerin, starb ganz jung. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mir vor unserem Hause strahlend von der Schule erzählt, einen kecken, kirschroten Hut auf dem Kopf, der ihr fröhliches Gesicht in der Sonne rosig färbt – und zehn Tage später starb sie an einer besonders heimtückisch verlaufenden Leukämie. Wir konnten es kaum fassen. Noch heute trauere ich um dieses fröhliche, zutrauliche Mädchen, das kaum die ersten Schritte in jenes Leben getan hatte, von dem junge Mädchen träumen. Frau Henselmann war eine liebe, sanfte und kluge Frau, die den ruhigen Pol der Familie darstellte. Sobald die Kinder erwachsen waren, heirateten sie, ließen sich scheiden, heirateten abermals. Als ich Frau Henselmann einmal fragte, wie viele Enkel sie eigentlich habe, meinte sie: »25 plus/minus vier.« Frau Henselmann ist die Schwester der ersten Frau von Robert Havemann, von dem ich noch ausführlicher zu berichten habe. Beide Schwestern waren feine, ausgeglichene Menschen. In unserer Nachbarschaft gab es außerdem noch die beiden »letzten Ritter«, wie ich sie für mich selbst bezeichnete: den freundlich-zurückhaltenden Ludwig Renn, Spanienkämpfer und Schriftsteller, der das Haus mit seinem Chauffeur bewohnte, und Professor ­Alexander Mette, den vormaligen Freudianer, der sich in langjährigen inneren Auseinandersetzungen von Freud losgesagt hatte und Marxist geworden war. Die Frau dieses selbst Freunden gegenüber stets formvollendet höflichen Menschen war einst Tänzerin gewesen und von herzlicher Liebe zu Kindern erfüllt. Bei ihr und der »Tante Friedlich« nebenan gab es stets ein Bonbon, so dass unsere und andere Kinder diese Straßenseite deutlich bevorzugten. Die beiden Friedrichs wohnten uns schräg gegenüber – er war Grafiker und hatte die Schmalseite seines Hauses mit großen »lebensbejahenden« Graffiti »geziert«, die allerdings dem späteren Umbau des Gebäudes zur Residenz des Schweizer Botschafters ohne unser Bedauern zum Opfer fielen. Die beiden Friedrichs waren ein altes, kinderloses Ehepaar, das sich ewig in den Haaren lag. Trotz ihrer Zänkereien waren die beiden einander aber sehr zugetan. Sie kamen aus Arbeiterfamilien im Saarland und hatten schwere Jahre im antifaschistischen Widerstand hinter sich. Nach dem Tode von »Onkel Friedlich« verfiel der blühende Garten, der sein Stolz gewesen war, und mit »Tante Friedlich« ging es stetig bergab, so dass man sie schließlich in ein Pflegeheim bringen musste. Die Zeit des Faschismus war für sie nicht in der Vergangenheit begraben, seine furchtbare Macht holte sie als alte und sterbende Frau in täglichen Wahnvorstellungen und qualvollen Ängsten wieder ein. Man darf nie vergessen, dass die Zeit des Faschismus in Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht schlagartig vorbei war – wie man nach langer Dunkelheit das Licht wieder anknipst. Bei wie viel Tausenden von Menschen mag er ihre Träume wieder und wieder mit seinem tödlichen Hohn bedrohen? Nicht mehr eigentlich zu unserer Siedlung gehörend, aber nur um die Ecke wohnend, gehören in meiner Erinnerung die Kahane-Kinder, die öfters mit ihrer kleinen Mutter zu uns in den Garten kamen. Doris Kahane war Malerin, eine ernsthafte, wenn auch vielleicht nicht so bedeutende Malerin. Sie war ehemalige Spanienkämpferin und ein reizender, beherzter Mensch, der mir einmal anvertraute, dass man sie vor dem Umgang mit uns gewarnt hatte. Man sei sich zwar nicht ganz sicher, möglicherweise seien wir aber raffinierte Spione und Agenten für die USA. Sie wollte nicht damit herausrücken, von wem so etwas kam, aber offensichtlich traute man Westemigranten wie uns, insbesondere dem klugen Mitja, in der Parteiführung nicht über den Weg. Mitja focht dies nicht weiter an, er lachte darüber – aber ich war betreten über das Misstrauen, das uns im Übrigen noch des Öfteren begegnen sollte. Der Mangel an Vertrauen in die Menschen war ein tragischer Wesenszug, der sich durch Partei- und Staatsführung von der Gründung bis zum Ende der DDR zog. So schmerzlich ich ihn empfand, so bitter hemmend er sich auswirkte, so sehr konnte ich ihn doch auch verstehen. Er entsprang der berechtigten angstvollen Einschätzung, dass die Existenz dieses »ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden« in jedem Moment seiner vierzigjährigen Geschichte vom Untergang bedroht war. Aber wie viele intellektuelle Quellen blieben dadurch unerschlossen, wie viele Menschen furchtsam umgangen, nicht für uns gewonnen und sogar von uns gestoßen. Ich möchte die Schilderung unserer Nachbarschaft abrunden mit dem Bild zweier Menschen, die zwar miteinander verheiratet waren und einander achteten und liebten, aber vor meinen Augen nie zu einem Ehepaar verschmolzen. Ich spreche von René Graetz, dem Bildhauer und Grafiker, und der Karikaturistin und Malerin Elizabeth Shaw. René hatte ich ganz besonders in mein Herz geschlossen. Ich liebte seine jungenhafte Naivität und fröhliche Ursprünglichkeit, seinen unabhängigen fragenden Geist, die Fähigkeit, seine tiefen Zweifel, die nach und nach in ihm entstanden, und die Wunden ungerechter Kritiken, die ihm von unbefugter Seite und offiziell zugefügt wurden, von sich wegzulachen, wenn auch manchmal ein bitterer Ton aus seinem Lachen herauszuhören war. In Berlin geboren, in Genf aufgewachsen, in Kapstadt an der Seite der Schwarzen kämpfend, über Paris noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach London gelangend, als sogenannter »enemy alien – feindlicher Ausländer« nach Kanada deportiert, dort interniert und schließlich für die letzten künstlerisch produktiven Jahre als überzeugter Kommunist nach Berlin gekommen, hatte er wohl eigentlich kein rechtes Vaterland außer der Fortschritts- und Friedensbewegung der Welt. Er sprach auch Deutsch nur mit englischem Akzent und wohl am liebsten Englisch. Er war ein großes Talent und ein unwiderstehlich charmanter Mensch. Sein Tod hat mich mit großer Trauer erfüllt. Noch kurz vor seinem Tode traf ich ihn auf der Straße, und er erzählte mir, dass er von Elizabeth, seiner Frau, einen neuen künstlerischen Aufbruch erwarte. Elizabeth ist nun auch schon tot. Ich weiß nicht, ob dieser Aufbruch noch erfolgt ist. Sie war eine glänzende, witzige Zeichnerin, deren künstlerische Art einen unerwarteten Gegensatz zu dem lieblich-jungmädchenhaften Aussehen, ihrer zarten irischen Haut und ihrem herb-herzlichen Wesen bildete. Aus ihren Lebenserinnerungen kann man heraushören, dass sie wohl stets mit Liebe, Sehnsucht und Sorge an ihre irische Heimat zurückdachte und sich in der DDR nie ganz zu Hause gefühlt hat. Alle diese Menschen um uns herum standen für pulsierendes Leben, sie hatten ungewöhnliche Schicksale, waren von schöpferischem Tatendrang. Die meisten von ihnen waren, wie wir, mit dem Wunsch gekommen, aufzubauen, etwas Neues, Besseres entstehen zu lassen, ihre Talente und Gaben hineinzuwerfen in die brodelnden ersten Jahre dieses neuen Deutschlands. Keine Nörgelei an der DDR oder Anklage Außenstehender wird mich je dieses Glücksgefühl einer schöpferischen Gemeinschaft, das uns damals beflügelte, vergessen lassen. Das Buch »Meine ersten drei Leben« erscheint Externer Link: im Verlag Neues Leben, einem Imprint der Eulenspiegel Verlagsgruppe. Ergänzend: - Interner Link: Charlotte Misselwitz über Ingeborg Rapoport, erschienen im Deutschland Archiv am 3.11.2021 - Zum Themenschwerpunkt im Deutschland Archiv 2020/21: Interner Link: Jüdinnen in Deutschland nach 1945
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Ingeborg Rapoport
"2022-01-26T00:00:00"
"2021-03-18T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/328777/meine-ersten-drei-leben/
In der DDR fand die Kinderärztin Inge Rapoport ab 1952 ihre neue Heimat und an der Berliner Charité ihre Wirkstätte. Im Ruhestand resümiert die Wissenschaftlerin ihr Leben, erinnert an Wegbegleiter, rechnet ab mit Missständen in Politik und Gesellsch
[ "Jüdinnen in Deutschland", "Ingeborg Rapoport", "DDR", "Berlin", "Berlin-Pankow" ]
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Der "Föhrer" und die Pius-Brüder | Mit Satire gegen Rechtsextremismus | bpb.de
Hintergrund Die "Priesterbruderschaft St. Pius X." (Pius-Bruderschaft) ist eine Vereinigung katholischer Traditionalisten, die 1970 von Erzbischof Marcel Lefebvre in Abgrenzung zu den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils gegründet wurde. Kirchenpolitisch und in gesellschaftlichen Themen vertreten die Pius-Brüder ultrakonservative Positionen. So lehnen sie die Emanzipation von Frauen ebenso ab wie Homosexualität oder die weltanschauliche Neutralität des Staates. Die Nähe zu Vertretern der extremen Rechten ist vielfach dokumentiert, etwa zur französischen Partei "Front National". Den rechten Militärdiktaturen in Spanien, Portugal und Lateinamerika, die sich auch als Bollwerke gegen Atheismus, Emanzipation und kulturelle Modernisierung inszenierten, brachten die Pius-Brüder Wohlwollen entgegen. Im Herbst 2013 richteten sie in der Nähe Roms eine Trauerfeier für den verstorbenen NS-Kriegsverbrecher Erich Priebke aus, der in Italien wegen eines Massakers gegen die Zivilbevölkerung verurteilt worden war. Die Bruderschaft hat weltweit zwischen 150.000 und 600.000 Anhänger , Schwerpunkt ist dabei Frankreich. Die Haltung der römisch-katholischen Kirche zur Pius-Bruderschaft ist ambivalent: Eine Exkommunikation aus dem Jahr 1988 wurde von Benedikt XVI. 2009 aufgehoben, der kanonische Status der Pius-Brüder ist aber nach wie vor umstritten. Zum Bruch war es 1988 gekommen, als Lefebvre gegen den Willen des Papstes vier Pius-Brüder zum Bischof weihte, unter ihnen den Briten Richard Williamson. Williamson hat bereits mehrfach den Holocaust relativiert und geleugnet, weitere antisemitische und auch frauenfeindliche Äußerungen gehen auf ihn zurück. 2012 wurde er wegen Ungehorsams aus der Bruderschaft ausgeschlossen. Die Billigung oder Leugnung des Holocaust steht in Deutschland nach §130 Absatz 3 Strafgesetzbuch (StGB) unter Strafe (Volksverhetzung). Lernziele Die Schüler können die fundamentalen Falschaussagen Williamsons über die Vernichtung der Juden erkennen und benennen. Sie kennen den Begriff "Antisemitismus" und wissen, dass sich diese Ideologie gegen Juden richtet. Sie wissen, dass Antisemitismus auch heute verbreitet und couragiertes Eintreten dagegen gefragt ist. Einsatz im Unterricht - Kopiervorlage 14 Um die Aussagen Williamsons als Holocaust- Leugnung zu kennzeichnen, müssen zunächst seine Behauptungen mit den historischen Fakten kontrastiert werden, die ebenfalls im Film benannt werden. Williamson gibt zu Protokoll: "Ich glaube, es gab keine Gaskammern" – im Film werden eine Gaskammer und ein Krematorium gezeigt. Weitere Aussagen Williamsons und ihre Kontrastierung: "Nach seriösen Schlussfolgerungen sind zwischen 200.000 und 300.000 Juden in Nazi-Konzentrationslagern umgekommen" – im Film wird die Zahl von sechs Millionen genannt; „Historische Beweise sprechen ungeheuer dagegen, dass sechs Millionen Juden absichtlich vergast wurden“ – im Film werden Züge in Vernichtungslager erwähnt. Über die Strafbarkeit solcher Aussagen ist keine Pro-Kontra-Diskussion zu empfehlen, vielmehr sollte reflektiert werden, warum es ein Gesetz dagegen gibt (wichtige Punkte: Verhöhnung von Überlebenden und Nachfahren , Verharmlosung der NS-Herrschaft insgesamt, Anleitung zu neuem Antisemitismus, implizite Drohung gegen heute in Deutschland lebende Juden ). Stichworte zum Begriff "Antisemitismus" können aus dem Film oder aus Inhalten des Geschichtsunterrichts entwickelt werden, z.B. Judenfeindschaft, Judenverfolgung, Nazis, Konzentrationslager etc. Obwohl dies nicht die Komplexität dieser Ideologie erfasst, wird die antijüdische Stoßrichtung deutlich. Abschließend soll ein relativ aktuelles – und eventuell verstörendes – Beispiel (2006 in Pretzien/Sachsen- Anhalt), das an die Bücherverbrennung 1933 erinnert und mit dem "Tagebuch der Anne Frank" eines der bekanntesten literarischen Zeugnisse der Judenverfolgung thematisiert, eine Diskussion über couragiertes Verhalten anstoßen: Unwissenheit und Angst sind mögliche Gründe, warum nie- mand eingegriffen hat – eine Auseinandersetzung mit dem Thema ist das beste Mittel gegen beide Hindernisse. Didaktische und methodische Hinweise zu Filmclip und Arbeitsblatt: Interner Link: Der "Föhrer" und die Pius-Brüder Weiterführende Informationen: Holocaustleugnung
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2016-04-06T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/multimedia/dvd-cd/224333/der-foehrer-und-die-pius-brueder/
Ein "schwieriges Verhältnis zu Schwulen und Juden" teile er mit den Pius-Brüdern, sagt der "Föhrer" in diesem Film. Denn Anhänger der Pius-Bruderschaft fallen immer wieder durch frauenfeindliche, homophobe und antisemitische Stellungnahmen auf. So br
[ "Satire", "Rechtsextremismus", "extra 3", "NDR", "Unterricht", "Neonazi", "TV", "Medien", "Fernsehen" ]
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Geheimhaltung und Transparenz | Presse | bpb.de
Vom 26. bis 28. März findet in Berlin die Tagung "Geheimhaltung und Transparenz" statt. Experten und Expertinnen aus elf Ländern werden über Notwendigkeit, Reichweite, Instrumentarium und Wirksamkeit der Geheimdienstkontrolle diskutieren. Die Geheimdienste vieler Länder wurden angesichts global vernetzter Terrororganisationen mit neuen Befugnissen ausgestattet. Dieser Machtzuwachs der Geheimdienste fordert mit neuer Dringlichkeit eine Antwort auf die Frage: Wie lassen sich diese Geheimdienste in einer demokratischen Gesellschaft kontrollieren? Die Tagung wird veranstaltet von der Evangelischen Akademie zu Berlin, dem Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND), dem Arbeitskreis Geschichte der Nachrichtendienste und der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie steht unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Thierse. Pressegespräch mit den Veranstaltern, Referentinnen und Referenten am Veranstaltungsort Samstag, 27. März 2004, 13.30 Umweltforum Berlin Auferstehungskirche Pufendorfstr. 11 10249 Berlin-Friedrichshain Interner Link: Programm, Referenten und Referentinnen (PDF-Version: 58 KB) Weiter Informationen finden Sie unter Veranstaltungen und Externer Link: Evangelische Akademie zu Berlin. Tagungssekretariat Evangelische Akademie zu Berlin Belinda Elter Tel.: +49 (0) 30 - 203 55 407 Fax: +49 (0) 30 - 203 55 550 E-Mail: E-Mail Link: elter@eaberlin.de Anmeldung zum Pressegespräch Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Pressearbeit Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 228 99515-284 Fax +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50856/geheimhaltung-und-transparenz/
Nachrichtendienstliche Arbeit bedarf in demokratischen Staaten der parlamentarisch - öffentlichen Kontrolle. Auf dieser Tagung sollen Fragen der Notwendigkeit, der Reichweite, der Instrumentarien und der Wirksamkeit der Kontrolle von Nachrichtendiens
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Engagement – lohnt das denn? | Rechtsextremismus | bpb.de
Es gibt viele Arten, sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu engagieren. Drei kurze Beispiele: Schüler können ihre Schulen zu "Schule ohne Rassismus" erklären. Dazu müssen sie dafür sorgen, dass mehr als 70 Prozent ihrer Mitschüler eine Selbstverpflichtung unterschreiben, aktiv gegen Rassismus zu sein. Immerhin 375 Schulen tragen diese Auszeichnung schon bundesweit und die Warteliste bei der Berliner Koordinierungsstelle der Aktion ist lang. Auch Arbeitnehmer können sich in ihren Betrieben gegen Rechtsextremismus und Rassismus wehren. "Mach meinen Kumpel nicht an'' heißt ein initiativreicher Verein in Düsseldorf, dem Vertreter aus dem DGB und von ver.di angehören. Und in Schwerin ist der Sitz einer Gewerkschaftsjugendinitiative, die sich www.rechtsweg-ausgeschlossen.de nennt und ''Konzerte gegen Rechts'', Workshops und Diskussionen an Berufsschulen zum Thema organisiert. Drei Beispiele unter vielen? Oder viel zu wenig? Aufgeklärt und getan wird keineswegs wenig gegen Rechtsextremismus – auch von Einzelpersonen. Da vertreibt ein Braunschweiger Kleinunternehmer T-Shirts mit dem pfiffigen Aufdruck "Braun-schweig!" im www.braun-schweig.de/onlineshop oder eine Berliner Schneiderin vertreibt kurze Röcke mit der Aufschrift: ''Rock gegen Rechts", um Flagge zu zeigen. In Verden schafften Schülersprecher für ihre Schulen braune Mülltonnen an, damit Schüler Neonazipropaganda gleich versenken können, wenn sie vor ihrem Schultor verteilt wird. Und in Pößneck druckte eine Bürgerinitiative kleine gelben Aufkleber, die auf Plakate und Buttons rechtsextremer Gruppen und Parteien gepappt wird. Die Aufschrift: ''Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie ein Geschichtsbuch oder fragen Sie Ihre Großeltern". Auch der Erfindergeist ist also groß, doch ganz ehrlich: Wie viele trauen sich ein T-Shirt in der Öffentlichkeit zu tragen, auf dem steht: ''Schöner leben ohne Nazis'' oder ''Mut-gegen-rechte-Gewalt''? Wie man effektiv mutig sein kann, sich verhalten kann, wenn man Zeuge rassistischer Übergriffe wird, das wird kostenlos von Polizeidienststellen unterrichtet – "verhaltensorientierte Prävention" heißt das beispielsweise in Berlin im Fachjargon. Dass man nicht unbedacht dazwischen gehen soll, wenn einer verprügelt wird, sondern Aufgaben an Schaulustige drumherum verteilen soll, wird da gelehrt, möglichst mit direkter Ansprache: "Hallo Sie im roten Pullover, bitte rufen Sie die Polizei, hallo Sie im gelben Hemd, holen Sie den Zugführer, und Sie mit der Brille, bitte helfen Sie mir...". Doch wie viele helfen wirklich, wenn es darauf ankommt? Die meisten gucken dann doch lieber weg oder schauen betreten zu Boden, damit der hilfesuchende Blick des Opfers den ihren nicht kreuzt. Auch Trainingskurse gibt es inzwischen, wo man lernen kann, wie man rechtsextremen Störtrupps entgegentreten kann, die sich anheischen, öffentliche Veranstaltungen zu stören um ihre ''Wortergreifungsstrategie'' zu trainieren. Genauso gibt es für den, der danach sucht, eine ganze Reihe von Ratgebern, wie man rechte Stammtischparolen entschärfen kann, zum Beispiel, indem man rechtsextreme Sprücheklopfer um konkrete Beispielen für ihre pauschalen Thesen bittet und in Nachfragen verstrickt. Solches Argumentationstraining kann man lernen, könnte man lernen, vieles weiß man eigentlich auch. Zum Beispiel, dass die meisten Ausländer in Deutschland auch solidarische Steuerzahler sind, und in ihrer Mehrheit keine Sozialschmarotzer, wie das Neonazis gern behaupten. Oder dass die ominösen "Protokolle der Weisen von Zion", worauf Neonazis gerne ihre antisemitischen Vorurteile stützen, eine russische Geheimdiensterfindung aus der Zeit Anfang des vergangenen Jahrhunderts waren. Doch wer traut sich, wenn es drauf ankommt, wirklich Contra zu geben? Sicher, im Kollektiv fällt das leichter, als allein auf weiter Flur. Immer üblicher wird es in Städten und Gemeinden, dass sich Bündnisse gegen Rechtsextremismus zusammentun, um gegen Neonaziaufmärsche zu demonstrieren, sei es in Rüsselsheim, Waiblingen, Cottbus oder auch nur in einem Fußballstadion, indem man die 'Rote Karte gegen Rassismus" zeigt. Aber solche DFB-Aktionen oder Bürgerbündnisse, solche kleinen und großen ''Aufstände der Anständigen" bleiben oft nur singuläre Ereignisse, um Gewissen zu beruhigen: Einmal im Jahr, vielleicht zweimal wird gemeinsam demonstrativ aufgestanden gegen Rechtsextremismus. Aber danach, im Alltag? Wird sich wieder gesetzt. Statt einer Haltung, wird nur Symbolik gezeigt. Schade. Sicherlich: In Zukunft wird Engagement breiter werden, je mehr Aufklärung es über Neonazis gibt – und je mehr Rückendeckung es ''von oben" gibt. In diesem Bewusstsein hat Bundesinnenminister Schäuble Mitte Juli an Feuerwehren, THW, DLRG und Sozialverbände appelliert, entschlossener gegen Neonazis Partei zu ergreifen. "Wir verstehen uns als Vorbilder für die uns anvertrauten jungen Menschen. Wir leben Zivilcourage und Engagement vor und motivieren zu Demokratie und gesellschaftlicher Verantwortung. Deshalb hat Rechtsextremismus keinen Platz bei uns", heißt es da in einer gemeinsamen Selbstverpflichtung von Innenministern, Ministern und Verbändevorsitzenden ( Die große Mitte ist gefragt). Auf diese Weise Rechtsextremismus als Gefahr beim Namen zu nennen ohne im gleichen Atemzug vor Linksextremismus zu warnen, ist für Unionspolitiker ein Quantensprung. Aufkleber der Aktion Courage im thüringischen Pößneck (www.abc-poessneck.de). (© H. Kulick) Auch Bundeskanzlerin Merkel appelliert neuerdings in diesem Sinne: "Wir müssen uns einmischen, ganz egal, wo wir stehen" - zuletzt in einem Interview mit der jüdischen Fachzeitschrift Tribüne: ''Rechtsradikalismus und Extremismus muss man bekämpfen, indem man es von den Wurzeln her tut und nicht an den Blättern'', fordert die Kanzlerin. Dafür sei eine "mutige Gesellschaft" gefragt: "Das erfordert ebenso die Zivilcourage von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern wie auch den Einsatz jener, die in unserem Land Verantwortung tragen". Ein schöner Satz, der aber zugleich deutlicht macht, dass genau dies noch viel zu selten passiert. Oder zu halbherzig. Dabei wird aber auch übersehen, dass "von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern" und jenen, die Verantwortung tragen, nicht nur Zivilcourage erforderlich ist, sondern zusätzlich die Einsicht, dass auch für die ''ganz normalen Bürgerinnen und Bürger" eine echte Demokratie, zu der auch explizit Minderheiten gehören, das bessere System ist. Die gefühlte Rückendeckung von Rechtsextremen hat nämlich auch damit zu tun, dass sie glauben, Demokratiefeindlichkeit sei weit verbreitet - weil es offensive Demokratieverteidiger kaum gibt. Aber auch dort, wo engagierte Personen aktiv sind, wo ''Rezeptbücher" angewendet und Appelle ausgesprochen werden, ist Rechtsextremismus nicht automatisch am Ende. Für viele Engagierte ist das ein großes Frustphänomen, dass rechtsextreme Gewalt sogar wieder zunimmt und die Zahl von Mitgliedern in der NPD weiter wächst. Obwohl die gesellschaftliche Aufklärung zugenommen hat. Oder wird durch sie nur sichtbarer, was eh vorhanden ist, wenn man endlich offen darüber spricht? Beispiel Sachsen-Anhalt Beispiel Sachsen-Anhalt. Hier wird inzwischen sehr viel offener über Rechtsextremismus diskutiert, als noch vor Jahren - auch weil die Gefahr erkannt worden ist, wie sehr Demokratiefeindschaft damit einher geht. Die Wahlbeteiligung, sprich aktive Demokratiebeteiligung bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2006 lag nur noch bei 44 Prozent, bei der letzten Kreistagswahl im April 2007 sogar nur bei rund einem Drittel. Überzeugte Demokraten und ein Bewusstsein für demokratische Werte sind somit eine Mangelware. Zugleich werden hier pro Kopf der Bevölkerung die meisten rechtsextremen Gewalttaten verübt. Landesweit wird dagegen geworben. Mit dem Motto: ''Hingucken! Für ein demokratisches und tolerantes Sachsen-Anhalt" wirbt die Landesregierung in Werbespots und auf Plakatwänden und ihre Vertreter zeigen offen dazu Haltung. Selbst als Anfang August 2007 Magdeburgs oppositionelle Grüne dazu aufriefen, gegen einen Naziversand ausgerechnet im schmucken Hundertwasserhaus der Stadt zu demonstrieren, waren unter den anwesenden 150 Demonstranten sogar zwei Minister: die Justizministerin des Landes Angela Kolb und Innenminister Holger Hövelmann. Ihr Prinzip: Haltung alleine ist noch kein ausreichendes Rezept, wenn nicht kontinuierliche solche Handlungen folgen. Die beiden sachsen-anhaltinischen Minister spielen da sicherlich eine Ausnahmerolle, Innenminister Hövelmann unterstützt tatkräftig kleine und große Initiativen gegen Rechtsextremismus, nimmt engagiert an Podien teil und kämpft in der Innenministerkonferenz unermüdlich für ein NPD-Verbot. Justizministerin Kolb schärfte ihren Gerichten ein, Verfahren gegen Rechtsextreme nicht länger vor sich hindümpeln zu lassen und läuft bei Demonstrationen zivilgesellschaftlicher Gruppen gerne in der ersten Reihe mit. Am 3. August rief sie sogar einen Journalistenwettbewerb aus - für Journalisten, die fundiert über Rechtsextremismus berichten. Schülerzeitungsredakteure hatten sie auf die Idee gebracht. Als die Gymnasiasten aus Halberstadt kürzlich Briefmarken gegen Rechtsextremismus für einen privaten Postdienst entwarfen, dem das dann aber doch zu politisch wurde, orderte die Justizministerin die Aufkleber eben für ihre Ministeriumspost (siehe Foto). ''Rechts ist eine Sackgasse" steht dort jetzt auf einem abgebildeten Straßenschild zu lesen, nur geradeaus geht es Richtung Demokratie. Was nicht funktioniert: Beschwichtigung, Verharmlosung, Ignorieren Postaufkleber, die Gymnasiasten aus Halberstadt als Briefmarke für den privaten Postdienst Biberpost in Magdeburg entwarfen. Der lehnte jedoch ab, das sachsen-anhaltinische Justiz- und Kultusministerium ließen dagegen demonstrativ 25.000 Stück drucken. (© H. Kulick) Doch wenn solche Einfälle und Rezeptbücher gegen Neonazis Wirkung zeigen sollen, dann sind sie auch auf klare Signale von weiteren Vertretern der Gesellschaft angewiesen, die als Vorbild vorangehen. Nicht nur Politiker sind in dieser Rolle gefragt. Künstler, Sportler, Lehrer, Ärzte, Bäcker, Tankwarte ebenso, wichtig sind alle, die in ihren Kunden- oder Bezugsgruppen Einfluss haben. Und viele mehr. Das heißt noch einmal: die Mitte der Gesellschaft ist gefragt. Rührt sie sich nicht, empfinden das Neonazis als Rückendeckung. Sachsen-Anhalt hat als langjähriges Negativ-Beispiel gezeigt, was nicht funktioniert: Beschwichtigung, Verharmlosung, Ignorieren. Dazu zählt auch jahrelang praktiziertes Herunterspielen rechter Gewalttaten auf Seiten von Gerichten: dass Schläger immer wieder auf Bewährung verurteilt wurden, auch wenn sie in der Bewährungszeit zuschlugen oder dass rassistische und rechtsextreme Täter-Motivation nicht thematisiert und hinterfragt wurde, führte dazu bei, dass sich rassistische Gewalt noch stärker ausbreiten konnte. Denn es wurden Schlägern keine deutlichen Grenzen gesetzt. Das Problem wurde dadurch verstärkt, dass Polizeikräfte oft den Eindruck erweckten, eher daran interessiert zu sein, sich mit Betroffenen von rechtsextremer Gewalt auseinanderzusetzen, als mit den noch greifbaren Tätern - zuletzt beim Angriff Rechtsextremer auf Schauspieler des Nordharzer Städtebundtheaters am 9. Juni 2007. Gegen Rechtsextremismus wird überdies nichts erreicht, wenn sich nach rechtsextremen Angriffen politische Vertreter eher um den Ruf ihres Ortes Sorge machen als um die Opfer oder um die Gewaltbereitschaft der Rechtsradikalen. Das jüngste Beispiel aus dem sächsischen Mügeln am 18. August 2007 zeugt davon. Bis zu 50 Jugendliche jagten acht Inder durch den Ort. Doch der Bürgermeister sträubte sich zunächst, von Rechtsextremismus oder Rassismus zu reden, auch Sachsens Ministerpräsident wiegelte ab: "Es steht außer Frage, dass man solche Vorfälle nicht auf die leichte Schulter nehmen kann, aber man sollte auch nicht jede Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Ausländern sofort unter dem Stichwort Ausländerfeindlichkeit verbuchen", beschwichtigte er am 21.8.2007 gegenüber Spiegel Online. Doch genau solche Beschwichtung zählt zu den Faktoren, die dazu beitragen, dass sich rechte Gewalt und rechtextreme Ideologie weiter verbreiten, verfestigen und sogar strukturieren können. In Sachsen-Anhalt ist das jetzt begriffen worden, fast zu spät. Die Gefahr instrumentalisierter Menschenfeindlichkeit Die neue Devise aus Sachsen-Anhalt: Rechter Ideologie und rechter Gewalt Grenzen zu setzen ist unerlässlich. Als Voraussetzung dazu muss man sie offen beim Namen nennen, dort, wo sie passiert. Eine Schwierigkeit in Deutschland ist jedoch, dass viele Elemente rechtsextremer Ideologie auch in der gesellschaftlichen Mitte Akzeptanz finden und auf fruchtbaren Boden fallen. Die von Neonazis angenommene "klammheimliche Freude" manches Bürgers über Taten gegen Ausländer ist solch ein Problem. "Menschenfeindlichkeit", wie sie der Bielefelder Professor Wilhelm Heitmeyer definiert, ist keine Eigenschaft bekennender Neonazis alleine. Nimmt die Politik dies auf, fühlen sich Rechtsextreme besonders bestätigt. Bekanntes Beispiel davon ist die Reaktion auf rechte Gewalt auf Seiten der Politik in den frühen neunziger Jahren. Nach den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock, den Angriffen in Solingen und Mölln, die sich gegen so genannten ´´Fremde´´ richteten, wurden einerseits solche Angriffe von den Parteien und der Gesellschaft verurteilt, aber zugleich auch im Sinne der Angreifer Politik gemacht, in dem deren Prämisse akzeptiert wurde, dass ´´zu viele Ausländer´´ in Deutschland seien oder nach Deutschland kämen. Dementsprechend wurden die Einschränkungen für Asylsuchenden so stark verschärft, dass sich die Zahl von Asylanträgen innerhalb der letzen zehn Jahre von rund 100.000 in 1998 auf 20.000 in 2006 reduzierte. Knapp über ein Prozent der Anträge wird zurzeit anerkannt. Der Staat ging letztlich davon aus, auf diese Weise rechtsextremes Handeln zu entschärfen. Das misslang, denn viele Rechtsextreme fühlten sich bestätigt. Politik in der gesellschaftlichen Mitte muss sich daher viel expliziter und bewusster von rechtsextremen Ideen distanzieren, um Rezepten gegen Rechtsextremismus Wirksamkeit zu verleihen. Denn nur eine engagierte Gesellschaft, die fähig ist, in Vielfalt und Demokratie ihre Stärke zu erkennen, dass heißt, nur eine Gesellschaft, die sich selbst angegriffen sieht, wenn ein Schwarzer, ein jüdischer Kindergarten, ein türkischer Imbiss oder ein Heim für Flüchtlinge angegriffen wird, nur eine solche Gesellschaft bleibt gegen rechtsextreme Ideologie immun. Aber solange auch die Mitte der Gesellschaft ethnische, soziale, und religiöse Minderheiten nur als Beiwerk behandelt, das es nur zu tolerieren gilt, das aber nicht dazugehört, solange behält Rechtsextremismus beste Chancen, sich immer wieder und immer weiter auszubreiten. Demokratie, das ist eine ihrer wichtigsten Anliegen, garantiert Vielfalt. Doch demokratische Werte, die nicht gelebt werden, machen Rezeptbücher gegen Demokratiefeinde wirkungslos. Aufkleber der Aktion Courage im thüringischen Pößneck (www.abc-poessneck.de). (© H. Kulick) Postaufkleber, die Gymnasiasten aus Halberstadt als Briefmarke für den privaten Postdienst Biberpost in Magdeburg entwarfen. Der lehnte jedoch ab, das sachsen-anhaltinische Justiz- und Kultusministerium ließen dagegen demonstrativ 25.000 Stück drucken. (© H. Kulick)
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Von Holger Kulick und Andrés Nader
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-11-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/41596/engagement-lohnt-das-denn/
Was hilft gegen Rechtsextremismus? Schlaue Handbücher gibt es viele, markige Einfälle auch. Doch so lange die Mitte der Gesellschaft Engagement und Einmischung nicht als ihre Aufgaben betrachtet, haben Rechtsextreme leichtes Spiel.
[ "Rechtsextremismus", "Engagement", "Zivilcourage" ]
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Die Deutschen an der Weichsel | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Wanda und die Deutschen Um die Hand der Krakauer Prinzessin Wanda hielt der deutsche Herzog Rüdiger an. Als diese ihn aber abwies, schwor der Herzog, sich für diese Schmach zu rächen: Er rüstete ein Ritterheer aus und zog gegen Krakau. Eine Belagerung begann, die Krakauer sahen Hunger und Not heraufziehen. Herzog Rüdiger bot den sofortigen Abzug seiner Truppen an, wenn Wanda ihm doch ihre Hand gäbe. Das wollte die Prinzessin aber nicht. Doch wollte sie auch nicht, dass die Deutschen ihre Stadt brandschatzen. Sie fand einen Ausweg: Sie stürzte sich in die Weichsel und ertrank. Dies ist die Kurzfassung der in Polen sehr bekannten Sage von "Wanda, die keinen Deutschen wollte". Die aus dem Mittelalter überlieferte Sage belegt ganz zweifelsfrei, dass es in Krakau schon damals Spannungen zwischen dem alteingesessenen polnischen Adel und Ankömmlingen aus den deutschen Landen gab, dass diese Trennlinie also aus dem Mittelalter stammt. Es ist auch der erste Hinweis darauf, dass die Weichsel in den deutsch-polnischen Beziehungen immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt hat. An ihren Ufern lebten zunächst Polen und Deutsche in friedlicher Symbiose, die allerdings immer wieder durch heftige Zusammenstöße gestört wurde. In allen polnischen Residenzstädten stellten deutsche Kaufleute und Handwerker mit ihren Zünften eine bedeutende Wirtschaftsmacht dar, die sie auch in politischen Einfluss ummünzen konnten. Dies brachte die Siedler und ihre Nachkommen unvermeidlich in einen Gegensatz zum polnischen Adel und auch zum Klerus. Die politische Macht der Städter war so groß, dass sie sich Ende des 13. Jahrhunderts in die Streitigkeiten um die polnische Thronfolge einschalten konnten. So hatten sie ihren Anteil daran, dass 1291 der böhmische König Vaclav (Wenzel) II., ein Vasall des deutschen Kaisers, die Macht in Krakau übernehmen konnte. Eigentlich hatte der kleinwüchsige polnische Herzog Władysław Łokietek (1260-1333), in deutschen Chroniken irreführend Ladislaus Ellenlang genannt, Anspruch auf die Krakauer Burg erhoben, der Adel unterstützte ihn dabei, doch war er militärisch zu schwach, um sich durchzusetzen. Zum Groll des polnischen Adels bot Vaclav daraufhin dem Kaiser an, die Lehnsherrschaft über Polen zu übernehmen. Die wichtigsten Hofämter besetzte er mit Gefolgsleuten, darunter einige deutsche Ritter. Als Vaclav 1305 starb, konnte sich Łokietek endlich die Herrschaft sichern. Als er aber wegen eines Kriegszugs für längere Zeit Krakau verließ, beschlossen die deutschen Ratsherren unter Führung des Stadtvogts Albert, ihm die Rückkehr zu verwehren. Grund waren offenbar die hohen Kriegssteuern, die der Herzog den Kaufleuten abverlangt hatte. Die Schlüssel der Stadt trugen sie Herzog Bolko aus dem schlesischen Oppeln an, der zwar mit Łokietek verwandt, gleichwohl aber auch Vasall des deutschen Kaisers war. Doch nach einigen Monaten kehrte Władysław Łokietek an der Spitze eines großen Heeres zurück. Bolko sah die Nutzlosigkeit jeden Widerstandes ein und übergab ihm die Stadtschlüssel. Łokietek hielt anschließend Strafgericht: Zahlreiche der deutschen Patrizier wurden vor den Stadttoren aufgehängt, ihr Besitz wurde eingezogen. Albert kam mit dem Leben davon, er durfte im Gefolge Bolkos abziehen. In der deutschen Geschichtsschreibung galt später der "Aufstand des Vogtes Albert" im Jahr 1311 als Meilenstein im Kampf für das "Deutschtum im Osten", in den polnischen Annalen aber war dieser schlicht ein Verräter. Ein folgenschwerer Hilferuf Drei Jahre zuvor, 1308, hatten weichselabwärts in Danzig die Gefolgsleute Łokieteks eine bittere Niederlage hinnehmen müssen: Die aufstrebende Hafenstadt hatte vielerlei Begehrlichkeiten geweckt. Die deutschen Ratsherren lehnten sich gegen die Erhöhung der Steuern durch den lokalen polnischen Adel auf und baten die Brandenburger um militärischen Beistand. Der Kommandant der polnischen Garnison auf der Danziger Burg beging nun einen folgenschweren Fehler: Er bat den Deutschen Orden, der bereits Land auf der rechten Seite der Weichselmündung besaß, gegen die Brandenburger um Hilfe. Der Herzog Konrad von Masowien, der Großvater Łokieteks, hatte die Ordensritter zwei Generationen zuvor ins Weichselland gerufen, weil er Unterstützung im Kampf gegen die heidnischen Prussen im heutigen Masuren brauchte. Die Ordensritter, die die militärische Supermacht der damaligen Zeit waren, verjagten im Handumdrehen die Brandenburger aus Danzig – um sich dann gegen ihre Auftraggeber zu wenden. Sie plünderten erst die Stadt, setzten die polnischen Adligen fest und enthaupteten mehr als ein Dutzend von ihnen. Auch diese politische Kehrtwendung wurde später in der deutschen Geschichtsschreibung als Ruhmestat gefeiert, die polnischen Chronisten aber empörten sich über das "Gemetzel von Danzig". Wladyslaw Łokietek begriff, dass die Ordensritter seine Herrschaft gefährdeten, und versuchte, sie aus dem Land zu drängen. Seine Rechtsberater führten an, sie hielten widerrechtlich polnisches Land besetzt. Ein päpstlicher Legat gab ihm Recht. Doch die Ordensritter erwirkten, offenbar mit Unterstützung des deutschen Kaisers, in Rom eine Aufhebung des Schiedsspruchs. Wenig später starb Łokietek. Sein Sohn Kasimir III. (Kazimierz, 1310-1370) strengte einen neuen Prozess an. 1339 fand die Verhandlung auf halbem Weg zwischen der Residenz Krakau und dem Ordensland am Unterlauf der Weichsel statt, in dem Städtchen Warschau. Wieder bekam die polnische Krone Recht. Doch der Deutsche Orden ignorierte den Schiedsspruch und blieb. Der "Warschauer Prozess", der den Eintritt der Stadt in die große Geschichte markierte, blieb also folgenlos. Kooperation statt Konflikt Kasimir lernte aus dem Prozess: Er beendete alle Konflikte mit den Nachbarn im Westen, er verzichtete auf Schlesien und auf Danzig. Der größere Teil der von der polnischen Krone und dem deutschen Reich ausgehandelten Grenzen sollte sechs Jahrhunderte halten – bis zum Zweiten Weltkrieg. Kasimir nahm somit den endgültigen Verlust der Kontrolle über die Weichselmündung hin, sicherte aber seine Herrschaft an ihrem Oberlauf. Er machte nicht nur seinen Frieden mit den deutschen Patriziern und Siedlern, die sein Vater noch bekämpft hatte, sondern ließ vor allem Baumeister und Handwerker in den deutschen Landen anwerben. Sie leisteten einen entscheidenden Beitrag zu dem in jedem polnischen Geschichtsbuch stehenden Satz: "Kasimir fand ein Polen aus Holz vor und hinterließ eines aus Stein." Das gute Einvernehmen zwischen der polnischen Krone und dem von deutschen Ratsherren dominierten Stadtrat belegt auch der Krakauer Fürstentag von 1364. Aus Anlass der Hochzeit des deutschen Kaisers Karl IV. mit einer Enkelin Kasimirs gab Bürgermeister Nikolaus Wirsing ein Festmahl, an dem insgesamt fünf gekrönte Häupter teilnahmen. Überdies gab Kasimir den in anderen europäischen Ländern verfolgten Juden in seinem Königreich Rechte. In Krakau siedelten sie sich vor allem in der Weichselniederung unterhalb der Königsburg an, der neue Stadtteil war nach ihm benannt: Kazimierz. Auch dehnte er das Königreich erheblich nach Osten aus. Er ging als "Kasimir der Große" in die Geschichte ein. Polen und Deutsche gegen die Ordensritter Eine Ansichtskarte der Marienburg von 1893. Im Vordergrund die Nogat. (Public Domain, Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de Doch das Ringen um die Kontrolle der Weichsel hielt an. Der Deutsche Orden demonstrierte seine Macht mit der Marienburg, dem größten Bauwerk nördlich der Alpen. Doch im Laufe der Jahrzehnte verschoben sich die Gewichte zugunsten der polnischen Krone. Die deutschen Patrizier von Danzig, überdrüssig der Steuern, die ihnen der Orden abpresste, stellten sich unter den Schutz des Königs, bewahrten aber ihre politische und wirtschaftliche Autonomie. Die Deutschen von Danzig bejubelten auch den Sieg des polnisch-litauischen Heeres gegen die Ordensritter in der Schlacht von Tannenberg/Grunwald 1410. Sie wurde zwarInterner Link: zum polnischen Mythos, wie auch das viereinhalb Jahrhunderte später entstandene monumentale Gemälde von Jan Matejko belegt. Doch hatte die Schlacht keinerlei strategische Bedeutung. Denn der Deutsche Orden verteidigte in der Folge seine Burgen an der Weichsel und stellte auch seine Herrschaft über Danzig wieder her. Nach mehreren erfolglosen Erhebungen gelang es den Danzigern schließlich fast zwei Generationen später doch im Bunde mit überwiegend deutschsprachigen Adligen, die sich zum Preußischen Bund zusammengeschlossen hatten, sich gegen die Ordensritter durchzusetzen. 1454 zog eine Delegation aus Danziger Patriziern und preußischen Adligen weichselaufwärts, um König Kasimir IV. (1427-1492) die Herrschaft über ihr Land anzubieten, falls dieser ihre autonomen Rechte respektiere. Nach einigem Zögern und weiteren militärischen Auseinandersetzungen mit dem Deutschen Orden garantierte der König schließlich den Danzigern das Große Privileg. Er unterzeichnete die vorgefertigte Urkunde, deren entscheidender Satz lauteten: "Geben wir und verleyen unnsir stadt Danczk das sie zcu ewigen geczeiten nymands von eynem herrn halden noch gehorsam zcu weszen seyn sullen in weltlichen sachen." Mit der Militärmacht des polnischen Königs im Rücken konnten es sich die Danziger leisten, den Unterlauf der Weichsel für den Orden zu sperren. Ihre Flotte griff 25 Patrouillenboote der Ordensritter an und versenkte sie. Ohne die Einnahmen aus dem Wegezoll waren diese nicht mehr in der Lage, die für den neuen Krieg angeworbenen Söldner zu bezahlen. 1455 musste der Orden die Marienburg an die rebellierenden Söldner verpfänden – und diese verkauften sie an den polnischen König. Die Deutschen und die Blüte von Krakau Zeichnete sich somit der Niedergang des Deutschen Ordens ab, so erlebten die deutschen Patrizier von Krakau zur selben Zeit ihre Glanzzeit. Weiterhin dominierten sie den Stadtrat und die Zünfte. Sie wurden so reich, dass sie eine eigene Kathedrale bauten – die Marienkirche. In ihr wurde auf Deutsch gepredigt. Die Patrizier brachten die Mittel auf, den berühmtesten und teuersten Bildhauer in die Stadt zu holen, Meister Veit Stoß (1447-1533) aus Nürnberg. Er schuf den 13 Meter hohen Interner Link: Hauptaltar der Marienkirche und blieb drei Jahrzehnte an der Weichsel. In dieser Zeit zog die Krakauer Universität Gelehrte und Studenten aus ganz Europa an. Zu ihnen gehörte Nikolaus Kopernikus, der aus einer deutschsprachigen Familie stammte. Später wurde er Mitglied des preußischen Landtags und stellte sich, wie ein Großteil der preußischen Ritterschaft am Unterlauf der Weichsel, gegen den Deutschen Orden. Auch wurde Krakau eines der Zentren der neuen Buchdruckerkunst. Auch dieses Gewerbe war zunächst fast in deutscher Hand. Ein deutscher Meister druckte erstmals ein Buch in polnischer Sprache, ein theologisches Traktat mit dem Titel Raj duszny (Seelenparadies). Dem Verleger Johannes Haller (1463-1525) gestand die Kirche gar das Monopol auf den Druck von Messbüchern zu. Heute gilt er als Patron der polnischen Buchdrucker. Die vom König Sigismund I. (1467-1548) angeordnete Öffnung der Zünfte auch für Polen führte indes zunächst zu Spannungen. So musste 1501 der Stadtrat der Zunft der Hutmacher befehlen, getrennte Herbergen für polnische und deutschsprachige Gesellen einzurichten, weil es zwischen beiden Gruppen immer wieder zu Prügeleien gekommen war. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte der Stadt an der Schwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert ging in die Annalen als das "goldene Zeitalter" ein. Auch die politische Macht von König Sigismund erreichte ihren Höhepunkt, markiert durch die "Krakauer Huldigung" 1525, ein Markstein der polnischen Geschichte, den ein weiteres Mal Jan Matejko später bildlich umsetzte: Der König nahm die Huldigung durch den letzten Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Hohenzollern, entgegen, der auch sein Neffe war. Sie bedeutete faktisch die Kapitulation der Ordensritter, nachdem sie bei ihren Versuchen, mit militärischen Mitteln ihre alte Machtposition wieder herzustellen, gescheitert waren. Der polnische König stimmte der Umwandlung von Teilen des Ordensstaates in ein weltliches Herzogtum zu. Zusammen mit den Ländereien des preußischen Bundes entstand später daraus Preußen. Bei den Feierlichkeiten in Krakau aber dachte niemand an künftige Gegnerschaft, im Gegenteil: Polnische Adlige und Ordensritter feierten gemeinsam erst einen Dankgottesdienst auf dem Wawel und anschließend ein großes Fest. Zunehmend verwischten sich die Grenzen zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Nachkommen der Siedler aus den deutschen Landen. Vor allem nahm die Zahl der Eheschließungen zwischen polnischen Adligen und deutschen Patriziertöchtern zu. Den einen war es dabei meist um das Vermögen zu tun, den anderen um Ehre und Titel. Die Krakauer Deutschen polonisierten sich innerhalb weniger Generationen, wie sich aus den Taufregistern ablesen lässt: Immer häufiger hießen die Söhne Jan statt Johann oder Paweł statt Paul. 1537 wurde per königlichen Erlass Polnisch die Predigtsprache der Marienkirche, im Jahr 1600 auch Sprache sämtlicher Gerichte in Krakau. Warschau wird Hauptstadt Die königliche Residenz war vier Jahre zuvor flussabwärts nach Warschau verlegt worden. Der Grund: Der aus dem schwedischen Hause Vasa stammende König Sigismund III. (1566-1632) hoffte, auch den Thron in seinem Heimatland besteigen zu können. Warschau lag mehrere Tagereisen näher an Stockholm. Die Sigismundsäule auf dem Schlossplatz zeugt bis heute von dieser folgenreichen Entscheidung. Die Hoffnungen Sigismunds sollten sich indes nicht erfüllen. Zwar wurde er nach dem Tod seines Vaters auch König von Schweden. Doch wollte ausgerechnet einer seiner Onkel ihn nicht anerkennen, er stellte sich an die Spitze einer Adelsfronde. Sigismunds Söldnertruppen unterlagen in diesem kurzen Krieg. Er kehrte nach Warschau zurück, Schweden sah er nie wieder. Insgesamt regierte er 44 Jahre lang an der Weichsel, ohne sich allerdings je Mühe zu geben, Polnisch zu lernen. Hofsprache war zu seiner Zeit Deutsch. Dies hatte seine Frau Anna durchgesetzt, eine Habsburger Prinzessin. Und nicht nur dies: Am Warschauer Hof wurde die Wiener Hofetikette eingeführt. Auch kamen in ihrem Gefolge zahlreiche Adlige und Beamte, die Schlüsselpositionen am Hofe einnahmen. Ein Chronist hielt über die neuen Sitten an der Weichsel fest: "Unter den deutschen Herren hat sich das dem Volke so unsympathische deutsche Wesen eingeschlichen, und die im Volke gärende Verbitterung gegen den König nimmt ständig zu." Mit der streng katholischen Anna kamen auch Jesuiten nach Warschau. Sie setzten gemeinsam mit der Königin den auch in Glaubensdingen eher lauen Sigismund so unter Druck, dass er die Weichen für die Gegenreformation in Polen stellte. Als Anna nach nur vier Jahren Ehe, in denen sie fünf Kinder zur Welt brachte, starb, heiratete Sigismund ihre damals 17 Jahre alte Schwester Konstanze, die nicht minder fromm war. Ihre sieben Brüder ließ sie größtenteils von deutschen Lehrern und Künstlern unterweisen, doch mussten sie auch Polnisch lernen. Mit dem Tod Sigismunds 1632 verließen die meisten der deutschen Adligen die Stadt. Sachsen an der Weichsel Es vergingen zwei Generationen, bis wieder Deutsche an der Weichsel in höchste Ämter aufstiegen: 1697 wurde der sächsische Kurfürst Friedrich August II. (1670-1733) von der Adelsversammlung zum polnischen König gewählt. Wegen seiner Körperkraft bekam er den Beinamen "der Starke". Unter ihm und seinem Sohn August III. (1696-1763) wurde Warschau zur europäischen Metropole ausgebaut. Es entstanden zahlreiche Barockbauwerke. Der italienische Maler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, hat sie auf Leinwand verewigt. Die Bauwut der Sachsenkönige, ihre verschwenderische Hofhaltung und mehrere erfolglose Kriegszüge ruinierten allerdings den Staatshaushalt. Als August III. 1763 starb, war die Krone nicht nur mit dem polnischen Adel völlig zerstritten, sondern auch außenpolitisch am Ende, weil sie nicht mehr über ausreichende Mittel verfügte, ein schlagkräftiges Heer aufzustellen. Der Niedergang des Königreichs Polen war wegen seiner Finanzprobleme und der politischen Lähmung der Krone durch den Adel nicht aufzuhalten. Die drei Nachbarn – Preußen, Österreich, Russland – nutzten seine innere Schwäche, um in drei Schritten zwischen 1772 und 1795 Interner Link: das Land unter sich aufzuteilen. König Stanisław Poniatowski wurde zur Abdankung gezwungen. Der Oberlauf der Weichsel mit Krakau kam zu Österreich, der Unterlauf einschließlich der begehrten Hafenstadt Danzig zu Preußen, das zunächst auch das Mittelstück mit Warschau bekam. Preußen in Warschau Dort marschierte Anfang 1796 ein 10.000 Mann starkes preußisches Kontingent ein. An den Verwaltungsgebäuden wurden Wappen mit dem schwarzen preußischen Adler angebracht, Warschau wurde zum Verwaltungssitz des Bezirks Südpreußen herabgestuft. Eingerahmt von preußischen Gardesoldaten mit bedrohlich aufgepflanzten Bajonetten leistete ein Teil des Adels und des Klerus bei einer Versammlung im Königsschloss den Treueeid auf die preußische Krone. Stadtgouverneur wurde der Generalleutnant Ludwig Ägidius von Köhler. Von der Regierung in Berlin bekam er den Auftrag, jedweden "jakobinischen Aufruhr" an der Weichsel im Keim zu ersticken. In einem Bericht hieß es: "Warschau ist gewiss ein Sammelplatz von revolutionären und bösen Leuten, die vom Ausland und besonders von Frankreich her ihre Direktion erhalten." Auf dem Stadtgebiet ließ von Köhler insgesamt 116 Militärposten einrichten, auch überwachten mehrere Abteilungen der preußischen Geheimpolizei die Warschauer Elite. Die "Rebellgesinnten" wurden zur preußischen Armee eingezogen und mussten alle Härten des Drills über sich ergehen lassen. Das Königsschloss stand leer, abgesehen vom Abgeordnetensaal. In ihm wurde eine evangelische Kapelle eingerichtet, was als Demütigung für die katholischen Polen gemeint war. Dass das Hauptgebäude des Schlosses zunehmend verwahrloste, war ebenfalls gewollt: Den Warschauern sollte auf diese Weise der Untergang ihres Königreiches vor Augen geführt werden. Zu den preußischen Beamten, die zum Dienst nach Warschau abgeordnet wurden, gehörte der junge Justizassessor Ernst Theodor August (E.T.A.) Hoffmann (1776-1822). Zu seinen Aufgaben gehörte es vermutlich auch, die jüdische Bevölkerung, deren Rechtsstatus verbessert wurde, zu registrieren und ihr auch Familiennamen zu geben. Genau zehn Jahre lang blieben die Preußen an der Weichsel, bis Napoleon 1806 mit seinen Truppen von Westen her anrückte. Generalleutnant von Köhler verließ Warschau rechtzeitig, er wurde von zahlreichen polnischen Adligen verabschiedet. Diese waren ihm dankbar dafür, dass er jegliche revolutionäre Bestrebungen unterdrückt und somit ihnen ihr Eigentum gerettet hatte. Als Napoleon im Dezember 1806 in Warschau eintraf und die neue polnische Regierung empfing, kam es fast zum Eklat: Denn der Verteidigungsminister, Fürst Józef Poniatowski, trug den preußischen Schwarzadlerorden, den ihm König Friedrich Wilhelm II. verliehen hatte. Napoleon äußerte sich später abfällig über den Warschauer Adel. Dieser war wiederum von dem Korsen enttäuscht, weil er die Bitten ignorierte, das Königreich Polen wiederherzustellen. Nach Napoleons Niederlage dachten die Sieger auf dem Wiener Kongress 1815 erst recht nicht daran, den Polen, die an seiner Seite gekämpft hatten, ihren Staat wieder zu geben. Krakau blieb bei Österreich, der Unterlauf der Weichsel bei Preußen, Warschau aber kam zum Zarenreich. Formal entstand zwar das Königreich wieder, doch die Königswürde ging auf den Zaren über. Warschau im Ersten Weltkrieg Genau nach 100 Jahren endete die russische Herrschaft an der Weichsel: Deutsche Truppen rückten 1915 in Warschau ein. Den deutschen Offizieren wurden von der Heeresleitung befohlen, sich höflich aufzuhalten, der Bevölkerung müsse vermittelt werden, dass sie nun vom russischen Joch befreit sei. Der deutsche Generalgouverneur Hans von Beseler berief ein polnisches Bürgerkomitee, das eine neue Verwaltung aufbauen sollte. Der Vorsitzende des Komitees, Fürst Zdzisław Lubomirski, wurde nach einem Jahr zum Bürgermeister ernannt. Allerdings traten an die Spitzen der Behörden zunächst deutsche Beamte, so dass Deutsch und Polnisch gleichzeitig Amtssprachen waren. Auch mussten die Warschauer Betriebe für die deutsche Kriegswirtschaft arbeiten. Überdies verschlechterte sich die Versorgungslage zunehmend. Im Frühjahr 1916 kam es zu einer großen Streikwelle. Zu dieser Zeit hatte sich die deutsche Militärmaschine bereits an der Westfront festgefahren. Die Oberste Heeresleitung beschloss daher, eine schnelle Entscheidung im Osten herbeizuführen. Die Polen sollten dafür als Bündnispartner gewonnen werden, polnische Truppen sollten beitragen, die Russen zur Kapitulation zu zwingen. Berlin gab die Parole von einer "Interessengemeinschaft von Deutschen und Polen" aus. Am 5. November 1916 proklamierte von Beseler im Warschauer Königsschloss in Gegenwart von Vertretern der Warschauer Elite und der katholischen Kirche das Königreich Polen. Überall in der Stadt hingen nebeneinander schwarz-weiß-rote und weiß-rote Fahnen. Am nächsten Tag wurden Plakate in der Stadt geklebt, in denen die Warschauer aufgefordert wurden, sich freiwillig zu den neuen polnischen Streitkräften zu melden. Allerdings fanden sich nur sehr wenige Freiwillige. Das zweite Problem für die deutschen Besatzer bestand darin, dass sich kein Kandidat für die polnische Königswürde gefunden hatte. Sie setzten daher einen vorläufigen Regentschaftsrat ein, der einen König ausfindig machen sollte. Dazu kam es allerdings nicht mehr. Mit dem Waffenstillstand, der am 11. November 1918 den Ersten Weltkrieg beendete, übernahmen die Polen wieder die Macht in ihrer Hauptstadt. Der Führer der polnischen Legionen, Józef Pilsudski, der nun "amtierendes Staatsoberhaupt" war, erklärte, die Polen würden "keine Rache für deutsche Sünden nehmen" und gestattete den deutschen Truppen einen Abzug in Ehren. Kommentatoren der Warschauer Presse aber schmähten sie als "geschlagene Kreuzritter". 21 Jahre später kehrte ein Teil von ihnen zurück – in den Uniformen von Wehrmacht und SS. Naziherrschaft an der Weichsel Anlass für den Zweiten Weltkrieg war – wieder einmal – ein Konflikt um Danzig. Die Siegermächte hatten auf der Konferenz von Versailles entschieden, die Stadt aus dem Deutschen Reich herauszulösen, obwohl mehr als 95 Prozent der Einwohner Deutsche waren. Außenpolitisch wurde die Freie Stadt Danzig von Polen vertreten, auch unterstand die Stadt der polnischen Zollhoheit. Im Morgengrauen des 1. September 1939 eröffnete das Schulschiff "Schleswig-Holstein" das Feuer auf die Westerplatte, auf der sich eine polnische Kaserne befand, und gab somit das Signal zum Krieg. Der Angriff der Wehrmacht auf Polen war für die Warschauer und Krakauer keine Überraschung, die polnischen Zeitungen hatten seit Wochen Kriegsstimmung verbreitet und vor allem einen schnellen Sieg der eigenen Truppen in Aussicht gestellt. Um so größer war der Schock, dass bereits am zweiten Kriegstag deutsche Sturzkampfbomber mehrere Weichselstädte bombardierten und dass schon nach weniger als drei Wochen die Bodentruppen den Strom erreichten. Noch unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch in Warschau und Krakau war in der polnischen Elite die Hoffnung verbreitet, dass man auch diese neue Besatzung überstehen werde. Man erinnerte sich daran, dass im Ersten Weltkrieg die Deutschen im Großen und Ganzen korrekt aufgetreten waren. Doch diese Hoffnungen erwiesen sich sehr bald als falsch: Die NS-Führung strebte an, Polen als Kulturnation auszulöschen. Als erstes erfuhren dies die Professoren der Jagiellonen-Universität in Krakau, die nach dem Ende der Kampfhandlungen im Oktober sich auf die Wiedereröffnung der Universität und den Beginn des neuen Semesters vorbereiteten. Ein Großteil von ihnen folgte der Einladung zu einer Informationsveranstaltung der Besatzungsbehörden über den "deutschen Standpunkt in den Wissenschafts- und Hochschulfragen". Dort aber trat ein SS-Offizier auf, barsch verkündete er, dass die polnische Hochschule aufgelöst sei. Die Professoren wurden von SS-Männern rüde festgenommen, die meisten kamen in Konzentrationslager. Eine große Gruppe von ihnen wurde in Auschwitz erschossen. Nur ein kleiner Teil kam nach internationalen Protesten wieder frei. Es war der Auftakt zu einer gnadenlosen Jagd auf "Kulturträger", wie es im NS-Sprachgebrauch hieß. Dazu gehörten die Vertreter aller akademischen Berufe ebenso wie Offiziere und Priester. Mehr als 2000 polnische Geistliche wurden von den Deutschen ermordet, darunter fünf Bischöfe. Alle höheren Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, den polnischen Kindern wurde nur eine vierjährige Volksschule zugestanden. Auch erklärten die Besatzer alle polnischen Organisationen und Vereine für aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmten sie. Dieses Verbot betraf auch Sportclubs. Polen war es bei strenger Strafe untersagt, organisiert Sport zu treiben. Wer an verbotenen Fußballspielen teilnahm, dem drohte das Konzentrationslager. In Auschwitz fanden rund drei Dutzend Spieler der nun aufgelösten Warschauer und Krakauer Spitzenvereine den Tod. Die Deutschen organisierten an der Weichsel eine eigene Fußballliga, an ihr nahmen Mannschaften der bewaffneten Formationen, der Reichspost, der Ostbahn sowie mehrerer Rüstungsbetriebe teil. Das in der Weichselniederung gelegene Stadion der Polnischen Streitkräfte in Warschau hieß nun Wehrmachtsstadion", das Krakauer Wisła-Stadion "Deutsche Kampfbahn". Die NS-Propaganda schrieb unter Berufung auf die deutschen Patrizier des Mittelalters, darunter den Burgvogt Albert, von der "alten deutschen Stadt Krakau". Auf der Wawel-Burg residierte der Generalgouverneur Hans Frank, ein skrupelloser und raffgieriger Günstling Hitlers. Dem von ihm angeordneten Terror fielen Zehntausende von Angehörigen der polnischen Führungsschicht zum Opfer. Er gehörte auch zu den Hauptverantwortlichen für die Judenverfolgung in seinem Herrschaftsgebiet. Nur ein Bruchteil der in den Ghettos von Krakau und Warschau zusammengepferchten Juden überlebte die deutsche Schreckensherrschaft. Warschauer Aufstände Denkmal des Warschauer Aufstands in Warschau (Dhirad, Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Die Weichselmetropole Warschau erlebte zwei Aufstände gegen die Besatzer: Im Frühjahr 1943 erhob sich die heimlich gegründete "Jüdische Kampforganisation" gegen die SS, war aber mit ihrer völlig unzureichenden Bewaffnung völlig chancenlos, der Ghetto-Aufstand wurde grausam niedergeschlagen. Anderthalb Jahre später, im Spätsommer 1944, versuchte die Untergrundarmee AK angesichts der heranrückenden Roten Armee, Warschau unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Aufstand war zwar militärisch gegen die Deutschen, aber politisch gegen den Kreml gerichtet, denn die Polen wollten ihre Befreiung nicht der Roten Armee zu verdanken haben. Da Stalin dies sofort begriff, ließ er die Rotarmisten auf dem rechten Weichselufer abwarten, während die Waffen-SS ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung anrichtete; die Zahl der Toten wird auf bis zu 150.000 geschätzt. Anschließend machten Pioniereinheiten der Wehrmacht die Innenstadt einschließlich aller Kirchen, Paläste, Museen, Theater und Bibliotheken dem Erdboden gleich. Krakau entging diesem Schicksal. Warum, darüber sind sich die Historiker uneins: die einen machen dafür einen schnellen Vorstoß der Roten Armee verantwortlich, andere meinen, der zuständige Wehrmachtsgeneral habe den Zerstörungsbefehl aus Berlin schlicht ignoriert. Stattdessen habe er den sofortigen Rückzug befohlen und somit der Stadt auch erspart, Schauplatz eines Häuserkampfes zwischen sowjetischen und deutschen Truppen zu werden. Hans Frank hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst nach Westen abgesetzt, auch hatte er rechtzeitig ganze Wagenladungen an geraubten Kunstgegenständen abtransportieren lassen. Wenige Tage nach der deutschen Kapitulation fiel er im Mai 1945 der amerikanischen Militärpolizei in die Hände. Das Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg verurteilte ihn zum Tode, er starb am Galgen. Zeitzeugen berichteten, er habe sich als Herrscher über Leben und Tod auf der Wawel-Burg über den lateinischen Spruch mokiert, der während der Renaissance über dem Zugang zu den königlichen Gemächern eingemeißelt worden war: "Respice finem!" – Auf deutsch: "Bedenke das Ende!" Die Weichsel ist polnisch Mit dem Rückzug der deutschen Besatzer aus den beiden früheren Königsresidenzen war auch abrupt die Jahrhunderte lange Geschichte der Deutschen an der Weichsel geendet. Die Erinnerung an den deutschen Besatzungsterror wirkt bis heute nach: Gerade in den ostpolnischen Wojewodschaften, durch die die Weichsel fließt, gewinnen auch zwei Generationen später bei Wahlen fast durchweg Kandidaten und Parteien, die unter Berufung auf die Kriegserfahrung der Nation vor einer deutschen Dominanz in Europa warnen und die deutsch-polnische Zusammenarbeit möglichst begrenzen wollen. Daran konnten auch Bitten um Vergebung für die Kriegsverbrechen, die Bundespräsidenten und Bundeskanzler bei Besuchen in Warschau ausgesprochen haben, wenig ändern. Doch was den Politikern in nur geringem Maße gelungen ist, schaffte in den polnischen Städten ein junger deutscher Kabarettist: Steffen Möller spielte bei seinen Auftritten von Krakau über Warschau bis Danzig nicht nur mit deutsch-polnischen Vorurteilen, sondern nahm auch aus der gemeinsamen Geschichte herrührende Phobien aufs Korn. Er zitierte E.T.A. Hoffmann, der sich über manche Sitten in Warschau mokierte, aber seine polnische Frau Michalina heiß und innig liebte. In einem seiner Programme erzählt Möller in Umkehrung der bekannten Krakauer Sage von dem "Deutschen, der Wanda nicht wollte". So hat er mit leichter Ironie den Kreis der Geschichte der Deutschen an der Weichsel geschlossen. Eine Ansichtskarte der Marienburg von 1893. Im Vordergrund die Nogat. (Public Domain, Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de Denkmal des Warschauer Aufstands in Warschau (Dhirad, Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
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Thomas Urban
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-05-03T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/159396/die-deutschen-an-der-weichsel/
Von der Wanda, die den Deutschen nicht wollte bis zum Deutschen, der die Wanda nicht will. Das Verhältnis der Deutschen zur Weichsel hat nie einen geraden Lauf genommen.
[ "Weichsel", "Fluss", "Krakau", "Krieg", "Warschauer Ghetto", "Wawel", "Marienburg", "Polen", "Krakau", "Warschau" ]
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Der öffentlich-rechtliche Rundfunk zwischen Recht und Politik | Öffentlich-rechtlicher Rundfunk | bpb.de
Die Medienordnung in Deutschland ist wie kaum ein anderer Bereich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt, das insbesondere in den dreizehn Rundfunkurteilen aus der Rundfunkfreiheit detaillierte Vorgaben für die Medienordnung abgeleitet hat. Dabei ging es wiederholt um die Frage, ob und inwieweit Parlamente und Regierungen durch gesetzliche Vorgaben und Finanzierungsentscheidungen Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nehmen dürfen. Dass diese Frage das Bundesverfassungsgericht immer wieder beschäftigte, lag auch daran, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner jetzigen Form keine deutsche Erfindung war, sondern nach 1945 durch die Vorstellungen der Briten und US-Amerikaner in ihren jeweiligen Besatzungszonen geprägt wurde. Angesichts der historischen Erfahrungen mit dem zentralistischen staatlichen Rundfunk (Reichsrundfunkgesellschaft) in der Weimarer Republik und seines nachfolgenden Missbrauchs durch die Nationalsozialisten als Propagandainstrument waren sich Briten und Amerikaner einig, einen demokratischen Rundfunk schaffen zu wollen, der weder dem Staat oder den Parteien noch einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, etwa den Kapitalgebern, sondern der Allgemeinheit gehören sollte. Die von den Briten eingebrachte Staatsferne und Pluralität zur Gewährleistung umfassender und ausgewogener Information der Bürgerinnen und Bürger und der von den Amerikanern beigesteuerte Föderalismus bildeten das Fundament dieses neuen Rundfunks. Allerdings war diese auf die Vorstellungen der Westalliierten zurückgehende Konstruktion von Anfang an umstritten. Beiden großen politischen Parteien der frühen Bundesrepublik, sowohl der SPD als auch und noch stärker der CDU, war das Modell einer Kontrolle durch "gesellschaftlich relevante Gruppen" ein Dorn im Auge; sie verlangten mehr oder weniger unverblümt einen stärkeren Einfluss der Parteien und des Staates in den Gremien, bis hin zu deren Besetzung in Übereinstimmung mit den Wahlergebnissen. Der Versuch Konrad Adenauers, mit der Deutschland-Fernsehen-GmbH in Form einer im staatlichen Eigentum stehenden privaten Gesellschaft wieder ein vom Bund kontrolliertes Staatsfernsehen nach Weimarer Muster zu schaffen, scheiterte im Februar 1961 mit dem berühmten Ersten Fernsehurteil vor dem Bundesverfassungsgericht. Das im Rahmen eines Bund-Länder-Streits ergangene Urteil gilt, anknüpfend an eine Äußerung des damaligen Intendanten des Süddeutschen Rundfunks Hans Bausch, ganz zu Recht als "Magna Charta des Rundfunkrechts". Bedeutung des Ersten Fernsehurteils Die Karlsruher Richter begnügten sich in diesem Ersten Fernsehurteil nicht mit der Feststellung, dass dem Bund bereits die Kompetenz fehle, sich der Materie Rundfunk, auch in Form der Gründung einer privaten Gesellschaft, anzunehmen. Vielmehr enthält das Urteil auch grundsätzliche Aussagen zur Rundfunkfreiheit, die nach Ansicht des Gerichts von fundamentaler Bedeutung auch für das verfassungsrechtliche Leben in den Ländern ist, weshalb ihr objektiv-rechtlicher Gehalt auch in einem Bund-Länder-Streit verteidigt werden könne. Die Rundfunkfreiheit hat aus Sicht der Richter für die Demokratie und die freie Information der Bürgerinnen und Bürger zentrale Bedeutung, da der Rundfunk nach ihrer zutreffenden Ansicht nicht nur Medium, sondern auch ein eminenter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung ist. Deshalb sind – so das Gericht – besondere Vorkehrungen erforderlich, um die Rundfunkfreiheit zu verwirklichen und aufrechtzuerhalten. Ein zulässiger Weg war nach ihrer Ansicht der Aufbau föderaler öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, die dem staatlichen Einfluss entzogen und höchstens einer begrenzten Rechtsaufsicht unterworfen sind. Damit hatte das von den Alliierten geschaffene System den verfassungsgerichtlichen Segen erhalten. Aber bereits in dieser Entscheidung weist das Gericht darauf hin, dass ein öffentlich-rechtliches Monopol unter den damaligen Bedingungen zwar zulässig, aber nicht zwingend ist. Mit diesem Hinweis wurde bereits 1961 der Weg zu einem dualen Rundfunksystem geebnet. Zudem verbietet nach Ansicht des Gerichts die Bestimmung des Artikels 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes, dass der Rundfunk dem Staat oder einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert werden darf. Dies schließt es aus, dass der Staat – auch in der Form einer privaten Gesellschaft – als Rundfunkveranstalter auftritt, wie es mit der Deutschland-Fernsehen-GmbH geplant war. Zudem darf er auch keinen beherrschenden Einfluss über ihm zuzurechnende Gremienmitglieder ausüben. Allerdings schließt es dieser Grundsatz der "Staatsfreiheit" nach Ansicht des Gerichts nicht aus, dass den Organen der Rundfunkanstalten ein "angemessener Anteil" staatlicher Vertreter angehört. Daher wäre es wohl schon damals sachgerecht gewesen, nicht von Staatsfreiheit, sondern von Staatsferne zu sprechen. Mit dieser ersten Entscheidung in einer langen Reihe von Rundfunkurteilen begannen die Karlsruher Richter, die bundesdeutsche Rundfunkordnung entscheidend mitzuprägen. Ihr Beitrag zum Erhalt und der Fortentwicklung einer demokratischen, vielfältigen, der Demokratie verpflichteten und den kulturstaatlichen Auftrag berücksichtigenden Rundfunklandschaft kann gar nicht genug gewürdigt werden. Die in den Entscheidungen entwickelten Vorgaben schränken allerdings den grundsätzlich weiten Gestaltungsspielraum der Länder im Bereich des Medienrechts nicht unerheblich ein, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugleich verpflichtet sind, den Rundfunk nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, sondern ihn gesetzlich auszugestalten. Dieses Spannungsverhältnis soll im Folgenden an den Beispielen der fortbestehenden Notwendigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie seines Auftrags und seiner Finanzierung verdeutlicht werden. Fortbestehende Notwendigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Die Digitalisierung hat gravierende, teilweise disruptive Veränderungen für die gesamte Medienlandschaft und insbesondere den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit sich gebracht. Mit ihr ist es möglich geworden, jedwede Kommunikationsinhalte auf verschiedenen Übertragungswegen zu verbreiten und für die Empfänger auf beliebigen Endgeräten verfügbar zu machen. Zudem sind neben das klassische Fernsehen eine riesige Zahl weiterer medialer Angebote getreten, deren Bedeutung sich dem Fernsehen mehr und mehr annähert. Dies hat zu einer unermesslichen Vielzahl von Informations- und Unterhaltungsangeboten geführt, die jedem über das Internet auf Abruf zur Verfügung stehen. Die Digitalisierung bewirkt also auf der einen Seite die massenhafte Verbreitung meinungsrelevanter Inhalte und befördert dadurch die Informationsvielfalt. Dieser Zuwachs ist aber auf der anderen Seite mit einem Verlust an Übersichtlichkeit verbunden. In dieser Situation gewinnen die Informationsvermittler, also die "Intermediäre", zunehmend an Bedeutung, die mit ihren durch Algorithmen gesteuerten Selektionsleistungen über die Reichweite der Angebote maßgeblich mitbestimmen. Neu ist dabei die Möglichkeit, durch Tarnprofile oder Social Bots die eigenen Überzeugungen um ein Vielfaches multipliziert zu verbreiten und so den Anschein einer mehrheitsfähigen Tendenz zu erwecken. Zudem geht mit den durch die Digitalisierung bewirkten Veränderungen eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft einher. Dieser Trend wird durch Empfehlungen Dritter gestärkt, die zu vielbeachteten viralen Effekten führen. Die Folge dieser Fragmentierung ist, dass sich Communities bilden, die, gestützt auf die im Internet bereitstehenden Kommunikationsplattformen, vorwiegend untereinander kommunizieren und sich dem Austausch mit anderen Gruppen tendenziell verschließen. Dadurch entstehen sogenannte Echokammern beziehungsweise Filterblasen. Da sich in diesen digitalen Realitäten eigene Mentalitäten und Sichtweisen herausbilden, ist das Risiko hoch, dass sie sich von anderen Communities, insbesondere von den Eliten aus Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft, entfremden. Schließlich hat die massenhafte Verbreitung von Hass und Hetze in einem Ausmaß zugenommen, das sich viele vor nicht allzu langer Zeit nicht vorstellen konnten. Zu diesen allgemeinen Entwicklungen treten Vorgänge bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten selbst hinzu, die mitunter dazu beitragen, den Fortbestand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks infrage zu stellen – so zuletzt etwa beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), bei dem der Intendantin ein "System der Gefälligkeiten" zwischen ihr und dem RBB-Verwaltungsratsvorsitzenden vorgeworfen wurde, oder beim Norddeutschen Rundfunk (NDR), in dessen Umfeld Vorwürfe politischer Einflussnahme laut geworden waren. Diese Vorgänge sind ganz unabhängig vom Ausgang strafrechtlicher Ermittlungsverfahren gravierend und haben eine heftige Diskussion darüber ausgelöst, ob man der Objektivität und Verlässlichkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bei seiner Berichterstattung noch trauen kann und ob er mit den ihm anvertrauten Beitragsmitteln sachgerecht und sparsam umgeht. Infrage gestellt wird damit auch, ob die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Zukunft noch Bestand haben kann und ob ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk in der bisherigen Form weiterhin notwendig ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Rundfunkfreiheit eine dienende Funktion für die Demokratie. Die Demokratie ist idealtypisch auf umfassend informierte Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Daher muss das Medienangebot umfassende und vielfältige Informationen ermöglichen. Diese Aufgabe obliegt im Bereich des Rundfunks in erster Linie den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Schon im Zweiten Gebührenurteil vom 11. September 2007 und noch intensiver in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Rundfunkbeitrags vom 18. Juli 2018 nimmt das Bundesverfassungsgericht zur Notwendigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalen Medienwelt Stellung. Es betont, dass die Digitalisierung der Medien und insbesondere die Netz- und Plattformökonomie des Internets einschließlich der sozialen Netzwerke Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen bei Anbietern, Verbreitern und Vermittlern von Inhalten begünstigen. Hinzu komme die Gefahr, dass – auch mithilfe von Algorithmen – Inhalte gezielt auf Interessen und Neigungen der Nutzerinnen und Nutzer zugeschnitten werden, was wiederum zur Verstärkung gleichgerichteter Meinungen führe. Dies alles führe zu schwieriger werdender Trennbarkeit zwischen Fakten und Meinung, Inhalt und Werbung sowie zu neuen Unsicherheiten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Quellen und Wertungen. Der einzelne Nutzer müsse die Verarbeitung und die massenmediale Bewertung übernehmen, die herkömmlich durch den Filter professioneller Selektionen und durch verantwortliches journalistisches Handeln erfolgt. Angesichts dieser Entwicklung wachse die Bedeutung der dem beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk obliegenden Aufgabe, durch authentische und sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit unverzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken. Er müsse, so die Richter, ein vielfaltsicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht bilden. Diese Überlegungen werden in der jüngsten Rundfunkentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nochmals ausdrücklich bestätigt. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht etwa entbehrlich geworden ist, sondern – ganz im Gegenteil – unverzichtbarer ist als je zuvor. Auftrag und Finanzierung Die Bestimmung des Artikels 5 Absatz 1 Satz 2 GG enthält nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Auftrag, die Rundfunkfreiheit durch eine Ordnung zu gewährleisten, die sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet. Die Ausgestaltung dieser Ordnung ist Aufgabe der Landesgesetzgeber, die dabei grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum, auch für Differenzierungen insbesondere nach der Regelungsart und Regelungsdichte, haben. Allerdings sind die Länder verpflichtet, die Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einschließlich seiner bedarfsgerechten Finanzierung zu sichern. Damit korrespondiert ein grundrechtlicher Finanzierungsanspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter, der mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbar ist. Zwischen der bedarfsgerechten Finanzierung und dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Dieser beruht unter anderem darauf, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk wegen der ihm zustehenden Rundfunkfreiheit Programmautonomie besitzt. Daher steht ihm die Entscheidung über die zur Erfüllung des Funktionsauftrags als nötig angesehenen Inhalte und Formen des Programms zu. Bei der Festsetzung des Rundfunkbeitrags müssen Risiken einer mittelbaren Einflussnahme auf die Wahrnehmung des Programmauftrags ausgeschlossen werden, um die Programmfreiheit der Rundfunkanstalten zu sichern. Daher sind für die Beitragsfestsetzung die Grundsätze der Programmneutralität und der sogenannten Programmakzessorietät maßgeblich. Dies bedeutet, dass sich die Finanzierung nach dem Auftrag richten muss und nicht umgekehrt. Spielraum des Gesetzgebers Das hat allerdings nicht zur Folge, dass dem Gesetzgeber im Übrigen medienpolitische oder programmleitende Entscheidungen als solche versagt sind. Vielmehr sind gesetzliche Programmbegrenzungen keineswegs von vornherein ausgeschlossen. Hierzu sind die Länder aber auf die allgemeine Rundfunkgesetzgebung verwiesen. Insbesondere darf eine Entscheidung über Zeitpunkt, Umfang oder Geltungsdauer der Beitragsfestsetzung nicht zu Zwecken der Programmlenkung oder der Medienpolitik, namentlich im dualen System, benutzt werden. Bei der Konkretisierung des Auftrags müssen die Länder die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachten, die das Bundesverfassungsgericht aus der besonderen Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für eine ausgewogene, vielfältige und umfassende Information und damit für eine funktionsfähige Demokratie abgeleitet hat. Ganz allgemein gestehen die Karlsruher Richter in der Entscheidung zum ZDF-Staatsvertrag vom 25. März 2014 und der jüngsten Rundfunkentscheidung vom 20. Juli 2021 dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen "klassischen Funktionsauftrag" zu, der sich vor allem auch in der Aufgabe eines Gegengewichts zu den privaten Rundfunkanbietern manifestiert (Komplementärfunktion). Mit dieser Feststellung verknüpfen sie Erwartungen an öffentlich-rechtliche Programme und Telemedien, also Abrufangebote. So müsse der öffentlich-rechtliche Rundfunk insbesondere auch solche Aspekte aufgreifen, die über die Standardformate von Sendungen für das Massenpublikum hinausgehen oder solchen dann ein eigenes Gepräge geben. Bestätigt werden die Aussagen vorangegangener Urteile, wonach der Auftrag nicht als Mindestversorgung oder als das Füllen von "Lücken" und "Nischen", sondern im Sinne einer Vollversorgung ("klassischer Rundfunkauftrag") zu verstehen ist, wobei das Angebot insgesamt dynamisch offen sein muss und seine Verbreitung nicht auf einen bestimmten technischen Entwicklungsstand beschränkt sein darf. Obwohl gesetzgeberische Ansätze zur Umschreibung des Funktionsauftrags stets Gefahr laufen, in Widerspruch zu diesen verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu geraten, bleiben sie angesichts der abstrakten verfassungsgerichtlichen Anforderungen notwendig und erweisen sich als unumgänglich, zumal auch das europäische Beihilferecht eine möglichst präzise Beschreibung des Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verlangt. Mit dem Bundesverfassungsgericht bleibt festzuhalten, dass die Rundfunkanstalten trotz Programmautonomie bei der Bestimmung des Programmumfangs gerade nicht vollständig frei sind. Allerdings muss das Programmangebot auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben. Der Gesetzgeber darf also den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks trotz seines weiten Gestaltungsspielraums in programmlicher Hinsicht nicht auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand einfrieren. Insoweit erscheint es sachgerecht, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerade in der digitalen Welt die Entwicklungsmöglichkeiten einzuräumen beziehungsweise zu erhalten, die ihn im Wettbewerb publizistisch konkurrenzfähig bleiben lassen. Verfahren zur Festsetzung des Rundfunkbeitrags Trotz des Grundsatzes der Programmakzessorietät wird derzeit besonders intensiv über die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die "Beitragsstabilität" diskutiert, die sich einzelne Landespolitikerinnen und Landespolitiker auf die Fahnen geschrieben haben und die auch im Beschluss der Rundfunkkommission zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk vom 19./20. Januar 2023 auftaucht. Dies geht so weit, dass etwa der Ministerpräsident von Brandenburg bereits vor Beginn des Beitragsfestsetzungsverfahrens erklärt hat, einer möglichen von der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) vorgeschlagenen Beitragserhöhung nicht zuzustimmen. Um beurteilen zu können, ob Landesregierungen oder Landesparlamente eine von der KEF vorgeschlagene Beitragserhöhung ohne spezifische Gründe ablehnen dürfen, ist es notwendig, die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genauer zu analysieren. Besonders intensiv hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der angemessenen Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dem diesbezüglichen Gebührenfestsetzungsverfahren in den beiden Gebührenurteilen 1994 und 2007 beschäftigt. Es hat in diesen Entscheidungen das dreistufige Verfahren zur Festlegung der Höhe der Rundfunkgebühr entwickelt beziehungsweise bestätigt. In seiner jüngsten Rundfunkentscheidung 2021 musste sich das Gericht damit befassen, ob diese Rechtsprechung auch für den ab 2013 an die Stelle der Rundfunkgebühr getretenen Rundfunkbeitrag gilt, was die Karlsruher Richter nachdrücklich bejahten. Zudem stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass auch ein Unterlassen der Zustimmung zu einem Staatsvertrag, mit dem der Rundfunkbeitrag entsprechend dem Vorschlag der KEF erhöht werden soll, tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist, weil aus der Rundfunkfreiheit in Bezug auf die Gewährleistung der funktionsgerechten Finanzierung eine Handlungspflicht der Länder abzuleiten ist. Daher könne ein Unterlassen der Erfüllung dieser Pflicht mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Am Beginn des Verfahrens zur Festsetzung des Rundfunkbeitrags muss nach dieser Rechtsprechung die Bedarfsanmeldung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stehen, die auf ihren Programmentscheidungen beruht und sich nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu richten hat. Auf der zweiten Stufe ist eine Überprüfung der Bedarfsanmeldung durch eine staats- und politikfrei besetzte Sachverständigenkommission, also durch die KEF, vorzunehmen. Diese kontrolliert, ob sich die Bedarfsanmeldungen innerhalb des rechtlich umgrenzten Rundfunkauftrages halten und der daraus abgeleitete Finanzbedarf zutreffend und in Einklang mit den Grundsätzen von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ermittelt worden ist. Es handelt sich bei dieser Kontrolle also nicht um eine politische, sondern um eine fachliche Aufgabe. Die Kontrolle endet in einem konkreten Beitragsvorschlag auf der Grundlage des überprüften Finanzbedarfs (KEF-Bericht). Die eigentliche Beitragsfestsetzung erfolgt dann auf der dritten Stufe durch einen Staatsvertrag, dem alle Landesparlamente zustimmen müssen. Allerdings sind Abweichungen von dem Beitragsvorschlag der KEF zulasten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig. Dabei erschöpfen sich die Abweichungsgründe im Wesentlichen in den Gesichtspunkten des Informationszugangs und der angemessenen Belastung der Rundfunkteilnehmer, also der Sozialverträglichkeit des Beitrags. Diese Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht 2021 in einem Punkt nochmals verschärft. Es verlangt nämlich für ein Abweichen vom Beitragsvorschlag der KEF eine einvernehmliche Entscheidung aller Länder. Hält also ein Land eine Abweichung für erforderlich, ist es in Zukunft Sache dieses Landes, das Einvernehmen aller Länder über die Abweichung von der Bedarfsfeststellung der KEF herbeizuführen. Zudem muss der Abweichungsgrund von allen Ländern dargelegt und hinreichend begründet werden. Das dreistufige Verfahren zur Festsetzung des Rundfunkbeitrags hat sich bisher insbesondere deshalb bewährt, weil sich die KEF als Garant für die Einhaltung von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit und damit der Interessen der Beitragszahler erwiesen hat. Dies lässt sich angesichts der Entwicklung der Beitragshöhe verdeutlichen: Als am 1. Januar 2013 die Umstellung der Rundfunkgebühr auf den Rundfunkbeitrag erfolgte, betrug die Gebühr 17,98 Euro pro Monat. Diese Höhe wurde zunächst für den Rundfunkbeitrag unverändert beibehalten, ab dem 1. April 2015 auf 17,50 Euro abgesenkt und blieb bis 2021 stabil. Zum 1. Januar 2021 schlug die KEF eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags auf 18,36 Euro vor. Wegen der unterlassenen Zustimmung des Landtages von Sachsen-Anhalt trat der von allen Ländern unterzeichnete Staatsvertrag zunächst nicht in Kraft; dessen maßgebliche Bestimmungen setzte dann das Bundesverfassungsgericht nach erfolgreichen Verfassungsbeschwerden von ARD, ZDF und Deutschlandradio mittels Vollstreckungsanordnung mit Wirkung ab dem 20. Juli 2021 in Kraft. Der Rundfunkbeitrag weist demnach, nicht zuletzt durch die effektive Kontrolle der KEF, ein hohes Maß an Stabilität über einen langen Zeitraum auf. An dem bisherigen Verfahren zur Festsetzung des Rundfunkbeitrages ist nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch im Interesse der Staatsferne unbedingt festzuhalten, da ansonsten mittels Gewährung beziehungsweise Verweigerung einer Beitragserhöhung durch Landesregierungen oder Landesparlamente indirekt, aber besonders effektiv Einfluss auf das Programm genommen werden kann. Dies bedeutet nicht, dass die Länder keinen Einfluss besitzen. Vielmehr bestimmt der Auftrag die Finanzierung. Bei der Ausgestaltung des Auftrags besitzen die Länder durchaus Gestaltungsspielraum. Es liegt an ihnen, ob und in welcher Weise sie davon Gebrauch machen. Vgl. BVerfGE 12, 205; 31, 214; 57, 295; 73, 118; 74, 297; 83, 238; 87, 181; 90, 60; 119, 181; 121, 30; 136, 9; 149, 222; 158, 389. Vgl. Axel Buchholz, Wie staatsfern ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk?, in: Mark D. Cole/Stephanie Schiedermair/Eva Ellen Wagner (Hrsg.), Die Entfaltung der Freiheit im Rahmen des Rechts. Festschrift für Dieter Dörr zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2022, S. 603–616, hier S. 603ff. BVerfGE 12, 205. Zur Bedeutung dieser Entscheidung vgl. Dieter Dörr, Die Magna Charta des Rundfunkrechts – Das Erste Fernsehurteil und seine Folgen, in: Jürgen Becker/Peter Weber (Hrsg.), Funktionsauftrag, Finanzierung, Strukturen – Zur Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, Liber Amicorum für Carl-Eugen Eberle, Baden-Baden 2012, S. 143–154. Zitiert nach Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart 1998, S. 116. BVerfGE 12, 205 (243ff.). Ebd., 259ff. Ebd., 259. Ebd., 261f. Ebd., 263. Detaillierte Vorgaben zur Gremienbesetzung hat das Bundesverfassungsgericht erst in der Entscheidung BVerfGE 136, 9 (37ff.) entwickelt. In der Entscheidung BVerfGE 136, 9 (33f.) bekennt sich das Gericht ausdrücklich zum Begriff der Staatsferne und hebt den Unterschied zur Staatsfreiheit hervor. Vgl. Dieter Dörr, Unabhängig und gemeinnützig – ein Modell von gestern?, in: ARD (Hrsg.), 50 Jahre ARD, Baden-Baden 2000, S. 12–22, hier S. 15. So zuletzt BVerfGE 158, 389 (421), unter Hinweis auf BVerfGE 119, 181 (214 und 221). Vgl. ebd. Auf die aus der Staatsferne abgeleiteten detaillierten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Gremienzusammensetzung wird in diesem Beitrag nicht näher eingegangen. Vgl. dazu BVerfGE 136, 9 (37ff.) und Dieter Dörr, Grundsätze der Medienregulierung, in: ders./Johannes Kreile/Mark D. Cole (Hrsg.), Medienrecht. Recht der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 2022, Rn. 105ff. Vgl. zu diesen Entwicklungen Dieter Dörr/Bernd Holznagel/Arnold Picot, Legitimation und Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Zeiten der Cloud, Frankfurt/M. 2016, S. 15ff. Vgl. ebd., S. 32ff. m.w.N. Vgl. epd medien 33–34/2022, S. 12f. und 35/2022, S. 13. Vgl. epd medien 35/2022, S. 13. Vgl. epd medien 44/2022, S. 7f. und 37/2022, S. 9ff. Vgl. BVerfGE 57, 295 (319); 83, 238 (295); 87, 181 (197); 158, 389 (416). Eingehend dazu Paul Kirchhof, Der Öffentlichkeitsauftrag des öffentlichen Rundfunks als Befähigung zur Freiheit, in: Hanns Abele/Hermann Fünfgeld/Antonio Riva (Hrsg.), Werte und Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalen Zukunft, Berlin 2001, S. 9–21. Vgl. nur BVerfGE 158, 389 (417f.). Dazu auch Dieter Dörr/Richard Deicke, Positive Vielfaltsicherung – Ein Beitrag zur Bedeutung und zukünftigen Entwicklung der Fensterprogramme für die Meinungsvielfalt in den privaten Fernsehprogrammen, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 2/2015, S. 89–106, hier S. 91f. BVerfGE 119, 181. BVerfGE 149, 222 (261f.). BVerfGE 158, 389 (419f.). Vgl. BVerfGE 57, 295 (319f.); 73, 118 (152f.); 90, 60 (88); 114, 371 (387ff.); 136, 9 (28); 158, 389 (416f.). Vgl. zuletzt BVerfGE 158, 389 (415); so auch schon BVerfGE 74, 297 (342); 87, 181 (198); 90, 60 (91); 119, 181 (214). Vgl. BVerfGE 158, 389 (415). Vgl. ebd., 421. BVerfGE 136, 9 (30). BVerfGE 158, 389 (417f.). BVerfGE 136, 9 (30). Ebd. BVerfGE 12, 45 (53). Vgl. auch Andreas Neun, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Grenzen des Wachstums, Berlin 2002, S. 365ff.; Martin Eifert, Konkretisierung des Programmauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Baden-Baden 2002, S. 89ff. Vgl. Hubertus Gersdorf, §26 MStV, in: Beck’scher Online-Kommentar Informations- und Medienrecht, 36. Edition 2022, Rn. 9ff. Vgl. nur BVerfGE 158, 389. Vgl. Gersdorf (Anm. 36). Abgedruckt in epd medien 4/2023, 42f. BVerfGE 90, 60 (101ff.); 119, 181 (222ff.). BVerfGE 158, 389. Ebd., 424ff. Ebd., 413ff. Ebd., 429. Ebd., 430. Ebd., 431f.
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Dörr, Dieter
"2023-07-07T00:00:00"
"2023-06-14T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/oeffentlich-rechtlicher-rundfunk-2023/521975/der-oeffentlich-rechtliche-rundfunk-zwischen-recht-und-politik/
Die vom Bundesverfassungsgericht ausgestaltete Rundfunkfreiheit sichert die Staatsferne der Öffentlich-Rechtlichen und gibt dem Gesetzgeber einen Gestaltungsauftrag, den dieser erfüllen muss.
[ "Rundfunkrecht", "öffentlich-rechtlicher Rundfunk", "Staatsferne", "Bundesverfassungsgericht", "Erstes Fernsehurteil", "Medienordnung", "Digitalisierung", "Rundfunkgebühren", "Rundfunkbeitrag", "KEF", "Finanzierung" ]
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Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Hohe Erwartungen in schwierigen Zeiten | Hintergrund aktuell | bpb.de
Was ist der Rat der EU und welche Funktionen erfüllt er? Im Interner Link: Rat der Europäischen Union kommen die Fachminister/-innen der 27 Mitgliedsstaaten zusammen – so gibt es etwa Treffen der Landwirtschaftsminister/-innen oder der Justiz- und Innenminister/-innen. Je nachdem, zu welchem der zehn festgelegten Politikbereiche Sitzungen anstehen, schickt jedes Mitgliedsland den jeweiligen Minister oder die Ministerin. In der öffentlichen Debatte ist deshalb auch oft vom EU-Interner Link: Ministerrat die Rede. Zu seinen zentralen Aufgaben gehört es, die Politik der Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen zu koordinieren. Außerdem berät und verabschiedet der Ministerrat gemeinsam mit dem Europäischen Parlament die EU-Rechtsvorschriften, die die Europäische Kommission vorschlägt. Zu den weiteren Aufgaben des Ministerrats zählt die Entwicklung der Interner Link: Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Dies geschieht auf Grundlage von Leitlinien des Europäischen Rates. Der Rat der EU schließt auch internationale Abkommen mit anderen Staaten oder internationalen Organisationen ab. Im Februar 2019 trat beispielsweise nach einem Beschluss des Rats ein Freihandelsabkommen mit Japan in Kraft. Der Interner Link: Rat der EU darf nicht mit dem Interner Link: Europäischen Rat verwechselt werden. Dort kommen die EU-Staats- und Regierungschefs zusammen, um die allgemeine Ausrichtung der Politik der Europäischen Union festzulegen. Ähnlich klingt auch der Interner Link: Europarat, der jedoch keine EU-Institution ist, sondern eine eigenständige internationale Organisation. Worin bestehen die Aufgaben der Ratspräsidentschaft? Die Interner Link: jeweilige EU-Ratspräsidentschaft organisiert und koordiniert die Arbeit des Rates der EU und leitet die Treffen des Rates der Europäischen Union. Das bedeutet in der Praxis, dass bei einem Treffen der Umweltministerinnen und -minister der Minister oder die Ministerin des Staates den Vorsitz übernimmt, der die Ratspräsidentschaft gerade innehat. Eine Ausnahme gibt es bei dem Rat der Außenminister/-innen, dem aktuell Josep Borrell Fontelles als der Interner Link: Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik vorsitzt. Die Ratspräsidentschaft umfasst auch die Vorbereitung, Koordination und Leitung der Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die die Ministersitzungen vorbereiten. Die Ratspräsidentschaft schlägt die Tagesordnung vor und soll Kompromissvorschläge unterbreiten, wenn es zum Streit zwischen Mitgliedern kommt. Sie hat außerdem die Möglichkeit, selbst Initiativen in den Verhandlungsprozess einzubringen. Nicolas Sarkozy trug als Präsident während der französischen Ratspräsidentschaft 2008 etwa dazu bei, dass die EU sich trotz der Banken- und Finanzkrise auf ein Klima- und Energiepaket einigte und Maßnahmen zur Senkung des CO2-Ausstoßes vereinbarte. Allerdings steht ein solches Vorgehen oftmals im Widerspruch mit ihrer Vermittlungsfunktion. Eine weitere wichtige Aufgabe der EU-Ratspräsidentschaft: Sie vertritt den Rat gegenüber den anderen EU-Institutionen, insbesondere gegenüber der Kommission sowie dem EU-Parlament. Zudem ist die Ratspräsidentschaft auch für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU von zentraler Bedeutung, da sie die EU in diesem Politikfeld gemeinsam mit dem Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik repräsentiert. Welcher Staat hat wann die Ratspräsidentschaft inne? Der Rat der Europäischen Union hat keinen ständigen Vorsitz. Stattdessen übernimmt jedes Land turnusgemäß den Ratsvorsitz – diesmal das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land der EU. Deutschland wird den Vorsitz nur dieses eine Mal in diesem Jahrzehnt innehaben, denn jeder der 27 EU-Staaten wird bei der Rotation unabhängig von seiner Größe genauso oft berücksichtigt. Die Staaten beginnen weit im Voraus – im Falle Deutschlands ein Jahr davor – mit der Vorbereitung ihrer Agenda. Wie viel kostet eine EU-Ratspräsidentschaft? Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft rechnete die Bundesregierung Ende 2019 für die gesamten sechs Monate mit Kosten von 161 Millionen Euro – der weit überwiegende Teil ist für Sachkosten vorgesehen. Es wird aber auch zusätzliches Personal eingestellt. Wegen der Corona-Pandemie könnten die Ausgaben sinken, wenn Treffen wie der geplante EU-China-Gipfel nur als Videokonferenz stattfinden. Für die Ausgaben einer Ratspräsidentschaft gibt es keine einheitlichen Vorgaben. Die österreichische Regierung hatte für ihre Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 beispielsweise 43 Millionen Euro veranschlagt, wobei die Kosten schließlich bei knapp 100 Millionen Euro lagen. Entstanden waren die Kosten in verschiedenen Ressorts, etwa durch Überstunden der Polizei. Die Ausgaben des Kanzleramts allein beliefen sich bereits auf rund 41,3 Millionen Euro. Welchen Einfluss hat die Ratspräsidentschaft? Die Ratspräsidentschaft hat nur eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten. In dem kurzen Zeitraum von sechs Monaten können politische Prozesse außerdem in der Regel nicht abgeschlossen werden. Dem versucht die EU seit 2007 mit der Trio-Partnerschaft entgegenzuwirken. Dies bedeutet, dass die drei Staaten, die die Präsidentschaft nacheinander ausüben, ihre Programme aufeinander abstimmen. Für die Zeit vom 1. Juli dieses Jahres bis zum 31. Dezember 2021 übernehmen Deutschland, Portugal und Slowenien nacheinander die Ratspräsidentschaft. Die Erwartungen an Ratspräsidentschaften sind unter der Ägide großer Mitgliedsstaaten besonders groß. Dies liegt auch daran, dass für einen Beschluss im Rat der EU zumeist eine Interner Link: qualifizierte Mehrheit nötig ist. Dafür müssen 55 Prozent der Länder zustimmen, die mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren. Letzteres ist, wenn ein Mitgliedsstaat wie Deutschland sich gegen ein Gesetzesvorhaben oder eine Reform stellt, kaum zu erzielen. Große Länder können während ihrer Ratspräsidentschaften daher leichter Mehrheiten für ihre Projekte organisieren. 2007 beschloss der Rat der Europäischen Union während der letzten deutschen Ratspräsidentschaft beispielsweise eine zentrale Strukturreform. In der folgenden portugiesischen Ratspräsidentschaft unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs dieses Reformvorhaben, den Interner Link: Vertrag von Lissabon. Welche Themen prägen die deutsche Ratspräsidentschaft? Und wie wirkt sich die Corona-Pandemie aus? Lange Zeit sah es so aus, als werde der Brexit beziehungsweise der Abschluss eines Handelsabkommens mit London das große Thema der deutschen Ratspräsidentschaft. Doch zuletzt rückten die Bekämpfung der Corona-Pandemie und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen in den Fokus, die die EU-Kommission mit einem Hilfsprogramm im Umfang von 750 Milliarden Euro auffangen will. Schließlich ist zu erwarten, dass die Europäische Union vor der größten Rezession der Nachkriegsgeschichte steht. In ihrer Regierungserklärung benannte Bundeskanzlerin Angela Merkel außerdem drei große Herausforderungen, nämlich den Klimawandel, die Digitalisierung und antidemokratische gesellschaftliche Entwicklungen. Auch der umstrittene Rahmen des EU-Haushalts, der die Ausgaben der EU von 2021-2027 festlegen soll und das geplante Hilfspaket einschließt, wird die deutsche Ratspräsidentschaft beschäftigen. Uneinig sind sich die Mitgliedsstaaten nicht nur über den Umfang des Hilfspakets, sondern auch darüber, wer wie viel für das Hilfsprogramm einzahlen soll und unter welchen Bedingungen die Mittel ausgezahlt werden sollen. Außenpolitisch lenkt der geplante Gipfel zwischen der Afrikanischen Union und der EU den Fokus auf die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten und den Umgang mit der Pandemie auf beiden Kontinenten. Auch das Interner Link: Verhältnis der EU zu China wird ein wichtiges Thema der deutschen Ratspräsidentschaft sein, auch wenn der für Mitte September in Leipzig geplante EU-China-Gipfel wegen der Corona-Pandemie verschoben wurde. Bei dem Spitzentreffen sollte ein Investitionsschutzabkommen geschlossen werden. Auch der Klimawandel sowie die Menschenrechtslage im bevölkerungsreichsten Land der Erde sollten in Leipzig thematisiert werden. Das Verhältnis der Volksrepublik und vieler EU-Staaten galt zuletzt als angespannt. Mehr zum Thema: Interner Link: Info aktuell: Deutsche EU-Ratspräsidentschaft Interner Link: APuZ 23-25/2020: Funda Tekin / Jana Schubert: Deutschlands "Corona-Präsidentschaft". Weichenstellung für die Zukunft Europas Interner Link: Das Europalexikon: Ratspräsidentschaft Interner Link: Das Politiklexikon: Rat der Europäischen Union Interner Link: Das Politiklexikon: Europäischer Rat
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-08T00:00:00"
"2020-06-26T00:00:00"
"2022-02-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/312064/beginn-der-deutschen-eu-ratspraesidentschaft-hohe-erwartungen-in-schwierigen-zeiten/
Deutschland übernimmt am 1. Juli für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Im Mittelpunkt steht die Bewältigung der Corona-Krise. Unser FAQ zur EU-Ratspräsidentschaft.
[ "EU-Ratspräsidentschaft", "EU", "Europa", "Klimawandel", "Digitalisierung", "EU-Haushalt", "europäische Union", "Rezession", "Europa", "Deutschland" ]
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Europaweiter Projektwettbewerb | Danach – Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945 – 1949 | bpb.de
Alle Formate stellen einen Beitrag zur Erfahrungsgeschichte des Holocaust nach 1945 dar und wurden auf Projektplakaten und im Plenum dem wissenschaftlichen Fachpublikum präsentiert. Die Arbeiten aus Ungarn, Litauen, Israel, der Ukraine, Rumänien, dem Kosovo und Deutschland bildeten dabei eine Bandbreite an Methoden ab. Ausstellungsprojekte Giulia Tonelli und Veronika Nahm vom Externer Link: Anne Frank Zentrum Berlin stellen die Dauerausstellung „Anne Frank – Hier und Heute“ vor. In ihr wird anhand von Anne Franks Tagebuch die Zeit des Nationalsozialismus kontextualisiert und die Frage gestellt, warum das Tagebuch noch heute so bekannt ist und viel gelesen wird. Ihre Zielgruppe sind Jugendliche, die sich die Ausstellung durch die Peer-to-Peer Methode aneignen. „Ich bin verblüfft, denn das alles geschah hier“, schrieb ein Junge nach dem Besuch der Ausstellung „Jüdische Schüler in Buda und Obuda 1920-1949“. E-Mail Link: Eszter Gombocz vom John Wesley Theological College erläutert, wie mithilfe von Fotografien Schicksale jüdischer Jugendgruppen und Waisenkinder nachgezeichnet werden. Jugendliche lernen diese aus der öffentlichen Erinnerung verdrängten Geschichten kennen und fragen nach der Bewahrung von Identität. Projektpräsentation im Plenum (© Oliver Feist / buero fuer neues denken) Mit der Öffnung der Archive kamen in den 1990er Jahren neue Geschichten ans Licht: Die Ausstellung „Rescue of Jews in Kosova during the Holocaust“ der Externer Link: Friendship Association Kosova – Israel zeigt die Perspektive albanischer Beschützer, die Juden auf ihrer Flucht helfen konnten. Leke Rezniqi erläutert, dass die Wanderausstellung bereits erfolgreich in verschiedenen Städten im Kosovo, Kroatien und Ungarn gezeigt wurde und die albanische Erinnerung an den Holocaust lebendig macht. Mali Eisenberg vom israelischen „Externer Link: Massuha International Institute for Holocaust-Studies“ regt Jugendliche dank eines interaktiven Programms dazu an, über Formen der Ausgrenzung wie Rassismus, Diskriminierung, Vorurteile und Xenophobie nachzudenken. Dabei verfolgt Massuha einen edukativen Ansatz: Die Reflexion über die Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust geht mit Fragen nach heutiger Identität einher. Neringa Latvyte-Gustaitene vom Externer Link: Vilna Gaon State Jewish Museum präsentiert die Ausstellung „Lithuanian Jews behind the Iron Curtain“. Thematisiert wird die „menschliche Seite“ des Eisernen Vorhanges in den Jahren 1940-41 und 1944-89 durch die persönliche Auseinandersetzung mit Freiheit, Identität und Erinnerung. Der Besucher wird ermuntert, neue Perspektiven auf das jüdische Leben in Litauen zu finden und mit gängigen Stereotypen zu brechen. Lokalgeschichtliche Projekte Der „Externer Link: DenkT@g“ der Konrad-Adenauer Stiftung ist ein bundesweiter Internetwettbewerb, der alle zwei Jahre am 27. Januar ausgelobt wird und unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert steht. Der 9-monatige Wettbewerb, so Sascha Lawrenz, richtet sich an Jugendliche zwischen 16 – 22 Jahren. Diese sind dazu aufgefordert, sich durch eine Webpräsentation mit den Themen Nationalsozialismus und aktuellen Erscheinungsformen wie Rechtsextremismus auseinanderzusetzen. Kira Kreyderman der ukrainischen NGO Externer Link: TolerSpace stellt „Memory Walk“ vor; ein Programm, das mithilfe des pädagogischen Konzepts insbesondere Jugendliche dazu ermutigt, sich kritisch mit ihrer Gedenkkultur zu beschäftigen. In mehreren Workshops erstellen Teilnehmer einen Kurzfilm über ein spezielles Monument. Sie fragen nach dessen Bedeutung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein Zug hält am 29. Juni 1941 im rumänischen Târgu Frumos: 2000 deportierte Juden, eingepfercht in überfüllten Zügen. Alle Menschen sind qualvoll gestorben und werden auf dem jüdischen Friedhof begraben. Elena-Laura Tencaliuc von der Externer Link: Super Tineri Asirys Associaton erzählt, dass ausgehend von diesem Friedhof ein interaktives Projekt initiiert wird, um die örtliche Bevölkerung an das Schicksal dieser Menschen zu erinnern. Arbeit mit Interviews Daniele Stege-Gast, Lehrerin des Kreuzgassen-Gymnasiums in Köln, stellt in ihrem Filmprojekt Externer Link: „Sachor! Remember!“ die Zeugenschaft in den Mittelpunkt: Es sind zwei Interviews mit den Frauen Ellis Lehman und Vera Dotan. Eingebettet in eine transgenerationelle Wiedergabe gibt sie ihren Schülern Zeit, den Zeitzeuginnen Fragen zu stellen. So entsteht dialogisch eine reflektive Zeugenschaft aus Distanz und Nähe, die für die Geschichte sensibilisiert. E-Mail Link: Helga Dorner und E-Mail Link: Andrea Petoa von der Central European University Budapest konzipierten den Universitätskurs „Gendered Memories of the Holocaust“. Mithilfe narrativer Interviews der Shoa Foundation regten sie ihre Studenten dazu an, auch die eigene Beschäftigung mit der Geschichte zu suchen und gängige Erzählweisen zu dekonstruieren. Der Kurs findet online gemeinsam mit Teilnehmern aus den USA statt. Das Projekt „Labyrinth“ von der Externer Link: Zachor Foundation aus Ungarn wählt einen interaktiven Zugang. Durch ein Rollenspiel lernen Jugendliche die Lebensrealität junger, verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg kennen und werden zu einer Auseinandersetzung mit dieser anregt. Die Biographie eines ungarisch-jüdischen Jungen, der 1929 in Transsylvanien geboren wurde und alternative Wege können entdeckt werden, so Aniko Felix. Projektpräsentation im Plenum (© Oliver Feist / buero fuer neues denken)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/konferenz-holocaustforschung/199838/europaweiter-projektwettbewerb/
Erneut hat die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gemeinsam mit der Humboldt-Universität zu Berlin und der Europa-Universität Flensburg einen europaweiten Projektwettbewerb als Teil der 5. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung ausge
[ "Projektwettbewerb", "Ausstellungsprojekt", "Lokalgeschichte", "Europaweit" ]
30,880
50Hertz Transmission GmbH | Energiepolitik | bpb.de
Logo (© 50 Hertz) 50Hertz gehörte bis Mai 2010 zu Vattenfall. Das Unternehmen betreibt das Übertragungsnetz in Ostdeutschland und Hamburg. Die 50Hertz-Leitungen sind jedoch auch für andere Bundesländer wichtig. In der Regelzone steht ein Großteil der deutschen Windenergieanlagen, in den nächsten Jahren kommen noch die Offshore-Windparks in der Ostsee hinzu. Besondere Bedeutung hat die Thüringer Strombrücke nach Bayern. Firmensitz Regelzonen deutscher Übertragungsnetzbetreiber (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Berlin Leitung Vorsitzender der Geschäftsführung: Boris Schucht Aufsichtsratsvorsitzender: Daniel Dobbeni Mitarbeiter 640 Umsatz (2011) 7 Milliarden Euro Gewinn (2011) 52 Millionen Euro Investitionen (2011) 245 Millionen Euro Anteilseigner Elia (belgischer Netzbetreiber) 60% Industry Funds Management (australischer Investmentfonds) 40% Netzgebiet Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen Länge des Stromnetzes 9.750 Kilometer Einwohner im Netzgebiet 18,2 Millionen Angeschlossene Offshore-Windparks EnBW Baltic 1 (48 MW) Logo (© 50 Hertz) Regelzonen deutscher Übertragungsnetzbetreiber (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-01-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/energiepolitik/152913/50hertz-transmission-gmbh/
50Hertz gehörte bis Mai 2010 zu Vattenfall. Das Unternehmen betreibt das Übertragungsnetz in Ostdeutschland und Hamburg. Die 50Hertz-Leitungen sind jedoch auch für andere Bundesländer wichtig. In der Regelzone steht ein Großteil der deutschen Windene
[ "50Hertz", "Strom", "Netz", "Stromnetz", "Netzausbau", "Energie", "Energiepolitik" ]
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Spiele mit Despoten? | Brasilien | bpb.de
Im April 2013 schien der Fußball-Weltverband FIFA nur wenig Grund zur Beschwerde über den WM-Gastgeber Brasilien zu haben. Zwar lagen Bauprojekte hinter dem Zeitplan, vereinzelt agierten Protestgruppen gegen die Weltmeisterschaft, aber dass im Fußball liebenden Brasilien zwei Monate später, während des Konföderationen-Pokals, die größten Proteste stattfinden würden, die das Land in Jahrzehnten gesehen hatte, war noch nicht absehbar. Dennoch sinnierte Jérôme Valcke, FIFA-Generalsekretär, bei einem Symposium öffentlich über die Nachteile in einem Ausrichterland wie Brasilien: "Das mag jetzt vielleicht verrückt klingen, aber manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser. Wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, vielleicht wie Putin sie 2018 hat, ist es für uns Organisatoren leichter." Auch FIFA-Präsident Sepp Blatter machte seine Präferenzen deutlich. Für eine Äußerung zur Heilkraft des Fußballs wählte er ausgerechnet die Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien als Muster: "Zwischen der Bevölkerung und dem politischen System hat es eine Art Aussöhnung gegeben." Das war eine einigermaßen schockierende Wertung: Die 78er WM wird heute in den Geschichtsbüchern ähnlich eingeordnet wie die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. In Argentinien herrschte von 1976 bis 1983 eine Militärjunta unter Jorge Videla, in der an die 30.000 Menschen verschleppt, gefoltert und umgebracht wurden. Der Gastgeber holte den Titel. Dass der Diktator den Sieg erkauft hatte, war bereits belegt, als Blatter und Valcke ihre Vorliebe für Autokraten kundtaten. Auf derselben Konferenz erörterten Historiker auch die Frage, ob Videla nicht eher gestürzt worden wäre ohne diesen WM-Triumph. Der Junta diente das Turnier zur Stabilisierung sowie zur internationalen Legitimation und die FIFA trug dazu bei. DerenPräsident Joao Havelange erkannte die Vorteile schon unmittelbar nach dem Staatsstreich der Militärs: "Jetzt ist Argentinien in der Lage, die WM auszurichten." Nach dem glatten Turnierverlauf behauptete er, die Welt habe "das wahre Gesicht Argentiniens" gesehen. Demokratiedefizite als Standortvorteil? Wer Havelange für ein Relikt aus einer vergangenen Ära hielt, war spätestens mit dem Konferenzauftritt des Duos Blatter/Valcke eines Besseren belehrt worden. Dies zeichnete sich bereits durch die Vergabe der WM an Russland (2018) und Katar (2022) ab, Länder, in denen sich "starke Staatsoberhäupter" nicht nur aufs Organisieren verstehen, sondern auch darauf, Proteste zu unterdrücken. Bei Sportfunktionären haben störungsfreie Abläufe und exquisite Stadien Priorität. Mindestens im Fall Katar ist die Turniervergabe an ein Wüstensprengel ohne Fußball-Tradition und mit Gastarbeitern, die zu Hunderten auf den WM-Baustellen sterben, noch dazu mit vielen Millionen Bestechungsgeldern an Verbandsfürsten zu erklären. Die Frage, ob Demokratiedefizite Vorteile im Wettbewerb um die Ausrichtung globaler Mega-Events bringen, wird oft gestellt. Häufig geschieht das allerdings vor dem Hintergrund ausufernder Kosten, wie sie jetzt in Brasilien zu konstatieren sind. Für Olympische Spiele markierte Sotschi einen Rekordwert: Rund 50 Milliarden Dollar ließ sich der russische Präsident Wladimir Putin das Sportfest kosten, mehr als alle bisherigen Winterspiele zusammen. Wiegt der Nutzen der mit den Sportfesten verbundenen Eigenwerbung die Ausgaben bald nur noch für Despoten auf, die sich um den Bürgerwillen nicht scheren? Das Kandidatensterben für die Winterspiele im Jahr 2022 ist ein Indiz dafür: München, St. Moritz/Davos und Krakau zogen ihre Bewerbungen nach negativen Bürgervoten zurück. In Stockholm sagte das Stadtparlament Nein. Olso steht auf der Kippe, weil die norwegische Regierung bisher keine Garantieerklärung abgegeben hat, wie sie das Internationale Olympische Komitee (IOC) verlangt. "Be happy and pay the deficit" – nach diesem Muster sind die Verträge mit den Ausrichtern gestaltet. Verluste tragen sie allein, Gewinn macht das IOC. "Die Spiele, die keiner will", spöttelte die britische Zeitung Guardian über die Planungen für 2022. Zu den Favoriten Almaty (Kasachstan) und Peking (China) merkte das Blatt an: "Das muss man ihnen lassen: Was ihnen an grundlegenden Demokratie- und Menschenrechtsstandards fehlt, machen sie sicher wett – als die zwei einzigen Länder in der Welt, die wirklich olympische Winterspiele ausrichten wollen." Dabei gilt Peking als Streichkandidat – das IOC wird nach 2018 (Pyeongchang) und 2020 (Tokio) sein Premiumprodukt kaum erneut nach Ostasien schicken. Also Almaty, das als Bewerber schon zweimal scheiterte? Dort gibt es Erdöl und mit Nursultan Nasarbajew, dem ersten und einzigen Präsidenten, einen Diktator – die Kombination, die nicht nur finanziell "stabile" Verhältnisse garantiert. Auch bei schwindender Kandidatenzahl müsste sich das IOC ums Geld erst einmal keine Sorgen machen. Ebenso wie fast alle Weltverbände ist es in der Schweiz als Verein registriert und genießt nahezu komplette Steuerfreiheit. Das IOC prosperiert dank stetig steigender Sponsoren- und TV-Einnahmen. Im laufenden Olympiazyklus (bis 2016) gaben die Sponsoren erstmals mehr als eine Milliarde. Für die TV-Rechte schlossen die "Herren der Ringe" im Mai einen neuen Rekordvertrag ab. Für den Zeitraum von 2021 bis 2032 zahlt allein der amerikanische Sender NBC 7,6 Milliarden Dollar. Allerdings: Dem Ansehen der Olympischen Spiele in der westlichen Welt wäre der Ausrichter Almaty so wenig zuträglich wie Sotschi. Die Krim-Annexion im Schatten des Sportfestes hat das IOC noch nachträglich desavouiert. Putin habe Olympia "missbraucht", konzedieren selbst manche Funktionäre. Doch das ist höchstens die halbe Wahrheit. Der Sport wird nicht in Allianzen mit bestimmten Ausrichtern gezwungen – er wählt sie sich. Politiker umschreiben Schurkenstaaten, mit denen sie kooperieren, oft als "schwierige Partner". Sportoffizielle nehmen solche Distanzierungen eher nicht vor. Funktionäre kannten selten Berührungsängste gegenüber autoritären Herrschern, viel öfter waren sie ihnen durch gemeinsame Weltsicht verbunden. Etwa Avery Brundage: Als Vorsitzender des Olympischen Komitees der USA wurde er 1934 nach einem Besuch in Berlin zum stärksten Anwalt für die Nazi-Spiele. Boykottversuche tat er als "jüdisch-kommunistische Verschwörung" ab. Dies verhinderte nicht seinen Aufstieg zum späteren IOC-Präsidenten. Juan Antonio Samaranch, ab 1980 für 21 Jahre an der Spitze des IOC, war fast vier Jahrzehnte lang ein glühender Faschist und diente dem spanischen Diktator Franco als Politiker. Eine seiner letzten Taten als Olympia-Chef war es, die Stimmen für die Sommerspiele in Peking zu organisieren. Es wurden die ersten nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, die in den Augen vieler westlicher Beobachter zu einem moralischen Desaster für das IOC gerieten, weil seine Vertreter zur Tibet-Krise und zu anderen Menschenrechtsverletzungen schwiegen. Mehr als die Hälfte der derzeit 135 Mitglieder des IOC wurde unter Samaranch berufen. Sie sind keine Delegierten ihrer Heimatländer. Der kleine, elitäre Kreis, dem auch einige Adlige und Scheichs angehören, rekrutiert sich selbst. Nach welchen Kriterien, ist unklar. Das gilt auch für die geheimen Abstimmungen zur Vergabe der Spiele. Transparenz und öffentliche Kontrolle sind nichts, was die Sportkonzerne mögen. Auch das verbindet sie mit den Autokratien dieser Welt. Eine neue Agenda für die Olympischen Spiele? Kann sich das ändern unter dem Deutschen Thomas Bach, dem neuen IOC-Präsidenten, Fecht-Olympiasieger und Zögling von Samaranch? Aus seiner Nähe zu Golf-Potentaten hat Bach, ein erfahrener Funktionär und Wirtschaftslobbyist, nie ein Geheimnis gemacht. Sein wichtigster Wahlkampfhelfer war ein kuwaitischer Scheich. Ahmad al-Sabah, in seiner Heimat wie im Sport schon in einige Korruptionsaffären verstrickt, wirkt im IOC als Präsident der Vereinigung aller 204 Olympiakomitees. Entgegen den IOC-Ethikregeln, die öffentliche Parteinahme verbieten, warb er ungeniert für den Deutschen. Wer erwartet hatte, dass Bach auf Abstand zu Putin gehen würde, wurde nicht erst in Sotschi korrigiert, sondern schon im Sommer 2013. Ohne Not verschickte da der Deutsche Olympische Sportbund, dem Bach noch vorstand, eine Erklärung zu umstrittenen russischen Gesetz gegen "Homosexuellen-Propaganda". Auch kleinste Zeichen von Athleten-Solidarität mit verfolgten Homosexuellen – wie die in den Regenbogenfarben lackierten Fingernägel der schwedischen Hochspringerin Emma Tregaro bei der Leichtathletik-WM in Moskau – wertete der Bach-Verband mit Blick auf Sotschi als Verstöße gegen die Olympische Charta. Er sah die "politische Neutralität" gefährdet. Glaubt man dem russischen Oppositionellen Boris Nemzow, war Putin allerdings vor allem verantwortlich für ein ungeheures Ausmaß an Korruption beim Umbau des subtropischen Kurorts: In seinem Sotschi-Bericht war nachzulesen, wie rund 25 Milliarden Dollar versickert sind und die meisten Aufträge ohne Ausschreibung vergeben wurden, ein Großteil davon an Putins Oligarchenfreunde. Einer davon, Arkadi Rotenberg, bekam Aufträge über sieben Milliarden Dollar – das war mehr, als die Winterspiele 2010 in Vancouver insgesamt kosteten. Rotenberg setzten die Amerikaner wegen der Ukraine-Ereignisse auf ihre Sanktionsliste. Im Sport bleibt er wichtig – als Vorständler im Judo-Weltverband. Den Weltverbänden sind bisher die politischen Implikationen ihrer "Neutralität", die erfahrungsgemäß dazu dient, umstrittenen Herrschern eine Bühne zur Selbstinszenierung zu geben, gleichgültig. Davon zeugt die wachsende Zahl von internationalen Turnieren in den Reichen diverser Auto- und Kleptokraten. Einer von ihnen darf im nächsten Jahr sogar eine Premiere veranstalten, die ersten "Europäischen Spiele" in Baku. Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev wird regelmäßig in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen getadelt. Im Ehrenamt steht Aliyev dem Nationalen Olympischen Komitee von Aserbaidschan vor. Der Ire Patrick Hickey vergab die Europa-Spiele im Dezember 2012 nach Baku – am Ende des Jahres der Proteste gegen den Eurovision Song Contest dort und als schon offen lag, wie Aliyevs Familie sich an den Bauten für das Schlagerfest bereichert hatte. Hickey ist Vorsitzender des Europäischen Olympia-Komitees und sitzt auch im IOC-Vorstand von Thomas Bach. Der Deutsche hat inzwischen mit der Agenda 2020 für das IOC eine Art Reform angestoßen. Sie soll Ende des Jahres verabschiedet werden. Hickey darf in der Arbeitsgruppe "Good Governance und Autonomie des Sports" mitwirken. Ein wichtiges Gremium für Transparenz und Glaubwürdigkeit der olympischen Bewegung. Bisher sind beispielsweise die Weltverbände weitgehend autonom. Einige werden von Präsidenten regiert, die sich wie Despoten agieren: sie bestimmen ihren Vorstand selbst, veröffentlichen keine Bilanzen, haben keinen Ethik-Code. Oft sind das die, die gern bei den echten Autokraten zu Gast sind. Immerhin, der Arbeitsgruppe gehört als Expertin auch die Vorsitzende von Transparency International an. Dass Bachs Pläne ausreichen, um das Ansehen der Sportorganisationen in der westlichen Welt zu verbessern, bezweifeln aber selbst Insider. "Es ist frustrierend", überschrieb kürzlich Terence Burns einen Beitrag zur Agenda 2020. Der Amerikaner hat für zahlreiche Olympiabewerbungen gearbeitet, für Peking, Sotschi oder Pyeongchang. "Es sind nicht die Bewerbungskosten, die Städte abhalten; es sind die vermuteten Kosten der Spiele, die dubiose Planung von Vermächtnissen und das Image des IOC selbst." Dieses könne sich nicht länger erlauben zu sagen, dass der Sport großartig und Spiele deshalb ein Erfolg waren. "Es ist komplexer als das. Es sind viel mehr Variablen im Spiel." Die Rolle der Politik Parlamente und Regierungen sind eine dieser Variablen. Das Mantra der Sportorganisationen, Politiker hätten dem autonomen Sport nicht reinzureden, ist mit den vielen Olympia-Absagen obsolet. In Deutschland hat sich Bündnis 90/Die Grünen mit der Sinnhaftigkeit von Mega-Events befasst. Vor zwei Jahren legten sie im Bundestag dazu einen Antrag vor. Er regte an, gemeinsam mit dem Sport und NGOs über transparente Vergabekriterien für Großspektakel nachzudenken. Ziele: weniger Gigantismus und mehr Nachhaltigkeit, Beachtung von Menschenrechten. Der Antrag fiel damals im Parlament durch. Für das Verständnis der Zustände bei Olympia-Ausrichtern ist er weiterhin aktuell: Er benennt, warum in vielen Ländern zwar die Athleten willkommen sind, nicht aber der Begleittross aus Funktionären und Sponsoren. Die Mängelliste reicht von intransparenten Auftragsvergaben für Sportbauten über Zwangsräumungen zu überhöhten Preisen in Ausrichterstädten. Sportgroßveranstaltungen, wird eher zurückhaltend und mit Bezug auf Peking festgestellt, "tragen nicht notwendigerweise zu einer verbesserten Menschenrechtslage bei." Der Journalist Dave Zirin, ein Begleiter vieler Olympischer Spiele, hat ein Buch mit dem bezeichnenden Titel "Brasiliens Tanz mit dem Teufel" vorgelegt. Es basiert auf Recherchen vor allem in Rio, Austragungsort für das WM-Finale und der Sommerspiele 2016. Für ihn laufen Events wie Olympia mit ihren Sicherheitsmaßnahmen und Sondergesetzen, ob sie nun in einer Demokratie oder bei Autokraten ausgerichtet werden, auf denselben Kern hinaus: "Bei den Olympischen Spielen geht es ebenso wenig um Sport, wie es beim Irak-Krieg um Demokratie gegangen ist. Es geht nicht um die Athleten. Und es geht definitiv nicht darum, die 'Gemeinschaft der Nationen' zusammenzubringen. Sie sind neoliberale Trojanische Pferde, die darauf zielen, Geschäften den Weg zu bereiten und die grundlegendsten bürgerlichen Freiheiten zurückzudrehen." Wollen Sportkonzerne wie das IOC und die FIFA bei den Bürgern wieder mehr Akzeptanz finden, kommen sie wohl kaum umhin, künftig dafür zu sorgen, dass ihre Mega-Events Respekt für die Bürgerrechte befördern. "Valcke: Weniger Demokratie bei Planung hilfreich". Sportinformationsdienst vom 24.4.2013. Martin Rogers: "Argentina’s 1978 World Cup Win against Peru Was Fixed in a Brutal Political Deal, Former Senator Says,” Yahoo Sports vom 11.2.2012 . David Winner: "But Was This the Beautiful Game’s Ugliest Moment?” Externer Link: Financial Times vom 21.6.2008 "Nichts gelernt", Externer Link: Der Spiegel vom 23.6. 1986 . Jonathan Calvert/Heidi Blake: "The Plot to buy the World Cup. Huge email cache reveals secrets of Qatar’s shock victory", Sunday Times vom 1.6.2014. "The 2022 Winter Olympics: the games nobody wants to host", Externer Link: The Guardian vom 28.5.2014. Externer Link: Holocaust Encyclopedia: "The Movement to Boycott the Berlin Olympics of 1936". Vgl. Andrew Jennings: Das Olympia-Kartell. Die schäbige Wahrheit hinter den fünf Ringen. Berlin 1996. Hajo Seppelt/Robert Kempe: "Thomas Bach – der neue Herr der Ringe?" Externer Link: WDR-Dokumentation, Sendung vom 2.9.2013 . Und: DOSB: Externer Link: Fragen und Antworten zum russischen Homosexuellen-Gesetz, 19.8.2013 Pressekonferenz zum Abschluss der Spiele am 23.2.2014, (vgl. Externer Link: Pressekonferenz zum Abschluss der Spiele am 23.2.2014, (vgl. http://www.n-tv.de/sport/olympia/IOC-Boss-findet-nur-Lob-fuer-Putins-Spiele-article12334436.html). Vgl. z.B. Amnesty International: Externer Link: Behind Bars. Silencing Dissent in Azerbaijan, London 2014. Vgl. z.B. Khadija Ismayilova: President’s Family benefits from Eurovision Hall, Externer Link: OCCRP vom 7.5.2012. Terence Burns: "It’s frustrating", Externer Link: terrencehburnsblog.com/frustrating/. Deutscher Bundestag, DS 17/9982 vom 13.6.2012: Externer Link: Vergabekriterien für Sportgroßveranstaltungen fortentwickeln – Menschen- und Bürgerrechte bei Sportgroßveranstaltungen stärker berücksichtigen. Dave Zirin: Brazil’s Dance with the Devil. The World Cup, the Olympics and the Fight for Democracy, Chicago 2014, S. 165f
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Grit Hartmann
"2022-01-31T00:00:00"
"2014-06-06T00:00:00"
"2022-01-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/brasilien/fussball-wm-2014/185806/spiele-mit-despoten/
Fußball-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele stehen zunehmend in der Kritik. Während sich autokratische Regime gerne damit schmücken, wird in demokratischen Gesellschaften vor Ort häufig gegen die negativen Auswirkungen der Großereignisse protes
[ "Fußball", "Korruption im Sport", "Sportevents", "Bauprojekte Sport", "FIFA", "Fußball-Weltmeisterschaft 2014" ]
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Wirtschaftsfaktor Bundesliga Die Fußball-Bundesliga hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1963/64 vom reinen Sport inzwischen auch zum Wirtschaftsfaktor entwickelt. Insbesondere in den vergangenen 25 bis 30 Jahren ist das wirtschaftliche Potenzial des Profifußballs systematisch erschlossen worden. Der Gesamtumsatz der 18 Bundesligisten lag in der Saison 2014/15 bei 2,45 Milliarden Euro. Dabei schrieben in der Saison 2014/15 11 von 18 Bundesligisten schwarze Zahlen, alle 18 Klubs zusammengenommen erwirtschafteten einen Gewinn von 51 Millionen Euro nach Steuern . Vier Spielzeiten zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen, zusammengenommen wies die Liga noch Verluste aus. Gemäß der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte erzielte die Bundesliga 2014/15 in Europa hinter der britischen Premier League den zweithöchsten Umsatz . Zudem ist die Bundesliga profitabel (s.o.), während andere Ligen zum Teil mit erheblichen Verlusten kämpfen. Aus der Bundesliga gehören drei Vereine (Bayern München, Schalke 04 und Borussia Dortmund) zu den 20 umsatzstärksten Fußballunternehmen in Europa . Die 17 übrigen Klubs kommen aus England (9), Italien (4), Spanien (3), Frankreich (1). Einnahmearten Einnahmearten der Bundesliga in der Saison 2014/15 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Gemäß dem DFL-Bundesligareport 2016 waren die Haupteinnahmequellen 2014/15 die Erlöse aus der medialen Verwertung (731,1 Millionen Euro), die Werbeerlöse (672,7 Millionen Euro) und die Erlöse aus Ticketverkäufen (520,6 Millionen Euro). Bis vor wenigen Jahren war die Werbung (incl. Trikot-Sponsoring) der wichtigste Umsatzbringer. Der aktuelle Fernsehvertrag brachte einen Erlössprung und hat die Rangfolge nun verändert. Für den neu abzuschließenden Vertrag erwarten viele Branchenkenner das Durchbrechen der Milliardengrenze (p.a.). Dennoch sticht im internationalen Vergleich die hohe Bedeutung der Werbeerlöse immer noch heraus. In anderen Ländern sind die TV-Erlöse schon länger und teilweise mit großem Abstand die Haupteinnahmequelle. Dieser Sachverhalt lässt sich jedoch leicht erklären: Weil in Deutschland Fußball weitaus stärker im frei empfangbaren Fernsehen ausgestrahlt wird, ist die sogenannte TV-Coverage höher. Für die werbetreibende Wirtschaft erhöht dies die Zahlungsbereitschaft, da die Werbung eine höhere Reichweite hat; das heißt, es wird eine höhere Anzahl von potenziellen Kunden mit den Werbemaßnahmen erreicht. Stadionbesucher 1974/75 - 2014/15 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ In den Stadionerlösen kommt die extrem hohe Attraktivität der Bundesliga zum Ausdruck. Hinter der amerikanischen Football League NFL ist die Bundesliga die zuschauerreichste Sportliga der Welt. Es ist aber nicht nur die Attraktivität der Liga, im Vergleich zu anderen Fußballligen spielen die hochmodernen, komfortablen und sicheren Bundesligastadien eine entscheidende Rolle. Insgesamt kamen in der Saison 2014/15 gut 13,3 Millionen Zuschauer in die Stadien, das waren im Schnitt 43.532 Zuschauer pro Spiel. Die beeindruckend positive Entwicklung der Zuschauerzahlen ist eine klare Antwort auf die Frage, ob Fußballübertragungen im Fernsehen die Fans davon abhalten, ins Stadion zu gehen. Bis Mitte der 1980er-Jahre dominierte die Sorge vor der "Kannibalisierung". Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Fußballübertragungen im Fernsehen beste Werbung für das Live-Erlebnis im Stadion sind. Jedenfalls haben sich die Stadion-Zuschauerzahlen mehr als verdoppelt, seit die privaten Fernsehsender die mediale Präsenz des Fußballs massiv ausgeweitet haben. Ausgabestruktur Einnahmearten der Bundesliga in der Saison 2014/15 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Stadionbesucher 1974/75 - 2014/15 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Auf der Ausgabenseite dominieren bei den Profimannschaften die Personalkosten. 38,8 Prozent (rd. 997,5 Millionen Euro) des Gesamtumsatzes wurden in der Spielzeit 2014/15 für Spieler- und Trainergehälter ausgegeben. Einschließlich der Gehälter für Verwaltungsangestellte beträgt der Anteil der Personalkosten rund 46 Prozent. Im Vergleich mit den anderen Ligen der "Big Five" steht die Bundesliga weit besser da und hat die geringste Personalkostenquote. Die Personalkosten sind im Vergleich zu den Vorjahren sogar rückläufig, sodass die DFL von historischen Tiefstwerten spricht. Gesamtwirtschaftliche Bedeutung Auch als Arbeitgeber haben die Fußballunternehmen inzwischen einige Bedeutung. Die 36 Klubs der ersten und zweiten Liga beschäftigen knapp 18.000 Mitarbeiter. Werden die indirekt Beschäftigten (zum Beispiel bei Sicherheits- oder Cateringunternehmen) hinzugerechnet, steigt die Zahl der Beschäftigten insgesamt auf über 50.000 . Mit rund 980 Millionen Euro Steuern und Abgaben haben die Erst- und Zweitligisten zudem einen deutlichen Beitrag zur Finanzierung staatlicher Leistungen erbracht . Für sich betrachtet ist der Fußball also ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die positiven Effekte sind aber vor allem regional und sektoral spürbar. Studien zur regionalwirtschaftlichen Bedeutung von Bundesligisten (und zu deren Imagewirkungen für die betreffenden Städte) belegen dies an den Beispielen Bremen und Hamburg . Hingegen ist die volkswirtschaftliche Bedeutung des Fußballs noch immer verschwindend gering: Setzt man die 2,62 Milliarden Gesamtumsatz der Bundesligisten in Relation zur deutschen Wirtschaftsleistung von rund 2.900 Milliarden Euro, so macht der Fußball lediglich 0,09 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Daran zeigt sich sehr deutlich, dass die wirtschaftliche Bedeutung – trotz aller Wachstumserfolge in den vergangenen Jahren – bei Weitem nicht mit dem gesellschaftlichen Stellenwert des Fußballs mithalten kann. Wirtschaftliche Besonderheiten im professionellen Fußball Der Sport weist diverse Eigenarten auf, die ihn und seine kommerzielle Verwertung von "herkömmlichen" Wirtschaftszweigen unterscheidet. Diese Besonderheiten haben in der Wirtschaftswissenschaft zu einem eigenen Forschungszweig "Sportökonomik" geführt . Für das generelle Verständnis der wirtschaftlichen Aspekte des Profifußballs ist es wichtig, die Besonderheiten vorab zu skizzieren. Gemeinschaftsproduktion "Herkömmliche" Unternehmen streben in der Regel danach, Konkurrenz so weit es geht auszuschalten. Im Idealfall sind sie der einzige Anbieter für ein spezielles Produkt oder eine spezielle Dienstleistung, sie sind dann Monopolist. Als Monopolist ist ein Unternehmen in der Lage, höhere Gewinne zu erzielen, als wenn es sich den Markt mit konkurrierenden Anbietern teilen muss. Im Gegensatz dazu lebt der sportliche Wettkampf davon, dass mindestens zwei Kontrahenten im sportlichen Wettbewerb miteinander stehen. Ein Profi-Fußballspiel ist also nur möglich, wenn zwei Mannschaften miteinander kooperieren. Der sportliche Wettkampf kann im Mannschaftssport auf verschiedene Weise organisiert werden: Die einfachste (und kommerziell am wenigsten lukrative) Variante ist das Freundschaftsspiel zwischen zwei Mannschaften. Wirtschaftlich profitabler – weil sportlich interessanter – ist die Organisation eines Wettbewerbs mit mehreren Mannschaften. In der Praxis gibt es Wettbewerbe, die im K.-o.-System ausgetragen werden (zum Beispiel der DFB-Pokal). Die nationalen Meisterschaften werden im Ligabetrieb, also im Spielmodus "Jeder gegen jeden", ausgetragen. Schließlich gibt es Mischformen mit Gruppenphasen und anschließenden K.-o.-Runden (UEFA Champions League und UEFA Europa League, Welt- und Europameisterschaften). Das Louis-Schmeling-Paradoxon Dass Fußballunternehmen zu einem bestimmten Grad kooperieren müssen, ist nicht die einzige Besonderheit. Seit 1964 gilt unter Sportökonomen die These, dass sportliche Wettkämpfe möglichst knapp ausgehen müssen, die Kontrahenten müssen also möglichst "auf Augenhöhe" sein. Wenn ein Sportler beziehungsweise eine Mannschaft zu dominant ist, wird es für die Zuschauer schnell langweilig. Das Zuschauerinteresse sinkt und damit auch das Erlöspotenzial. Wiederum gilt: Während gewöhnliche Unternehmen wirtschaftlich profitieren, wenn es keine oder nur schwache Konkurrenz gibt, ist ein Sportler auf möglichst starke Konkurrenz angewiesen, um Einnahmen erzielen zu können. Zurückzuführen ist diese Erkenntnis auf den amerikanischen Ökonomen Walter C. Neale . Er legte in einem Aufsatz dar, dass es für Sportler besser sei, nur ein klein wenig besser als der Gegner zu sein, weil das sportliche Duell dadurch spannender und für die Zuschauer attraktiver wird. Zu große Überlegenheit ist demnach zwar gut für das sportliche Ehrgefühl, aber schlecht für den Geldbeutel. Neale illustrierte diesen Sachverhalt am Beispiel des Boxsports und erklärte, dass ein Boxer (wie Joe Louis) einen möglichst ebenbürtigen Gegner (wie Max Schmeling) benötigt, um seine sportlichen Erfolge lukrativ vermarkten zu können. Der Zusammenhang leuchtet unmittelbar ein, gerade am Beispiel des Boxsports: Wenn ein Boxer seine Kämpfe regelmäßig bereits in Runde 1 durch K. o. gewinnt und die übertragenden Fernsehsender nicht einmal die erste Werbepause erreichen, hat das entsprechend negative Auswirkung auf die erzielbaren Werbeeinnahmen. Aus diesem Grund werden in vielen Sportarten Maßnahmen ergriffen, welche die sportliche Ausgeglichenheit fördern sollen. In den amerikanischen Teamsportarten gibt es diverse Maßnahmen wie zum Beispiel "Salary Caps" (Gehaltsobergrenzen). In der Formel 1 wurden in der Vergangenheit immer wieder die Regeln verändert, wenn ein Fahrer oder ein Team sportlich zu dominant geworden war. Das Louis-Schmeling-Paradoxon ist für die Vermarktung von Sportveranstaltungen sehr relevant und in der Sportökonomie wenig umstritten. Dennoch gibt es Ausnahmen: Manch ein Sportereignis zieht seine Attraktivität gerade aus dem ungleichen Kräfteverhältnis der Kontrahenten. So übt der Mythos des Unbesiegbaren gelegentlich eine besondere Faszination aus. Die Übermacht eines Usain Bolt hat dem Publikumsinteresse an den Finalläufen über 100 und 200 Meter bei den Olympischen Spielen 2012 jedenfalls nicht geschadet. Auch im Fußball sorgt das Duell "David gegen Goliath" immer wieder für volle Stadien. Die ersten Runden des DFB-Pokals sind oft nur deshalb spannend, weil die eigentlich haushoch überlegenen Bundesligisten bei Amateurmannschaften ins Straucheln geraten können. Der Versuch, den sportlichen Wettbewerb möglichst ausgeglichen zu gestalten, ist aus Vermarktungsgründen somit berechtigt. Bei der Suche nach geeigneten Maßnahmen ist jedoch stets darauf zu achten, dass die Glaubwürdigkeit des Sports nicht beschädigt wird. Favoriten mit einem Handicap zu versehen, würde vom Publikum wohl kaum akzeptiert werden. Für den Profifußball wurde ein Mechanismus gefunden, der nur indirekt wirkt: Die zentrale Vermarktung der Medienrechte durch die DFL ermöglicht eine gleichmäßigere Verteilung der Fernsehgelder auf die Vereine, als wenn diese ihre Medienrechte in Eigenregie verkaufen würden. So erhält in Deutschland der Verein mit den höchsten Einnahmen aus Medienrechten lediglich das Doppelte des erlösschwächsten Vereins. In Spanien liegt dieses Verhältnis laut der Prüfungsgesellschaft Deloitte ungefähr bei 13:1, weil die spanischen Vereine ihre Medienrechte bisher in Eigenregie vermarktet haben und kein Finanzausgleich erfolgt. Die beiden Top-Clubs Real Madrid und der FC Barcelona erhalten knapp 40 Prozent der gesamten TV-Erlöse. Auch aufgrund dieser massiven Erlösspreizung ist die spanische Liga sportlich weniger ausgeglichen und weniger spannend als die Bundesliga. Die spanische Liga hat ihre Konsequenzen gezogen und ab der Spielzeit 2016/17 sollen die TV-Rechte nun – wie international üblich – zentral vermarktet werden. Gleichwohl hatte das deutsch-deutsche Champions League-Finale 2013 auch in Deutschland eine intensive Diskussion ausgelöst, ob der Bundesliga spanische Verhältnisse drohen und Bayern München und Borussia Dortmund künftig die Meisterschaft unter sich ausspielen. Trotz der Zentralvermarktung und der relativ gleichmäßigen Verteilung der TV-Gelder hat sich die Situation in Deutschland seit 2013 weiter zugespitzt. Bayern München ist seitdem sportlich derart dominant, dass es inzwischen nicht einmal mehr zu einem echten sportlichen Zweikampf kommt, sondern Bayern München allein die Liga beherrscht. Welches Ziel verfolgen Fußballunternehmen? Unternehmen streben danach, größtmögliche finanzielle Gewinne zu erwirtschaften. Dies ist die Standardannahme der Wirtschaftstheorie. Im Einzelfall verfolgen Unternehmen auch andere Ziele. So kann ein Unternehmen vor allem daran interessiert sein, Marktanteile zu gewinnen oder möglichst schnell den eigenen Bekanntheitsgrad zu erhöhen, auch wenn dadurch auf mögliche monetäre Gewinne verzichtet werden muss. Im Regelfall sind dies jedoch vorübergehende Phasen, die letztlich nur Bestandteil einer langfristig angelegten Gewinnmaximierungsstrategie sind. Das Objekt der Begierde für alle Fußballer in Deutschland: Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in den 1950er Jahren. (© picture-alliance/dpa) Fußballunternehmen verfolgen hingegen grundsätzlich ein anderes Ziel. Für sie geht es um maximalen sportlichen Erfolg, nicht um maximalen finanziellen Gewinn . Selbstverständlich haben die Klubs großes Interesse an möglichst hohen Einnahmen. Dies ist aber lediglich Mittel zum Zweck, denn hohe Einnahmen ermöglichen die Verstärkung des Spielerkaders und steigern somit die Chancen auf sportlichen Erfolg. Dem ehemaligen Vorstandschef des Hamburger SV, Bernd Hoffmann, wird die Aussage zugeschrieben, das Ziel eines Profiklubs sei größtmöglicher sportlicher Erfolg bei Vermeidung der Insolvenz. Wirtschaftliche Solidität ist für Fußballunternehmen also eher eine Nebenbedingung als ein eigenständiges Ziel. Letztlich geht es um größtmöglichen sportlichen Erfolg – wobei jeder Klub für sich festlegt, was darunter zu verstehen ist. Einige haben die Meisterschaft als Ziel, andere die Qualifikation für einen europäischen Wettbewerb und einige werten bereits den Klassenerhalt als Erfolg. Es mag unspektakulär klingen, dass Fußballunternehmen nicht nach finanziellem, sondern nach sportlichem Erfolg streben. Für zahlreiche Aspekte der Unternehmensführung ist dieser Sachverhalt jedoch von großer Bedeutung. So ist es wenig erstaunlich, dass Börsengänge von Fußballunternehmen für die Aktionäre im Regelfall kein gutes Geschäft waren. Positionswettbewerb Das Streben nach maximalem sportlichem Erfolg führt zu einer weiteren Besonderheit: Positionswettbewerb. Wirtschaft ist üblicherweise ein Positivsummenspiel. Wenn zwei oder mehrere Unternehmen miteinander im Wettbewerb stehen, konkurrieren sie zwar um Marktanteile, die Größe des Marktes ist jedoch nicht fix, sondern variabel. Wettbewerb verbessert die Produktqualität und erhöht oft auch die Produktauswahl. Je attraktiver das Angebot, desto mehr Kunden sind kaufbereit – der Markt wächst. Unternehmen können also ihre Umsatz- und Gewinnziele selbst dann verwirklichen, wenn die Konkurrenz stark und ebenfalls erfolgreich ist. Das Objekt der Begierde für alle Fußballer in Deutschland: Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in den 1950er Jahren. (© picture-alliance/dpa) Die Situation im Profifußball stellt sich komplett anders dar, denn Fußball ist im Ligabetrieb ein Nullsummenspiel. Jede tabellarische Verbesserung eines Klubs hat zwangsläufig die Verschlechterung mindestens eines anderen Klubs zur Folge. Der Positionswettbewerb hat erhebliche wirtschaftliche Folgen: Da die Qualifikation für die Champions League oder die Europa League sowie der Klassenerhalt erhebliche Mehreinnahmen für die Klubs bedeuten, besteht ein Anreiz, zusätzliche Investitionen zu tätigen, um diese Mehrerlöse zu realisieren. Es liegt in der Natur des Positionswettbewerbs, dass dieser Anreiz für zahlenmäßig mehr Klubs besteht, als lukrative Tabellenplätze zu vergeben sind. In der sportökonomischen Literatur wird dieser Sachverhalt unter den Begriffen "Überinvestitionen", "ruinöser Rüstungswettlauf" und "Rattenrennen" behandelt . Fehlinvestitionen sind nicht vermeidbar, weil nicht alle Klubs gleichzeitig die finanziell lukrativen Plätze erreichen können. Kommerzialisierung Als Kommerzialisierung wird die wirtschaftliche Erschließung eines prinzipiell nicht wirtschaftlichen Gesellschaftsbereichs bezeichnet. Dass die Bundesliga einen Kommerzialisierungsprozess durchlebt (hat), steht außer Frage. Dabei ist die Kommerzialisierung ein evolutorischer Prozess, dessen Startpunkt nicht eindeutig benannt werden kann. Auch dürfte der Prozess heute noch nicht am Ende sein. Geld spielte im Fußball schon immer eine Rolle. Doch die Spielergehälter aus den Anfangsjahren der Bundesliga waren im Vergleich zu heute lediglich eine Aufwandsentschädigung. Nur wegen der prinzipiellen Gehaltszahlung von Kommerz zu sprechen, ist kaum sachgerecht, denn schließlich würde auch niemand behaupten, dass der Amateurfußball heutzutage kommerzialisiert ist, nur weil einige Spieler der höheren Ligen gelegentlich vierstellige Gehälter verdienen. Kommerzialisierung muss an etwas anderem festgemacht werden als an der bloßen Tatsache, dass mit dem Sport Geld verdient werden kann. So kann Kommerzialisierung bedeuten, dass Produkte, die mit dem Fußball oder mithilfe des Fußballs produziert werden, über den Markt, also nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung, verkauft werden . Die Kommerzialisierung des Sports lässt sich in vier Phasen einteilen : Nullphase: In dieser Phase geht es noch ausschließlich um den Sport, kommerzielle Einflüsse sind noch nicht vorhanden. Instrumentalisierungsphase 1: Der Sport wird durch gesundheitsbezogene oder politische Interessen vereinnahmt. Instrumentalisierungsphase 2: Die Vermarktungsphase – der Sport beginnt sich zur Show zu entwickeln. Produktionsphase: Die Produktion sportlicher Leistung durch sportfremde Investoren. Die Fußball-Bundesliga befindet sich mindestens in Phase 3, in Teilen sogar schon in Phase 4. Als Meilenstein der Kommerzialisierung gilt die Einführung der Trikotwerbung durch Eintracht Braunschweig. In der Saison 1972/73 nahm die Eintracht als erster Bundesligist das Markenzeichen des Kräuterlikörs "Jägermeister" – einen Hirschkopf – auf die Brust. Die Spieler wurden damit erstmals als Werbefläche genutzt, die Bundesliga war spätestens jetzt in der Instrumentalisierungsphase 2 angekommen. In diese Phase gehört auch der im vergangenen Jahrzehnt einsetzende Trend, dass Bundesligisten im Rahmen der Saisonvorbereitung Testspiele in Asien absolvieren. Der Grund dafür ist kein sportlicher, sondern der offen kommunizierte Wunsch, mit solchen Gastspielen Fans in den aufstrebenden Schwellenländern zu gewinnen. Es geht um das Erschließen neuer Märkte – das Spiel hat also keinen sportlichen Wert, sondern dient vornehmlich der Show und finanziellen Interessen. Im Rahmen der Instrumentalisierungsphase 2 gab es ein einschneidendes Ereignis: die Einführung des Privatfernsehens. Als der Fernsehsender RTL im Jahr 1988 mit der Sendung "Anpfiff" (als Nachfolger der ARD-Sportschau) die zusammenfassende Berichterstattung der Bundesliga übernahm, änderte sich vieles: Während bei der Sportschau im Regelfall Ausschnitte von lediglich drei Partien gezeigt wurden, lieferte Anpfiff bewegte Bilder von sämtlichen Spielen. Auch stand bei der Sportschau zuvor Sachlichkeit im Vordergrund, RTL hingegen setzte auf mehr Unterhaltungselemente. Da sich die privaten Fernsehsender nicht durch Gebühren, sondern durch Werbung finanzierten, wurde das Sendeformat auf die Bedürfnisse und Wünsche der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen zugeschnitten. Das Sendekonzept musste im Vergleich zur Sportschau also "verjüngt" werden. Für die Bundesliga selbst war allerdings ein anderer Aspekt bedeutsamer. Der Markteintritt der Privatsender veränderte die Medienlandschaft zugunsten der Liga beziehungsweise zugunsten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Um die vom DFB angebotenen Fernsehübertragungsrechte gab es nun einen heißen Wettbewerb. Vorher gab es nur einen Anbieter (DFB) und einen Nachfrager (die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender), es handelte sich also um ein bilaterales Monopol. In der neuen Medienlandschaft war der DFB nun Angebotsmonopolist, um dessen Produkt mehrere Nachfrager konkurrierten. Folgerichtig sprangen die Preise der Fernsehrechte von 18 (1987/88) auf über 40 Millionen D-Mark (1988/89) pro Saison. In der Spielzeit 1992/93 lag der Wert der Medienrechte bereits bei über 120 Millionen D-Mark. Doch dies war erst der Anfang einer Preisspirale, die in den Folgejahren durch den intensiven Wettbewerb auf der Nachfrageseite, neue technische Möglichkeiten, immer mehr Sendeplätze und einer gestiegenen gesellschaftlichen Bedeutung des Fußballs immer weiter gedreht wurde. Durch die ausgeweitete und modernisierte Fernsehberichterstattung konnten neue Zuschauergruppen für den Fußball begeistert werden. Hinzu kam der Gewinn der Weltmeisterschaft 1990 durch die DFB-Elf, der den Fußball im gerade erst wiedervereinigten Deutschland weiter in die Mitte der Gesellschaft rückte. Medieneinnahmen der Bundesliga (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Einen weiteren Schub erhielt der Wert der Fernsehrechte durch den Start des Bezahlfernsehens in Deutschland. Neben der zusammenfassenden Berichterstattung im Free-TV gab es fortan die Möglichkeit, die Spiele im Pay-TV live und in voller Länge zu sehen. Der letzte Verkauf der Fernsehrechte (für die vier Spielzeiten ab 2013/14) war schließlich geprägt von den Vermarktungsmöglichkeiten durch das Internet und durch mobile Endgeräte. Mit durchschnittlich 628 Millionen Euro pro Saison stieg der Wert der Medienrechte um gut 50 Prozent. Die Auslandsrechte steuern rund 70 Millionen Euro zu der Gesamtsumme bei. Für den neu zu verhandelnden TV-Vertrag erwarten Experten nun einen weiteren erheblichen Erlössprung, mit dem die Milliardengrenze (p.a.) überschritten werden soll. Die vierte und letzte Phase der Kommerzialisierung (Produktionsphase) hat die Bundesliga insofern bereits erreicht, als mit den sogenannten Werksklubs Bayer Leverkusen und VfL Wolfsburg zwei Mannschaften in der Bundesliga spielen, die ihre Existenz beziehungsweise ihren sportlichen Erfolg primär dem finanziellen Engagement der Konzerne Bayer (Leverkusen) und VW (Wolfsburg) verdanken. Mit RB Leipzig schickt sich ein weiterer von einem Unternehmen hochgezüchteter Klub an, die Bundesliga alsbald durcheinanderzuwirbeln. Auch die Teilnahme der TSG Hoffenheim an der Bundesliga ist kein Produkt des originären sportlichen Wettbewerbs, sondern das Ergebnis erheblicher finanzieller Zuwendungen des Milliardärs Dietmar Hopp – auch wenn es sich bei Dietmar Hopp wohl eher um einen Mäzen als um einen auf Rendite ausgerichteten Investor handelt. Anfang 2014 sorgte zudem Hertha BSC Berlin für Aufsehen, weil der international bekannte Finanzinvestor KKR Anteile am Hauptstadtclub erwarb. Obwohl die Bundesliga die vierte Phase der Kommerzialisierung in Teilen bereits erreicht hat, dürfte der Prozess noch nicht abgeschlossen sein. Es gibt noch ausreichend Potenzial, die Kommerzialisierung auszudifferenzieren. Weitere Vermarktungsmöglichkeiten warten darauf, erschlossen zu werden . So regte der Marketing-Vorstand des Hamburger SV im November 2015 die Diskussion an, künftig auch Bundesliga-Spiele in Asien auszutragen, um (potenzielle) asiatische Fans vor Ort besser zu erreichen und die internationalen Vermarktungsmöglichkeiten dadurch besser auszuschöpfen. Die Kommerzialisierung des Fußballs hat ihre Spuren auch in der Verbandsstruktur hinterlassen. Bis zum Jahr 2000 waren die Vereine der ersten und zweiten Liga Mitglied im Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der DFB war Veranstalter der Bundesliga. Im Jahr 2000 wurde der Ligaverband als Zusammenschluss der deutschen Profivereine gegründet, das operative Geschäft wurde dem Tochterunternehmen DFL Deutsche Fußball Liga GmbH übertragen. Der Ligaverband ist Mitglied im DFB und veranstaltet seit dem 1. Juli 2001 gemeinsam mit dem DFB die Bundesliga. Die Kernaufgaben der DFL sind die Organisation und Vermarktung des Profifußballs. Dazu gehört die Lizenzierung der 36 Profivereine. Dem strengen und anspruchsvollen Lizenzierungsverfahren ist es zu verdanken, dass die Bundesliga im internationalen Vergleich als die wirtschaftlich solideste Liga gilt. Besondere Bedeutung kommt der Vermarktung der Medienrechte (Fernsehen, Radio, Internet) für das In- und das Ausland zu. Die DFL hat die Vermarktung der Medienrechte vom DFB übernommen. Die "Ware" Spieler und das Bosman-Urteil Medieneinnahmen der Bundesliga (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Fußball ist tendenziell ein strukturkonservativer Sport. Dies liegt vor allem daran, dass die maßgeblichen Funktionäre in den nationalen und internationalen Verbänden den Charakter des Spiels sehr bewusst nicht verändern wollen. Der Fußball soll einfach bleiben und seinen gesellschaftlichen Erfolg mit allen seinen Vor-, aber auch mit etwaigen Nachteilen fortsetzen. Die jahrelang intensiv und kontrovers geführte Diskussion über die Einführung eines Videobeweises zeigt, wie groß die Widerstände gegen substanzielle Veränderungen sind. Umso einschneidender war ein Ereignis in den 1990er-Jahren: Das sogenannte Bosman-Urteil im Jahr 1995 war für den europäischen Vereinsfußball eine Revolution. Der belgische Fußballprofi Jean-Marc Bosman hatte gegen eine von ihm als zu hoch empfundene Ablösesumme geklagt, weil er dadurch seine Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt sah. Neben den auch nach Vertragsende geltenden Ablösesummen waren die Ausländerklauseln für die Spieler eine Barriere, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen. Wenn – wie bis in die 1990er-Jahre üblich – nur zwei Ausländer zeitgleich pro Spiel eingesetzt werden dürfen, haben die Vereine nur geringe Anreize, ihren Spielerkader mit einer größeren Zahl ausländischer Spieler zu besetzen. Tatsächlich bekam Bosman Recht. Der Europäische Gerichtshof erklärte mit seinem Urteil die bis dahin geltenden Transferregeln und Ausländerbeschränkungen für ungültig. Daraus ergaben sich für den Profifußball zwei markante Veränderungen: Für Spieler, die nach der Vertragslaufzeit einen Vereinswechsel anstreben, wird keine Ablösesumme mehr fällig. Die Nationalität eines Spielers würde fortan nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Wegen der entfallenden Ausländerbegrenzung konnte viel stärker als früher auf ausländische Spieler gesetzt werden. Ad 1: Zunächst wurde vermutet, die nun entfallenden Ablösesummen würden die Spielergehälter entsprechend erhöhen. Dies ist zwar mikroökonomisch, nicht aber makroökonomisch plausibel. Tatsächlich entfallen ja nicht nur die Transferausgaben für den Verein, der einen neuen Spieler verpflichten möchte, sondern es entfallen auch die Transfereinnahmen bei dem Verein, der den Spieler abgibt. Im Ergebnis steht in einer Welt ohne Transferentschädigungen also insgesamt nicht mehr Geld für Spielergehälter zur Verfügung als in einer Welt mit Transferentschädigungen . Eine pauschale Umverteilung von den Vereinen zu den Spielern hat es durch das Bosman-Urteil direkt jedenfalls nicht gegeben. Dazu steht die Beobachtung steigender Spielergehälter seit dem Bosman-Urteil nicht im Widerspruch, denn höhere Gehaltszahlungen sind insbesondere deshalb möglich, weil die Umsätze in der Bundesliga seit Ende der 1980er-Jahre – wie bereits skizziert – deutlich gestiegen sind. Der "zu verteilende Kuchen" ist also unabhängig vom Bosman-Urteil größer geworden. In der Praxis sind Ablösesummen entgegen erster Erwartungen nicht verschwunden. Zwar können Spieler nach der Vertragslaufzeit tatsächlich ablösefrei wechseln – und oft geschieht dies auch, jedoch ist es ebenso üblich, sie vor Ablauf der Vertragslaufzeit (oft ein Jahr vorher) abzugeben, um doch noch eine Ablösesumme aushandeln zu können. Ad 2: Während der Wegfall der Ablösesummen hauptsächlich die Spieler und Vereine betraf, ist die Aufhebung der Ausländerbeschränkungen auch für den Fußballfan und das Fußballpublikum ein einschneidendes Erlebnis. Der Ausländeranteil in den Mannschaften erhöhte sich drastisch (vgl. Grafik): Vor dem Bosman-Urteil lag der Ausländeranteil bei den Lizenzspielern zwischen 15 und 20 Prozent. Nach dem Urteil stieg dieser Anteil sprunghaft an und liegt heute bei 48 Prozent. Im Eishockey war die Entwicklung mit einem Anstieg von gut 10 Prozent auf knapp 70 Prozent noch gravierender. Doch der Blick auf den Ausländeranteil unter den Lizenzspielern zeigt nur die halbe Wahrheit, denn damit ist noch nichts über die Ausländerquote unter den elf eingesetzten Akteuren ausgesagt: Tatsächlich ist es nicht unüblich, dass Bundesligisten ganz ohne oder lediglich mit einem deutschen Spieler auflaufen. Ausländeranteil in der Bundesliga 1992/93 - 2007/08 (noch keine aktuelleren Daten vorhanden) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Interner Link: Vgl. hierzu die interaktive Infografik: Wie hat sich der Ausländeranteil in der Bundesliga seit 1963 entwickelt? Neben dem höheren Ausländeranteil hat auch die Spielerfluktuation zugenommen. Vereinstreue ist bei den Spielern zur absoluten Ausnahme geworden. Diese Entwicklung ist gewiss nicht nur auf das Bosman-Urteil zurückzuführen, aber das Urteil hat es den Spielern wesentlich erleichtert, sich als "Unternehmer in eigener Sache" zu verstehen. So ist Fußball zwar – naturgemäß – auch heute noch ein Mannschaftssport, zuweilen drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass es sich bei Fußballern um Einzelsportler handelt, die sich notgedrungen in Mannschaften integrieren, um ihre Wettkämpfe überhaupt austragen zu können. Zu dieser Entwicklung dürften auch die Spielerberater beziehungsweise Spielervermittler beigetragen haben. Durch sie hat die Verhandlungsmacht der Spieler gegenüber den Vereinen deutlich zugenommen. Als ein potenzielles Problem des Bosman-Urteils wurde schnell erkannt, dass ein hoher Ausländeranteil und die hohe Fluktuation im Spielerkader zu einem Problem für die Fans werden könnten, weil für sie die Identifikationsmöglichkeiten schwinden. Im Gegensatz zu normalen Konsumgütern entscheidet für einen Fußballfan nicht primär die Produktqualität. Fans halten im Regelfall auch dann zu ihrem Verein, wenn die sportlichen Leistungen schwach sind. Ökonomisch formuliert, bestehen für Fans zwischen den Vereinen faktisch keine Substitutionsmöglichkeiten. Der Grund dafür ist die hohe emotionale Bindung vieler Fans zu ihrem Lieblingsverein und den Spielern. Wenn sich die Spieler allerdings wie die oft zitierten "Söldner" verhalten und selbst nur eine emotionale Bindung zum Geld, nicht aber zu den sie bezahlenden Vereinen aufbauen, so besteht die Gefahr, dass sich auch die Fans vom Fußball distanzieren. Bis heute ist dies ein Problem für den harten Kern der Fans. Allerdings zeigt sich, dass sich diese Fans im Regelfall – mangels Alternative – nicht vom Fußball abwenden, sondern dass sie die veränderte Situation zähneknirschend akzeptieren. Die seit dem Bosman-Urteil insgesamt gestiegene Popularität zeigt, dass Kundengruppen hinzugekommen sind, die sich für den Fußball eher wegen des Eventcharakters und weniger wegen der traditionellen Fußball- und Vereinswerte interessieren. Als zweites Problem wurde erkannt, dass ein höherer Ausländeranteil in der Bundesliga zwangsläufig zu weniger Spielpraxis der deutschen Spieler führt, was mittel- und langfristig negative Auswirkungen auf die Leistung der Nationalmannschaft haben könnte. Dies ist nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Problem geworden. Die Leistungsdichte der Nationalmannschaften in Europa (aber auch weltweit) ist nun höher, weil viele Nationalspieler aus sportlich schwächeren Ländern nun Spielpraxis und Erfahrung in den europäischen Top-Ligen sammeln konnten. Die ehemals schwächeren Länder haben also aufgeholt. "Kleine Gegner gibt es nicht mehr" ist im internationalen Fußball seit Jahren ein geflügeltes Wort. Vor allem in England zeigten sich die Folgen: Während die mit ausländischen Stars gespickten Mannschaften auf Klubebene international größte Erfolge feierten, verpasste die englische Nationalmannschaft die Qualifikation zur Europameisterschaft 2008. Sowohl der Weltverband FIFA als auch der europäische Verband UEFA haben sich der skizzierten Probleme angenommen und mehrfach versucht, die Zahl der einheimischen Spieler zu erhöhen. So hatte die FIFA im Mai 2008 die sogenannte 6+5-Regel beschlossen, wonach in einer Mannschaft mindestens sechs Spieler zu stehen hätten, die für das jeweilige Land spielberechtigt sind. In einem Bundesligaspiel hätten also nur noch fünf Ausländer pro Mannschaft eingesetzt werden dürfen. Inzwischen ist die UEFA von der 6+5-Regel jedoch wieder abgerückt. Nachdem die Ausländerbegrenzung für die Bundesliga zur Saison 2006/07 aufgehoben wurde, hat die Bundesliga die von der UEFA praktizierte Local-Player-Regelung übernommen. So mussten in der Saison 2006/07 mindestens vier, in der Saison 2007/08 mindestens sechs und in der Saison 2008/09 mindestens acht lokal ausgebildete Spieler bei den Bundesligisten als Lizenzspieler/-in unter Vertrag stehen . Spielergewerkschaft VDV Ausländeranteil in der Bundesliga 1992/93 - 2007/08 (noch keine aktuelleren Daten vorhanden) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Das Bosman-Urteil und der zunehmende Einsatz von Spielerberatern hat die Verhandlungsmacht der Spieler erhöht. Darüberhinaus werden die Interessen der Spieler heute aber auch durch die Spielergewerkschaft VDV (Vereinigung der Vertragsfußballspieler e. V.) professioneller vertreten. Die VDV wurde 1987 von drei Bundesligaprofis (u. a. Benno Möhlmann) gegründet. Mit Blick auf die Tradition von Arbeitergewerkschaften, deren Hauptziele bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sind, ist eine Gewerkschaft für eine Sportlerelite mit Spitzengehältern erklärungsbedürftig. In der Tat wirken die Arbeitsbedingungen und die Gehälter eines Bundesligaprofis auf den ersten Blick nicht so, als müssten die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen durch eine machtvolle Interessenvereinigung noch weiter verbessert werden. Ein genauerer Blick zeigt jedoch zweierlei: Erstens ist der sportliche und wirtschaftliche Erfolg von Bundesligaprofis nur eine Momentaufnahme. Fußballprofis verdienen außerordentlich viel Geld in sehr kurzer Zeit. Nur wenige Spieler bringen es auf 15 Berufsjahre. Aus mehreren Gründen reicht das in dieser Zeit verdiente Geld im Regelfall jedoch nicht für den Rest des Lebens. Nur ein geringer Prozentsatz ist nach dem Ende der Fußballkarriere finanziell unabhängig. Ein weit größerer Prozentsatz war in der Vergangenheit hingegen zu einem späteren Zeitpunkt auf staatliche Sozialleistungen angewiesen . Zweitens ist Arbeitslosigkeit auch im Profifußball ein relevantes Thema. Die Öffentlichkeit nimmt im Regelfall nur die unter Vertrag stehenden Profis wahr. Für Spieler, die zum Beispiel wegen Verletzungsanfälligkeit oder Formschwäche keinen Arbeitgeber finden, steht sehr schnell die Existenz auf dem Spiel. Im Gegensatz zu "regulären" Arbeitnehmern ist der Arbeitsmarkt für Fußballer sehr eng. Da Fußballern aufgrund ihres jungen Alters oft eine Berufsausbildung fehlt, ist auch der Weg in den regulären Arbeitsmarkt kurzfristig versperrt oder zumindest sehr steinig. Fußballprofis verdienen also außerordentlich gut, aber sie leben mit einem hohen Berufsrisiko, und die berufliche Zukunft nach der Profikarriere ist oft ungewiss. An diesen Punkten setzt die Spielergewerkschaft an. Nach eigenen Angaben sieht sie ihre Aufgaben in der "… Wahrung und Förderung der wirtschaftlichen, sozialen, beruflichen und kulturellen Interessen ihrer Mitglieder sowie des Fußballsports im Allgemeinen". Pressekonferenz VDV 2013: (v.l.n.r.) Lars Kindgen, Christoph Metzelder, Ulf Baranowsky , Dirk Lottner und Dietmar Hirsch. (© picture alliance/augenklick) Die VDV ist vom DFB und von der DFL offiziell anerkannt und vertritt seine über 1.300 Mitglieder unter anderem in den Bereichen Vorsorge, Recht und Bildung. Die Mitgliedschaft ist nicht an eine bestimmte Liga gebunden. So beschäftigt die VDV im Bereich Weiterbildung einen eigenen "Laufbahncoach", mit dessen Hilfe sich die Spieler gezielt auf die Zeit nach dem Profifußball vorbereiten können. Außerdem unterstützt die Spielergewerkschaft ihre Mitglieder in den Bereichen Steuerberatung und Risikovorsorge (Krankheit, Invalidität, Altersvorsorge). Über das DFB-VDV-Versorgungswerk können die Profis eine steuerbegünstigte Altersvorsorge (nachgelagerte Besteuerung) abschließen, die mit Vollendung des 60. Lebensjahrs als lebenslange Rente oder in Form einer Einmalzahlung ausgezahlt wird. Darüberhinaus kümmert sich die VDV um die Wiedereingliederung vertragsloser Fußballer. Die VDV bietet im Zeitraum von Juli bis September Trainingscamps für arbeitslose Profis, die seit mindestens drei Monaten VDV-Mitglieder sind, an. Auf diese Weise können sich die betroffenen Fußballer fit halten – mit professionellem Training und auch mit Testspielen gegen hochklassige Gegner. Rund 80 Prozent der Trainingscamp-Teilnehmer finden im Anschluss wieder einen neuen Arbeitgeber im Profifußball. Fußballunternehmen und Eigentümerverhältnisse Rechtsformen der Bundesligisten im Zeitablauf (© bpb) Bis zur Saison 1998/99 hatten sämtliche deutsche Erst- und Zweitligisten die Rechtsform des Vereins. Der wirtschaftliche Boom machte die Möglichkeit zur Umwandlung der Vereine in Kapitalgesellschaften erforderlich. Im Oktober 1998 beschloss der DFB-Bundestag, dass künftig auch in Kapitalgesellschaften umgewandelte Vereine am Spielbetrieb teilnehmen dürfen. Mehrere Gründe sprachen für die Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen. Angesichts der Millionenumsätze der Profivereine drohte eine Rechtsformverfehlung. Der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb eines gemeinnützigen Vereins ist zwar generell durch das sogenannte Nebenzweckprivileg gedeckt, aber Juristen waren mehrheitlich der Meinung, dass im konkreten Fall der Bundesligisten das Nebenzweckprivileg überschritten wurde . Hinzu kam die Absicht, das Management der Fußballvereine zu professionalisieren. Dies sollte in einer Kapitalgesellschaft leichter gelingen als in einem Verein. Der Hauptgrund für die Umwandlung dürfte jedoch der gestiegene Kapitalbedarf der Vereine sein . Um die teuren Spielerkader und die damals notwendigen Stadionaus- oder -neubauten zu finanzieren, mussten neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. Tatsächlich haben die Fußballunternehmen bei der Finanzierung seit der Jahrtausendwende neue Wege beschritten. Ein Meilenstein war der Börsengang von Borussia Dortmund (als Kommanditgesellschaft auf Aktien) im Jahr 2000. Es war der erste und bislang einzige Börsengang eines deutschen Fußballunternehmens. Mit einem Emissionserlös von rund 130 Millionen Euro war der Börsengang für Borussia Dortmund ein finanzieller Erfolg, für die Aktionäre war er jedoch eine herbe Enttäuschung. Borussia Dortmund wirbt am 31.10.2000 für den Start der BVB-Aktie an der Frankfurter Börse (@dpa - Sportreport). Sie mussten – wie zuvor die Aktionäre vieler börsennotierter Fußballunternehmen im europäischen Ausland – im weiteren Verlauf deutliche Kursverluste hinnehmen. Direkt nach dem Börsengang erreichte die BVB-Aktie am 31. Oktober 2000 einen Höchstkurs von 9,41 Euro, um danach einen lang anhaltenden Abschwung bis unter den Wert von einem Euro zu erleiden. Selbst nach dem Gewinn von zwei deutschen Meisterschaften und nach dem Einzug in das Champions League-Finale 2013 konnte sich der Aktienkurs gerade einmal zwischen 3,50 und 4 Euro einpendeln. Nach einem kurzzeitigen Hoch von gut 5 Euro im Sommer 2014 – dies dürfte den gestiegenen Marktwerten der Dortmunder Nationalspieler nach dem WM-Sieg geschuldet sein – sank der Aktienkurs infolge der sportlichen Krise während der Spielzeit 2014/15 wieder unter 3,50 Euro und hat nach dem erfolgreichen Saisonstart 2015/16 bei etwa 4 Euro einen neuen Orientierungspunkt gefunden. Der Praxistest hat damit in Deutschland die theoretischen Bedenken – und die enttäuschenden Erfahrungen im Ausland – gegenüber Börsengängen von Fußballunternehmen bestätigt . Der Dortmunder Börsengang war nicht die einzige Innovation im Bereich der Finanzierung: Dortmunds Erzrivale, der FC Schalke 04, sorgte mit der sogenannten Schechter-Anleihe für Aufsehen. Statt eines gewöhnlichen Bankkredits hatte sich der Revierklub auf Vermittlung des Briten Stephen Schechter über Asset Backed Securities (ABS) finanziert, bei denen künftige Zahlungsansprüche (wie Zuschauereinnahmen) verbrieft und verpfändet wurden. Inzwischen hat der FC Schalke 04 die Schechter-Anleihe vorzeitig abgelöst und den Restbetrag umfinanziert. Im Jahr 2012 war es wiederum der FC Schalke 04, der als erster Bundesligist eine sogenannte Mittelstandsanleihe über den Kapitalmarkt platziert hat. Damit hat sich der Profifußball wieder ein kleines Stück in Richtung "regulärer" Wirtschaft fortentwickelt. Zuvor hatten einige Vereine (unter anderem der FC St. Pauli und Hansa Rostock) "Fan-Anleihen" ausgegeben. Die Vereine wenden sich damit direkt an die Zahlungsbereitschaft ihrer Fans, bieten im gegenwärtigen Niedrigzinsumfeld attraktive Konditionen und gewähren – bei Erreichen eines konkret definierten sportlichen Zieles – zum Teil sogar einen Zinsaufschlag. Prinzipiell wird der Wettbewerbsdruck die Klubs künftig verstärkt neue Finanzierungswege beschreiten lassen. Mit Blick auf das "Geschäftsmodell Fußball" haben einige Finanzierungsformen gute Aussichten auf Erfolg. Zu den erfolgversprechenden Modellen gehören die strategischen Partnerschaften zwischen Sponsoring-Unternehmen und Bundesligaklubs. Auch Mäzene werden ihren Platz im Fußball haben. Die "Forfaitierung" bzw. Abtretung von Marketing-Rechten ist bereits vielfach erprobt und hat sich bewährt. Schließlich stehen auch die Erfolgsaussichten für Finanzinvestoren in ausgewählten Fällen nicht schlecht. Dagegen dürften verschiedene Finanzierungsformen keine große Zukunft haben: Mittelstandsanleihen, Asset Backed Securities und ein Börsengang wurden in der Bundesliga zwar bereits praktiziert, doch unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten sind die oben genannten Finanzierungsformen attraktiver. Leicht ungewiss ist die Zukunft der Genussscheine. Sie dürften aufgrund emotionaler Investitionsmotive von Fans nicht ganz von der Bildfläche verschwinden. Reine Bankdarlehen spielen zwar heute noch eine wichtige Rolle in der Kapitalstruktur diverser Bundesligisten, doch die Bedeutung des Bankdarlehens dürfte tendenziell abnehmen. Die 50+1-Regel Pressekonferenz VDV 2013: (v.l.n.r.) Lars Kindgen, Christoph Metzelder, Ulf Baranowsky , Dirk Lottner und Dietmar Hirsch. (© picture alliance/augenklick) Rechtsformen der Bundesligisten im Zeitablauf (© bpb) Borussia Dortmund wirbt am 31.10.2000 für den Start der BVB-Aktie an der Frankfurter Börse (@dpa - Sportreport). Die Transformation von gemeinnützigen Vereinen zu umsatzorientierten Wirtschaftsunternehmen wirft die Frage auf, wem das Unternehmen gehört, wer etwaige Gewinnaneignungsrechte hat und wer die unternehmerischen Entscheidungen trifft. Die DFL hat eine spezielle Regel in ihre Satzung (§ 8, Absatz 2) aufgenommen, nach der es Investoren nicht möglich ist, die Stimmenmehrheit an einer Kapitalgesellschaft zu erwerben, die für die Liga spielberechtigt ist. Wenn also Vereine ihre Lizenzspielermannschaft in eine Kapitalgesellschaft ausgliedern, dann müssen mindestens 50 Prozent plus eine Stimme beim Mutterverein verbleiben. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass – im Gegensatz zur britischen Liga – alle Entscheidungen vom Verein und nicht von Investoren getroffen werden. Allerdings dürfen Investoren die Kapitalmehrheit halten. Die 50+1-Regel ist umstritten . Befürworter sehen durch sie traditionelle Sportwerte vor sportfremden Interessen geschützt. Gegner argumentieren, die Bundesliga würde finanziell (und damit langfristig auch sportlich) im internationalen Vergleich zurückfallen. Wenn Investoren dauerhaft von der 50+1-Regel abgeschreckt werden, kann die Bundesliga mit ausländischen Ligen wie zum Beispiel der Premier League nicht mehr mithalten, in denen Mäzene und Investoren große Summen in Vereine wie Manchester City und Chelsea London stecken. Zudem ständen faktisch auch in der Bundesliga bereits mehrere Vereine massiv unter dem Einfluss externer Geldgeber (Bayer Leverkusen, VfL Wolfsburg, TSG Hoffenheim). Diese Kritik und die Unsicherheit darüber, ob ein Gericht bei einer Klage die 50+1-Regel kippen würde, hat letztlich zu einer Aufweichung der Regel geführt. Mehrheitliche Beteiligungen sind nun möglich, wenn ein Wirtschaftsunternehmen den betreffenden Verein bereits seit mehr als 20 Jahren ununterbrochen und erheblich unterstützt hat. Die jüngere Vergangenheit zeigt, dass die 50+1-Regel Investoren nicht grundsätzlich abschreckt: So ist bei Bayern München nach Adidas und Audi mit der Allianz bereits der dritte strategische Partner eingestiegen. Bei Hertha BSC Berlin hat sich mit dem Finanzinvestor KKR sogar ein Unternehmen finanziell engagiert, das für seine strikte Renditeorientierung bekannt ist – und das, obwohl es nur eine kleine Minderheitsbeteiligung eingegangen ist und somit keine Zugriffsmöglichkeiten auf das operative Geschäft hat. Dieses Vorgehen widerspricht der Theorie, wonach Investoren nur dann zu einem Engagement bereit sind, wenn sie über die Stimmenmehrheit die Entscheidungen im Verein treffen können. Ob sich die Erwartungen des Investors KKR dennoch erfüllen, wird die Zukunft zeigen müssen. Finanzielles Fairplay Im europäischen Fußball haben diverse Vereine mit hohen Schulden zu kämpfen. Zudem finanzieren mehrere Vereine ihre laufenden Ausgaben nur noch zum Teil durch Einnahmen, die aus dem operativen Fußballgeschäft stammen. Der Einfluss von Mäzenen beziehungsweise Investoren hat insbesondere im britischen Fußball deutlich zugenommen (die 50+1-Regel gilt speziell für Deutschland). Dies führt zu "unnatürlichen" Geldflüssen, die den sportlichen Wettbewerb verzerren. Zudem können Vereine, die von unnatürlichen Geldflüssen profitieren, in akute wirtschaftliche Bedrängnis geraten, wenn Mäzene/Investoren ihre Zahlungen einstellen und der betroffene Verein die Ausgaben plötzlich wieder aus den laufenden Spielbetriebseinnahmen bestreiten muss. Zur Unterscheidung von Mäzenen, Sponsoren und Investoren: Ein Mäzen engagiert sich finanziell, ohne eine direkte Gegenleistung zu fordern. Mäzene handeln also weitgehend altruistisch (auch wenn Ruhm und Ehre als nicht-finanzielle Gegenleistung durchaus eigennützige Motive befriedigen können). Im Gegensatz zum Mäzen erwartet ein Sponsor für sein finanzielles Engagement eine Gegenleistung. Meist geht es dabei um die Vermarktung eines bestimmten Produktes oder um die Steigerung des Bekanntheitsgrades eines Unternehmens. Dabei ist unerheblich, ob sich Leistung und Gegenleistung wertmäßig entsprechen. Schließlich sind Investoren Kapitalanleger, deren Ziel die Vermögenssteigerung ist. Diese konzeptionelle Unterscheidung lässt sich in der Praxis nicht immer eindeutig einhalten. Die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen sind mitunter fließend. Um den Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, hat die UEFA das sogenannte "finanzielle Fairplay" für die europäischen UEFA-Wettbewerbe eingeführt und in das Reglement zur Klublizenzierung integriert . Das finanzielle Fairplay – im Mai 2010 bewilligt und im Jahr 2012 aktualisiert – gibt den Vereinen verschiedene Kriterien in den Bereichen Sport, Infrastruktur, Recht und insbesondere Finanzen vor. So gilt, dass über die letzten drei Jahre die relevanten Einnahmen die relevanten Ausgaben mindestens ausgleichen müssen. Wird diese Vorgabe verfehlt, wird zusätzlich das davor liegende Jahr berücksichtigt und bewertet, ob zumindest eine positive Entwicklung gegeben ist. Im Juni 2012 beschloss das UEFA-Exekutivkomitee die Einrichtung einer Finanzkontrollkammer, welche die Einhaltung unter anderem der Fairplay-Regeln überwachen soll. Bei Verstößen darf die Kontrollkammer Disziplinarmaßnahmen verhängen und über die Startberechtigung für die UEFA-Wettbewerbe entscheiden. In Analogie zur Staatsschuldenkrise werden die Regeln des finanziellen Fairplays auch als "Schuldenbremse" bezeichnet. Das finanzielle Fairplay ist 2013/14 in Kraft getreten. Der Ansatz der UEFA, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und der Verschuldung der Vereine entgegenzuwirken, ist zu begrüßen. Allerdings sind die Regeln leicht zu umgehen – und es spricht einiges dafür, dass Vereine von den Umgehungsmöglichkeiten Gebrauch machen werden. So kann die UEFA nicht überwachen, ob die Sponsorenverträge zu marktkonformen Konditionen abgeschlossen werden. Dafür müsste die UEFA bewerten und überprüfen können, ob eine Sponsoring-Maßnahme für das jeweilige Unternehmen den gezahlten Betrag auch wert ist – im Sinne von Umsatzsteigerung und/oder Imagegewinn. Da diese Bewertung praktisch nicht möglich ist, können Mäzene ihre Zahlungen, die durch das finanzielle Fairplay eigentlich unterbunden werden sollen, durch überhöhte Sponsoring-Verträge "tarnen". Schon heute ist dies zum Beispiel in Großbritannien ein Problem . Daneben gibt es eine unüberschaubare Reihe weiterer Möglichkeiten, die Financial-Fairplay-Regeln zu umgehen. Zum Beispiel können die Ehefrauen von Spielern mit üppigen Werbeverträgen ausgestattet werden . Derartige Zahlungen an das Umfeld der eigentlichen Akteure werden sich auch bei größten Anstrengungen nicht wirksam unterbinden lassen. Prinzipiell war also schon klar, dass es auf Dauer kein wasserdichtes Regelwerk geben könnte – zu groß sind die finanziellen Anreize, die Regeln zu umgehen. Zudem gab es Bedenken, ob das Reglement einer juristischen Überprüfung standhalten würde. Inzwischen gibt es neue Entwicklungen: Im Sommer 2015 hat die UEFA das eigene Regelwerk stark verwässert. Künftig sollen die Klubs die Möglichkeit haben, Verluste von mehr als 30 Millionen Euro im Jahr bei der UEFA anzumelden, um gemeinsam nach Auswegen aus der finanziellen Klemme zu suchen. Damit sind die Regeln des finanziellen Fairplay zahnloser geworden. Außerdem sollen externe Geldgeber nur noch die Nachhaltigkeit ihres Fußballengagements nachweisen und darlegen, dass dadurch die Einnahmen aus dem originären Fußballgeschäft erhöht werden. Es steht zu befürchten, dass die guten Absichten, die mit dem finanziellen Fairplay verfolgt werden, künftig nicht mehr zu entsprechend guten Ergebnissen führen werden. Das ist insofern bedauerlich, weil gemäß dem UEFA-Finanzbericht 2013/14 das Reglement durchaus erfolgreich war. So sind dank finanziellem Fairplay die Verluste der europäischen Vereine vor 2013/14 binnen zwei Jahren von EUR 1,7 Mrd. auf EUR 800 Mio. mehr als halbiert worden. Wettbewerbsbehörden Der wirtschaftliche Erfolg stellt die Bundesliga nicht nur auf der betriebswirtschaftlich-organisatorischen Ebene vor Herausforderungen. DFB und DFL werden immer wieder mit dem Bundeskartellamt konfrontiert. Da das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen auch für den Profifußball gilt, kam es in der Vergangenheit insbesondere bei der zentralen Vergabe der Fernsehrechte durch die DFL regelmäßig zur Konfrontation mit dem Kartellamt . Nach sehr kontroversen Auseinandersetzungen hat sich das Kartellamt zuletzt milder gezeigt und die Zentralvermarktung unter Auflagen für zulässig erklärt. Die Liga und die Bundesligisten werden sich aber auch künftig vermehrt mit Rahmenbedingungen und Einflüssen auseinandersetzen müssen, die für Wirtschaftsunternehmen zum Tagesgeschäft gehören. Dazu gehört unter anderem der Umgang mit Wettbewerbsbehörden, Analysten und kritischen (Wirtschafts-)Medien. Dauerbrenner Fernsehrechte Trotz der inzwischen kooperativeren Haltung des Bundeskartellamtes bleibt das Thema Fernsehrechte ein Dauerbrenner. Das bestehende Regime der Zentralvermarktung wird inzwischen von ganz unterschiedlichen Seiten kritisiert. Ein latenter Unruheherd ist der FC Bayern München. Der deutsche Rekordmeister muss durch die Zentralvermarktung im Vergleich zur Einzelvermarktung von allen Bundesligisten die größten Umsatzeinbußen hinnehmen. Nach eigener Aussage könnte der FC Bayern die Medienerlöse auf rund 200 Milliarden Euro pro Jahr vervierfachen, wenn er die Medienrechte in Eigenregie vermarkten könnte. Die Differenz kann als Solidarbeitrag des FC Bayern für die Liga verstanden werden, um die finanzielle und damit die sportliche Ausgeglichenheit zumindest halbwegs aufrecht zu erhalten. Für den Bayern München ist die Bundesliga – nach eigenem Bekunden – zwar immer noch die Basis, doch der Stellenwert der UEFA Champions League gewinnt rasant an Bedeutung. Deshalb muss der FC Bayern auch beim Thema TV-Erlöse inzwischen zweigleisig fahren und sich nicht nur mit dem Rest der Liga, sondern vor allem mit den ausländischen Spitzen-Klubs vergleichen. Der Wettbewerbsvorteil der britischen Premier League ist offensichtlich: Der neu abgeschlossene TV-Vertrag für die Jahre 2016 bis 2019 warf bereits in der Sommerpause 2015/16 seinen Schatten voraus, als die britischen Klubs auf dem Transfermarkt in ganz großem Stil aktiv wurden. Aus der Inlandsvermarktung werden die britischen Klubs insgesamt rund 6,9 Milliarden Euro, also 2,3 Milliarden Euro pro Jahr erhalten. Das ist gegenüber dem laufenden TV-Vertrag ein Plus von rund 70 %. Der Vergleich mit der Bundesliga zeigt, wie weit Deutschland bei den TV-Erlösen abgeschlagen ist. Der aktuelle TV-Vertrag bringt pro Saison durchschnittlich 628 Millionen Euro. Selbst wenn es der Deutschen Fußball Liga gelingen sollte, beim neuen TV-Vertrag für die Spielzeiten ab 2017 jährliche Erlöse oberhalb der Milliardengrenze zu erzielen, wäre ein derart verbesserter Vertrag im Vergleich zu den englischen Zahlen ziemlich bescheiden. Der TV-Kuchen bleibt für die Bundesliga also absehbar kleiner – und von diesem kleinen Kuchen erhält der deutsche Rekordmeister durch den geltenden Verteilungsschlüssel obendrein noch ein sehr kleines Stück. Europaweit liegt Bayern München bei den TV-Erlösen nur auf Platz 26. In dieser Gemengelage ist es kaum verwunderlich, dass der deutsche Rekordmeister im Winter 2015 offenbar nach Möglichkeiten sucht, seinen Anteil an den TV-Erlösen zu erhöhen. Medienberichten zufolge ist Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge beim Bundeskartellamt vorstellig geworden, um innerhalb des bestehenden Zentralvermarktungsregimes individuelle Vermarktungsmöglichkeiten auszuloten – zum Beispiel bei der Auslands- oder Internet-Vermarktung. Zugleich verstärkte er den Druck auf die DFL, die TV-Erlöse zu erhöhen. Druck kommt aber auch von anderer Seite. Einige der Traditionsvereine – zum Beispiel der Hamburger SV – drängen darauf, den Verteilungsschlüssel bei den TV-Erlösen zugunsten der publikumswirksamen Traditionsvereine zu verändern. Ihr Argument: Traditionsvereine sorgen mit ihrer großen Anhängerschaft nicht nur für volle Stadien, sondern auch für hohe TV-Einschaltquoten und damit tragen sie maßgeblich zum kommerziellen Erfolg der Liga bei. Andere Klubs, die durch externe Geldgeber zwar finanziellen und sportlichen Erfolg, aber trotzdem nur wenige Fans haben, erzielen oft geringe Einschaltquoten. Es ist durchaus richtig, dass beim geltenden Verteilungsschlüssel, der den sportlichen Erfolg finanziell honoriert, Traditionsvereine einige Klubs subventionieren, die dank externer Geldgeber ohnehin finanzstark sind. Der FC St. Pauli ging mit einem – inzwischen wieder zurückgezogenen – Antrag sogar so weit, dass Werksklubs, die durch eine Ausnahmegenehmigung von der 50+1-Regel freigestellt sind, keine oder deutlich reduzierte TV-Erlöse bekommen sollten. Es zeichnet sich also ab, dass die Fernsehrechte auch in Zukunft ein wiederkehrendes Streit-Thema sein werden . Fazit Die Fußball-Bundesliga hat sich in den vergangenen Jahren beziehungsweise Jahrzehnten mit Erfolg eine wesentlich professionellere Struktur gegeben. Der Sport wird zielgerichtet vermarktet und erzielt kontinuierlich neue Umsatzrekorde. Im Vergleich zu den anderen wichtigen Fußballligen in Europa gilt die Bundesliga als wirtschaftlich besonders solide. Den Verantwortlichen ist bei der Kommerzialisierung bislang die Gratwanderung gelungen, den Fußball zu modernisieren und wirtschaftlich profitabel zu machen, ohne dabei den traditionellen Fan zu verlieren. Dieser Grat ist schmal. Die Wurzeln des heutigen wirtschaftlichen Erfolgs hat der Fußball schon vor vielen Jahren gelegt – als ursprünglicher, unterhaltsamer und finanzierbarer Sport für die breite Masse. Als steriles Show-Produkt für "die oberen Zehntausend" würde der Fußball seinen Reiz, seinen identifikationsstiftenden Charakter und damit seine gesellschaftliche Bedeutung verlieren. Die künftigen Herausforderungen erfordern deswegen weiterhin viel Sorgfalt und Fingerspitzengefühl, wenn der Fußball auch künftig ein Ereignis sein soll, das alle gesellschaftlichen Schichten in seinen Bann zieht. Quellen / Literatur Bundesliga (2012): Fragen zur Liga, Externer Link: Internet-Link (abgerufen am 17. Februar 2014) Chemnitzer, Felix, Leißle, Nicolas, Quitzau, Jörn (2015): Finanzierung im Profifußball – Anleihen, Investoren, Mäzene & Co., Berenberg Wirtschaftstrends vom 21. Januar 2015. Daudert, Christian/Michael Daudert (2003): Geld schießt Tore Deloitte (2013): Annual Review of Football Finance Deloitte (2014): Football Money League Der Spiegel (2012): Teurer Engel, Ausgabe Nr. 40/2012, S. 61 DFL - Deutsche Fußball Liga (2014): Bundesliga Report 2014 Dilger, Alexander (2004): Makroanalyse von Transferzahlungen und Investitionen im Sport, In: Kooperenz im Sportmanagement. Zieschang/Woratschek/Beier (Hrsg.), S. 153 - 162 Franck, Egon/Müller, Jens Christian (1998): Kapitalgesellschaften im bezahlten Fußball. In: ZfB-Ergänzungsheft 2, S. 121 - 140 Franck, Egon/Müller, Jens Christian (1999): Problemstruktur, Eskalationsvoraussetzungen und eskalationsfördernde Bedingungen sogenannter Rattenrennen. Freiberger Arbeitspapiere 99/1, Technische Universität Bergakademie Freiberg Franzke, Rainer (2012): Der Millionen-Wahnsinn: So tricksen die Vereine. In: kicker Sportmagazin, 01. Oktober 2012, S. 100 - 101 Fuhrmann, Claas (1995): Idealverein oder Kapitalgesellschaft im bezahlten Fußball? In: Sport und Recht 1-2, S. 12 - 17 Heinemann, Klaus (1992): Kommerzialisierung. In: Röthig, Peter (Hrsg.), Sportwissenschaftliches Lexikon, 6. Auflage Kruse, Jörn/Quitzau, Jörn (2002): Zentralvermarktung der Fernsehrechte an der Fußball-Bundesliga, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Ergänzungsheft 4, S. 63 - 82 Lehmann, Erik/Weigand, Jürgen (1998): Wieviel Phantasie braucht eine Fußballaktie? In: ZfB-Ergänzungsheft 2/98, S.101 - 119 Neale, Walter C. (1964): The Peculiar Economics of Professional Sports. In: The Quarterly Journal of Economics, 78, S. 1 - 14 Quitzau, Jörn (2002): Die Vergabe der Fernsehrechte an der Fußball-Bundesliga – Wohlfahrtsökonomische, wettbewerbspolitische und sportökonomische Aspekte der Zentralvermarktung Quitzau, Jörn/Vöpel, Henning (2009): Wirtschaftsfaktor Fußball. In: Strategie 2030, Nr. 9, Studienreihe des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und der Berenberg Bank Quitzau, Jörn/Vöpel, Henning (2013), Financial Fair Play – Zeitenwende im europäischen Profifußball?, Berenberg/HWWI Schewe, Gerhard/Littkemann, Jörn (1999): Meinungen zum Thema Sportökonomie. In: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 2, S. 183 - 199 Steinforth, Alexander (2011): Financial Investments in Professional Football, University of Cambridge UEFA (2012): UEFA-Reglement zur Klublizenzierung und zum finanziellen Fairplay (Ausgabe 2012) Vereinigung der Vertragsfußballspielerer e. V. (2012): Basisinfos Vöpel, Henning/Steinhardt, Max (2008): Wirtschaftsfaktor Fußball – Globale Entwicklungen und die regionalwirtschaftlichen Potenziale des HSV. Studie im Auftrag der HSH Nordbank Vöpel, Henning (2011): Fußball-Management – Mikroökonomische und spieltheoretische Modellierung von Managemententscheidungen im Profifußball. HWWI Policy Report Willms, Werner/Fischer, Anke (2001): Bundesliga-Fußball als Standortfaktor. Monatsbericht 6 des BAW Instituts für Wirtschaftsforschung Bundesliga (2012): Fragen zur Liga, Externer Link: Internet-Link (abgerufen am 17. Februar 2014) Chemnitzer, Felix, Leißle, Nicolas, Quitzau, Jörn (2015): Finanzierung im Profifußball – Anleihen, Investoren, Mäzene & Co., Berenberg Wirtschaftstrends vom 21. Januar 2015. Daudert, Christian/Michael Daudert (2003): Geld schießt Tore Deloitte (2013): Annual Review of Football Finance Deloitte (2014): Football Money League Der Spiegel (2012): Teurer Engel, Ausgabe Nr. 40/2012, S. 61 DFL - Deutsche Fußball Liga (2014): Bundesliga Report 2014 Dilger, Alexander (2004): Makroanalyse von Transferzahlungen und Investitionen im Sport, In: Kooperenz im Sportmanagement. Zieschang/Woratschek/Beier (Hrsg.), S. 153 - 162 Franck, Egon/Müller, Jens Christian (1998): Kapitalgesellschaften im bezahlten Fußball. In: ZfB-Ergänzungsheft 2, S. 121 - 140 Franck, Egon/Müller, Jens Christian (1999): Problemstruktur, Eskalationsvoraussetzungen und eskalationsfördernde Bedingungen sogenannter Rattenrennen. Freiberger Arbeitspapiere 99/1, Technische Universität Bergakademie Freiberg Franzke, Rainer (2012): Der Millionen-Wahnsinn: So tricksen die Vereine. In: kicker Sportmagazin, 01. Oktober 2012, S. 100 - 101 Fuhrmann, Claas (1995): Idealverein oder Kapitalgesellschaft im bezahlten Fußball? In: Sport und Recht 1-2, S. 12 - 17 Heinemann, Klaus (1992): Kommerzialisierung. In: Röthig, Peter (Hrsg.), Sportwissenschaftliches Lexikon, 6. Auflage Kruse, Jörn/Quitzau, Jörn (2002): Zentralvermarktung der Fernsehrechte an der Fußball-Bundesliga, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Ergänzungsheft 4, S. 63 - 82 Lehmann, Erik/Weigand, Jürgen (1998): Wieviel Phantasie braucht eine Fußballaktie? In: ZfB-Ergänzungsheft 2/98, S.101 - 119 Neale, Walter C. (1964): The Peculiar Economics of Professional Sports. In: The Quarterly Journal of Economics, 78, S. 1 - 14 Quitzau, Jörn (2002): Die Vergabe der Fernsehrechte an der Fußball-Bundesliga – Wohlfahrtsökonomische, wettbewerbspolitische und sportökonomische Aspekte der Zentralvermarktung Quitzau, Jörn/Vöpel, Henning (2009): Wirtschaftsfaktor Fußball. In: Strategie 2030, Nr. 9, Studienreihe des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und der Berenberg Bank Quitzau, Jörn/Vöpel, Henning (2013), Financial Fair Play – Zeitenwende im europäischen Profifußball?, Berenberg/HWWI Schewe, Gerhard/Littkemann, Jörn (1999): Meinungen zum Thema Sportökonomie. In: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 2, S. 183 - 199 Steinforth, Alexander (2011): Financial Investments in Professional Football, University of Cambridge UEFA (2012): UEFA-Reglement zur Klublizenzierung und zum finanziellen Fairplay (Ausgabe 2012) Vereinigung der Vertragsfußballspielerer e. V. (2012): Basisinfos Vöpel, Henning/Steinhardt, Max (2008): Wirtschaftsfaktor Fußball – Globale Entwicklungen und die regionalwirtschaftlichen Potenziale des HSV. Studie im Auftrag der HSH Nordbank Vöpel, Henning (2011): Fußball-Management – Mikroökonomische und spieltheoretische Modellierung von Managemententscheidungen im Profifußball. HWWI Policy Report Willms, Werner/Fischer, Anke (2001): Bundesliga-Fußball als Standortfaktor. Monatsbericht 6 des BAW Instituts für Wirtschaftsforschung vgl. DFL 2016, S. 8 Externer Link: Deloitte Football Money League 2016 Deloitte 2016 vgl. DFL 2016, S. 47 vgl. DFL 2016, S. 46 vgl. Willms/Fischer 2001 und Vöpel/Steinhardt 2008 vgl. Dietl 2011 vgl. Neale 1964 vgl. Quitzau 2002, S. 58 ff. vgl. Franck/Müller 1998 und Franck/Müller 1999 vgl. Heinemann 1992, S. 239 vgl. Brandmaier/Schimany 1998, S. 20 und ursprünglich Haase 1991, S. 6 vgl. Quitzau/Vöpel 2009 vgl. Dilger 2004 vgl. Bundesliga 2012 vgl. Daudert/Daudert 2003 Vereinigung der Vertragsfußballspieler e. V. 2012 vgl. etwa Fuhrmann 1995 vgl. Schewe/Littkemann 1999, S. 191 vgl. Lehmann/Weigand 1998 vgl. Steinforth 2011 vgl. UEFA 2012, Vöpel 2011, S. 19 f. und Quitzau/Vöpel 2013 vgl. dazu Franzke 2012, S. 100 f. vgl. Der Spiegel 2012, S. 61 vgl. Kruse/Quitzau 2002 Details zu Finanzierungsfragen finden sich bei Chemnitzer/Leißle/Quitzau, 2015
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Jörn Quitzau
"2022-01-20T00:00:00"
"2013-05-23T00:00:00"
"2022-01-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/sport/bundesliga/160773/das-spiel-als-premium-produkt/
TV-Rechte-Vermarktung sowie Zuschauer- und Werbeeinnahmen erzielen Rekordhöhen. Im Vergleich zu anderen Ligen in Europa gilt die Bundesliga wirtschaftlich als sehr solide. Was macht die Bundesliga ökonomisch richtig und welche Folgen hat der wirtscha
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Arbeitsblatt 5: Muslimische Gebetsräume und Moscheen in Deutschland | Oray | bpb.de
Fächer: Politik, Sozialkunde/Gesellschaftskunde, Ethik/Religion/Philosophie, Deutsch empfohlen ab: 10. Klasse Eine der ersten Anlaufstellen bei seinem Neuanfang in Köln ist für Oray eine muslimische Gemeinde. Der Film bietet nicht nur einen Einblick in das Gemeindeleben, sondern verweist an diesem Beispiel darauf, wie vielfältig sich muslimisches Leben organisiert. Die Beleuchtung dieser Strukturen legt exemplarisch Möglichkeiten und Grenzen der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft in Deutschland offen. Vor der Filmsichtung Tauscht euch in der Klasse aus: Kennt ihr eine Moschee oder andere muslimische Gebetsräume in eurer Nachbarschaft? Woran erkennt man sie? Wer hat sie bereits besichtigt oder besucht sie regelmäßig? Was versteht man genau unter einer Moschee? Überlegt in der Klasse und klärt offene Fragen mithilfe eines Sachtextes aus einem Schulbuch oder aus dem Internet. Mögliche Webseiten (Auswahl): Lexikon-Eintrag: Interner Link: www.bpb.de/nachschlagen/lexika/islam-lexikon/21550/moschee Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V.: Externer Link: http://zentralrat.de/3509_print.php Erklärseite für Kinder: Externer Link: www.religionen-entdecken.de/lexikon/m/moschee Zeitungsartikel: Externer Link: www.sueddeutsche.de/kultur/was-ist-eigentlich-eine-moschee-ein-ort-des-aufatmens-1.273369 Im Film "Oray" stellt eine kleine muslimische Gemeinde eine der ersten Anlaufstellen für den jungen Protagonisten nach Ankunft in der neuen Stadt dar. Weil er im Streit die islamische Scheidungsformel "Talaq" ausgesprochen hat, trennt Oray sich auf Anraten des Imams für drei Monate von seiner Ehefrau Burcu. Er verlässt für diese Zeit die gemeinsame Wohnung in Hagen und zieht nach Köln. Stellt Vermutungen zu folgenden Fragen an: Aus welchen Gründen suchen Neuankömmlinge in einer Stadt oder in einem Land oft zunächst den Kontakt zu ihrer Glaubensgemeinschaft? Wie stellt ihr euch die Mitglieder und die Räume von Orays neuer Gemeinde vor? Während der Filmsichtung Beobachtet die Hauptfigur Oray und andere männliche Figuren: Inwiefern nehmt ihr sie als typisch männlich wahr? Erweitert ihr Männlichsein ihren Handlungsspielraum oder beschränkt es ihn eher? Notiert eure Beobachtungen unmittelbar nach der Filmsichtung. Nach der Filmsichtung Beschreibt in Kleingruppen Orays neue Gemeinde mithilfe der Standbilder aus dem Film und euren Beobachtungen aus d). Die Moschee (© filmfaust, Christian Kochmann) Der Gemeinschaftsraum (© filmfaust, Christian Kochmann) Der Gebetsraum (© Filmfaust, Christian Kochmann) Imam Bilal vermittelt eine Wohnung (© Filmfaust, Christian Kochmann) Renovierung des Gemeinschaftsraums (© Filmfaust, Christian Kochmann) Oray predigt (© Filmfaust, Christian Kochmann) Opferfest (© Filmfaust, Christian Kochmann) Im Gespräch mit Imam Bilal (© Filmfaust, Christian Kochmann) Tauscht euch im Plenum aus: Haben sich eure Vermutungen vor der Filmsichtung bestätigt (vgl. c)? Was hat euch überrascht? Sammelt im Plenum eure Fragen zum Gebetsraum und zum Gemeindeleben im Film. Recherchiert nach Antworten in Schulbüchern oder im Internet. Dafür teilt ihr die Fragen in der Klasse auf. Recherchiert in Kleingruppen. Achtet bei der Auswahl der Quellen auf ihre Objektivität und Aktualität sowie auf Urheber*innen bzw. Herausgeber*innen. Tipp: Checklisten zur Bewertung von Internetquellen findet ihr zum Beispiel unter Externer Link: https://li.hamburg.de/contentblob/3461588/data/pdf-internetquellen-bewerten.pdf oder Externer Link: www.schule.at/portale/vis-eu/detail/online-quellen-richtig-beurteilen.html. Präsentiert eure Ergebnisse im Plenum und/oder stellt ein gemeinsames Externer Link: FAQ-Dokument zusammen. Die Moschee in "Oray" befindet sich in Gewerberäumen in einem Hinterhof. In Deutschland gibt es viele ähnliche muslimischen Gebetsräume, die häufig als sogenannten "Hinterhofmoscheen" bezeichnet werden. Setzt euch im Klassengespräch mit folgenden Fragen auseinander und recherchiert zur Vorbereitung gegebenenfalls Hintergrundinformationen. Verteilt Rechercheaufträge in der Klasse. Was verbindet ihr mit dem Begriff "Hinterhofmoschee"? Wie wirkt er insbesondere auf Nichtmuslim*innen? Wie wirken Orays Moschee und deren Gemeindemitglieder auf euch, nachdem ihr im Film einen Einblick bekommen habt? Warum empfinden viele Muslim*innen den Begriff "Hinterhofmoschee" als abfällig? Aus welchen Gründen gibt es in Deutschland "Hinterhofmoscheen"? Warum erhält die muslimische Glaubensgemeinschaft in Deutschland keine Einnahmen aus Steuergeldern wie etwa die christliche oder jüdische Gemeinschaft? Welche Folgen hat dies auf den Bau von Moscheen und Gebetsräumen? Warum wird der Bau von repräsentativen Moscheen teils von kontroversen Debatten begleitet? Welche Vor- und Nachteile bieten kleine Gemeinden wie Orays im Unterschied zu großen Gemeinden? Linktipps für Recherchen zu "Hinterhofmoscheen" und zum Moscheebau in Deutschland (Auswahl): Externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Hinterhofmoschee Externer Link: www.deutschlandfunk.de/muslime-in-deutschland-die-hinterhofmoschee-ist-besser-als.886.de.html?dram:article_id=338618 Externer Link: www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/Gemeindeleben/AG2Moscheebau/ag2-moscheebau-node.html Externer Link: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/was-sie-ueber-die-moschee-steuer-wissen-muessen-15960912.html Externer Link: www.zeit.de/zeit-geschichte/2012/02/Moscheebau-in-Deutschland Externer Link: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4409 Zur Vertiefung: Erstellt in der Klasse eine (Online-)Ausstellung zum Thema "Gebetshäuser und -räume" in unserer Stadt, indem ihr in Partnerarbeit oder Kleingruppen jeweils einen Aspekt erarbeitet und dazu Fotos, ein Plakat oder einen Beitrag auf einer digitalen Plattform gestaltet. Ihr könnt speziell zu muslimischen Gebetsorten arbeiten, aber auch die anderer Religionen ergänzen. Informationen findet ihr im Internet, u. a. auf Externer Link: www.bpb.de. Mögliche Aspekte: Religionenvielfalt in Deutschland – Übersicht Repräsentative Gebetshäuser der Weltreligionen Alternative Gebetsräume Gebetshäuser und -räume in der Nachbarschaft Gebetsräume in öffentlichen Gebäuden (z. B. Krankenhaus, Flughafen, Schule …) Porträts von jungen Gläubigen verschiedener Religionen und ihren Gebetsorten Konflikte um Gebetshäuser und -orte … Nehmt an eine Führung durch einen muslimischen Gebetsraum oder eine Moschee in eurer Nachbarschaft teil (z. B. Führung für Schulklassen oder Tag der offenen Moschee, der jedes Jahr am 3. Oktober stattfindet). Bereitet den Besuch in der Klasse vor und reflektiert ihn anschließend gemeinsam. Besuche von Gebetsstätten anderer Religionen können daran anschließen. Sichtet zum Thema Moscheenbau in Deutschland in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung den Film "Moschee DE". Informationen und Unterrichtsmaterialien dazu findet ihr unter Interner Link: www.bpb.de/gesellschaft/bildung/filmbildung/291690/moschee-de Externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Hinterhofmoschee Externer Link: www.deutschlandfunk.de/muslime-in-deutschland-die-hinterhofmoschee-ist-besser-als.886.de.html?dram:article_id=338618 Externer Link: www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/Gemeindeleben/AG2Moscheebau/ag2-moscheebau-node.html Externer Link: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/was-sie-ueber-die-moschee-steuer-wissen-muessen-15960912.html Externer Link: www.zeit.de/zeit-geschichte/2012/02/Moscheebau-in-Deutschland Externer Link: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4409 Erstellt in der Klasse eine (Online-)Ausstellung zum Thema "Gebetshäuser und -räume" in unserer Stadt, indem ihr in Partnerarbeit oder Kleingruppen jeweils einen Aspekt erarbeitet und dazu Fotos, ein Plakat oder einen Beitrag auf einer digitalen Plattform gestaltet. Ihr könnt speziell zu muslimischen Gebetsorten arbeiten, aber auch die anderer Religionen ergänzen. Informationen findet ihr im Internet, u. a. auf Externer Link: www.bpb.de. Mögliche Aspekte: Religionenvielfalt in Deutschland – Übersicht Repräsentative Gebetshäuser der Weltreligionen Alternative Gebetsräume Gebetshäuser und -räume in der Nachbarschaft Gebetsräume in öffentlichen Gebäuden (z. B. Krankenhaus, Flughafen, Schule …) Porträts von jungen Gläubigen verschiedener Religionen und ihren Gebetsorten Konflikte um Gebetshäuser und -orte … Nehmt an eine Führung durch einen muslimischen Gebetsraum oder eine Moschee in eurer Nachbarschaft teil (z. B. Führung für Schulklassen oder Tag der offenen Moschee, der jedes Jahr am 3. Oktober stattfindet). Bereitet den Besuch in der Klasse vor und reflektiert ihn anschließend gemeinsam. Besuche von Gebetsstätten anderer Religionen können daran anschließen. Sichtet zum Thema Moscheenbau in Deutschland in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung den Film "Moschee DE". Informationen und Unterrichtsmaterialien dazu findet ihr unter Interner Link: www.bpb.de/gesellschaft/bildung/filmbildung/291690/moschee-de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-03-03T00:00:00"
"2020-07-24T00:00:00"
"2022-03-03T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/themen-und-hintergruende/313273/arbeitsblatt-5-muslimische-gebetsraeume-und-moscheen-in-deutschland/
Eine der ersten Anlaufstellen bei seinem Neuanfang in Köln ist für Oray eine muslimische Gemeinde. Der Film bietet nicht nur einen Einblick in das Gemeindeleben, sondern verweist an diesem Beispiel darauf, wie vielfältig sich muslimisches Leben organ
[ "Oray", "Filmbesprechung", "Arbeitsblatt 5", "Muslimische Gebetsräume und Moscheen in Deutschland" ]
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Kongo: Konturen einer Flussbiografie | Wasser | bpb.de
Betrachtet man die leitenden Themen, an denen entlang populäre Sachbücher, Dokumentarfilme und Zeitschriften von den zwei längsten Flüssen Afrikas erzählen, so sticht ein greller Kontrast ins Auge. Mit dem Nil verbindet sich gewöhnlich das Bild einer sagenumwobenen "Lebensader", die die Kultivierung gewaltiger Wüsten und die Entstehung komplexer Gesellschaften im Alten Ägypten und Nubien ermöglicht hat. In gegenläufiger, dabei nicht weniger schablonenhafter Stoßrichtung muss der Kongo allzu oft für Krisenerzählungen von Kriegen, Krankheiten und Korruption herhalten. Allerdings speisen sich Darstellungen des Kongos in der Erzählweise einer Tragödie nicht allein aus westlichen Stereotypen. Auch kongolesische Intellektuelle wie Désiré Bolya Baenga, Valentin-Yves Mudimbe oder Pius Ngandu Nkashama, von denen viele während der Diktatur Mobutu Sese Sekos (1965–1997) ins Ausland geflohen sind, haben pessimistische Sichtweisen auf die Flussregion verfestigt. In der Geschichtsforschung ziehen Großflüsse als "fließende Räume" vermehrt das Interesse von Historikerinnen und Historikern auf sich, die den Bedeutungen solcher Gewässer für die Konstituierung von Regionen nachspüren. Aus derlei Studien sind viele langzeitlich angelegte "Flussbiografien" hervorgegangen, die Perspektiven aus verschiedenen Teilgebieten der Geschichtswissenschaft und häufig auch aus weiteren Disziplinen wie der Hydrologie oder der Geografie zusammenführen. Für den Kongo steht eine solche Biografie bislang aus. Wie ließe sie sich schreiben, ohne auf stereotype Deutungsmuster zurückzufallen? Anregungen dafür finden sich in der poetischen Literatur, etwa beim kongolesisch-österreichischen Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila. Mäandernd und aufwühlend wie der Kongo selbst windet sich sein Langgedicht "Der Fluss im Bauch" durch persönliche und politische, gesellschaftliche und geschichtliche Angelegenheiten. Erst beim näheren Hinsehen wird ein musikalisches Kompositionsprinzip erkennbar. Doch nicht ein wohlklingendes Sinfonieorchester wie bei Bedřich Smetanas "Moldau" steht dafür Pate, sondern ein mal elegisches, mal brüllendes Jazz-Saxophon. Viele der Themen, die dieses Saxophon mit dem Gewässer verbindet, sind keine erfreulichen – entstellte Körper und einsame Seelen, Verlust und Verzweiflung, Gestank und Gewalt. Doch indem Mujila von all dem erzählt, ohne sich an afropessimistischen Topoi westlicher Provenienz abzuarbeiten, setzt er einen kraftvollen Impuls für eine postkoloniale Neuperspektivierung des Flusses. Das Wasser und der Wald Eine Flussbiografie, die diese Bezeichnung ernst nähme, müsste mit der Geburt des Gewässers beginnen. Zurück bis ins Pleistozän soll es hier aber nicht gehen, zumal auch eine solche Biografie nicht vom Kongo allein erzählen würde, sondern von den Beziehungen zwischen ihm und den Menschen, die an und mit ihm lebten. Wann begannen diese Beziehungen? Genau lässt sich das nicht datieren, weil Knochen, Kanus und andere archäologische Überreste in den immergrünen Tropenwäldern, die das gewaltige Einzugsgebiet des Flusses überwiegend bedecken, nicht überdauern. Funde von Steinwerkzeugen und Keramik bezeugen eine menschliche Präsenz ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. Wahrscheinlich migrierten die frühen Bewohnerinnen und Bewohner nach und nach von den östlichen Randgebieten des Waldlands ins Kongobecken, so legen es historisch-linguistische Untersuchungen nahe. Über weitere Einwanderer und Einwanderinnen erreichten spätestens ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. Bantu-Sprachen und Techniken der Eisenverarbeitung das Gebiet. An den Kongo gelangten sie vom Norden her, womöglich in Kanus über den Nebenfluss Sangha. Nicht nur Meere, auch Flüsse können Menschen zu neuen Ufern tragen. Und dann? "dann knarrten die Jahrhunderte/von der Quelle bis zum Meer/kamen vom Himmel und der Erde/rollten Jahrhunderte und Jahrhunderte lang", so ein weiterer dichtender Biograf des Flusses, Tchicaya U Tam’si. Wenig ist gewiss über die eisenzeitliche Entwicklung des Kongobeckens, doch immerhin das: Der dichte Urwald setzte den Möglichkeiten zur Land- und Viehwirtschaft enge Grenzen. Größe und Dichte der Bevölkerung blieben daher geringer als in anderen Vegetationszonen Afrikas. In den Fluss-, Wald- und Sumpflandschaften lebten Menschen überwiegend in relativ abgeschiedenen Dorfkonglomeraten und bildeten eine enorme Vielfalt an Sprach- und Dialektgemeinschaften heraus. Paradoxerweise formierte sich das Kongobecken trotz seiner kulturellen Diversität früh zu einer Großregion. Ihre äußeren Konturen und inneren Verknüpfungen verdankte sie weniger einer politischen oder wirtschaftlichen Integration als einem Zusammenhang, der sich als "archipelagisch" beschreiben lässt: Die Fülle von Gewässern – Flüsse und Bäche, Seen und Sümpfe, Marsche und Moore – brachte verbindende, gewissermaßen aquatische Lebensweisen hervor, geprägt etwa durch das Fischen, das Sammeln von Sumpfpflanzen oder das saisonale Migrieren mit wandernden Fischarten. Für eine Flussbiografie wäre dies eine erste Herausforderung: die raumbildende Wirkung des Kongos zu ermessen, ohne sie in geodeterministischer Manier zu essenzialisieren und das Handlungsvermögen der Menschen zu verkennen. Staatenbildung am unteren Flusslauf Wie der Jangtse oder Euphrat und Tigris hat der Kongo vorteilhafte Voraussetzungen für die Bildung von Staaten geschaffen. Im westlichen Zentralafrika formierten sich die frühesten von ihnen, soweit bekannt, als Föderationen von Siedlungsgruppen in den fruchtbaren Tiefebenen des Kongos und seiner Zuflüsse. Wohl ab der Zeit des europäischen Spätmittelalters bildeten sich am unteren Stromlauf die zentralistischen Königtümer Kongo, Loango und Tio heraus. Loango, das sich nördlich der Mündung entlang der Küste bis Cap Lopez erstreckte, brachte Meereserzeugnisse ins Landesinnere und bezog von dort Walderzeugnisse und Kupfer. Im Hinterland grenzte Tio rechtsseitig an das Malebo-Becken an, eine seeartige Ausbuchtung des Flusses vor den heutigen Hauptstädten Kinshasa und Brazzaville. Als größter der drei Staaten schloss das Königreich Kongo linksseitig an den unteren Flusslauf an. Zum größten Teil lag es damit im Gebiet des heutigen Angola, wo sich auch sein politisches Zentrum befand, die heutige Welterbestätte M’banza-Kongo. Von dort aus waltete das Herrscherhaus der Mwissikongo über den Handel mit land- und forstwirtschaftlichen sowie handwerklichen Erzeugnissen. Bei Eroberungszügen in benachbarte Gebiete nahm der Staat Gefangene, die man als Sklavinnen und Sklaven zur Landarbeit in die Gegend von M’banza-Kongo verschleppte. Da sich das Kongo-Reich im späten 15. Jahrhundert das Mündungsgebiet einverleibte – als Provinz Soyo –, war es der erste Staat, von dem portugiesische Seefahrer Kenntnis erlangten, als sie 1483 den Fluss erreichten. In der Annahme, über den Kongo das Reich des mythischen Priesterkönigs Johannes erreichen zu können, segelten die Karavellen flussaufwärts. Nach rund 135 Flusskilometern endete die Fahrt an den Stromschnellen von Yellala. Noch in den nachfolgenden drei Jahrhunderten sollten diese ein Vordringen von Europäern ins Landesinnere verhindern. Eine Flussbiografie müsste neben den verbindenden Qualitäten des Gewässers auch solchen diskonnektiven Gesichtspunkten nachgehen: Welche Umwege verlangte der Kongo den Menschen ab? Für welche Mobilitäten eröffnete er Chancen, wem machte er einen Strich durch die Rechnung? Ungehindert schiffbar ist allein der mittlere Abschnitt des Kongos, der sich vom Malebo-Becken über mehr als 1500 Kilometer bis zu den Stromschnellen von Boyoma windet. Diente der mittlere Kongo schon zur Zeit der frühen Königtümer als Verkehrsweg? Wahrscheinlich ja. Archäologische Funde deuten auf einen kettenartigen Fernhandel hin, der den Austausch von Sandelholz, Kupfer und Tonpfeifen umfasste. Da sich in den dichten Wäldern weder Wagen noch Lasttiere einsetzen ließen – die dort verbreitete Tsetsefliege überträgt die Tierseuche Nagana –, wurde wohl gerade schwere Ware mit Kanus transportiert und nur entlang der nicht schiffbaren Abschnitte von Trägern übernommen. Von den Ufern des Ubangis aus, des zweitgrößten Nebenflusses des Kongos, spezialisierte sich die Fischereigesellschaft der Bobangi früh auf den Kanutransport von Handelswaren. Portalgewässer der atlantischen Welt Da an der Westküste Zentralafrikas nur wenige geschützte Buchten und Inseln liegen, nutzten die Portugiesen bevorzugt abgeschirmte Uferstellen im Mündungsgebiet als Handelsplätze. Entsprechend band der anfangs kleinvolumige Austausch zunächst deren Umland in das entstehende System der atlantischen Welt ein – und damit in die Frühformen der kolonialen Globalisierung. Von der Funktionserweiterung des unteren Kongos zu einem Portalgewässer der atlantischen Welt profitierten auch afrikanische Beteiligte; so gelangten amerikanische Nutzpflanzen wie Mais und Maniok entlang des Flusses ins Landesinnere. Ab etwa 1500 wurden auch Sklavinnen und Sklaven gehandelt, die die Portugiesen zur Plantagenarbeit auf ihre Inselkolonie São Tomé deportierten. Die Regenten der Küstenprovinz oder auch Zwischenhändler nutzten dies zum eigenen Vorteil. Doch als sich der Abnahmemarkt für Versklavte ab den 1520er Jahren um den amerikanischen Doppelkontinent erweiterte, zeigten sich schon bald die zerstörerischen Effekte, die dieser Handel nicht nur für die jährlich mehreren Tausend leidvoll Verschleppten selbst hatte: innenpolitische Erosionen, Abwanderungsbewegungen und Verlust von Arbeitskraft – um nur einige zu nennen. Weil das Herrscherhaus des Kongo-Reichs diesen Handel in Anbetracht der inneren Erschütterungen mehr und mehr einschränkte, verlagerten die Portugiesen ihre Präsenz ab Mitte des 16. Jahrhunderts nach Süden. Indirekt aber wirkte sich der Sklavenhandel auch auf die Flussregion weiterhin destabilisierend aus, etwa durch die Verbreitung von Musketen. Konflikte im Grenzraum der kongolesischen und portugiesischen Herrschaftsbereiche mündeten 1665 in der Schlacht von Ambuila, nach der die siegreichen Portugiesen die Führungselite des Kongo-Reichs enthaupteten. Unter dem Druck von Thronfolgekonflikten zerfiel der Staat in einem Bürgerkrieg, der verheerende Hungersnöte und Fluchtbewegungen entlang des Flusses verursachte. An der Flussmündung sagte sich die Provinz Soyo vom Königreich los. Zwischen Soyo und Loango formierten sich zwei weitere Küstenstaaten, die ihre Konsolidierung dem Ausfuhrhandel verdankten: Ngoyo um den Hafen Cabinda und Kakongo um den Hafen Malemba. Diesen Handelskorridor steuerten ab dem späten 17. Jahrhundert vermehrt Schiffe von niederländischen, britischen, spanischen und französischen Kompanien an und brachen so die portugiesische Vormachtstellung. In den Häfen verstanden es die afrikanischen Mittelsmänner, ihre Machtposition gegenüber der des jeweils nominellen Staatsoberhaupts auszubauen. Die Lieferketten aus dem Landesinnern lebten von der Beteiligung vieler unterschiedlicher Akteure und der Nutzung diverser Transportverfahren. Den Stoßzahn eines Elefanten beispielsweise übergaben die Jäger – häufig sogenannte Pygmäen, also Angehörige kleiner Jäger- und Sammlergemeinschaften in den Wäldern – zunächst an Männer aus den umliegenden Dörfern, die ihn ans Ufer eines Nebenflusses trugen. Von dort gelangte er auf der Piroge eines Fischers an den Kongo, dann auf den Kanus wechselnder Zwischenhändler zu einem der Umschlagplätze am Malebo-Becken und schließlich mit einer Trägerkarawane in einen der Häfen. Komplizenhafte Wasserstraße Umgekehrt bewirkte die rasch wachsende Nachfrage in den Amerikas in den 1780er Jahren eine Erweiterung des Sklavenhandels bis an den mittleren und oberen Kongo. Unweit der Mündung avancierte die Flusssiedlung Boma zu einem bedeutenden Sklavenmarkt. Ungewiss bleibt allerdings, wie viele der mehr als fünf Millionen Menschen, die von Anfang des 16. bis Ende des 19. Jahrhunderts von der Westküste Zentralafrikas über den Atlantik verschleppt wurden, aus der Flussregion selbst kamen. Zunehmende Preiskonkurrenz begünstigte es, die Lieferketten in wenige lange statt in viele kurze Glieder aufzuteilen, um die Zahl der mitverdienenden Zwischenhändler zu verringern. Auf solche Ferntransporte spezialisierten sich die Bobangi. Sie ruderten die Gefangenen ab etwa 1800 vom oberen Flusslauf direkt zu Umschlagplätzen in Tio. Weil Versklavte aus dem Landesinnern gewöhnlich nicht schwimmen konnten, nutzten die Bobangi Flussinseln für die Nachtlager und unterbanden damit Fluchtversuche. Bezüge wie diese kommen in den Sinn, wenn Mujila die Geschichte des Flusses "eine schmutzige Wunde" nennt und dessen "komplizenhaftes Schweigen" beklagt: "um uns langfristig/Rechenschaft abzulegen/müßte der Fluß eine neue Sprache lernen/alle Namen der Leichen buchstabieren". Das Verbot des Sklavenhandels im britischen Imperium 1808 und die nachfolgenden Bestrebungen, dieses auf die übrigen Kolonialmächte auszuweiten, führten im Umland der Mündung zunächst zu einer Intensivierung jenes Handels. Denn weil die mächtigen Mittelsmänner die Entstehung europäischer Kolonialexklaven unterbunden hatten, fanden gerade brasilianische und spanisch-kubanische Sklavenschiffe in Boma und Cabinda verlässliche Alternativen zu den nun gesperrten Häfen. Das Importverbot für Sklavinnen und Sklaven in Brasilien (1850) und auf Kuba (1867) verlagerte die Verschleppung von Menschen aus dem Mündungsgebiet zunächst in den Bereich des Illegalen. Von Boma aus verteilte man die Versklavten auf Baracken an schlecht einsehbaren Flussarmen. Die Schiffe, die sie dort aufnahmen, konnten im ausströmenden Flusswasser rasch an Fahrt gewinnen und so ihr Risiko verringern, von der Royal Navy aufgegriffen zu werden. Als dieser Schmuggel in den 1870er Jahren wegen des steigenden Geschäftsrisikos zusammenbrach, war ein neuer, vor allem auf Elfenbein, Palmöl und Kautschuk fokussierter Ausfuhrhandel bereits im Entstehen begriffen. Dafür setzten europäische Unternehmen auf eigene Handelsniederlassungen ("Faktoreien") und Bootsflotten, was zu einem Umbruch der Macht- und Logistikstrukturen am unteren Kongo führte. Zu einem der bedeutendsten Handelsscharniere entwickelte sich die Niederlassung Banana auf einer Landzunge am Nordufer der Mündung. Die niederländische "Afrikaansche Handelsvereeniging" unterhielt dort ein Zwischenlager und baute zur Umgehung afrikanischer Mittelsmänner flussaufwärts ein Netz eigener Handelsposten auf. Das Geschäftsmodell erwies sich als überaus erfolgreich und zog weitere Niederlassungen nach sich, insbesondere von britischen Unternehmen. Koloniales Grenzwasser Für die Flussregion erwies sich die 1884/85 in Berlin ausgerichtete "Kongokonferenz" als Zäsur. Unter anderem verständigten sich die Regierungsvertreter von 13 europäischen Kolonialmächten sowie der Vereinigten Staaten darauf, die Souveränität der International Association of the Congo – einer Kapitalgesellschaft des belgischen Königs Leopold II. – über weite Teile des Kongobeckens anzuerkennen. Die Gesellschaft willigte im Gegenzug ein, das rohstoffreiche Gebiet als Freihandelskolonie für die Ausbeutung durch Unternehmen aller Nationen zu öffnen und dafür eine zollfreie Schifffahrt im gesamten Flusssystem zu gewährleisten. Der Kongo avancierte zu einem kolonialen Grenzwasser, über das sich ein Netz von Handels-, Militär- und Missionsstationen immer tiefer ins Landesinnere ausweiten sollte – und mit ihm ein System unreglementierter Raubwirtschaft. Karte des Kongo-Gebietes Ende des 19. Jahrhunderts (© Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt) Dampfboote waren in dieser Frontier-Konstellation eine Schlüsseltechnologie. Auf dem mittleren Kongo kamen sie erstmals 1881 zum Einsatz; die belgische "En Avant" war zu diesem Zweck über Land ans Malebo-Becken geschleppt worden. Begünstigt durch eine von Zwangsarbeitern errichtete Bahnverbindung von der Küste zum Handelsposten Léopoldville erhöhte sich die Zahl der Dampfboote auf diesem Flussabschnitt bis zur Jahrhundertwende auf 103. Die Technologie ermöglichte es europäischen Unternehmen, mit afrikanischen Transportspezialisten direkt zu konkurrieren. Ab 1891 ging der "Freistaat" Leopolds II. auch militärisch gegen kongolesische Händler vor, um sie als Logistikwettbewerber auszuschalten. Zugleich eröffnete die Dampfschifffahrt manchen Kongolesen neue Chancen. Auf den Booten konnten sie nicht nur als Träger und Holzfäller, sondern ab 1889 auch als Lotsen und Steuerleute arbeiten. Am Malebo-Becken, wo die per Zug angelieferten Bootsteile montiert wurden, bildete sich ein Arbeitsmarkt für Handwerker heraus. Und indem sich Flussgemeinschaften durch das Anbieten von Brennholz oder Arbeitskraft mit Dampferkapitänen verbündeten, stärkten sie ihre eigene Position im regionalen Handel. Derweil sicherte sich Frankreich rechtsseitig des unteren Flusslaufs die Souveränität über Gebiete, die es ab 1910 in die neu geschaffene Großkolonie "Französisch-Äquatorialafrika" eingliederte. Erstmals fiel dem Kongo damit die Funktion einer Territorialgrenze zu. Um den "Freistaat" in eine profitable Unternehmung zu verwandeln, zwangen die Obrigkeiten mittels Naturalsteuern und oft gnadenloser Gewalt die Bevölkerung im Umland der Flüsse zur Beschaffung des stark nachgefragten Naturkautschuks. Durch Zwangsarbeit und Gewaltexzesse sowie durch indirekte Effekte des Ausbeutungsregimes starben bis zu zehn Millionen Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongobeckens. Unter dem Druck wachsender Proteste in den Vereinigten Staaten und Europa gegen diese "Kongogräuel" trat Leopold II. die Kolonie 1908 an den belgischen Staat ab. Dieser ließ großflächige Plantagen- und Bergbaugebiete erschließen und für deren infrastrukturelle Anbindung weitere Bahnstrecken zur Umgehung von Stromschnellen anlegen. Die Neuordnung des "Congo Belge" nach den Maßgaben einer kolonialen Modernisierung stützte sich wesentlich auf Zwangsarbeit; in vielen Gebieten zerfielen infolge der Verschleppung von Männern zum Eisenbahnbau oder Armeedienst althergebrachte Sozialstrukturen. Träger enttäuschter Hoffnungen Da viele der Minen, die nach dem Ersten Weltkrieg das Rückgrat der Exportproduktion bildeten, im Süden der Kolonie weitab von schiffbaren Flüssen lagen, erweiterte die Administration die Verkehrsinfrastruktur um zusätzliche Bahnstrecken und ab den 1920er Jahren auch um Straßen und Flugplätze. Zumindest für die Ausfuhr mineralischer Rohstoffe büßte der Kongo seine Stellung als zentrale Verkehrsader ein. Im Osten der Kolonie führte ab 1939 die Kongolo-Brücke als erste Brücke über einen Quellfluss des Kongos. Neben den Arbeitersiedlungen in der Montanregion wuchs auch Léopoldville zusehends, nachdem es die belgische Exilregierung in London 1941 zur Hauptstadt erklärt hatte. Ausgehend von den Bars der durch westafrikanische Einwanderer geprägten Arbeiterviertel entwickelte sich eine neue Musikkultur, die afrikanische Einflüsse mit Jazz-Elementen und afro-kubanischen Stilrichtungen verband. Junge Musiker wie Wendo Kolosoy oder Henri Bowane, bald auch international rezipiert, begründeten den bis heute währenden Ruf der Flussmetropole als Schmelztiegel kultureller Kreativität. Dort auch verfasste der Schriftsteller Paul Lomami-Tshibamba seine 1948 erschienene Novelle "Ngando", die die Weltdeutung der Menschen am Fluss thematisiert und heute als Gründungswerk der kongolesischen Nationalliteratur gilt. Wie in anderen Teilen Afrikas nahm in "Congo Belge" der Widerstand gegen die Kolonialherrschaft zu, als der Zweite Weltkrieg die Verletzlichkeit der Kolonialmächte offenbarte. Erste massive Proteste ereigneten sich in der Montanregion und kulminierten 1941 im Streik von Élisabethville. Als 1959 auch Léopoldville von Unruhen erfasst wurde – angetrieben von der neuen Unabhängigkeitspartei Mouvement National Congolais, aufbegehrenden Jugendszenen und randalierenden Fußballfans –, sah sich die belgische Regierung zur Zusicherung der Unabhängigkeit innerhalb weniger Monate gezwungen. Die überhastete, kaum vorbereitete Dekolonisation sollte einen desaströsen Verlauf nehmen. Unmittelbar nach der Regierungsübernahme durch den gewählten Premierminister Patrice Lumumba am 30. Juni 1960 kam es zu Meutereien im Militär und zur Flucht des belgischen Verwaltungspersonals. Die Dynamik der so entfachten "Kongo-Krise" ist oft beschrieben worden; sie endete mit dem von westlichen Geheimdiensten unterstützten Staatsstreich des Offiziers Mobutu und der Ermordung Lumumbas. Indem Mobutu 1965 die exekutive und gesetzgeberische Gewalt an sich riss und sezessionistische Bestrebungen militärisch niederschlug, legte er den Grundstein für seine mehr als drei Jahrzehnte währende Diktatur. Welche Bedeutung trug in all dem der Fluss? Kongolesische Schriftsteller wie Maxime N’Debeka oder Sylvain Bemba beschworen sein verbindendes Potenzial als Bezugspunkt einer gemeinsamen Vergangenheit und Zukunft – ein Erinnerungsort, der ein politisches Zusammenwachsen Zentralafrikas symbolisieren könnte. Doch weil der zeitgleich als "Kongolesische Republik" in die Unabhängigkeit entlassene Nachbar am rechten Flussufer die Sezession der Provinz Katanga unterstützte, verfestigte sich die Grenzfunktion des Gewässers – wiederholt wurde der Fährverkehr zwischen "Congo-Léo" und "Congo-Brazza" eingestellt. Panafrikanische Hoffnungen auf eine Union der Flussanrainerstaaten wurden enttäuscht. Eine weitere Herausforderung für eine Flussbiografie scheint hier auf: den Emotionen nachzugehen, die Menschen mit dem Kongo verbanden. Als Schritte einer dekolonialen retour à l’authenticité benannte Mobutu 1971 den Staat in Republik Zaïre und den Fluss in Zaïre um. Tatsächlich handelte es sich bei "Zaïre" um eine alte portugiesische Bezeichnung, wohl eine Abwandlung von "Nzadi", einem Kikongo-Ausdruck für den Fluss. Auch ökonomisch brach Mobutus Politik nur bedingt mit kolonialen Verhältnissen und gewährleistete die fortgesetzte Ausbeutung mineralischer Rohstoffe für Industrienationen – mit dem nicht unbedeutenden Unterschied, dass ein erheblicher Teil der Erlöse nun an den Staatschef und seine Gefolgsleute floss. Gegen den Dogmatismus des Mobutu-Regimes, das der Bevölkerung auch eine postkoloniale Einheitskleidung vorschrieb, trugen in Kinshasa – so der neue Name des vormaligen Léopoldville – ab den 1970er Jahren die Sapeurs Designermode und elegante Frisuren zur Schau. Beeinflusst von der Big Band "Zaïko Langa Langa" untermauerte diese Stilkultur den Ruf von Kinshasa als "Trendmeile" Zentralafrikas. Auch verhalf der 1974 ausgetragene Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman der Flussmetropole zu weltweiter Aufmerksamkeit. Um Elektrizität für die urbanen Zentren am Kongo und die Minen im Süden zu erzeugen, ließ Mobutu an den Inga-Fällen am unteren Flusslauf zwei Dämme mit angeschlossenem Wasserkraftwerk errichten, fertiggestellt 1972 und 1982. In unmittelbarer Nähe, bei Matadi, entstand von 1979 bis 1983 mit japanischer Hilfe eine zweite Brücke über den Kongo. Aufgrund der oft grausamen Repression gegenüber Oppositionellen und einer dramatischen Verarmung der Bevölkerungsmehrheit verlor das kleptokratische Regime in den 1980er Jahren rapide an Rückhalt. Als Mobutu mit dem Ende des Kalten Kriegs auch die Unterstützung des Westens einbüßte, drängten eine zivilgesellschaftliche Demokratiebewegung sowie kirchliche, militärische und regionalistische Kräfte auf seinen Sturz. Diesen vollbrachte 1997 eine von Ruanda und Uganda unterstützte Rebellenallianz unter Führung des alten Mobutu-Rivalen Laurent-Désiré Kabila. Der Fluss erhielt den Namen Kongo zurück, und der Staat heißt seither Demokratische Republik Kongo. Demokratisierung und wirtschaftliche Erholung blieben jedoch aus. Schon 1998 wurden weite Teile des Kongobeckens erneut zum Kriegsschauplatz, als Milizen aus den östlichen und nördlichen Provinzen gegen die Regierung Kabilas rebellierten. In rascher Folge intervenierten Ruanda und Uganda – diesmal gegen Kabila –, dann Angola, Simbabwe und zahlreiche weitere afrikanische Staaten auf Regierungsseite. Erst nach einem Attentat auf Kabila gelang 2002 die Durchsetzung eines Friedensabkommens. Bleibender Friede hat sich in der Flussregion damit nicht eingestellt. Vor allem in der östlichen Provinz Nord-Kivu tragen Regierungstruppen und Milizen bis heute bewaffnete Konflikte aus. Teilnehmender Zeuge "was für ein Fluch/nur dabei zu sein/ohne zu altern/im Mief der Zeit", kommentiert Mujila die "Einsamkeit" des Kongos. Doch ist der Fluss bloß dabei gewesen wie ein stummer, wenn auch zuweilen ohrenbetäubend lauter Zeuge? Oder lässt sich im Kongo ein historischer Ko-Akteur erkennen, der den Menschen Bedingungen vorgab, sie zu Handlungen veranlasste, in ihre Vorhaben eingriff, ihnen Reaktionen abverlangte und in all dem regulierte, was sie tun konnten und was nicht? Lenkt ein Fluss nur das Wasser in Bahnen oder auch die Lebenswege von Menschen? Neben diesen Fragen müsste eine Flussbiografie auch das von Mujila bezweifelte Altern und den Tod des Kongos behandeln. Für einen Nachruf ist es erfreulicherweise zu früh. Doch aktuelle Entwicklungen drohen zumindest das Leben im Fluss zu gefährden, allen voran die Planungen für das Wasserkraftwerk "Inga III". Sollte das seit den 1990er Jahren vorbereitete Mega-Infrastrukturprojekt Wirklichkeit werden, käme es einem Todesurteil für viele wandernde Fischarten gleich – und dies wäre nur eine von vielen zerstörerischen Folgen. Auf den Fluss wirkt sich heute auch das anhaltend hohe Bevölkerungswachstum aus, das weithin als strukturell bedeutendste Entwicklung im Kongobecken gilt – statistisch bringt jede Frau sechs Kinder zur Welt. Da sich die rasch wachsenden Städte über das dünne Straßennetz kaum versorgen lassen, nimmt der Flussverkehr mit Pirogen, dieselbetriebenen Schubbooten und Walbooten (Baleinières) zu. Letztere füllen die Lücke, die der korruptionsbedingte Niedergang der staatlichen Postschifffahrt in den 1990er Jahren hinterlassen hat. Mit Blick auf die Zukunft verdient in Anbetracht der Covid-19-Pandemie ein weiteres Problem Aufmerksamkeit: Ähnlich wie am Amazonas oder am Jangtse erhöht das demografiebedingte Vordringen der Bevölkerung in tropische Urwälder das Risiko von Zoonosen, also Übertragungen von bislang unter Wildtieren verbreiteten Krankheitserregern auf Menschen. In den vergangenen Jahrzehnten sind die meisten Epidemien und Pandemien neuartiger Infektionskrankheiten solchen Konstellationen entsprungen, neben Covid-19 oder HIV auch das zuerst an einem Nebenfluss des Kongos identifizierte Ebola-Fieber. Immerhin: Mit der Beendigung der Ebola-Epidemien in den östlichen und zentralen Regionen gelang der Demokratischen Republik Kongo 2020 einer der größten Erfolge ihrer jüngeren Geschichte. Und doch ist es wahrscheinlich, dass der Konnex zwischen Waldzerstörung, Artensterben und neuen Seuchen im Kongobecken weitere Krisen hervorbringen wird. Anzunehmen ist auch jenseits von Worst-Case-Szenarien jedenfalls eines: Die Lebensumstände in Zentralafrika werden auch zukünftig eng mit dem Fluss verwoben bleiben. Karte des Kongo-Gebietes Ende des 19. Jahrhunderts (© Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt) Für eine überzeugende Geschichte des Nils vgl. Terje Tvedt, Der Nil, Berlin 2020. Vgl. exemplarisch Tim Butcher, Blood River, London 2007. Vgl. Pierre Halen, Narratives of Empire: (Post)colonial Congo, in: Prem Poddar et al. (Hrsg.), A Historical Companion to Postcolonial Literatures, Edinburgh 2008, S. 42–47. Susanne Rau, Fließende Räume oder: Wie läßt sich die Geschichte des Flusses schreiben?, in: Historische Zeitschrift 1/2010, S. 103–16. Für einen afrikanischen Fluss vgl. etwa Jacklyn Cock, Writing the Ancestral River: A Biography of the Kowie, Johannesburg 2019. Fiston Mwanza Mujila, Le Fleuve dans le ventre/Der Fluss im Bauch, Ottensheim 2013. Vgl. Robert W. Harms, River of Wealth, River of Sorrow, New Haven–London 1981, S. 17ff.; John Iliffe, Geschichte Afrikas, München 20032, S. 27, S. 50. Tchicaya U Tam’si, Feu de brousse/Buschfeuer; A triche-cœur/Falsches Herz, Aachen 1997, S. 169ff. Vgl. Michael Pesek, Das Zentrale Afrika in vorkolonialer Zeit, in: Dieter H. Kollmer/Torsten Konopka/Martin Rink (Hrsg.), Zentrales Afrika, Paderborn 2015, S. 29–41, hier S. 29f. Vgl. Harms (Anm. 7), S. 10f., S. 15–17. Zu Loango vgl. Phyllis M. Martin, The External Trade of the Loango Coast, 1576–1870, Oxford 1972; zu Tio und weiteren Staaten im Landesinnern Jan M. Vansina, Paths in the Rainforests, Madison 1990. Zum Königreich Kongo vgl. David Birmingham, Trade and Conquest in Angola, Oxford 1966. Vgl. David Birmingham, Central Africa to 1870, Cambridge u.a. 1981, S. 43; Elikia M’Bokolo, From the Cameroon Grasslands to the Upper Nile, in: Bethwell A. Ogot (Hrsg.), Africa from the Sixteenth to the Eighteenth Century, Paris u.a. 1999, S. 259–272, hier S. 268; Iliffe (Anm. 7), S. 110f. Vgl. Birmingham (Anm. 13), S. 26. Vgl. ebd., S. 43, S. 52f.; Malyn Newitt, The Portuguese in West Africa, 1415–1670, Cambridge u.a. 2010, S. 163. Vgl. Birmingham (Anm. 13), S. 34f. Vgl. John K. Thornton, Warfare in Atlantic Africa, 1500–1800, London 1999, S. 102f. Vgl. exemplarisch für Cabinda Martin (Anm. 11), S. 68, S. 76–85. Vgl. Harms (Anm. 7), S. 3ff., S. 41. Vgl. ebd., S. 4, S. 27f.; Trans-Atlantic Slave Trade Database, Externer Link: http://www.slavevoyages.org/assessment/estimates. Vgl. Birmingham (Anm. 13), S. 72; Harms (Anm. 7), S. 4, S. 28, S. 38. Mujila (Anm. 6), S. 59, S. 63. Vgl. Harms (Anm. 7), S. 28f.; Joseph C. Miller, Way of Death: Merchant Capitalism and the Angolan Slave Trade, 1730–1830, Madison 1988, S. 514f. Vgl. Birmingham (Anm. 13), S. 147. Vgl. Wyatt MacGaffey, Ethnography and the Closing of the Frontier in Lower Congo, 1885–1921, in: Africa: Journal of the International African Institute 3/1986, S. 263–279, hier S. 263. Vgl. Birmingham (Anm. 13), S. 148. Vgl. William J. Samarin, The Black Man’s Burden: African Colonial Labor on the Congo and Ubangi Rivers, 1880–1900, Boulder 1989, S. 153f. Vgl. Birmingham (Anm. 13), S. 154; Harms (Anm. 7), S. 6. Vgl. Samarin (Anm. 27), S. 154, S. 156, S. 161. Zur Geschichte des "Freistaats" vgl. Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo, Stuttgart 2000. Für einen konzisen Überblick zur Geschichte der Region im 20. Jahrhundert vgl. Achim von Oppen, Mitte Afrikas, am Ende der Welt?, in: Zur Debatte 3/2008, S. 1–5. Vgl. Gary Stewart, Rumba on the River, London–New York 2000, S. 15. Für einen ausgezeichneten Überblick vgl. David Van Reybrouck, Kongo, Berlin 2013, S. 333–392. Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, Der Irrtum der Geburt, Nachwort in: Tchicaya U Tam’si, Böses Blut/Le mauvais sang, Aachen 1993, S. 85. Vgl. Stewart (Anm. 32), S. 101. Vgl. ebd., S. 170f. Vgl. Peter Forbath, The River Congo, New York u.a. 1977, S. xi. Vgl. Ch. Didier Gondola, Dream and Drama: The Search for Elegance among Congolese Youth, in: African Studies Review 1/1999, S. 23–48; Stewart (Anm. 32), S. 308f. Vgl. Dominic Johnson, Kongo: Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens, Frankfurt/M. 20092. Mujila (Anm. 6), S. 97. Vgl. Peter Lambertz, Whales in the Congo River?, 2.3.2018, Externer Link: https://trafo.hypotheses.org/9146.
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, Felix Schürmann
"2021-12-02T00:00:00"
"2021-03-17T00:00:00"
"2021-12-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wasser-2021/328635/kongo-konturen-einer-flussbiografie/
Während der Nil meist als sagenumwobene "Lebensader" beschrieben wird, muss der Kongo allzu oft für Krisenerzählungen von Kriegen, Krankheiten und Korruption herhalten. Doch seine Geschichte und die der an ihm lebenden Menschen ist wesentlich vielfäl
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Thematische Verortung in Politik und politischer Bildung | Fachtagung "Demokratie und der Streit um Werte" | bpb.de
Jürgen Wiebicke (© Ast/Juergens) Der Begriff Krise ist derzeit in aller Munde. Ob "Eurokrise" oder "Migrationskrise" - unabhängig von der wirklichen Existenz der Krisen kursiert ein Gefühl der Unsicherheit. Wie ist mit dem aus diesem Gefühl erwachsenen "Ruf nach Werten" umzugehen? Diese Frage stehe im Fokus der Fachtagung, sagte Jürgen Wiebicke, der die Teilnehmenden als Moderator durch den Tag führte. Ist die Schule nur noch als Maschinerie der Wertevermittlung zu verstehen? Gilt es zu lernen, ein Bürger zu sein? Für Thomas Krüger, Präsident der bpb, ist Schule ein Instrument der Persönlichkeitsbildung. Philosophie etwa diene u.a. der Urteilsbildung. Diese sei eng mit einem pluralen und heterogenen Gemeinwesen verbunden, da dort das individuelle Denken eingebracht werden müsse. Er benannte hier die Schnittstelle von Philosophie und politischer Bildung. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf wurde betrachtet, ob Annäherungen auf dem Weg der politischen (Bildungs-)Praxis Klarheit verschaffen können. Oberbürgermeisterin von Köln Henriette Reker (© Ast/Juergens) Politische Praxis? Es kursiere das Gefühl, dass unsere Werte (z.B. Demokratie und Redefreiheit) in Gefahr seien. Henriette Reker, Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, führte in ihrer Eröffnungsrede weiter aus, dass die Festnahmen in der Türkei und die steigende Anzahl der Rechtspopulisten dafür evident seien. Die (internationalen) Prozesse des Wandels forderten die Gesellschaft heraus. "Wir brauchen eine Antwort" bzw. anders gefragt: Welche Werte sind unabdingbar? Viele Menschen seien wütend, wobei ein großer Teil sich auch einbringen wolle, berichtete Reker aus ihrem Wahlkampf. Da die Menschen die Politik nicht mehr 'den Politiker/innen' überlassen wollen, könne man auch "nicht mehr per Dekret regieren". Die Partizipationsmöglichkeiten reichten jedoch nicht aus. Sie verwies auf die "Externer Link: Leitlinien zur Bürgerbeteiligung", deren Grundlage ein Beschluss des Stadtrats vom 12. Mai 2015 war. Die Leitlinien wurden in ihrer aktuellen Amtszeit "unter breiter Beteiligung der Kölner Öffentlichkeit" entwickelt. Populisten hätten die Unsicherheit ausgenützt, die nach der Silvesternacht in Köln in Bezug auf 'unsere Werte' herrschte. Sie führte aus, dass sie in Bezug auf die Veranstaltungen des Präsidenten der Türkei, die in einer Demokratie gegen Demokratie warben, mit weiteren Wertedebatten konfrontiert gewesen sei. Der Versammlungsfreiheit müsse trotzdem immer das Primat erteilt werden. Das gelte auch in Bezug auf den AfD-Parteitag. Wobei dies nicht hieße, dass Meinungsfreiheit mit Widerspruchsfreiheit gleichzusetzen sei. Eindrücklich demonstrierte Köln an diesem Tag eine hellwache Stadtgesellschaft. Die Stadt lebe von einem gleichberechtigten Miteinander, was sich an Bewegungen wie Pulse of Europe oder Checkpoint Demokratie gut illustrieren lasse. Präsident der bpb Thomas Krüger (© Ast/Juergens) Die Rolle der politischen Bildung Zur zweiten Verortung der Tagung in einem nicht explizit philosophischen Feld sprach Thomas Krüger (die Rede im Wortlaut finden Sie Interner Link: hier) über den Wertediskurs in der politischen Bildung. Wie sieht die Praxis in der politischen Bildung aus? Wie lassen sich Bildungsziele legitimieren? Die Debatte um Wertevermittlung sei in der politischen Bildung umkämpft. Es stehe nur fest, dass Werteerziehung nie von oben oktroyiert werden dürfe, wie die schmerzlichen Erfahrungen der deutschen Vergangenheit bewusst machen. Als unumstrittene Metawerte ließen sich nur die Werte identifizieren, die in Verbindung zur Menschenwürde stehen. Daraus könne man einige Grundwerte deduzieren, wobei deren Gewichtung stark umstritten sei. Es gelte Kontroversität in den Debatten auch in der politischen Bildung kontrovers zu präsentieren. Dem politischen Philosophen John Rawls folgend, müsse die eigene Selbstverwirklichung zudem immer mit der Freiheit der Anderen in Einklang gebracht, bzw. vereinbar gemacht werden. Der Rahmen dieser politischen Diskurse solle durch die politische Bildung reflektiert und mit Impulsen versorgt werden. Tagungspublikum (© Ast/Juergens) Dürfen unerwünschte Positionen ignoriert werden? Ist das Ignorieren von unerwünschten Positionen/Haltungen, wie es Jürgen Habermas gegenüber der "rechten Revolte" vertritt, legitim? "Nur die Dethematisierung gräbt Rechtspopulismus das Wasser ab", der Populismus lenke von den 'wahren' Problemen ab. Es gehe darum, die Handlungsmacht gegen die Globalisierung zurück zu erlangen (Habermas). Luhmann bringt in einem anderen Zusammenhang einen ähnlichen Gedanken ein: man müsse 'Aufregungsschäden' vermeiden. Diese Strategien können legitim sein. Krüger sagte, dass es jedoch auch sein könne, dass faschistische Tendenzen gestärkt würden. Des Weiteren sei die Thematisierung in den Medien von anderer Qualität als in der Bildung. In der Thematisierung im Rahmen der Bildung liege das Potential der kritischen Distanz, es brauche Thematisierung. Helfen könne transkulturelle Bildung, da diese zur Relativierung der eigenen Sicht durch Mittel des Austausches führe. Die Abgrenzung zu interkultureller Bildung sei entscheidend, da letztere 'geschlossene Kulturen' annehme. Dekolonialisierung, u.a. also "sich selbst durch Wissen infrage zu stellen", sollte das eigentliche Ziel der politischen Bildung sein. Heute werde das asymmetrische Verhältnis in der Bildung nicht genug reflektiert. Dies hänge damit zusammen, dass z.B. die Frage "wer bildet wen?" für Debatten über Machtverhältnisse sorge. Transkulturelle Bildung versuche Asymmetrie und Machtverhältnisse bewusst zu machen und zu relativieren. Bildung dürfe keine Hoheitsaufgabe sein. In Bezug auf den Bildungsauftrag bzw. die damit verbundene Menschenrechtsbildung heißt das, dass beide nicht auf globaler Ungleichheit beruhen können. Konflikt- und Utopiefähigkeit ist für einen Wandel entscheidend. Die Utopie fungiere als Handlungsquelle von Veränderung, die im Alltag (z.B. in Schulen etc.) beginne und nicht an heilbringende Subjekte geknüpft sei, sondern an jeden! Jürgen Wiebicke (© Ast/Juergens) Oberbürgermeisterin von Köln Henriette Reker (© Ast/Juergens) Präsident der bpb Thomas Krüger (© Ast/Juergens) Tagungspublikum (© Ast/Juergens)
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Simon Clemens
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-07-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/252579/thematische-verortung-in-politik-und-politischer-bildung/
Am 7. Juni 2017 öffnete das COMEDIA Theater Köln seine Türen zum zweiten Mal für die über 350 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachtagung, die im Zuge der phil.cologne, dem Internationalen Festival der Philosophie, abgehalten wurde. Die Tagung, die
[ "Veranstaltungsdokumentation", "Demokratie", "Wertediskurs" ]
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Zwischen Marktradikalität und sozialer Missgunst:Die Tea Party und ihre Anhänger | USA | bpb.de
Einleitung Wohl kaum eine Bewegung hat die politische Agenda der USA in den vergangenen Jahren so bestimmt wie die Tea Party. Nach den Erfolgen bei den Vorwahlen (primaries) und den Zwischenwahlen (midterm-elections, Wahlen zum Kongress) 2010 hat sie im parlamentarischen Alltagsgeschäft des 112. Kongresses keineswegs an politischer Kraft eingebüßt - auch wenn sich jüngst bei Umfragen ein leichter Abwärtstrend abzeichnet. Bei den Verhandlungen um die Erhöhungen der Schuldengrenze im Juli und August 2011 zeigten sich ihre Vertreter unnachgiebig und durchsetzungsstark. Sie torpedierten Kompromisse zwischen dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, und Präsident Barack Obama und forderten radikale Einschnitte im Bundeshaushalt. Schließlich setzten sie ein Sparpaket von mindestens 2,1 Billionen US-Dollar durch und verhinderten jegliche Steuererhöhungen, auf die Obamas Demokraten bis zuletzt gepocht hatten. Mitch McConnell, der republikanische Fraktionsführer im Senat, erklärte die Tea Party zum "Sieger in dieser Schlacht". Die "Tea Party tidal wave", von der der Senator Rand Paul am Rande der midterm-elections 2010 sprach, zeigt ohne Zweifel Wirkung. Es ist zu erwarten, dass die Tea Party auch in Zukunft die politische Agenda, die Ausrichtung der Grand Old Party (der Republikaner) und möglicherweise auch den republikanischen Präsidentschaftskandidaten mitbestimmen wird. Die Bewegung gewinnt aber auch deswegen an Relevanz für den politikwissenschaftlichen wie öffentlichen Diskurs, weil sie aufzeigt, wie weit die gesellschaftliche Polarisierung in den USA vorangeschritten ist. Obwohl die Tea Party den Begriff im Namen trägt, ist sie nicht als Partei zu bezeichnen: Sie hat keine Parteiführung, keinen gewählten Vorstand, keine Satzung und keine hierarchische Organisation, sondern besteht aus lose miteinander verbundenen Gruppen, die sehr heterogen sind. Umso erstaunlicher ist es, dass es ihr gelungen ist, erheblichen Druck auf die Entscheidungsträger in Washington auszuüben. Doch was treibt die Anhänger an, und wie haben sie es geschafft, sich in relativ kurzer Zeit zu einer bedeutenden Kraft im amerikanischen politischen System zu entwickeln? Entstehung der Bewegung Die Tea Party entstand im Frühjahr 2009 als Reaktion auf legislative Vorhaben, die die USA aus der Wirtschaftskrise führen sollten, wie der Emergency Economic Stabilization Act (2008) oder der American Recovery and Reinvestment Act (2009). In Erinnerung an den amerikanischen Widerstand gegen die britische Kolonialpolitik (Boston Tea Party, 1773) fanden im Februar 2009 die ersten Treffen von politischen Aktivisten statt. "Tea" steht dabei auch als Abkürzung für taxed enough already, was eine zentrale Forderung der Bewegung zusammenfasst. Die Tea Party artikuliert zugleich Positionen, die seit der Amerikanischen Revolution eine zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs gespielt haben. So ist etwa die Auseinandersetzung zwischen federalists und anti-federalists um die Frage, wie Bundes- und Staatenebene auszutarieren sind, so alt wie die USA selbst. In gewisser Weise folgen die Tea-Party-Anhänger hier der Argumentation der frühen Präsidenten Thomas Jefferson und James Madison, die grundsätzliche Bedenken gegenüber einer starken Bundesebene hegten. Gleichzeitig weist die Tea Party aber auch Merkmale auf, die sie in eine Reihe mit Bewegungen wie die American Liberty League oder die John Birch Society stellt. Insbesondere seit den als New Deal bekannt gewordenen Wirtschafts- und Sozialreformen von Franklin D. Roosevelt während der Großen Depression in den 1930er Jahren haben unterschiedliche Gruppen eine Rückkehr zu begrenzter Bundesstaatlichkeit (limited government) propagiert. Was neben der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Obama-Administration den Auslöser für das Entstehen der Tea Party darstellt, lässt sich schwer rekonstruieren. Zweifellos hatte die im Fernsehkanal CNBC ausgestrahlte Brandrede des Kommentators Rick Santelli im Februar 2009 eine katalysierende Wirkung. Er kritisierte, dass die Regierung mit der Unterstützung für in Not geratene Schuldner (mortgage plan) schlechtes Verhalten belohnen würde und erzeugte damit eine beispiellose Resonanz: Zahllose lokale Protestveranstaltungen wurden organisiert, die im September 2009 in einen großen taxpayers-Protestmarsch mündeten. Der politische Aufstieg dieser Bewegung, die "The Economist" im Januar 2010 als "America's most vibrant political force" einstufte, vollzog sich rasant. Erste nationale Organisationen wie die Tea Party Patriots oder Tea Party Nation gründeten sich bereits im Frühsommer 2009. Elektrisierend wirkte für die gesamte Bewegung die Gesundheitsreform (Patient Protection and Affordable Care Act sowie Health Care and Education Reconciliation Act), die Obama 2010 gegen zahlreiche Widerstände durchgesetzt hatte. Vor allem von der Versicherungspflicht, die das Gesetz vorsieht und dem Staatsverständnis der Tea-Party-Anhänger grundlegend widerspricht, sind mobilisierende Effekte ausgegangen. Profil der Tea-Party-Anhänger Eine seit April 2010 fortlaufende Erhebung der "New York Times" und CBS News (National Survey of Tea Party Supporters, NSTP) zeigt, dass die Tea Party nennenswerte Unterstützung aus der Bevölkerung erfährt. Im Durchschnitt stuften sich bis zum Juli 2011 rund 23 Prozent der Bürger als Unterstützer ein. Allerdings ist dieser Wert allein im August 2011 um acht Prozentpunkte gefallen, was durchaus auf das kompromisslose Auftreten der Tea-Party-Vertreter während der Verhandlungen um die Anhebung der Schuldengrenze zurückzuführen ist. Innerhalb des Lagers der Anhänger ist zwischen passiven und aktiven Mitgliedern zu unterscheiden: Nur ungefähr 20 Prozent der Unterstützer oder vier Prozent aller Amerikaner haben schon einmal Geld für die Tea Party gespendet oder an einem Treffen teilgenommen. Der Anteil der Aktiven fällt somit - und das ist typisch für soziale Bewegungen und Parteien - deutlich geringer aus. Wie unterscheiden sich nun die Tea-Party-Anhänger von der übrigen Bevölkerung? Wie sind ihre Motive zu charakterisieren? Die Tea Party reklamiert zwar, dass sie eine überparteiliche Bewegung sei, die sowohl gegenüber den Demokraten als auch den Republikanern eine kritische Distanz wahrt. Ein Blick auf das Profil der Anhänger zeigt aber, dass ihre Anhänger keineswegs politische Neutren sind, sondern überwiegend der Republikanischen Partei zuneigen. Nach den Umfragen des Instituts Greenberg Quinlan Rosner trifft dies für 86 Prozent der Tea-Party-Anhänger zu. 79 Prozent stufen sich selbst als Konservative ein. Hinsichtlich des demografischen Profils ist anzumerken, dass die Tea-Party-Anhänger deutlich älter als die Gesamtbevölkerung, zumeist Männer (59 Prozent) und überwiegend weiß sind (89 Prozent). Nur ein Prozent sind Afroamerikaner. Ferner ist charakteristisch, dass sie religiöser sind als der Durchschnitt: Während 27 Prozent der Gesamtbevölkerung angeben, einmal in der Woche den Gottesdienst zu besuchen, liegt der Anteil bei den Tea-Party-Vertretern mit 38 Prozent deutlich höher. Politische Beobachter machen aus, dass die Religion zumindest bei der Basis der Tea Party eine wesentlich größere Rolle spielt, als die führenden Akteure dies glauben machen wollen. Innerhalb der Tea Party manifestiert sich nicht nur die Strömung des marktliberalen, sondern auch die des christlichen Konservativismus. Letztere ist hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen: Die Politikwissenschaftler David E. Campbell und Robert D. Putnam haben beginnend mit dem Jahr 2006 über 3000 US-Amerikaner interviewt und ihre Entwicklung mit wiederholten Befragungen nachvollzogen. Anhand dieser Panelstudie zeigt sich, dass die Religiosität der Befragten ausschlaggebend für eine spätere positive Haltung gegenüber der Tea Party war. Aus den Umfragedaten des NSTP ergibt sich ein weiterer interessanter Befund: Der Erfolg der Tea Party lässt sich nicht allein durch wirtschaftliche Abstiegsängste erklären. Die Anhänger unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht signifikant vom Rest der Bevölkerung. Politische Ansichten der Anhängerschaft Traditionell besteht in den USA ein starkes Misstrauen gegenüber den bundesstaatlichen Institutionen; dieses ist bei den Tea-Party-Anhängern besonders stark ausgeprägt: 96 Prozent von ihnen lehnen es ab, wie der Kongress arbeitet. Jeder zweite beschreibt seine Haltung gegenüber "Washington" als wütend (angry). Diese ausufernde und zum Teil irrationale Wut ist ein zentrales Identitätsmerkmal der Bewegung. Die Unzufriedenheit manifestiert sich auch darin, dass 92 Prozent der Tea-Party-Anhänger der Ansicht sind, dass die USA den falschen Weg (wrong track) eingeschlagen haben. Im Vergleich mit den Republikanern zeigt sich, dass die Zustimmung zu bestimmten pointierten politischen Statements unter den Tea-Party-Anhängern zum Teil deutlich höher ist (siehe Tabelle der PDF-Version). Dies gilt unter anderem für die Einwanderungspolitik, die Wirtschafts- und auch die Klimapolitik. Politisch von verheerender Wirkung ist, dass eine Zweidrittelmehrheit der Tea-Party-Anhänger den Klimawandel vollkommen ignoriert. Auch bei den Fragen, ob Abtreibungen ermöglicht oder die Waffenkontrollgesetze gelockert werden sollen, zeigen sich Zustimmungsunterschiede zwischen Tea-Party-Anhängern und Republikanern, während gleichgeschlechtliche Ehen in beiden Gruppen ähnlich bewertet werden. Bemerkenswert ist, dass sich die Wut - und vielfach auch der Hass - der Tea-Party-Anhänger auf Präsident Barack Obama konzentriert. Dies lässt sich nur bedingt dadurch erklären, dass er für die Verschuldung oder wirtschaftspolitische Interventionen verantwortlich gemacht wird. Denn es war schließlich sein Vorgänger George W. Bush, der mit dem Afghanistan- und dem Irak-Krieg einen erheblichen Teil der Staatsverschuldung mitverursacht und mit dem Emergency Economic Stabilization Act ebenso das Finanzsystem unterstützt hat. Die Abneigung gegenüber Obama geht deutlich über Gründe hinaus, die mit makroökonomischen Strukturdaten zusammenhängen: 73 Prozent der Tea-Party-Anhänger sagen, dass Obama ihre Bedürfnisse und Probleme nicht verstehe, 75 Prozent sind sogar der Ansicht, dass er die Werte der meisten Amerikaner nicht teilen würde. Die Tatsache, dass die Bewegung erst mit dem Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten ins Leben gerufen wurde, zeigt, dass Obama eine Reizfigur für die Tea Party darstellt: Er symbolisiert ein Amerika, dass die Anhänger ablehnen. Sie unterstellen ihm hartnäckig, dass er nicht christlichen, sondern muslimischen Glaubens sei und bestreiten die Echtheit seiner amerikanischen Geburtsurkunde. Von prominenten Akteuren wie der Senatskandidatin Christine O'Donnell ist er gar schon als "anti-American" denunziert worden. Es ist zu vermuten, dass vor dem Hintergrund der demografischen Veränderungen und dem sinkenden Anteil der weißen (non-hispanic) Bevölkerung gerade die Wahl eines afroamerikanischen Präsidenten Furcht vor dem Verlust von Statusprivilegien ausgelöst hat. Es ist nicht nur die Furcht vor ökonomischem Abstieg, sondern vor dem Verlust von kultureller Suprematie, die den Kern der Bewegung darstellt. Die Anhänger haben das Gefühl, dass Obama ihnen "ihr" Amerika wegnimmt. Dass 92 Prozent der Tea-Party-Anhänger annehmen, dass Obamas Politik zum "Sozialismus" führen wird, drückt also zum einen sicherlich Bedenken hinsichtlich der staatlichen Sanierungspläne in der Wirtschaftskrise aus, zum anderen zeigt es, dass sie Obama als Fremdkörper begreifen und als gegensätzlich zu ihrer eigenen Identität empfinden. In der Öffentlichkeit dominiert jedoch der wirtschaftspolitische Diskurs. Die Tea Party vertritt hier einen limited-government-Konservativismus, wobei die Glaubwürdigkeit dieser Position bisweilen angezweifelt wird. Laut NSTP bezieht fast jeder zweite Tea-Party-Anhänger (oder eine bei ihm im Haushalt lebende Person) Leistungen vom Staat. 62 Prozent von ihnen erachten diese Programme als wertvoll. Unter denjenigen, die Leistungen bekommen, ist die Zustimmung noch deutlich höher (72 Prozent) - dabei sind diese Programme auch Teil des big government, das von der Tea Party immerfort kritisiert wird. Qualitative Erhebungen im Bundesstaat Massachusetts zeigen, dass die Tea-Party-Anhänger eine differenzierte Haltung gegenüber den bundesstaatlichen Programmen einnehmen, die keinesfalls so eindeutig sind, wie manch standardisierte Umfrage vermuten lässt. Die Anhänger stufen sich selbst als worker, als produktive Menschen ein, die sich gemäß ihrer eigenen Wahrnehmung die sozialstaatlichen Ansprüche durch lebenslanges Arbeiten verdient haben. Genau diesen Verdienst sprechen sie anderen Bevölkerungsgruppen ab - insbesondere Immigranten und auch Menschen jüngerer Bevölkerungskohorten, die aufgrund demografischer Veränderungen ethnisch unterschiedlicher sind. Der Kampf gegen die Bundesprogramme gründet in der Befürchtung, diese Gruppen würden davon profitieren: Insbesondere die allgemeine Versicherungspflicht, die in Obamas Gesundheitsreform enthalten ist, hat die Furcht der Tea-Party-Anhänger geschürt, dass die Sozialprogramme, die bisher älteren Menschen vorbehalten waren, auf weitere Bevölkerungsschichten ausgeweitet würden. Es passt durchaus ins Bild, dass die Tea-Party-Anhänger kritisieren, dass sich die gegenwärtige Administration zu sehr um die Belange der schwarzen Bevölkerung gekümmert habe. Die Ergebnisse zeigen ein differenziertes Bild: Nicht alle Tea-Party-Sympathisanten sind ausschließlich als Anhänger einer orthodoxen Marktlehre einzustufen. Vielmehr vermengen sich wirtschaftspolitische Haltungen mit anderen Motiven - etwa der Aversion gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen, eines spezifischen Verständnisses des individuellen Verdienstes, das durch rassistisch unterlegte Stereotype beeinflusst wird, der Furcht vor einem kulturellen Wandel des Landes und der nostalgischen Verklärung des Amerikas des 18. Jahrhunderts. Aus dieser weltanschaulichen Melange erklärt sich die Abneigung gegenüber der Obama-Administration und der Ausweitung bundesstaatlicher Programme. Das Psychogramm der Tea-Party-Anhänger ist damit komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Organisationen wie FreedomWorks oder die Tea Party Patriots versuchen naturgemäß, ein vorteilhafteres Bild der Bewegung zu zeichnen und heben viel stärker auf die abstrakten Prinzipien der liberalen Marktwirtschaft und die vermeintlichen Intentionen der Gründerväter ab. Hinsichtlich der Vermarktung der Bewegung haben die Tea-Party-Anhänger damit eine geschickte Strategie gewählt. Graswurzelbewegung oder top-down-Organisation? Zur Frage, wie sich die Aktivisten der Tea Party vernetzen und ihrer politischen Bewegung damit Dynamik und Durchschlagskraft verleihen, ist zunächst festzustellen, dass sich ein Großteil der Tea-Party-Aktivitäten außerhalb der politischen Institutionen vollzieht und sich Interaktionen der Mitglieder kaum durch Rollenzuweisungen verstetigt haben, wie es für Parteien oder Verbände typisch wäre. Bei näherer Betrachtung ist zu erkennen, dass unter dem Label "Tea Party" ganz unterschiedliche Phänomene subsumiert werden: Je nach Perspektive wird sie als basisdemokratische Graswurzelbewegung oder als top-down-Bewegung charakterisiert. Viele Teilgruppen tragen zu Recht das Etikett eines grassroots movement, das heißt einer spontanen, in erster Linie von Privatpersonen getragenen Initiative "von unten". Eine Untersuchung der "Washington Post" ergab, dass 40 Prozent der 647 befragten lokalen Tea-Party-Gruppen mit keiner nationalen Organisation zusammenarbeiten und somit auch keine maßgebliche externe Unterstützung erfahren. Die nationale Gruppierung, die am ehesten für sich in Anspruch nehmen kann, eine Graswurzelbewegung zu sein und zugleich die meisten Mitglieder verzeichnet, sind die Tea Party Patriots. Sie haben sich 2009 gegründet und verfügen nach eigenen Angaben über mehr als 1000 lokale Gruppen, die primär ökonomische Ziele verfolgen. Wer den Zusammenhalt dieser oder ähnlicher Gruppen erklären möchte, kann die mediale Begleitung, die die Tea Party erfahren hat, nicht außer Acht lassen. So kommen dem rechtskonservativen Fox News Channel und dem zur Ikone avancierten Moderator Glenn Beck mehr als nur eine flankierende Rolle zu: 63 Prozent der Anhänger gaben an, dass sie sich in erster Linie über Fox News informieren. Es liegt somit nahe, die Dynamik der Tea Party unter anderem auf ein relativ homogenes Medienrezeptionsverhalten ihrer Anhänger zurückzuführen. Fox News hat für eine konsonante Wahrnehmung der politischen Ereignisse und damit für den notwendigen ideologischen Kitt gesorgt. Die enorme Heterogenität der über das ganze Land verteilten Tea-Party-Gruppierungen konnte auf diese Weise überbrückt werden. Gegner führen allerdings an, dass manche Gruppen in der Bewegung dem Bild der Graswurzelbewegung kaum entsprechen würden. Teile der Tea Party wurden und werden schließlich von Wirtschaftsunternehmen, politischen Organisationen und Parteien derart stark unterstützt, dass unklar ist, wie basisdemokratisch die Bewegung tatsächlich ist. Prominent zeigen sich etwa bei der Organisation FreedomWorks, die vom ehemaligen majority leader im Repräsentantenhaus, Dick Armey, geleitet wird, Verknüpfungen zwischen der Tea Party und der Republikanischen Partei. Durch vielfältige organisatorische und finanzielle Hilfe vermochte es FreedomWorks, den Unmut der Bevölkerung in Proteste zu kanalisieren und diese zu verstetigen. So veranstaltete die Organisation unter anderem 2009 und 2010 zentrale Protestmärsche und bot in diesem Rahmen auch Workshops zu Themen wie Spendeneinwerbung und Mobilisierung an, an denen über 2000 lokale Aktivisten teilnahmen. Die Tea-Party-Sympathisanten erfuhren auf diese Weise vielfältige Hilfe bei der Koordination und Artikulation ihrer Interessen. Ein anderes Beispiel stellt die vom Milliardär David Koch gegründete Organisation Americans for Prosperity dar, die schon 2009 sogenannte Tea Party Talking Points anbot, um eine effiziente Koordination zu ermöglichen, und die Bewegung auch finanziell maßgeblich unterstützt. Es zeigt sich, dass die erhebliche Unzufriedenheit der Bürger teils in bottom-up-Initiativen artikuliert und teils durch die schon bestehenden Interessengruppen aufgenommen und in gut organisierte Proteste überführt wurde. Letzteres soll nicht als Makel der Tea Party verstanden werden, da es ein legitimes Anliegen von Interessengruppen ist, die Ansichten der Bürger zu formen und in den politischen Prozess einzuspeisen. Die weitere Entwicklung der Tea Party ist schwer zu prognostizieren: Aufgrund des Selbstverständnisses als Bewegung ist nicht zu erwarten, dass sich die Aktivisten und Sympathisanten vollends in das Korsett einer straffen Organisation oder Partei drängen lassen. So wird auch die von der Abgeordneten Michele Bachmann im Kongress gegründete parlamentarische Vertretung der Bewegung (Tea Party Caucus) von den eigenen Anhängern durchaus kritisch bewertet, da sie als ein erneuter Versuch der Republikanischen Partei gedeutet wird, die Bewegung zu vereinnahmen. Einfluss wird die Tea Party weiterhin eher dadurch behalten, dass sie politischen Druck auf die Grand Old Party ausübt. Konflikt oder Kompromiss? Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich die Tea-Party-Bewegung in den USA etabliert. Die Ziele ihrer einzelnen Gruppierungen sind widersprüchlich und jenseits einer diffusen Unzufriedenheit mit der Politik nur schwerlich vereinbar. Es ist zwar zu bezweifeln, dass die Tea Party ihr zu den Wahlen 2010 erreichtes Mobilisierungsniveau dauerhaft halten können wird. Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber - etwa zur American Liberty League in den 1930er, zur John Birch Society in den 1960/70er und Ross Perots Reform Party in den 1990er Jahren -, dass die Denkmuster der überzeugten Aktivisten auch bei einem Rückgang der Aufmerksamkeit für die Tea Party und ihre Abgeordneten im Kongress keinesfalls verschwinden werden. Hinsichtlich ihrer parlamentarischen Vertreter ist zu erwarten, dass sie sich auch weiterhin nicht mit der Rolle als Wahlkampftruppe zufrieden geben, sondern an zentralen inhaltlichen und personellen Entscheidungen beteiligt werden wollen. Die Republikanische Parteiführung wird abwägen müssen, ob sie - mit dem Risiko, moderate und unabhängige Wähler bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2012 zu enttäuschen - den extremen Positionen der Tea Party nachgibt oder andernfalls bei einem Konfrontationskurs Gefahr läuft, dass die Bewegung massiv in die Nominierungsverfahren im Vorfeld der Wahlen eingreift. Bemerkenswert ist, dass die Tea Party seit September 2011 von einer anderen Protestbewegung Konkurrenz bekommen hat: Unter dem unmissverständlichen Slogan "Occupy Wall Street" demonstrieren vor allem junge Amerikaner gegen die wirtschaftlichen Machtstrukturen. Sie wollen - wie sie selbst sagen - eine echte Graswurzelbewegung sein und gleichzeitig ein Gegengewicht zur Tea Party bilden. Ob sie dabei ähnlichen Einfluss entwickeln können, bleibt abzuwarten. Vgl. Henrik Gast/Alexander Kühne, "Tea Party"-Time in den USA? Zu Profil und Einfluss einer heterogenen Bewegung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 42 (2011) 2, S. 247-269. Vgl. Moritz Koch, Sparen statt höherer Steuern, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 2.8.2011, S. 7. Zit. nach: Christian Wernicke, Amerikas Parlament wendet Staatsbankrott ab, in: SZ vom 3.8.2011, S. 1. Zit. nach: Campbell Robertson, A Victorious Paul Vows to Stick to Message, in: The New York Times vom 3.11.2010, S. 7. Vgl. Matthew Continetti, The Two Faces of the Tea Party, in: Weekly Standard vom 28.6.2010, online: www.weeklystandard.com/articles/two-faces-tea-party (5.12.2011). Die 1934 von konservativen Demokraten gegründete American Liberty League richtete sich gegen die New-Deal-Politik Roosevelts; Gründungsmotiv der 1958 gebildeten, rechtsgerichteten John Birch Society war der Schutz vor kommunistischer Einflussnahme. Vgl. Brian J. Glenn/Steven M. Teles (eds.), Conservatism and American Political Development, Oxford u.a. 2009. Vgl. Kate Zernike, Boiling Mad. Inside Tea Party America, New York 2010, S. 13-32. Stop! The Size and Power of the State is Growing, and Discontent is on the Rise, in: The Economist vom 21.1.2010, online: www.economist.com/node/15330481 (5.12.2012). Vgl. The New York Times/CBS News (eds.), National Survey of Tea Party Supporters (NSTP), April 5-12, 2010, online: http://s3.amazonaws.com/nytdocs/docs/312/312.pdf (21.11.2011), Zusammenfassung unter: www.cbsnews.com/htdocs/pdf/poll_tea_party_041410.pdf (21.11.2011). Sofern nicht anders angegeben, stammen die zitierten Daten aus dem NSTP, für den 1580 Erwachsene telefonisch befragt wurden. Vgl. NSTP, August 2-3, 2011, online: www.nytimes.com/interactive/2011/08/05/us/politics/20110805_Poll-docs.html?ref=politics (27.11.2011), S.10. Vgl. Stanley B. Greenberg et al., Special Report on the Tea Party Movement, hrsg. von Greenberg Quinlan Rosner Research, Democracy Corps, 19.7.2010, online: www.democracycorps.com/wp-content/files/Tea-Party-Report-FINAL.pdf (31.8.2011). Vgl. NSTP (Anm. 10), S. 41. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. David E. Campbell/Robert D. Putnam, Crashing the Tea Party, in: The New York Times vom 17.8.2011, S. 23. Vgl. NSTP (Anm. 10), S. 7. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. Shaun Halper, Der wahre Gegner der Tea Party, 24.9.2010, online: www.zeit.de/politik/ausland/2010-09/teaparty-usa-republikaner (9.9.2011). Vgl. NSTP (Anm. 10), S. 23. Zit. nach: Jennifer Steinhauer/Jim Rutenberg, Rebel Republican Marching On, With Baggage, in: The New York Times vom 16.9.2010, S. 1. Vgl. Frank Rich, The Rage is Not About Health Care, in: The New York Times vom 28.3.2010, S. 10. Vgl. NSTP (Anm. 10), S. 24. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. NSTP Zusammenfassung (Anm. 10), S. 9. Vgl. Vanessa Williamson/Theda Skocpol/John Coggin, The Tea Party and the Remaking of Republican Conservatism, in: Perspectives on Politics, 9 (2011) 1, S. 25-43, hier: S. 32ff. Zur Konstruktion von white citizenship in den sozialstaatlichen Programmen vgl. Lisa Disch, Tea Party Movement: The America "Precariat"?, in: Representation, 47 (2011) 2, S. 123-135, hier: S. 129ff. Vgl. NSTP (Anm. 10), S. 30. Vgl. L. Disch (Anm. 27), S. 127. Vgl. Angaben auf der Homepage der Organisation: www.teapartypatriots.org/AboutUs.aspx (15.3.2011). Vgl. NSTP (Anm. 10), S. 35. Vgl. Rebecca Sinderbrand, Freedomworks. Tea Party Patriots Head for the Hill, 3.9.2009, online: www.freedomworks.org/news/freedomworks-tea-party-patriots-head-for-the-hill (15.3.2011). Vgl. Jane Mayer, Covert Operations. The Billionaire Brothers Who are Waging a War Against Obama, in: The New Yorker vom 30.8.2010. Vgl. V. Williamson/T. Skocpol/J. Coggin (Anm. 26), S. 36f. Vgl. Michael Kolkmann, Die Wahlen zum US-Kongress am 2. November 2010: Herbe Niederlage der Demokraten, aber auch ein Sieg der Republikaner?, in: ZParl, 42 (2011) 2, S. 229-246, S. 243f.
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, Henrik Gast / , Alexander Kühne
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/59607/zwischen-marktradikalitaet-und-sozialer-missgunst-die-tea-party-und-ihre-anhaenger/
Kaum eine Bewegung hat die Politik der USA in den vergangenen Jahren so beeinflusst wie die Tea Party. Ihre Sympathisanten eint vor allem die leidenschaftliche Ablehnung Obamas.
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Meinung: Die Afghanistan-Mission des Westens - vermeidbares Scheitern? | Kriege und Konflikte | bpb.de
Am 15. August 2021 haben die Taliban Kabul eingenommen und das "Islamische Emirat Afghanistan" ausgerufen. Das bis dahin mit westlicher Unterstützung aufgebaute politische System Afghanistans ist kollabiert, und Präsident Ghani ins Exil gegangen. Damit sind die seit 2001 andauernden Bemühungen der USA und anderer Akteure gescheitert, Afghanistan dauerhaft zu befrieden, die dafür notwendigen staatlichen Strukturen und Institutionen zu schaffen und die Gesellschaft gemäß westlichen Ordnungsvorstellungen umzugestalten. Als Folge der Rückzugsentscheidung der USA sind auch die Streitkräfte aller anderen NATO-Staaten vollständig vom Hindukusch abgezogen worden, darunter am 30. Juni 2021 auch das letzte Kontingent der Bundeswehr, das an der Resolute Support Mission der Allianz beteiligt gewesen ist. Innerhalb von wenigen Wochen sind die westlichen Staaten von einflussreichen Gestaltern in Afghanistan zu Bittstellern geworden, die für ihre Aktivitäten die Genehmigung der Taliban benötigen. Die Folgen für das Land, die regionale Ordnung und die Machtstruktur des internationalen Systems sind zurzeit erst in Konturen zu erahnen. Die Entscheidung von Joe Biden ist nachvollziehbar In vielen westlichen Hauptstädten haben bereits die Debatten darüber begonnen, wer die politische Verantwortung für den Misserfolg dieses zwanzigjährigen Militäreinsatzes trägt, ob dieses Scheitern vermeidbar war und welche Lehren aus ihm gezogen werden sollten. In diesem Kontext halten viele journalistische Beobachter und Vertreter früherer US-Regierungen die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden zugunsten eines bedingungslosen Abzugs für einen schweren Fehler, der den Taliban erst militärisch Auftrieb verschafft habe. Sie verweisen auf denkbare militärische Alternativen, die keine permanente Stationierung großer Kontingente erfordert hätte. Eine Option wäre zum Beispiel die Stationierung amerikanischer Spezialkräfte für kurze Einsätze zur Unterstützung der afghanischen Armee und der Einsatz von Flugzeugträgern gewesen, um die entsprechende Luftunterstützung für die afghanischen Streitkräfte zu leisten. Vor allem aber hätte Biden eindeutig signalisieren müssen, dass er nicht beabsichtige, Afghanistan seinem Schicksal zu überlassen. Der Eindruck, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr zuverlässig an der Seite der afghanischen Regierung stehen, habe den Vormarsch der Taliban mehr als alles andere begünstigt, so die Kritiker. Abgekoppelt von diesen wenigen Alternativen lassen die Kritiker die eigentlichen politischen Schlüsselfragen jedoch unbeantwortet: Wie lange hätte der westliche Militäreinsatz noch andauern sollen und können? Wäre es realistisch gewesen, dafür eine politische Vereinbarung mit der Ghani-Regierung in Afghanistan zu erreichen, der sich alle relevanten Akteure im Land verpflichtet fühlen? Wäre es überhaupt auf Dauer möglich gewesen, im Land Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten und damit einen "erfolgreichen" Truppenabzug des Westens zu ermöglichen? US-Präsident Joe Biden hat offenbar auf alle diese Fragen mit "Nein" geantwortet. Aus seiner Sicht, sei das Festhalten an früheren, nicht erreichbaren Zielen das Rezept, für immer in Afghanistan zu bleiben. Zugleich weist seine Entscheidung weit über Afghanistan hinaus. Mit dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan hat der amerikanische Präsident nicht nur einen in den USA unpopulären Krieg beendet, sondern nach eigenem Bekunden gleich eine ganze Ära abgeschlossen. Die Epoche des großformatigen Nation Building sei für die USA angesichts der bescheidenen und häufig enttäuschenden Ergebnisse endgültig vorbei. Stattdessen werde sich seine Regierung nunmehr dem "Nation Building" in den USA widmen. Daher habe man im April 2021 entschieden, den Rückzug aus Afghanistan nicht länger von der Sicherheitslage im Land abhängig zu machen. Vor allem aber reflektiert Bidens Entscheidung die veränderten außenpolitischen Prioritäten der Vereinigten Staaten angesichts des globalen amerikanisch-chinesischen Machtwettbewerbs: "Die Vereinigten Staaten können es sich nicht leisten, an einer Politik festzuhalten, die eine Reaktion auf eine Welt wie vor 20 Jahren darstellt. Wir müssen den Bedrohungen dort begegnen, wo sie heute sind." Die Taliban gewinnen den Abzugspoker Ausgangspunkt aller Hoffnungen auf eine politische Lösung war das zwischen den USA und den Taliban in Doha am 29. Februar 2020 geschlossene "Agreement for Bringing Peace to Afghanistan". Die Vereinbarung enthielt u.a. einen Zeitplan für einen konditionierten, phasenweisen Abzug aller US- und NATO-Truppen bis Ende April 2021 sowie eine Verständigung darüber, dass die Taliban und die afghanische Regierung Gespräche aufnehmen würden, um die künftige Repräsentation der Aufständischen im politischen System Afghanistans auszuhandeln. Zwar war die amerikanische Zusage zum Abzug aus Afghanistan an Bedingungen geknüpft. Faktisch und für die Konfliktparteien sichtbar, hatte der Westen damit jedoch unwiderruflich die Weichen für den Abzug gestellt. Die Führer der Taliban konnten seitdem sicherer denn je sein, dass sie letztlich nur abwarten müssten, bis in den westlichen Hauptstädten auch die letzte Bereitschaft zum Engagement erlahmen würde. Zahlreiche offene Fragen sollten jedoch erst in den folgenden innerafghanischen Friedensverhandlungen angesprochen werden können. Dazu gehörten beispielsweise Dauer und Beginn des angestrebten Waffenstillstandes, Beginn und Details des weiteren westlichen Truppenabzugs, Mechanismen des Aussöhnungsprozesses im Land, Aspekte einer möglichen Entwaffnung, Demobilisierung und eventuellen späteren Integration ehemaliger Taliban-Kämpfer in die afghanischen Sicherheitskräfte sowie die Bedingungen für die Aufnahme der Taliban in eine Übergangsregierung. Nach diversen Gesprächsrunden seit dem September 2020 war jedoch nach wie vor unklar, welche Art von Sicherheits- und politischen Vereinbarungen sowohl Kabul als auch die Taliban zufriedenstellen könnten, wenn letztere ihren bewaffneten Kampf aufgeben sollten. Viele Afghanen blieben misstrauisch, was die Vertrauenswürdigkeit der Taliban betraf, und äußerten die Befürchtung, dass die Gruppe ohne den militärischen Druck der USA wenig Anreiz haben wird, die Bedingungen einer mit Kabul erzielten Vereinbarung einzuhalten. Und in der Tat drängte sich der Eindruck auf, dass die Taliban bei den Gesprächen in Doha versuchten, eine Einigung mit der afghanischen Regierung so lange hinauszuzögern, bis die USA vollständig abgezogen waren, um ihren Vorteil auf dem Schlachtfeld nutzen und die alleinige Kontrolle über das Land übernehmen zu können. Die Entwicklungen bis zum Fall Kabuls im August 2021 sollte diese Lesart bestätigen. Wichtige Gründe für das Scheitern des Westens Aus der Fülle von Gründen, warum das westliche Engagement in Afghanistan gescheitert ist, lassen sich vier Problemkomplexe identifizieren, die nicht nur in diesem Fall, sondern auch in anderen Krisenregionen dauerhafte Erfolge von Stabilisierungseinsätzen westlicher Staaten und internationaler Organisationen erschwert bzw. sogar verhindert haben: Da diese Operationen in der Regel durch eine multinationale Koalition durchgeführt werden, ist erstens auf der Seite der Intervenierenden nicht nur eine große Akteursvielfalt, sondern vor allem eine große Bandbreite von Motiven und Zielen anzutreffen, sich an derartigen Einsätzen zu beteiligen. So nahmen manche Länder an der Afghanistan-Mission der NATO vor allem teil, um ihre Solidarität mit den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auszudrücken. Andere setzten ihren Schwerpunkt auf die Bekämpfung dschihadistischer Terrorgruppen. Wieder andere sahen ihre Aufgabe vornehmlich im Aufbau staatlicher Institutionen oder in der Entwicklungszusammenarbeit. So war es schwer bis unmöglich, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, die ein kohärentes Handeln aller nationalen Kontingente, die Messung der Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele der Mission und letztlich auch eine abgestimmte Vorbereitung des Abzugs der internationalen Gemeinschaft erlaubt hätte. Zweitens verfügen Demokratien nicht über die ausreichende Langfristperspektive und Geduld, einen solchen Einsatz zeitlich und materiell mit dem erforderlichen "langen Atem" fortzuführen. Wechselnde außenpolitische Schwerpunkte verhindern häufig eine kontinuierliche und hinreichend fokussierte Priorisierung. Auch die notwendige politische Zustimmung der Öffentlichkeit erodiert oft schnell. Das sind Gründe, warum sich zahlreiche westliche Staaten, wie Kanada, die Niederlande und Frankreich, bereits vor Jahren aus der Afghanistan-Mission zurückgezogen haben. Nach dem Fall Kabuls und der Machtergreifung der Taliban werden aller Voraussicht nach die NATO und die EU für einen langen Zeitraum nicht mehr bereit sein, vergleichbare Einsätze zu schultern. Drittens verfügen westliche Regierungen in Krisenländern, wie Afghanistan, selten über politische Partner, die für Einfluss in ihrem Sinne offen sind. Häufig handelt es sich um Regierungen, deren Legitimation fragil ist, weil sie aufgrund der innerstaatlichen Konfliktlage nur einen Teil der Bevölkerung repräsentieren und lediglich in begrenztem Umfang bereit oder in der Lage sind, staatliche Dienstleistungen in allen Landesteilen anzubieten. Auch in Afghanistan hat die internationale Gemeinschaft bis zum Ende eine Ausfallbürgschaft übernommen und einen Großteil der grundlegenden staatlichen Dienstleistungen direkt oder indirekt selbst erbringen müssen. Hinzu kommt, dass die lokalen Regierungen zuweilen eine völlig andere Agenda verfolgen. Sie sind eher an der Aufrechterhaltung des konflikthaften Status quo als an grundlegenden Verbesserungen interessiert. Denn dies eröffnet für sie die Möglichkeit, weitere politische, militärische und finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft zu erhalten. In Afghanistan war dadurch der Weg zu einer politischen Vereinbarung, die den Abzug der internationalen Truppen ermöglicht hätte, weitgehend verbaut. Viertens besitzen die intervenierenden Staaten nur schwache Hebel, um auf die Akteure im Land und auf die Anrainerstaaten einzuwirken. Zwar ist in solchen Kontexten häufig von Konditionalität die Rede, exekutive Fortschrittsberichte und Erfolgskriterien suggerieren Implementierungsfortschritte und bürokratische Effizienz. Doch politische Erfolgsvorgaben der Regierungen machen diese zumeist zu einem stumpfen Schwert: Einmal begonnen, muss der Einsatz als Erfolg enden, Das war ein Grund dafür, warum es nicht gelang, afghanische Sicherheitskräfte aufzubauen, die auf dem gesamten Territorium Afghanistans selbstständig und effektiv für Sicherheit sorgen konnten bzw. warum diese seit Jahren erkennbare Tatsache, im politischen Raum wenig Resonanz gefunden hat. Zugleich hätten eine aktivere Einmischung oder gar Sanktionen gegen die afghanische Regierung den Anschein lokaler "Ownership" endgültig zerstört und eine Mission beschädigt, die aus politischen Gründen unbedingt erfolgreich verlaufen sollte. Fazit Der Westen hat mit dem Fall von Kabul am 15. August nicht nur eine Niederlage erlitten, sondern mit der Machtergreifung der Taliban sind auch viele der Fixpunkte der internationalen Afghanistan-Politik abhandengekommen – normativ, politisch und institutionell. Das Land selbst befindet sich nunmehr in einer Phase des politischen Umbruchs und Übergangs mit ungewissem Ausgang. Noch ist nicht sicher, ob es nicht doch eine Regierung der nationalen Einheit geben wird; noch ist nicht klar, wie "islamisch" die gesellschaftliche Ordnung sein wird; noch ist nicht durchgängig erkennbar, wie das neue Regime mit den Repräsentanten der alten Ordnung umzugehen gedenkt. Ob das Scheitern des Westens vermeidbar war, lässt sich nicht seriös beantworten. Und ob die Saat der gesellschaftlichen Transformation hätte aufgehen können, wenn die NATO weitere zwanzig Jahre im Land gebelieben wäre, weiß niemand. Selbst ein flüchtiger Blick auf die strukturellen Schwierigkeiten lässt aber Zweifel aufkommen, ob jemals eine wirkliche Chance auf Erfolg bestanden hat. Möglicherweise hat der Westen vor allem die kulturell-historischen Beharrungskräfte im Land unterschätzt: Quellen / Literatur Externer Link: Kaim, Markus (2021): Die Regierung möchte den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr verlängern – obwohl er offensichtlich erfolglos ist. Vier Gründe dafür, die Mission jetzt zu beenden, in: Der Spiegel, 24.03.2021. Externer Link: Malkasian, Carter (2021): The Taliban Are Ready to Exploit America’s Exit. What a U.S. Withdrawal Means for Afghanistan. Foreign Affairs Snapshot, 14. April 2021. Externer Link: Agreement for Bringing Peace to Afghanistan between the Islamic Emirate of Afghanistan which is not recognized by the United States as a state and is known as the Taliban and the United States of America, February 29, 2020. Externer Link: Abkommen für die Befriedung Afghanistans zwischen dem Islamischen Emirat Afghanistan, das von den Vereinigten Staaten nicht als Staat anerkannt wird und als "die Taliban" bekannt ist, und den Vereinigten Staaten von Amerika, 29. Februar 2020. Externer Link: Kaim, Markus (2021): Die Regierung möchte den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr verlängern – obwohl er offensichtlich erfolglos ist. Vier Gründe dafür, die Mission jetzt zu beenden, in: Der Spiegel, 24.03.2021. Externer Link: Malkasian, Carter (2021): The Taliban Are Ready to Exploit America’s Exit. What a U.S. Withdrawal Means for Afghanistan. Foreign Affairs Snapshot, 14. April 2021. Externer Link: Agreement for Bringing Peace to Afghanistan between the Islamic Emirate of Afghanistan which is not recognized by the United States as a state and is known as the Taliban and the United States of America, February 29, 2020. Externer Link: Abkommen für die Befriedung Afghanistans zwischen dem Islamischen Emirat Afghanistan, das von den Vereinigten Staaten nicht als Staat anerkannt wird und als "die Taliban" bekannt ist, und den Vereinigten Staaten von Amerika, 29. Februar 2020. Externer Link: Malkasian, Carter (2021): The Taliban Are Ready to Exploit America’s Exit. What a U.S. Withdrawal Means for Afghanistan. Foreign Affairs Snapshot, 14. April 2021 Kagan, Frederick: Biden Could Have Stopped the Taliban. He Chose Not to, in: New York Times, 12.08.2021. Externer Link: Remarks by President Biden on the End of the War in Afghanistan, August 31, 2021 Externer Link: Remarks by President Biden on the Drawdown of U.S. Forces in Afghanistan, July 08, 2021: (Übersetzung des Autors). Agreement for Bringing Peace to Afghanistan between the Islamic Emirate of Afghanistan which is not recognized by the United States as a state and is known as the Taliban and the United States of America, 29. Februar 2020. Thiel, Thomas (2021): Rückzug aus einem Kulturkampf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.2021.
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Markus Kaim
"2022-01-20T00:00:00"
"2021-11-22T00:00:00"
"2022-01-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/343740/meinung-die-afghanistan-mission-des-westens-vermeidbares-scheitern/
Ob das Scheitern des Westens in Afghanistan vermeidbar gewesen wäre, ist schwer zu beantworten. Denn die Abzugsentscheidung der Biden-Regierung resultierte hauptsächlich aus einer weltpolitischen Neuorientierung der USA. Doch der chaotische Abzug hat
[ "Afghanistaneinsatz", "Taliban", "Immunität", "Afghanistan", "Kabul" ]
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"Das wird man ja wohl noch sagen dürfen ..." - Essay | Antisemitismus | bpb.de
Einleitung Wie antisemitisch ist Deutschland, knapp 63 Jahre, nachdem das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde? Ein paar Zahlen vom Bundeskriminalamt: Im Jahr 2006 wurde elfmal ein jüdischer Friedhof geschändet, 79 Mal wurden Denkmäler beschmiert und Synagogen besudelt. 16 Mal ermittelte die Polizei wegen Nötigung und Bedrohung, 1 105 Mal wegen Volksverhetzung, zum Beispiel wegen der in rechten Kreisen populären Behauptung, den Holocaust hätte es nie gegeben. Die Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten ging insgesamt ganz leicht zurück - 1 636 statt 1 658 im Vorjahr. Ist das viel? "Es ist natürlich jede solche Straftat eine zuviel", sagt Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, "aber wir sollten da die Kirche im Dorf lassen. Wir bewegen uns auf einem bedauerlichen, normalen europäischen Niveau." Antisemitismus ist kein deutsches Phänomen, diese schwer zu fassende, kaum eingrenzbare Haltung, die von Ablehnung bis zum offenen Hass auf alles Jüdische reicht. In Europa ist er genauso verbreitet wie in den USA, in den ehemaligen Ostblockländern haben ihn die Kommunisten zur Propaganda genutzt, und wenn dieser Tage in den Zeitungen über Antisemitismus geschrieben wird, dann geht es meist um den Nahen Osten, den Iran, dessen Präsidenten und seine Konferenz zur "wissenschaftlichen Untersuchung des Holocaust". Antisemitismus ist ein internationales Problem. "Die Deutschen haben den Antisemitismus nicht erfunden", sagte auch Ignatz Bubis, der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden. "Aber Auschwitz ist eine deutsche Erfindung - und deshalb ist Antisemitismus in Deutschland immer etwas anderes als Antisemitismus irgendwo sonst." Aber: Was ist er genau? Wie zeigt er sich? Vielleicht sagt die folgende Zahl wesentlich mehr darüber aus, wie weit er in Deutschland verbreitet ist, als die Zahl der registrierten Straftaten: 60. So viele Briefe, E-Mails und Faxe treffen etwa an einem normalen Tag im Büro des Zentralrats der Juden in Berlin ein. Ihr Inhalt: Beschimpfungen, Verdächtigungen, Verschwörungstheorien - zum Beispiel darüber, ob denn nicht "die Juden" schuld seien am 11. September. Nicht alles, was in diesen Briefen steht, wäre irgendwie strafbar - aber, so warnt der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble: "Auch unterhalb der Schwelle geplanter oder ausgeführter Straftaten stimmt etwas nicht." Schäuble sagte das auf einem Symposium des Bundesverfassungsschutzes im Dezember 2005 in Berlin. Das Thema hieß "Neuer Antisemitismus - Judenfeindschaft im politischen Extremismus und im öffentlichen Diskurs". Aber Schäuble zitierte auch Zahlen, die den kleinen, den ganz privaten Antisemitismus in Deutschland belegen. Knapp 17 Prozent der Befragten stimmten zum Beispiel in einer Umfrage folgendem Satz zu: "Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns." Es waren Studenten, die befragt wurden, wohlgemerkt, von denen jeder Fünfte auch noch diesem Satz zustimmte: "Die Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss." Nicht immer ist Antisemitismus so leicht zu identifizieren wie in diesen Fällen. Es sind häufig bloß Anspielungen oder ein "Man-wird-ja-wohl-noch-mal-sagen-Dürfen", hinter denen er sich versteckt. "Wenn es eine einfache Antwort auf die Frage gäbe, was Antisemitismus ist, dann wäre das das erste Wundermittel zu seiner Bekämpfung", sagt Kramer. Trotzdem versucht er sich an einer: "Wenn das Jüdischsein als qualifizierende oder disqualifizierende Eigenart dargestellt wird - da zumindest beginnt er." Vielleicht muss es auch eine komplexe Antwort sein: Der Soziologe Klaus Holz nähert sich in seiner Arbeit seit Jahren dem Antisemitismus wissenschaftlich, sein letztes Buch zu diesem Thema trug den Titel "Die Gegenwart des Antisemitismus". Holz beschreibt den Antisemitismus anhand von vier typischen Mustern, auf die sich antisemitische Äußerungen praktisch immer herunterbrechen lassen. Zum Beispiel auf die - so Holz - "antimoderne Klage": Die Juden seien schuld daran, dass die Menschen nicht mehr in einer heilen und reinen Vergangenheit lebten, sondern den hässlichen Seiten der Postmoderne ausgeliefert seien - denn die Juden hätten Kapitalismus, Liberalismus, Sozialismus oder auch Feminismus erfunden und in der Welt verbreitet. Das hätten sie - zweitens - überhaupt nur schaffen können, weil sie die Medien gleichgeschaltet hätten, Regierungen an Marionettenfäden tanzen ließen und die Weltwirtschaft kontrollierten. Jedes Ereignis, ob die Französische Revolution oder der 11. September, ließe sich so als Teil einer Weltverschwörung erklären. Außerdem schliffen sie - drittens - die Unterschiede zwischen den Kulturen und Völkern der Welt, weil sie für einen unerbittlichen Universalismus einträten. Gerade Rechtsextreme bedienen sich gerne dieses Vorwurfs, weil die "völkische Abstammung" in ihrem Denken eine zentrale Rolle spielt. Außerdem werden - viertens - in vielen antisemitischen Äußerungen der Staat Israel und die jüdische Religion gleichgesetzt. Allerdings: "Sachliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist kein Antisemitismus", sagt Kramer. Aber genau hier lässt sich er sich am schwersten abgrenzen, hier vermengen sich oft Argumente und Ressentiments, wohlmeinendes Unwissen und böswillige Auslegung zu einem undurchdringlichen Brei, zu einer Grauzone, in der irgendwo der Antisemitismus beginnt. Nicht leicht, damit umzugehen. Oder, wie es Kramer sagt: "Der offene Antisemitismus ist mir fast der liebste. Gegen den kann man sich wenigstens wehren."
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Schwenke, Philipp
"2022-08-29T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2022-08-29T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30325/das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-duerfen-essay/
Ein latenter Antisemitismus ist in Europa weit verbreitet. Wer sich gegen ihn wehren will, muss ihn erkennen können. Das ist nicht immer leicht, denn es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, was Antisemitismus eigentlich ist.
[ "Kommunikation", "Gesprächskultur" ]
30,889
Editorial | Venezuela | bpb.de
Am 10. Januar 2019 trat Nicolás Maduro, Nachfolger des sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez, trotz umstrittener Wahlergebnisse und internationaler Proteste eine weitere Amtszeit als venezolanischer Präsident an. Knapp zwei Wochen später kündigte Juan Guaidó in seiner Funktion als Präsident der von der Opposition dominierten Nationalversammlung an, interimsweise das Amt des Staatsoberhaupts zu übernehmen, bis Neuwahlen stattfinden können. Damit erreichte der innervenezolanische Machtkampf einen vorläufigen Höhepunkt. Mit einem amtierenden Präsidenten und einem weiteren, mittlerweile von über 50 Staaten anerkannten Interimspräsidenten befindet sich das Land in einer international wohl einmaligen Konfliktsituation, deren Ausgang ungewiss ist. Neben die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes trat in den vergangenen Jahren eine humanitäre Krise, die sich in einer massiven Auswanderung manifestiert. Dass die Entwicklung Venezuelas vorher durchaus auch Erfolge zeitigte, zeigt ein Blick in die Geschichte des Landes: Einst Peripherie des spanischen Kolonialreichs, entwickelte sich Venezuela nach seiner Unabhängigkeit im frühen 19. Jahrhundert insbesondere durch die Ausweitung der Erdölförderung im 20. Jahrhundert zum "Wirtschaftswunderland" der Region. Unter Chávez, der sich in die Tradition des Nationalhelden Simón Bolívar stellte, versuchte sich der Staat Anfang des 21. Jahrhunderts als Finanzier lateinamerikanischer Einheitsbestrebungen. Zugleich ist die Entwicklung Venezuelas von Widersprüchen geprägt. Die zunehmende Abhängigkeit vom Erdölexport, der Verfall des demokratischen Systems und historische Konfliktlinien zwischen Stadt und Land sowie Eliten und Unterschichten, die unter den chavistischen Regierungen vertieft wurden, haben die venezolanische Gesellschaft wiederholt vor Herausforderungen gestellt. Die Frage, wie mit diesen umgegangen werden kann, ist nicht neu. Angesichts der massiven Beeinträchtigungen des politischen, wirtschaftlichen und alltäglichen Lebens und einer möglichen Destabilisierung der Region stellt sie sich aktuell mit besonderer Dringlichkeit.
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Frederik Schetter
"2021-12-07T00:00:00"
"2019-09-13T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/296997/editorial/
[ "Editorial" ]
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Arbeitsgruppenphase I: Debatten um Religion in Gesellschaft und Politik | In Gottes Namen?! Streit um Religion in Gesellschaft und Politik | bpb.de
Nach den beiden Vorträgen startete die erste Arbeitsgruppenphase unter dem Titel "Debatten um Religion in Gesellschaft und Politik". Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten aus sechs parallelen Angeboten wählen. 1. Religion als Identitätsstifter? Arbeitsgruppe "Religion als Identitätsstifter?" (© Peter-Paul Weiler) Mirjam Gläser, ufuq.de, BerlinSaba-Nur Cheema, Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am MainDr. Vanessa Rau, University of CambridgeModeration: Magali Dietrich, Universität Hamburg Den Workshop “Religion als Identitätsstifter” eröffnete die Soziologin Dr. Vanessa Rau mit ihrem Input-Vortrag “Religion - Säkularität - Identität”. Darin erläuterte sie die wissenschaftliche Dimension dieser Konzepte. Sie selbst hat über die Aushandlungsprozesse von Religiosität in einer Gruppe aus israelstammender Berlinerinnen und Berliner promoviert. Frau Dr. Rau hielt fest, dass es keine Definition des Begriffs "Identität“ gebe. Vielmehr beschäftige die Frage, was Identität ausmache, die Philosophie seit der Antike. Identifikationen seien dabei Prozesse, bei denen auch Gruppenzugehörigkeiten und Fremdzuschreibungen eine große Bedeutung zukomme. Multiple Identitätskategorien seien nicht nur möglich, sondern normal. In der Soziologie werde daher gerne auf die Kategorien "Gender-Race-Class", sowie Nation und Religion Bezug genommen. Hinzu kommen die soziale Position des Individuums und die Selbst-Definition. Eine Definition von "Religion" sei ebenso kompliziert wie jene der Identität. So habe der Anthropologe Talal Asad festgehalten, dass es "keine universale Definition von Religion geben" könne, weil "die Definition selbst das Produkt diskursiver Prozesse ist“. Religionszugehörigkeit und Religiosität lassen sich wiederum differenzieren in verschiedene Subkategorien wie Tradition, familiale Zugehörigkeit, Ethik, Glaube und Spiritualität. Was dies jedoch konkret umfasse, sei Verhandlungssache und werde von der jeweiligen Gruppe oder dem Kontext definiert, so die Referentin. Zuletzt ging Frau Dr. Rau auf den Begriff der Säkularität ein. Der Religionssoziologe José Casanova beschrieb das "saeculum" als "nicht-göttliche Zeit". Der Prozess der Säkularisierung sei dabei eng mit der Entwicklung der Moderne verbunden und sei in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft entstanden. Somit ist er klar dem europäischen Kontext zuzuordnen. Eine Möglichkeit, religiöse und säkulare Identitäten zusammen zu denken, ergebe sich in der Biografie, erklärte Frau Dr. Rau. In der Untersuchung von individuellen Biografien könne der jeweiligen Bedeutung von Familie, Tradition und sozio-politischem Kontext nachgegangen werden und die Frage danach gestellt werden, welche Funktion Religiosität oder Säkularität jeweils einnehmen. An diese wissenschaftlichen Ausführungen knüpfte Mirjam Gläser vom Berliner Verein ufuq.de an. Sie konstatierte, dass muslimische Identitäten öffentlicher als christliche ausgehandelt würden. So sei die muslimische Identität auch medial sehr umkämpft, vor allem wenn zwischen Religionszugehörigkeit, fanatischer Auslegung und sogar Terrorismus nicht unterschieden werde. Dies illustrierte sie mit verschiedenen Titelblättern deutscher Leitmedien, die sich in diskreditierender Weise auf den Islam bezogen hatten. Ein Ziel von ufuq.de sei es, Wissen über den Islam zu vermitteln. Dies könne dabei helfen, den Islam als Ressource zu sehen. Dass einem Großteil muslimischer Jugendlicher in Deutschland Religion sehr wichtig sei, könne damit in Zusammenhang gebracht werden, dass sie in einer Minderheitensituation aufwüchsen, was wiederum den Wunsch nach einem öffentlich sichtbaren Bekenntnis zum Islam befördern könne. Insgesamt spricht der Religionswissenschaftler Michael Blume hinsichtlich islamischer Praxis von einem Wandel von “einer Alltagspraxis hin zu einer Bekenntnisreligion”. Problematisch sei, dass viele Jugendliche in einem Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der eigenen Familie und jenen der Mehrheitsgesellschaft leben würden. Dabei wäre es wichtig, Unterschiede und Gemeinsamkeiten wahrzunehmen, Anerkennung zu erfahren und Unsicherheiten und Widersprüche auszuhalten. Auch Musliminnen und Muslime hätten nicht nur eine religiöse Identität, sie würden aber zu häufig auf diese reduziert. Religiöse Themen sollten häufiger in lebensweltliche Fragen "übersetzt werden", um dahinterstehende Aspekte behandeln zu können. Die Politologin und Leiterin der Bildungsabteilung der Bildungsstätte Anne Frank, Saba-Nur Cheema, problematisierte ein weit verbreitetes, kulturalisierendes Verständnis von Religion, welches Vorstellungen von Religionen und Intensität von Religiosität an die Herkunft aus bestimmten Regionen knüpft. Dies könne in der Bildungsarbeit aber auch als Ansatz dienen, um über Fremdzuschreibungen zu sprechen. Generell seien Religionen aber in der politischen Bildung irrelevant, Religiosität jedoch nicht. Die "christliche Brille" der Mehrheitsgesellschaft schaue stark vergleichend auf andere Religionen und verkenne dabei zu häufig Unterschiede bei muslimischen und jüdischen Identitäten. Ein Unterschied zum Christentum sei beispielsweise, dass jüdische Identitäten nicht zwangsläufig mit der religiösen übereinstimmen. Auch würden dabei Atheistinnen und Atheisten aus dem Blick geraten. Diese gesellschaftliche Fremdzuschreibung habe auch Auswirkungen auf das Selbstbild des Individuums. Gesellschaftliche Fremdzuschreibungen haben Einfluss auf das Selbstbild der eigenen Identität, deshalb gelte es sich bewusst zu machen, dass es nicht eine religiöse Identität, sondern religiöse Identitäten gebe. Entsprechend bestehen auch innerhalb einer konfessionellen Gruppe unterschiedliche Glaubenspraxen und Identitäten. Lebensweltliche Fragen von Jugendlichen sollten ernst genommen werden, auch dabei könne Religion eine bedeutende Rolle zukommen. 2. Fremdkörper Religion. Atheismus und Religiosität in Deutschland Elke Seiler im Gespräch (© Peter-Paul Weiler) Yvonne Jaeckel, Universität LeipzigElke Seiler, Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur, LeipzigModeration: Dr. Björn Mastiaux, Soziologe, Düsseldorf Nach einer Begrüßung durch den Moderator Dr. Björn Mastiaux und einer Vorstellungsrunde der Teilnehmerinnen und Teilnehmer übernahm Yvonne Jaeckel den thematischen Einstieg mit Informationen zu Religiosität und Nicht-Religiosität in Deutschland. Anknüpfend an den Vortrag von Professor Pollak "Deutschland, wie hast du’s mit der Religion?“ stellte sie dar, wo in Deutschland an was geglaubt wird. Für Westdeutschland sprach sie dabei von einer konfessionellen Dreiteilung: Etwa 30% der Bevölkerung seien katholisch, 30% evangelisch und 30% konfessionslos. In Ostdeutschland existiere ein deutlich größerer Anteil an Konfessionslosen. Insgesamt steige in ganz Deutschland die Anzahl der Menschen ohne eine feste Religionszugehörigkeit. Es handele sich nicht um ein rein ostdeutsches Phänomen. Religion werde maßgeblich über Sozialisation weitergegeben. Mit steigendem Verlust der Bedeutung religiöser Alltagspraxis nehme entsprechend auch die religiöse Sozialisation ab. Eine große Herausforderung in der wissenschaftlichen Arbeit sei die statistische Erfassung von religiöser Pluralisierung. Oft bestehe eine Diskrepanz zwischen der Konfession, die offiziell angegeben wird und der Selbstbeschreibung der eigenen Glaubensüberzeugung. Eine eindeutige Zuordnung sei daher nicht möglich. Auch innerhalb einzelner Glaubensgruppen könne es zu ganz unterschiedlichen Gottesvorstellungen kommen. Ebenso schwierig sei die Abbildung der Konfessionslosen, es fehlen hierzu zuverlässige Daten. Auf Basis des Religionsmonitors werde innerhalb der Gruppe der Konfessionslosen eine Verteilung von 29% Atheisten, 21% Spirituellen, 11% individuell Religiösen und 39% Areligiösen ausgemacht. Frau Jaeckel betont in diesem Kontext, dass die Konfessionslosen als eine plurale Gruppe und nicht als Einheit verstanden werden sollten. Mit dieser Aussage griff sie auf, was bereits im Anschluss an Professor Pollacks Vortrag geäußert wurde. Unterschiedliche Wahrnehmungsmuster der Pluralisierung von religiösen und kirchlichen Lebensstilen könnten entweder als interessant und als Bereicherung wahrgenommen werden oder aber Verunsicherung und ein Gefühl von Bedrohung auslösen, so Frau Jaeckel. Solch unterschiedliche Reaktionen führten zu einer stärkeren Polarisierung. Im Anschluss an den ersten Input wurde im Plenum nochmals die eingangs genannte prozentuale Verteilung der Konfessionen besprochen. Die im Vortrag angeführte konfessionelle Dreiteilung klammere 10% der Bevölkerung aus. Diese 10% seien auf andere Religionen, z.B. Islam und Judentum, zu verteilen. Auch diese Erhebung sei jedoch schwierig und die prozentualen Angaben folglich nicht zwingend korrekt. Außerdem wurde angemerkt, dass das Spektrum der Konfessionslosen um einiges vielseitiger sei, als die statistisch erfassten Daten dies vermuten lassen. Auch der Begriff "Atheismus“ sei insgesamt sehr kontrovers, habe viele Bedeutungen und müsse folglich immer konkretisiert werden. Andere Begriffe, z.B. "Säkularisierung“ oder "Religion“ seien oftmals ebenso unzureichend definiert. Alleine die unterschiedlichen biografischen Hintergründe der Teilnehmenden zeige, dass das jeweilige Begriffsverständnis nicht eindeutig ist. Frau Seiler thematisierte in ihrem Impulsreferat die Areligiosität im Alltag und bezog sich dabei auch auf eigene Erfahrungen aus der Arbeit für das Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur (ZEOK) in Sachsen. Hier liege der Anteil der Konfessionslosen mit 70% deutlich höher als in anderen Teilen Deutschlands. Dies mache Konflikte besonders sichtbar. Es lasse sich eine Spannung zwischen zwei Positionen feststellen: einerseits Desinteresse an Religion und geerbte Konfessionslosigkeit, andererseits ein tradiertes Selbstverständnis von religiös geprägten Strukturen. Daraus resultieren neue Aushandlungsprozesse im politisch-öffentlichen und pädagogisch-schulischen Raum. Folglich müsse die Frage diskutiert werden, wie viel Religiosität den Alltag bestimmen dürfe und wie insbesondere pädagogische Einrichtungen Rücksicht auf religiöse Bedürfnisse nehmen sollen oder müssen. Das bestehende Spannungsfeld führe zu Vorurteilen und diese haben im In-Group und Out-Group-Denken eine ganz eigene Dynamik: Es finde eine positive Selbstzuschreibung und eine negative Wahrnehmung der anderen Gruppe statt. Frau Seiler sieht daher Handlungsbedarf in der Präventionsarbeit. Die Dialogfähigkeit der Schülerinnen und Schüler müsse gestärkt sowie Respekt gegenüber und Gleichberechtigung von verschiedenen Lebensstilen vermittelt werden. Außerdem sollen auch nicht-religiöse Menschen mit einer Erweiterung des "interreligiösen Dialogs“ zu einem "mehr als interreligiösen“ Dialog einbezogen werden. Gemeinsam sei den Bestrebungen verschiedener Einrichtungen, dass sie die reine Vermittlung von Faktenwissen vermeiden und den Fokus auf Empathiefähigkeit setzen. Dafür setze man bei geteilten Alltags- und Lebenserfahrungen an. 3. Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Viola Röser, Dr. Dalinc Dereköy und Prof. Dr. Dr. Matthias Rohe (© Peter-Paul Weiler) Prof. Dr. Dr. Mathias Rohe, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, ErlangenDr. Dalinc Dereköy, Kreis der Düsseldorfer Muslime, DüsseldorfMichael Szentei-Heise, Jüdische Gemeinde DüsseldorfModeration: Viola Röser, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn "Rechtlich ist Deutschland sehr gut aufgestellt für religiösen Pluralismus, faktisch ist es für einige Akteure einfacher als für andere.“ Mit diesen Worten leitete Professor Rohe von der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg in die Arbeitsgruppenphase ein. In seiner thematischen Einführung legte er die europäischen Modelle zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion(en) dar. Durch bestimmte historische Gegebenheiten, die in jedem Land unterschiedlich seien, entwickelten sich verschiedene Regelungssysteme, so der Referent. Das in Deutschland staatsprägende Christentum sei aufgrund seiner historischen Bedeutung als Staatsreligion anerkannt. Doch die deutsche Gesellschaft ist nunmehr geprägt von religiöser Pluralität. Infolge starker konfessioneller Auseinandersetzungen vor rund 500 Jahren wurden zahlreiche Protestanten aus Frankreich vertrieben und kamen nach Deutschland. Seit ca. 100 Jahren lassen sich in Deutschland starke Säkularisierungsprozesse beobachten, auch im Recht. Vor etwa 50 Jahren kamen viele Musliminnen und Muslime zunächst als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Deutschland. Um das Verhältnis zwischen Staat und Religion zu regeln, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Professor Rohe erörterte drei Modelle: Staatskirchensysteme mono-/multireligiös/-konfessionell Ein Beispiel dafür ist die "Anglican High Church“ in England, die Trauungen durchführen kann, die auch zivilrechtlich registriert werden.Laizismus (Bsp. Frankreich) Dieses Modell schreibt eine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Historisch entwickelte es sich durch die Wahrnehmung der römisch-katholische Kirche als Bedrohung für den staatlichen Machtanspruch. Als klassisches Beispiel für dieses Modell gilt Frankreich, wo es weder einen Religionsunterricht noch theologische Fakultäten gibt (mit Ausnahme der Möglichkeit zur Imam-Ausbildung in Straßburg). Moscheen sind in Frankreich vielfach sogenannte Centre Culturel. Kulturzentren werden staatlich gefördert, Religionsgemeinschaften nicht.Religionsoffene Säkularität (Bsp. Deutschland) Generell trennt die religionsoffene Säkularität Religion und die Ausübung staatlicher Macht, nicht aber Religion und Politik im Allgemeinen. Der Staat mischt sich nicht in die Organisation oder in Inhalte religiöser Gemeinschaften ein, jedoch bietet dieses Modell vielfältige Kooperationsmöglichkeiten von Religion und Staat. Das Recht in Deutschland fordert die Gleichbehandlung aller Religionen. Dennoch sind Privilegien des Christentums deutlich wahrnehmbar. Diese seien historisch gewachsen. Die entsprechenden Gesetze könnten nicht einfach für ungültig erklärt werden, es werde jedoch an Änderungen gearbeitet, um alle Religionen tatsächlich gleich zu behandeln. Die Religionsfreiheit sei sowohl ein individuelles als auch ein kollektives Recht. Individuell, weil religiöses Leben in Deutschland auch im öffentlichen Leben stattfinden dürfe. Kollektiv, weil es keine abstrakte Anerkennung von Religionen gäbe. Beispielsweise werde "das Christentum“ oder "der Islam“ nicht staatlich anerkannt. Die religiösen Organisationen wie christliche Kirchen oder muslimische Moscheen aber schon. Staatliche Anerkennung könne sich nur auf Einzelorganisationen beziehen. Für die Anerkennung von Körperschaftsrechten ist neben Mitgliederzahl und Struktur auch die Rechtstreue relevant. Dabei ist die konkrete Haltung der Organisation wichtig, nicht ihre Schriften. Beispielsweise würden Zeugen Jehovas nicht wählen, kämen aber ihrer staatsbürgerlichen Pflicht als Wahlhelfer nach. Staatliche Finanzierungshilfen (z. B. die Kirchensteuer) erhalten die Kirchen in Deutschland durch ihren Körperschaftstatus. Moscheen sind hingegen oftmals auf die Finanzierung aus dem Ausland angewiesen. Dafür werden sie stark kritisiert. Da jedoch auch die Kirchen in Deutschland Kirchen in Osteuropa fördern, wäre ein Finanzierungsverbot von Religionsgemeinschaften aus dem Ausland nicht verhältnismäßig. Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Matthias Rohe Dr. Dalinc Dereköy erörterte die Grundsätze, Ziele und Arbeit des Kreises der Düsseldorfer Muslime (KDDM). Der 2012 konstituierte KDDM ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Mittlerweile gehören dem KDDM 31 Vereinigungen an. Er repräsentiert rund die Hälfte der ca. 40.000 Düsseldorfer Musliminnen und Muslime und bekennt sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands. Der KDDM legt Wert auf Toleranz und Solidarität der Menschen untereinander und gegenüber Menschen anderen Glaubens. Mit dem KDDM möchten Düsseldorfer Musliminnen und Muslime ebenso wie muslimische Vereinigungen einen Beitrag zum kulturellen Austausch und zum Dialog mit sämtlichen Bevölkerungsschichten auf lokaler Ebene leisten. Dazu kommen die Delegierten aus den Düsseldorfer Moscheen und den islamischen Vereinen in regelmäßigen Abständen zusammen. Hierbei werden allerlei Themen besprochen, die Musliminnen und Muslime in Düsseldorf tangieren. Die Delegierten fungieren dabei als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und tragen die Ergebnisse in die Gemeinden. Menschen können unterschiedlicher Meinung sein, aber "lasst uns im Gespräch bleiben, lasst und Empathie füreinander pflegen“, so der Appell des Referenten. Michael Szentei-Heise von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf berichtete über die Entwicklungen seiner Gemeinde seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach dessen Ende seien lediglich 55 Überlebende zum ersten Gottesdienst erschienen. Durch die Zuwanderung von Juden aus Russland vergrößerte sich die Gemeinde jedoch wieder. Heute ist sie mit ca. 7000 Mitgliedern die drittgrößte in Deutschland. Durch Besitz des Körperschaftsstatus können jüdische Gemeinden, ähnlich wie christliche Kirchen, Steuern erheben. 4. Laizismus für Deutschland? Laizismus für Deutschland? Laizismus für Deutschland? Ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Großbölting Prof. Dr. Thomas Großbölting, Westfälische Wilhelms-Universität, MünsterModeration: Ruth Grune, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn In dieser Arbeitsgruppenphase skizzierte Professor Großbölting zunächst die historische Entwicklung der Religionszugehörigkeit in Deutschland (vor allem nach dem zweiten Weltkrieg). Anschließend zeigte er anhand von Deutschland und Frankreich auf, welche unterschiedlichen Modelle zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bestehen können. Abschließend waren die Teilnehmenden dazu angeregt, sich in Kleingruppen darüber auszutauschen, welche Konsequenzen eine Einführung des Laizismus für Deutschland haben könnte. In seinem ersten Input blickte Professor Großbölting auf die Religionszugehörigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1950. Damals zeigte sich folgendes Bild: In Deutschland im Jahr 1950 war die Bevölkerung etwa zu gleichen Teilen evangelisch (ca. 50 %) und römisch-katholisch (ca. 45 %) geprägt. Lediglich 3,6 % der Bevölkerung gehörten einer sonstigen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. Betrachtet man die Religionszugehörigkeit in Deutschland für das Jahr 2016, so zeigt sich ein anderes Bild. Im Jahr 2016 waren ca. 36 % konfessionslos, 28,5 % katholisch und 26,5 % evangelisch, etwa 4,9 % muslimisch und 3,9 % der Bevölkerung gehörten sonstigen Glaubensrichtungen an. Dieser Bruch sei aus zwei Gründen exzeptionell. Zum einen habe sich innerhalb von zwei Generationen die Religionszugehörigkeit fundamental gewandelt. Zum anderen würden diese Entwicklungen in Deutschland dem allgemeinen Welttrend widersprechen. So stehe der Trend zu mehr Säkularismus in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern im Gegensatz zu den allermeisten Regionen der Welt, in denen Religionszugehörigkeiten weiter steigen würden. Um diesen fundamentalen Bruch genauer nachvollziehen zu können, sei es, so Professor Großbölting, sinnvoll, historische Einschnitte zu untersuchen, anhand derer sich das deutsche Spezifikum einer "hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat erklären lasse. Das Fundament der "hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat in Deutschland liege in der rechtlichen Stellung der Kirchen und Glaubensgemeinschaften begründet. So wurde den Kirchen und Glaubensgemeinschaften in der fast deckungsgleichen Übernahme der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zugesprochen. Darauf beruhe schließlich die enge Zusammenarbeit zwischen den zwei großen christlichen Konfessionskirchen und dem Staat. Der bedeutende Einfluss der christlichen Kirchen in staatlichen Bereichen habe sich in den 1950er und 1960er besonders gezeigt. Die Kirchen nahmen in dieser Zeit bestimmenden Einfluss auf die Gesetzgebung, beteiligten sich am Rundfunk und gründeten zahlreiche katholische und evangelische Krankenhäuser und Schulen. Professor Großbölting machte deutlich, dass es sich besonders zu dieser Zeit, um eine Win-win-Situation für Staat und Kirche gehandelt habe. So konnte die sich bildende Bundesrepublik, angesichts der überwiegend christlich geprägten Bevölkerung, auf das moralische Fundament des Christentums zurückgreifen. Problematisch hingegen gestalte sich die enge Verbindung zwischen den christlichen Kirchen und dem Staat heute, vor allem aus zwei Gründen: Einerseits ist die Gesellschaft mittlerweile zu einem sehr hohen Anteil konfessionslos. Andererseits trete mit einem höheren Anteil islamischer Religionszugehörigkeiten in der Bevölkerung die Herausforderung der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Religionen stärker in den Fokus als zuvor. In einem zweiten Input ging Professor Großbölting genauer auf den Begriff des Laizismus ein und veranschaulichte diesen anhand der historischen Entwicklung des Laizismus in Frankreich. Zunächst stellte der Referent fest, dass es einen Laizismus in Reinform auch in Frankreich nicht gebe. Auch hier suche der Staat die gezielte Auseinandersetzung mit den Glaubensgemeinschaften und Kirchen. Die Kontroversität des Begriffs "Laizismus“ zeige sich exemplarisch an der momentanen Instrumentalisierung der laïcité durch den Front National, um sich vom Islam abzugrenzen: Die Angst vor dem Verlust nationaler Werte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts werde hier mit der Diskussion des Verhältnisses zwischen Staat und Religion verbunden. Historisch betrachtet, komme dem Laizismus eine gänzlich andere Rolle zu. Zur Zeit der französischen Revolution strebte man den Laizismus vor allem deshalb an, um die französische Monarchie zu beenden. Um eine Herrschaft des Volkes zu ermöglichen, war ein Bruch mit der eng mit der Monarchie verbundenen katholischen Kirche notwendig. Für den heutigen Laizismus in Frankreich sei vor allem das Trennungsgesetz von 1905 prägend. Dadurch wurde beispielweise die Streichung der staatlichen Kirchenfinanzierung bestimmt, ein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen verboten und die Kirchen und Glaubensgemeinschaften zu privatrechtlichen Vereinen erklärt. Anschließend thematisierte Professor Großbölting das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland, welches eine grundlegend andere Entwicklung genommen habe. Im Reichsdeputationshauptschluss aus dem Jahr 1806 sei die enge Verbindung von geistlicher und fürstlicher Macht zwar aufgehoben worden, gleichwohl aber eine starke Bindung der Kirchen an den Staat forciert worden. Grundlegend andere Voraussetzungen in Deutschland seien schon deshalb gegeben, da es in Deutschland zwei bestimmende Konfessionen gibt, deren Machtgleichgewicht einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung des Verhältnisses von Kirchen und Staat nehmen konnte. Außerdem habe es in Deutschland keine vergleichbare antikirchliche Bewegung gegeben. In Deutschland habe der Laizismus nie wirkliches politisches Gewicht erlangen können. 5. Medienberichterstattung von "Wir sind Papst“ bis "IS-Bräute“ Theodor Dierkes referiert zu seiner Arbeit beim Westdeutschen Rundfunk (© Peter-Paul Weiler) Dr. Anna Neumaier, Ruhr-Universität BochumTheodor Dierkes, Westdeutscher Rundfunk, KölnModeration: Miriam Vogel, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Nach der Begrüßung und Vorstellung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer formulierte die Moderatorin Miriam Vogel die Leitfrage für die Inputs und Diskussionen der Arbeitsgruppe: Welche Rolle spielen Medien vor allem in der Berichterstattung über das Konfliktpotenzial von Religionen? Einerseits, so die Moderatorin, scheinen sich die Menschen weniger für Religion zu interessieren, gleichzeitig jedoch seien die medialen Debatten über Religion und Religiosität emotional sehr aufgeladen. Dr. Anna Neumaier von der Ruhr-Universität in Bochum bot einen allgemeinen Überblick über die Darstellung von Religion in den Medien. Dabei legte sie den Fokus auf Darstellungen in Fernsehen und Printmedien. Über welche Religionen wird eigentlich berichtet? Aufgrund welchen Anlasses wird berichtet und wie sieht diese Berichterstattung konkret aus? Zur Beantwortung dieser Fragen bezog sich die Referentin auf eine Studie aus der Schweiz, die jedoch recht gut auf Deutschland übertragbar sei. Demnach wird vor allem über das Christentum und über den Islam berichtet. Anlass zur Berichterstattung bieten vor allem (politische) Konflikte. Der religiöse Alltag oder religiöse Praktiken scheinen in den Medien kaum relevant zu sein. Außerdem sei festzustellen, dass die Berichte über das Christentum differenzierter und positiver sind. Quantitativ nehmen sie jedoch ab. Christliche Themen, über die berichtet wird, sind zum einen der Katholizismus, der sich recht gut durch Bilddarstellungen des Papstes abbilden lässt, historische Hintergründe unter Bezugnahme auf die Person Jesus und biblische Erzählungen und letztlich auch die Gegenwartsdiagnostik: Was glaubt Deutschland heute? Elemente für die Berichterstattung über den Protestantismus finden weniger Beachtung. Dies erklärte die Referentin unter anderem durch das Fehlen eines Papstes, dessen Bilddarstellungen sie als "schnelle Schüsse ins Gehirn“ charakterisierte. Konträr zur Berichterstattung über das Christentum, sind Darstellungen des Islam deutlich undifferenzierter, negativer und quantitativ zunehmend. Die Themen, die besprochen werden, stehen meist in einem Zusammenhang mit Politik, Konflikt und Terror. Über das Judentum wird nur wenig berichtet. Thematisiert werden dann vor allem der Nahost-Konflikt oder Antisemitische Vorfälle sowie Berichterstattungen über den Holocaust. Hinduismus und Buddhismus finden beinahe gar keine mediale Beachtung. Auch lassen sich Unterschiede in der Darstellungen religiöser Bewegungen jenseits der Konfessionen erkennen. So werden Neureligiöse Bewegungen häufig negativ dargestellt. Spirituelle Bewegungen hingegen erfahren eine vorwiegend positive Berichterstattung, die mit wellbeing, Lifestyle und Selbstoptimierung assoziiert wird. Anschließend legte die Referentin ihren Fokus auf die Darstellung des Islam in den Medien. Das negative Image der Religion, so Dr. Neumaier, stünde in Diskrepanz zu den kaum vorhandenen Problemen im Zusammenleben der Menschen. Dennoch greife ein gewisser Mechanismus: Die mediale Berichterstattung, inklusive ihrer Bilder, rufe negative Assoziationen hervor. Dabei werde nicht nur unmittelbar in Reaktion auf Konflikte oder Terroranschläge berichtet, sondern stets auch mithilfe von Narrativen und Bildsprache, die negative Sujets befördern. Beispiele hierfür seien Haremsbilder, die ein Beleg für angeblich rückständige Geschlechterverhältnisse und unterdrückte Frauen sein sollen. Theodor Dierkes vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) ergänzte die Perspektive auf die mediale Berichterstattung in Bezug auf Religion um seine Kenntnisse und Erfahrungen durch die Arbeit für das Radio. Die Geschichte des WDR, so der Referent, ließe sich als eine Emanzipationsgeschichte von der Kirche betrachten. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg wurde 1945 nach einer geeigneten Person für eine weihnachtliche Ansprache gesucht. Die Wahl fiel letztlich auf den damaligen Bischof von Köln, Josef Kardinal Frings. Obwohl die britische Besatzungsmacht dieser Entscheidung zunächst skeptisch gegenüber stand, war es Kardinal Frings erlaubt, über das Radio eine Predigt an die Menschen zu richten. Als erste Gottesdienstübertragung überhaupt setzte dieses Ereignis Impulse für kirchliche Sendungen. Die Briten konstituierten Rundfunkgesetze, in denen sie die Kirchen privilegierten und ihnen das Recht zur Produktion von Verkündigungssendungen einräumten. Die Inhalte dieser Sendungen wurden mit den Kirchen abgestimmt. Erst in den 1960er Jahren wuchs der Einfluss von Redakteuren auf diese Sendungen. Heute erhalten Vertreter der Kirche noch Informationen über die Inhalte einer WDR-Verkündigungssendung, ein Mitspracherecht sei jedoch nicht länger vorhanden, so Herr Dierkes. Das Gesetz des Westdeutschen Rundfunks werde ständig novelliert. Es beinhaltet jedoch stets einen Paragraphen, welcher beispielsweise den Kirchen oder auch den jüdischen Kultusgemeinden Sendezeit einräumt. Für den Inhalt einer Sendung sei diejenige Institution verantwortlich, der die Sendezeit gewährt wurde. Ein ausführliches Religionsdossier auf der Homepage des WDR gibt ausführliche Informationen über diverse Glaubensrichtungen. Dabei schließt dieses Dossier Informationen über das Alltagsleben der Religionsgemeinschaften ein. 6. Politische und gesellschaftliche Debatten innerhalb der Religionsgemeinschaften Samy Charchira im Vortrag (© Peter-Paul Weiler) Inga Beinke, Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, KölnSamy Charchira, Universität OsnabrückModeration: Reinhard Fischer, Berliner Landeszentrale für politische Bildung, Berlin Die Arbeitsgruppe "Politische und gesellschaftliche Debatten innerhalb der Religionsgemeinschaften“ wurde nach einer kurzen Vorstellungsrunde mit vier Statements eingeleitet, zu denen sich die Teilnehmenden positionieren sollten. Bei dieser Übung wurde deutlich, dass die Meinungen zur Rolle von Religion in Politik und Gesellschaft äußerst ambivalent sind. Lediglich die Statements "Religionsgemeinschaften sollten sich aus der Tagespolitik heraushalten“ und "Religionsgemeinschaften sollten extremistische Personen aus den eigenen Reihen ausschließen“ erfuhren einstimmige Zustimmungen oder Ablehnungen. Der Übung folgte ein Vortrag von Inga Beinke, Politikwissenschaftlerin und Referatsleiterin im Bundesamt für Familien und zivilgesellschaftliche Aufgaben. In ihrer Profession als Politikwissenschaftlerin habe sie sich lange mit den Themen Politik und Religion auseinandergesetzt und habe sich den politischen und gesellschaftlichen Debatten innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften gewidmet, so die Referentin. Sie sprach in dieser Hinsicht von einer partnerschaftlichen Kooperation zwischen Politik und Religion, die als demokratieförderlich gelten könne. Teilweise würden Politiker sogar fordern, dass sich die Kirche in politische Angelegenheiten einmischt. Auch in der Zivilgesellschaft sei die Beteiligung der Kirche am politischen Geschehen anerkannt, sogar von nicht-religiösen Menschen. Dies liege daran, dass mit ihr keine eigennützigen Interessen assoziiert werden. Innerhalb der Kirchengemeinden und christlichen Religionsgemeinschaften werden die aktuellen Themen der Politik stets diskutiert. Die Analyse der Websites und Facebook-Auftritte evangelischer und katholischer Kirchen würden dies deutlich zeigen. Zentrale Themen seien insbesondere Flucht, Migration, der Holocaust, Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Diese Themen spiegeln sich auch in den 2018 umgesetzten Initiativen wider. Dem Thema Homosexualität stehe die Kirche aber zu großen Teilen negativ gegenüber und auch sogenannte "Homoheiler“ - Menschen, die Homosexualität als Krankheit wahrnehmen und diese durch sprituelle Rituale und Gebete zu einer anderen sexuellen Orientierung bewegen möchten - seien nach wie vor im Einsatz. Im Allgemeinen sei zu erkennen, dass stark religiöse Menschen in Deutschland eher dazu neigen, kulturelle Vielfalt in ihren verschiedenen Facetten abzulehnen. Auch neigen religiöse Menschen eher dazu, sich gegen Homosexualität zu positionieren, wobei es bei Katholiken eher der Fall sei als bei Protestanten. In Bezug auf die Thematik des Rassismus habe die Kirche deutlich Stellung bezogen und spreche sich klar dagegen aus, während Kirchenmitglieder rassistische Stereotype vermehrt vertreten. Gleiches gelte auch für den Antisemitismus. Eine Haltung seitens der Kirche zum Rechtspopulismus habe sich nur schleichend ergeben. Eine Distanzierung sei zu erkennen, allerdings werde der Umgang mit dem Rechtspopulismus innerhalb der Kirchen sehr diskursiv betrachtet, aber (noch) nicht umfassend ausdiskutiert. Es sei festzuhalten, dass sehr unterschiedliche Themen wie Sterbehilfe, Umweltschutz und der Klimawandel innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften zur Sprache kommen, aber vor allem die große Frage im Raum stünde, wie sich Christinnen und Christen in Deutschland den "richtigen“ Umgang mit Rechtspopulismus, Rassismus, Extremismus, Islam und Sexualität vorstellen. Hervorgehoben wurde dabei, dass es keine explizite Debattenkultur innerhalb der christlichen Gemeinschaften gebe, sondern einzelne Debatten immer milieu- und themenabhängig geführt werden. Zudem spiele das Selbstverständnis der Kirche eine wichtige Rolle im Umgang mit politischen und gesellschaftlichen Fragen. Die Evangelische Kirche in Deutschland beziehe zu einigen politischen Themen eine deutliche Stellung und verkörpere dabei Selbstbewusstsein. Samy Charchira vom Institut für Islamische Theologie in Osnabrück und dem Präventionsprogramm Wegweiser in Düsseldorf knüpfte an die Ausführungen von Inga Beinke an und warf einen Blick auf die Debatten innerhalb der muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland. Er ordnete die Diskursthemen muslimischer Gemeinden verschiedenen Handlungsfeldern zu. Thematisiert werden beispielsweise eine mögliche Moscheesteuer, sowie die Anerkennung von Institutionen wie Kindergärten, welche diesbezüglich nach wie vor mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Zusätzlich sei der Mangel an Ressourcen und finanziellen Mitteln ein Problem muslimischer Gemeinschaften. Die Förderung durch öffentliche Gelder finde kaum bzw. gar nicht statt. Außerdem würden Moscheegemeinden in Bezug auf eigene Initiativen in der Präventionsarbeit äußerst zögerlich agieren, da sie infolge ihrer Bemühungen nicht selten in den Fokus von Gesellschaft und Politik geraten. Die bestehenden überwachenden Strukturen schränken die Handlungsfreiheit muslimischer Gemeinschaften ein und führen zu einem Gefühl von Angst und Entmündigung sowie zu einem enormen Misstrauen gegenüber Politik, Medien, Verwaltung und Sicherheitsbehörden. Der Referent kritisierte, dass sich gesamtgesellschaftliche Themen wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Genderthemen innerhalb der muslimischen Gemeinden kaum entfalten könnten, da sie mit den alltäglichen Problematiken derart überlastet seien, dass es keinen Raum für ebenjene Debatten gebe. Um dem entgegenzuwirken, müssten die Zugangsbarrieren für muslimische Gemeinden abgebaut und ihre Ressourcen aufgestockt werden. Nur dann könnte eine gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet. Arbeitsgruppe "Religion als Identitätsstifter?" (© Peter-Paul Weiler) Mirjam Gläser, ufuq.de, BerlinSaba-Nur Cheema, Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am MainDr. Vanessa Rau, University of CambridgeModeration: Magali Dietrich, Universität Hamburg Den Workshop “Religion als Identitätsstifter” eröffnete die Soziologin Dr. Vanessa Rau mit ihrem Input-Vortrag “Religion - Säkularität - Identität”. Darin erläuterte sie die wissenschaftliche Dimension dieser Konzepte. Sie selbst hat über die Aushandlungsprozesse von Religiosität in einer Gruppe aus israelstammender Berlinerinnen und Berliner promoviert. Frau Dr. Rau hielt fest, dass es keine Definition des Begriffs "Identität“ gebe. Vielmehr beschäftige die Frage, was Identität ausmache, die Philosophie seit der Antike. Identifikationen seien dabei Prozesse, bei denen auch Gruppenzugehörigkeiten und Fremdzuschreibungen eine große Bedeutung zukomme. Multiple Identitätskategorien seien nicht nur möglich, sondern normal. In der Soziologie werde daher gerne auf die Kategorien "Gender-Race-Class", sowie Nation und Religion Bezug genommen. Hinzu kommen die soziale Position des Individuums und die Selbst-Definition. Eine Definition von "Religion" sei ebenso kompliziert wie jene der Identität. So habe der Anthropologe Talal Asad festgehalten, dass es "keine universale Definition von Religion geben" könne, weil "die Definition selbst das Produkt diskursiver Prozesse ist“. Religionszugehörigkeit und Religiosität lassen sich wiederum differenzieren in verschiedene Subkategorien wie Tradition, familiale Zugehörigkeit, Ethik, Glaube und Spiritualität. Was dies jedoch konkret umfasse, sei Verhandlungssache und werde von der jeweiligen Gruppe oder dem Kontext definiert, so die Referentin. Zuletzt ging Frau Dr. Rau auf den Begriff der Säkularität ein. Der Religionssoziologe José Casanova beschrieb das "saeculum" als "nicht-göttliche Zeit". Der Prozess der Säkularisierung sei dabei eng mit der Entwicklung der Moderne verbunden und sei in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft entstanden. Somit ist er klar dem europäischen Kontext zuzuordnen. Eine Möglichkeit, religiöse und säkulare Identitäten zusammen zu denken, ergebe sich in der Biografie, erklärte Frau Dr. Rau. In der Untersuchung von individuellen Biografien könne der jeweiligen Bedeutung von Familie, Tradition und sozio-politischem Kontext nachgegangen werden und die Frage danach gestellt werden, welche Funktion Religiosität oder Säkularität jeweils einnehmen. An diese wissenschaftlichen Ausführungen knüpfte Mirjam Gläser vom Berliner Verein ufuq.de an. Sie konstatierte, dass muslimische Identitäten öffentlicher als christliche ausgehandelt würden. So sei die muslimische Identität auch medial sehr umkämpft, vor allem wenn zwischen Religionszugehörigkeit, fanatischer Auslegung und sogar Terrorismus nicht unterschieden werde. Dies illustrierte sie mit verschiedenen Titelblättern deutscher Leitmedien, die sich in diskreditierender Weise auf den Islam bezogen hatten. Ein Ziel von ufuq.de sei es, Wissen über den Islam zu vermitteln. Dies könne dabei helfen, den Islam als Ressource zu sehen. Dass einem Großteil muslimischer Jugendlicher in Deutschland Religion sehr wichtig sei, könne damit in Zusammenhang gebracht werden, dass sie in einer Minderheitensituation aufwüchsen, was wiederum den Wunsch nach einem öffentlich sichtbaren Bekenntnis zum Islam befördern könne. Insgesamt spricht der Religionswissenschaftler Michael Blume hinsichtlich islamischer Praxis von einem Wandel von “einer Alltagspraxis hin zu einer Bekenntnisreligion”. Problematisch sei, dass viele Jugendliche in einem Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der eigenen Familie und jenen der Mehrheitsgesellschaft leben würden. Dabei wäre es wichtig, Unterschiede und Gemeinsamkeiten wahrzunehmen, Anerkennung zu erfahren und Unsicherheiten und Widersprüche auszuhalten. Auch Musliminnen und Muslime hätten nicht nur eine religiöse Identität, sie würden aber zu häufig auf diese reduziert. Religiöse Themen sollten häufiger in lebensweltliche Fragen "übersetzt werden", um dahinterstehende Aspekte behandeln zu können. Die Politologin und Leiterin der Bildungsabteilung der Bildungsstätte Anne Frank, Saba-Nur Cheema, problematisierte ein weit verbreitetes, kulturalisierendes Verständnis von Religion, welches Vorstellungen von Religionen und Intensität von Religiosität an die Herkunft aus bestimmten Regionen knüpft. Dies könne in der Bildungsarbeit aber auch als Ansatz dienen, um über Fremdzuschreibungen zu sprechen. Generell seien Religionen aber in der politischen Bildung irrelevant, Religiosität jedoch nicht. Die "christliche Brille" der Mehrheitsgesellschaft schaue stark vergleichend auf andere Religionen und verkenne dabei zu häufig Unterschiede bei muslimischen und jüdischen Identitäten. Ein Unterschied zum Christentum sei beispielsweise, dass jüdische Identitäten nicht zwangsläufig mit der religiösen übereinstimmen. Auch würden dabei Atheistinnen und Atheisten aus dem Blick geraten. Diese gesellschaftliche Fremdzuschreibung habe auch Auswirkungen auf das Selbstbild des Individuums. Gesellschaftliche Fremdzuschreibungen haben Einfluss auf das Selbstbild der eigenen Identität, deshalb gelte es sich bewusst zu machen, dass es nicht eine religiöse Identität, sondern religiöse Identitäten gebe. Entsprechend bestehen auch innerhalb einer konfessionellen Gruppe unterschiedliche Glaubenspraxen und Identitäten. Lebensweltliche Fragen von Jugendlichen sollten ernst genommen werden, auch dabei könne Religion eine bedeutende Rolle zukommen. Arbeitsgruppe "Religion als Identitätsstifter?" (© Peter-Paul Weiler) Elke Seiler im Gespräch (© Peter-Paul Weiler) Yvonne Jaeckel, Universität LeipzigElke Seiler, Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur, LeipzigModeration: Dr. Björn Mastiaux, Soziologe, Düsseldorf Nach einer Begrüßung durch den Moderator Dr. Björn Mastiaux und einer Vorstellungsrunde der Teilnehmerinnen und Teilnehmer übernahm Yvonne Jaeckel den thematischen Einstieg mit Informationen zu Religiosität und Nicht-Religiosität in Deutschland. Anknüpfend an den Vortrag von Professor Pollak "Deutschland, wie hast du’s mit der Religion?“ stellte sie dar, wo in Deutschland an was geglaubt wird. Für Westdeutschland sprach sie dabei von einer konfessionellen Dreiteilung: Etwa 30% der Bevölkerung seien katholisch, 30% evangelisch und 30% konfessionslos. In Ostdeutschland existiere ein deutlich größerer Anteil an Konfessionslosen. Insgesamt steige in ganz Deutschland die Anzahl der Menschen ohne eine feste Religionszugehörigkeit. Es handele sich nicht um ein rein ostdeutsches Phänomen. Religion werde maßgeblich über Sozialisation weitergegeben. Mit steigendem Verlust der Bedeutung religiöser Alltagspraxis nehme entsprechend auch die religiöse Sozialisation ab. Eine große Herausforderung in der wissenschaftlichen Arbeit sei die statistische Erfassung von religiöser Pluralisierung. Oft bestehe eine Diskrepanz zwischen der Konfession, die offiziell angegeben wird und der Selbstbeschreibung der eigenen Glaubensüberzeugung. Eine eindeutige Zuordnung sei daher nicht möglich. Auch innerhalb einzelner Glaubensgruppen könne es zu ganz unterschiedlichen Gottesvorstellungen kommen. Ebenso schwierig sei die Abbildung der Konfessionslosen, es fehlen hierzu zuverlässige Daten. Auf Basis des Religionsmonitors werde innerhalb der Gruppe der Konfessionslosen eine Verteilung von 29% Atheisten, 21% Spirituellen, 11% individuell Religiösen und 39% Areligiösen ausgemacht. Frau Jaeckel betont in diesem Kontext, dass die Konfessionslosen als eine plurale Gruppe und nicht als Einheit verstanden werden sollten. Mit dieser Aussage griff sie auf, was bereits im Anschluss an Professor Pollacks Vortrag geäußert wurde. Unterschiedliche Wahrnehmungsmuster der Pluralisierung von religiösen und kirchlichen Lebensstilen könnten entweder als interessant und als Bereicherung wahrgenommen werden oder aber Verunsicherung und ein Gefühl von Bedrohung auslösen, so Frau Jaeckel. Solch unterschiedliche Reaktionen führten zu einer stärkeren Polarisierung. Im Anschluss an den ersten Input wurde im Plenum nochmals die eingangs genannte prozentuale Verteilung der Konfessionen besprochen. Die im Vortrag angeführte konfessionelle Dreiteilung klammere 10% der Bevölkerung aus. Diese 10% seien auf andere Religionen, z.B. Islam und Judentum, zu verteilen. Auch diese Erhebung sei jedoch schwierig und die prozentualen Angaben folglich nicht zwingend korrekt. Außerdem wurde angemerkt, dass das Spektrum der Konfessionslosen um einiges vielseitiger sei, als die statistisch erfassten Daten dies vermuten lassen. Auch der Begriff "Atheismus“ sei insgesamt sehr kontrovers, habe viele Bedeutungen und müsse folglich immer konkretisiert werden. Andere Begriffe, z.B. "Säkularisierung“ oder "Religion“ seien oftmals ebenso unzureichend definiert. Alleine die unterschiedlichen biografischen Hintergründe der Teilnehmenden zeige, dass das jeweilige Begriffsverständnis nicht eindeutig ist. Frau Seiler thematisierte in ihrem Impulsreferat die Areligiosität im Alltag und bezog sich dabei auch auf eigene Erfahrungen aus der Arbeit für das Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur (ZEOK) in Sachsen. Hier liege der Anteil der Konfessionslosen mit 70% deutlich höher als in anderen Teilen Deutschlands. Dies mache Konflikte besonders sichtbar. Es lasse sich eine Spannung zwischen zwei Positionen feststellen: einerseits Desinteresse an Religion und geerbte Konfessionslosigkeit, andererseits ein tradiertes Selbstverständnis von religiös geprägten Strukturen. Daraus resultieren neue Aushandlungsprozesse im politisch-öffentlichen und pädagogisch-schulischen Raum. Folglich müsse die Frage diskutiert werden, wie viel Religiosität den Alltag bestimmen dürfe und wie insbesondere pädagogische Einrichtungen Rücksicht auf religiöse Bedürfnisse nehmen sollen oder müssen. Das bestehende Spannungsfeld führe zu Vorurteilen und diese haben im In-Group und Out-Group-Denken eine ganz eigene Dynamik: Es finde eine positive Selbstzuschreibung und eine negative Wahrnehmung der anderen Gruppe statt. Frau Seiler sieht daher Handlungsbedarf in der Präventionsarbeit. Die Dialogfähigkeit der Schülerinnen und Schüler müsse gestärkt sowie Respekt gegenüber und Gleichberechtigung von verschiedenen Lebensstilen vermittelt werden. Außerdem sollen auch nicht-religiöse Menschen mit einer Erweiterung des "interreligiösen Dialogs“ zu einem "mehr als interreligiösen“ Dialog einbezogen werden. Gemeinsam sei den Bestrebungen verschiedener Einrichtungen, dass sie die reine Vermittlung von Faktenwissen vermeiden und den Fokus auf Empathiefähigkeit setzen. Dafür setze man bei geteilten Alltags- und Lebenserfahrungen an. Elke Seiler im Gespräch (© Peter-Paul Weiler) Viola Röser, Dr. Dalinc Dereköy und Prof. Dr. Dr. Matthias Rohe (© Peter-Paul Weiler) Prof. Dr. Dr. Mathias Rohe, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, ErlangenDr. Dalinc Dereköy, Kreis der Düsseldorfer Muslime, DüsseldorfMichael Szentei-Heise, Jüdische Gemeinde DüsseldorfModeration: Viola Röser, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn "Rechtlich ist Deutschland sehr gut aufgestellt für religiösen Pluralismus, faktisch ist es für einige Akteure einfacher als für andere.“ Mit diesen Worten leitete Professor Rohe von der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg in die Arbeitsgruppenphase ein. In seiner thematischen Einführung legte er die europäischen Modelle zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion(en) dar. Durch bestimmte historische Gegebenheiten, die in jedem Land unterschiedlich seien, entwickelten sich verschiedene Regelungssysteme, so der Referent. Das in Deutschland staatsprägende Christentum sei aufgrund seiner historischen Bedeutung als Staatsreligion anerkannt. Doch die deutsche Gesellschaft ist nunmehr geprägt von religiöser Pluralität. Infolge starker konfessioneller Auseinandersetzungen vor rund 500 Jahren wurden zahlreiche Protestanten aus Frankreich vertrieben und kamen nach Deutschland. Seit ca. 100 Jahren lassen sich in Deutschland starke Säkularisierungsprozesse beobachten, auch im Recht. Vor etwa 50 Jahren kamen viele Musliminnen und Muslime zunächst als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Deutschland. Um das Verhältnis zwischen Staat und Religion zu regeln, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Professor Rohe erörterte drei Modelle: Staatskirchensysteme mono-/multireligiös/-konfessionell Ein Beispiel dafür ist die "Anglican High Church“ in England, die Trauungen durchführen kann, die auch zivilrechtlich registriert werden.Laizismus (Bsp. Frankreich) Dieses Modell schreibt eine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Historisch entwickelte es sich durch die Wahrnehmung der römisch-katholische Kirche als Bedrohung für den staatlichen Machtanspruch. Als klassisches Beispiel für dieses Modell gilt Frankreich, wo es weder einen Religionsunterricht noch theologische Fakultäten gibt (mit Ausnahme der Möglichkeit zur Imam-Ausbildung in Straßburg). Moscheen sind in Frankreich vielfach sogenannte Centre Culturel. Kulturzentren werden staatlich gefördert, Religionsgemeinschaften nicht.Religionsoffene Säkularität (Bsp. Deutschland) Generell trennt die religionsoffene Säkularität Religion und die Ausübung staatlicher Macht, nicht aber Religion und Politik im Allgemeinen. Der Staat mischt sich nicht in die Organisation oder in Inhalte religiöser Gemeinschaften ein, jedoch bietet dieses Modell vielfältige Kooperationsmöglichkeiten von Religion und Staat. Das Recht in Deutschland fordert die Gleichbehandlung aller Religionen. Dennoch sind Privilegien des Christentums deutlich wahrnehmbar. Diese seien historisch gewachsen. Die entsprechenden Gesetze könnten nicht einfach für ungültig erklärt werden, es werde jedoch an Änderungen gearbeitet, um alle Religionen tatsächlich gleich zu behandeln. Die Religionsfreiheit sei sowohl ein individuelles als auch ein kollektives Recht. Individuell, weil religiöses Leben in Deutschland auch im öffentlichen Leben stattfinden dürfe. Kollektiv, weil es keine abstrakte Anerkennung von Religionen gäbe. Beispielsweise werde "das Christentum“ oder "der Islam“ nicht staatlich anerkannt. Die religiösen Organisationen wie christliche Kirchen oder muslimische Moscheen aber schon. Staatliche Anerkennung könne sich nur auf Einzelorganisationen beziehen. Für die Anerkennung von Körperschaftsrechten ist neben Mitgliederzahl und Struktur auch die Rechtstreue relevant. Dabei ist die konkrete Haltung der Organisation wichtig, nicht ihre Schriften. Beispielsweise würden Zeugen Jehovas nicht wählen, kämen aber ihrer staatsbürgerlichen Pflicht als Wahlhelfer nach. Staatliche Finanzierungshilfen (z. B. die Kirchensteuer) erhalten die Kirchen in Deutschland durch ihren Körperschaftstatus. Moscheen sind hingegen oftmals auf die Finanzierung aus dem Ausland angewiesen. Dafür werden sie stark kritisiert. Da jedoch auch die Kirchen in Deutschland Kirchen in Osteuropa fördern, wäre ein Finanzierungsverbot von Religionsgemeinschaften aus dem Ausland nicht verhältnismäßig. Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Matthias Rohe Dr. Dalinc Dereköy erörterte die Grundsätze, Ziele und Arbeit des Kreises der Düsseldorfer Muslime (KDDM). Der 2012 konstituierte KDDM ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Mittlerweile gehören dem KDDM 31 Vereinigungen an. Er repräsentiert rund die Hälfte der ca. 40.000 Düsseldorfer Musliminnen und Muslime und bekennt sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands. Der KDDM legt Wert auf Toleranz und Solidarität der Menschen untereinander und gegenüber Menschen anderen Glaubens. Mit dem KDDM möchten Düsseldorfer Musliminnen und Muslime ebenso wie muslimische Vereinigungen einen Beitrag zum kulturellen Austausch und zum Dialog mit sämtlichen Bevölkerungsschichten auf lokaler Ebene leisten. Dazu kommen die Delegierten aus den Düsseldorfer Moscheen und den islamischen Vereinen in regelmäßigen Abständen zusammen. Hierbei werden allerlei Themen besprochen, die Musliminnen und Muslime in Düsseldorf tangieren. Die Delegierten fungieren dabei als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und tragen die Ergebnisse in die Gemeinden. Menschen können unterschiedlicher Meinung sein, aber "lasst uns im Gespräch bleiben, lasst und Empathie füreinander pflegen“, so der Appell des Referenten. Michael Szentei-Heise von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf berichtete über die Entwicklungen seiner Gemeinde seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach dessen Ende seien lediglich 55 Überlebende zum ersten Gottesdienst erschienen. Durch die Zuwanderung von Juden aus Russland vergrößerte sich die Gemeinde jedoch wieder. Heute ist sie mit ca. 7000 Mitgliedern die drittgrößte in Deutschland. Durch Besitz des Körperschaftsstatus können jüdische Gemeinden, ähnlich wie christliche Kirchen, Steuern erheben. Viola Röser, Dr. Dalinc Dereköy und Prof. Dr. Dr. Matthias Rohe (© Peter-Paul Weiler) Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Unterschiedliche Konfessionen, gleiche Rechte? Ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Matthias Rohe Laizismus für Deutschland? Laizismus für Deutschland? Ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Großbölting Prof. Dr. Thomas Großbölting, Westfälische Wilhelms-Universität, MünsterModeration: Ruth Grune, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn In dieser Arbeitsgruppenphase skizzierte Professor Großbölting zunächst die historische Entwicklung der Religionszugehörigkeit in Deutschland (vor allem nach dem zweiten Weltkrieg). Anschließend zeigte er anhand von Deutschland und Frankreich auf, welche unterschiedlichen Modelle zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bestehen können. Abschließend waren die Teilnehmenden dazu angeregt, sich in Kleingruppen darüber auszutauschen, welche Konsequenzen eine Einführung des Laizismus für Deutschland haben könnte. In seinem ersten Input blickte Professor Großbölting auf die Religionszugehörigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1950. Damals zeigte sich folgendes Bild: In Deutschland im Jahr 1950 war die Bevölkerung etwa zu gleichen Teilen evangelisch (ca. 50 %) und römisch-katholisch (ca. 45 %) geprägt. Lediglich 3,6 % der Bevölkerung gehörten einer sonstigen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. Betrachtet man die Religionszugehörigkeit in Deutschland für das Jahr 2016, so zeigt sich ein anderes Bild. Im Jahr 2016 waren ca. 36 % konfessionslos, 28,5 % katholisch und 26,5 % evangelisch, etwa 4,9 % muslimisch und 3,9 % der Bevölkerung gehörten sonstigen Glaubensrichtungen an. Dieser Bruch sei aus zwei Gründen exzeptionell. Zum einen habe sich innerhalb von zwei Generationen die Religionszugehörigkeit fundamental gewandelt. Zum anderen würden diese Entwicklungen in Deutschland dem allgemeinen Welttrend widersprechen. So stehe der Trend zu mehr Säkularismus in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern im Gegensatz zu den allermeisten Regionen der Welt, in denen Religionszugehörigkeiten weiter steigen würden. Um diesen fundamentalen Bruch genauer nachvollziehen zu können, sei es, so Professor Großbölting, sinnvoll, historische Einschnitte zu untersuchen, anhand derer sich das deutsche Spezifikum einer "hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat erklären lasse. Das Fundament der "hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat in Deutschland liege in der rechtlichen Stellung der Kirchen und Glaubensgemeinschaften begründet. So wurde den Kirchen und Glaubensgemeinschaften in der fast deckungsgleichen Übernahme der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zugesprochen. Darauf beruhe schließlich die enge Zusammenarbeit zwischen den zwei großen christlichen Konfessionskirchen und dem Staat. Der bedeutende Einfluss der christlichen Kirchen in staatlichen Bereichen habe sich in den 1950er und 1960er besonders gezeigt. Die Kirchen nahmen in dieser Zeit bestimmenden Einfluss auf die Gesetzgebung, beteiligten sich am Rundfunk und gründeten zahlreiche katholische und evangelische Krankenhäuser und Schulen. Professor Großbölting machte deutlich, dass es sich besonders zu dieser Zeit, um eine Win-win-Situation für Staat und Kirche gehandelt habe. So konnte die sich bildende Bundesrepublik, angesichts der überwiegend christlich geprägten Bevölkerung, auf das moralische Fundament des Christentums zurückgreifen. Problematisch hingegen gestalte sich die enge Verbindung zwischen den christlichen Kirchen und dem Staat heute, vor allem aus zwei Gründen: Einerseits ist die Gesellschaft mittlerweile zu einem sehr hohen Anteil konfessionslos. Andererseits trete mit einem höheren Anteil islamischer Religionszugehörigkeiten in der Bevölkerung die Herausforderung der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Religionen stärker in den Fokus als zuvor. In einem zweiten Input ging Professor Großbölting genauer auf den Begriff des Laizismus ein und veranschaulichte diesen anhand der historischen Entwicklung des Laizismus in Frankreich. Zunächst stellte der Referent fest, dass es einen Laizismus in Reinform auch in Frankreich nicht gebe. Auch hier suche der Staat die gezielte Auseinandersetzung mit den Glaubensgemeinschaften und Kirchen. Die Kontroversität des Begriffs "Laizismus“ zeige sich exemplarisch an der momentanen Instrumentalisierung der laïcité durch den Front National, um sich vom Islam abzugrenzen: Die Angst vor dem Verlust nationaler Werte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts werde hier mit der Diskussion des Verhältnisses zwischen Staat und Religion verbunden. Historisch betrachtet, komme dem Laizismus eine gänzlich andere Rolle zu. Zur Zeit der französischen Revolution strebte man den Laizismus vor allem deshalb an, um die französische Monarchie zu beenden. Um eine Herrschaft des Volkes zu ermöglichen, war ein Bruch mit der eng mit der Monarchie verbundenen katholischen Kirche notwendig. Für den heutigen Laizismus in Frankreich sei vor allem das Trennungsgesetz von 1905 prägend. Dadurch wurde beispielweise die Streichung der staatlichen Kirchenfinanzierung bestimmt, ein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen verboten und die Kirchen und Glaubensgemeinschaften zu privatrechtlichen Vereinen erklärt. Anschließend thematisierte Professor Großbölting das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland, welches eine grundlegend andere Entwicklung genommen habe. Im Reichsdeputationshauptschluss aus dem Jahr 1806 sei die enge Verbindung von geistlicher und fürstlicher Macht zwar aufgehoben worden, gleichwohl aber eine starke Bindung der Kirchen an den Staat forciert worden. Grundlegend andere Voraussetzungen in Deutschland seien schon deshalb gegeben, da es in Deutschland zwei bestimmende Konfessionen gibt, deren Machtgleichgewicht einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung des Verhältnisses von Kirchen und Staat nehmen konnte. Außerdem habe es in Deutschland keine vergleichbare antikirchliche Bewegung gegeben. In Deutschland habe der Laizismus nie wirkliches politisches Gewicht erlangen können. Laizismus für Deutschland? Laizismus für Deutschland? Ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Großbölting Theodor Dierkes referiert zu seiner Arbeit beim Westdeutschen Rundfunk (© Peter-Paul Weiler) Dr. Anna Neumaier, Ruhr-Universität BochumTheodor Dierkes, Westdeutscher Rundfunk, KölnModeration: Miriam Vogel, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Nach der Begrüßung und Vorstellung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer formulierte die Moderatorin Miriam Vogel die Leitfrage für die Inputs und Diskussionen der Arbeitsgruppe: Welche Rolle spielen Medien vor allem in der Berichterstattung über das Konfliktpotenzial von Religionen? Einerseits, so die Moderatorin, scheinen sich die Menschen weniger für Religion zu interessieren, gleichzeitig jedoch seien die medialen Debatten über Religion und Religiosität emotional sehr aufgeladen. Dr. Anna Neumaier von der Ruhr-Universität in Bochum bot einen allgemeinen Überblick über die Darstellung von Religion in den Medien. Dabei legte sie den Fokus auf Darstellungen in Fernsehen und Printmedien. Über welche Religionen wird eigentlich berichtet? Aufgrund welchen Anlasses wird berichtet und wie sieht diese Berichterstattung konkret aus? Zur Beantwortung dieser Fragen bezog sich die Referentin auf eine Studie aus der Schweiz, die jedoch recht gut auf Deutschland übertragbar sei. Demnach wird vor allem über das Christentum und über den Islam berichtet. Anlass zur Berichterstattung bieten vor allem (politische) Konflikte. Der religiöse Alltag oder religiöse Praktiken scheinen in den Medien kaum relevant zu sein. Außerdem sei festzustellen, dass die Berichte über das Christentum differenzierter und positiver sind. Quantitativ nehmen sie jedoch ab. Christliche Themen, über die berichtet wird, sind zum einen der Katholizismus, der sich recht gut durch Bilddarstellungen des Papstes abbilden lässt, historische Hintergründe unter Bezugnahme auf die Person Jesus und biblische Erzählungen und letztlich auch die Gegenwartsdiagnostik: Was glaubt Deutschland heute? Elemente für die Berichterstattung über den Protestantismus finden weniger Beachtung. Dies erklärte die Referentin unter anderem durch das Fehlen eines Papstes, dessen Bilddarstellungen sie als "schnelle Schüsse ins Gehirn“ charakterisierte. Konträr zur Berichterstattung über das Christentum, sind Darstellungen des Islam deutlich undifferenzierter, negativer und quantitativ zunehmend. Die Themen, die besprochen werden, stehen meist in einem Zusammenhang mit Politik, Konflikt und Terror. Über das Judentum wird nur wenig berichtet. Thematisiert werden dann vor allem der Nahost-Konflikt oder Antisemitische Vorfälle sowie Berichterstattungen über den Holocaust. Hinduismus und Buddhismus finden beinahe gar keine mediale Beachtung. Auch lassen sich Unterschiede in der Darstellungen religiöser Bewegungen jenseits der Konfessionen erkennen. So werden Neureligiöse Bewegungen häufig negativ dargestellt. Spirituelle Bewegungen hingegen erfahren eine vorwiegend positive Berichterstattung, die mit wellbeing, Lifestyle und Selbstoptimierung assoziiert wird. Anschließend legte die Referentin ihren Fokus auf die Darstellung des Islam in den Medien. Das negative Image der Religion, so Dr. Neumaier, stünde in Diskrepanz zu den kaum vorhandenen Problemen im Zusammenleben der Menschen. Dennoch greife ein gewisser Mechanismus: Die mediale Berichterstattung, inklusive ihrer Bilder, rufe negative Assoziationen hervor. Dabei werde nicht nur unmittelbar in Reaktion auf Konflikte oder Terroranschläge berichtet, sondern stets auch mithilfe von Narrativen und Bildsprache, die negative Sujets befördern. Beispiele hierfür seien Haremsbilder, die ein Beleg für angeblich rückständige Geschlechterverhältnisse und unterdrückte Frauen sein sollen. Theodor Dierkes vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) ergänzte die Perspektive auf die mediale Berichterstattung in Bezug auf Religion um seine Kenntnisse und Erfahrungen durch die Arbeit für das Radio. Die Geschichte des WDR, so der Referent, ließe sich als eine Emanzipationsgeschichte von der Kirche betrachten. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg wurde 1945 nach einer geeigneten Person für eine weihnachtliche Ansprache gesucht. Die Wahl fiel letztlich auf den damaligen Bischof von Köln, Josef Kardinal Frings. Obwohl die britische Besatzungsmacht dieser Entscheidung zunächst skeptisch gegenüber stand, war es Kardinal Frings erlaubt, über das Radio eine Predigt an die Menschen zu richten. Als erste Gottesdienstübertragung überhaupt setzte dieses Ereignis Impulse für kirchliche Sendungen. Die Briten konstituierten Rundfunkgesetze, in denen sie die Kirchen privilegierten und ihnen das Recht zur Produktion von Verkündigungssendungen einräumten. Die Inhalte dieser Sendungen wurden mit den Kirchen abgestimmt. Erst in den 1960er Jahren wuchs der Einfluss von Redakteuren auf diese Sendungen. Heute erhalten Vertreter der Kirche noch Informationen über die Inhalte einer WDR-Verkündigungssendung, ein Mitspracherecht sei jedoch nicht länger vorhanden, so Herr Dierkes. Das Gesetz des Westdeutschen Rundfunks werde ständig novelliert. Es beinhaltet jedoch stets einen Paragraphen, welcher beispielsweise den Kirchen oder auch den jüdischen Kultusgemeinden Sendezeit einräumt. Für den Inhalt einer Sendung sei diejenige Institution verantwortlich, der die Sendezeit gewährt wurde. Ein ausführliches Religionsdossier auf der Homepage des WDR gibt ausführliche Informationen über diverse Glaubensrichtungen. Dabei schließt dieses Dossier Informationen über das Alltagsleben der Religionsgemeinschaften ein. Theodor Dierkes referiert zu seiner Arbeit beim Westdeutschen Rundfunk (© Peter-Paul Weiler) Samy Charchira im Vortrag (© Peter-Paul Weiler) Inga Beinke, Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, KölnSamy Charchira, Universität OsnabrückModeration: Reinhard Fischer, Berliner Landeszentrale für politische Bildung, Berlin Die Arbeitsgruppe "Politische und gesellschaftliche Debatten innerhalb der Religionsgemeinschaften“ wurde nach einer kurzen Vorstellungsrunde mit vier Statements eingeleitet, zu denen sich die Teilnehmenden positionieren sollten. Bei dieser Übung wurde deutlich, dass die Meinungen zur Rolle von Religion in Politik und Gesellschaft äußerst ambivalent sind. Lediglich die Statements "Religionsgemeinschaften sollten sich aus der Tagespolitik heraushalten“ und "Religionsgemeinschaften sollten extremistische Personen aus den eigenen Reihen ausschließen“ erfuhren einstimmige Zustimmungen oder Ablehnungen. Der Übung folgte ein Vortrag von Inga Beinke, Politikwissenschaftlerin und Referatsleiterin im Bundesamt für Familien und zivilgesellschaftliche Aufgaben. In ihrer Profession als Politikwissenschaftlerin habe sie sich lange mit den Themen Politik und Religion auseinandergesetzt und habe sich den politischen und gesellschaftlichen Debatten innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften gewidmet, so die Referentin. Sie sprach in dieser Hinsicht von einer partnerschaftlichen Kooperation zwischen Politik und Religion, die als demokratieförderlich gelten könne. Teilweise würden Politiker sogar fordern, dass sich die Kirche in politische Angelegenheiten einmischt. Auch in der Zivilgesellschaft sei die Beteiligung der Kirche am politischen Geschehen anerkannt, sogar von nicht-religiösen Menschen. Dies liege daran, dass mit ihr keine eigennützigen Interessen assoziiert werden. Innerhalb der Kirchengemeinden und christlichen Religionsgemeinschaften werden die aktuellen Themen der Politik stets diskutiert. Die Analyse der Websites und Facebook-Auftritte evangelischer und katholischer Kirchen würden dies deutlich zeigen. Zentrale Themen seien insbesondere Flucht, Migration, der Holocaust, Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Diese Themen spiegeln sich auch in den 2018 umgesetzten Initiativen wider. Dem Thema Homosexualität stehe die Kirche aber zu großen Teilen negativ gegenüber und auch sogenannte "Homoheiler“ - Menschen, die Homosexualität als Krankheit wahrnehmen und diese durch sprituelle Rituale und Gebete zu einer anderen sexuellen Orientierung bewegen möchten - seien nach wie vor im Einsatz. Im Allgemeinen sei zu erkennen, dass stark religiöse Menschen in Deutschland eher dazu neigen, kulturelle Vielfalt in ihren verschiedenen Facetten abzulehnen. Auch neigen religiöse Menschen eher dazu, sich gegen Homosexualität zu positionieren, wobei es bei Katholiken eher der Fall sei als bei Protestanten. In Bezug auf die Thematik des Rassismus habe die Kirche deutlich Stellung bezogen und spreche sich klar dagegen aus, während Kirchenmitglieder rassistische Stereotype vermehrt vertreten. Gleiches gelte auch für den Antisemitismus. Eine Haltung seitens der Kirche zum Rechtspopulismus habe sich nur schleichend ergeben. Eine Distanzierung sei zu erkennen, allerdings werde der Umgang mit dem Rechtspopulismus innerhalb der Kirchen sehr diskursiv betrachtet, aber (noch) nicht umfassend ausdiskutiert. Es sei festzuhalten, dass sehr unterschiedliche Themen wie Sterbehilfe, Umweltschutz und der Klimawandel innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften zur Sprache kommen, aber vor allem die große Frage im Raum stünde, wie sich Christinnen und Christen in Deutschland den "richtigen“ Umgang mit Rechtspopulismus, Rassismus, Extremismus, Islam und Sexualität vorstellen. Hervorgehoben wurde dabei, dass es keine explizite Debattenkultur innerhalb der christlichen Gemeinschaften gebe, sondern einzelne Debatten immer milieu- und themenabhängig geführt werden. Zudem spiele das Selbstverständnis der Kirche eine wichtige Rolle im Umgang mit politischen und gesellschaftlichen Fragen. Die Evangelische Kirche in Deutschland beziehe zu einigen politischen Themen eine deutliche Stellung und verkörpere dabei Selbstbewusstsein. Samy Charchira vom Institut für Islamische Theologie in Osnabrück und dem Präventionsprogramm Wegweiser in Düsseldorf knüpfte an die Ausführungen von Inga Beinke an und warf einen Blick auf die Debatten innerhalb der muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland. Er ordnete die Diskursthemen muslimischer Gemeinden verschiedenen Handlungsfeldern zu. Thematisiert werden beispielsweise eine mögliche Moscheesteuer, sowie die Anerkennung von Institutionen wie Kindergärten, welche diesbezüglich nach wie vor mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Zusätzlich sei der Mangel an Ressourcen und finanziellen Mitteln ein Problem muslimischer Gemeinschaften. Die Förderung durch öffentliche Gelder finde kaum bzw. gar nicht statt. Außerdem würden Moscheegemeinden in Bezug auf eigene Initiativen in der Präventionsarbeit äußerst zögerlich agieren, da sie infolge ihrer Bemühungen nicht selten in den Fokus von Gesellschaft und Politik geraten. Die bestehenden überwachenden Strukturen schränken die Handlungsfreiheit muslimischer Gemeinschaften ein und führen zu einem Gefühl von Angst und Entmündigung sowie zu einem enormen Misstrauen gegenüber Politik, Medien, Verwaltung und Sicherheitsbehörden. Der Referent kritisierte, dass sich gesamtgesellschaftliche Themen wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Genderthemen innerhalb der muslimischen Gemeinden kaum entfalten könnten, da sie mit den alltäglichen Problematiken derart überlastet seien, dass es keinen Raum für ebenjene Debatten gebe. Um dem entgegenzuwirken, müssten die Zugangsbarrieren für muslimische Gemeinden abgebaut und ihre Ressourcen aufgestockt werden. Nur dann könnte eine gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet. Samy Charchira im Vortrag (© Peter-Paul Weiler)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-10-30T00:00:00"
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https://www.bpb.de/themen/religion-ethik/tagung-in-gottes-namen-2019/299634/arbeitsgruppenphase-i-debatten-um-religion-in-gesellschaft-und-politik/
Nach den beiden Vorträgen startete die erste Arbeitsgruppenphase unter dem Titel "Debatten um Religion in Gesellschaft und Politik". Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten aus sechs parallelen Angeboten wählen.
[ "Religion", "Gesellschaft", "Politik" ]
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UNHCR: The UN’s Refugee Agency | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
While forced migration has been a feature of international society for a long time, international institutional concern for refugees only began in 1921 when the League of Nations appointed the first High Commissioner for Refugees, Fridtjof Nansen, to respond to the outflow of Russian refugees after World War I. Over the next twenty years, the scope and functions of assistance programs for refugees in Europe gradually expanded, as efforts were made to regularize the status and control of stateless and denationalized peoples. During and after World War II, the United Nations Relief and Rehabilitation Agency and the International Refugee Organization, each with a radically different mandate, further developed the international organization framework for refugees. While both organizations repatriated and resettled large numbers of refugees, there remained several hundred thousand displaced persons in camps across Europe at the end of the 1940s. Moreover, with the onset of the Cold War, new groups of refugees from Eastern Europe fled westward. At the same time, massive new refugee crises occurred in India, Korea, China and Palestine. Consequently states felt there was an urgent need to create a new UN refugee agency, the Office of the UN High Commissioner for Refugees (UNHCR). Since 1951, an international refugee regime composed of the UN High Commissioner for Refugees (UNHCR) and a network of other international agencies, national governments, and voluntary or nongovernmental organizations (NGOs) have developed a response strategy to deal with the global problem of refugees. Although unevenly applied, international laws, including the 1951 UN Refugee Convention and a number of regional conventions that designate refugees as a unique category of human rights victims, who should be accorded special protection and benefits have been signed, ratified and in force for over six and a half decades. In addition to its work for refugees, since 2005 UNHCR has been the lead agency for protection, shelter and camp maintenance for conflict-induced internally displaced persons (IDPs) around the world. The UNHCR’s Statute sets out a clear mandate, defining the Office’s core mandate as focusing on two principal areas: to work with states to ensure refugees’ access to protection from persecution and to ensure that refugees have access to a range of durable solutions. The Statute outlines three possible durable solutions for refugees: (1) voluntary repatriation to their countries of origin; (2) local integration in a new host country; or (3) resettlement to a third country. UNHCR has become the principal organization within the global refugee regime. The centerpiece of the regime is the 1951 Convention relating to the Status of Refugees which provides a definition of who qualifies for refugee status and sets out the rights to which all recognized refugees are entitled. The 1951 Convention also explicitly identifies UNHCR as having supervisory responsibility for its implementation. The Office, therefore, has responsibility for monitoring and supporting states’ compliance with the norms and rules that form the basis of the global refugee regime. Despite these provisions in its Statute and in the 1951 Convention, at its creation states ensured that UNHCR had a limited role. They originally restricted the Office’s work to individuals who were refugees as a result of events in Europe occurring before 1951. The refugee instruments also focused exclusively on refugees to the exclusion of other displaced persons. Furthermore, states originally required UNHCR to be a small, low-budget and temporary organization that would play an exclusively legal advisory role rather than engage in the provision of material assistance. Yet, from these inauspicious beginnings, the Office has over time expanded and adapted to become a permanent global organization with an annual budget in 2016 of a pledged $6 billion and over 10,000 staff in more than 125 countries, offering protection and assistance not only to refugees but also to internally displaced persons, stateless persons and other displaced people. At key turning points in the past 65 years, the Office has responded to changes in the political and institutional environment within which it works by reinterpreting and broadening its role and mandate. From the 1960s on, UNHCR expanded beyond its original focus on providing legal protection to refugees fleeing communist regimes in Eastern and Central Europe to becoming increasingly involved in refugee situations in the global South. The passage of the 1967 UN Protocol eliminated the temporal and geographical limitations of the 1951 Convention. During the 1960s, violent decolonization and post-independence strife generated vast numbers of refugees in Africa which required it to take on an ever greater role in providing material assistance. The 1969 Organization of African Union Convention broadened the refugee definition further to include those fleeing ‘occupation, conflict and serious public order disturbances’. During the 1970s, mass exoduses from East Pakistan, Uganda and Indochina, highly politicized refugee crises in Chile, Brazil and Argentina, and the repatriation of refugees and internally displaced persons (IDPs) in southern Sudan expanded UNHCR’s mission around the globe. Following the refugee exoduses in South and Central America, the 1984 Cartagena Declaration on Refugees expanded the regional refugee definition to include those fleeing ‘generalized violence, foreign aggression, internal conflicts or massive violations of human rights.’ The 1980s also saw the Office shift away from its traditional focus on legal protection and assume a growing role in providing assistance to millions of refugees in camps and protracted situations in Southeast Asia, Central America and Mexico, South Asia, the Horn of Africa and Southern Africa. During the post Cold War era, UNHCR assumed a wider role in providing massive humanitarian relief in intra-state conflicts and engaging in repatriation operations across the Balkans, Africa, Asia and Central America. The early twenty-first century has seen UNHCR take on ever greater responsibility for the victims of some major natural disasters and to assume formal responsibility for the protection of conflict induced IDPs. A few states, NGOs and refugee researchers have expressed concern that the expansion of the Office's work to include IDPs and victims of natural disasters dilutes UNHCR's core protection mandate and overstretches the limited resources it has available for refugee protection and assistance. UNHCR does not have a fixed budget but is entirely dependent on voluntary contributions to carry out its work. This gives significant influence to a limited number of states in the global North who have traditionally funded the bulk of UNHCR’s operational budget. During recent years the numbers and needs of refugees have been growing considerably faster than the level of funding available globally for humanitarian aid. Thus currently more than half of the needs of refugees and other populations of concern to UNHCR remain unaddressed further exacerbating their vulnerability. The Office needs significantly more secure funding to address the most basic needs of the people it is mandated to care for. At the same time, the Office works at the invitation of states to undertake activities on their territories and must therefore negotiate with a range of refugee hosting states, especially in the global South. UNHCR is consequently placed in the difficult position of trying to facilitate cooperation between donor states in the global North and states in the global South which host over 85 percent of the world’s refugees. At the same time, the Office works within changing global contexts, with changing dynamics of displacement, and with a range of partners, both within and outside the UN System. The humanitarian world is now characterized as a competitive marketplace which involves a vast range of actors each with their own mandate, institutional identity and drive to protect their own interests. These political and institutional constraints affect the functioning of the global refugee regime and the ability of UNHCR to fulfil its mandate. The recent asylum crisis in Europe has confronted UNHCR with a nearly impossible task. As the crisis of asylum emerged, European states largely excluded the Office and increasingly devised their own responses to insulate themselves from the growing number of refugees seeking access to their territories. The lack of cooperation by states has significantly frustrated UNHCR’s activities and is one of its greatest current challenges. Interner Link: This text is part of the policy brief on "Actors in National and International (Flight)Migration Regimes".
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
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"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/229619/unhcr-the-un-s-refugee-agency/
There are about 60 million people in the world who are fleeing from war, persecution and poverty. A large part of the world's refugee population is under the mandate of the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), founded in 1951.
[ "UNHCR", "UN", "United Nations", "Migration", "Migrant", "refugee", "persecution", "poverty", "Refugee Agency" ]
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Migrationspolitik – April 2020 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Interner Link: Starker Rückgang der Asylzahlen* Interner Link: Erstmals seit 2015 wieder Anstieg der Asylantragszahlen in der EU Interner Link: Erste europäische Staaten nehmen minderjährige Flüchtlinge von Ägäis-Inseln auf Interner Link: Westbalkanregelung evaluiert Interner Link: Kaum Migration aus Afrika nach Deutschland Interner Link: 33 Millionen neue Binnenvertreibungen im Jahr 2019 Interner Link: Corona-Pandemie behindert Seenotrettung Interner Link: Was vom Monat übrig blieb... *Die Zahlen des BAMF waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht verfügbar. Wir haben sie nachträglich ergänzt, 18.05.2020. Starker Rückgang der Asylzahlen* Im April hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 5.695 Asylanträge Externer Link: entgegengenommen. Das waren 53,9 Prozent weniger als im April des Vorjahres (12.353 Asylanträge). Die Zahl der Erstanträge sank dabei um 51,3 Prozent (April 2020: 10.488; April 2019: 5.106), die der Folgeanträge sogar um 68,4 Prozent (April 2020: 589; April 2019: 1.865). Die meisten Asylsuchenden, die erstmals einen Asylantrag stellten, kamen aus Interner Link: Syrien, Interner Link: Irak und Interner Link: Afghanistan. Der Rückgang der Interner Link: Asylzahlen zeigt sich auch mit Blick auf die Gesamtzahl der in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres gestellten Asylanträge. Im Zeitraum Januar bis April nahm das BAMF 37.440 Erst- und 5.625 Folgeanträge entgegen, insgesamt also 43.065 Asylanträge. Das entspricht einem Rückgang um 28,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, als beim BAMF 59.889 Asylanträge (51.370 Erst- und 8.519 Folgeanträge) eingingen. Erstmals seit 2015 wieder Anstieg der Asylantragszahlen in der EU 2019 wurden Externer Link: nach Angaben des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) in den (vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs noch) 28 EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen und der Schweiz (EU+) rund 714.200 Asylanträge gestellt – das waren 13 Prozent mehr als 2018. Damit ist die Zahl der in der EU+ gestellten Asylanträge erstmals seit 2015 wieder gestiegen. In jenem Jahr hatte sie mit rund Externer Link: 1,3 Millionen EU-weit registrierten Asylanträgen einen historischen Höchststand erreicht, anschließend war sie kontinuierlich gesunken. Der aktuelle Anstieg ist vor allem auf eine höhere Zahl von Menschen zurückzuführen, die aus lateinamerikanischen Staaten wie Interner Link: Venezuela stammen und visumfrei in den Interner Link: Schengen-Raum einreisen dürfen. In geringerem Maß geht er aber auch auf steigende Antragszahlen von afghanischen Staatsangehörigen zurück. Knapp ein Viertel der Asylanträge, die 2019 in den EU+-Ländern registriert wurden, stellten Staatsangehörige aus Syrien, Interner Link: Afghanistan und Venezuela. Insgesamt wurde in den EU+-Staaten über 574.150 Asylanträge entschieden. Die Schutzquote lag bei 33 Prozent. Dabei wurden nur die Anerkennung eines Interner Link: Flüchtlingsstatus und die Gewährung Interner Link: subsidiären Schutzes berücksichtigt, nicht aber Formen nationalen Schutzes z.B. aus humanitären Gründen. Am häufigsten wurde Asylantragstellenden aus Interner Link: Syrien (Schutzquote: 85 Prozent), Interner Link: Jemen (82 Prozent) und Interner Link: Eritrea (81 Prozent) ein Schutzstatus zugesprochen. Mit Blick auf afghanische Geflüchtete zeigt sich besonders deutlich, Interner Link: wie sehr sich die Schutzquoten innerhalb des EU+-Raums unterscheiden können: In den EU+-Staaten, die 2019 mehr als 100 Entscheidungen über Asylanträge afghanischer Staatsangehöriger trafen, schwankten sie zwischen zwei Prozent und 98 Prozent. Ende 2019 gab es EU+-weit 540.559 anhängige Asylverfahren. In diesen Fällen hatte die jeweilige nationale Behörde, die für die Prüfung von Asylanträgen zuständig ist, noch keine Entscheidung über die Vergabe eines Schutzstatus getroffen. Erste europäische Staaten nehmen minderjährige Flüchtlinge von Ägäis-Inseln auf Die ersten Kinder und Jugendlichen sind aus überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Ägäis-Inseln ausgeflogen worden. Im Interner Link: März hatten sich die Innenminister mehrere EU-Staaten dazu bereiterklärt, mindestens 1.600 unbegleitete Minderjährige aus diesen Lagern zu evakuieren. Auch die Schweiz beteiligt sich an der Aktion, die wegen der Externer Link: Corona-Pandemie nur schleppend anlief. Am 15. März wurden die ersten zwölf Kinder nach Luxemburg gebracht. In Deutschland landeten wenige Tage später 47 unbegleitete Kinder und Jugendliche. Sie mussten zunächst in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung im Landkreis Osnabrück 14 Tage in Quarantäne verbringen, um eine Infektion mit dem Coronavirus auszuschließen. Deutschland hat zugesagt, insgesamt 350 bis 500 Minderjährige aus griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Mehrere deutsche Kommunen und Bundesländer betonten ihre Aufnahmebereitschaft. An der Auswahl der Kinder und Jugendlichen sind neben dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das Bundesinnenministerium beteiligt. Unterdessen hat Interner Link: Griechenland damit begonnen, alte und kranke Menschen sowie Familien aus den Flüchtlingslagern auf den ägäischen Inseln auf das Festland zu bringen. Bislang sind in den Lagern keine Externer Link: Corona-Infektionen registriert worden. Beobachter befürchten allerdings eine Ausbreitung des Virus in den überfüllten Aufnahmeeinrichtungen. Auf dem griechischen Festland wurden mehr als 150 Flüchtlinge positiv getestet. Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers Moria auf der Insel Lesbos appellierten Mitte April an die EU-Kommission und die Regierungen der EU-Staaten, mehr für den Infektionsschutz in den Lagern zu tun. Auf den Ägäis-Inseln sind aktuell Externer Link: mehr als 39.000 Menschen in Lagern untergebracht, die für insgesamt nur rund 6.000 Bewohnerinnen und Bewohner ausgelegt sind. Westbalkanregelung evaluiert Stabile Beschäftigungsverhältnisse, hoher Beschäftigungsgrad, geringe Arbeitslosigkeit, kaum Inanspruchnahme sozialer Leistungen – laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) ist die Arbeitsmarktintegration der Menschen erfolgreich gelungen, die im Zuge der sogenannten Westbalkanregelung nach Deutschland zugewandert sind. Dazu wurden die Integrationsverläufe von 36.050 Beschäftigten aus den Westbalkanstaaten analysiert.Externer Link: Die Evaluierung liegt nun als Forschungsbericht vor. Die Westbalkanregelung Externer Link: (§ 26 Absatz 2 Beschäftigungsverordnung) wurde am 1. Januar 2016 als Reaktion auf die im Jahr 2015 sprunghaft angestiegene Zahl der Asylanträge von Menschen aus Westbalkanstaaten eingeführt: Sie ermöglicht Staatsangehörigen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien die Interner Link: Zuwanderung nach Deutschland, um hier einer Beschäftigung nachzugehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Arbeitsmigrantinnen und -migranten müssen sie dafür keine in Deutschland anerkannte Qualifikation vorweisen, sondern lediglich eine verbindliche Arbeitsplatzzusage und die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nachweisen können. Die Regelung sollte die Asylverwaltung entlasten und Staatsangehörigen der Westbalkanländer Möglichkeiten eröffnen, legal zu Beschäftigungszwecken nach Deutschland zuzuwandern. Sie gilt bis zum Jahresende 2020. Wirtschaftsvertreter haben sich bereits für eine Verlängerung ausgesprochen. Eine Entscheidung der Bundesregierung steht noch aus. Von der Bundesagentur für Arbeit wurden zwischen November 2015 und Juni 2019 204.799 Zustimmungen und 51.432 Ablehnungen zur Ausübung einer Beschäftigung im Rahmen der Westbalkanregelung erteilt. Die Zahl der Asylanträge von Staatsangehörigen der Westbalkanländer sank von 120.882 im Jahr 2015 auf 4.399 im Jahr 2018. Dies kann aber zum Teil auch mit der Einstufung der Westbalkanländer als "Interner Link: sichere Herkunftsstaaten" begründet werden, wodurch Asylanträge – bis auf gut begründete Einzelfälle – abgelehnt werden. Kaum Migration aus Afrika nach Deutschland Von allen Zugewanderten in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2017 kamen nur rund fünf Prozent aus afrikanischen Staaten. Das geht aus dem Ende April vorgestellten Externer Link: Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hervor, das sich erstmals der Migration auf einem anderen Kontinent widmet. Demnach lebten Ende 2017 rund 540.000 afrikanische Staatsangehörige in Deutschland. Die Zahl hat sich seit 2010 in etwa verdoppelt. Betrachtet man alle Personen mit einem afrikanischen Migrationshintergrund lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung 2017 bei etwa einem Prozent. Das Gutachten macht deutlich, dass der Großteil der afrikanischen Migrantinnen und Migranten auf dem afrikanischen Kontinent verbleibt und Europa nur eine Zielregion unter vielen ist. Die Migrationsbewegungen reichen von Arbeit- über Bildungs- bis hin zu Interner Link: Fluchtmigration. Viele afrikanische Staaten sind sowohl Interner Link: Herkunfts- als auch Ziel- und Transitstaaten. Dabei unterscheiden sich die Erfahrungen von Land zu Land. So zählen etwa Interner Link: Uganda, Interner Link: Sudan und Äthiopien zu den weltweiten Hauptaufnahmeländern von Flüchtlingen. Staaten wie Interner Link: Somalia, Interner Link: Südsudan, Interner Link: Demokratische Republik Kongo und Interner Link: Eritrea zählen dagegen zu den Ländern, aus denen im weltweiten Vergleich die meisten Menschen wegen Bürgerkriegen und Menschenrechtsverletzungen fliehen. Insgesamt liegt der Anteil von Migrantinnen und Migranten aus afrikanischen Staaten an allen internationalen Migrationsbewegungen seit Jahren zwischen zwölf und 14 Prozent. Die wichtigsten Herkunftsländer von in Europa lebenden afrikanischen Migrantinnen und Migranten sind Interner Link: Ägypten (3,4 Millionen), Interner Link: Marokko (2,9 Millionen), Somalia und Sudan (mit je 2,0 Millionen) sowie Algerien (1,8 Millionen). 33 Millionen neue Binnenvertreibungen im Jahr 2019 2019 wurden 33,4 Millionen neue Fälle von Binnenvertreibungen registriert – der höchste Wert seit 2012. Das geht aus dem Externer Link: Jahresbericht der zum Norwegischen Flüchtlingsrat gehörenden Beobachtungsstelle für Binnenvertreibung (Internal Displacement Monitoring Centre, IDMC) hervor. Demnach gab es im Jahresverlauf mehr als 8,5 Millionen Binnenvertreibungen aufgrund von Konflikten und Gewalt sowie fast 24,9 Millionen Binnenvertreibungen, die durch Umwelt- und Naturkatastrophen ausgelöst wurden. Letztere fanden Interner Link: häufig im Rahmen präventiver Evakuierungsmaßnahmen statt. Die Zahlen entsprechen nicht der tatsächlichen Zahl der vertriebenen Personen, da viele Menschen innerhalb eines Jahres mehrfach von Vertreibung betroffen sein können und entsprechend auch mehrfach gezählt werden. Die meisten Binnenvertreibungen wurden in Südostasien gezählt. Hier führten Naturkatastrophen zu 9,5 Millionen Vertreibungen, Gewaltkonflikte zu 500.000. In der Region Ostasien und Pazifik ist das Verhältnis ähnlich (rund 9,6 Millionen zu rund 290.000). In Subsahara-Afrika wurden dagegen mehr Binnenvertreibungen durch Gewaltkonflikte (rund 4,6 Millionen) als durch Naturkatastrophen (rund 3,5 Millionen) registriert. Allerdings weichen viele Menschen nur temporär vor Naturkatstrophen wie Überschwemmungen aus und kehren an ihre Wohnorte zurück, sobald sich die Situation verbessert hat. Demgegenüber führen langanhaltende Gewaltkonflikte auch häufig zu langfristigen Vertreibungssituationen. Das spiegelt sich auch in der Zahl der Personen wider, die Ende 2019 immer noch als Binnenvertriebene registriert waren, also noch nicht wieder in ihre Herkunftsorte hatten zurückkehren können: Unter den weltweit insgesamt 50,8 Millionen von IDMC Ende 2019 erfassten Interner Link: Binnenvertriebenen, waren 45,7 Millionen vor Konflikten und Gewalt geflohen, während 5,1 Millionen Menschen ihre angestammten Wohnorte aufgrund von Naturkatstrophen verlassen hatten. Die meisten vor Gewalt geflohenen Binnenvertriebenen gab es in Interner Link: Syrien (6,5 Millionen), Interner Link: Kolumbien (5,6 Millionen) und der Interner Link: Demokratischen Republik Kongo (5,5 Millionen); die höchste Zahl an Binnenvertriebenen, die vor Katastrophen ausgewichen waren, fanden sich in Afghanistan (1,2 Millionen), Indien (590.000) und Äthiopien (390.000). Corona-Pandemie behindert Seenotrettung Die Ausbreitung des Externer Link: Coronavirus hat die Rettung von in Seenot geratenen Schutzsuchenden fast vollständig zum Erliegen gebracht. Nachdem Italien und Malta angekündigt hatten, aufgrund der Pandemie keine Seenotrettungsschiffe mehr in ihre Häfen einlaufen zu lassen, hat das deutsche Bundesinnenministerium Seenotrettungsorganisationen in einem Brief dazu aufgefordert, keine neuen Fahrten mehr zu unternehmen. Die Rettungsorganisationen kritisierten den Vorstoß. Damit werde Interner Link: internationales Recht außer Kraft gesetzt. Sie forderten die EU-Staaten dazu auf, sich für alternative Lösungen einzusetzen, um die Seenotrettung fortführen zu können. Vor welche Herausforderungen die Corona-Pandemie die Rettungsmissionen derzeit stellt, zeigte im April das Beispiel des Rettungsschiffs "Alan Kurdi", das von der Hilfsorganisation Sea-Eye betrieben wird. Die 149 vor der libyschen Küste geretteten Menschen mussten tagelang an Bord des Schiffes ausharren, bevor sie von einem italienischen Schiff übernommen und 14 Tage unter Quarantäne gestellt wurden. Auf welche Länder die Geretteten verteilt werden, ist bislang unklar. Die italienische Regierung sieht Deutschland in der Pflicht, da die "Alan Kurdi" unter deutscher Flagge fährt. Was vom Monat übrig blieb... Migrationsexperten gehen davon aus, dass wegen der massiven Einschränkungen der grenzüberschreitenden Mobilität Externer Link: aufgrund der Corona-Pandemie derzeit kaum Migration nach Deutschland stattfindet. Sie rechnen für das erste Halbjahr 2020 mit einem negativen Wanderungssaldo – also mit mehr Ab- als Zuwanderung. Statistiken dazu liegen allerdings noch nicht vor. Die Zahl der Einbürgerungen in den EU-Staaten ist im dritten Jahr in Folge gesunken. Nach Externer Link: Angaben des EU-Statistikamts Eurostat ließen sich in den aktuell 27 EU-Mitgliedstaaten 2018 mehr als 672.000 ausländische Staatsangehörige einbürgern (2017: 700.600, 2016: 843.900). Die meisten neuen EU-Bürgerinnen und -bürger stammten aus Marokko, Albanien und der Türkei. In Indien hat die von der Regierung verhängte Ausgangssperre zur Eindämmung der Corona-Pandemie dazu geführt, dass Millionen Wanderarbeitskräfte an den Rändern großer Metropolen strandeten oder in ihre Herkunftsorte zurückkehrten, weil sie in den Städten nun weder Arbeit noch eine Bleibe haben. Es wird befürchtet, dass das dazu beiträgt, das Virus auf dem gesamten Subkontinent zu verbreiten.
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Bundeszentrale für politische Bildung
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"2020-05-13T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/309773/migrationspolitik-april-2020/
Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa.
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Unser Umgang mit den Bildern der Täter | Geheimsache Ghettofilm | bpb.de
Der Film "Geheimsache Ghettofilm" wurde von zahlreichen Medien international gelobt, auch wurde das Werk mehrfach ausgezeichnet. Zugleich gab es auch Kritik an dem Film. Um eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk "Geheimsache Ghettofilm" zu ermöglichen und um die Diskussion in ihrer Gänze abzubilden, bietet das Dossier zwei Kommentare zum Film. Dabei kommen der Historiker Dirk Rupnow und der Medienwissenschaftler Rainer Rother zu sehr gegensätzlichen Bewertungen des Films. Für den Historiker Dirk Rupnow löst der Film "Geheimsache Ghettofilm" nicht das Versprechen ein, die Täterbilder zu durchbrechen. Die Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto würden erneut benutzt, aber ohne neue Erkenntnisse oder Einsichten zu liefern. Ebenso kritisiert Rupnow das Werk für seine mangelnde Differenzierung und Genauigkeit. Der Historiker fordert zugleich eine breite Diskussion über den angemessenen Umgang mit Film- und Bildmaterial: Was muss tatsächlich gezeigt werden, und wie sollten Täterbilder kontextualisiert werden, um sie tatsächlich zu brechen und die Opfer nicht noch einmal zu erniedrigen. Yael Hersonskis Film "Geheimsache Ghettofilm" ist mit Preisen renommierter internationaler Filmfestivals geradezu überhäuft worden: mit dem "World Cinema Documentary Editing Award" des Sundance Film Festival, dem "Writers Guild of America Documentary Screenplay Award" des Silverdocs Documentary Festival und dem "Best International Feature Award" des HotDocs Canadian International Documentary Festival (jeweils 2010). Der englische Filmtitel ist unspezifisch, geradezu kryptisch: "A Film Unfinished". Der deutsche Titel wird da schon deutlicher. Die Berichte in Zeitungen und auf Websites machen schließlich klar, worum es geht: "The Warsaw Ghetto As Seen Through Nazi Eyes" (Huffington Post, 16.8.2010), "Why did the Nazis Film the Dying Jews of Warsaw?" (The Wrap, 14.8.2010), "Film disputes account of Warsaw Ghetto history" (Warsaw Business Journal, 17.8.2010). Im Zentrum des knapp 90-minütigen Films stehen 60 Minuten Filmmaterial, schwarz-weiß und stumm, das die Nazi-Täter im Laufe eines Monats im Mai 1942 im Warschauer Ghetto aufgenommen haben. Eine Neuentdeckung? Kaum, denn das Material ist seit langem bekannt: Die acht Filmrollen wurden 1954 in den Beständen des DDR-Filmarchivs entdeckt, versehen mit dem Titel "Ghetto", und lagern nunmehr im deutschen Bundesarchiv-Filmarchiv. Ausschnitte aus diesem Material wurden immer wieder benutzt, um die Realität des Ghettolebens zu illustrieren, besonders umfangreich etwa in der BBC-Dokumentation "The Warsaw Ghetto" unter der Regie von Alexander Bernfes aus dem Jahr 1966. Im Jahr 1998 wurde weiteres, herausgeschnittenes Filmmaterial mit dem Titel "Warschau" in den Beständen der Library of Congress entdeckt, das noch besser sichtbar werden lässt, wie die Aufnahmen inszeniert worden sind: Es zeigt die Kameraleute bei der Arbeit. In den Szenen von Zusammenkünften des Judenrats und von der Arbeit des jüdischen Ordnungsdienstes, einer Beschneidung und dem Schächten eines Huhns, vom Hungern und Sterben auf der Straße und der Beisetzung in Massengräbern zeigt der Film verschiedene Aspekte des alltäglichen Lebens in der Zwangsgemeinschaft des von den deutschen Besatzern geschaffenen Ghettos. Überraschend und irritierend sind inmitten des Films die Aufnahmen einer jüdischen Oberschicht, die in Überfluss und Luxus zu leben scheint. Ihre üppigen Mahlzeiten und Feste in Restaurants des Ghettos werden der Armut und Verwahrlosung der breiten Masse auf der Straße gegenübergestellt. Dieser Kontrast wird zugespitzt bis hin zur direkten Gegenüberstellung von jeweils zwei Personen in einem Bild. Besonders deutlich wird dieser Kontrast bei einem Paar: einer jungen, gut gekleideten Frau und einer alten Bettlerin in Lumpen. Hier wird die Spannung zwischen den unfreiwillig Gefilmten förmlich greifbar. Neben den Aufnahmen aus dem Ghetto werden Tagebucheinträge und Zeitzeugenberichte genutzt Die 1976 geborene israelische Filmemacherin Yael Hersonski, deren Großmutter selbst das Warschauer Ghetto überlebt hat, kombiniert das Nazi-Filmmaterial mit aktuellen Berichten von Zeitzeugen und Tagebucheinträgen aus dem Ghetto. Letztere werden im Film eingesprochen. So schrieb etwa Adam Czerniaków in seinem Tagebuch wiederholt von den Dreharbeiten, die unter anderem in seinem Büro und seiner Privatwohnung stattfanden. Czerniaków war Vorsitzender des von den Nazis eingerichteten "Judenrats", der für die Selbstverwaltung des Ghettos und zur Implementierung der deutschen antijüdischen Politik benutzt wurde. Er selbst wurde bei einer Besprechung gefilmt. Zwei Monate später nahm er sich mit einer Zyankalikapsel das Leben. Die Deutschen hatten von ihm täglich eine Liste mit 6.000 Namen zur Deportation "in den Osten", sprich in das Vernichtungszentrum Treblinka verlangt. Mary Berg, die als Teenager das Warschauer Ghetto erlebte und auf Grund der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ihrer Mutter im Frühjahr 1944 in die USA gelangte, berichtet in ihrem Tagebuch ebenfalls von der Arbeit des Filmteams im Ghetto. Auch Texte aus dem Untergrundarchiv "Oneg Schabbat", das von dem Historiker Emanuel Ringelblum geleitet wurde, werden im Film zitiert. Ringelblum und seine zahlreichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen versuchten, detailliert und differenziert das Leben im Ghetto und die Verbrechen der Besatzer zu dokumentieren. Keine dieser Quellen ist freilich von Hersonski neu entdeckt worden. Auch insofern sie unmittelbar die Dreharbeiten der deutschen Kameraleute im Ghetto ansprechen, wurden sie bereits von verschiedenen Historikerinnen und Filmhistorikern zusammengestellt, um die Filmaufnahmen vom Mai 1942 zu kontextualisieren. Der Film bietet außerdem Ausschnitte aus einer, der Forschung zum Filmmaterial bisher unbekannten Vernehmung eines der Kameraleute: Willy Wist. Wist wurde in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit den Untersuchungen gegen deutsche Amtsträger in Warschau befragt. Zu einem tieferen Verständnis tragen seine Aussagen jedoch nur wenig bei. Hersonski verlangsamt gelegentlich das Originalmaterial aus dem Ghetto, um den Blick eines Passanten in die Kamera oder die Kameraleute bei ihrer Arbeit, die in den Bildausschnitt ihrer Kollegen geraten, hervorzuheben. Sie zeigt an einigen Stellen das herausgeschnittene Material, so dass nachvollziehbar wird, wie manche Szenen mehrmals gefilmt worden sind, scheinbar um 1942 den besten Effekt zu gewährleisten. Vor allem aber konfrontiert sie Überlebende aus dem Warschauer Ghetto mit dem Filmmaterial, nimmt deren Reaktionen und Kommentare auf und unterbricht damit die Bildwelt der Täter. Das Filmmaterial aus dem Mai 1942 hat fraglos eine besondere Bedeutung Die Filmkritik reagierte einhellig. Hersonskis Film ist eine der meist gepriesenen Dokumentationen zur Geschichte des Holocaust der letzten Zeit. Sogar das US-amerikanische Satire- und Lifestyle-Magazin "Heeb", das an ein junges jüdisches Publikum adressiert ist und dafür bekannt ist, systematisch Tabus zu brechen, empfiehlt Hersonskis Film als "perhaps the most understated and intriguing documentary ever made about the Holocaust". Kritische Anmerkungen zum Film sind nicht zu finden. Liest man allerdings die unterschiedlichen Besprechungen und auch die gelegentlichen Interviews mit Hersonski genauer, fällt auf, dass zunächst einmal gar nicht klar ist, worum es in dem Film geht. Handelt es sich um einen Film über die Tatsache, dass die Nazi-Täter ihre Opfer im Ghetto noch filmten, kurz bevor sie sie in den Gaskammern töteten, oder geht es um eine Auseinandersetzung mit Nazi-Propaganda im weiteren Sinne? Ist es ein Film über das Warschauer Ghetto, das jüdische Leben und Leiden dort, oder über den Holocaust im Allgemeinen? Versteht sich der Film als eine künstlerische Auseinandersetzung mit hochproblematischem Filmmaterial der Täter oder beansprucht er wissenschaftliche Relevanz und einen pädagogischen Auftrag? Das einstündige Filmmaterial vom Mai 1942 hat fraglos eine besondere Bedeutung – und übt zugleich eine gewisse Faszination aus. Es sind einige der wenigen Filmaufnahmen, die wir vom Leben der Opfer in den Ghettos haben. Sie scheinen damit einen einzigartigen Einblick in die Vernichtungspolitik der Nazis zu versprechen – ein außergewöhnliches Versprechen, wenn man bedenkt, dass der Holocaust im Allgemeinen als unvorstellbar und als nicht darstellbar gilt. Sie bergen jedoch zugleich ein entscheidendes Problem: Die Bilder wurden von den Tätern aufgenommen. Zwar ist bis heute nicht vollständig klar, in wessen Auftrag und mit welcher Intention die Aufnahmen gemacht worden sind. Auch der Kameramann Willy Wist konnte dieses Geheimnis nicht lüften. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie von den antisemitischen Obsessionen der Täter angetrieben und geformt wurden. Die Kamera fängt nicht nur das Leben und Sterben der Menschen im Ghetto ein, sondern auch den vorurteilsbeladenen Blick der Täter auf ihre Opfer. Hersonski scheint dies durchaus bewusst zu sein, ist doch eine ihrer Begründungen für den Film die Kritik an der ausschnitthaften, rein illustrierenden Verwendung des Filmmaterials in Dokumentationen, die das Leben der Opfer im Warschauer Ghetto zeigen wollen. Zu Recht weist sie darauf hin, dass oft vergessen wird, dass es sich um Aufnahmen der Täter handelt, die nicht einfach als ein Abbild der Realität im Ghetto verwendet werden können. Neu ist jedoch auch dieses Argument nicht. Schon die amerikanische Historikerin Lucy Dawidowicz hatte in den 1970er Jahren die genannte BBC-Dokumentation aus dem Jahr 1966 scharf kritisiert. In der Verwendung des Nazi-Filmmaterials sah sie die Gefahr, die antisemitische Bildwelt der Täter wieder aufleben zu lassen und einem Publikum ungefiltert als Realität vorzusetzen. Filmhistorikern und -historikerinnen waren sowohl die außergewöhnliche Bedeutung wie auch die Problematik des Materials seit langem bewusst. Die Komplexität des Ghettolebens blendet Hersonski in ihrem Film aus Das Problem von Hersonskis Film ist nun, dass sie die Zirkulation der Täterbilder nicht durchbricht, selbst wenn sie auf deren propagandistischen Charakter beharrt. Die Strategie, die bewegten Bilder durch die Stimmen der Opfer und überlebenden Zeitzeugen zu konterkarieren, geht nicht auf: Die Bilder bleiben dominant. Sie erzeugen die stärksten und bleibendsten Eindrücke. Der Film wird angetrieben von den Filmaufnahmen der Täter und überlässt sich ganz ihrer Struktur und Bildsprache. Auf Grund ihres Entstehungszusammenhangs und ihres Inhalts entfalten die Aufnahmen eine Kraft, die kaum durchbrochen werden kann. Und tatsächlich werden die Bilder am Ende als Abbild des Lebens im Ghetto gelesen – sowohl von Hersonski als auch von den Zuschauern und Filmkritikern. Der Versuch, das Problem zu lösen, indem man die Bilder der "reichen", wohlgenährten Juden zur Propaganda erklärt und von den Bildern der armen, hungernden Juden als Realität unterscheidet, weist ebenfalls in die Irre: Die Realität im Ghetto war nun einmal komplex und die sozialen Unterschiede erzeugten tatsächlich enorme Spannungen unter den Opfern, die wir uns der Einfachheit halber als homogene Einheit zu betrachten angewöhnt haben. Dies heißt andererseits natürlich nicht, dass ein Teil der Opfer in Wirklichkeit Täter und an den Verhältnissen im Ghetto schuld gewesen wäre, dass es keinerlei Solidarität unter den Ghettoinsassen gab oder dass der Filmausschnitt der Nazi-Kameramänner nicht durchgängig manipulativ ist. Die Gesamtsituation des Ghettos einschließlich ihrer Konflikte und Spannungen ist von den Deutschen erzeugt worden. Alle Juden im Ghetto waren Opfer und alle sollten am Ende ermordet werden. Jede propagandistische Inszenierung, wie sie die Kameraleute im Mai 1942 vornahmen, arbeitet bereits mit dieser anderen Form von "Inszenierung", mit der die Nazis ihre jüdischen Opfer in der Realität an ihre antisemitischen Klischees anzupassen versuchten. Dennoch kam es selbst im Warschauer Ghetto vor, dass die dort zwangsweise Lebenden ein Sonnenbad nahmen, wie es im Film gezeigt wird. Leicht mag dies als inszeniert gelten. Doch auch Privatfotos der Opfer belegen, dass es solche Szenen im Ghetto gab. Sollte uns das verwundern? Müssen wir uns darüber entrüsten, dass die Opfer versuchten, sich ihren erzwungenen Alltag so angenehm wie möglich zu machen, solange sie dazu überhaupt noch in der Lage waren? Der Propagandacharakter des Filmmaterials kann kaum dadurch bewiesen werden, dass die mehrmaligen Aufnahmen einiger Szenen belegt sind. Das ist wenig überraschend, schließlich inszeniert eine Kamera immer. Das Ghetto selbst diente aber bereits als Touristenattraktion, als eine Art Zoo, in dem für deutsche Soldaten jüdisches Leben als fremd und andersartig in Szene gesetzt wurde und bestaunt werden konnte. Das Filmmaterial ist so komplex wie die Geschichte des Holocaust selbst. Hersonski hat bedauerlicherweise keinen Weg gefunden, mit dieser Komplexität angemessen umzugehen, die Ambivalenzen deutlich werden zu lassen und ihre eigene Position zu reflektieren. Ihr Umgang mit dem Material kann im besten Falle als banal oder aber als geradezu fahrlässig bezeichnet werden. Der Zusammenschnitt unterschiedlicher Materialien ist suggestiv und manipulativ. Während Hersonski die Inszenierungen der Nazis durchbrechen will, inszeniert sie ihren eigenen Film um das Material herum selbst dermaßen, dass Zuschauer und Filmkritiker immer wieder der Täuschung erliegen, dass der leibhaftige Willy Wist von Hersonski selbst interviewt worden wäre. Tatsächlich werden jedoch von einem deutschen Schauspieler Auszüge aus Vernehmungsprotokollen aus den 1970er Jahren gelesen. Der Voyeurismus der Täterkamera, die nackte Männer und Frauen bei einem rituellen Bad und schließlich nackte, ausgezehrte Leichen zeigt, wird noch überboten von den Bildern des Schmerzes der Überlebenden. Beim Anblick der trauernden Zeitzeugen, wie Hersonski sie den Zuschauern ihres Films quasi ausliefert, wird der Zuschauer ebenfalls zum Voyeur. Problematisch ist nicht zuletzt die Tonspur, die über die stummen Originalaufnahmen gelegt wird. Hersonskis Eingriffe werden durch nichts sichtbar gemacht oder gar problematisiert. Der Mangel an Reflexion wirkt hier geradezu fahrlässig. Stattdessen imprägniert Hersonski ihren Film gegen jegliche Form von Kritik, indem sie das authentische Filmmaterial der Täter mit den Kommentaren von Opfern und überlebenden Zeitzeugen kombiniert. Im Ergebnis entsteht ein Film, gegen den kein Einspruch mehr möglich scheint: Ein Film, der ausschließlich aus "authentischem" Material entstanden zu sein scheint, in dem die Filmemacherin als Inszenierende und Manipulierende nicht mehr sichtbar wird. Es fehlt an Differenzierung und Genauigkeit Die allgemeine Begeisterung über den Film wurde bisher lediglich getrübt durch die Entscheidung der Motion Picture Association of America (MPAA), den Film unter Hinweis auf "disturbing images of Holocaust atrocities, including graphic nudity" als Restricted (R) einzustufen. Diese zweithöchste Kategorie im US-amerikanischen Jugendschutzsystem bei Filmen sieht vor, dass Jugendliche unter 17 Jahren den Film ausschließlich in Begleitung eines Erziehungsberechtigten sehen dürfen. Die Verwendung des Films in Schulen wird damit unmöglich. Was angesichts der Tatsache, dass Bildungsinstitutionen einen nicht zu vernachlässigenden Markt für Filmproduktionen dieser Art darstellen, einen großen Nachteil für den Vertrieb bedeuten dürfte. Adam Yauch, Gründungsmitglied der Band "Beastie Boys" und später politisch engagierter Filmverleiher, der im Mai 2012 verstarb, kritisierte unter Hinweis auf den angeblich pädagogischen Charakter des Films und seinen Wert als historisches Dokument diese Entscheidung scharf. Für Europäer bietet die Diskussion wieder eine Möglichkeit, ihr Stereotyp von amerikanischer Prüderie bestätigt zu sehen. Die Nacktheit ist in diesem Fall freilich das wenigste, immerhin geht es um die systematische Ermordung von Menschen. Eine solche Entscheidung der MPAA war aber wohl zu erwarten: Der Film ist hochgradig verstörend, was angesichts seines Gegenstands wenig überrascht und im Ergebnis ja auch positiv zu bewerten wäre. Die Irritationen, die der Film beim Zuschauer hervorruft, resultieren jedoch lediglich aus der Schockwirkung der Bilder, nicht aus einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Komplexität und Ambivalenz des Materials. Differenzierung und Genauigkeit sind nicht Hersonskis Stärke. Selbst wenn man die Filmemacherin nicht für die oft unsinnigen Kommentare in den Zeitungen verantwortlich machen kann, spiegeln die Feuilletons Ungenauigkeiten und offensichtliche Fehler des Films wieder. Dies wird noch bekräftigt durch die zahlreichen veröffentlichten Interviews mit Hersonski, die die Behauptung, dass der Film archivalisch, historisch und pädagogisch seriös angelegt sei, unglaubwürdig erscheinen lassen. Ein Verwischen der Genregrenzen, zwischen Dokumentar- und Spielfilm, ist in unserer Erinnerungskultur inzwischen allerdings so alltäglich geworden, dass es kaum noch aufzufallen scheint. Die Zahl der Filmrollen ist ein Problem, das nebensächlich wäre, wenn Hersonski es nicht selbst in den Mittelpunkt rücken würde. Es wurden acht Filmrollen gefunden, im Film werden vier Filmrollen gezeigt, die dem Film als Strukturierung dienen. Auch der genaue Fundort des Materials im Jahr 1998 wird wiederholt falsch angegeben. So behauptet Hersonski gegenüber Medien, dass das Filmmaterial auf einer US Air Force-Basis aufgetaucht ist, obwohl es sich um das Motion Picture Conservation Center der Library of Congress handelt, das sich – vor allem aus Sicherheitsgründen, weil Nitratfilme leicht entzündlich sind – auf dem Gelände einer Air Force-Basis befindet, was überlieferungstechnisch einen entscheidenden Unterschied darstellen dürfte. Besonders bedenklich ist, dass sie die Vielzahl der das Filmmaterial begleitenden und kommentierenden Quellen, einschließlich der überlebenden Zeitzeugen, mit wenigen Ausnahmen praktisch nicht verortet und beschreibt. So erfahren wir weder Namen, Hintergründe oder Lebensgeschichten jenseits der Kommentare zum Filmmaterial. Das ist nicht nur für ein breites Publikum unbefriedigend und für eine pädagogische Nutzung bedenklich, es degradiert jegliches Material und sämtliche Zeitzeugenberichte zu bloßen Kommentatoren eines Nazi-Films. So taucht auch etwa im letzten Drittel des Films ein Farbfilm auf, der anscheinend von einem der Kameraleute des Filmteams privat gemacht worden ist, dessen Provenienz ebenfalls nicht erklärt wird. Er wurde – wie das Material in der Library of Congress – von dem britischen Filmforscher und Autor Adrian Wood entdeckt, allerdings in diesem Fall in Russland, im Privatbesitz des Sohnes eines ehemaligen sowjetischen Soldaten, der nach dem Krieg in Berlin als Filmkontrolloffizier eingesetzt war. Vielleicht handelt es sich bei dieser Kritik nur um Spitzfindigkeiten eines Historikers? Schließlich kann auch die Tatsache, dass rechtsextreme Websites den Film für ihre Zwecke entdeckt haben, Hersonski nicht vorgeworfen werden. So berichtet etwa das rechtsradikale Störtebeker-Netz: "Wir empfehlen unseren Lesern, sollte der Film auch in deutschen Kinos laufen, sich diesen Film anzusehen und einfach die Bilder für sich sprechen zu lassen. Kommentar überflüssig." Allerdings macht die Deutung des Films durch rechtsextreme Medien deutlich, wie vorsichtig mit solchem Material umgegangen werden sollte. Doch setzt schon die – zumindest in den USA – äußerst sensationalistische PR-Strategie auf einen dem brisanten Material vollkommen unangemessenen Ton. Was in Hersonskis Film gezeigt werden soll, das wir noch nicht wissen, bleibt währenddessen unklar. Hersonski nimmt für sich in Anspruch, darüber nachzudenken, was vom Holocaust bleibt, wenn die Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind. Wenn es lediglich ungefiltert die Bilder sind, die die Täter angefertigt haben, um nach dem vollzogenen Genozid ihre Opfer repräsentieren zu können, dann erscheint dies wie deren später Sieg. So nutzt die PR-Strategie einen in Fraktur gesetzten Filmtitel und bedient sich damit einer weit verbreiteten Faszination für alles, was mit Faschismus, Zweitem Weltkrieg und vor allem mit dem Holocaust zu tun hat. Diese Faszination mag gelegentlich hilfreich sein, um Menschen mit diesen Themen zu konfrontieren, sie kann aber ebenso gut differenzierte Einsichten verhindern. Im konkreten Fall geht sie aus dem Kontrast zwischen dem systematischen Massenmord und den gleichzeitigen Filmaktivitäten der Täter hervor. Dies steht ganz offensichtlich im Widerspruch zu der verbreiteten Annahme, dass das Verwischen der Spuren ein Teil des Genozids war, dass weder eine Spur von den Juden selbst noch von den an ihnen verübten Verbrechen bleiben sollte, dass sie aus "Geschichte und Gedächtnis" ausgelöscht werden sollten. Tatsächlich deutet jedoch einiges darauf hin, dass im Falle eines "Endsiegs" und einer vollständigen "Endlösung" die Täter und ihre Nachkommen den Massenmord als heroische Tat erzählt hätten. Das wiederum erforderte notwendigerweise ein Bild von ihren Opfern, das ein solches Narrativ glaubwürdig und ihre Aktionen zwingend erscheinen ließ. Auch die antijüdischen Maßnahmen wurden bis an die Türen der Gaskammern dokumentiert – von offizieller Seite, aber auch privat von "ganz normalen Männern". Das Bedürfnis, alle Spuren zu verwischen, entstand erst angesichts der drohenden Niederlage. Wie dieses Narrativ der siegreichen Täter schließlich genau ausgesehen hätte, wissen wir nicht. Vermutlich wussten es die Täter noch nicht einmal selbst. Die Nazi-Pläne sind unfertig – wie der Film aus dem Warschauer Ghetto. Und sie sind keineswegs so konsistent und koordiniert, wie die politische Realität im "Dritten Reich" oft dargestellt wird. Der Holocaust sollte dokumentiert und konserviert werden Als Spekulation kann allerdings gelten, dass es sich bei der einstündigen, offensichtlich bereits bearbeiteten Version des Warschauer Materials um einen fertigen Film handelt, dessen Auftraggeber lediglich unbekannt ist. Anzunehmen ist vielmehr, dass sich die Filmaufnahmen einem allgemeinen Dokumentationsbedürfnis der Nazis im Kontext des Holocaust verdanken: Sie dokumentierten, was sie auslöschten, einschließlich ihrer Verbrechen – für späteren Gebrauch, nicht nur in Warschau, sondern auch an anderen Orten; nicht nur mit der Filmkamera, sondern auch mit Fotoapparaten, in den Sammlungen und Ausstellungen von Museen und schließlich in einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur aus antisemitischer Perspektive. Wie Reichspropagandaminister Joseph Goebbels am 27.4.1942 in seinem Tagebuch berichtet, hat er veranlasst, dass nach der Deportation der deutschen Juden "in großen Umfang Filmaufnahmen" in den Ghettos in Osteuropa gemacht werden: "Das Material werden wir für die spätere Erziehung unseres Volkes dringend gebrauchen." Es ist wahrscheinlich, dass die Warschauer Filmaufnahmen in diesem Zusammenhang entstanden sind, nicht zuletzt deuten die Aussagen Willy Wists darauf hin. Zumindest soll das Material per Kurier an das Propagandaministerium nach Berlin geschickt worden sein. Es wurde dann wohl bearbeitet, um das Produkt vermutlich vier Monate später dem Propagandaminister selbst vorzuführen. Es existiert ein Tagebucheintrag von Goebbels vom 23.8.1942: "Einige grauenhafte Filmstreifen werden mir aus dem Ghetto in Warschau gezeigt. Dort herrschen Zustände, die überhaupt nicht beschrieben werden können. Das Judentum zeigt sich hier in aller Deutlichkeit als eine Pestbeule am Körper der Menschheit. Diese Pestbeule muß beseitigt werden, gleichgültig, mit welchen Mitteln, wenn die Menschheit nicht daran zugrunde gehen will." Das heißt jedoch nicht, dass die bearbeiteten 60 Minuten bereits einen fertigen oder halbfertigen Film darstellen. Goebbels war keineswegs der einzige, der sich mit diesem Problem – der Konservierung der Opfer über ihre Ermordung hinaus – beschäftigte. Wie auf anderen Gebieten, war das NS-Regime auch hier von Konkurrenzen innerhalb der Eliten geprägt, die freilich alle eine eindeutig antisemitische Intention teilten und somit letztlich auf ein gemeinsames Ziel hinführten. Insofern bleibt der genaue Kontext der Filmaktivitäten im Warschauer Ghetto im Mai 1942 bis zum Auftauchen weiterer Quellen unklar. Die Warschauer Aufnahmen waren vermutlich für die Zeit nach dem Holocaust gedacht Ein speziell zusammengestellter "Filmeinsatztrupp" scheint die Aufnahmen gedreht zu haben, wobei sie sich deutlich von zwei anderen bekannten Filmen unterscheiden. Der 1940 uraufgeführte Film "Der ewige Jude" – zur Beglaubigung seines antisemitischen Inhalts als "dokumentarischer Film" bezeichnet – wurde mit seiner aggressiven Hetzpropaganda und seinen suggestiven Bildern zur Einstimmung der Bevölkerungen in Deutschland, aber auch in den besetzten und verbündeten Ländern auf radikale Maßnahmen zur "Lösung der Judenfrage" eingesetzt. Darüber hinaus wurde der Film Polizei- und Wehrmachtseinheiten sowie Einsatzgruppen vorgeführt. Nicht zuletzt durch die Schlussszene, in der Adolf Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 in Auszügen gezeigt wird, ist "Der ewige Jude" ungewöhnlich deutlich in seiner Botschaft. Hier hatte Hitler die "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" im Falle eines Weltkriegs prophezeit. Bereits kurz nach dem deutschen Einmarsch in Polen hatte Goebbels Aufnahmen in Warschau und Lodz in Auftrag gegeben, die für den Film verwendet wurden. Im August und September 1944 wurde der später berüchtigte Film "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" über das Interner Link: Ghetto Theresienstadt gedreht. Der Film entstand keineswegs auf Anweisung von Goebbels, sondern ging aus einer Initiative des Prager "Zentralamts zur Regelung der Judenfrage in Böhmen und Mähren" hervor, der Außenstelle von Adolf Eichmanns Abteilung im Reichssicherheitshauptamt. Er wurde kurz nach einer Reihe von Stadtverschönerungsmaßnahmen und dem Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes in Theresienstadt gedreht. Ebenso wie den Delegierten sollte er der Beruhigung des Auslands dienen und wurde im April 1945 tatsächlich insgesamt dreimal Repräsentanten ausländischer Organisationen vorgeführt, die mit den Nazis über die Rettung von KZ-Häftlingen verhandelten. Der zynische Titel des Films ist allerdings eine Prägung der Ghettoinsassen und Überlebenden, die die Absichten der Nazis entlarven sollte. Der offizielle Titel der Produktion war wesentlich nüchterner "Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet". So erklärt sich vermutlich auch der für die Warschauer Aufnahmen in Umlauf befindliche Titel "Asien in Mitteleuropa". Hierbei handelt es sich wohl eher um eine Namensgebung durch die Ghettoinsassen, die für sich einen Sinn aus den Filmaufnahmen zu machen versuchten, zumal der Titel ausschließlich in den Erinnerungen eines Überlebenden überliefert ist. Die Opfer werden jedoch kaum über die wirklichen Hintergründe, die zur Produktion des Films geführt haben, informiert gewesen sein. Vielleicht war es noch nicht einmal das Filmteam. Trotz offensichtlicher Parallelen – alle drei Filme beinhalten Aufnahmen aus Ghettos und entstanden im unmittelbaren Zusammenhang mit der antijüdischen Vernichtungspolitik – handelt es sich doch um drei sehr unterschiedliche Projekte: Während "Der ewige Jude" als Propaganda zur Vorbereitung der eigenen Bevölkerung auf bevorstehende antijüdische Maßnahmen diente, war der Theresienstadt-Film gegen Kriegsende an das Ausland adressiert. Die Warschauer Aufnahmen wurden aller Wahrscheinlichkeit nach für das "Archiv", für die Zeit "danach" aufgenommen. Sie hätten nach dem vollendeten systematischen Massenmord im Sinne der Täter eine weitere Repräsentation der Juden ermöglichen sollen. Wie und in welcher Form ist dabei weitgehend unklar. Die Bilder hätten aber nicht mehr den üblichen Regeln der Propaganda zur Vorbereitung des Genozids folgen müssen, sondern verdanken sich einem registrierenden und aufzeichnenden, fast ethnologischen Blick und einem gewissermaßen anthropologischen Interesse – was allerdings nicht heißt, dass sie nicht von antisemitischen Obsessionen und Stereotypen angeleitet und geprägt sind oder dass einzelne Szenen nicht mehrmals gefilmt wurden, um ein "gutes" Bild herzustellen. Die bipolar strukturierte Nazi-Ideologie benötigte "den Juden" als Feindbild, auch über seine Vernichtung hinaus. Die Form der Darstellung hätte sich dabei aber ändern können. Eine aggressive Hetzpropaganda wäre nicht mehr notwendig gewesen. Das Regime erzwang Realitäten, die es im Bild festhielt, als Legitimation des Antisemitismus Dokumentation und Propaganda können hier nicht leicht unterschieden werden. Auch die Ghetto-Aufnahmen für "Der ewige Jude" wurden zunächst offenbar aus einem rein dokumentarischen Interesse heraus aufgenommen. Unter der Überschrift "Judenaufnahmen 'fürs Archiv'" beschreibt Fritz Hippler, Reichsfilmintendant und Leiter der Film-Abteilung des Reichspropagandaministeriums, diesen Auftrag in seinem Erinnerungsbuch: "'Überzeugen Sie sich mal selbst, wie diese Juden da leben, wo sie zu Hause sind. Lassen Sie Filmaufnahmen vom Leben in den polnischen Ghettos machen', sagte Goebbels zu mir, als ich ihm am Sonntag, dem 8. Oktober den Rohschnitt der neuesten Wochenschau vorführte. 'Fahren Sie noch morgen mit ein paar Kameramännern nach Litzmannstadt [Lodz] und lassen Sie alles filmen, was Ihnen vor die Flinte kommt. Das Leben und Treiben auf den Straßen, das Handeln und Schachern, das Ritual in der Synagoge, das Schächten nicht zu vergessen. Wir müssen das alles an diesen Ursprungsstätten aufnehmen, denn bald werden hier keine Juden mehr sein. Der Führer will sie alle aussiedeln, nach Madagaskar oder in andere Gebiete. Deshalb brauchen wir diese Filmdokumente für unsere Archive'." Die Idee zu "Der ewige Jude", dem aggressivsten antijüdischen Film, der im "Dritten Reich" produziert wurde, entstand scheinbar erst, als Goebbels die für das Archiv bestimmten Aufnahmen vorgeführt wurden: "Bei der gemeinsamen Vorführung tat er dann so, als wolle er mir zeigen, wie jemand mit richtigem Instinkt zur Judenfrage reagiert. Fast jede Großaufnahme begleitete er mit Ausrufen des Abscheus und Ekels; einige Gestalten beschimpfte er so lebhaft, als könne er damit auf der Leinwand Reaktionen hervorrufen; bei den Schächtbildern nahm er stöhnend die Hände vors Gesicht. [...] Am Ende dekretierte er, diese Aufnahmen gehörten nicht ins Archiv, daraus müsse ein abendfüllender Film gemacht werden. Kameramänner zurück ins Ghetto, er wolle sie vorher selbst sprechen." Filmplakat zu "Der ewige Jude" aus dem Jahr 1940. Die Aufnahmen wurden überwiegend im Ghetto Lodz/Litzmannstadt gedreht. Zu sehen waren die katastrophalen Lebensbedingungen infolge der Ghettoisierung – Szenen, die die NS-Propaganda als Beweis und Bestätigung antisemitischer Vorurteile zu nutzen versuchte. (© Bundesarchiv, Plak 003-020-030) Wie auch bei dem Warschauer Filmmaterial einige Jahre später, das vermutlich von Goebbels in Auftrag gegeben und ihm möglicherweise schließlich vorgeführt wurde, wiederholte sich der immer gleiche Zirkel: In einem ersten Schritt erzwingen die Täter eine Realität, so etwa die der Ghettos. Die auf dieser "Realität" basierenden Filmaufnahmen dienen ihnen zur Bestätigung und Verstärkung ihrer antisemitischen Vorurteile. Und schließlich werden sie zur Legitimierung der immer brutaler werdenden antijüdischen Maßnahmen genutzt. Wie sollte Film- und Bildmaterial der Täter heute benutzt werden? Was bleibt, ist die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dieser Art Filmmaterial. Dies betrifft allerdings nicht nur die Warschauer Aufnahmen aus dem Jahr 1942, sondern eine Vielzahl von Filmdokumenten und eine noch weitaus größere Zahl von Fotografien aus dem Blickwinkel der Täter. Viele ihrer Aufnahmen sind zu Ikonen des Holocaust geworden, so etwa einzelne Aufnahmen aus dem sogenannten Auschwitz-Album oder dem Stroop-Bericht. Jeder kennt den kleinen Jungen mit den erhobenen Armen im Warschauer Ghetto oder die alte Frau mit den kleinen Kindern auf dem Weg in eine der Gaskammern von Auschwitz. Wie selbstverständlich werden sie in unserer Erinnerungskultur als Instrumente des Gedenkens an die Opfer verwendet, obwohl sie von den Tätern gemacht worden sind, um den Erfolg und die Effizienz der Vernichtungspolitik zu dokumentieren und sie zugleich zu rechtfertigen. Es kann angenommen werden, dass das heute nur wenigen Betrachtern bewusst ist, zumal es bei der Verwendung der Bilder meistens kaum deutlich gemacht und problematisiert wird. Ebenso selbstverständlich werden manipulative Propagandabilder, wie etwa jene Leni Riefenstahls in Dokumentationen gebraucht und unendlich oft wiederholt – nicht nur, um über Propaganda zu sprechen und die Faszination des schönen Scheins zu brechen; nicht nur, um die Problematik dieser Bilder zu thematisieren; sondern um das "Dritte Reich" zu illustrieren. Was dabei alles – vielleicht ungewollt – mittransportiert wird (auch durch Ausblendungen, die für alle hier genannten Varianten von Propaganda ebenso konstitutiv sind, wie die sichtbaren Inhalte selbst), bleibt im Allgemeinen unbedacht. Die Lesarten von Bildern können schließlich nicht ohne weiteres kontrolliert und eingeschränkt werden. Unsere Bilder vom Nazismus und seinen Verbrechen – in der Populärkultur, in der Vermittlung durch die unterschiedlichsten Medien und auch in der Wissenschaft und Forschung – werden überraschenderweise immer noch weitgehend von den Tätern bestimmt, trotz ihrer Niederlage. In einigen Fällen konnten Bilder der Täter tatsächlich, entgegen ihrer ursprünglichen Intention, erfolgreich in Belege für ihre Verbrechen gewendet werden und einen Erkenntnisgewinn erzeugen. So gelang es etwa anhand von Bildmaterial, eine breitere Öffentlichkeit mit der Tatsache einer Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust zu konfrontieren. Allerdings war auch dies nur möglich, um den bis heute kaum diskutierten Preis einer fortgesetzten beziehungsweise erneuten Erniedrigung der Opfer im Bild, denn die ursprüngliche Funktion der Bilder war die Erniedrigung der Aufgenommenen. Systematische Erniedrigung war Teil des Vernichtungsprozesses. Einfache Antworten kann es auf diese weitreichende Frage daher auch nicht geben. Die beiden Extrempositionen erscheinen wenig hilfreich, weil sie diese Komplexität nicht benennen: Weder der Ausschluss aller Bilder aus der Nazizeit, wie er etwa von dem französischen Regisseur Claude Lanzmann gefordert wird, noch ein Bilderfetischismus, der den Bildern eine fast metaphysisch-erlösende Funktion zuschreibt, prominent vertreten von Jean-Luc Godard, werden dem Problem gerecht. Zugleich macht es wenig Sinn, die Bilder der Opfer, die als Widerstandsaktionen aufgenommen wurden (etwa die Fotos des Sonderkommandos in Auschwitz), ebenso zu sanktionieren wie die Aufnahmen der Täter. Sie haben einen anderen Status, einen anderen Blick und vor allem eine andere Intention. Auch wenn sie die gleiche Realität zeigen, sie zeigen sie anders. Doch auch die Täterbilder müssen nicht notwendigerweise auf ewig unzugänglich in Giftschränken aufbewahrt oder gar vernichtet werden, als ob es sie nicht gegeben hätte. Natürlich sind sie wichtige Quellen und können dazu verwendet werden, Einsichten über die Vergangenheit zu vermitteln. Bildmaterial muss kontextualisiert werden Es sollte jedoch in jedem Einzelfall sehr genau gefragt und reflektiert werden, was Bilder zeigen. Deutlich gemacht werden muss außerdem, warum die Bilder es zeigen, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht sie aufgenommen wurden und schließlich, was sie nicht zeigen. Alle diese Elemente bestimmen und formatieren ein Bild, nicht ausschließlich der Inhalt im engeren Sinne. Daran anschließend wäre jeweils zu überlegen, inwieweit und wofür sie sinnvoll verwendet werden können. Vor allem im Falle der Täterbilder ist stets zu fragen, was ihre weitere Verwendung rechtfertigt: Was können wir aus ihnen lernen, was wir sonst nicht lernen könnten? Wie müssen wir sie kontextualisieren, um nicht ungewollt die Botschaft der Täter zu transportieren? In Yael Hersonskis "Geheimsache Ghettofilm " gibt es weder neue Bilder noch neue Erkenntnisse oder Einsichten. Vertieft das Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto unser Verständnis des Holocaust? Vielleicht, wenn es sensibel thematisiert und kontextualisiert werden würde. Um von Hunger und Massengräbern zu erfahren, brauchen wir es allerdings nicht. Und wohl auch kaum, um zu realisieren, dass die Nazis antijüdische Propaganda produziert haben. Leichenbergpädagogik ist mittlerweile aus der Mode gekommen. Das heißt nicht, dass wir uns den Blick auf die Verbrechen zu leicht machen sollten. Aber wir sollten doch genau überlegen, wie wir mit dieser Art von Bildern umgehen, wofür wir sie einsetzen, ob wir sie wirklich benötigen und was wir mit ihnen ungewollt mittransportieren. Bilder stellen letztlich keine wesentlich anderen Anforderungen an die Rezipienten als es Texte tun. Sie werden nur anders wahrgenommen: Nicht selten als direkter Blick auf die Wirklichkeit, die vermeintlich ohne weiteres erfasst werden kann. Auch Historikerinnen und Historiker sind immer noch nicht geschult im Umgang mit Bildern als Quelle. Einfache Rezepte und abschließende Antworten auf diese komplexen Anforderungen gibt es ohnehin nicht. Fahrlässig ist es aber, diese Fragen und Probleme noch nicht einmal aufzuwerfen und zu diskutieren – und weder ein Unbehagen noch ein Ungenügen sichtbar zu machen. Eine solche Debatte wäre weiterhin notwendig, wird aber bedauerlicherweise in unserer Erinnerungskultur nicht geführt. Vielmehr zeigt sich immer wieder eine schwer erträgliche Mischung aus Sensationalismus und Voyeurismus, Faszination und Obsession, gepaart mit Missverständnissen und Ungenauigkeiten – insofern sind "Geheimsache Ghettofilm" und seine Rezeption ein Lehrstück über den öffentlichen Umgang mit dem Holocaust in unserer Zeit. Der Text entstand im August/September 2010 während eines Charles H. Revson Foundation Fellowships am Center for Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, DC. Ich danke Raye Farr, Leslie Swift und Lindsay Zarwell vom Steven Spielberg Film and Video Archive am USHMM für zahlreiche Hilfestellungen und die Überlassung von Material. Ihnen wie auch einer Reihe anderer Kollegen und Kolleginnen sowie Gastwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen sei außerdem für intensive Diskussionen über den Film und die hier aufgeworfenen Fragen gedankt. Für alle hier vertretenen Einschätzungen wie auch für jegliche Art von Fehlern ist naturgemäß der Autor allein verantwortlich. Der Text erschien mit wenigen Änderungen erstmals auf Zeitgeschichte-Online im Oktober 2010: Dirk Rupnow, Die Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik und unser Umgang mit den Bildern der Täter. Ein Beitrag zu Yael Hersonskis "A Film Unfinished"/"Geheimsache Ghettofilm", Externer Link: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=AFilmUnfinished. Filmplakat zu "Der ewige Jude" aus dem Jahr 1940. Die Aufnahmen wurden überwiegend im Ghetto Lodz/Litzmannstadt gedreht. Zu sehen waren die katastrophalen Lebensbedingungen infolge der Ghettoisierung – Szenen, die die NS-Propaganda als Beweis und Bestätigung antisemitischer Vorurteile zu nutzen versuchte. (© Bundesarchiv, Plak 003-020-030) "The Warsaw Ghetto As Seen Through Nazi Eyes" ("Wie die Nazis das Warschauer Ghetto sahen") (Huffington Post, 16.8.2010 Externer Link: http://www.huffingtonpost.com/richard-z-chesnoff/ema-film-unfinishedem-the_b_682030.html); "Why did the Nazis Film the Dying Jews of Warsaw?" ("Wieso filmten die Nazis das Sterben der Juden in Warschau?") (The Wrap, 14.8.2010 Externer Link: http://www.thewrap.com/movies/column-post/why-did-nazis-film-dying-jews-warsaw-20125); "Film disputes account of Warsaw Ghetto history" ("Ein Film stellt die Darstellung der Geschichte des Warschauer Ghettos zur Diskussion") (Warsaw Business Journal, 17.8.2010 Externer Link: http://www.wbj.pl/article-50717-film-disputes-account-of-warsaw-ghetto-history-watch.html?typ=wbj). Vgl. Bundesarchiv-Filmarchiv, Sign. BSL 11780 (Ghetto). Zum Film vgl. den Eintrag "Asien in Mitteleuropa", Cinematographie des Holocaust, Externer Link: http://www.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?dfw00fbw000817.gd; Anja Horstmann, "Judenaufnahmen fürs Archiv" – Das dokumentarische Filmmaterial "Asien in Mitteleuropa", 1942, in: Medaon 4/2009 Externer Link: medaon.de/archiv-4-2009-artikel.html. Zur BBC-Dokumentation vgl. den Eintrag "Warsaw Ghetto", in: Cinematographie des Holocaust, Externer Link: www.cine-holocaust.de; zur Verwendung in fiktionalen Filmen, als Authentizitätseffekt, vgl. Ingo Loose, Die Ambivalenz des Authenthischen. Juden, Holocaust und Antisemitismus im deutschen Film nach 1945, in: Medaon 4/2009, Externer Link: medaon.de/archiv-4-2009-artikel.html. Vgl. Bundesarchiv-Filmarchiv, Sign. M 19675 (Ghetto – Restmaterial). Vgl. Raul Hilberg/Stanislaw Staron/Josef Kermisz (Hg.), The Warsaw Diary of Adam Czerniakow. Prelude to Doom, Chicago 1999 (EA 1979), 348-362 (Eintragungen vom 30.4.-2.6.1942). Vgl. L. Shneiderman (Hg.), The Diary of Mary Berg. Growing up in the Warsaw Ghetto, Oxford 2006 (EA 1945), 143f. (Chapter XI: The Germans Take Pictures). Vgl. Emanuel Ringelblum, Notes from the Warsaw Ghetto, hrsg. v. Jacob Sloan, New York 1958, 265f., 268 ("They are still filming the Ghetto. Every scene is directed."), 277f., 294; Joseph Kermish (Hg.), To Live with Honor and Die with Honor! Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives "O. S.” (Oneg Shabbat), Jerusalem 1986; Samuel D. Kassow, Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabbes Archive, Bloomington – Indianapolis 2007. Vgl. etwa auch Abraham I. Katsh (Hg.), Scroll of Agony. The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan, Bloomington – Indianapolis 1999 (EA 1965), 331f., 334 (Eintragungen vom 14.5. und 19.5.1942). Willy Wist wurde zweimal vernommen. Ein Detail, welches Hersonski an keiner Stelle des Films erwähnt. So wurde Wist erstmals 1970 im Zuge einer Voruntersuchung gegen Heinz Auerswald, den "Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk in Warschau", verhört und dann nochmals 1972 für die Voruntersuchung gegen Ludwig Hahn, den Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in Warschau. Das Material befindet sich im Bundesarchiv-Außenstelle Ludwigsburg (Unterlagen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen): B 162/832, Bl. 444-451; B 162/19319, Bl. 1278-1285. Vgl. z.B. "An Israeli Finds New Meanings in a Nazi Film", The New York Times, 17.8.2010, Externer Link: http://movies.nytimes.com/2010/08/18/movies/18unfinished.html?_r=0; "A Film Unfinished: How German it is", Huffington Post, 16.8.2010, Externer Link: www.huffingtonpost.com/regina-weinreich/how-german-it-is-a-film-u_b_683732.html; "Yael Hersonski’s ‘A Film Unfinished’ incorporates Nazi footage", Los Angeles Times, 15.8.2010, articles.latimes.com/2010/aug/15/entertainment/la-ca-film-unfinished-20100815; "‘A Film Unifnished’ Focusses on Nazi Documentary", Miller-McCune, 15.8.2010, Externer Link: www.miller-mccune.com/media/a-film-unfinished-deconstructs-nazi-documentary-20838/; "An Unfinished Story", The Wall Street Journal, 13.8.2010, online.wsj.com/article/SB10001424052748704407804575425742249231872.html; ‘A Film Unfinished’, indieWIRE, 13.8.2010, Externer Link: www.indiewire.com/article/futures_a_film_unfinished_director_yael_hersonski/; "Drastische Nacktheit", Süddeutsche Zeitung, 6.8.2010, Externer Link: www.sueddeutsche.de/kultur/aerger-um-beastie-boy-drastische-nacktheit-1.985246; "Das Massengrab als Kulisse. Wie eine Israelin den NS-Propagandafilm 'Asien in Mitteleuropa' vollendete, Welt-Online, 19.2.2010, Externer Link: www.welt.de/welt_print/kultur/article6462414/Das-Massengrab-als-Kulisse.html. Vgl. "Chosen Film: A Film Unifinished – Now Playing”, Externer Link: www.heebmagazine.com/chosen-film-a-film-unfinished/, 1.9.2010. Die deutsche Übersetzung des Zitats lautet: "vielleicht der schlichteste und fesselndste Dokumentarfilm, der jemals über den Holocaust gemacht wurde." Vgl. Lucy S. Dawidowicz, Visualizing the Warsaw Ghetto: Nazi Images of the Jews Refiltered by the BBC. A Critical Review of the BBC Film "The Warsaw Ghetto”, unveröffentlichtes Typoskript, Yeshiva University 1978. Vgl. Barbara Engelking/Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven – London 2009, 580-584. United States Holocaust Memorial Museum/Fotoarchiv #23282. Ich danke Judith Cohen von der Photographic Reference Collection am USHMM für den Hinweis auf dieses Foto. Vgl. Engelking/Leociak, The Warsaw Ghetto, 582f.; Jeremy Noakes/Geoffrey Pridham (Hg.), Nazism 1919-1945. Vol. 3: Foreign Policy, War and Racial Extermination. A Documentary Reader, Exeter 2001, 462f. (Dok. 786 und 787). Vgl. dazu auch die im YIVO überlieferten Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto (USHMM/Spielberg Film and Video Archive, Story RG-60.0577, Tape 237): Sie schienen von deutschen Soldaten (Luftwaffe?), die auf einer Besichtigungstour durch das Ghetto unterwegs waren, privat aufgenommen worden zu sein, wohl 1941 oder 1942. Nach dem Maßstab des Hersonski-Films würden sie wohl nicht als inszeniert gelten. Sie zeigen durchaus ähnliche Straßenszenen und Kontraste, wie die Aufnahmen aus dem Mai 1942, aber keinerlei Eingriffe – abgesehen natürlich von der Anwesenheit deutscher Soldaten mit einer Filmkamera. Das gleiche gilt für die Fotografien Willy Georgs, eines deutschen Soldaten und Fotografen, aus dem Sommer 1941, vg. United States Holocaust Memorial Museum, Washington DC/Fotoarchiv, z.B. #08149, #08150, #08152, #08156, #20579, #20601,#20614, #20615. Auch diese Bilder vermitteln einen Eindruck vom unmittelbaren Nebeneinander von Alltag und Hunger, Leben und Sterben im Ghetto. Georg übergab die Aufnahmen in den späten 1980er oder frühen 1990er Jahren an Rafael Schafr, der sie teilweise in dem Band "In the Warsaw Ghetto. Summer 1941" (New York 1993) verwendete. Der Hinweis der MPAA lautet: "verstörende Bilder von Holocaust-Grausamkeiten und drastische Nacktheit. Vgl. "Holocaust film rating appealed", jweekly, 12.8.2010, Externer Link: www.jweekly.com/article/full/58894/holocaust-film-rating-appealed/; "Bildung mit den Beastie Boys", Süddeutsche Zeitung, 7.8.2010, Externer Link: www.sueddeutsche.de/A5K389/3501683/Bildung-mit-den-Beastie-Boys.html; "Holocaust Doc Loses Appeal on ‘R’ Rating", The Wrap, 5.8.2010, Externer Link: www.thewrap.com/movies/column-post/holocaust-doc-winsloses-its-mpaa-appeal-19891. Vgl. Dirk Rupnow, Jenseits der Grenzen. Zeitgeschichte, Holocaust und Literatur, in: Marcel Atze/Thomas Degener/Michael Hansel/Volker Kaukoreit (Hg.), akten-kundig? Literatur, Zeitgeschichte und Archiv (= Sichtungen. Archiv – Bibliothek – Literaturwissenschaft, 10./11. Jahrgang 2007/08), Wien 2009, 67-97. Bundesarchiv-Filmarchiv, Sign. M 20814. Die Ähnlichkeit einzelner Motive und ein identes Sujet (der Trauerzug für einen verstorbenen Mitarbeiter des "Judenrats", Herman Czerwinski) machen deutlich, dass es sich um den gleichen Filmtrupp und den gleichen Zeitpunkt wie bei dem "Ghetto"-Material handelt. "Das 'schöne Leben' im Warschauer Ghetto 1942 – neue NS-Filmrolle aufgetaucht", Altermedia Deutschland/Störtebeker-Netz, Artikel im Netz aufgerufen am 20.8.2010, online nicht mehr abrufbar. Vgl. Die Website zum Film: Externer Link: www.afilmunfinished.com. Vgl. "Whitewash in Wartime", The New York Times, 13.8.2010, Externer Link: www.nytimes.com/2010/08/15/movies/15tillman.html. Vgl. Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005; ders., Aporien des Gedenkens. Reflexionen über 'Holocaust' und Erinnerung, Freiburg/Br. – Berlin 2006. Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Tl. II/Bd. 4, München – New Providence – London – Paris 1995, 184. Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Tl. II/Bd. 5, München – New Providence – London – Paris 1995, 391. Dorothea Hollstein, Antisemitische Filmpropaganda. Die Darstellung des Juden im nationalsozialistischen Spielfilm, München 1971; Stig Hornshøj-Møller, "Der ewige Jude". Quellenkritische Analyse eines antisemitischen Propagandafilms, Göttingen 1995. Vgl. Karel Margry, Das Konzentrationslager als Idylle: "Theresienstadt" – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet, Externer Link: www.cine-holocaust.de/mat/fbw000812dmat.html. Vgl. Jonas Turkow, Azoi is es geven. Hurban Warsche, Buenos Aires 1948. Ein vergleichbares Filmprojekt wurde scheinbar im Rahmen des sogenannten "Jüdischen Zentralmuseums" in Prag geplant, das auch in den Kontext der Nazi-Bemühungen um eine Konservierung eines Bildes des Judentums gehört. Es wurde unter der Aufsicht des Prager "Zentralamts zur Regelung der Judenfrage" von jüdischen Wissenschaftlern aufgebaut. In diesem Kontext beabsichtigten die zuständigen SD/SS-Männer, einen jüdischen Gottesdienst und verschiedene religiöse Rituale zu filmen, bis hin zu einer Beschneidung. Die Dreharbeiten scheinen im März 1944 stattgefunden zu haben, das Material ist allerdings nicht überliefert bzw. konnte bisher nicht aufgefunden werden. Vgl. Dirk Rupnow, Vernichten und Erinnern, 242-245; ders., Täter-Gedächtnis-Opfer. Das "Jüdische Zentralmuseum" in Prag 1942-1945, Wien 2000, 107-116. Fritz Hippler, Die Verstrickung. Auch ein Filmbuch …, Düsseldorf, 2. Aufl., 1981, 187. Hippler, Verstrickung, 189. Vgl. Libby Saxton, Haunted Images. Film, Ethics, Testimony and the Holocaust, London – New York 2008, 46-67. Lanzmann wurde mit dem Warschauer Filmmaterial offenbar durch Frédéric Rossifs Dokumentation "Le Temps du Ghetto” (Frankreich, 1961) konfrontiert, als er mit den Recherchen für "Shoah" begann. In seinen Memoiren kritisierte er, dass Rossif keine Rechenschaft über die Herkunft des von ihm verwendeten Materials ablegt. Er verbindet damit die Vermutung, dass die Aufnahmen dazu dienen sollten, Deutschland und der Welt zu zeigen, wie angenehm das Leben im Ghetto war. Vgl. Claude Lanzmann, Le Lièvre de Patagonie. Mémoires, Paris, 2009, S. 431. Vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007. Vgl. Bryan F. Lewis, Documentation of Decoration? Uses and Misuses of Photographs in the Historiography of the Holocaust, in: John K. Roth/Elisabeth Maxwell (Hg.), Remembering for the Future. The Holocaust in an Age of Genocide, Vol. 3: Memory, Basingstoke 2001, 341-357.
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"2022-01-12T00:00:00"
"2013-01-31T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/geheimsache-ghettofilm/154336/unser-umgang-mit-den-bildern-der-taeter/
Für den Historiker Dirk Rupnow löst der Film "Geheimsache Ghettofilm" nicht das Versprechen ein, die Täterbilder zu durchbrechen. Dabei kritisiert er auch die Machart des Films. Zugleich fordert Rupnow eine breite Diskussion über den Umgang mit Film-
[ "Dirk Rupnow", "Warschauer Ghetto", "Yael Hersonski", "Geheimsache Ghettofilm", "Film", "Medien", "Holocaust" ]
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Vor 100 Jahren: Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo | Hintergrund aktuell | bpb.de
Am 16. April 1922 unterzeichneten Vertreter des Deutschen Reichs und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik den sogenannten Externer Link: Vertrag von Rapallo. Zuvor hatten Delegationen beider Länder am Rande einer Weltwirtschaftskonferenz über dessen Inhalt verhandelt. Der Vertrag sah den gegenseitigen Verzicht auf Reparationszahlungen in Folge des Interner Link: Ersten Weltkriegs vor. Russland nahm dadurch das in Externer Link: Artikel 116 des Versailler Vertrags festgeschriebene Anrecht, von Deutschland die Erstattung von Kriegsschäden einzufordern, nicht in Anspruch. Im Gegenzug verzichtete das Deutsche Reich auf alle Ansprüche für deutsches Eigentum, dass in Russland von Verstaatlichungen betroffen war. Wirtschaftliche und diplomatische Zusammenarbeit Zudem einigten sich die Vertragspartner in dem Externer Link: Dokument auf die sofortige Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen, welche 1918 abgebrochen worden waren. Beide Seiten vereinbarten in dem vom deutschen Außenminister Walther Rathenau und seinem sowjetischen Kollegen Georgi Tschitscherin unterzeichneten Schriftstück außerdem, ihre Handelsbeziehungen auszubauen. "Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste entgegenkommen", heißt es in Artikel 5. Eine ökonomische Zusammenarbeit war für das Deutsche Reich wichtig, weil verschiedene westliche Staaten, deutsche Waren nach dem Ersten Weltkrieg boykottierten. Das Deutsche Reich unterstützte Russland in der Folge bei der Errichtung von Industrieanlagen für die Ölproduktion, um so unabhängiger von westlichen Rohstoffimporten zu werden. Offiziell sah der Vertrag von Rapallo keine militärische Zusammenarbeit vor, de facto intensivierte sich die Kooperation beider Staaten auf diesem Gebiet jedoch. In Artikel 5 heißt es: Externer Link: "Die deutsche Regierung erklärt sich bereit, die ihr neuerdings mitgeteilten, von Privatfirmen beabsichtigten Vereinbarungen zu unterstützen und ihre Durchführung zu erleichtern." Schritt aus der internationalen Isolation Der Vertrag zielte auf die Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen und war für die beiden Länder ein großer Schritt, sich aus ihrer internationalen Isolation zu befreien. Deutschland war nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg international geächtet. Der Interner Link: Versailler Vertrag war für die junge Interner Link: Weimarer Republik eine große Bürde. Das Land hatte Gebietsverluste zu verzeichnen, musste die alleinige Kriegsschuld anerkennen, seine Armee massiv verkleinern, Teile des deutschen Staatsgebiets waren besetzt. Zudem musste das Deutsche Reich hohe Reparationszahlungen an die Westalliierten leisten. Die internationale Staatengemeinschaft grenzte Russland wiederum aufgrund der Interner Link: Russischen Revolution von 1917 aus. Daher lag eine Zusammenarbeit der zwei Staaten im beiderseitigen Interesse. Teile der politischen Rechten in Deutschland waren indes gegen den Vertrag von Rapallo, da sie grundsätzlich eine Zusammenarbeit mit "Bolschewisten“ aus ideologischen Gründen ablehnten. Reaktion der Westmächte Aus Sicht Frankeichs und Großbritanniens drohte mit dem Abkommen eine Abkehr von der Versailler Nachkriegsordnung. Die Westmächte fürchteten, dass sich das Deutsche Reich aus seiner Abhängigkeit lösen könne und eine erneute Aufteilung Polens anstrebe. Einerseits war der Vertrag von Rapallo für das Deutsche Reich ein erster Schritt aus der internationalen Isolation, andererseits verschlechterte sich dadurch das Verhältnis zu den Westmächten zunächst weiter. 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, nachdem Deutschland mit Reparationszahlungen in Rückstand geraten war. Konferenz von London 1924 Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann setze ab 1923 die Politik zur Überwindung der internationalen Isolation des Deutschen Reichs weiter fort. Ein wichtiges Ziel des DVP-Politikers war es, auf friedlichem Weg eine Revision des Interner Link: Versailler Vertrags und der Ostgrenze zu erreichen. Bei der Londoner Konferenz im August 1924 gelang es ihm mit Unterstützung Interner Link: der USA auf der Grundlage des sogenannten "Externer Link: Dawes-Plans" eine Neuregelung der Reparationen durchzusetzen. Die Zahlungen sollten fortan von der wirtschaftlichen Lage Deutschlands abhängig gemacht werden. In der Folge verbesserte sich auch das Verhältnis zu Frankreich, insbesondere, nachdem der auf Aussöhnung setzende Aristide Briand 1925 französischer Außenminister wurde. Locarno-Verträge 1925 und Beitritt zum Völkerbund Die Rückkehr Deutschlands auf das internationale Parkett gelang Stresemann mit der Unterzeichnung der Interner Link: Verträge von Locarno im Jahr 1925. Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens, Italiens, Polens und der Tschechoslowakei einigten sich auf diverse Abkommen, die ein europäisches Sicherheits- und Friedenssystem begründen sollten. Frankreich, Belgien und Deutschland versicherten schriftlich, künftig auf gewaltsame Veränderung ihrer Grenzen zu verzichten. Deutschland lehnte zwar weiterhin eine Anerkennung der Grenze zu Polen ab, erkannte jedoch die im Versailler Vertrag festgelegte Westgrenze ebenso wie die Entmilitarisierung des Rheinlands an. In Locarno wurde auch der Beitritt zum Interner Link: Völkerbund beschlossen, der im September 1926 vollzogen wurde. Die Locarno-Verträge stießen wegen der Anerkennung der Westgrenze bei weiten Teilen der politischen Rechten in Deutschland auf Ablehnung. Auch die deutschen Kommunisten machten gegen die Verträge mobil, weil sie darin ein Bündnis gegen die Sowjetunion sahen. Deutschland setzte aber mit dem im April 1926 geschlossenen "Externer Link: Berliner Vertrag" seine Politik der Annäherung gegenüber der Sowjetunion fort: Der deutsch-sowjetische Freundschaftsvertrag, der in Artikel 1 den Vertrag von Rapallo als Grundlage ihrer Beziehungen bekräftigte, sah die gegenseitige Neutralität für den Fall vor, dass einer der beiden Staaten angegriffen würde. Ende der Reparationszahlungen 1932 Auf der Basis des Dawes-Plans und der Locarno-Verträge kam es in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zu einer weiteren Verbesserung des deutsch-französischen sowie des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Aufgrund der Annäherungspolitik endete am 30. Juni 1930 die Interner Link: Besetzung des Rheinlands. Bei Externer Link: der Konferenz von Lausanne im Juli 1932 erreichte die Reichsregierung mit Unterstützung der USA schließlich ein Ende der Reparationszahlungen. Mehr zum Thema: Interner Link: Reinhard Sturm: Kampf um die Republik 1919–1923 Interner Link: Dossier: Der Erste Weltkrieg Interner Link: Dossier: Weimarer Republik Interner Link: Versailler Vertrag (Das Politiklexikon)
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"2022-11-25T00:00:00"
"2022-04-08T00:00:00"
"2022-11-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/507112/vor-100-jahren-unterzeichnung-des-vertrags-von-rapallo/
Am 16. April 1922 unterzeichneten Vertreter des Deutschen Reichs und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik einen Vertrag zur Aufnahme wirtschaftlicher, diplomatischer Beziehungen.
[ "Hintergrund aktuell", "Konferenz von Rapallo", "Abkommen von Rapallo", "Deutsches Reich", "Sowjetrepublik", "Weimarer Republik" ]
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Der schmale Grat zwischen wirtschaftlicher Einflussnahme und zeitgemäßer Schulentwicklung | New Educonomy | bpb.de
Für Unternehmen aus der Privatwirtschaft ist die Bildungslandschaft ein lukratives Geschäftsfeld. Insbesondere Technik- und Digitalkonzerne sind durch Hard- und Software aus dem Bildungssektor nicht mehr wegzudenken. Der Bedarf an technischer Ausstattung und digitalen Anwendungen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen – und damit auch die Möglichkeit von Konzernen sich im Bildungsbereich zu etablieren. Eine Sprecherin des Digitalverbandes bitkom sagt über die Aufstellung privatwirtschaftlicher Unternehmen im Bildungsbereich: "Statt auf die Entwicklung neuer technologischer Angebote zur Digitalisierung ihres Unterrichts durch den Staat zu warten, setzen viele Schulen auf bewährte Lösungen aus der Wirtschaft. Das betrifft unter anderem die Netzanbindung von Bildungseinrichtungen, die Ausstattung mit und Administration von mobilen Endgeräten, die Nutzung digitaler Lehr- und Lernmaterialien genauso wie Angebote zur Lehrkräftequalifizierung." Digitalkonzerne in Bildungseinrichtungen Neben Apple bieten auch andere Digitalkonzerne spezielle Angebote für Bildungseinrichtungen an. Samsung zeichnet Schulen, die der Konzern als bundesweite Vorreiter für den digitalen Unterricht ansieht, zu "Samsung Lighthouse Schools" aus. Mit der Initiative "Digitale Bildung neu denken" sollen Bildungseinrichtungen mit "kreativen Unterrichtskonzepten gefördert und digitale Kompetenzen vermittelt werden". Mit dem regelmäßig stattfindenden Wettbewerb “Ideen Bewegen” wird Schulen ein digitales Klassenzimmer zur Verfügung gestellt. Im Rahmen von "Samsung-Coding-Klassenfahrten" sollen Schulklassen das Programmieren kennenlernen. Microsoft stellt Schulen auf Basis des DigitalPakts kostengünstig Geräte zur Verfügung. Außerdem bietet der Konzern das Software-Paket Office 365 für Bildungseinrichtungen kostenlos an. In der sogenannten "Microsoft Lehrer-Community" werden Veranstaltungen und Webinare für Lehrkräfte angeboten. Google stellt Schulklassen mit dem Programm Google Expeditionen VR/AR-Brillen für virtuelle Reisen zur Verfügung. Außerdem bietet der Konzern Unterrichtsmaterialien für Lehrkräfte und Fortbildungen zu digitalen Themen an. Mit Google Classroom können Lehrkräfte Kurse sowie Lern- und Übungsaufgaben erstellen. Die Plattform ist Teil des Softwarepakets "G Suite for Education", das Schulen kostenlos angeboten wird. Die Auszeichnung zur "Apple Distinguished School" Fast alle größeren Tech-Konzerne haben neben bildungsspezifischen Anwendungen Programme oder Auszeichnungen entwickelt, die Bildungseinrichtungen in besonderer Form an das jeweilige Unternehmen binden sollen. So zum Beispiel das Programm "Distinguished Schools" des US-amerikanischen Technologiekonzerns Apple. In einer digitalen Broschüre des Unternehmens heißt es hierzu: "Das Apple Distinguished School Programm unterstützt zukunftsorientierte Bildungsexperten, die Apple Technologie nutzen, um positive Veränderungen an ihren Schulen zu bewirken." So verfolgt der Konzern laut Selbstbeschreibung eine "Apple Vision des Lernens mit Technologie“ und zeichnet Schulen aus, die diese Vision umsetzen. Die Voraussetzungen dafür sind ein "etabliertes One-to-One Programm, innovative Verwendung der Apple Plattform, Lehrkräfte sind mit iPad und iMac vertraut [sowie] dokumentierte Ergebnisse." All das sollen die Schulen in einem Portfolio darlegen, um von dem Konzern eine Zertifizierung für drei Jahre ausgestellt zu bekommen. Mit der Auszeichnung gehen keinerlei Vergünstigungen bei der Ausstattung mit Produkten einher. Der Konzern verspricht jedoch die Unterstützung der Schulen, insbesondere durch "Veranstaltungen für Führungskräfte" und "Kontakt zu Experten und Expertinnen". Des Weiteren können Schulen ihre Auszeichnung mit einem Logo auf den Schulwebseiten oder in Form von Bannern und Urkunden nach außen kommunizieren. Laut eigener Auflistung sind in Deutschland derzeit 14 Schulen als "Apple Distinguished Schools" zertifiziert. Eine Gefahr der Einflussnahme auf Bildung? Der Umgang mit Werbung wie auch Sponsoring an Schulen ist in Deutschland durchInterner Link: Gesetze und Richtlinien aller 16 Bundesländer geregelt. Kritiker und Kritikerinnen sehen durch die enge Verbindung von Schulen mit einem Konzern das Neutralitätsgebot von Bildung in Gefahr. Das Apple-Distinguished-School-Programm oder vergleichbare Angebote anderer Tech-Konzerne seien vor allem Werbeprogramme. René Scheppler ist ein solcher Kritiker. Er ist Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule und Mitglied im Kreisvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Auf einem privaten Blog setzt er sich mit Lobbyismus in Schulen auseinander. In Programmen wie "Apple Distinguished Schools" sieht Scheppler die Grenze der Einflussnahme wirtschaftlicher Unternehmen auf Bildungseinrichtungen überschritten und das Vertrauen in das deutsche Bildungssystem bedroht. Schulen und somit die Qualität von Bildung würden käuflich werden. Er fordert, das Schulen werbefrei sein und bleiben müssen. Dass es an Schulen einen Bedarf an Ausstattung mit Digitaltechnik gibt und die führenden Tech-Unternehmen in diesem Zusammenhang nicht mehr wegzudenken sind, weiß auch René Scheppler. Dieser Bedarf sollte seiner Meinung nach jedoch durch den Prozess einheitlicher und transparenter Ausschreibungen gedeckt werden und nicht mit zusätzlicher Werbewirkung für einzelne Unternehmen einhergehen. Drei "Apple Distinguished Schools" in Deutschland Die Grundschule Stadtschule Travemünde, die Hauptschule Wilhelm-Ferdinand-Schüßler Tagesschule in Düsseldorf und das Gymnasium Hermann-Josef-Kolleg in Steinfeld sind ausgewiesene "Apple Distinguished Schools". Alle drei Schulen haben sich im Zeitraum zwischen 2014 und 2016 verhältnismäßig früh auf den Weg zur Digitalisierung begeben und sich in diesem Zusammenhang auf die Auszeichnung beworben. Die Beweggründe für die Bewerbung waren bei den drei Schulen unterschiedlich. Michael Cordes, Schulleiter der Stadtschule Travemünde, beschreibt den 2014 begonnenen Prozess als einen wichtigen Schritt, um die Digitalisierung seiner Grundschule nachhaltig und tiefgreifend voranzutreiben. Da Digitalthemen im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen nicht erst in der Sekundarstufe beginnen, sieht Cordes bereits in der Grundschule den klaren Auftrag zur Digitalisierung: "Das haben wir erkannt und uns gefragt, wie macht man das? Gibt es da Beispiele? Und da gab es in Deutschland im Jahr 2014 ganz wenig." Im Gegenteil seien Themen wie "Digital Change Management" und "Digitale Kompetenz in der Schulentwicklung" im Jahr 2014 kein Bestandteil von Lehrfortbildungen gewesen. Exemplarische Beispiele der Digitalisierung von (Grund-)Schule habe Michael Cordes hingegen durch Auflistungen internationaler "Apple Distinguished Schools" gefunden. Die Erstellung des Schulportfolios für Apple sei für die "Stadtschule Travemünde" daher eine Form der Prozessbegleitung gewesen. "Ein reines Vehikel", bei dem der von Apple formulierte Kriterienkatalog "Acht Elemente für Erfolg" zur Umsetzung einer technologischen Lernumgebung, entscheidend waren. Cordes ist der Meinung, dass ein gewisser Grad unternehmerischen Denkens in der Gestaltung von Bildung bereichernd sein kann, weil es eine zielorientierte Struktur vorgebe. Cordes teilt generell die Sorge um eine zu starke Einflussnahme von Unternehmen auf Bildung, wünscht sich aber in der Debatte ein sachliches Abwägen: "In jeder Zusammenarbeit mit externen Partnern kommt es darauf an, darauf zu achten, dass der pädagogischen Nutzen, den man aus der Zusammenarbeit zieht, deutlich über dem wirtschaftlichen des Unternehmens liegt." Diese Prämisse sei in dem Bewerbungsprozess seiner Schule zur "Apple Distinguished School" ohne jeden Zweifel gegeben. Auch musste die Stadtschule Travemünde die von Apple genannten Bedingungen nicht zwingend erfüllen. Zum Zeitpunkt der Bewerbung war die Grundschule beispielsweise nicht eins zu eins mit Tablets ausgestattet, sondern pro Klassenverband wurde mit je sechs Tablets gearbeitet. Seine Schule habe nie ausschließlich mit Apple Produkten gearbeitet, sondern immer auch andere Systeme eingesetzt. Die Zertifizierung zur "Apple Distinguished School" als Methode gegen Schulschließung Das Hermann-Josef-Kolleg in Steinfeld kämpfte im Jahr 2015 mit stetig abnehmenden Anmeldezahlen. Als Gegenstrategie suchte das Gymnasium, das in einem alten Klostergebäude gelegen ist, nach einer neuen schulischen Ausrichtung. Lehrer Jörg Zwitters, der für die administrative Verwaltung der Schultechnik verantwortlich ist, erzählt: "Es ging um die Frage, wie wird die Schule überleben? Und darum, wie wir uns in Zukunft erfolgreicher aufstellen." Um zu vermitteln, dass das Hermann-Josef-Kolleg auch in traditioneller Umgebung modernen Unterricht gestaltet, wurde der neue Schwerpunkt der Schule auf Digitalisierung gelegt. In die Anfangsphase dieser Transformation fiel dann auch die Bewerbung zur "Apple Distinguished School". Der Erfolg sei direkt spürbar gewesen: "Bei den jetzigen Anmeldezahlen müssen wir anbauen. Das war der klare Effekt aus 2015 und den Folgejahren." Ähnlich wie das Gymnasium in Steinfeld stand auch die Wilhelm-Ferdinand-Schüßler-Tagesschule im Stadtteil Rath in Düsseldorf im Jahr 2016 vor der Herausforderung, den Standort ihrer Schule zu verteidigen. Die Schulleiterin Beate Dincklage sagt offen: "Es ist an Schulen teilweise ein bisschen wie in der Wirtschaft. Ein ähnlich harter Kampf um die Frage, wird die Schule oder der Standort geschlossen oder nicht?" Um einer Schließung der Wilhelm-Ferdinand-Schüßler-Tagesschule entgegenzuwirken, wurde die Digitalisierung sehr öffentlichkeitswirksam als Fokus herausgestellt. Mit der Auszeichnung durch Apple wurde die Hauptschule, die zuvor häufig als sogenannte "Problemschule" dargestellt wurde, ein Vorzeige-Projekt der Stadt. Das habe ihrer Schule damals einen regelrechten "Kick nach vorne" gegeben. Der Kritik eines singulären Fokus auf die Produkte von Apple begegnen die interviewten Schulleitungen mit dem Gegenargument, dass die Festlegung auf eine einheitliche Hard- und Software im Schulkonzept ohnehin stattfinde. Für das Gelingen von digitalem Unterricht sei die Schaffung einer homogenen Lernatmosphäre Grundvoraussetzung. Zum einen, damit die eingesetzte Technik flächendeckend kompatibel sei, aber auch, um als Kollegium in der Lage zu sein, diese zu administrieren. Dem Vorwurf einer einseitigen Beeinflussung ihrer Schülerinnen und Schüler widersprechen sie. An allen drei Schulen würden trotz einer Grundausstattung mit Apple Produkten auch andere Systeme verwendet, da es weder Verträge noch verbindende Vereinbarungen mit Apple gibt. Wirtschaftlicher Erfolg vs. pädagogische Qualität? Kritik an dem Programm können Beate Dincklage wie auch Jörg Zwitters und sein Kollege Ralf Kremp zu Teilen dennoch nachvollziehen. "Es liegt in der Natur der Sache, dass Tech- Konzerne natürlich nicht wie Pädagogen und schon gar nicht fächerorientiert denken", stellt Kremp fest. Die Integration digitaler Möglichkeiten in den Unterricht hätte ihre Schule daher unabhängig von Apple in pädagogischen Fachtagen erarbeitet. Eine Einflussnahme des Unternehmens auf die Bildungsinhalte ihres Unterrichts habe nicht stattgefunden. Potenziellen Risiken einer Kooperation mit Konzernen könnten Schulleitungen gemeinsam mit ihrem Schulkollegium selbstverantwortlich entgegenwirken. Über die Werbewirksamkeit für ihre Schule innerhalb der Region hinaus schätzt Beate Dincklage den Nutzen des Programms gering ein. Ein zu der Zeit verpflichtendes Netzwerktreffen des Konzerns in München habe sie als eine "Werbeveranstaltung ohne didaktischen oder pädagogischen Mehrwert" empfunden. Weiterführende Fortbildungen hat ihre Schule nicht wahrgenommen. Das Kollegium habe lediglich eine zweistündige Schulung zum Umgang mit Tablets im Apple Store erhalten, die aber unabhängig von dem Programm angeboten wird. Hoher Bedarf an Fortbildungen im Bereich Digitalisierung Für Ralf Kremp und Jörg Zwitters war das Fortbildungsangebot des Konzerns demgegenüber ausschlaggebend für die Kooperation. Sie bemängeln das fehlende Angebot seitens der Landesinstitute. Sowohl im Bereich des Umgangs mit Endgeräten als auch in Bezug auf Führungsstrukturen in der Steuerung von digitalem Veränderungsmanagement sei dies bis heute nicht ausreichend. Kritiker René Scheppler alarmiert dieses Argument. Er erkennt die Schulungsveranstaltungen von Apple im deutschen Schulkontext nicht als Fortbildungen an: "Eine Fortbildung ist im staatlichen Umfeld und im Sinne von Beamten und Staatsbediensteten unabhängig zu gestalten." Apple habe als Konzern hingegen immer die Bewerbung ihrer Produkte als Hauptziel und könne daher nicht unabhängig agieren. Scheppler problematisiert, "dass einzelne Schulen zum Bestandteil von Bildungsmarketing werden." Abschließend kann festgestellt werden, dass auch in der Umsetzung des Digitalpaktes eine Hürde darin liegt, dass zwar die Digitalisierung in Form der Verteilung von technischen Geräten vorangetrieben wird, jedoch die Qualifizierung für den Umgang mit diesen Geräten zu kurz kommt. Die Frage liegt also nahe, ob Tech-Konzerne wie Apple mit ihren Fortbildungsprogrammen den Mangel an vergleichbaren staatlichen Angeboten und Digitalkonzepten für sich nutzen und Schulen auch in Ermangelung an Alternativen auf diese zurückgreifen. Neben Apple bieten auch andere Digitalkonzerne spezielle Angebote für Bildungseinrichtungen an. Samsung zeichnet Schulen, die der Konzern als bundesweite Vorreiter für den digitalen Unterricht ansieht, zu "Samsung Lighthouse Schools" aus. Mit der Initiative "Digitale Bildung neu denken" sollen Bildungseinrichtungen mit "kreativen Unterrichtskonzepten gefördert und digitale Kompetenzen vermittelt werden". Mit dem regelmäßig stattfindenden Wettbewerb “Ideen Bewegen” wird Schulen ein digitales Klassenzimmer zur Verfügung gestellt. Im Rahmen von "Samsung-Coding-Klassenfahrten" sollen Schulklassen das Programmieren kennenlernen. Microsoft stellt Schulen auf Basis des DigitalPakts kostengünstig Geräte zur Verfügung. Außerdem bietet der Konzern das Software-Paket Office 365 für Bildungseinrichtungen kostenlos an. In der sogenannten "Microsoft Lehrer-Community" werden Veranstaltungen und Webinare für Lehrkräfte angeboten. Google stellt Schulklassen mit dem Programm Google Expeditionen VR/AR-Brillen für virtuelle Reisen zur Verfügung. Außerdem bietet der Konzern Unterrichtsmaterialien für Lehrkräfte und Fortbildungen zu digitalen Themen an. Mit Google Classroom können Lehrkräfte Kurse sowie Lern- und Übungsaufgaben erstellen. Die Plattform ist Teil des Softwarepakets "G Suite for Education", das Schulen kostenlos angeboten wird. Apple: Externer Link: Apple Distinguished Schools. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-07-17T00:00:00"
"2023-01-26T00:00:00"
"2023-07-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/517746/der-schmale-grat-zwischen-wirtschaftlicher-einflussnahme-und-zeitgemaesser-schulentwicklung/
Die Kooperation von Schulen mit Tech-Konzernen ist umstritten. Einige Schulen nutzen diese für eine produktive Prozessentwicklung. Kritiker und Kritikerinnen sehen die Gefahr von Lobbyismus.
[ "Technologiekonzerne", "New Educonomy", "Wirtschaft und Bildung", "Apple ", "Technologie", "Digitalisierung" ]
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The gender composition of the GCC foreign population | The Gulf Cooperation Council States (GCC) | bpb.de
Qatar In the case of Qatar, in which the vast majority of the foreign workers are Asian, in 2011 females constituted a mere 17% of the total foreign population aged 15 years and above (Qatar, SA, AA-2011). According to Qatar’s 2010 census results, females represented only 24.4% of the total Qatari population, including both nationals and foreigners (Qatar, SA, 2010:table 1). United Arab Emirates The gender composition in the UAE is similar, showing an extremely high percentage of males in comparison to females due to the high percentage of male foreigners among the total population. Thus, by mid-2010, females constituted only 22.3% of the UAE foreign population and 25.4% of the total population, including both nationals and non-nationals (UAE, NBS-2011). Saudi Arabia In contrast, in Saudi Arabia where the percentage of the foreign population of the total population is much lower and the percentage of Arabs of the total foreign population is much higher, females constituted 29.7% of the total foreign population and 43.0% of the Kingdom’s total population (KSA, MEP, ASY-2010:table 2-1). Due to the continuing rapid increase in Asian immigration which is predominantly male, it seems unlikely that the gender composition in the GCC countries will be more balanced in the near future.
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Onn Winckler
"2022-01-20T00:00:00"
"2012-12-06T00:00:00"
"2022-01-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/151078/the-gender-composition-of-the-gcc-foreign-population/
The switch from Arab to Asian foreign workers has had an immense impact on the gender distribution of the GCC foreign population mainly due to the fact that the Asian workers tend to come alone to the Gulf. Thus, there is a high correlation between t
[ "gender composition", "Gender", "Gulf States", "Golfstaaten", "Einwandererbevölkerung", "Geschlechterzusammensetzung" ]
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Buko-Podcasts | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
Sie haben den Kongress verpasst oder möchten Ihre gesammelten Eindrücke wieder aufleben lassen? Wir haben für Sie alle 13 Themen der Sektionen in unseren Podcasts zusammengefasst. Unter der Moderation von Interner Link: Felix Gebhardt diskutieren unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den Inhalt der Sektionen und ziehen ein Fazit für die politische Bildung. Bundeskongress 2019: Podcast Folge 1 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 1 Podcast Podcast 1 In Podcast 1 besprechen Linda Kelch, Johannes Kröger und Lisa Philippen die Inhalte und Diskussionen der Sektionen 1, 4 und 5. Weitere Informationen zu den Sektionen finden Sie unter den folgenden Links: Interner Link: Sektion 1: Emotionen und Politik: Stimmungen statt Argumente? Interner Link: Sektion 4: Gender und Race: Emotionen als Mittel zur Machtentfaltung Interner Link: Sektion 5: Besorgt, ängstlich und wütend: Emotionale Rezeptionen gesellschaftlicher Umbrüche Bundeskongress 2019: Podcast Folge 2 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 2 Podcast Podcast 2 In Podcast 2 besprechen Christian Vey, Britta Sonntag und Lea Pradella die Inhalte und Diskussionen der Sektionen 2, 3 und 6. Weitere Informationen zu den Sektionen finden Sie unter den folgenden Links: Interner Link: Sektion 2: Emotionen im Netz: Entfesselte Kommunikation? Interner Link: Sektion 3: Partizipation - Was treibt uns an? Interner Link: Sektion 6: Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung: Was bewirken Emotionen? Bundeskongress 2019: Podcast Folge 3 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 3 Podcast Podcast 3 In Podcast 3 besprechen Peter Zorn, Juliana Stockheim und Dr. Jasmin Gödert die Inhalte und Diskussionen der Sektionen 7, 8 und 10. Weitere Informationen zu den Sektionen finden Sie unter den folgenden Links: Interner Link: Sektion 7: Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie? Interner Link: Sektion 8: Besser mit Gefühl? Emotionalisierende Zugänge politischer Bildung Interner Link: Sektion 10: Cool bleiben und Grenzen ziehen? - Wie reagiert politische Bildung auf emotionalisierende Verhältnisse? Bundeskongress 2019: Podcast Folge 4 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 4 Podcast Podcast 4 In Podcast 4 besprechen Johannes Winter, Alexander Kitterer, Lisa Philippen und Ruth Grune die Inhalte und Diskussionen der Sektionen 9, 11, 12 und 13. Weitere Informationen zu den Sektionen finden Sie unter den folgenden Links: Interner Link: Sektion 9: Zugehörigkeit und Heimatgefühle Interner Link: Sektion 11: Emotionen und Technologie: Was ist der Kern der Menschlichkeit? Interner Link: Sektion 12: Bitte schön aufmucken! Kunst als Politik und politische Bildung Interner Link: Sektion 13: 30 Jahre Friedliche Revolution Bundeskongress 2019: Podcast Folge 1 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 1 Podcast Bundeskongress 2019: Podcast Folge 2 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 2 Podcast Bundeskongress 2019: Podcast Folge 3 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 3 Podcast Bundeskongress 2019: Podcast Folge 4 Bundeskongress 2019: Podcast Folge 4 Podcast
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-10-18T00:00:00"
"2019-03-13T00:00:00"
"2022-10-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/287325/buko-podcasts/
Sie haben den Kongress verpasst oder möchten Ihre gesammelten Eindrücke wieder aufleben lassen? Wir haben für Sie alle 13 Themen der Sektionen in unseren Podcasts zusammengefasst. Unter der Moderation von Felix Gebhardt diskutieren unsere Mitarbeiter
[ "Emotionen und Politik" ]
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Selbständigkeit | Arbeitsmarktpolitik | bpb.de
Im Gegensatz zu abhängig Beschäftigten stehen Selbstständige nicht in einem arbeitsrechtlichen Verhältnis zu einem Arbeitgeber. Zu den Selbstständigen zählen neben Personen, die einen eigenen Betrieb leiten auch diejenigen, die freiberuflich als Soloselbstständige tätig sind. Die Spanne selbstständiger Personen reicht von weltweit bekannten Unternehmensgründern wie Elon Musk (Tesla), über niedergelassene Ärztinnen, Apothekern und Anwältinnen bis zu Kurieren von Lieferdiensten und freiberuflich tätigen Künstlern. Weder die Höhe des erzielten Einkommens, noch der zeitliche Umfang der Tätigkeit sind entscheidend für den Status der Selbstständigkeit. Selbstständige Tätigkeit zeigt eine große Heterogenität. Selbstständigen ist jedoch immer gemein, dass sie nicht weisungsgebunden arbeiten, ihre Tätigkeit frei gestalten und Zeit und Ort ihrer Arbeit frei bestimmen können. Die selbstständige Beschäftigung definiert sich durch eine Abgrenzung von der nichtselbstständigen Beschäftigung, die in § 7 SGB IV definiert ist. Je nachdem, wie groß das Einkommen aus der Selbstständigkeit ist, kann aber zwischen Selbständigkeit im Haupterwerb bzw. im Nebenerwerb unterschieden werden. So ist auch die Kombination einer abhängigen Beschäftigung im Haupterwerb mit einer selbstständigen Beschäftigung im Nebenerwerb oder umgekehrt möglich. Gerade im Bereich der soloselbstständigen Freiberufler ist die Abgrenzung zur abhängigen Beschäftigung nicht immer erkennbar. Freie Berufe unterliegen nicht der Gewerbeordnung und können auch in einer abhängigen Beschäftigung ausgeübt werden – dies ist z.B. bei angestellten Ärzten der Fall. Allerdings ist Selbstständigkeit unter Beschäftigten in Freien Berufen relativ häufig: Ungefähr ein Viertel der Erwerbstätigen in Freien Berufen ist selbstständig. Eine Tätigkeit, die als selbstständig gemeldet ist, jedoch Merkmale einer abhängigen Beschäftigung aufweist, bezeichnet man als Scheinselbstständigkeit. Eine exakte Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit ist schwierig. Die Deutsche Rentenversicherung bietet zur Klärung dieser Frage im Einzelfall eine Externer Link: Statusfeststellung an. Diese Statusklärung ist vor allem deshalb wichtig, weil Selbstständige für ihre soziale Absicherung selbst zuständig sind. Anders als bei abhängig Beschäftigten gibt es bei ihnen keine allgemeine Versicherungspflicht in der Sozialversicherung und es gibt auch keinen Arbeitgeber, der sich die Beiträge in den Zweigen der Sozialversicherung mit ihnen teilt. Einzig bei der Kranken- und Pflegeversicherung gilt auch für Selbstständige seit dem 01. Januar 2009 eine Versicherungspflicht. Die Beiträge müssen Selbstständige alleine bestreiten. Unter bestimmten Voraussetzungen können sich Selbstständige auch in anderen Zweigen der Sozialversicherung, wie etwa der Arbeitslosenversicherung, versichern. Verbreitung Im Jahr 2020 lag die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland bei knapp 44,7 Millionen. Es gibt unterschiedliche Datenquellen zur Erfassung von Gründungen und Selbstständigkeit in Deutschland. Der umfangreichste und zuverlässigste Datensatz ist der Mikrozensus, eine repräsentative Haushaltsbefragung. Jährlich wird rund ein Prozent der Bevölkerung befragt. Die Ergebnisse werden anschließend auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet und enthalten Daten zur Struktur und der wirtschaftlichen sowie sozialen Lage der Bevölkerung. Die Statistik der Selbstständigen beinhaltet auch mithelfende Familienangehörige und Soloselbstständige. Bei den mithelfenden Familienangehörigen handelt es sich um Familienangehörige, die in einem Unternehmen mithelfen, das von einem Familienmitglied als Selbstständigem geleitet wird, ohne hierfür Lohn oder Gehalt zu erhalten. Diese Sonderform der Erwerbstätigkeit war früher vor allem in der Landwirtschaft relevant. Ihre Bedeutung nimmt aber kontinuierlich ab. Der Anteil der mithelfenden Familienangehörigen an den Selbstständigen betrug im Jahr 2019 Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen zufolge knapp 2,5 Prozent. Die Zahl der Selbstständigen hat sich in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich entwickelt, was durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen vor und nach der Wiedervereinigung bedingt ist. Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im Interner Link: Dossier „Lange Wege der deutschen Einheit“. Die Zahl der Erwerbstätigen im gesamten Bundesgebiet hat in den vergangenen Jahren zwar deutlich zugenommen, ist aber vor allem im Bereich der abhängigen Beschäftigung zu finden. Die Zahl der Selbstständigen ist hingegen gesunken. Dies ist angesichts der guten Arbeitsmarktlage in den vergangenen Jahren nicht verwunderlich. Ergebnisse aus der Arbeitskräfteerhebung 2017 deuten darauf hin, dass rund jede/-r zwölfte Selbstständige vor allem deshalb die Selbstständigkeit gewählt hat, weil keine Stelle als Arbeitnehmer/-in gefunden wurde. In den letzten Jahren zeichnete sich der deutsche Arbeitsmarkt durch eine hohe Arbeitskräftenachfrage – auch im geringqualifizierten Segment – aus. Daher ist die Vermutung naheliegend, dass eine selbstständige Tätigkeit im Vergleich zur abhängigen Beschäftigung an Attraktivität verlor. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass beispielweise staatliche Förderungen von Existenzgründungen in wirtschaftlich guten Zeiten seltener in Anspruch genommen werden und diese zudem auch in den letzten Jahren stark reduziert wurden. Unter selbstständig Beschäftigten lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede nachweisen. So waren im Jahr 2019 mit einem Anteil von 67 Prozent zwei Drittel der Selbständigen Männer. Der Frauenanteil unter den Selbstständigen hat seit Beginn der 1990er Jahre zugenommen – 1991 lag er noch bei nur 25,7 Prozent. Interessanterweise haben weibliche Selbstständige häufiger als männliche Selbstständige keine Beschäftigten. 2019 handelte es sich bei der Hälfte der männlichen Selbstständigen um Selbstständige ohne Beschäftigte. Unter den weiblichen Selbstständigen war der Anteil mit 65 Prozent hingegen deutlich höher. Die Zahl der Soloselbstständigen ist seit 2010 rückläufig und lag 2019 bei rund 2,2 Millionen. Auch anteilig ist die Soloselbstständigkeit gesunken: Im Verhältnis zur Zahl der Erwerbstätigen nahm die Verbreitung der Soloselbstständigkeit in diesem Zeitraum ab. Im Jahr 2019 machten Soloselbstständige 4,6 Prozent aller Erwerbstätigen aus. In den 1990er Jahren bis 2010 war die Zahl der Soloselbständigen dagegen stark gewachsen. 1991 lag sie bei 1,4 Millionen, was 3,6 Prozent aller Erwerbstätigen entsprach. Die Zahl der Selbstständigen mit Beschäftigten befand sich 2019 mit 1,8 Millionen fast auf dem Niveau von 1991 (1,7 Millionen) und veränderte sich während der letzten 30 Jahre kaum. Das Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ) weist darauf hin, dass sich der Anteil der Soloselbstständigen an Selbstständigen insgesamt nachhaltig erhöht hat (mehr dazu Externer Link: hier). 2019 lag er bei 53 Prozent. Mehr als die Hälfte aller Selbstständigen übt ihre Arbeit also ohne Angestellte aus und schafft mit ihrer Selbstständigkeit keine weiteren Arbeitsplätze. Als Gründe für diese Entwicklung nennt das IAQ veränderte Produktionsprozesse sowie individualisierte Arbeitsformen, die dem Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung entspringen. Zusätzlichen Einfluss hatten spezielle Förderinstrumente der Arbeitsverwaltung ("Ich-AG"), die sich ausschließlich an Soloselbstständige richteten. Viele Unternehmensgründer wagen den Schritt in die Selbstständigkeit erst über einen Nebenerwerb. Der Gründer ist dann über seine abhängige Beschäftigung sozialversichert und kann seine Ideen zunächst testen und bei Erfolg ausweiten. Selbstständige im Nebenerwerb haben zunächst häufig keine weiteren Angestellten und sind Soloselbstständige. Ein weiterer Grund für die Ausweitung beruflicher Selbstständigkeit ist der Anstieg der Freien Berufe (u.a. Ärzte, Künstler, Apotheker oder Architekten), der den Strukturwandel hin zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft markiert. 2020 gab es 1,45 Millionen Selbstständige in Freien Berufen. Gegenüber 2010 entspricht dies einem Zuwachs um über 30 Prozent. Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) zufolge sind sie zudem Arbeitgeber für über 3,86 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Die Freien Berufe haben eine große wirtschaftliche Bedeutung, die im letzten Jahrzehnt im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen weit überdurchschnittlich zugenommen hat. Ihr geschätzter Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt knapp elf Prozent. Unter den Selbstständigen finden sich im Vergleich zu den abhängig beschäftigten Arbeitnehmern mehr ältere Personen. Jüngere sind eher unterrepräsentiert und nutzen zum Berufseinstieg Ausbildung, Studium und anschließend eine abhängige Beschäftigung, bevor sie sich für den Weg in die Selbstständigkeit entscheiden. Wenn Jüngere den Weg in die Selbstständigkeit wagen, dann häufig als Solo-Selbstständige. Während für abhängig Beschäftigte das Arbeitsleben in der Regel mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze der Rentenversicherung endet, sind viele Selbstständigen auch im Alter von über 65 oder sogar 70 Jahren noch erwerbstätig. Mit steigendem Alter nimmt der Anteil der Selbstständigen an allen Beschäftigten zu: In der Altersgruppe von 65 bis 69 machten sie 2018 knapp ein Drittel aller Erwerbstätigen aus. Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sind etwas seltener selbstständig als jene mit deutscher Staatsbürgerschaft. Allerdings ist bei ihnen die Erwerbsform der Soloselbstständigkeit etwas weiter verbreitet. Entwicklung von Unternehmensgründungen Vielfach wird davon ausgegangen, dass Unternehmensgründungen das wirtschaftliche Wachstum stärken und innovative Produkte und Dienstleistungen hervorbringen. Sie können zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft beitragen, indem sie mit neuen Technologien und Dienstleistungsangeboten in Konkurrenz zu bestehenden Unternehmen treten oder den Strukturwandel beschleunigen. Erfolgreiche Unternehmensgründungen können die Arbeitskräftenachfrage in einer Volkswirtschaft befeuern und Branchen revolutionieren. Man kann Gründungen hinsichtlich ihrer Innnovationsrelevanz unterscheiden. Innovative Gründungen, die neue und innovative Produkte oder Dienstleistungen einführen und nicht-innovative (imitative bzw. replikative) Gründungen, die auf einem bestehenden Markt mit einem neuen Angebot auftreten. Ein relativ neues Konzept zur Erfassung von innovativen Neugründungen ist das Start-up-Unternehmen. QuellentextStart-up-Unternehmen („Start-ups“) „Start-ups sind Neugründungen von Unternehmen oder aber Vorhaben, mit dem klaren Ziel einer Unternehmensgründung, die ein innovatives Produkt oder eine innovative Dienstleistung in einem (stark) skalierbaren Geschäftsmodell hervorbringen. Start-ups sind nicht älter als 10 Jahre und weisen in ihrer Entwicklung ein überdurchschnittliches Mitarbeiter- und Umsatzwachstum sowie starkes Markt- und Kundenakquisepotenzial auf.“ Quelle: Externer Link: Bundesministierum für Wirtschaft und Technologie In der Forschung werden unterschiedliche Motive beschrieben, die zur Gründung eines Unternehmens führen. Gründungen können aus einer Notlage heraus entstehen, um drohender oder bestehender Arbeitslosigkeit zu entgehen. Das Motiv kann auch eine günstige Gelegenheit sein, um eine bereits bestehende Idee zu realisieren. Eine weitere Möglichkeit der Typisierung ist der Grad der Vorerfahrung von Unternehmensgründern. Handelt es sich um die erste Unternehmensgründung oder hat die Person den Schritt in die Selbstständigkeit schon früher gewagt? Selbstständige Tätigkeit und ihre Bedeutung für den Arbeitsmarkt und das wirtschaftliche Geschehen insgesamt unterlagen ständigen Wandlungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Bedeutung abhängiger Beschäftigung noch nicht so groß und Erwerbstätigkeit fand in der Landwirtschaft oder in traditionellen Handwerksberufen vor allem selbstständig statt. Mit dem Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft veränderte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts die Struktur der Erwerbstätigkeit. Mit der Industrialisierung ging ein Anstieg der abhängigen Erwerbstätigkeit einher und die Arbeitnehmer konzentrierten sich in teilweise sehr großen Fabriken. Immer mehr Menschen zogen vom Land in die wachsenden Städte. Die Massenproduktion im Fordismus am Anfang des 20. Jahrhunderts ließ die Befürchtungen aufkommen, dass der Niedergang der Kleinunternehmern und der selbstständigen Tätigkeit nicht mehr aufzuhalten ist. Rückblickend haben sich die Befürchtungen nicht bestätigt. „Start-ups sind Neugründungen von Unternehmen oder aber Vorhaben, mit dem klaren Ziel einer Unternehmensgründung, die ein innovatives Produkt oder eine innovative Dienstleistung in einem (stark) skalierbaren Geschäftsmodell hervorbringen. Start-ups sind nicht älter als 10 Jahre und weisen in ihrer Entwicklung ein überdurchschnittliches Mitarbeiter- und Umsatzwachstum sowie starkes Markt- und Kundenakquisepotenzial auf.“ Quelle: Externer Link: Bundesministierum für Wirtschaft und Technologie Über das Gründungsgeschehen gibt es in Deutschland unterschiedliche Statistiken. Das Institut für Mittelstandsforschung Bonn (IfM) hat mit seiner Gründungs- und Liquidationsstatistik für das Jahr 2019 insgesamt knapp 266.000 Existenzgründungen im Gewerbe (2018: 270.000) nachgewiesen. Der Gründungsmonitor der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), eine repräsentative, jährlich durchgeführte, telefonische Bevölkerungsbefragung zum Gründungsgeschehen in Deutschland, verzeichnete 2019 insgesamt 605.000 Gründerpersonen, darunter 228.000 im Vollerwerb und 377.000 im Nebenerwerb. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) diagnostizierte auf Basis des Mannheimer Unternehmenspanels einen Einbruch der Gründungstätigkeit und ging für 2018 von etwa 155.000 neuen wirtschaftlich aktiven Unternehmensgründungen aus. Die Diskrepanz der Daten, Methoden und Abgrenzungen von beruflicher Selbstständigkeit machen deutlich, wie schwer die Erfassung von Unternehmensneugründungen ist. Es wird erwartet, dass die Pandemie des neuartigen Coronavirus im Jahr 2020 das Gründungsgeschehen negativ beeinflusst. Die KfW rechnet damit, dass zahlreiche Personen ihre Unternehmensgründungen verschieben werden. Umgekehrt sei aber auch denkbar, dass die Krise eine Zunahme an Notgründungen verursachen könnte. Zumindest für den Zeitraum von Januar bis September 2020 kann ein deutlicher Rückgang der Gewerbeanmeldungen festgestellt werden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden in diesem Zeitraum rund 409.000 Neugründungen gemeldet. Das sind 4,2 Prozent weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Nicht nur konjunkturelle Schwankungen beeinflussen das Gründungsgeschehen in Deutschland. Auch die Förderung von Gründungen aus der Arbeitslosigkeit als ein wichtiges Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik wirkt sich auf die Entwicklung der Unternehmensgründungen aus. In der Vergangenheit wurde eine Vielzahl verschiedener Förderinstrumente erprobt. Sowohl in der Arbeitslosenversicherung (SGB III) als auch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) ist eine geförderte Existenzgründung möglich. Von Anfang der 1990er Jahre bis zur Mitte der 2000er Jahre stieg die Zahl der BA-geförderten Existenzgründungen in Deutschland an. Vor allem die Einführung des Existenzgründungszuschuss (umgangssprachlich auch „Ich-AG“) hatte nach Auffassung von Arbeitsmarktforschern einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Gründungsgeschehens im Bereich der Soloselbstständigkeit. Mit der Abschaffung von Überbrückungsgeld und Existenzgründungzuschuss ging die Zahl der geförderten Existenzgründungen allerdings deutlich zurück. Die Zahl der mit Gründungszuschuss geförderten Existenzgründungen entspricht in etwa der Anzahl der mit Überbrückungsgeld geförderten Neugründungen. Im Jahr 2012 gab es im Vergleich mit den Vorjahren erneut einen starken Rückgang der geförderten Existenzgründungen. Diese Entwicklung lässt sich auf die Wandlung des Gründungszuschusses von einer Pflichtleistung in eine Ermessensleistung zurückführen. Seit 2015 nahmen die Förderungen der Selbstständigkeit jedes Jahr ab und lagen 2019 nur noch bei rund 33.000. Eine tiefergehende Übersicht über die Förderung von Existenzgründungen finden Sie im Dossier Arbeitsmarktpolitik im Text Interner Link: "Förderung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit". Die Förderinstrumente der Agentur für Arbeit und der Jobcenter richten sich ausschließlich an Personen, die sich aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen wollen. Da Unternehmensgründungen für das Innovationspotential einer Volkswirtschaft sehr wichtig sind, gibt es weitere (staatliche) Fördermöglichkeiten zur Finanzierung des Schritts in die Selbstständigkeit. Von der Förderung erhofft sich die Politik häufig positive Effekte auf Beschäftigung, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Gründungsförderung ist ein wichtiges Handlungsfeld der Wirtschaftspolitik. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie stellt auf dem Externer Link: Existenzgründungsportal Informationen für potentielle Gründer zusammen und informiert über Fördermöglichkeiten. Eine weitere Fördermöglichkeit sind Gründerwettbewerbe, die besondere innovative Gründungen prämieren und somit Kapitel für die Gründer zur Verfügung stellen. Zusätzlich werden die Gründer häufig von Experten beraten, um ihre Ideen weiterzuentwickeln. Die KfW, als eine Anstalt des öffentlichen Rechts, dessen Kapital ausschließlich vom Bund und den Ländern gehalten wird, fördert mit günstigen Förderkrediten und durch innovative Finanzierungen Existenzgründungen. Die KfW unterstützt Unternehmensgründer auch durch Infrastrukturmaßnahmen und zahlt einen Zuschuss zu einer professionellen externen Beratung, die Unterstützung bei wirtschaftlichen, finanziellen und organisatorischen Fragen liefern soll. Einkommen und Absicherung Nicht wenige Selbstständige haben Probleme mit den Arbeits- und Einkommensbedingungen ihrer Tätigkeit. Gerade mangelnde soziale Absicherung kann ein Problem sein. Das gilt vor allem für viele Kleinselbstständige, wie Kioskbesitzer oder kleine Handwerksbetriebe. Daneben existieren aber auch viele Selbstständige, die mit ihrer Tätigkeit, beispielsweise in der Unternehmensberatung oder in Freien Berufen wie Ärzte und Anwälte, ein überdurchschnittliches Einkommen erzielen. QuellentextSoloselbständige "Die Selbstständigen ohne (bezahlte) Beschäftigte verfügen im Unterschied zu den „traditionellen“ Selbstständigen (z.B. Handwerk, Landwirtschaft, verkammerte Freiberufler*innen) häufig kaum über Betriebskapital: Ihren Erwerb erzielen sie grundsätzlich wie abhängig Beschäftigte aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft. Insbesondere für Selbstständige mit niedrigen und diskontinuierlichen Einkommen bestehen im Vergleich zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und Beamten erhöhte Risiken einer unzureichenden sozialen Absicherung im Alter und bei Arbeitslosigkeit.“ Quelle: IAQ (2020): Infografik Selbstständige insgesamt und Solo-Selbständige 1991-2019. Die Einkommenssituation stellt sich bei den Selbstständigen demzufolge sehr heterogen dar. Interessant ist zum einem der Vergleich von Soloselbstständigen und Selbstständigen mit Beschäftigten und zum anderen der Vergleich mit abhängig Beschäftigten. Im Jahr 2018 lag nach Berechnungen des IZA Institute of Labor Economics basierend auf Daten des SOEP das mittlere Monatseinkommen von Selbstständigen bei 2.500 Euro brutto bzw. 1.660 Euro netto. Das bedeutet, dass das Einkommen von jeweils der Hälfte der Selbstständigen monatlich über bzw. unter dem mittleren Wert (Median) gelegen hat. Das Medianeinkommen von Selbstständigen lag ungefähr gleichauf mit dem von abhängig Beschäftigten. "Die Selbstständigen ohne (bezahlte) Beschäftigte verfügen im Unterschied zu den „traditionellen“ Selbstständigen (z.B. Handwerk, Landwirtschaft, verkammerte Freiberufler*innen) häufig kaum über Betriebskapital: Ihren Erwerb erzielen sie grundsätzlich wie abhängig Beschäftigte aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft. Insbesondere für Selbstständige mit niedrigen und diskontinuierlichen Einkommen bestehen im Vergleich zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und Beamten erhöhte Risiken einer unzureichenden sozialen Absicherung im Alter und bei Arbeitslosigkeit.“ Quelle: IAQ (2020): Infografik Selbstständige insgesamt und Solo-Selbständige 1991-2019. Dahingegen war die Einkommenssituation von Soloselbstständigen sehr viel schlechter: Bei ihnen lag das mittlere Monatseinkommen bei 1.646 Euro brutto und sogar nur 1.177 Euro netto. Dies entspricht einem Nettostundeneinkommen von 11,50 Euro. Das mittlere Nettoeinkommen von Soloselbstständigen übertraf dieser Berechnung zufolge nur leicht den Niedriglohn in diesem Jahr, der bei 11,21 Euro pro Stunde lag. Diese Beobachtung unterstreicht, dass nicht jede Selbstständigkeit existenzsichernd ist. Forscher sprechen von einem Prekären Unternehmertum, bei dem die Selbstständigen um das wirtschaftliche Überleben kämpfen und sich in einer schwierigen sozialen Lage befinden. QuellentextPrekäres Unternehmertum "Ein Unternehmertum [kann ]als prekär gelten, wenn sich die unternehmerisch Tätigen objektiv an der Armutsgrenze und/ oder sich subjektiv in einer als heikel empfundenen sozialen Lebenslage befinden und ihre Lebensführung entsprechend ausrichten (müssen), d.h., wenn das Einkommens-, Schutz- und Inklusionsniveau auf längere Sicht unter den gesellschaftlichen Standard zu sinken droht bzw. sinkt und/ oder die unternehmerisch Tätigen darauf hoffen müssen, unternehmerisch erfolgreich zu sein, und doch permanent befürchten, (noch) weiter sozial abzusteigen." Bührmann, Andrea D. (2012): Unternehmertum jenseits des Normalunternehmertums: Für eine praxistheoretisch inspirierte Erforschung unternehmerischer Aktivitäten. Berliner Journal für Soziologie 22: 129 – 156. S. 141. Auch Selbstständige können ihr Einkommen mit Sozialleistungen ergänzen, wenn es nicht ausreicht, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ein Teil der Selbstständigen bezieht daher Leistungen aus der Grundsicherung, um ihr Einkommen aufzustocken. Unter den knapp 919.000 erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Empfängern im Oktober 2020 befanden sich knapp 77.000 Selbstständige. Während der Pandemie des neuartigen Coronavirus im Jahr 2020 ist der Bezug von Leistungen aus der Grundsicherung auch für Selbstständige gestiegen. So war die Zahl der Selbstständigen im Bezug von Arbeitslosengeld II im Vorjahr (Oktober 2019) mit rund 69.000 noch etwa elf Prozent niedriger. Das Institut für Mittelstandsforschung kritisierte immer wieder, dass der Bezug von Grundsicherungsleistungen bei Selbstständigkeit aus volkswirtschaftlicher Sicht kritisch zu sehen ist. Der ergänzende Bezug von Grundsicherungsleistungen führe dazu, dass eine eigentlich unwirtschaftliche Selbstständigkeit rentabel erscheint. Zugespitzt bedeutet dies, dass nicht das Einkommen aus Selbstständigkeit mit der Grundsicherung aufgestockt wird, sondern die Selbstständigkeit als eine Aufstockung zur Grundsicherung verwendet wird. Wegen der Absicherung durch den Bezug von Arbeitslosengeld II sinkt nach Einschätzung des Instituts auch der Anreiz für Selbstständige, ihre Preisgestaltung so umzusetzen, dass die Selbstständigkeit als einzige Einkommensquelle existenzsichernd ist. Dadurch würden Selbstständige im Grundsicherungsbezug umgekehrt zu niedrige Preise anbieten, die zu einer Verdrängung anderer Unternehmungen führen. Unrentable Gründungen werden infolge dessen künstlich „am Leben“ gehalten und der eigentlich nötige Austritt aus der nicht existenzsichernden Selbstständigkeit verhindert. Anders als für abhängig Beschäftigte besteht für Selbstständige die Versicherungspflicht nur äußerst eingeschränkt. Selbstständige müssen sich auf eigene Kosten in einer privaten oder gesetzlichen Krankenversicherung versichern, eine private Altersvorsorge aufbauen und haben zumeist keine Absicherung bei Arbeitslosigkeit. In einigen Fällen können sie sich freiwillig versichern, um beispielsweise beim Scheitern der Existenzgründung Leistungen der Arbeitslosenversicherung in Anspruch zu nehmen. In der Vergangenheit hatten vor allem Soloselbstständige große Probleme dabei, die Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung aufzubringen. Grund hierfür war, dass bei der Errechnung der monatlichen Versicherungsbeiträge für hauptberuflich Selbstständige mindestens ein monatliches Einkommen von über 2.200 Euro zugrunde gelegt wurde. Diese Mindestbemessungsgrundlage sollte verhindern, dass Selbstständige ihr Einkommen durch Abzug von Betriebsausgaben „klein rechnen“ konnten. Allerdings bedeutete die Mindestbemessungsgrundlage für Selbstständige, die de facto ein Nettoeinkommen unterhalb von 2.200 Euro erzielten, unverhältnismäßig hohe Beiträge und somit eine große finanzielle Belastung. Die massive Kritik an dieser Problematik führte letztendlich dazu, dass die Mindestbemessungsgrundlage mit Inkrafttreten des Versicherungsentlastungsgesetzes (Externer Link: GKV-VEG) zum 1.1.2019 auf rund 1.000 Euro reduziert wurde. Der Mindestbeitrag für hauptberufliche Selbstständige wurde demzufolge von 2018 auf 2019 um mehr als die Hälfte reduziert. "Ein Unternehmertum [kann ]als prekär gelten, wenn sich die unternehmerisch Tätigen objektiv an der Armutsgrenze und/ oder sich subjektiv in einer als heikel empfundenen sozialen Lebenslage befinden und ihre Lebensführung entsprechend ausrichten (müssen), d.h., wenn das Einkommens-, Schutz- und Inklusionsniveau auf längere Sicht unter den gesellschaftlichen Standard zu sinken droht bzw. sinkt und/ oder die unternehmerisch Tätigen darauf hoffen müssen, unternehmerisch erfolgreich zu sein, und doch permanent befürchten, (noch) weiter sozial abzusteigen." Bührmann, Andrea D. (2012): Unternehmertum jenseits des Normalunternehmertums: Für eine praxistheoretisch inspirierte Erforschung unternehmerischer Aktivitäten. Berliner Journal für Soziologie 22: 129 – 156. S. 141. Unter bestimmten Bedingungen sind Selbstständige nach einer Unternehmensgründung in der gesetzlichen Rentenversicherung weiterhin pflichtversichert. In der Regel sind sie jedoch selbst für ihre soziale Absicherung und ihre Arbeitsbedingungen verantwortlich. Es besteht die Gefahr, dass Selbstständige nur einen geringen Anteil für ihre Altersvorsorge aufwenden, wenn ihr Einkommen zu gering ist, der Kapitalbedarf des Unternehmens zu groß oder sie eher kurzfristige Konsumpräferenzen haben. Dieser Umstand wurde auch seitens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenhalt und Entwicklung (OECD) in der Veröffentlichung Externer Link: „Renten auf einen Blick (2019)“ kritisiert. Die OECD bezeichnet die Alterssicherung für Selbstständige in Deutschland als „lückenhaft“ und sieht Risiken besonders für Selbstständige in „neuen Formen der Arbeit“ wie z.B. Plattformarbeit. Neue (Solo-)Selbstständigkeit Neue Formen der Arbeit sind Ergebnis einer individualisierten und digitalisierten Arbeitswelt. Diese Entwicklung hat in den letzten Jahren nicht nur zu einer quantitativen, sondern auch einer qualitativen Verschiebung im Bereich der Selbstständigkeit geführt. Einerseits hat die Soloselbstständigkeit im Bereich der selbstständigen Arbeit einen größeren Stellenwert eingenommen. Andererseits haben sich auch zum Teil die Art der Auftragsfindung und Durchführung für Soloselbstständige verändert. Einen besonderen Stellenwert in diesem Zusammenhang haben Online-Plattformen, auf denen Auftraggebende Privatpersonen und Unternehmen zusammenfinden mit zumeist soloselbstständigen Arbeitskräften. Je nachdem, ob die Arbeit ortsabhängig oder ortsunabhängig erbracht wird, lassen sich die verschiedenen Arten der Plattformarbeit voneinander abgrenzen. Die Tätigkeiten reichen von handwerklicher Arbeit, haushaltsnahen Dienstleistungen, der Auslieferung von Ware und Nahrungsmitteln bis zu Kreativarbeit oder hoch spezialisierten technischen Dienstleistungen. QuellentextPlattformarbeit „Unter Plattformarbeit verstehen wir alle Dienstleistungen, die über web-basierte Plattformen vermittelt oder erbracht werden. Diese Tätigkeiten können lokal verrichtet werden (Gigwork) oder online (Cloudwork). Die Grenzen zwischen Online- und Offlinearbeit verlaufen jedoch grundsätzlich fließend.“ Quelle: Externer Link: Bertelsmann Stiftung (2019). Vorteile der Plattformarbeit für Soloselbstständige ergeben sich aus der einfachen Kundenakquise und der Möglichkeit, ihre Arbeit eigenständig zu organisieren und auch weitestgehend individuell zu gestalten. Sie sind nicht in betriebliche Prozesse eingebunden und erleben daher ein hohes Maß an individueller Freiheit. Dies bedeutet jedoch auch, dass sie ihre Arbeitszeit nicht nur eigenständig einteilen können, sondern auch müssen – vor allem aus gewerkschaftlicher Sicht wird dieser Umstand problematisiert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bemängelt, dass Plattformbetreiber sich selbst nicht in der Rolle von Arbeitgebern, Auftragsgebern oder Vermittlern von Arbeit sehen wollen und dies auch in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen festhalten. Dabei entziehen sie sich nach Ansicht des DGB der Verantwortung für die Arbeitskräfte auf der Plattform. Diese seien umgekehrt einer hohen Arbeitsbelastung schutzlos ausgeliefert. Da sie nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Plattformbetreiber stehen, haben sie auch keine Möglichkeit, an innerbetrieblichen Mitbestimmungsprozessen teilzunehmen oder ihre Rechte gegenüber den Betreibern, zum Beispiel bei Löschung oder Sperrung ihrer Konten auf der Plattform, geltend zu machen. In der Bewertung dieser neuen Form der soloselbstständigen Arbeit gibt es sehr unterschiedliche Argumentationslinien. Während neben dem DGB auch Forschende der Externer Link: Konrad-Adenauer Stiftung die sozialen Risiken und teilweise geringen Einkommen der Plattformarbeiter kritisch betrachten, gelangt Holger Schäfer, Ökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zu einer positiveren Einschätzung. Er argumentiert, dass es für eine Prekarisierung von Soloselbstständigen auf Plattformen keine ausreichenden empirischen Belege gäbe und deshalb eine Regulierung der Plattformarbeit zum aktuellen Zeitpunkt nicht nötig sei. QuellentextHubertus Heil (SPD) „Digitalisierung darf nicht mit Ausbeutung verwechselt werden. Allein auf die Selbstregulierung der Unternehmen zu setzen, wird nicht reichen. Hier sind wir als Gesetzgeber gefragt. Daher machen wir heute sehr konkrete Vorschläge, wie Schutzrechte gestärkt und faire Arbeitsbedingungen geschaffen werden können. Das heißt für mich auch, dass wir die gute Tradition der Sozialpartnerschaft auch in der digitalen Wirtschaft stärken. Denn sie ist zentraler Baustein unserer sozialen Marktwirtschaft. Wir können nicht hinnehmen, dass Plattformen hier einseitig die Bedingungen vorgeben.“ Quelle: Externer Link: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), 27.11.2020 Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat im November 2020 ein Positionspapier zur Regulierung der Plattformarbeit vorgelegt (Externer Link: „Faire Arbeit in der Plattformökonomie“). Eine gesetzliche Regulierung der Plattformarbeit ist jedoch bislang nicht in Sicht. „Unter Plattformarbeit verstehen wir alle Dienstleistungen, die über web-basierte Plattformen vermittelt oder erbracht werden. Diese Tätigkeiten können lokal verrichtet werden (Gigwork) oder online (Cloudwork). Die Grenzen zwischen Online- und Offlinearbeit verlaufen jedoch grundsätzlich fließend.“ Quelle: Externer Link: Bertelsmann Stiftung (2019). „Digitalisierung darf nicht mit Ausbeutung verwechselt werden. Allein auf die Selbstregulierung der Unternehmen zu setzen, wird nicht reichen. Hier sind wir als Gesetzgeber gefragt. Daher machen wir heute sehr konkrete Vorschläge, wie Schutzrechte gestärkt und faire Arbeitsbedingungen geschaffen werden können. Das heißt für mich auch, dass wir die gute Tradition der Sozialpartnerschaft auch in der digitalen Wirtschaft stärken. Denn sie ist zentraler Baustein unserer sozialen Marktwirtschaft. Wir können nicht hinnehmen, dass Plattformen hier einseitig die Bedingungen vorgeben.“ Quelle: Externer Link: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), 27.11.2020 Quellen / Literatur Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: „Erwerbstätige nach Stellung im Beruf“ Externer Link: IAB Infoplattform "Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit" Externer Link: IAB Infoplattform "Beschäftigungseffekte von Unternehmensgründungen" Externer Link: IAB Infoplattform "Plattformarbeit in Deutschland" Externer Link: IAB Infoplattform "Solo-Selbstständige – zwischen Selbstverwirklichung und Prekariat" Externer Link: Regelmäßig aktualisierte Übersicht des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) zu Gründungen und Unternehmensschließungen Externer Link: Existenzgründungsportal des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWI) Externer Link: Institut für Freie Berufe an der Friederich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg Externer Link: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2019): Plattformarbeit in Deutschland - Freies und flexibles Arbeiten ohne soziale Sicherung. Externer Link: Bonin, Holger/ Krause-Pilatus, Annabelle/ Rinne, Ulf (2020): Selbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland (Aktualisierung 2020), in: IZA Research Report No. 93. Externer Link: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2020): Faire Arbeit in der Plattformökonomie. Externer Link: Deutscher Gewerkschaftsbund (2019): DGB-Diskussionspapier zur Plattformarbeit. Externer Link: Institut für Arbeit und Qualifikation (2020): Infografik Selbstständige insgesamt und Solo-Selbständige 1991 – 2019. Externer Link: Institut für Innovation und Technik (Hrsg.) (2018): Trends in der Unterstützungslandschaft von Start-ups – Inkubatoren, Akzeleratoren und andere. Externer Link: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.) (2019): Gig-Economy: Chance oder Gefährdung für den Arbeitsmarkt? Externer Link: Günther, Lisa/ Marder-Puch, Katharina (2019), Selbstständigkeit – Methoden und Ergebnisse des Ad-Hoc-Moduls zur Arbeitskräfteerhebung 2017. Externer Link: Pahnke, André/ Schneck, Stefan/ Wolter, Hans-Jürgen (2019): Persistenz von Selbstständigen in der Grundsicherung, IfM-Materialien, No. 273, Institut für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn. Externer Link: OECD (2019): Renten auf einen Blick 2019. Externer Link: Schäfer, Holger (2019), Crowdwork und Plattformarbeit in Deutschland, in: IW-Kurzbericht Nr. 79. Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: „Erwerbstätige nach Stellung im Beruf“ Externer Link: IAB Infoplattform "Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit" Externer Link: IAB Infoplattform "Beschäftigungseffekte von Unternehmensgründungen" Externer Link: IAB Infoplattform "Plattformarbeit in Deutschland" Externer Link: IAB Infoplattform "Solo-Selbstständige – zwischen Selbstverwirklichung und Prekariat" Externer Link: Regelmäßig aktualisierte Übersicht des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) zu Gründungen und Unternehmensschließungen Externer Link: Existenzgründungsportal des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWI) Externer Link: Institut für Freie Berufe an der Friederich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg Externer Link: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2019): Plattformarbeit in Deutschland - Freies und flexibles Arbeiten ohne soziale Sicherung. Externer Link: Bonin, Holger/ Krause-Pilatus, Annabelle/ Rinne, Ulf (2020): Selbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland (Aktualisierung 2020), in: IZA Research Report No. 93. Externer Link: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2020): Faire Arbeit in der Plattformökonomie. Externer Link: Deutscher Gewerkschaftsbund (2019): DGB-Diskussionspapier zur Plattformarbeit. Externer Link: Institut für Arbeit und Qualifikation (2020): Infografik Selbstständige insgesamt und Solo-Selbständige 1991 – 2019. Externer Link: Institut für Innovation und Technik (Hrsg.) (2018): Trends in der Unterstützungslandschaft von Start-ups – Inkubatoren, Akzeleratoren und andere. Externer Link: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.) (2019): Gig-Economy: Chance oder Gefährdung für den Arbeitsmarkt? Externer Link: Günther, Lisa/ Marder-Puch, Katharina (2019), Selbstständigkeit – Methoden und Ergebnisse des Ad-Hoc-Moduls zur Arbeitskräfteerhebung 2017. Externer Link: Pahnke, André/ Schneck, Stefan/ Wolter, Hans-Jürgen (2019): Persistenz von Selbstständigen in der Grundsicherung, IfM-Materialien, No. 273, Institut für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn. Externer Link: OECD (2019): Renten auf einen Blick 2019. Externer Link: Schäfer, Holger (2019), Crowdwork und Plattformarbeit in Deutschland, in: IW-Kurzbericht Nr. 79.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-12T00:00:00"
"2021-03-22T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/328982/selbstaendigkeit/
Selbstständige arbeiten eigenverantwortlich und haben dabei viel unternehmerische Gestaltungsfreiheit. Gleichzeitig setzt sich die Eigenverantwortung auch bei ihrer finanziellen und sozialen Absicherung fort.
[ "Selbständigkeit", "Soloselbstständige ohne Angestellte" ]
30,899